Narzißmus im Zivilisationsprozeß: Zum gesellschaftlichen Wandel der Affektivität [1. Aufl.] 9783839409787

Ausgehend vom Zivilisationsmodell Norbert Elias' und weiteren Ansätzen entwickelt dieses Buch eine qualitativ-dynam

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German Pages 434 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Kapitel I: Affektivität als anthropologische Konstante
a) Zum Umgang mit menschlicher Affektivität in den Menschenwissenschaften
b) Emotion, Affekt und Gefühl
Emotionen als spezifische Reaktionsmuster
Zur Unterscheidung von Affekt und Gefühl
‚Die symbolische Spezies‘
c) Eine anthropologisch-psychologische Sicht
Die Entstehung der Gefühle
Das Problem der Intersubjektivität
Emotionen im Wandel
d) Eine neurobiologische Sicht
‚Unser biologisches Erbe‘
Die Komponente ‚Körper‘
‚Die Hypothese der somatischen Marker‘
Die Umgehung des Körpers
Verdeckte somatische Marker
Der Primat des Körpers
Das neuronale Selbst
Zur Adaptivität somatischer Marker
e) Resümee und Ausblick
Kapitel II: Beitrag der Zivilisationstheorie zum Verständnis von Funktion, Dynamik und Wandel der Affektivität im Gesellschaftsprozeß
a) Die zivilisatorische Psychodynamik
Differenzierung der psychischen Funktionen
Rationalisierung
Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle
Automatisierung der Verhaltenssteuerung
b) Ansätze zu einer ‚Problematisierung‘ des Zivilisationsprozesses in der Zivilisationstheorie
Privatisierung
‚Affektive Nöte‘ im Wandel
‚homo clausus‘
c) Resümee und Ausblick
Die Psychoanalyse in der Zivilisationstheorie
Affektivität in der Zivilisationstheorie
Kapitel III: Zum Umgang mit Affektivität in den ‚Diagnosen‘ über die westlichen Gegenwartsgesellschaften
a) Soziologische Narzißmustheorie
Narzißmustheorie als Soziologie?
Von der Narzißmustheorie als Soziologie zur Soziologie ‚narzißtischer Verhaltensweisen‘
Resümee
b) Zivilisationstheoretische Fortsetzung der Diagnostik
‚Weg vom normativen Konzept des Sozialcharakters‘
Von formenden zu kompensationsbedürftigen Zwängen
Zurück zu Adorno?
Vom normativen Konzept des Sozialcharakters zum Konzept des fragmentierten Sozialcharakters?
Resümee und Ausblick
Kapitel IV: ‚Paradigmenwechsel‘ in der Psychoanalyse
a) Ein alternativer psychoanalytischer Strang
Der Beitrag Adlers
Der Beitrag Kohuts
‚Widerstände‘ in der Psychoanalyse
Diskussion einiger psychoanalytischer Grundannahmen
b) Zum ‚Biologismus‘ in Freuds Psychoanalyse
c) Zum Verhältnis von ‚Selbst‘ und ‚Zivilisation‘
Zur Beziehung der Kohutschen und der Eliasschen Theorie
Zur Zeitspezifität der Psychoanalyse
Kapitel V: Informalisierung. Ideal und Prozeß
a) Die Informalisierungstheorie
Die „Emanzipation der Emotionen“
Die „reflexive Zivilisierung“
Die Entstehung der „dritten Natur“
Sinnlich-vitale Bezüge versus „dritte Natur“
Resümee und Ausblick
b) Eine alternative Informalisierungstheorie
Das Immanenzprinzip
Wandlungen der Expressivität
Die Informalisierungsdynamik als Entfigurationalisierung auf psychischer Ebene
Wandlungen in der Gestaltung von ‚Begegnungen‘ und ‚Begegnungsstätten‘
Resümee und Ausblick
Kapitel VI: Von der ‚Affektunterdrückung‘ zur Ausgestaltung der Affektivität in Interdependenz mit dem Gegenüber
a) Prozeßmechanismen des Selbst
Selbst-Sinn
Das emotionale kommunikative Gedächtnis
Das Uneinsehbare
b) Prozeßmechanismen der Selbstreflexivität
Beziehung
Die selbstreflexiven Affekte
Selbstbeziehungsformen
Das ‚Es‘ als ‚er‘ oder ‚sie‘
c) Ausgestaltungskriterien des Selbst und der Beziehung
Reflexivitätsniveaus
Die interaktionelle und die symbolische Dimension psychischer Struktur
d) Der ‚Schleier der Erkenntnis‘
Kapitel VII: Narzißmus im Wandel derWir-Ich-Balance
a) Selbstwertbeziehungen im Wandel der Wir-Ich-Balance. Problematische Beziehungen
Zum herkömmlichen Verständnis von Individualisierung bei Elias
Von der Selbstliebe zu Selbstwertbeziehungen
b) Von den Selbstwertbeziehungen zu den Selbstbeziehungen im Wandel der Wir-Ich-Balance – eine Annäherung
Scham im Individualisierungsprozeß I: Machtdimension
Scham im Individualisierungsprozeß II: Das Gegenüber der Scham
Scham im Individualisierungsprozeß III: Die Bedeutungsdimension
Der Individualismus
Resümee und Ausblick
c) Selbstbeziehungen im Wandel der Wir-Ich-Balance. Problematisierte Beziehungen
Zur Zeitspezifität der ‚Sinne‘
Wandlungen des Betrachters
Das Problem der Aufmerksamkeit als Aufzubringendes
Das Problem der Aufmerksamkeit als zu Empfangendes
Resümee und Ausblick
d) Fazit: Zum Verhältnis von Alterität(-stheorie) und Zivilisation(-stheorie)
Der zivilisatorische Wandel der Erkenntnisdynamik: Der reine Blick
Der Blick bei Sartre
Der zivilisatorische Wandel der Beziehungsdynamik: Der Sog in die Monade
Zur Zeitspezifität der Alteritätstheorie
Alterität in Prozeß und Theorie der Zivilisation
Schluß: Zur Ausgestaltung der Affektivität als Kriterium gesellschaftlicher Entwicklung
Zur Revision des Entwicklungbegriffs
Kontrolldynamiken
Remoralisierung als Neutralisierung der Neutralisierung
Literatur
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Narzißmus im Zivilisationsprozeß: Zum gesellschaftlichen Wandel der Affektivität [1. Aufl.]
 9783839409787

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Shahrsad Amiri Narzißmus im Zivilisationsprozeß

2008-06-23 15-07-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0285182128515120|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 978.p 182128515128

Shahrsad Amiri promovierte an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover.

2008-06-23 15-07-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0285182128515120|(S.

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) T00_02 seite 2 - 978.p 182128515152

Shahrsad Amiri

Narzißmus im Zivilisationsprozeß Zum gesellschaftlichen Wandel der Affektivität

2008-06-23 15-07-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0285182128515120|(S.

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) T00_03 titel - 978.p 182128515208

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Shahrsad Amiri Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-978-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-06-23 15-07-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0285182128515120|(S.

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) T00_04 impressum - 978.p 182128515280

Inhalt

Einleitung

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Kapitel I: Affektivität als anthropologische Konstante a) Zum Umgang mit menschlicher Affektivität in den Menschenwissenschaften b) Emotion, Affekt und Gefühl Emotionen als spezifische Reaktionsmuster Zur Unterscheidung von Affekt und Gefühl ‚Die symbolische Spezies‘ c) Eine anthropologisch-psychologische Sicht Die Entstehung der Gefühle Das Problem der Intersubjektivität Emotionen im Wandel d) Eine neurobiologische Sicht ‚Unser biologisches Erbe‘ Die Komponente ‚Körper‘ ‚Die Hypothese der somatischen Marker‘ Die Umgehung des Körpers Verdeckte somatische Marker Der Primat des Körpers Das neuronale Selbst Zur Adaptivität somatischer Marker e) Resümee und Ausblick

25 25 32 33 35 36 40 41 44 47 51 51 54 57 59 60 63 64 66 68

Kapitel II: Beitrag der Zivilisationstheorie zum Verständnis von Funktion, Dynamik und Wandel der Affektivität im Gesellschaftsprozeß a) Die zivilisatorische Psychodynamik Differenzierung der psychischen Funktionen

71 74 76

Rationalisierung Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle Automatisierung der Verhaltenssteuerung b) Ansätze zu einer ‚Problematisierung‘ des Zivilisationsprozesses in der Zivilisationstheorie Privatisierung ‚Affektive Nöte‘ im Wandel ‚homo clausus‘ c) Resümee und Ausblick Die Psychoanalyse in der Zivilisationstheorie Affektivität in der Zivilisationstheorie Kapitel III: Zum Umgang mit Affektivität in den ‚Diagnosen‘ über die westlichen Gegenwartsgesellschaften a) Soziologische Narzißmustheorie Narzißmustheorie als Soziologie? Von der Narzißmustheorie als Soziologie zur Soziologie ‚narzißtischer Verhaltensweisen‘ Resümee b) Zivilisationstheoretische Fortsetzung der Diagnostik ‚Weg vom normativen Konzept des Sozialcharakters‘ Von formenden zu kompensationsbedürftigen Zwängen Zurück zu Adorno? Vom normativen Konzept des Sozialcharakters zum Konzept des fragmentierten Sozialcharakters? Resümee und Ausblick

78 80 84 87 88 91 95 99 99 106

111 113 117 120 122 123 123 126 132 138 142

Kapitel IV: ‚Paradigmenwechsel‘ in der Psychoanalyse a) Ein alternativer psychoanalytischer Strang Der Beitrag Adlers Der Beitrag Kohuts ‚Widerstände‘ in der Psychoanalyse Diskussion einiger psychoanalytischer Grundannahmen b) Zum ‚Biologismus‘ in Freuds Psychoanalyse c) Zum Verhältnis von ‚Selbst‘ und ‚Zivilisation‘ Zur Beziehung der Kohutschen und der Eliasschen Theorie Zur Zeitspezifität der Psychoanalyse

151 153 153 155 164 169 174 178 180 182

Kapitel V: Informalisierung. Ideal und Prozeß a) Die Informalisierungstheorie Die „Emanzipation der Emotionen“ Die „reflexive Zivilisierung“ Die Entstehung der „dritten Natur“ Sinnlich-vitale Bezüge versus „dritte Natur“

189 190 192 197 200 205

Resümee und Ausblick b) Eine alternative Informalisierungstheorie Das Immanenzprinzip Wandlungen der Expressivität Die Informalisierungsdynamik als Entfigurationalisierung auf psychischer Ebene Wandlungen in der Gestaltung von ‚Begegnungen‘ und ‚Begegnungsstätten‘ Resümee und Ausblick

208 211 213 217 220 223 227

Kapitel VI: Von der ‚Affektunterdrückung‘ zur Ausgestaltung der Affektivität in Interdependenz mit dem Gegenüber 233 a) Prozeßmechanismen des Selbst 237 Selbst-Sinn 237 Das emotionale kommunikative Gedächtnis 243 Das Uneinsehbare 246 b) Prozeßmechanismen der Selbstreflexivität 252 Beziehung 253 Die selbstreflexiven Affekte 259 Selbstbeziehungsformen 265 Das ‚Es‘ als ‚er‘ oder ‚sie‘ 268 c) Ausgestaltungskriterien des Selbst und der Beziehung 269 Reflexivitätsniveaus 270 Die interaktionelle und die symbolische Dimension psychischer Struktur 274 d) Der ‚Schleier der Erkenntnis‘ 277 Kapitel VII: Narzißmus im Wandel der Wir-Ich-Balance a) Selbstwertbeziehungen im Wandel der Wir-Ich-Balance. Problematische Beziehungen Zum herkömmlichen Verständnis von Individualisierung bei Elias Von der Selbstliebe zu Selbstwertbeziehungen b) Von den Selbstwertbeziehungen zu den Selbstbeziehungen im Wandel der Wir-Ich-Balance – eine Annäherung Scham im Individualisierungsprozeß I: Machtdimension Scham im Individualisierungsprozeß II: Das Gegenüber der Scham Scham im Individualisierungsprozeß III: Die Bedeutungsdimension Der Individualismus Resümee und Ausblick c) Selbstbeziehungen im Wandel der Wir-Ich-Balance. Problematisierte Beziehungen Zur Zeitspezifität der ‚Sinne‘

283 288 288 292 298 301 308 317 329 337 341 344

Wandlungen des Betrachters Das Problem der Aufmerksamkeit als Aufzubringendes Das Problem der Aufmerksamkeit als zu Empfangendes Resümee und Ausblick d) Fazit: Zum Verhältnis von Alterität(-stheorie) und Zivilisation(-stheorie) Der zivilisatorische Wandel der Erkenntnisdynamik: Der reine Blick Der Blick bei Sartre Der zivilisatorische Wandel der Beziehungsdynamik: Der Sog in die Monade Zur Zeitspezifität der Alteritätstheorie Alterität in Prozeß und Theorie der Zivilisation

356 361 373 375

384 392 397

Schluß: Zur Ausgestaltung der Affektivität als Kriterium gesellschaftlicher Entwicklung Zur Revision des Entwicklungbegriffs Kontrolldynamiken Remoralisierung als Neutralisierung der Neutralisierung

399 401 413 415

Literatur

419

377 377 380

Danksagung

Mein ganz besonderer Dank gilt den engsten Begleitern dieser Arbeit Michael Fischer, Sebastian Wessels, Andreas Rieger, Bernd Bauerochse und Bernd Sommer, die über die Jahre kontinuierlich in unserem figurationssoziologischen Colloquium in Diskussion und kritischer Auseinandersetzung einen erheblichen Beitrag zum Zustandekommen dieser Arbeit geleistet haben. Zu nennen sind hier auch die zeitweiligen, nichtsdestotrotz engagierten Gäste des Colloquiums Fritz-Martin Breyer, Mathias Pohl und Markus Brunner. Prof. Dr. Harald Welzer danke ich ganz herzlich für die Betreuung der Arbeit. Mit wertvollen Tips und Diskussionen standen mir weiter Prof. Dr. Hans Peter Waldhoff und Claudia Pahl in den Anfängen der Arbeit zur Seite. Die Alteritätstheorie von Prof. Dr. Günter H. Seidler war ausschlaggebend bei der Entstehung der Idee zu dieser Arbeit und bildet ihr Fundament. Ihm sei an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt. Die Universität Hannover hat mir finanzielle Unterstützung in Form der Graduiertenförderung gewährt und damit freundlicherweise den Beginn dieses Unternehmens ermöglicht.

„Wir kämpfen jetzt gegen eine Richtung. Aber diese Richtung wird sterben, durch andere Richtungen verdrängt; dann wird man unsere Argumentation gegen sie nicht mehr verstehen; nicht begreifen, warum man all das hat sagen müssen.“ (Wittgenstein)

Einleitung

Es geschieht etwas Tiefgreifendes mit Menschen im Zuge von langfristigen, in einer bestimmten Richtung verlaufenden Gesamttransformationen ihrer Gesellschaften, der sogenannten ‚Entwicklung‘, das weder geplant, noch den Menschen einsichtig ist, stellte Norbert Elias in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts fest und prägte für dieses Etwas den Begriff der ‚Zivilisation‘. Das Verhältnis von gesellschaftlicher Entwicklung und Zivilisation ist dabei nicht als Einbahnstraße zwischen Gesellschaft und Individuum gedacht. Der Prozeß der Zivilisation als Wandel der Affektivität der Menschen sei selbst ein Aspekt dieser Entwicklung und das Verhältnis sei als Interdependenz, als gegenseitige Bedingtheit von Sozio- und Psychogenese zu fassen. Selbst geprägt von eben diesem Zivilisationsprozeß, sich mehr oder weniger im Rahmen der damaligen, ebenfalls von diesem Zivilisationsprozeß geprägten Menschenwissenschaften bewegend, insbesondere der damaligen Psychoanalyse, und wahrscheinlich bestimmt von der damals vorherrschenden Problematik der Entzivilisierung richtete er den Blick auf diese Wandlungen und formulierte die Frage, wie und warum sich die Affektivität des Verhaltens und der Erfahrungen von Menschen, die Regelung der individuellen Affekte durch Fremd- und durch Selbstzwänge und damit in gewisser Hinsicht die Struktur aller menschlichen Äußerungen überhaupt in eine bestimmte Richtung verändern. Besondere Beachtung fand in seinem Modell auf psychischer Ebene das Verhältnis von Affekt und Affektkontrolle, das sich in Interdependenz mit Wandlungen der Beziehungs- und Machtstrukturen verändert. Im Gesamtwerk von Elias lassen sich mindestens drei Auffassungen von ‚Zivilisation‘ unterscheiden. Zwei davon expliziert er selbst. Von der genannten ‚blinden‘ Psychogenese, die den strukturellen Begriff der Zivilisation ausmacht, grenzt er den wertenden Zivilisationsbegriff ab, der sich eher auf ein Ideal von Verhaltens- und Empfindensmustern bezieht, und Menschen und Menschengruppen, vornehmlich jenen, die sich als Erfinder

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bzw. Verkörperung der Zivilisation verstehen, als Kampfbegriff dient. Ein drittes, streckenweise und eher implizit mitlaufendes Verständnis ist die Gleichsetzung von Zivilisierung und Humanisierung: Durch Verstärkung und zunehmende Automatisierung der Regulierung ‚animalischer‘ Triebe und Affekte und der damit einhergehenden Suspendierung der Gewalt aus den zwischenmenschlichen Beziehungen werden die Menschen zunehmend in die Lage versetzt, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ohne sich und anderen dabei zu schaden. Zygmunt Bauman, der Soziologe mit explizit moralischem Standpunkt, sensibler für den Zusammenhang von anerkannter Moral und herrschender Macht, hat den Kern der Eliasschen Zivilisationstheorie angegriffen und in gewisser Hinsicht die These auf den Kopf gestellt. Gemäß der Einsicht, daß die Geschichte des Fortschritts von den Siegern erzählt wird, wird der Zivilisationstheorie, ohne den Zivilisationsprozeß als blinde Psychodynamik zu leugnen, gewissermaßen unterstellt, eine Verbindung aus den beiden letztgenannten Zivilisationsbegriffen, also als Herrschaftsmittel und als Inbegriff der Humanität darzustellen: Die Vorstellung, Humanität sei aus präsozialer (bzw. präzivilisatorischer) Barbarei erwachsen, wirke moralisch aufbauend und sei als diagnostischer Mythos tief in das Bewußtsein unserer westlichen Kultur eingegraben, und die Theorie von Elias trage dazu bei, diesen Mythos zu untermauern. Für Bauman besteht der strukturelle Zivilisationsprozeß in seiner dominanten Form, grob auf den Punkt gebracht, nicht in zunehmender Kontrolle gefährlicher Affekte, sondern in der Neutralisierung der für moralisches Handeln unabdingbaren Affektivität, die er bisweilen vage als ‚moralischen Impuls‘ bezeichnet. Dieser kernigen Kritik Zygmunt Baumans an der Eliasschen Zivilisationstheorie stehen gegenwärtig die davon größtenteils unbeeindruckten Nachfolge-Zivilisationstheorien gegenüber, die im Vergleich zur Muttertheorie ausgerechnet jene Anteile stärken, die von der Baumanschen Kritik betroffen sind. Gleichzeitig findet sich in und jenseits der Soziologie ein auffallendes Desinteresse daran, was die (westliche) Zivilisation ist, zu der sich immer mehr Menschen(gruppen) bekennen und der sie zugerechnet werden möchten, welches Phänomen eigentlich gegenwärtig von ‚uns‘ verteidigt wird. Die ‚westliche Zivilisation‘ sei angegriffen worden, so hört man, und seitdem sei nichts mehr, wie es vorher war. Während die soziologischen Streitpunkte in erster Linie die Bedingungen der Möglichkeit einer Über-Ich-Entwicklung, von individuellen Selbststeuerungsfähigkeiten bzw. von menschlicher Moralität/Humanität betreffen, findet der Kampf ‚für/gegen die Zivilisation‘ vornehmlich jenseits solcher Überlegungen und ergänzt durch andersartige Kampfmittel statt. Mit Bauman kann man hier beobachten, wie bisweilen der Kampfbegriff Zivilisation mit Zivilisation als dem Inbegriff der Humanität verschmilzt, mit Elias kann man eine spezifische Beziehungsdynamik beobachten, die zunehmend einen entzivilisierenden Charakter annimmt, je stärker Zivilisation

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als Herrschafts- und Legitimationsbegriff zum Zuge kommt. In dieser Arbeit wird über weite Strecken die erstgenannte Ebene der Auseinandersetzungen, also der strukturelle Zivilisationsbegriff, fokussiert und bearbeitet, wobei sein Verhältnis zum Aspekt der Macht (Kampfbegriff) und zur Erfahrungsdimension (Bewertung des Prozesses etwa als human/inhuman, besser/schlechter) notwendigerweise im Blickfeld bleibt. Die Bearbeitung des Konfliktfeldes zwischen der (westlichen) Zivilisation und dem Rest, das hier ausgespart bleibt, bedarf zunächst einer solchen Klärung des strukturellen Zivilisationsbegriffs. Zygmunt Bauman hat weiter der sozialwissenschaftlichen Theorie eine Vernachlässigung der ‚existentiellen Modalität des Zwischenmenschlichen‘ vorgehalten und behauptet, daß eine Untersuchung der soziologischen Relevanz dieser Grunderfahrung in den Sozialwissenschaften bis zum heutigen Tag ausstehe.1 Seine Arbeiten, die u.a. den Versuch darstellen, diese Lücke zu schließen, werden in der Soziologie jedoch nicht ernsthaft und nicht konsequent gewürdigt. Die vorliegende Arbeit versteht sich als Versuch einer Fundierung der zentralen, den Zivilisationsprozeß betreffenden Thesen Baumans: Es geht mir um eine differenzierte Sicht auf die Qualität der Beziehung und um deren Wandel im Zuge von Zivilisationsprozessen. Zu diesem Zweck werden in dieser Arbeit unterschiedliche Theoriestränge und Diskussionen zusammengeführt, die einander gerne ignorieren, so daß sie verschiedene Welten zu beschreiben scheinen, oder abstoßen, so daß sie sich etwa vordergründig in Form der Zivilisierungs- und der Entzivilisierungsthese gegenüber zu stehen scheinen. Ein von der Soziologie stark vernachlässigter psychoanalytischer Theoriestrang ist die Narzißmusdebatte, deren ausgereiftes Endprodukt in meinen Augen die Alteritätstheorie von G.H. Seidler darstellt. Der soziologische Ansatz von Norbert Elias und die Alteritätstheorie bilden den Rahmen der vorliegenden Arbeit. Mein ursprüngliches Anliegen, die beiden Ansätze, deren Gemeinsamkeit und Wert in ihrer Beziehungsorientiertheit, deren Relevanz auch Gegenstand der Arbeit ist, besteht, ‚einfach‘ zur gegenseitigen Befruchtung heranzuziehen, so daß man zum Schluß ein ausdifferenzierteres und durch neuere Forschungsergebnisse aufgefrischtes Menschenbild in der soziologischen Theorie und eine zivilisatorische/soziologische Einbettung der psychoanalytischen Theorie hätte, ist in dieser Form mehr oder weniger gescheitert – und zwar am Affektbegriff. Hinter dem (oft lediglich implizierten) Affektbegriff, an dem sich die Theorien scheiden, steht immer ein spezifisches Menschenbild, und diesem Menschenbild wiederum liegt ein spezifischer Habitus zugrunde, der sich in der Theorie artikuliert. Bei der Diskussion und Untersuchung der Theorien, die so auf ihr Menschenbild abzuklopfen waren, nahm ich diesen Umweg über den jeweils (zeit-/gesellschafts-)spezifischen Habitus in ihnen. Es zeigte sich, daß zwei 1

Vgl. Bauman 2002: S. 194

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konträre Affektbegriffe vorliegen, wobei der eine, der tendenziell eine ‚gefährliche‘ Erregung im Körperinnern meint, dem dominanten Zivilisationsprozeß selbst geschuldet ist und in verdichteter Form dessen spezifische Erkenntnis-, Beziehungs- und Psychodynamik darbietet, der andere, der tendenziell eine basale Bewertungsprozedur (Affizierung als Realisierung) meint, als Reaktion auf den ersteren zur Konzeptualisierung gelangt und als solches Konzept eine Art ‚Gegenbewegung‘ zum dominanten Prozeß darstellt, den es bisweilen problematisiert. Ansätze letzteren Typs werden in dieser Arbeit als ‚alternativ‘ bezeichnet. Mit alternativ ist gemeint, daß es sich um Denkmodelle handelt, welche Grundannahmen implizieren, die im Verhältnis zur herkömmlichen Theorie eine Inkohärenz aufweisen, infolgedessen nicht ohne weiteres integrierbar sind. Diese Inkohärenzen, die sich bisweilen auch innerhalb ein und derselben Theorie finden, zu explizieren und zu präzisieren, macht einen Großteil der Theoriediskussion in dieser Arbeit aus. Es werden Brüche in und zwischen Theorien ausgemacht, Vorläufer identifiziert und Weiterentwicklungen bzw. Theorieschwund festgestellt. Diese Spezifika als sozialen Habitus zu betrachten, der in den Theorien zum Ausdruck kommt, bedeutete nach ihrem Zusammenhang mit den sozialen Prozessen zu fragen, die in den Theorien selbst bearbeitet werden. Während die erste Kategorie kraft ihrer Gesellschafts- und Zeitspezifität im Sinne der Praxis des Habitus Auskunft über den hegemonialen Diskurs und somit den dominanten Prozeß gibt, formulieren die Gegenströmungen zu den dominanten Verhaltens- und Empfindensmustern das Unbehagen am Prozeß auf mehr oder weniger hohem Theorieniveau und vervollständigen so erst das Bild. Auch wenn das Unternehmen mehr und vor allem andere Probleme bereitete, als zunächst vermutet, ist es mir dank der vorangegangenen ‚alternativen‘ Ansätze sowohl gelungen, ein ausdifferenzierteres Menschenbild zu erarbeiten, als auch ansatzweise eine zivilisatorische Einordnung der soziologischen und psychoanalytischen Theorieentwicklung auf Grundlage der revidierten Zivilisationskriterien vorzunehmen. Die Theoriediskussion erfolgt nicht um der reinen Theorie willen. Der Leitgedanke der hier verfolgten Linie ist, daß die Theorien in ihrer jeweiligen Etablierten- oder Außenseiterposition Ausdruck der Praxis und des Erlebens von Menschen sind und somit als Teil der Wahrgebungs- und Wahrnehmungsdynamik und ihrer jeweiligen Problematik zu verstehen sind. Theorien und hier insbesondere ‚Affekttheorien‘ bieten einen spezifischen Zugang zur Praxis. Wenn also etwa das psychoenergetische Modell aus der Psychoanalyse Gegenstand der Kritik wird, dann nicht nur, um darzulegen, daß es der menschlichen Natur nicht gerecht wird und daher zu korrigieren ist, sondern vor allem um an ihm und seiner Genese aufzuspüren, welche Beziehungsausgestaltungen und Ausgestaltungen der Affektivität zu dieser Wahrnehmung des Menschen führen und, viel wichtiger noch, welche Konsequenzen es in verschiedenen Bereichen hat, wenn

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Menschen in verschiedenen Zusammenhängen Menschen auf diese Weise wahrnehmen und somit mehr oder weniger wahrgeben. Die sich daraus ergebende Beziehungs- und Psychodynamik, deren wissenschaftliche Verdichtung das tendenziell individualistische und biologistische Menschenbild ist, wird mit dem alteritätstheoretisch ausgerichteten Modell des destruktiven Narzißmus erfaßt. Die Habitusbedingtheit dieser Auffassung über Menschen zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Beharrlichkeit, die nach jahrelangen Kritiken und Widerlegungen des klassischen Konzepts in Grundzügen in Theorie und Praxis weiterhin am Wirken ist. Der Titel der Arbeit ‚Narzißmus im Zivilisationsprozeß‘ bezieht sich auf einen zentralen Zug des Zivilisationsprozesses, der durch eine Verschiebung der Problematik von der Selbstwertebene zur Selbstebene im Zuge noch zu spezifizierender Individualisierungsprozesse gekennzeichnet ist. Affektivität unterliegt nicht nur einem gesellschaftlichen Wandel, sondern ist selbst in ihrer jeweiligen Ausgestaltung konstitutives Element sozialer Prozesse, und als Kriterium gesellschaftlicher Entwicklung zu betrachten. Im Gegenzug zu gegenwärtigen Tendenzen in Gesellschaft und Wissenschaft müssen folgende Punkte hervorgehoben werden: 1) Affektivität ist in jeglicher Variante menschlichen Seins und Werdens, auch in hoch individualisierten, zivilisierten, globalisierten Beziehungen, am Wirken, insofern es sich immer um von leibhaftigen Menschen gemachte Prozesse handelt, und immer leibhaftige Menschen von den Prozessen betroffen sind. 2) Affektivität ist als eine Dimension der Gesellschaftsentwicklung etwa in Modernisierungs-, Demokratisierung- oder Globalisierungstheorien, milde gesprochen, stark vernachlässigt worden, was selbst als Teil der Entwicklungsdynamik zu begreifen ist. 3) Wandlungen in der Affektivität der Einen sind in ihrer Verflochtenheit mit der der Anderen, und zwar in ihrer qualitativen Dynamik, nicht als mehr oder weniger Affektivität/Affektunterdrückung, sondern als Ausgestaltungen der Affektivität zu erfassen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die spezifische Wahrnehmung der Einen zugleich die Wahrgebung der Anderen ist. Als Kriterium bezieht sich die Ausgestaltung der Affektivität, wie zu zeigen sein wird, auf das Schicksal des Beziehungswunsches und der Beziehungsfähigkeit. All diesen Überlegungen liegt die These zugrunde, daß Affektivität nicht lediglich Gegenstand, sondern auch und vor allem Mittel des Zivilisationsprozesses ist. Die von Elias beschriebene Affektneutralisierung läßt sich alternativ als ein Aus-den-Fugen-Geraten, eine zunehmende NichtVerfügbarkeit der selbstreflexiven Affekte Scham und Schuld verstehen, welche die Wahrnehmung des Anderen, Gewissen und Erleben von Urheberschaft und somit die grundlegende Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit der sozialen Realität betreffen. Die ‚zunehmende Nichtverfügbarkeit‘ bezieht sich nicht auf einen linearen Zerfallsprozeß, einen Prozeß, der mit einem ‚Ent-‘ genügend charakterisiert wäre, sondern auf eine zu spezifizierende Dynamik, die, wie immer im Falle der Menschen, von physi-

18 | NARZISSMUS IM ZIVILISATIONSPROZESS

schen, psychischen und sozialen Überlebensversuchen geprägt ist und je nach Begehren und Bedrohung Gestalt annimmt. Unter diesem Gesichtspunkt gilt es auch sogenannte Sublimierungsmöglichkeiten bzw. die ‚Kulturproduktion‘ qualitativ differenzierend zu betrachten. Hervorheben möchte ich vorweg, daß mit der Kritik und Revision der Zivilisationstheorie von Norbert Elias diese nicht automatisch verworfen wird. Sie bildet vielmehr den Ausgangspunkt und dient gewissermaßen als Anlehnungsmodell der Überlegungen. Eine Vorsicht gegenüber mutmaßlichen ‚Fortschrittstheorien‘ ist berechtigt. Doch nichtsdestotrotz hat dieser Prozeß, mag man ihn Modernisierung, Zivilisation oder Entwicklung nennen, ich würde ihn lieber als zivilisatorische Verwicklungen bezeichnen, stattgefunden und verstrickt weiterhin die Menschheit. Das Argument, der Zivilisationsprozeß laufe nicht so, wie Elias es vorhergesagt hat – mag dies seine Berechtigung haben oder nicht – ändert nichts an der Tatsache, daß bestimmte zivilisatorische Mechanismen am Werk sind, die für die Menschen nicht durchsichtig sind. Heute sind die Kriterien, die eine sichere Bestimmung von Entwicklungsrichtungen ermöglichten, verblaßt. Wenn man von Entwicklung spricht, spricht man nicht eindeutig von ‚Fortschritt‘; man weiß, daß sich alles globalisiert, man weiß, daß die Entwicklungen in bestimmten Bereichen sehr schnell ‚voranschreiten‘, daß man sehr bald schon sehr viel mehr erreicht, viel mehr Techniken, viel mehr Wissen, viel mehr Geräte und Knöpfe. Aber die verbliebenen Kriterien, mögen sie ‚Wachstum‘, Wettbewerbsfähigkeit oder sogar noch ‚Demokratie‘ und ‚Zivilisation‘ heißen, weisen nur noch vage Verbindungen zu Werten auf wie Humanität, Sicherheit, Wohlfahrt und Solidarität. Diese Unbestimmtheit der Entwicklungsrichtung, was das Schicksal der Menschen angeht, und die ‚Wertunsicherheit‘ kennzeichnen die sogenannte Post-Moderne. Aber eine dem Prozeß nachgebende postmoderne Haltung, mit der jegliches Prozeßdenken verworfen wird, von sozialen Prozessen abstrahiert wird oder in ihrer populärsten Form Gestaltungsmacht suggeriert wird, ohne die Verstrickungen und ihre Genese auf verschiedenen Ebenen offenzulegen, ist nicht nur destruktiv, sondern vor allem auch elitär bzw. ‚ethnozentrisch‘. Denn es trägt der Tatsache nicht Rechnung, daß der Prozeß der Ausbreitung der Zivilisation in der ganzen Welt seine Spuren hinterlassen hat und hinterläßt und die Menschen in eine Wirklichkeit verstrickt hat und verstrickt, die man im Westen schon nicht mehr (wahr)haben will. Aber es hilft nicht, den Prozeß zu leugnen oder für beendet zu erklären und einen Neuanfang zu verkünden, der Prozeß muß wachsam getragen werden, was bedeutet, die Vergangenheit zu ver-antworten. Sowohl in bezug auf die innerstaatliche als auch zwischenstaatliche Ebene geht es darum, einen Weg des Verständnisses der ungewollten Folgen des Zivilisationsprozesses und der Verwicklungen als Realität von Menschen zu finden, die nicht die Wahl haben, es dabei zu belassen, den Prozeß zu leugnen und dessen Ideologie als Lebenslüge zu entlarven. War

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die Moderne eine Lebenslüge, die ihren Begleiterscheinungen und ihrem zerstörerischen Potential gegenüber blind war, kann die Postmoderne zu einer Lebenslüge werden, nach der niemand anderes die Verantwortung für den Trümmerhaufen zu tragen hat als die Zertrümmerten selbst. Weder der soziologische Begriff der Entwicklung noch der Zivilisation sind reif dafür, in den Keller überholter Begriffe getragen zu werden. Das Ziel der Arbeit besteht also darin, in Auseinandersetzung mit dem Eliasschen Ansatz eine qualitativ-dynamische Sicht auf die Psychogenese in ‚individualisierteren‘/‚zivilisierteren‘ Gesellschaften durch die Skizzierung einer spezifischen Erkenntnisdynamik in Zusammenhang mit einer spezifischen Beziehungs- und Psychodynamik zu entwickeln, die in Richtung einer Gesamtobjektivierung zu einer angemesseneren Konzeptualisierung der Geschehnisse auf inner- und zwischenstaatlicher Ebene beitragen kann. Ein Großteil der Arbeit (Kap. I-VI) dient der Annäherung und der Vorbereitung zum Verständnis dieser Dynamik. So bauen die einzelnen Kapitel stark aufeinander auf. Den Hauptteil der Arbeit bilden die Kapitel VI und VII, wo eine Revision des Menschenbildes und darauf aufbauend eine Revision der Zivilisationskriterien erfolgt. Im ersten Kapitel „Affektivität als anthropologische Konstante“ wird zunächst mit einer annähernden Klärung des Begriffs der ‚Affektivität‘ eine Grundlage geschaffen, um in den folgenden Kapiteln nach dem Umgang der Theorien mit Affektivität und nach ihrem Menschenbild zu suchen; es bietet einen alternativen Affektbegriff gewissermaßen als Kontrastgrundlage. Ich stütze mich hier vor allem auf das affekttheoretische Verständnis des Psychoanalytikers Rainer Krause, die anthropologischpsychologische Sicht von Norbert Elias und George Herbert Mead und die neurobiologischen und -psychologischen Arbeiten von Terrence W. Deacon, Joseph LeDoux sowie ausführlicher von Antonio R. Damasio. Diese herangezogenen Theorien ergeben erst zusammen gesehen ein Bild, das im weiteren Verlauf durch die Ausarbeitung der Beziehungsdimension zu vervollständigen bleibt. Diese Erörterungen, in denen das Verhältnis von Affekt, Körper/Gehirn und Selbst skizziert wird und die Realisierungsfunktion der Affekte und somit ihre grundlegende Relevanz für Orientierung, Kommunikation und Steuerung dargestellt wird, werden erst im sechsten Kapitel wieder aufgenommen und mit einer Präzisierung der Beziehungskomponente und dem alteritätstheoretischen Modell der selbstreflexiven Affekte ergänzt. Im zweiten Kapitel „Beitrag der Zivilisationstheorie zum Verständnis von Funktion, Dynamik und Wandel der Affektivität im Gesellschaftsprozeß“ werden zunächst Aussagen von Elias zum Wandel der Affektivität im Zivilisationsprozeß herausgearbeitet, die er unter den Aspekten ‚Differenzierung der psychischen Struktur‘, ‚Psychologisierung und Rationalisierung‘ und ‚Anstieg der Scham- und Peinlichkeitsschwellen‘ behandelt. Im zweiten Teil dieses Kapitels werden dann die Stellen herausgearbeitet, die

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eine Problematisierung des Zivilisationsprozeßverlaufs aus Elias’ eigener Sicht behandeln, darunter die homo-clausus-Problematik, die Problematik des sich ‚als wir-los empfindenden Ichs‘, deren Verständnis samt der Frage nach ihrem Stellenwert im Zivilisationsprozeß eine Leitfrage der Arbeit sein wird. Die Frage, die in diesem Kapitel im Vordergrund steht, ist, inwiefern die Zivilisationstheorie trotz aller diesbezüglichen Distanzierungen Elias’ in einem triebtheoretischen Denken verfangen ist und inwiefern sie über dieses Denken hinausgeht. Es geht also um die Einschätzung der psychoanalytischen Anteile der Zivilisationstheorie vom heutigen Erkenntnisstand der (besser: eines Teils der) Psychoanalyse aus. Im Ergebnis läßt sich festhalten, daß die Annahmen zum Verhältnis von Affekt und Über-Ich und somit auch die Annahmen über die Funktion der Affekte in der Zivilisationstheorie revisions- oder zumindest ergänzungsbedürftig sind. Die Kommunikations-, Orientierungs- und Steuerungsfunktion der Affekte sind in der Zivilisationstheorie unterbelichtet, wenn sie auch nicht völlig fehlen; der triebtheoretische Affektbegriff bleibt hier dominant. Die Kapitel III-V folgen einem Strukturierungsprinzip, das sich aus diesem ‚Problem mit der Triebtheorie‘ ergeben hat. In allen drei Kapiteln geht es um den triebtheoretisch orientierten Standpunkt einerseits und um dessen Reflexion aus einer alternativen Sicht andererseits. Das ‚Problem mit der Triebtheorie‘ besteht darin, daß ein Menschenbild zugrunde gelegt wird, dessen zentrale Annahmen sich durch die neueren psychoanalytischen und affekttheoretischen Arbeiten als unberechtigt erweisen. Im Ergebnis läßt sich feststellen, daß die Triebtheorie selbst als Repräsentant einer spezifischen Habitusform, eben jener, die Elias als homo clausus konzeptualisiert hatte, als Ausdruck einer zeit- und gesellschaftsspezifischen Ausgestaltung der Affektivität und der Beziehung zu betrachten ist. Und jene Theorien, die noch mit diesem Denkmuster arbeiten, machen diese Habitusform nicht zu ihrem Reflexionsgegenstand, vielmehr ‚praktizieren‘ sie sie weiterhin. Zu dieser Theoriekategorie gehören weite Teile der neueren Zivilisationstheorie, am auffälligsten darunter die Informalisierungstheorie von Cas Wouters. Als alternative Sicht dient eine narzißmustheoretische, die der triebtheoretischen Verflachung des Emotionsbegriffs in der Zivilisationstheorie entgegensetzt wird. Im dritten Kapitel „Zum Umgang mit Affektivität in den ‚Diagnosen‘ über die westlichen Gegenwartsgesellschaften“ erfolgt eine erste Gegenüberstellung dieser beiden Stränge im soziologischen Bereich. Einer kurzen Darstellung der Entwicklungslinie der Narzißmustheorie folgt eine Darstellung und Diskussion der ‚zivilisationstheoretischen Fortsetzung‘ der Diagnostik samt ihren Kritikern. Als Ergebnis dieses Kapitels ist festzuhalten, daß sich die Zivilisationstheorie zu einer ‚Überlagerungstheorie‘ (Zivilisation überlagert Natur) entwickelt hat, die keine Interdependenzdynamik von Psycho- und Soziogenese mehr konzeptualisiert, sondern dies allenfalls nur noch als ihr exklusives Erkenntnisprivileg postuliert. Ent-

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sprechend mißversteht sie die von den Narzißmustheoretikern vertretene ‚Entzivilisierungsthese‘ in bezug auf entwickeltere Gesellschaften als Behauptung einer Regression auf frühere Verhaltens- und Empfindensmuster, wo diese eigentlich die Entstehung neuer Verhaltens- und Empfindensmuster postulieren, die das Vermögen der Menschen zur Bedürfnisbefriedigung mindern. Wo die Zivilisationstheoretiker darauf beharren, daß physische Gewalt abgenommen habe und Selbstkontrolle und Langsicht zugenommen haben, verweist die Narzißmustheorie auf die Dimension der psychischen Existenz, die unter Umständen so problematisch werden kann, daß ihre Zwänge dominant verhaltens- und empfindenssteuernd werden. Differenziert man die ‚Überlebensaspekte‘ in physische, soziale und psychische, kann man die Zivilisationskontroverse im neuen Licht betrachten. Diese Kontroverse, die zunächst als Mißverständnis erscheint, baut auf zwei unterschiedlichen Begriffen von ‚Emotionen‘ bzw. ‚Affekten‘ auf. Hier findet schon eine ansatzweise Differenzierung der Selbstund Selbstwertebene statt, die im 4. Kapitel in einem weiteren Schritt präzisiert wird, bevor sie im 6. Kapitel im alteritätstheoretischen Modell integriert erscheint. Im vierten Kapitel „‚Paradigmenwechsel‘ in der Psychoanalyse“ wird zunächst ein psychoanalytischer Strang grob nachgezeichnet, der von Anbeginn als Alternative zur Freudschen Psychoanalyse existiert hat. Als Repräsentant dieses Stranges wird die Selbstpsychologie Heinz Kohuts vorgestellt. Es wird dargelegt, mit welcher Begründung Kohut sich von der Freudschen Psychoanalyse absetzt und mit welcher Begründung sein Konzept zurückgewiesen wird. Während Kohut – kurz gesagt – darauf beharrt, daß ‚Triebe‘ nur in Zusammenhang mit einem ‚Selbst‘ einen Sinn ergeben, wird seinem Konzept, oder besser: ihm an diesem vorbei, entgegengehalten, es entferne sich von der ‚Wahrheit‘ der Psychoanalyse, nämlich der Triebtheorie. Bei einer näheren Betrachtung zentraler Annahmen dieser ‚Wahrheit‘ anhand der Arbeiten von Morris N. Eagle erweist sie sich aber als unberechtigte Sicht auf die menschliche Natur, vor allem, was die Zuschreibung eines Es-Status an bestimmte natürliche Anteile des Menschen angeht. In einem weiteren Teil dieses Kapitels wird das Verhältnis von ‚Selbst‘ und ‚Zivilisation‘ erörtert. Inwiefern der hier vorgestellte alternative Strang der Psychoanalyse bei Elias ausfindig zu machen ist und inwiefern die Selbstpsychologie als Ergänzung der Zivilisationstheorie betrachtet werden kann, ist die eine Frage. Die andere, die aus Kohuts eigener Sicht erörtert wird, richtet sich auf die Zeitspezifität psychoanalytischer Theorien. Insgesamt läßt sich hier festhalten, daß die Zivilisationstheorie samt ihren psychoanalytischen Annahmen schon aus einer bestimmten Entwicklungstendenz des Selbst, wie es bei Kohut ansatzweise konzeptualisiert ist, und der entsprechenden Betrachtung isolierter ‚Triebe‘ herrührt, letztere wiederum selbst Ergebnis eines spezifischen Zivilisationsprozesses sind, der aber in seiner Eigentümlichkeit noch zu bestimmen bleibt.

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Im fünften Kapitel „Informalisierung. Ideal und Prozeß“ wird dieser Zivilisationsverlauf in einem ersten Zwischenschritt näher spezifiziert, bevor er im siebten Kapitel aus alteritätstheoretischer Sicht als Wandel der Selbstbeziehungen in Interdependenz mit dem Wandel des Anderen integriert dargestellt wird. Die Spezifizierung des Zivilisationsverlaufs geschieht hier nicht anhand der Informalisierungstheorie Wouters’, die sich als Fortsetzung und kritische Erörterung der Eliasschen Theorie versteht. Vielmehr wird letztere zunächst in Zusammenhang mit verwandten Ansätzen dargestellt, auf psychoanalytische Grundannahmen, den zugrunde gelegten Emotionsbegriff und das Menschenbild überprüft, wobei sie sich als die Ideologie der neueren zivilisatorischen Entwicklungen erweist. Der spezifische Prozeßverlauf selbst läßt sich angemessener mit Sennetts Theorie der Öffentlichkeit bestimmen, die als Theorie der ‚Entfigurationalisierung‘ auf psychischer Ebene gelesen werden kann. Während in der Informalisierungstheorie entsprechend ihrem triebtheoretisch verflachten Emotionsbegriff das ‚kontrollierte Wiederausleben der Emotionen‘, auch der ‚gefährlichen Gefühle‘, als neue Zivilisationserrungenschaft postuliert und gefeiert wird, geht es mit Sennett darum, ansatzweise zu ergründen, wie es kam, daß die Emotionen als gefährlich erlebt wurden und ihnen ein Es-Status verliehen wurde, und welche Konsequenzen dies für die weitere Beziehungs- und Psychodynamik hatte. Diese Dynamik zu erfassen bedarf eines Verständnisses von menschlicher Affektivität, das nicht auf die Bereiche ‚Sexualität‘ und ‚Gewalt‘ verkürzt ist, sondern ihre grundlegende Relevanz über diese Bereiche hinaus, in ihrer selbst- und beziehungsstiftenden und -steuernden Funktion in Rechnung stellt. Folgt man diesem Verständnis von Affektivität, so erweist sich Sennetts Theorie der Öffentlichkeit als Theorie der Genese des informalisierungstheoretischen Menschenbildes, das identisch ist mit dem homo-clausus-Konzept Elias’ als eine spezifische Selbst- und Fremdwahrnehmung, die grob gekennzeichnet ist durch ‚Selbstzweifel‘, ‚Selbstsuche‘ und eine Verleugnungshaltung gegenüber der ‚Realität des Anderen‘. Sennetts Narzißmus-Konzept bezieht sich also auf eine spezifische Ausgestaltung der Affektivität und eine entsprechende Ausgerichtetheit auf den Anderen, die bei Elias schon thematisiert, in seinen Konsequenzen für eben den Zivilisationsprozeß aber nicht weiter bedacht wurde. Wo Elias mit der Postulierung von Rationalisierungs- und Distanzierungsprozessen den Bereich der Affektivität hinter sich läßt und die Psychogenese, Wandlungen von Zivilisationszwängen, Gewissensbildung und Vermittlung von Zivilisationsstandards den verlängerten Interdependenzketten und somit mehr oder weniger der Ebene der Identifizierung über gemeinsame Symbole anvertraut, bewegt sich Sennett weiterhin im Bereich des Unmittelbaren, der Ausgestaltung der Affektivität in Interdependenz mit einem Gegenüber in Interaktion. Eine zentrale Kategorie der Zivilisationstheorie, die in der Informalisierungstheorie so weit überstrapaziert wird, daß sie nichts mehr aussagt, die ‚Selbstkon-

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trolle‘, erweist sich im Zuge dieser Überlegungen als habitusspezifische Angelegenheit, die einer spezifischen Erfahrung von Beziehung entspricht, welche auf Macht reduziert wird, wobei Macht lediglich eine quantitative Kategorie darstellt. An dieser Stelle ist der Vergleich trieb- und affekttheoretisch orientierter Theorien, wie er für diese Arbeit notwendig war, abgeschlossen und es kann die oben erwähnte zivilisationsspezifische Ausgestaltung der Affektivität vertieft werden. Im sechsten Kapitel „Von der Affektunterdrükkung zur Ausgestaltung der Affektivität in Interdependenz mit dem Gegenüber“ werden anhand der Alteritätstheorie die bisherigen Ergebnisse der Theoriediskussion zusammengefügt und alteritätstheoretische Grundannahmen u.a. anhand der Arbeiten von Damasio zu Mechanismen des Selbst, von Harald Welzer zum kommunikativen Gedächtnis und von Daniel N. Stern zu Affektabstimmung und globaler Wahrnehmung vertieft und fundiert. Hier erfolgt die Explizierung und Ausdifferenzierung des Menschenbildes und des Begriffs der Affektivität, die im siebten Kapitel der Revision der zivilisationstheoretischen Grundannahmen sowie der zivilisatorischen Kriterien zugrunde gelegt werden. Der entscheidende Vorteil liegt hier in der Möglichkeit einer qualitativ-dynamischen Sicht, aus der die Ausgestaltung des Selbst in Zusammenhang mit Beziehungsqualitäten gesehen werden kann und somit als Reifegradierungen – die soziale Realität einbeziehend – Reflexionsniveaus konzeptualisiert werden können, anstatt ‚höhere Selbstkontrolle/-steuerung‘ oder Distanzierungen ins vermeintlich Blaue hinein zu Kriterien psychischer Reife zu erheben. Im siebten Kapitel „Narzißmus im Wandel der Wir-Ich-Balance“ wird der Zivilisationsprozeß als Ausgestaltung der Affektivität in Zusammenhang mit dem ‚Gestaltwandel des Anderen‘ im Zuge von Individualisierungsprozessen und dem entsprechenden Wandel der Erfahrung von Macht erörtert. Hier wird die zivilisatorische Verschiebung von der Selbstwertebene zur Selbstebene nachgezeichnet. Da der Bereich der Affektivität die Wahrnehmung und Wahrgebung im Zwischenmenschlichen betrifft, somit einer jeweiligen Beziehungs- und Psychodynamik eine spezifische Erkenntnisdynamik zugrunde liegt, deren elaborierte Form uns in den Menschenwissenschaften begegnet, wird im zweiten Teil des Kapitels die Geschichte der Wahrnehmungstheorie anhand der Arbeiten des Kunsthistorikers Jonathan Crary – ein maßgeblicher alternativer Theoretiker dieses Kapitels – erörtert und reflektiert. Die Geschichte der Wahrnehmung und der Wahrnehmungstheorie besitzt ihre zivilisatorische und zivilisationstheoretische Relevanz darin, daß sich an ihr die Destruktion der Wechselseitigkeit in der Wahrnehmung und ein entsprechender Wandel der Selbstbeziehungen ablesen lassen, welche zugleich die Genese des triebtheoretischen psychoanalytischen Menschenbildes darstellen. Wenn somit das von Elias in der Zivilisationstheorie zugrunde gelegte Menschenbild bereits die Beziehung ausblendet, ergibt sich die Notwendigkeit einer Re-

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vision der Zivilisationskriterien im Hinblick auf die Beziehungs(aus)gestaltung, die offensichtlich auf basaler Ebene vom Zivilisationsprozeß berührt ist. Mein Vorschlag geht im Ergebnis dahin, die von Elias herausgearbeiteten Kriterien mit dem Kriterium der Wechselseitigkeit im Wahrnehmungsgeschehen bzw. im affektiven Austausch zu unterlegen. Im Schlußkapitel „Zur Ausgestaltung der Affektivität als Kriterium gesellschaftlicher Entwicklung“ werden die Konsequenzen der vorangegangenen Revision zivilisationstheoretischer Grundannahmen und der daraus resultierenden zivilisatorischen Kriterien für das Verständnis von gesellschaftlicher Entwicklung und für die Soziologie skizziert. Folgt man der hier entwickelten Sicht auf den Verlauf der Psychogenese, so müssen gesellschaftliche Tendenzen in verschiedenen Bereichen in ihrer Verstricktheit mit dieser Psychodynamik betrachtet werden. Die Revision des Entwicklungsbegriffs führt aus dieser Sicht über eine Differenzierung des Kontrollbegriffs, der der Auffassung von gesellschaftlicher Entwicklung immer zugrunde liegt: Unterschiedliche psychische Beschaffenheiten führen zu unterschiedlichen Kontrolldynamiken in Beziehungen (zur außermenschlichen Natur, zu anderen Menschen/-gruppen, zu sich selbst) und sind durch diese bedingt. Da aber die dominante Beschäftigung mit diesem Gegenstand, die Entwicklungssoziologie, konstitutiver Teil dieser Kontrolldynamik ist, sie selbst in ihrer Entwicklung und in ihren verschiedenen Gestalten die konstatierte zivilisatorische Tendenz aufweist, da sie als Teil der zivilisationsspezifischen Kontrolldynamik nicht nur auf ihre Art soziale Realität konzeptualisiert, sondern damit auch, wie jede andere menschliche Äußerung, soziale Realität gestaltet, ist eine ‚Gegensoziologie‘ notwendig und machbar, im Sinne einer Soziologie, die der herausgearbeiteten gesellschaftlichen Tendenz zur ‚Beziehungslosigkeit‘ widersteht und Beziehung weiterhin konzeptualisiert.

Kapitel I: Affektivität als anthropologische Konstante

„Auf dem gegenwärtigen Stand der prozeßsoziologischen Theorie-Entwicklung ist die Verzahnung der Teilaspekte der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen noch nicht recht klar. Die biologischen, die psychologischen und die soziologischen Aspekte dieser Entwicklung sind Gegenstand verschiedener, getrennt arbeitender Fächer. Die Fachleute stellen sie dementsprechend gewöhnlich als getrennt existierend vor. Die eigentliche Forschungsaufgabe ist dagegen die Erfassung und Erklärung der Verzahnung und Verwobenheit dieser Aspekte im Prozeß und deren symbolische Repräsentation in einem theoretischen Modell mit Hilfe von kommunizierbaren Begriffen. Der Entwicklungsvorgang und seine symbolische Darstellung durch kommunizierbare Begriffe, der Vorgang als solcher und als Gegenstand der individuellen Erfahrung, sind ebenfalls ineinander verschlungen und ganz untrennbar.“1

a) Zum Umgang mit menschlicher Affektivität in den Menschenwissenschaften „Untersucht werden sollen die wirklichen Gefühle wirklicher Menschen“,2 fordert Dieter Ulich in den 80er Jahren in seinem Plädoyer für eine ‚reali1 2

Elias 1988: S. 249 Ulich 1985: S. 1

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stische Wendung‘ in der Emotionspsychologie. Hier stellt sich neben der Frage, ob es denn auch eine Psychologie gibt, die sich nicht mit Emotionen beschäftigt, zudem die Frage, was denn die Emotionspsychologen bisher gemacht haben. In seinem Buch „Das Gefühl. Über die Psychologie der Emotionen“ gibt Ulich Antwort auf die letzte Frage. Es seien Emotionen zerlegt und einzelne Aspekte untersucht worden, es sei nach dem Wesen oder der Phylogenese der Emotionen gefragt worden, viele haben die emotionale unmittelbare Betroffenheit aus ihrer Untersuchung der Emotionen ausgeklammert, manche haben Emotionen aus der Kognition abgeleitet und wieder andere haben aus systemtheoretischer Perspektive nach der Funktionalität der Emotionen gefragt, womit sie allesamt an ‚wirklichen‘ Emotionen vorbeigezielt haben. Ein Beispiel für die Problemstellungen der Emotionspsychologie ist das ‚Sequenzproblem‘ im Verhältnis von Kognition und Emotion.3 Angesichts ihrer grundlegenden Komplementarität erweist sich die Frage nach der Abfolge von Kognition und Emotion letztlich als ein Scheinproblem. Eine ähnliche Fragestellung existierte auch im Hinblick auf das Verhältnis von Emotion (im Sinne subjektiven Erlebens) und Verhalten (Sind wir traurig, weil wir weinen? Oder weinen wir, weil wir traurig sind?). Ulich selbst versteht Emotionen als „subjektive Erfahrungstatsachen bzw. Bewußtseinsinhalte, die persönliche Betroffenheit und Engagement in unseren Beziehungen zur Welt ausdrücken.“4 Ich möchte hier nicht näher auf die einzelnen emotionspsychologischen Stränge eingehen. Zusammenfassend kann man sagen – und darauf weist Ulich auch an verschiedenen Stellen hin –, daß die unterschiedlichen Emotionskonzepte nicht nur mit dem unterschiedlichen Gebrauch der Begrifflichkeiten, sondern vor allem mit unterschiedlichen Forschungsinteressen und entsprechenden Schwerpunktsetzungen zusammenhängen. Versteht man Emotionen als vielschichtige, dynamische Funktionszusammenhänge, so bestimmt die Interpunktion durch den jeweiligen Forscher das weitere Forschungsvorhaben und die Forschungsergebnisse. Und das Verhältnis von analytischem und synthetisierendem Können und Wollen ist dann ausschlaggebend dafür, ob man mit der vorgenommenen Interpunktion das zu untersuchende Phänomen auf einen seiner Aspekte reduziert hat, oder ob man sich damit einen Teilaspekt des Phänomens aus einer bestimmen Perspektive erarbeitet hat, der dann wieder anhand der Ergebnisse anderer Forscher im Gesamtzusammenhang gesehen wird. So betrachtet, kann man Ulichs Plädoyer für eine realistische Wende in der Emotionspsychologie und seine Forderung nach Untersuchung wirklicher Gefühle wirklicher Menschen besser verstehen, und zwar als Zeichen des bisherigen Umgangs mit Emotionen. Die Geschichte der Emotionspsychologie ist wohl ein gutes Beispiel dafür, welche Umwege Menschenwissenschaftler oft zurücklegen müssen, um zu ihrem Gegenstand zu gelan3 4

Vgl. ebd.: S. 26 Ebd.: S. 80

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gen oder in diesem Fall besser: zurückzugelangen, denn es ist beachtlich, wie oft in den Menschenwissenschaften schon geleistete Synthesen übergangen und ignoriert werden. Wie in den Menschenwissenschaften allgemein ist auch hier die ‚Forschungskontinuität‘ eher gekennzeichnet durch Brüche und negative Identifizierungen, durch die das Kind immer wieder mit dem Bade ausgeschüttet wird.5 So auch in der Emotionspsychologie von Dieter Ulich. Ulich kommt es darauf an, in erlebnis-, personen- und lebenslauforientierter Forschung ‚sinnvolle, empirisch einlösbare Fragestellungen‘ zu bearbeiten. Die Praxisrelevanz seines Ansatzes sieht er im vorbeugenden Potential der Anwendung entwicklungspsychologischer – immer nur ontogenetischer – Emotionsforschung: „Wenn ich weiß, welche entwicklungshemmenden, belastenden oder auch entwicklungsfördernden, bereichernden Folgen die Begegnungen mit Lebensereignissen haben, dann kann ich versuchen, diese Auseinandersetzung zu beeinflussen.“6 Im Hinblick auf Emotionen als universale Erlebnisweisen und die Phylogenese menschlicher Emotionen äußert er sich nicht nur desinteressiert, er wertet diesbezügliche Fragen als irrelevant und nicht beantwortbar ab.7 Nicht die Unterstellung anthropologischer, sondern die Erarbeitung gesellschaftsspezifischer Gemeinsamkeiten von Erlebens- und Verhaltensmustern bildet nach Ulich den theoretischen Rahmen, innerhalb dessen ontogenetische Untersuchungen stattfinden können, die auf die Erklärung individueller Unterschiede in der Entwicklung von Emotionen ausgerichtet sind. Das ‚Identische‘, das die Intersubjektivität der Emotionen bedingt, ist also nicht auf anthropologischer, sondern auf gesellschaftlicher Ebene zu suchen. In seiner Emotionspsychologie wird aber auch die Möglichkeit entwicklungssoziologischer und kulturvergleichender Untersuchungen nicht ausgeschlossen. Vielmehr gehört zur Frage nach den gemeinsamen Erlebnis- und Verhaltensbedingungen „natürlich zentral auch die Frage, ob, inwieweit und warum diese über die Zeit und über Kulturen, Gesellschaften, Gruppen hinweg stabil sind, unter welchen Voraussetzungen sie sich ändern, wie bestimmte emotionale Erlebnisweisen ihrerseits das Leben in einer Gruppe oder Gesellschaft mitbestimmen.“8 In einer späteren, mit Philipp Mayring verfaßten Arbeit geht er differenzierter auf diese gesellschaftliche Dimension emotionaler Entwicklung ein, die als ‚Einflüsse der Kultur und des 5

6 7 8

Die Ignoranz beschränkt sich hier nicht nur auf den Verzicht auf Rettung angemessener Elemente vorangegangener Theorien. Sie erstreckt sich auch auf eine Blindheit für die sozialen Entstehungsbedingungen jeweiliger Theorien, zu denen der Akademismus (vgl. Elias 1989a, Teil 1: S. 170f) ebenso zählt wie der soziale Habitus der Wissenschaftler. Problematische Denk- und Sichtweisen in den Menschenwissenschaften haben eine Genese, deren Mechanismen und Dynamik aufzudecken ebenfalls zu den Aufgaben der Forschenden gehört. Ulich 1985: S. 173 Vgl. ebd.: S. 43 Ulich 1985: S. 84

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sozialen Wandels‘ erfaßt wird.9 In Zusammenhang mit den ‚sozialen Einflüssen‘ auf die Emotionsentwicklung spricht Ulich auch von der erlernten Fähigkeit, ‚angemessen zu fühlen‘, wobei sich ‚angemessen‘ auf die jeweilige Kultur und auf die jeweilige Situation beziehen kann.10 Im Ergebnis heißt es dann im Hinblick auf die Aufgabe einer Emotionspsychologie, daß „bestimmte Fragen vorrangig beantwortet werden müssen, und daß diese Fragen sich auf die wirklichen Emotionen wirklicher Menschen und nicht auf unser biologisches Erbe, auf das ‚Wesen‘ von Gefühlen und deren physiologischen Korrelate beziehen sollen.“11 Ohne Zweifel ist die Kulturabhängigkeit der Emotionen nicht in Abrede zu stellen. Sowohl die ‚Auslöser‘ der Emotionen als auch die ‚Darstellungsregeln‘ sind beim erwachsenen Menschen größtenteils erlernt. Doch kann die Unterstellung des Kompetenzaspekts, der Kulturabhängigkeit und der Kulturvergleichbarkeit der Emotionen ohne anthropologisches Grundwissen auskommen? Ist es legitim und sinnvoll, Emotionen auf ihre subjektive Komponente zu reduzieren und sie als subjektive Bewußtseinsinhalte, die eine Involviertheit mit der Umwelt zum Ausdruck bringen, zu definieren, weil die Grundlagenforschung auf einem niedrigen Erkenntnisstand ist, oder weil diese Komponente bisher stark vernachlässigt wurde? Das Anliegen Ulichs ist begrüßenswert, insofern er versucht, der Subjektivität und Individualität von Gefühlen wieder Raum zu schaffen, und diese der versuchten und geforderten ‚Neutralisierung des menschlichen Bezugs zur Welt‘ entgegenzusetzen. Und sicher ist es für jeden Forscher legitim, den eigenen Forschungsbereich einzugrenzen und jeweilige Analyseebenen auseinanderzuhalten. Diese verschiedenen Ebenen müssen jedoch auch in ihrem Verhältnis zueinander bewertet und gesehen werden. Ein Kennzeichen der Emotionspsychologie scheint aber gerade der Verzicht auf ein ganzheitliches Persönlichkeitsmodell und nach wie vor ihre Ferne zu integrativen Ansätzen in den Menschenwissenschaften zu sein. Der verhaltenstherapeutisch orientierte Psychologe Horst Mitmansgruber leitet sein 2003 veröffentlichtes Buch „Kognition und Emotion. Die Regulation von Gefühlen im Alltag und bei psychischen Störungen“ mit den Sätzen ein: „Emotionen sind jene Teile unseres bewußten Erlebens, die ihm die Farbe und Intensität geben. Sie machen das Leben großartig, furchtbar oder anstrengend.“12 Mit dem Konzept einer ‚Positiven Psychologie‘ wird dann aus einer stark funktionalistischen Sicht für die ‚Regulation von normalen und klinischen Emotionen‘ eine rosige Zukunft in Aussicht gestellt. Dabei soll eine ‚Neugewichtung positiver Emotionen‘ sowohl in Forschung als auch in der Psychotherapie stattfinden, mit dem Ziel „einer klaren Änderung des Blickwinkels weg von einer Störungsper9 10 11 12

Vgl. Ulich/Mayring 1992: Kapitel V und VI Vgl. Ulich 1985: S. 160 Ebd.: S. 53 Mitmansgruber 2003: S. 9

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spektive hin zu einer Perspektive, die Wohlbefinden, Gesundheit, Ressourcen und den Aufbau von erwünschten Zuständen in den Vordergrund stellt.“13 Die Emotionspsychologie fällt somit nicht nur mit jeweiliger Betonung der einzelnen Komponenten der Emotionen auseinander, sondern nun auch noch in bezug auf positive und negative Emotionen, so daß wir dann der bisherigen Verlaufslogik der Theorieentwicklung nach demnächst auch mit so etwas wie einer ‚Negativen Psychologie‘ zu rechnen hätten. Wenden wir uns also der ersten Frage zu, und fragen nach dem Stellenwert der Emotionen in der Psychologie allgemein. Diesbezüglich schreibt der Psychoanalytiker Rainer Krause in einem Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe aus dem Jahr 2000, daß eine klinisch und wissenschaftlich befriedigende Definition und Theorie der Affekte trotz ihrer hohen klinischen Relevanz nicht vorliege. Diese unbefriedigende Situation in den Menschenwissenschaften sieht er darin begründet, daß die hauptsächliche Theoriebildung über die Affekte als Derivate ganz anderer Überlegungen nebenher geschehen sei.14 Entsprechend den Kontexten und dem Anliegen der jeweiligen Theorien, in denen der Begriff auftaucht, werden verschiedene Aspekte in den Vordergrund gestellt. So kann man im klinischen Bezugsrahmen etwa aus triebtheoretischer Sicht Affekte als ‚Empfindungen der Lust-Unlust-Reihe‘ verstehen, sie mit ‚Gefühlen‘ identifizieren, was verinnerlichte Strukturen voraussetzt, oder den Beziehungsaspekt des Begriffs in den Vordergrund stellend von ‚Affektanstek-

13 Ebd.: S. 198f. Diese eigenartige Sicht auf Emotionen sowie generell der Jargon der Steuerbarkeit und Machbarkeit im Bereich des Emotionalen sind in den gegenwärtigen Psychotherapien und in der Ratgeberliteratur stark verbreitet. Die Frage, an welchen Kriterien gemessen eine Person ‚effektiv‘ und ein Zustand ‚erwünscht‘ ist, scheint zudem keiner Erörterung zu bedürfen: „Möglicherweise ebenso zielführend, vielleicht sogar hilfreicher als zu betrachten, warum Personen in ihrer Entwicklung psychische Störungen entwickeln, ist es zu untersuchen, warum und wie sie trotz massiver Belastungsfaktoren gesund bleiben […]. Ist es sinnvoller zu untersuchen, wie Personen Hoffnungslosigkeit vermeiden oder wie sie Hoffnung aufbauen und aufrecht erhalten […]? Ist es hilfreicher, im Trauerprozeß den Verlust im Blickfeld zu halten oder aber die Suche nach Sinn und positiven Perspektiven zu betrachten […]? Sind jene Personen effektiver, die psychische Belastung vermeiden, oder die, die Wohlbefinden suchen […]?“ (Ebd.: S. 198). 14 Vgl. Krause 2000: S. 31. Daß hier plötzlich von Affekt statt Emotion die Rede ist, sollte nicht weiter irritieren. Die Begriffe Affektpsychologie oder Affekttheorie bringen, soweit ich es überblicken kann, lediglich unausgesprochen eine Distanz zur Emotionspsychologie zum Ausdruck. So neigen psychoanalytisch orientierte Autoren, die eher integrativ und synthetisierend arbeiten, dazu, von Affekttheorien zu sprechen. Die Begriffe Affektpsychologie und Emotionspsychologie spiegeln vermutlich eher die akademischen Verhältnisse wider, als daß sie für eine bewußte Begriffsdifferenzierung stehen. Beide Richtungen beschäftigen sich eigentlich mit denselben Phänomenen.

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kung‘ sprechen.15 Krause selbst, der sich lange Zeit mit der Emotionsforschung beschäftigt und an einer Zusammenführung der Ergebnisse aus diesem Bereich mit psychoanalytischer Theorie gearbeitet hat, sieht zunächst das Besondere an den Emotionen darin, „daß sie – als sich in der Zeit entfaltendes Geschehen – alle Bereiche affizieren: das Erleben, den Ausdruck, das instrumentelle Verhalten und die Physiologie.“16 Aus diesem Grund seien sie die ‚Lackmusprobe für den Stand des Leib-SeeleProblems‘. Der Neurobiologe Antonio R. Damasio, der sich ausführlich mit der Biologie des Bewußtseins und der ‚Rationalität‘ unter Berücksichtigung der Emotionen und des ‚Selbst‘ beschäftigt hat, macht ein entscheidendes Hindernis der Bewußtseinsforschung in der problematischen Geschichte des Umgangs mit Emotion und ‚Körper‘ aus. Während die Romantik die Emotion in den Körper und die Vernunft ins Gehirn verlegt hat, so gibt er diese Geschichte knapp wieder, hat die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts den Körper außen vor gelassen und die Emotion wieder ins Gehirn befördert, sie aber in die unteren neuronalen Schichten verbannt, die mit gering geachteten Vorfahren in Verbindung gebracht werden: „Am Ende war nicht nur die Emotion nicht vernünftig, sondern auch ihre Untersuchung nicht.“17 Parallel zur Vernachlässigung der Emotion bei der Untersuchung von Gehirn und Geist im 20. Jahrhundert konstatiert er das Fehlen einer evolutionären Perspektive, eine stiefmütterliche Behandlung des Konzepts der Homöostase, deren wesentlichen Bestandteil die Emotionen bilden, und eine bemerkenswerte Abwesenheit eines Organismusbegriffs in der Kognitions- und Neurowissenschaft.18 Der Philosoph Hermann Schmitz verfolgt die Geschichte der Auffassung von Emotionen viel weiter zurück.19 Er betrachtet die heutigen Vorstellungen von Emotionen

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Ebd.: S. 31f Krause 1996: S. 195 Damasio 2002: S. 54 Vgl. ebd.: S. 54f Hermann Schmitz ist Begründer der Neuen Phänomenologie, die herkömmliche, abendländische Denktraditionen in Frage stellt und sich in ihrem philosophischen Vorgehen erfahrungsnäheren Fragen unter Berücksichtigung der menschlichen Leiblichkeit zuwendet. Seine Phänomenologie charakterisiert er in Abgrenzung zur Naturwissenschaft und Psychologie in Hinblick auf Methode und Interessenrichtung: „Die Naturwissenschaft verdankt ihr Prestige einer intelligenten Filterung des Erfahrungsinhaltes und noch intelligenteren Konstruktionen über den abgefilterten Rest mit dem Erfolg, dem Menschen in vielen Fällen verläßliche Prognosen für das zu bieten, was er erfahren kann, wenn er sich mit wachen Sinnen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten befindet. Dagegen interessiert sich der Phänomenologe dafür, was er jeweils gelten lassen muß, wenn er ernst nimmt, was er vorfindet, d.h. welchen Sachverhalten er dann die Anerkennung, daß es sich um Tatsachen handelt, nicht im Ernst verweigern kann, egal, ob er sie mag oder nicht. Phänomenologie kommt auch nicht ohne Konstruktionen aus, ist aber dem Konstruieren im Dienst des Vorhersagens so entgegengesetzt, wie das Graben in die Erde beim Ausschachten für Brückenpfeiler dem Schwung der

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als das Erbe eines Paradigmenwechsels unter Federführung u.a. der antiken Philosophen, dessen Ergebnis eine psychologistische, reduktionistische und introjektionistische Vergegenständlichung der Gefühle gewesen sei. Dabei wurde das Erleben des Einzelnen in einer privaten Innenwelt abgeschlossen und dort der Regie einer zentralen Instanz anvertraut. Die Außenwelt wurde auf quantifizierbare Merkmale und deren Träger abgeschliffen. Der Abfall der Abschleifung wurde in der Innenwelt abgeladen und als bloß subjektive Privatsache, ein nicht ganz bestimmbarer und unübersichtlicher Restposten der Vergegenständlichung, behandelt. Vergessen wurden dabei der spürbare Leib und die leibliche Kommunikation, die Bedeutungen und die natürlichen Einheiten der Wahrnehmung; die Gefühle fielen zwar nicht wie der spürbare Leib unter den Tisch der Vergegenständlichung, bekamen aber einen kümmerlichen Eckplatz in der Intellektualkultur. Die Verwaltung der Gefühle in der Theorie durch Vergegenständlichung ermöglichte dann auch die Verwaltung der Gefühle im Interesse der Macht über sie.20 Was in diesem Verständnis der Emotionen angelegt ist, ist aber nicht nur ein Leib-Seele-Dualismus, die Unterstellung eines inneren Antagonismus, sondern ebenso eine Innen-Außen-Dichotomie, die die interaktionelle, kommunikativ angelegte Beschaffenheit der Emotionen tendenziell ausblendet. Bekannte Repräsentanten des von Schmitz beschrieben Emotionsverständnisses aus dem letzten Jahrhundert sind somit nicht nur Denkkategorien wie Affektkontrolle im Sinne der Domestizierung einer animalischen Natur des Menschen, sondern ebenso die sogenannte ‚narzißtische Authentizitätskultur‘, die Hochschätzung gefühlsmäßiger Authentizität und Spontaneität. In diesem Sinne können Gefühle bzw. ihre Konzeptualisierung auch in bezug auf den Stand der Individuum-Gesellschafts-Problematik, das Problem von Innen und Außen, Aussagekraft besitzen. Angesichts dieser Lage bedarf der Versuch einer Annäherung an den Emotionsbegriff schon einer Begründung der vorgenommenen Theorieauswahl. Die von mir im folgenden herangezogenen Theorien wurden aufgrund ihres relativ hohen Syntheseniveaus ausgewählt. Sie zeichnen sich durch tendenzielle Überschreitung der akademischen Fachgrenzen aus und sie sind darauf ausgerichtet, das in den Menschenwissenschaften zugrunde gelegte Menschenbild, die Vorstellungen über die menschliche Beschaffenheit und Wandelbarkeit, explizit zu überprüfen und weiter zu entwikkeln. Gerade der Meadsche Ansatz, der älteste unter ihnen, hat sich in Anbetracht der neueren Entwicklungen in Neurobiologie und Psychoanalyse als besonders wertvoll herausgestellt. Vor allem seine Herangehensweise an Emotionen, die an Interaktion und der dialogischen Struktur des Selbst orientiert ist, hat sich als richtungsweisend und ausbaufähig erwiesen. Die durch leeren Raum zum anderen Ufer reichenden Brückenkonstruktion“ (Schmitz 2000: S. 42f). 20 Vgl. Schmitz 2000: S. 43ff

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Ergebnisse und Fragestellungen dieses Kapitels werden im sechsten Kapitel wieder aufgenommen und weiter vertieft. Bevor es um die Ausgestaltung der Affektivität geht, soll hier zunächst eine Vorstellung entwikkelt werden, was man unter Affektivität verstehen kann. Ich möchte dies im folgenden auf Basis der Arbeiten von Mead, Elias und Krause aus verschiedenen Perspektiven durch Differenzierung und Verknüpfung der Begriffe ‚Affekt‘, ‚Gefühl‘ und ‚Emotion‘ versuchen. Im letzten Teil wird Damasios neurobiologische Sicht auf die menschliche Affektivität vorgestellt. Die herangezogenen Theorien ergeben erst zusammen gesehen ein Bild, welches jedoch in diesem Kapitel nicht vollständig sein wird, sondern später noch ergänzt werden muß. Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Theorien besteht darin, daß sie für eine solche Ergänzung offen sind, beziehungsweise den Ansatz dazu schon in sich tragen.

b) Emotion, Affekt und Gefühl Sich von der Vorstellung abgrenzend, menschliche Emotionen seien entweder natürliche Konstanten oder etwas rein Geistiges, plädiert Norbert Elias in seinem Aufsatz „Über Menschen und ihre Emotionen“21 „für eine prozeßbezogene Betrachtungsweise, die zugleich den Stellenwert der menschlichen Emotionen im Rahmen der biologischen Evolution und ihre Funktionen im Rahmen der Entwicklung von Gesellschaften untersucht“.22 Ausgehend von der Annahme, daß Menschen aus einem Durchbruch in der Evolution hervorgegangen sind, der durch eine Wende im Verhältnis von angeborener und erlernter Verhaltenssteuerung gekennzeichnet war, hat er in bezug auf den Menschen vorgeschlagen, den Begriff ‚Natur‘ in zwei Arten von Strukturen zu differenzieren, in solchen, die einem Wandel durch gespeicherte und erinnerte Erfahrungen, also durch Lernen, völlig unzugänglich sind, und solchen, die Dispositionen bleiben und ohne Stimulation durch andere Menschen nicht vollständig funktionieren.23 Das bedeutet, daß durch die biologisch angelegte Dominanz erlernter Verhaltenssteuerung gegenüber ungelernten, genetisch fixierten Formen der Verhaltenssteuerung eine enge Verflechtung biologischer und sozialer Prozesse sowohl die individuelle als auch die gesellschaftliche Entwicklung des Menschen kennzeichnet, sowohl alle Aspekte dessen, was man ‚Persönlichkeit‘ nennt als auch alle Aspekte dessen, was man ‚Kultur‘ 21 Bei diesem Text handelt es sich um eine autorisierte Übersetzung der revidierten Fassung eines Vortrages, den Elias 1986 auf der Jahrestagung der International Society for Research on Emotion in Amsterdam gehalten hat. Mit ihm allein ist aber der Eliassche Emotions- bzw. Affektbegriff längst nicht geklärt. Der hier vertretene Emotionsbegriff steht gewissermaßen abseits seiner Zivilisationstheorie (vgl. Kapitel II). 22 Elias 1990c: S. 337 23 Vgl. ebd.: S. 344

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nennt. Phänomene wie ‚Sprache‘, ‚Emotion‘ und ‚Verstand‘ entwickeln sich beim einzelnen Menschen nach Elias im Rahmen von ‚Liebes- und Lernbeziehungen‘ zu anderen Menschen, welche wiederum in enger Interdependenz zur biologischen Reifung stehen. Was aber sind Emotionen und welche Funktion haben sie im menschlichen Leben? Elias grenzt sich vom herkömmlichem Sprachgebrauch ab, der es nahe legt, Emotionen mit Gefühlen gleichzusetzen, welche im Sinne subjektiven Empfindens zum Ausdruck gebracht werden können oder verdeckt gehalten werden können. Was ist gegen diese Gleichsetzung einzuwenden und was hat es damit auf sich?

Emotionen als spezifische Reaktionsmuster Mit Elias kann man Emotionen als Reaktionsmuster definieren, die aus drei verschiedenen Komponenten bestehen. Neben der Gefühlskomponente lassen sich noch die somatisch-physiologische und eine Verhaltenskomponente unterscheiden.24 Rainer Krause liefert aus aktueller Sicht eine differenzierteres Bild des ‚Emotionssystems‘ – das er im übrigen synonym zu ‚Affektsystem‘ gebraucht –, welches eine Schnittstelle zwischen der Umwelt und verschiedenen Modulen (Funktionseinheiten) des Organismus beschreibt. Folgende Module lassen sich nach diesem Verständnis unterscheiden:

• • • • •

Das expressive Modul steuert die Körperperipherie mit Gesichtsausdrücken und Vokalisierungen in der Stimme. Das physiologische Modul steuert die Aktivierung bzw. Deaktivierung des autonomen und endokrinen Systems. Ein Modul steuert die Verhaltensanbahnungen in der Skelettmuskulatur und der Körperhaltung. Ein Modul steuert die Wahrnehmung dieser körperlichen Module. Und schließlich gibt es ein Modul, das ‚eine bewußte Wahrnehmung des Affekts als inneres Bild und als spezifische situative Bedeutung der Welt und Objekte‘ schafft.25

Anhand dieser Differenzierung von Emotionen – die ich entsprechend Krauses Definition vorläufig mit Affekten gleichsetzen möchte – in verschiedene zusammenhängende Module kann man nun ihre verschiedenen Funktionen grob benennen. Das expressive Modul hat vor allem Signalfunktion und dient insofern der zwischenmenschlichen Beziehungssteuerung. Das physiologische Modul stellt die innere Handlungsbereitschaft her. Das Modul zur Verhaltensanbahnung besitzt eine direkte Steuerungsfunktion und bestimmt das Eingreifen in die aktuelle Situation. Die beiden 24 Vgl. ebd.: S. 349 25 Vgl. Krause 2000: S. 32, ausführlicher s.a. Krause 1998: S. 27f

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letzten Module zur Wahrnehmung besitzen Orientierungsfunktion, wobei vor allem letzteres dem entspricht, was Elias als die subjektive bzw. Gefühlskomponente bezeichnet hat. Hier erschließt sich eine Parallele zwischen den menschlichen Emotionen und den menschlichen Symbolen, wie sie in der Eliasschen Symboltheorie betrachtet werden. Auch die sprachlichen Symbole besitzen eine Orientierungsfunktion (als Wissen), eine Steuerungsfunktion (in Form von Denken) und eine Kommunikationsfunktion (in Form von Sprache).26 Wie ist diese Parallele zu deuten und inwiefern kann sie zum Verständnis der Emotionen beitragen? Hilfreich ist hier Elias’ Betrachtung des Wandels der Emotionen im Evolutionsprozeß. So wie man von der Entwicklung der menschlichen Fähigkeit zu Bildung und Gebrauch von sprachlichen Symbolen, von Lautmustern mit einer gruppenspezifischen Bedeutung, als einem ‚Emanzipationsprozeß‘ im Vergleich zu anderen Lebewesen sprechen kann, so kann man auch nach dem Stellenwert spezifisch menschlicher Emotionen fragen. Offensichtlich kann man einige Eigentümlichkeiten menschlicher Emotionen eben im Zusammenhang mit der menschlichen Fähigkeit zur sprachlichen Symbolbildung erklären: Die Verhaltenskomponente der menschlichen Emotion ist „offen für weit größere Abweichungen entsprechend Unterschieden in der Situation und den vorherigen Erfahrungen.“27 Menschen können ihr Wissen und ihre Gefühle verbalisieren und anhand von Erfahrungen differenzieren und ihr Verhalten entsprechend ausrichten. Doch der evolutionäre Stellenwert menschlicher Emotionen ist damit nicht geklärt. Die Kommunikation mittels vollständig erlernten und gruppenspezifischen Sprachen stellt eine relativ späte Errungenschaft in der Evolution der Hominiden dar. Eine Hypothese von Elias ist, daß das Spezifische an menschlichen Emotionen die Entstehung der Gefühle ist, also ihrer subjektiven Komponente im Verein mit der evolutionären Ausstattung der Menschen mit der Fähigkeit, diese auf differenzierte Weise zu signalisieren.28 Zu einem der Hauptinstrumente der Kommunikation mittels Gefühlen entwickelte sich im Evolutionsprozeß das menschliche Gesicht. Die Gesichtskommunikation ist im Vergleich zur Kommunikation mittels Sprache weit weniger an Lernen und weit mehr an genetisch fixierte Informationen gebunden, was darauf hinweist, daß sie eine ältere Kommunikationsform darstellt.29 Der evolutionäre Vorteil der Ausstattung 26 27 28 29

Vgl. Elias 1989a (Teil 2): S. 345f Elias 1990c: S. 350 Vgl. ebd.: S. 353 Elias 1990c: S. 353. G.H. Mead sieht die evolutionäre Vermitteltheit zwischen Sprache und der Verhaltenskomponente von Emotionen ebenso, auch wenn er sich bei seinem Vergleich nicht nur auf die Mimik bezieht, sondern weiter zurückgehend auf die gröberen Kommunikationsformen mittels Gebärden und Lautgebärden: „Sprechen ist Handeln, und wie jedes andere Handeln hat es eine Naturgeschichte, die wir psychologisch aus einer Untersuchung seiner Natur und seiner Analogie zu anderem Handeln ermitteln können. In seiner primitiven Form ist es ein Gefühlsausdruck. Es ist dies

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menschlicher Emotionen mit der subjektiven Komponente und der Fähigkeit, diese mittels des Gesichts differenzierter auszudrücken, betrifft vor allem die zwischenmenschliche Beziehungssteuerung: „Im Laufe dieses Prozesses müssen […] besonders Signale, die der Vergewisserung der gegenseitigen Absichten einer Handlung dienen […] im Leben unserer Vorfahren dazu beigetragen haben, Spannungen zu entschärfen und ein differenzierteres Leben miteinander zu ermöglichen.“30

Wie oben schon ersichtlich wurde, sind die angeborenen Strukturen im Laufe der Ontogenese (bis zu einem gewissen Grad) der Modifizierung, der Veränderung im Rahmen von ‚Lern- und Liebesverhältnissen‘, wie Elias es formuliert, zugänglich. Die Thematik der Modifizierung menschlicher Emotionen durchzieht die Menschenwissenschaften mal mehr in individualpsychologischem Sinne, mal mehr unter dem gesellschaftsspezifischem Aspekt, mal explizit und mal eher im Hintergrund. In dieser Arbeit steht der Wandel in Funktion und Dynamik der Emotionen im Vordergrund. Die Begriffe Affekt und Gefühl lassen sich in Zusammenhang mit der Modifizierbarkeit menschlicher Emotionen zum Emotionsbegriff in Verhältnis setzen.

Zur Unterscheidung von Affekt und Gefühl Versteht man mit Elias Emotion als „ein Reaktionsmuster, mit klar erkennbarer Funktion für einen spezifischen Situationstyp […]“, das „den gesamten Organismus in seinen somatischen, subjektiven und verhaltensmäßigen Aspekten umfaßt[…]“,31 so stellt sich einerseits die Frage nach dem Verhältnis der drei genannten Komponenten, bzw. aufgefächert in den genannten Modulen, untereinander und ihrem Verhältnis als Syndrom zur jeweiligen Situation, also nach ihrer ‚Angemessenheit‘, die letztlich ihren Überlebenswert bestimmt. Insofern das Syndrom einer Emotion in allen seinen Komponenten stark durch die innere und äußere Situation gebunden ist, möchte ich von Affekt sprechen. In diesem Fall ist das Renicht etwa, weil primitive Sprachen gefühlsbetonter wären, sondern weil Gebärden und Schreie die Außenansicht von Gefühlshandlungen darstellen“ (Mead 1987: S. 180). Auf Meads Beitrag in diesem Zusammenhang komme ich weiter unten zu sprechen. 30 Elias 1990c: S. 354 Die zunehmende Differenzierung der Signalfunktion des Gesichts, die oben mit dem ‚expressiven Modul‘ angesprochen wurde, erklärt wohl, warum das Modul zur Verhaltensanbahnung, zwar Interpretationen zuläßt, jedoch keine echte Signalfunktion mehr hat. „Das menschliche Gesicht ist verglichen mit dem des Affen der lebende Beweis für die größere Rolle, welche im menschlichen Gruppenleben die Verhaltenskomponenten des Gesichts im Vergleich mit Ganzkörperbewegungen angenommen haben“ (ebd.). 31 Elias 1990c: S. 352

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aktionsmuster durch Spontaneität, oder besser durch seine Unvermitteltheit gekennzeichnet, stellt also sozusagen ein (perspektivgebundenes) Abbild der aktuellen Situation, des Hier und Jetzt dar. Diese zunächst ungelernten Reaktionsmuster können selbst im Laufe der menschlichen Ontogenese modifiziert und einer bewußten Kontrolle unterworfen werden. Als ein Beispiel führt Elias das ‚Lächeln‘, als die Verhaltenskomponente der Emotion ‚Freude‘ an, das beim Erwachsenen bewußt eingesetzt und verschiedene ‚Gefühlsschattierungen‘, also unterschiedliche subjektive Inhalte, ausdrücken kann. „Beim heutigen Menschen sind die schon sehr schwachen Spuren einer angeborenen Tendenz, ein Lächeln zu geben oder zu empfangen, […] überlagert von einer ausgeprägten Fähigkeit, das alte angeborene Signal bewußter und in Verbindung mit einem sozialen Lernprozeß zu benutzen, der in verschiedenen Gesellschaften verschieden verlaufen kann.“32

Wie schon angedeutet, ist nicht nur die Verhaltens-, sondern auch die subjektive Komponente dem Lernen zugänglich. Entstehung und Wandel der subjektiven Komponente sind grundlegend für den Prozeß der Identitätsbildung auf individueller Ebene und dem Prozeß der Zivilisation auf gesellschaftlicher Ebene. Insofern die Affekte mehr oder weniger ihre Verhaltenskomponente verlieren, nicht ‚agiert‘ werden, entstehen ‚Gefühle‘, entsteht Subjektivität. Mit dem Entstehen der Gefühle wird gleichzeitig die Verhaltenskomponente der Emotion von ihrer subjektiven Komponente relativ entkoppelt, das Verhalten wird ‚vermittelter‘. Was sich zwischen Impuls und Ausführung schaltet, ist die Reflexion. Sowohl die Gefühle als auch die Reflexion sind bedingt durch die ‚Internalisierung äußerer Beziehungen‘, mit Elias gesprochen: durch ‚Lern- und Liebesverhältnisse‘, ein Prozeß, der sich besser mit Symbolisierung bezeichnen läßt. So wie die menschlichen Emotionen sich von denen anderer Lebewesen vor allem in der subjektiven Komponente unterscheiden, ist es die Symbolisierungsfähigkeit, die Menschen grundlegend kennzeichnet. Bevor ich also auf Meads Theorie der ‚Entstehung der Gefühle‘ eingehe, möchte ich kurz aus der neurobiologischen Sicht Terrence W. Deacons diese menschliche Eigentümlichkeit erörtern.

‚Die symbolische Spezies‘ Spricht man im Hinblick auf die menschliche Kommunikation mittels Sprache oder Emotionen von einem ‚Evolutionsvorteil‘, so ist damit die Adaptivität der jeweiligen Fähigkeiten angesprochen. Dabei gerät leicht aus dem Blickwinkel, daß es sich immer nur um eine Form der ‚Adaption‘ handelt, die sich im Nachhinein als besonders effizient darstellen mag, je32 Ebd.: S. 355

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doch keineswegs jener Zwangsläufigkeit und Logik unterliegt, die mit dem Begriff Evolutionsvorteil nahegelegt wird, denn schließlich ist immer die Frage im Auge zu behalten: Vorteil gegenüber was oder wem, mit welchen Konsequenzen, und – berücksichtigt man so die Dynamik, in die die neuen Fähigkeiten eingeflochten sind – vor allem auch: wie lange? Selektion im Sinne natürlicher Auslese ist ja zudem kein zukunftsgerichteter Prozeß, sondern eine Dynamik, die stark vom Zufall und den sich verändernden Umweltbedingungen gesteuert wird. Überleben hat also auch etwas mit Glück zu tun, und die Nicht-Überlebenden der Evolution kennen wir nicht.33 Mit diesen kurzen Überlegungen zur Evolutionsdynamik, die zu komplex sind, um hier angemessen Berücksichtigung zu finden, möchte ich lediglich auf einen Punkt hinaus, der bei der Bestimmung der menschlichen Beschaffenheit, aber auch bei der Frage nach gesellschaftsspezifischer Wandelbarkeit der Menschen von Bedeutung sein könnte. Das Problematische an dem Begriff Evolutionsvorteil liegt im folgenden einfachen Sachverhalt begründet: Wenn wir etwas tun, tun wir statt dessen etwas anderes nicht; wenn etwas passiert, dann passiert etwas anderes nicht; und wenn etwas mit Aufmerksamkeit bedacht wird, wird etwas anderes mit weniger oder gar keiner Aufmerksamkeit bedacht. Ist es also sinnvoll, beim Versuch der Bestimmung des evolutionären Stellenwerts von Emotion und Sprache vorrangig nach ihrer Funktion, ihrem ‚Überlebenswert‘ und ihrer Adaptivität zu fragen? Der Neurobiologe Terence W. Deacon schlägt in seinem Buch „The Symbolic Species“ den Weg einer dynamischeren Herangehensweise ein, wenn er im Hinblick auf das Problem des Zusammenhangs von Evolution und Sprache der Frage nach Funktion und Leistung der Sprache die nach der Bedingung ihrer Möglichkeit voranstellt: Was muß geleistet sein, damit Sprache möglich wird? Deacon betrachtet die Sprache – nach seiner Auffassung kann man nur im Falle der Menschen von Sprache sprechen – nicht als Teil eines evolutionären Trends, sondern als eine Anomalie:34 „Nonhuman minds are not just human minds with some special ability subtracted, nor are they human minds that are just considerably more dull and uninformed.“35 Menschliche und nicht-menschliche Kommunikation unterscheiden sich nicht in erster Linie durch den Grad der Komplexität, vielmehr stelle die menschliche Sprache eine besondere Art von Wissen dar, zu deren Spezifizierung drei Arten von Zeichen und entsprechende Referenzen unterschieden werden: Ikon, Index und Symbol.36 Ikone zeigen etwas dadurch an, daß sie es nachahmen oder ihm ähneln, die ikonische Referenz ist ein (Wieder-)Er33 Vgl. Müller 2000: S. 42ff 34 Vgl. Deacon 1997: S. 34. Eine Diskussion und Zusammenfassung der Theorie Deacons über die Koevolution von Sprache und Gehirn findet sich bei Müller (2000). Beim Referieren des Ansatzes von Deacon beziehe ich mich zu einem großen Teil auf diesen Beitrag. 35 Deacon 1997: S. 286 36 Vgl. Müller 2000: S. 108ff

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kennen. Indizes zeigen etwas an, weil sie physisch mit ihnen verbunden sind, in dem Sinne, daß ihr Auftreten mit dem Auftreten dessen, wofür sie stehen, korreliert. Hier kommt zur Rekognition die Affizierung hinzu. Symbole werden mit ihren Bedeutungen durch Verwendung verknüpft, in ihrem Fall gibt es keine physische Korrelation von Zeichen und Objekt, sondern eine Beziehung zwischen Zeichen und Zeichen. Die Beziehung dieser Repräsentationen ist nicht graduell, sondern hierarchisch zu bestimmen: „So wie sich Indizes aus Ikons zusammensetzen, konstituieren Beziehungen zwischen Indizes Symbole.“37 Die symbolische Referenz, die die menschliche Kommunikation in Form von Sprache auszeichnet, ersetzt die anderen Formen nicht und sie kann es auch nicht, denn sie ist selbst zu ihrer Entstehung und Erhaltung auf diese angewiesen. Diese Behauptung zu präzisieren, ist eine zentrale Aufgabe dieser Arbeit. Die Fähigkeit zum Spracherwerb kann ohne Bezug auf diese Hierarchie der Zeichen nicht erklärt werden. Mit seiner These wendet sich Deacon gegen jene Theorien, die das Erlernen von Sprache auf eine Steuerung oder Auslösung durch bestimmte Gehirnteile zurückführen: „Symbolic reference does not derive from anything particularly special about the brain, but from a special sort of relationship that can be constructed by it.“38 Es geht um die Fähigkeit, vielfältige Beziehungen zwischen Zeichen und Objekten und zwischen Zeichen untereinander knüpfen zu können. Aber warum sind wir überhaupt zu symbolischer Referenz fähig? Betrachtet man das menschliche Gehirnsystem, so lautet die etwas vereinfachte Antwort, sieht es „rückblickend für Sprache wie gemacht aus, doch es ist in Wirklichkeit von Sprache gemacht.“39 Was Deacon als eine Koevolution von Sprache und Gehirn bezeichnet, beschreibt genau genommen eine Verflechtung des Sozialen und Biologischen: „Um ein System symbolischer Kommunikation aufzubauen, bedarf es externer Unterstützung durch die Gemeinschaft. Sämtliche Eigenschaften, die diese Unterstützung boten, unterlagen einem Selektionsdruck, und die dafür ‚verantwortlichen‘ Erbanlagen wurden durch ko-evolutionäre Prozesse akkumuliert.“40

Die spezifische Strukturierung des Gehirns wird also als Antwort auf den Selektionsdruck verstanden, der durch eine Verschiebung der kommunikativen Strategie entstand. Hier findet eine Erweiterung und Modifizierung der Logik der natürlichen Auslese statt, indem Koevolution nicht nur auf die interdependente Veränderung biologischer Systeme bezogen wird, sondern auf einen genetisch-kulturellen Prozeß. Die Fähigkeit zur symbolischen Referenz ist an sich zunächst kein Selektionsvorteil. Es bleibt also zu klären, warum diese Verschiebung stattgefunden hat. Die notwendigen 37 38 39 40

Müller 2000: S. 111 Deacon 1997: S. 447 Müller 2000: S. 115, Herv.i.O. Müller 2000: S. 120

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Schritte bei der Transformation zur symbolischen Kommunikation bestehen darin, die Aufmerksamkeit auf viele zueinander in Beziehung stehende indexikalische Assoziationen zur gleichen Zeit, und die Aufmerksamkeit von der unmittelbaren Zeichen-Objekt-Beziehung auf die Zeichen-Zeichen-Beziehung lenken zu können. Das Hauptproblem besteht im Letzteren, da hier die Aufmerksamkeit von offenkundigen Beziehungen zu Beziehungen erfolgen muß, die in vielen Interaktionen mit anderen Sprechern abgeglichen werden müssen.41 Dieses auf evolutionärer Ebene bewältigte Problem könnte nun auf gesellschaftsspezifischer Ebene das ‚Problematische‘ ausmachen, da mit ihr die Möglichkeit zumindest angelegt ist, daß Außenbezug und Körperbezug des ‚Wissens‘ tendenziell verloren gehen. Auf diese ‚natürliche Anlage‘, sowie die für die genannten Schritte notwendigen Mechanismen der Aufmerksamkeit und des Arbeitsgedächtnisses werde ich im letzten Teil dieses Kapitels näher eingehen. Sympathisch an dieser neurobiologischen Theorie der Sprache ist, daß sie auch aus evolutionärer Perspektive der Erfahrungsabhängigkeit sowie tendenziell der Körperabhängigkeit des menschlichen Gehirns Rechnung trägt. Die Aufmerksamkeit als die ‚zu verteilende Ressource‘ in den Mittelpunkt einer Theorie anthropologischer und gesellschaftlicher Dynamik zu stellen, halte ich für einen besonders fruchtbaren Ansatz. Fragt man also weiter, wodurch die Aufmerksamkeit gelenkt ist bzw. wodurch sie bedingt ist, ist eine für das Individuum relevant gewordene Situation anzunehmen, die nicht ohne weiteres zu bewältigen ist: das von Mead sogenannte ‚Handlungsproblem‘.42

41 Vgl. ebd.: S. 119 42 Eine andere Seite der Aufmerksamkeitslenkung, die bei der Untersuchung gesellschaftsspezifischer Ausgestaltungen der menschlichen Natur relevant sein könnte, ist die durch die vorherrschenden Überlebens- und Kommunikationsstrategien vorherrschenden Wahrnehmungsmodi und der Stellenwert der einzelnen Sinnesmodalitäten. Auf evolutionärer Ebene bedarf die Transformation zur symbolischen Kommunikation mittels Sprache z.B. einer Spezialisierung des Hörvermögens, während bei der stärkeren Differenzierung des Gesichts und der Nuancierung der Mimik der visuellen Dimension ein hoher Stellenwert zugekommen sein mag. Weiter wäre das Verhältnis von Akzentuierung einzelner Sinnesmodalitäten und globalen Wahrnehmungsformen und entsprechender Erlebensweisen zu berücksichtigen. Daniel Stern kommt diesbezüglich in seiner Arbeit über die Lebenserfahrung des Säuglings zu dem Schluß: „Tatsächlich ist ein Großteil der als ‚sozialisierend‘ bezeichneten Erfahrungen darauf abgestellt, die Aufmerksamkeit auf einen einzigen Bereich, meist den verbalen, zu lenken und das Erleben in diesem Bereich zur offiziellen Version zu erklären, während das Erleben in den anderen Bereichen (die ‚inoffiziellen‘ Versionen) verleugnet werden“ (Stern 2000: S. 54). Im Hinblick auf die Bedeutung des Spracherwerbs für das Kind heißt es weiter: „Was nun allmählich verloren geht (oder latent wird), ist gewaltig; was hinzugewonnen wird, ist ebenfalls gewaltig. Das Kind findet Eingang in eine größere Kulturgemeinschaft, aber mit dem Risiko, die Kraft und Ganzheit des ursprünglichen Erlebens einzubüßen“ (ebd.: S. 251).

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Den ‚Übergang‘ von Affekt zu Gefühl, von indexikalischer zu symbolischer Referenz, möchte ich im folgenden aus der Perspektive George Herbert Meads und seiner anthropologischen Psychologie über das Entstehen von Bewußtsein und Selbst beschreiben. Auch für Mead stellt – wie für Elias – die im Vergleich zu Tieren durch eine Instinktreduktion gekennzeichnete biologische Grundausstattung des Menschen die Grundlage der Gesellschaft dar. Die somatisch-physiologische Komponente ist bei ihm mit ‚grundlegenden soziophysiologischen Impulsen oder Verhaltenstendenzen‘43 benannt, für die Verhaltenskomponente wird der Begriff Gebärde verwendet, und die subjektive Komponente, die einen zentralen Gegenstand seiner Überlegungen ausmacht, ist austauschbar mit dem Begriff ‚Gefühl‘ oder ‚Emotion‘ bezeichnet. Mead nimmt das Ineinandergreifen der Verhaltenskomponenten der Emotionen, wie sie oben definiert wurden, als Ausgangspunkt der Entwicklung menschlicher Kommunikation. Was kann Mead zum Verständnis und zu einer differenzierteren Betrachtungsweise von Gefühl und Affekt beitragen?

c) Eine anthropologisch-psychologische Sicht Die folgenden Ausführungen zum Meadschen Modell betreffen einerseits die Ontogenese, andererseits stehen sie als Modell für den evolutionären Übergang zur menschlichen Verhaltenssteuerung. Der evolutionäre Bezug bei Mead stellt, wie Hans Joas schreibt, den Versuch dar, die psychologischen Konsequenzen aus der Evolutionstheorie zu ziehen und die Beziehung von Organismus und Umwelt zum Ausgangsmodell der Psychologie zu machen.44 Individuelle und gesellschaftliche Entwicklung sind nach Mead sozial konstituiert, also durch Beziehungen von sich gegenseitig beeinflussenden Handelnden. In einem frühen Entwicklungsstadium findet der Austausch mittels Körper- und Lautgebärden45 statt, welche den Ausdruck impulsiver Handlungen darstellen. Die sich entwickelnde Anpassung von sozialem Reiz und sozialer Reaktion, die Kooperation zwischen den Interaktionspartnern in dem Sinne, daß das Handeln des einen das des anderen beantwortet und hervorruft, ist als Funktion dieser Gebärden zu 43 Vgl. Mead 1980: S. 351. Soziophysiologisch, da sie zu ihrer Befriedigung durch den jeweiligen Organismus der sozialen Situation bedürfen. Mit dem Begriff Impuls bzw. Verhaltenstendenz wird die höhere Flexibilität menschlichen Verhaltens im Vergleich zum rigideren instinktgesteuerten tierischen Verhalten hervorgehoben. Damit ist sowohl die gesellschaftsspezifische Bestimmtheit als auch der individuelle Spielraum der Verhaltenssteuerung beim Menschen angesprochen. 44 Vgl. Joas 1989: S. 26 45 Unter Gebärden versteht Mead die frühen Anzeichen einer beginnenden sozialen Handlung (vgl. Mead 1987: 236). Sie sind Handlungsanfänge, die Reaktionen zur Folge haben, die zu einer Neuorientierung bereits begonnener Handlungen führen (vgl. ebd.: S. 211).

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verstehen, die in ihrer ursprünglichen Form die ersten äußeren Stadien einer sozialen Handlung und den Ursprung menschlicher Kommunikation darstellen. Diesen Austausch bezeichnet Mead als unbewußte Kommunikation, sie ist vor jedem Bewußtsein, gleichzeitig jedoch Bedingung der Möglichkeit von Selbstbewußtheit und Kontrollfähigkeit. Im Übergang zu bewußter Kommunikation kommt den Affekten, wie sie oben definiert wurden, zweierlei Bedeutung zu, nämlich einerseits in der Beziehung des Individuums zum ‚Objekt‘ und andererseits in seiner Beziehung zu sich selbst. Mit diesen nicht ohne einander zu denkenden Beziehungen sind zwei Funktionen der Affekte – die wiederum selbst in Interdependenz miteinander stehen – angesprochen: die gegenseitige ‚Realitätszuschreibung‘, im Sinne von Realisierung kraft Affizierung und die Angemessenheit der jeweiligen Reaktionsmuster bzw. die gegenseitige Kontrolle durch diese, also die Beziehungssteuerung.

Die Entstehung der Gefühle Die Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur ist bei Mead von ihrem Entwicklungsniveau her zwischen zwei Polen zu denken: einer dominierenden Ich-Steuerung im Sinne impulsiver Verhaltensweisen46 und einem ‚Selbst‘ als ‚einheitliche, und doch auf die Verständigung mit stufenweise immer mehr Partnern hin offene und flexible Selbstbewertung und Handlungsorientierung‘.47 Als Entwicklungskriterium dient die Fähigkeit des Individuums, sich seiner eigenen Haltungen48 als Reaktionen bewußt zu sein, die die Reaktionen der anderen beantworten, kontrollieren und interpretieren. Der Mechanismus, der dieser Entwicklung innewohnt, ist die Internalisierung der jeweiligen Beziehungen zu verschiedenen Interaktionspartnern durch Reflexion, was gleichzeitig die innere Strukturbildung meint. Ausgangspunkt der Entwicklung ist das Ich,49 welches die Reaktion des Organismus auf das Objekt bzw. die Haltungen Anderer – darstellt. Zur Erfassung der eigenen Reaktion – des Ich – bedarf das Subjekt der Reaktion des Anderen. Insofern die Identität des Anderen unmittelbar erfahrbar ist, kann eine Verbindung des eigenen Erfahrungsinhalts vollzogener Handlungen mit der Haltung dieses Anderen entstehen. Insofern das Subjekt die Hal46 Vgl. Mead 1980: S. 254 47 Vgl. Joas 1989: S. 117 48 Mead versteht unter Haltung „die Anpassung des betroffenen Organismus in der Form eines zum Ausdruck gebrachten Impulses“ (Mead 1980: S. 412). Soweit sich sehen läßt, werden von ihm die Begriffe Gebärde, Geste und Haltung synonym gebraucht. 49 Das Ich ist bei Mead immer als ein konstruierendes Ich zu verstehen. Es bezeichnet einerseits das Prinzip von Spontaneität und Kreativität, insofern es ‚Neues‘ in die Situation bringt. Sein Ausgangspunkt u.a. kann jedoch sowohl die ‚Triebausstattung‘ des Individuums sein, besser die angeborenen Verhaltenstendenzen, oder das ‚me‘, das es bis zu einem gewissen Grad normiert (vgl. Joas 1989: S. 117).

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tung des Anderen gegenüber den eigenen Erfahrungsinhalten einnehmen kann, entsteht das ‚me‘. Das ‚me‘ als meine Vorstellung von dem Bild, das der Andere von mir hat, wirkt nun mit verhaltenssteuernd, indem es „sowohl Bewertungsinstanz für die Strukturierung der spontanen Impulse wie Element eines entstehenden Selbstbildes wird.“50 Das Ich ruft das ‚me‘ hervor und reagiert darauf.51 Die Relevanz dieses Entwicklungsschrittes besteht darin, daß dem Subjekt ein Teil von sich zugänglich wird, der ihm ohne den Anderen verborgen geblieben wäre. Insofern er jedoch die Haltung des Anderen sich selbst gegenüber einnimmt, kann ihm diese als Kontrollorgan für seine eigenen Handlungen dienen.52 Das Selbst besteht zunächst aus den verschiedenen ‚mes‘, welche sich jeweils als von mir wahrgenommenes Bild meiner Person beim Interaktionspartner einstellen, in ihrer Abhängigkeit von der Vielfalt der Interaktionssituationen.53 Im Verlauf der Identitätsentwicklung werden diese ‚mes‘ aktiv zu einem einheitlichen Selbstbild synthetisiert. Vor dieser Synthese ist das Subjekt in der Lage, die verschiedenen Haltungen in einem Nacheinander einzunehmen. In einem frühen Stadium der Selbstentwicklung ist das Individuum eine „Zusammensetzung aus allen Individuen, die es anspricht, wenn es die Rollen der es umgebenden Menschen einnimmt.“54 Auf dieser Stufe ist das Selbst zunächst die ‚Spiegelung der Haltung anderer‘ dem Individuum gegenüber. Nur allmählich findet eine Synthese der verschiedenen ‚mes‘ statt, die mit einer Identifizierung dieser mit dem biologischen Individuum einhergeht. Erst an dieser Stelle entsteht das reflexive Selbst im Sinne von Selbst-Bewußtheit auf ganz-personalem Niveau, auf dem die verschiedenen Haltungen gleichzeitig verfügbar sind und eine relativ autonome und flexible Selbstbewertung und Handlungsorientierung ermöglichen. Würde man es dabei belassen, hier einfach nur von dem Vorgang der ‚Identifizierung‘ oder ‚Rollenübernahme‘ zu sprechen, so blieben zwei wesentliche Charakteristika der menschlichen Beziehungs- und Psychodynamik unbeachtet. Die Möglichkeit einer solchen Entwicklung ist nämlich an zwei Bedingungen geknüpft: das Auftreten des Handlungsproblems und die Fähigkeit des Individuums zur Selbstaffektion. Die Ausrichtung des Ich auf ein Befriedigung versprechendes Objekt allein reicht noch nicht zur Auslösung des Reflexionsvorgangs aus. Erst durch das Auftreten eines Problems kommt es zu einer Hemmung der Handlung des Ich, welche dieses zur Rückbesinnung auf sich zwingt. Der Vorgang der Reflexion setzt also die Reaktionshemmung des Ich voraus, sie impliziert das Auftauchen eines Handlungsproblems. Das Handlungsproblem entsteht, wenn Handlungstendenzen in Konflikt miteinander ge-

50 51 52 53 54

Joas 1989: S. 117 Vgl. Mead 1980 : S. 221 Vgl. ebd.: S. 240 Vgl. Joas 1989: S. 107 Mead 1980: S. 420

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raten, bzw. die verfügbaren Verhaltensmuster nicht zur Bedürfnisbefriedigung führen. „Wo ein Handlungsproblem auftaucht“, schreibt Joas, „wird ein Teil unserer Welt der Objektivität beraubt, desorganisiert.“55 Es werden damit soziale Geltungen erschüttert, die die präreflexive Selbstwahrnehmung des Subjekts ausmachen. So besteht die erste Haltung in der Reflexion im „Aufzeigen eines neuen Merkmals des Objekts, das die widersprüchlichen Impulse auslöst.“56 Es ist diese Phase der Erfahrung, in der mit der Desorganisation des präreflexiven Objekts eine Desorganisation des bisherigen Subjekts einhergeht, die für das Entstehen des Psychischen, der Subjektivität, als den ‚Ort‘ der ‚Emotionen‘ maßgeblich ist. Wohlgemerkt wird der Begriff Emotion von Mead synonym zu ‚Gefühl‘ verwendet, er meint also die subjektive Komponente der Emotionen, wie ich sie mit Elias oben definiert habe. Das Psychische meint dann jene Phase der Reflexion, in der das Individuum sich auf seine Subjektivität zurückgeworfen selbst erfährt.57 Mit der Zurückgeworfenheit auf die Subjektivität durch Hemmung der präreflexiven Antriebe entstehen also die Gefühle: Sie entstehen durch das Auftreten der Antriebe im Bewußtsein. Sie sind die erlebbar gewordenen unmittelbaren Antriebe in Verbindung mit den Haltungen der Anderen, durch die sie entstehen. Das Bewußtwerden der unmittelbaren Antriebe durch die Handlungshemmung führt zu einer Reaktionsverzögerung. „Die ganze Skala der Gefühle, von der Angst über die Wut bis hin zum sexuellen Begehren erwacht hinter den Tätigkeiten des Kämpfens, Ernährens und der Fortpflanzung, weil diese Tätigkeiten für die Dauer einer Neuorientierung der Reaktionen gestoppt werden.“58

Die andere Haltung, die die Reflexion ausmacht, ist jene, in der auf Grundlage der bisherigen Erfahrung und ihrer Verarbeitung die Anstrengung auf die Rekonstruktion der desorganisierten Objektivität gerichtet wird, die gleichzeitig eine Restabilisierung des Individuums bedeutet. Mead nennt es die „Organisation der Reaktion auf das so erfahrene Objekt in einer Weise, daß man sich die Reaktion so aufzeigt, wie man sie einem anderen aufzeigen würde […].“59 Es ist diese rekonstruktive Tätigkeit des Ich, die gewöhnlich mit dem Begriff ‚Denken‘ umschrieben wird. Sie ist die Reaktion des Ich auf die neue Situation, die unter anderem durch die übernommene Haltung des Anderen dem Subjekt gegenüber bestimmt ist und diese wiederum verändert. An diesem Gedankenmodell Meads wird schon deutlich, wie unablösbar das menschliche ‚Denken‘ und ‚Fühlen‘ miteinander verflochten sind. Die Funktion der Gefühle im Unterschied zu Affekten 55 56 57 58 59

Joas 1989: S. 84 Mead 1980: S. 407 Vgl. Joas 1989: S. 83 Mead 1987: S. 212 Mead 1980: S. 407

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wird deutlich, wenn man die ‚Hemmung‘ der Intentionalität des Subjekts in Zusammenhang mit seiner biologischen Beschaffenheit betrachtet. Der Begriff ‚Hemmung‘ verweist hier auf all jene Abhängigkeiten und Zwänge, in die das Individuum kraft seiner Eigentümlichkeiten als biologisches und soziales Wesen verstrickt ist, oder mit Joas: als systematische Erscheinung in der Handlungsplanung. Der ‚Überlebenswert‘ der Gefühle besteht dann in der mit ihnen gegebenen Möglichkeit antizipatorischer Evaluation. Mead schreibt über sie: „Der teleologische Zweck dieser Zustände ist es, dem Organismus eine Bewertung der Handlung zu vermitteln, bevor die Koordination, die zu der speziellen Reaktion führt, vollständig ausgeführt ist.“60

Doch es bleibt noch die Frage offen, wie denn eine solche Bewertung möglich ist. Geht man davon aus, daß die Gefühle auf bewußter Ebene beziehungssteuernd wirken, also Kontrolle ermöglichen, so setzt man dem schon ein ‚Identisches‘ zwischen den Interaktionsbeteiligten voraus, welches als eine Art grundlegendes Interpretationsmuster den Beteiligten verfügbar ist. Wie bereits erwähnt, reicht das Konzept der Internalisierung durch Reflexion nicht aus, um die Frage nach der Entstehung des Bewußtseins und des Selbst auf anthropologischer wie individueller Ebene zu beantworten. Denn damit würde man die Sozialisation als reine Aufladung des Subjekts durch das Gesellschaftliche verstehen und so den Aspekt der Individualität ausblenden, was wiederum jede Vorstellung von Entwicklung obsolet machen würde. Zum Verständnis der Entstehung der Gefühle möchte ich daher noch einmal zur Funktionsdynamik der Affekte zurückkehren. Welche Gemeinsamkeiten der Menschen bilden die Grundlage für das Entstehen der subjektiven Komponente in inhaltlicher wie struktureller Hinsicht? Oder anders formuliert: Was verleiht den Emotionen ihren Orientierungsmittelcharakter?

Das Problem der Intersubjektivität Über die ungelernten Anteile menschlicher Emotionen scheint heute in der neueren Affekttheorie weitgehend Einigkeit zu bestehen. Nicht nur jene Aspekte der Emotionen, die die Menschen mit Tieren gemeinsam haben, sondern auch solche, durch die sie sich von ihnen unterscheiden, nämlich das oben sogenannte ‚expressive Modul‘ und das ‚Modul zur bewußten Wahrnehmung des Affekts‘ basieren auf phylogenetisch vermittelten Erfahrungen. So kennt das expressive Modul „einen Satz an phylogenetisch vermittelten qualitativ unterschiedlichen Prototypen, die Primäraffekte genannt werden.“61 Zu diesen kann man Freude, Trauer, Interesse, Ekel, 60 Mead zit. n. Joas 1989: S. 102 61 Krause 2000: S. 32

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Angst, Neugier und Wut, Verachtung zählen, wobei über die Anzahl der Primäraffekte keine Einigkeit besteht. Auch unter dem Gesichtspunkt der subjektiven Wahrnehmung geht man davon aus, „daß es affektspezifische, kulturübergreifende prototypische Formen der Weltsicht gibt […]“.62 Diese seien in ihrer Kulturvergleichbarkeit ebenso bestätigt wie die Ausdruckskonfigurationen der Mimik und der Stimme.63 Im Hinblick auf den Inhalt kann man nach Krause die angeborenen Affekte als Informationssets beschreiben, die aus phylogenetischen Erfahrungen stammen. Der These der phylogenetischen Vermitteltheit somatisch geronnener Spuren von Umweltereignissen und sozialen Handlungen liegt kein lamarckistisches Denkmodell zugrunde, vielmehr beruht die These auf der Annahme, daß sich die Entwicklung von artspezifischen expressiven Zeichen auf eine signifikante koevolvierte Bedeutungswelt beziehen muß. Diese koevolvierte Bedeutungswelt, die sogenannten Primäraffekte, bestehen aus prototypischen Objektbeziehungen, die sich für die Menschen als besonders relevant herausgestellt haben. So wird mit jeder Emotion eine solche phylogenetisch vorgegebene protokognitive Struktur mobilisiert.64 Dieses Erfahrungswissen erlaubt archaische Klassifikationen, die das Objekt als wohltuend oder schädigend erscheinen lassen. Weiter fließt in dieses Wissen die erfahrene relationale Handlungsmacht ein, deren Einschätzung – also von Unterlegenheit bzw. Überlegenheit – die Intentionalität des Subjekts ausmacht. So könne man aus kognitiver Sicht diese „Wünsche als Propositionen formulieren mit den Aussagebestandteilen Subjekt, Objekt und gewünschte Interaktion. Objekt und Subjekt müssen jeweils in Termini des Ortes, in dem sich die Interaktion abspielt, betrachtet werden.“65 In diesem Sinne signalisieren z.B. die positiven Affekte, daß die laufende Interaktion weitergehen soll. Die negativen signalisieren den Wunsch nach Veränderung der Interaktion, z.B. signalisiert ‚Wut‘ den Wunsch, das Ob62 Ebd. 63 Ebd.. Krause bezieht sich hier auf einen interessanten Aufsatz von Nico H. Frijda, in dem einige Gesetzmäßigkeiten der Emotionen vorgestellt werden (vgl. Frijda 1996). 64 Vgl. Krause 2001: S. 946. Auch hier bezeichnet Koevolution einen genetisch-kulturellen Prozeß. „Man kann sich vorstellen, wie ein Beobachter die Äußerung eines kategorialen Affekts, zum Beispiel Traurigkeit empfindet. Daß wir diese Gefühlsübertragung von einem auf den anderen Menschen überhaupt verstehen können, beruht auf einem Zusammenwirken von Evolution und Erfahrung“ (Stern 2000: S. 225). 65 Krause 2000: S. 33. Der Begriff ‚kognitiv‘ bezieht sich hier auf die kognitive Verarbeitung bzw. Bewertung des Reizes, die der Reaktion vorausgeht. Diese Sicht entstammt der sogenannten ‚Bewertungstheorie‘. Frijda hat diese Relevanz der Bewertung in einem ‚Gesetz der subjektiv wahrgenommenen Bedeutung‘ formuliert: „Emotionen werden durch den Bedeutungsgehalt eines Ereignisses ausgelöst, und eine spezifische Emotion ist die spezifische Antwort auf einen spezifischen Bedeutungsgehalt“ (Frijda 1996: S. 208). Das Kognitive impliziert nicht notwendigerweise Bewußtsein (vgl. ebd.: S. 218).

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jekt möge verschwinden, ‚Angst‘ jedoch den Wunsch des Subjekts, sich selbst vom Ort der Interaktion zu entfernen. Weiter gibt es die informationsverarbeitenden Affekte wie Neugier und Interesse, die vor der Klassifikation in ‚gut‘, ‚schlecht‘ oder ‚irrelevant‘ die Aufmerksamkeit auf das Objekt richten. Es sind dann diese Inhalte, die durch individuelle Erfahrungen überlagert und verändert werden. Wie bei der Darstellung des Meadschen Konzepts bereits deutlich wurde, sind die Bedeutungen von Symbolen – mögen dies nun Lautmuster oder Gebärden in angeborener oder erlernter Form sein – immer als Ergebnis von Interaktionen zu verstehen: „Erst durch die Beziehung zu anderen Individuen ist ein Ausdruck von einem bloßen Ausfluß nervöser Erregung zu einer Bedeutung geworden. Und diese Bedeutung bestand eben im Wert einer Handlung für ein anderes Individuum.“66

Und nur insofern das Individuum sich dieses ‚Wertes‘ eigener Handlungen bewußt ist, kann eine ‚Kontrolle‘ der Beziehung stattfinden. Bekanntermaßen können und müssen im Falle des Menschen diese Bedeutungen gruppenspezifisch bis zu einem gewissen Maße habitualisiert werden, so daß der Austausch bis zu einem gewissen Grad auf präreflexivem Niveau stattfinden kann. Mir geht es hier jedoch um einen anderen Punkt: Mit den Erörterungen über die Entstehung von Bedeutungen wird es nachvollziehbar, wie das ‚Identische‘ zwischen den Interaktionspartnern im Hinblick auf seinen Inhalt entsteht und sich in Form anthropologischer Konstanten und darauf aufbauend gesellschaftsspezifischer Orientierungsmittel erhält. Strukturell ist das ‚Identische‘ nach Mead jedoch nur möglich durch die angeborene Fähigkeit des Menschen zur Selbstaffektion. Sie sei phylogenetisch auf die Selbstwahrnehmbarkeit der Lautgebärde zurückzuführen. Für die individuelle Entwicklung wird die Relevanz der Lautgebärde auf die Fähigkeit zur Selbstaffektion allgemein bezogen: „Jede Gebärde, durch die ein Individuum seinerseits ebenso angeregt oder affiziert werden kann, wie sie andere anregt oder affiziert, und die daher bei ihm selbst in der Weise eine Reaktion hervorrufen kann, wie sie es sonst bei anderen macht, dient als Mechanismus für den Aufbau einer Ich-Identität.“67

Die Relevanz der Fähigkeit zur Selbstaffektion erstreckt sich nicht nur auf das Entstehen von Selbst und Selbstbewußtsein, sondern auch auf das Denken, „das einfach ein nach innen verlegtes oder implizites Gespräch des Einzelnen mit sich selbst mit Hilfe solcher Gesten ist“,68 und zwar solcher Gesten, die zu signifikanten Symbolen geworden sind. Signifikant

66 Mead 1987: S. 207 67 Mead 1987: S. 239 68 Mead 1980: S. 86

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oder bedeutungsvoll wird ein Symbol durch die Fähigkeit, zur gleichen Zeit man selbst und ein anderer zu sein: „Die so nach innen genommenen Gesten sind signifikante Symbole, weil sie für alle Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe den gleichen Sinn haben, d.h. daß sie jeweils in dem die Geste setzenden Individuum wie auch in den auf sie reagierenden Individuen die gleichen Haltungen auslösen: andernfalls könnte der Einzelne sie nicht nach innen hereinnehmen oder sich ihrer und ihrer Bedeutungen bewußt werden.“69

Phylogenetisch bedeutet das, daß durch die Existenz selbstwahrnehmbarer Gebärden angesichts der durch die Instinktreduktion verursachten konstitutionellen Reaktionsunsicherheiten des Menschen und der durch das Nervensystem ermöglichten Reaktionsverzögerungen die Reiz-ReaktionsSchematik des Verhaltens durchbrochen wird. Mit dem Entstehen der Symbolisierungsfähigkeit des Menschen findet so der Übergang von unbewußter zu bewußter Kommunikation statt. Ontogenetisch wird damit der Grundstein für den Aufbau einer Ich-Identität insofern gelegt, als die Struktur sozialer Interaktionen, die in der Sozialisation nur von einem der Interaktionspartner wirklich beherrscht wird, für beide innerlich verfügbar wird.70 Die Entwicklung des Selbst und die Entstehung von Selbstreflexivität setzen voraus, daß soziale Handlungen vom Handelnden selbst wahrgenommen werden können. Mit der Selbstaffektion wird die Struktur angelegt, in die die Erfahrungen durch Andere eingebracht werden und die selbst durch diese Erfahrungen verändert wird. Die Entstehung der Gefühle gehört zu dieser ‚inneren‘ Strukturbildung, mit ihnen wird es möglich, die Haltungen anderer zu interpretieren, zu steuern und zu beantworten. Die Hervorbringung gleicher Reaktionen bei sich wie bei anderen macht nach Mead erst die Identifizierung möglich, durch die dann mit ‚Übernahme oder Erfühlen der Haltung des anderen gegenüber sich selbst‘71 auch Nicht-Identität festgestellt werden kann.

Emotionen im Wandel Das Menschenbild, das hier zugrunde liegt, ist also das eines in einem ständigen Prozeß der Grenzziehung und der Grenzöffnung gegenüber anderen befindlichen Individuums.72 Der Vorgang der Reflexion ist kein einmaliger Akt, insofern widersprüchliche Handlungsimpulse und unzureichende Reaktionsmuster zum menschlichen Sein gehören. Somit ist das Selbst selbst ein Prozeß, wobei der Grad des Wandels des Subjekts der Art

69 70 71 72

Ebd.: S. 86f Vgl. Joas 1989: S. 107, vgl. a. Wagner 1993: S. 34 Vgl. Mead 1980: S. 214 Vgl. Joas 1989: S. XXVI

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und dem Grad der ihn bedingenden Problematisierungen, die immer nur relativen Charakter haben können, entspricht: „[…] jeder Konflikt von Handlungstendenzen teilt die Situationsgegebenheiten in zwei Felder auf. Das eine Feld bildet den Problembereich, in dem neue Objekte konstituiert werden müssen. Das andere Feld dagegen bleibt intakt und bildet den Hintergrund von Bedingungen für die Herausbildung der Hypothesen über diese ‚neuen Objekte‘.“73

Verhältnis und Ausgestaltung dieser zwei Felder bestimmen dann den Grad des Wandels des Subjekts. Das ‚intakt bleibende Feld‘ sind die habitualisierten Empfindens- und Verhaltensmuster, die wie der jeweilige Handlungsspielraum und die Wandlungsfähigkeit des Individuums individuell und gesellschaftsspezifisch zugleich sind. Spricht man vom Wandel des sozialen Habitus, dann spricht man eben von einer bestimmten Modifizierung der Emotionen der miteinander in einer bestimmten Art und Weise verflochtenen Menschen. Oft werden Aspekte dieser Modifizierung von Menschenwissenschaftlern untersucht, ohne daß sie sich in gebührender Weise auf Emotionen beziehen. Ein Aspekt dieser Modifizierung ist der Wandel im Verhältnis zwischen angeborenen und erlernten Impulsen. Mit den ‚erlernten Impulsen‘ ist die habitualisierte Kontrolltätigkeit gemeint, die gewöhnlich mit dem Begriff Gewissensbildung umschrieben wird. Der soziale Prozeß, welcher der Entstehung erlernter Impulse – der sogenannten ‚zweiten Natur‘ – vorausgeht, ist eine Verschiebung im Verhältnis von Fremd- und Selbstzwängen. Dieser Aspekt betrifft das Verhältnis zwischen den verschiedenen Komponenten der Emotionen, die oben als eine relative Abkoppelung der Verhaltenskomponente von der subjektiven und der somatisch-physiologischen beschrieben wurde. Der zweite Aspekt betrifft dann das Verhältnis der in dieser Form modifizierbaren Emotionen zum ‚Objekt‘. Insofern eine zunehmende Kontrolltätigkeit nach ‚innen‘, in bezug auf sich selbst, stattfindet, steigt – so die gängige These – die Angemessenheit der Orientierungsmittel und der entsprechenden Reaktionsmuster nach ‚außen‘, der außermenschlichen Natur und anderen Menschen gegenüber, was wiederum der Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur in Richtung zunehmender Differenzierung dienlich ist. Dieser Prozeß wird als ‚Rationalisierung‘ bezeichnet. Schließlich findet ein Wandel im Verhältnis der individuellen zu den gesellschaftlich geteilten Verhaltens- und Empfindensmustern statt, ein Prozeß, der als ‚Individualisierung‘ bekannt geworden ist. Mit ihm ist der Wandel in Art und Grad der Interdependenzen angesprochen, in die der Einzelne verstrickt ist, und somit Art und Anzahl der ‚Haltungen‘ Anderer, die für Art und Grad des Wandels seiner Persönlichkeitsstruktur maßgeblich sind. Diese verschiedenen Aspekte des Wandels 73 Joas 1989: S. 86

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menschlicher Emotionen im Zuge gesellschaftlicher Entwicklung hat Elias in seiner Theorie der Zivilisation beschrieben. Dort wird gezeigt, wie in bestimmten Gesellschaften der ‚Zwang zum Ansichhalten‘ sich in die Fähigkeit zur Selbstregulation wandelt. Den gesamten Prozeß beschreibt Elias als einen Prozeß der ‚Distanzierung‘ auf verschiedenen Ebenen: Distanzierung in bezug auf die eigene menschliche Natur, auf sich selbst, auf andere Menschen und in bezug auf die außermenschliche Natur. Dazu mehr im zweiten Kapitel. Nun haben die genannten Prozesse, innerhalb deren sich sowohl das Verhältnis der einzelnen Komponenten der Emotionen zueinander als auch ihr Verhältnis zum ‚Objekt‘ ändert, nicht nur Auswirkungen auf den sozialen und individuellen Habitus der Menschen, sondern ja gerade dadurch auch auf den alltäglichen und wissenschaftlichen Umgang der Menschen mit Emotionen und deren Konzeptualisierung. Damit möchte ich auf die oben gestellte Frage zurückkommen, was es dann eigentlich mit der Gleichsetzung von Emotionen mit Gefühlen, mit subjektivem Erleben auf sich hat. Die Reduzierung der Emotionen auf ihre subjektive Komponente entspricht einer individualistischen Selbstwahrnehmung, die das eigene ‚Innere‘ einem ‚Außen‘ entgegensetzt bzw. entgegengesetzt fühlt. Es ist eine gesellschaftlich gewordene Selbstwahrnehmung, die die wahrgenommene Distanz zwischen den Menschen widerspiegelt. Die wahrgenommene Distanz manifestiert sich in einem Bild der Abgetrenntheit. Entsprechend ist dann die Verhaltenskomponente der Emotionen ein Effekt des subjektiven Erlebens, steht sozusagen funktionslos im luftleeren Raum, nachdem sie die Funktion erfüllt hat, das subjektive Erleben mehr oder weniger ‚verzerrt‘ zum Ausdruck zu bringen oder auch nicht. Der Aufsatz von Elias über die menschlichen Emotionen ist vor allem in Abgrenzung zu diesem Alltagsbegriff der Emotion zu verstehen, der sich in der Emotionsforschung wiederfindet. Mit der Rede vom ‚Gefühlsausdruck‘ etwa „klammert man die Beziehung aus, die entweder die Emotion oder ihr Ausdruck zu einer spezifischen Situation hätte, und schneidet weitere Fragen über die Funktion der Emotion oder ihres Ausdrucks ab.“74 Aber auch schon Mead wendet sich – in Abgrenzung zu Darwin – gegen eine solche Vorstellung von Emotionen: „Während diese Gebärden mithin einem Beobachter Emotionen offenbaren, besteht ihre Funktion keineswegs darin, Emotionen zu offenbaren oder zum Ausdruck zu bringen. Während gerade die Kontrolle der Tätigkeit und die Handlungsbereitschaft als die Anstrengung, sich an den Anzeichen einer Handlung von Seiten eines anderen Individuums zu orientieren, einen Energieüberschuß mit sich bringen, der nach einer Abfuhr sucht, besteht die Funktion einer Gebärde nicht in der Freisetzung überschüssiger Energie. Die Gebärde kann auch nicht angemessen als psychophysisches Gegenstück eines emotionalen Bewußt74 Elias 1990c: S. 352

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seins erklärt werden. Die erste Funktion einer Gebärde besteht in der wechselseitigen Anpassung von sozialer Reaktion und sozialem Reiz, die beide einer ständigen Veränderung unterliegen.“75

Sowohl Mead als auch Elias kommt es also darauf an, Emotionen, ihre Entstehung und ihren Wandel in all ihren Komponenten als Funktion von Interdependenzen biologischer Individuen zu verstehen. Dergleichen gilt übrigens für Kognition und Bewußtsein. Im selben Aufsatz wendet sich Elias gegen eine hypostasierende Konzeptualisierung psychischer Kontrollinstanzen, die in der Forschung dann getrennt von Emotionen untersucht werden. Der Vorstellung menschlicher Erlebnisweisen als unveränderliche Phänomene und der psychischen Kontrollinstanzen als ‚ungelernte, unsichtbare und unberührbare Organe‘ setzt er das Konzept eines veränderlichen Verhältnisses zwischen Emotionsimpulsen und erlernter Selbstregulation der Menschen entgegen: „Das veränderliche Verhältnis zwischen Emotionsimpulsen und den kontrollierenden Gegenimpulsen zeigt sich in der Bewegung, Gestik oder Mimik, mittels derer eine Person der anderen unfreiwillig oder mit Absicht den Zustand der Selbstregulation ihrer Emotionen mitteilt. Der Begriff des ‚Emotionsausdrucks‘ verdeckt die gesellschaftliche, die kommunikative Funktion dessen, was wir ‚Ausdruck‘ nennen, also der Gesichts- und Körperbewegungen, die mit der Balance zwischen spontanen Emotionsimpulsen und durch Lernen erworbenen Gegenimpulsen verbunden sind.“76

Im Falle Meads stellt dieser Zusammenhang, die Entstehung von Kognition und Bewußtsein aus der Interdependenz biologischer Individuen, ein zentrales Thema seiner Arbeiten dar. Der befremdlich wirkende Ausdruck ‚biologisches Individuum‘ soll nun nicht unterstellen, daß es auch nichtbiologische Individuen gibt. Sein Gebrauch verweist lediglich auf die Tatsache, daß beim Nachdenken über menschliche Phänomene wie Emotion, Selbst oder Geist allzu oft nicht nur ihr kommunikativer, interaktioneller Charakter unberücksichtigt bleibt, sondern auch ihre ebenso zwingende stete Verankertheit in einem spürbaren Leib.

75 Mead 1987: S. 212. Zu Meads Argumentation gegen Darwin s. auch Mead 1980: S. 53-56. 76 Elias 1990c: S. 356. Ich habe hier den Begriff ‚Gleichgewicht‘, den ich für einen Übersetzungsfehler halte, durch den Begriff ‚Balance‘ ersetzt.

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d) Eine neurobiologische Sicht „Mir macht Sorge, daß man die Bedeutungen der Empfindungen akzeptiert, ohne daß man sich bemüht, ihre komplexen biologischen und soziokulturellen Mechanismen zu verstehen.“77

Kehren wir noch einmal zurück zur Definition der Emotionen als Reaktionsmuster mit den genannten Komponenten bzw. Modulen: Gibt es Reaktionsmuster, die nicht emotional sind, oder: was macht die Emotionalität aus? Die Emotionen mit ihrer subjektiven Komponente zu identifizieren, scheint zunächst naheliegend, denn diese bezeichnet ja den uns zugänglichen Anteil. Doch was passiert mit dem Rest der Emotionen, wenn die ‚Gefühle‘ entstehen – vorher und währenddessen? Als Elias 1986 seinen Vortrag über Menschen und ihre Emotionen hielt, sagte er relativ wenig über die somatisch-physiologische Komponente, denn diese sei noch nicht geklärt. Als er von ‚erlernten Impulsen‘ sprach, bezog er sich vor allem auf Gehirnfunktionen. Bei Mead, der sich weit ausführlicher mit diesen Zusammenhängen beschäftigt hat, wird der gesamte Organismus explizit dem Verständnis des ‚Geistes‘ zugrunde gelegt. Was können die neueren Untersuchungen zum menschlichen Gehirn und seinem Verhältnis zum übrigen Organismus zum Verständnis der Emotionen beitragen? Wie oben bereits gesagt wurde, besteht die menschliche Natur aus Strukturen, die dem Lernen zugänglich sind, und solchen, die dem Lernen nicht zugänglich sind. Wie ist aber das Verhältnis zwischen diesen Strukturen beschaffen? In der herkömmlichen Denkweise geht man davon aus, daß erstere die letzteren im Laufe der Entwicklung überlagern und dominieren. Dieser Denkweise entspricht auch die Vorstellung von Gegensätzen wie Natur und Kultur oder Trieb und Geist, wobei – und auch das ist schon aus verschiedenen Perspektiven zur Genüge kritisiert worden – Kategorien wie Kultur und Geist im Mainstream höher bewertet werden. Der Neurologe Antonio R. Damasio hat einen hilfreichen Beitrag zu diesem Thema geleistet. Ich möchte im folgenden einige Erkenntnisse und Annahmen herausgreifen, die im Zusammenhang dieser Arbeit von Bedeutung sind.

‚Unser biologisches Erbe‘ Vorweg möchte ich kurz den Gegenstand dieser Neurobiologie umreißen und ein paar grundlegende Begriffe klären. Wenn hier vom Gehirn die Rede ist, muß man sich einerseits vorstellen, daß es verschiedene Gehirnsysteme gibt, aus deren Zusammenwirken bestimmte Funktionen entstehen. Andererseits handelt es sich um kein körperloses Gehirn: „Unauflös77 Damasio 1997: S. 327

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lich stehen Gehirn und Körper über wechselseitig aufeinander abgestimmte biochemische und neuronale Schaltkreise miteinander in Verbindung.“78 In diesem Sinne spricht Damasio vom ‚Körper im engeren Sinne‘, womit er den Organismus ohne das Nervengewebe meint. Die Differenzierung von ‚Körper‘ und ‚Gehirn‘ ist für Damasio wichtig, da es ihm um das Aufzeigen der Verbindung dieser beiden geht. Das Wissen ist in Form von ‚neuronalen Repräsentationen‘ gespeichert. Insofern dieses Wissen latent und abrufbereit ist, spricht Damasio von ‚dispositionellen Repräsentationen‘. Das Abrufen des Wissens – die Erzeugung expliziter Vorstellungsbilder – und Denken – die Manipulation der Vorstellungsbilder – bedeutet dann die Aktivierung bestimmter neuronaler Strukturen. Für kognitive Prozesse ist die zeitliche Abstimmung dieser Aktivitätsmuster von entscheidender Bedeutung. Diese Zeitbindung bedarf des Mechanismus der Aufmerksamkeit, der die konzentrierte Aktivität für eine gewisse Zeit gewährleistet, und des Mechanismus des Arbeitsgedächtnisses, welcher das synchrone Beibehalten der Aktivitätsmuster im Bewußtsein für eine gewisse Zeit ermöglicht. Der Prozeß, „durch den neuronale Repräsentationen, das heißt biologische Modifikationen, die durch Lernprozesse in einem Neuronenschaltkreis hervorgerufen werden, zu Vorstellungsbildern in unserem Geist werden […]“79, ist ein Gegenstand der Neurobiologie von Damasio. Aber was hat das alles mit Emotionen zu tun? Zu den Bedingungen der Möglichkeit der menschlichen Lernfähigkeit gehört die sogenannte neuronale Plastizität, durch die sich das neuronale Netzwerk aus Verbindungswegen bildet, die sich durch den Gebrauch sozusagen selbst bahnen. Von diesen und den angeborenen Verbindungsmustern zwischen Neuronen und der Stärke der Synapsen hängen Struktur und Funktionen des Gehirns ab. Das bedeutet, daß die Gehirnstruktur des Menschen weder vollständig genetisch noch gänzlich durch Erfahrung bestimmt ist. Größtenteils genetisch bestimmt sind die evolutionär älteren Teile des Gehirns. Diese Strukturen haben vor allem die Aufgabe der homöostatischen Regulation, also der Aufrechterhaltung grundlegender Lebensprozesse wie Atmung, Herzschlag, und Stoffwechsel ohne Zuhilfenahme von Geist und Vernunft über Steuerung von Reflexen, Trieben und Instinkten.80 Diese vorgegebenen Strukturen dienen dem Überleben des Organismus bzw. zunächst des Neugeborenen. Eine weitere Funktion dieser vorgegebenen Strukturen besteht aber in ihrer Beteiligung „an der Entwicklung und an der erwachsenen Aktivität der evolutionär modernen Strukturen des Gehirns.“81 Die Annahme ist, daß hier allgemeine Strukturen festgelegt werden, die genaue Anordnung dann aber „unter dem Einfluß von Umweltbedingungen, die durch die Wirkung der angeborenen und 78 79 80 81

Ebd.: S. 128 Ebd.: S. 132 Vgl. ebd.: S. 156 Ebd.: S. 157, Herv.i.O.

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genau festgelegten – für die biologische Regulation zuständigen – Schaltkreise ergänzt und begrenzt werden“,82 entsteht. Diese neueren Strukturen sind zwar unentbehrlich für ‚Geist‘ und ‚Denken‘, sind aber bei ihrer Arbeit auf die alten Basisstrukturen des Gehirns angewiesen. Was aber hat die Körperregulation mit der Erzeugung von Vorstellungsbildern und deren Manipulation zu tun, welches Kriterium kann das Eingreifen der älteren Strukturen in die neueren rechtfertigen? Diese Intervention sieht Damasio darin begründet, „daß sich die Aufzeichnungen unserer Erfahrungen und der Reaktionen auf sie, wenn sie adaptiv sein sollen, der Beurteilung und Formung durch eine Reihe fundamentaler Präferenzen unterwerfen müssen, deren wichtigster Gesichtspunkt das Überleben ist. Da dieser Prozeß der Bewertung und Formung von entscheidender Bedeutung für den Fortbestand des Organismus ist, legen die Gene auch fest, daß die angeborenen Schaltkreise praktisch alle anderen Schaltkreise, die von der Erfahrung modifiziert werden können, nachhaltig beeinflussen.“83 Dies geschieht auf folgende Weise: „1. Die angeborenen Schaltkreise mit regulativen Aufgaben tragen wesentlich zum Überleben des Organismus bei und sind deshalb in die Geschehnisse eingeweiht, die sich in den modernen Teilen des Gehirns zutragen; 2. regelmäßig wird ihnen signalisiert, ob Situationen gut oder schlecht sind; und 3. ihre inhärente Reaktion auf gute und schlechte Situationen bringen sie zum Ausdruck, indem sie Einfluß auf die Formung des restlichen Gehirns nehmen, so daß es möglichst wirkungsvoll zum Überleben beitragen kann.“84 Innerhalb der durch Erfahrung geformten neuronalen Schaltkreise kann man wiederum unterscheiden zwischen solchen, die stabiler sind, und solchen, die entsprechend der Einwirkungen der Erfahrungen im ständigen Wandel begriffen sind, wobei das Gehirn auf ein Gleichgewicht zwischen diesen – zwischen Kontinuität und Wandel – angewiesen ist.85 Der Wandel findet aber eben auch unter der Bedingung der exakten, festgelegten Struktur (die fundamentalen Schaltkreise) statt, die über die biologische Grundregulation hinaus ein Grundmuster an Präferenzen beinhaltet. Diese enge Verbindung von ‚Körperlichem‘ und ‚Geistigem‘ gilt nicht nur für die neuronale Entwicklung, sondern – wie gesagt – ebenso für die Arbeitsweise des Gehirns, für das, was wir mit ‚Denken‘ bezeichnen. Seine Theorie der Emotionen entwickelt Damasio in Abgrenzung von der Vor82 83 84 85

Ebd.: S. 157, Herv.i.O. Ebd.: S. 158 Ebd.: S. 158f Vgl. ebd.: 160f. Zur Relevanz stabiler Schaltkreise heißt es dort: „Völlige Modifizierbarkeit hätte zu Individuen geführt, die nicht in der Lage wären, einander zu erkennen, und denen jede Einsicht in die eigene Biographie abginge“ (ebd.). Und zur Relevanz der Modifizierbarkeit: „Die Schaltkreise, die dazu beitragen, daß wir unser Gesicht auch heute noch im Spiegel wiedererkennen, ohne überrascht zu sein, haben sich leicht verändert, um sich dem Strukturwandel anzupassen, den die inzwischen verstrichene Zeit an diesem Gesicht vorgenommen hat“ (ebd.).

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stellung der Möglichkeit einer Rationalität, die ohne Gefühle auskommt. Diese Vorstellung beinhaltet in bezug auf das menschliche Gehirn, daß oben in der Großhirnrinde, dem neueren Teil des Gehirns, die Vernunft wohne, während unten im Subcortex Gefühl und die schwachen, fleischlichen Regungen hausen. Dieser Vorstellung setzt Damasio aufgrund von Forschungsergebnissen zu rationalen Entscheidungsprozessen entgegen, daß die Rationalität aus der konzertierten Aktivität des Neocortex zusammen mit dem älteren Teil des Gehirns erwächst. Die Brücke zwischen den beiden Gehirnstrukturen und ihren Funktionen sei in Gefühlen und Empfindungen zu finden. Sie sind ein wesentlicher Bestandteil der homöostatischen Regulation, ein Teil der Wirkungsweise von Trieben und Instinkten.86 Damasio arbeitet zwar mit etwas anderen Begrifflichkeiten, dennoch ist das von ihm vorgestellte Verständnis sehr nah an dem oben vorgestellten Konzept von Emotionen.

Die Komponente ‚Körper‘ Das ‚Wesen der Gefühle‘ besteht nach Damasios Auffassung in zahlreichen Veränderungen von Körperzuständen. Dabei unterscheidet er primäre Gefühle und sekundäre Gefühle. Primäre Gefühle87 sind präorganisierte Mechanismen, die darin bestehen, daß der Organismus auf bestimmte Reizmerkmale in der Welt oder im Körper auf eine vorgegebene (präorganisierte) Weise reagiert. Wenn bestimmte ‚Schlüsselmerkmale‘ entdeckt und von Teilen der älteren Gehirnstruktur eingeordnet werden, werden dispositionelle Repräsentationen aktiviert, die zur Herstellung eines bestimmten Körperzustandes führen. Die Folge kann ein inneres Handeln im Sinne weiterer kognitiver Verarbeitung und/oder ein äußeres sein (Bewegung). Zu den primären Gefühlen zählt Damasio: Glück, Traurigkeit, Furcht, Wut und Ekel.88 Der Übergang zu sekundären Gefühlen findet über das Empfinden des Gefühls statt. Das Empfinden bedeutet, daß die Beziehung zwischen auslösendem Objekt und gefühlsbedingtem Körperzustand wahrgenommen wird. Das Empfinden ist ein Wissen um diese Beziehung. Während es vor dem Empfinden nur die Möglichkeit einer angeborenen Reaktion gibt, wird mit dem Empfinden die Möglichkeit des Lernens und entsprechender erweiterter Verhaltensstrategien ermöglicht. Die daraus entstandene Flexibilität beruht auf der individuellen Interaktion mit der Umwelt. Insofern stellen nach Damasio die primären Gefühle den Grundapparat dar, ihnen folgen dann im Rahmen der individuellen Entwicklung die sekundären Gefühle, „die auftreten, sobald wir Empfindungen haben und systematische Verknüpfungen zwischen Kategorien von Objekten und Situationen auf der einen Seite und primären Gefühlen auf der anderen 86 Vgl. ebd.: S. 163 u. S. 179f 87 Vgl. zu primären Gefühlen Damasio 1997: S. 183-187 88 Vgl. Damasio 1997: S. 208

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Seite herstellen.“89 Zwecks dieser Erweiterung ist das neuronale Netzwerk auf die neueren Gehirnstrukturen angewiesen. Die sekundären Gefühle stellen also ausdifferenzierte Versionen der primären dar, und werden von erworbenen dispositionellen Repräsentationen – wohlgemerkt von erworbenen Dispositionen, die unter dem Einfluß von angeborenen Dispositionen entstehen – ausgelöst. Zusammenfassend hält Damasio fest, „daß das Gefühl sich zusammensetzt aus einem geistigen Bewertungsprozeß, der einfach oder komplex sein kann, und dispositionellen Reaktionen auf diesen Prozeß, meist gegenüber dem Körper im engeren Sinne, was zu einem emotionalen Körperzustand führt, aber auch gegenüber dem Gehirn selbst […], was weitere geistige Veränderungen bewirkt.“90 Während Damasio also unter einer Gefühlsreaktion das versteht, was ich oben als die somatisch-physiologische und die Verhaltenskomponente einer Emotion benannt habe, stellen Empfindungen für ihn die subjektive Komponente dar, was bei Mead Emotion oder Gefühl heißt. Neurobiologisch gesehen, besteht der Kern einer Empfindung in einem Prozeß der Erfahrung der Gefühlsreaktionen, der sekunden- oder minutenlang dauern kann, in Zusammenhang mit dem, was die Gefühlsreaktion ausgelöst hat. Die gefühlsbedingten Veränderungen, die den gesamten Organismus betreffen können, werden kontinuierlich an das Gehirn übermittelt. Dieser Nachrichtenstrom, der sozusagen die Rücklaufbahn des gesamten Zyklus darstellt, findet auf neuronaler und chemischer Route, also über Nervenendigungen und dem Blutkreislauf statt, wobei die chemischen Signale (wie Hormone, Neurotransmitter und Modulatoren) die Nervensignale (bzw. ‚elektrochemischen Nachrichten‘) modifizieren.91 Diese aktuellen Körperrepräsentationen bilden eine „sich ständig neu konkretisierende ‚Online‘Darstellung dessen, was gerade im Körper geschieht.“92 Besonders interessant in Zusammenhang mit dem bisher Ausgeführten ist das von Damasio beschriebene Verhältnis zwischen dem ‚qualifizierten Element‘ einer Empfindung, also dem Auslöser einer Gefühlsreaktion, und seinem ‚qualifizierenden Element‘, also dem auftretenden Körperzustand. Während man bei Lern- oder Sozialisationsprozessen von ‚Überlagerung‘ der Erfahrung sprechen kann, so ist für die Empfindung zunächst das getrennte Auftreten und die Kombination der beiden Elemente ausschlaggebend. Für dieses Verhältnis gebraucht Damasio den Begriff ‚Juxtaposition‘, um das Nebeneinander der Elemente zum Ausdruck zu bringen: „Diesen Ausdruck halte ich für angebracht, weil sich nach meiner Ansicht das Vorstellungsbild vom Körper im engeren Sinne einstellt, nachdem das Vorstellungsbild von ‚etwas anderem‘ gebildet worden ist und präsent gehalten wird,

89 90 91 92

Ebd.: S. 187 Ebd.: S. 193 Ebd.: S. 128f und ders. 2002: S. 337 Ebd.: S. 200

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und weil die beiden Vorstellungsbilder, neuronal gesehen, getrennt vorliegen […].“93

Diese emotionalen Empfindungen könnte man als einen Ausnahmezustand bezeichnen, da die Gefühle, die sie hervorrufen, Ausdruck eines spezifischen Involviertseins sind. Eine evolutionär ältere Empfindungsart stellen die Hintergrundgefühle dar, welche nicht aus Gefühlszuständen, sondern aus ‚Hintergrundzuständen‘ des Körpers entstehen.94 Diese herrscht vor, wenn das allgemeine Vorstellungsbild vom Körper nicht von Gefühlen, von spezifischen Körperzuständen verdrängt wird. Sie repräsentiert die Erfahrung der Kontinuität. Ihre Relevanz sieht Damasio vor allem im Hinblick auf die Erfahrung der Konstanz der Selbstrepräsentation: „Unsere individuelle Identität wurzelt in dieser Insel von illusorischer, lebendiger Konstanz, vor deren Hintergrund uns der ständige Wechsel unzähliger anderer rund um den Organismus befindlicher Dinge bewußt wird.“95

Hier sind also Wandel und Kontinuität des Selbst aufs engste an körperliche Erfahrungen geknüpft. Es ist nicht das Gehirn allein, das sich mit der Außenwelt auseinandersetzt, sondern es ist ein Organismus, innerhalb dessen die Kommunikation von Gehirn und Körper im engeren Sinne in dieser Auseinandersetzung ausschlaggebend ist. In diesem Sinne spricht Damasio im Zusammenhang mit Empfindungen von der aufmerksamen (emotionale Empfindungen) oder unmerklichen (Hintergrundempfindungen) ‚Vergeistigung des Körpers‘, denn „Empfindungen sind genauso kognitiv wie jedes andere Wahrnehmungsbild und ebenso abhängig von zerebral-kortikaler Verarbeitung wie jede andere Vorstellung.“96 Das Spezifische an Empfindungen ist, daß sie einen sich verändernden Körper betreffen, wobei die Veränderung sowohl von präorganisierten Mechanismen als auch von den unter dem Einfluß dieser Mechanismen entwickelten kognitiven Strukturen bestimmt wird. „Empfindungen bieten uns Einblick in das, was in unserem Fleisch vorgeht, eine Momentaufnahme dieses Fleisches, während es sich in Juxtaposition zu den Vorstellungen von anderen Objekten und Situationen befindet; dabei modifizieren Empfindungen unsere umfassende Vorstellung von diesen anderen Objekten und Situationen. Mittels Juxtaposition statten Körperbilder andere Vorstellungen mit einer Qualität von Gutsein oder Schlechtsein, von Lust oder Unlust aus.“97

93 94 95 96 97

Ebd.: S. 201 Zu den Hintergrundempfindungen vgl. ebd.: S. 207-213 Ebd.: S. 213 Ebd.: S. 218, Herv.i.O. Ebd.: S. 219

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Wie ist aber das Verhältnis von Emotion, Rationalität und Kognition zu fassen? Oder: Wie funktioniert Rationalität? Damasio stellt zwei Möglichkeiten vor. Klammert man die Emotionen aus dem Rationalitätsbegriff aus, erklärt man rationale Entscheidungsfindung mit bezug auf eine ‚höhere Vernunft‘, die mittels der ‚formalen Logik‘ zur angemessensten Auswahl an Lösungen führt. Stellt man jedoch die Komplexität und Fülle der Situationen, in denen im alltäglichen Leben Entscheidungen getroffen werden, die zahlreichen Reaktionsmöglichkeiten, die in Form von Wissen gespeichert sind, in Verbindung mit ihren jeweiligen Konsequenzen, kurz- und langfristigen Folgen, die bedacht und abgewogen werden müssen, in Rechnung, so ergeben sich einige praktische Probleme. Einerseits sind die Fähigkeiten ‚Aufmerksamkeit‘ und ‚Arbeitsgedächtnis‘ des menschlichen Gehirns begrenzt.98 Zweitens müßte man für eine in diesem Sinne rationale Entscheidungsfindung zumindest eine hinlängliche Verwendung von Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik unterstellen, was nicht unbedingt zur alltäglichen Praxis der Menschen gehört. Da das menschliche Gehirn offenbar dennoch zu schnellen und angemessenen Entscheidungen fähig ist, kommt Damasio zu dem Schluß, daß es sich eben nicht an die ‚reine Vernunft‘ hält.99 Wie oben bereits angedeutet, ist der Manipulation von Vorstellungsbildern (dem Denken) die Kennzeichnung dieser durch Körperzustände vorgeschaltet. Die Alternative zur Annahme einer ‚reinen Vernunft‘ ist die Annahme der ‚somatischen Marker‘.

‚Die Hypothese der somatischen Marker‘ Die somatischen Marker ähneln den oben erwähnten Präferenzen, die dem Apparat der primären Gefühle angehören. Sie bilden sich im Laufe der individuellen Entwicklung auf diese aufbauend, indem „bestimmte Klassen von Reizen mit bestimmten Klassen von somatischen Zuständen verknüpft

98 Damit die Vorstellungsbilder manipuliert werden können, müssen diese als solche repräsentiert sein. Die Mechanismen der basalen Aufmerksamkeit und des basalen Gedächtnisses sind die Bedingungen für eine zeitweilige Verfügbarkeit dieses Wissens. Mechanismen der basalen Aufmerksamkeit ermöglichen es, ein Vorstellungsbild im Bewußtsein hervorzuheben und zu halten. „Neuronal gesehen hängt dies wahrscheinlich von der Verstärkung des neuronalen Aktivitätsmusters ab, das eine bestimmte Vorstellung erzeugt, während andere neuronale Aktivitäten in der Umgebung unterdrückt werden“ (ebd.: S. 268). Der Mechanismus des basalen Arbeitsgedächtnisses betrifft die Dauer der Repräsentationen, die bis zu einigen Sekunden lang sein kann. Das heißt, das Gehirn wiederholt die Elemente der Vorstellungsbilder (vgl. ebd.). Doch es ist nicht bloß die Begrenztheit dieser Fähigkeiten, die gegen den hier vorgestellten Rationalitätsbegriff spricht. Genauso wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß der Antrieb dieser Mechanismen auf die erwähnten Grundpräferenzen zurückgeht, die der biologischen Regulation innewohnen (vgl. ebd.: S. 268). 99 Vgl. ebd.: S. 233-237

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[…]“100 werden, beruhen also auf dem Prozeß der sekundären Gefühle und stellen einen Sonderfall der Empfindungen dar. Das Spezifische an ihnen im Vergleich zu anderen Empfindungen ist ihr Einfluß auf Entscheidungsprozesse. In diesem Sinne bezeichnet Damasio sie auch als ‚Tendenzapparat‘.101 „Sie können sich das Ganze als ein automatisches System zur Bewertung von Vorhersagen vorstellen, das die außerordentlich verschiedenen Szenarien Ihrer antizipierten Zukunft beurteilt, ob Sie es wünschen oder nicht. Es handelt sich gewissermaßen um einen Tendenzapparat.“102

Durch Lernen werden Gefühle und Empfindungen mit der Vorhersage von Ergebnissen bestimmter Reaktionen verbunden. Die Hypothese besagt, daß ein negativer somatischer Marker in Juxtaposition zu einem antizipierten Ergebnis als automatisches Warnsignal fungiert, ein positiver somatischer Marker als Startsignal. Durch das Auftreten der negativen Marker wird die Anzahl der Reaktionsmöglichkeiten erheblich reduziert, bevor dann logische Denkprozesse und schließlich die Auswahl stattfindet, was keineswegs bedeutet, daß die letztgenannten Prozesse niedriger zu bewerten sind. Es ist lediglich die Annahme, daß die somatischen Marker die Angemessenheit der Entscheidung erhöhen.103 Jedoch nicht nur die Angemessenheit von Entscheidungen, sondern auch das, was als ‚Langsicht‘ oder ‚Triebverzicht‘ bezeichnet wird, ist nach dieser Hypothese nicht ohne die somatischen Marker zu denken. Sie sind einerseits bedingt durch positive somatische Marker, die die Vorstellung einer angenehmen Zukunft auslösen.104 Andererseits aber ist der Entscheidungsprozeßverlauf ebenfalls, wie bereits angedeutet, abhängig von der Aktivität der Aufmerksamkeit und des Arbeitsgedächtnisses. Hierin besteht eine weitere Funktion der somatischen Marker: Der jeweilige somatische Zustand wirkt „nicht nur als Marker für den Wert dessen, was repräsentiert wird, sondern auch als Verstärker für die fortgesetzte Aktivität des Arbeitsgedächtnisses und der Aufmerksamkeit. Die Aktivierung von Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis kommt nicht durch ein Wunder zustande. Zunächst wird sie durch die Präferenzen motiviert, die dem Organismus innewohnen, und dann durch Präferenzen und Ziele, die auf der Grundlage dieser inhärenten Präferenzen erworben werden.“105 Logische Prozesse, die Manipulation vorhandener Vorstellungsbilder, bedürfen also der ‚Leistungsträger‘ Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis

100 101 102 103 104 105

Ebd.: S. 243 Ebd.: S. 239 Ebd.: S. 239 Ebd.: S. 238 Vgl. ebd.: S. 240 Ebd.: S. 269, Herv.i.O.

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und somatische Marker.106 Die Aneignung, Kategorisierung und Anwendung des zugrundeliegenden Wissens ist einer Ordnung unterworfen, die eine Rangfolge impliziert. Die Kriterien für die Rangfolge liefern die somatischen Marker, die die erworbenen Präferenzen zum Ausdruck bringen.107 Diese Präferenzen entstehen wiederum durch die Wechselwirkung von inneren Präferenzen und äußeren Umständen, zu denen Ereignisse, Objekte und andere Personen gehören. Entscheidend für die jeweils entstehende innere Struktur ist, „was für ein somatischer Zustand und was für eine Empfindung in einem bestimmten Individuum an einem bestimmten Punkt in seiner Geschichte und in einer bestimmten Situation hervorgerufen werden.“108 Das bedeutet, daß bestimmt durch das Beziehungsschicksal eines Menschen private, zufällige Ereignisse nach Maßgabe der persönlichen Relevanz kategorisiert werden und in Form dispositioneller Repräsentationen verfügbar sind. Auf die Kulturabhängigkeit der somatischen Marker werde ich später in Zusammenhang mit ihrer ‚Adaptivität‘ kommen. In den folgenden zwei Abschnitten sollen zunächst zwei Aspekte der Modifikation der Emotionen angesprochen werden, die sich im Laufe der individuellen Entwicklung gesellschaftsspezifisch vollziehen können.

Die Umgehung des Körpers Grundlegend für Damasios Verständnis von Emotionen ist die Vorstellung, daß die somatisch-physiologische Komponente einer Emotion und ihr subjektiver Bewußtseinsgehalt nicht parallel und unabhängig voneinander auftreten, sondern sich gegenseitig bedingen. Das Ganze kann man sich als eine Spirale vorstellen, die innerhalb des ‚Körpers im weiteren Sinne‘ zwischen Gehirn oder ‚Geist‘ und ‚Körper im engeren Sinne‘ verläuft. Was sich verändern kann, sind Art und Grad dieser Bedingtheit. Diese Veränderung ist möglich, weil das Gehirn durch wiederholte Assoziation von bestimmten Reizen mit bestimmten Körperzuständen in der Lage ist, das Bild eines bestimmten Körperzustandes heraufzubeschwören, ohne daß der Körper in engerem Sinne diesen Zustand (vollständig oder teilweise) annehmen muß. Es ist sozusagen ein Erinnerungsbild von einem Körperzustand, das Damasio eine ‚Als-ob‘-Empfindung nennt. „Es gibt […] neuronale Mechanismen, die uns das Empfinden vermitteln, ‚alsob‘ wir einen Gefühlszustand hätten, als ob der Körper aktiviert und modifiziert würde. Derartige Mechanismen ermöglichen uns, den Körper zu umgehen und einen langsamen, energieaufwendigen Prozeß zu vermeiden.“109

106 107 108 109

Vgl. ebd.: S. 270 Vgl. ebd. Ebd.: S. 246 Ebd.: S. 214

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Die Bedingung für einen solchen Umgehungsmechanismus ist jedoch, daß die Schleife einmal über den Körper abgelaufen ist, bevor der Zustand symbolisch verfügbar wird. Danach können sowohl Empfindungen als auch ihre spezielleren Formen, die somatischen Marker, über eine Als-obSchleife entstehen. Obwohl die Kriterien der Zeit- und Energieersparnis sich positiv für Entscheidungsprozesse auswirken können, gibt es zwei Gründe, warum der Wert symbolischer Körperzustände im Vergleich zu ‚echten‘ nicht ganz so eindeutig zu beurteilen ist: „Der Gehirnabschnitt, der das Gefühl induziert, kann den neuronalen Bestandteil der Induktion innerhalb seines Bereichs an eine andere Region seiner selbst übermitteln, aber er wird kaum in der Lage sein, das chemische Signal auf die gleiche Weise weiterzugeben. Außerdem wird das Gehirn wohl nicht vorhersagen können, wie sich all diese Befehle – neuronaler und chemischer Art, aber vor allem letztere – im Körper auswirken werden, weil diese Auswirkungen und die daraus resutierenden Zustände von den lokalen biochemischen Kontexten abhängen und von zahlreichen Variablen im Körper selbst beeinflußt werden, die neuronal nicht vollständig repräsentiert sind.“110

So kann einerseits der von Körperzustandssymbolen hervorgerufene Eindruck nicht der gleiche sein wie bei echten Zuständen. Andererseits besteht, wie oben schon hervorgehoben, der Wert der jeweiligen Körperzustände in ihrer Aktualität, in ihrer Bedingtheit durch die aktuelle Situation. Das Gehirn kann diese Zustände nicht berechnend vorhersagen. Vielmehr ist es so, „daß das Gehirn abwartet, was der Körper über die Ereignisse zu berichten hat.“111 Fest steht jedenfalls, daß sich im Laufe der Entwicklung eine ‚neue Ebene energiesparender Automatisierung‘ bildet, so daß Entscheidungsprozesse zunehmend von Körperzustandssymbolen abhängig werden. Der Grad dieser Abhängigkeit kann erheblich variieren.112 Die Existenz solcher Als-ob-Empfindungen im Verein mit der These, daß sie im Laufe des Zivilisationsprozesses zunehmen, könnte die Tendenz erklären, Emotionen überwiegend mit subjektiven, aber körperlosen Bewußtseinsinhalten zu identifizieren und den Körper tendenziell aus Emotionskonzepten zu verbannen, oder ihn eben als einen ‚Faktor‘ neben anderen zu behandeln. Auch die folgende These spricht für einen solchen Zusammenhang.

Verdeckte somatische Marker Bisher mag der Eindruck entstanden sein, daß die Emotionen lediglich bei bewußten Entscheidungsprozessen eine Rolle spielen, nämlich nur, indem sie in Form von Empfindungen wahrnehmbar werden. Zwar sind ‚Ge110 Ebd.: S. 216f 111 Ebd.: S. 217 112 Vgl. ebd.: S. 252

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fühle‘ im Sinne Meads und ‚Empfindungen‘ im Sinne Damasios an das Bewußtsein geknüpft. Dennoch kann sich die beschriebene Emotionsdynamik samt ihrer verhaltenssteuernden Funktion vollziehen, ohne ins Bewußtsein zu dringen. Es gibt also manifeste somatische Marker und es gibt verdeckte. Bei beiden sind die Elemente, die für den Entscheidungsprozeß notwendig sind, vorhanden: Es findet ein kognitiver Prozeß statt (Bewertung des Reizes), ein entsprechender Körperzustand oder sein Surrogat wird hervorgerufen und der entsprechende dispositionelle Mechanismus wird aktiviert. Der Unterschied ist lediglich, daß bei verdeckten somatischen Markern der ganze Prozeß am Bewußtsein vorbei verläuft. „Ein Körperzustand mit Signalfunktion oder sein Surrogat kann aktiviert, aber unter Umständen nicht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden. Ohne Aufmerksamkeit wird keiner von beiden ins Bewußtsein gelangen, obwohl jeder verdeckt – ohne willkürliche Kontrolle – auf die Mechanismen einwirken kann, die unser Appetenz- (Annäherungs-) und Aversions- (Vermeidungs-) Verhalten der Welt gegenüber steuern.“113

Damasio vertritt jedoch nicht nur die These, daß solche verdeckten Mechanismen möglich sind, er behauptet darüber hinaus, daß die meisten alltäglichen Entscheidungen auf diese Weise – ohne Empfindungen – stattfinden. Interessant an diesem Punkt ist vor allem, daß durch die naturwissenschaftliche Untersuchung der Emotionen die nicht-bewußten Prozesse zunehmend in einen ‚normalen Status‘ gerückt und entmystifiziert werden. Auch wenn das Problem des Bewußtseins und seiner Entstehung noch nicht oder noch lange nicht gelöst ist, kann man schon aus dem bisher Erforschten folgern, daß das ‚Unbewußte‘ zu den alltäglichen Überlebensprozessen zählt. Dies nicht nur, weil unsere Aufmerksamkeit in ihrer Kapazität begrenzt ist. Damasio verweist hier auf die Tatsache, „daß bei Organismen, deren Gehirne nicht zu Bewußtsein und Denken fähig sind, verdeckte Prozesse das Kernstück des Entscheidungsapparates bilden.“114 Und es ist sehr wohl möglich, aus der tierischen Verhaltensforschung etwas über die Menschen zu lernen. Joseph Ledoux, der sich ausführlicher mit dem phylogenetischen Aspekt der Emotionen beschäftigt, vertritt ebenfalls diesen Standpunkt. Aufgrund seiner Forschungsergebnisse im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen menschlicher und tierischer Verhaltenssteuerung schlägt er etwas überpointiert eine 113 Ebd.: S. 253. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, daß der Antrieb des Mechanismus ‚Aufmerksamkeit‘ durch die somatischen Marker selbst gesteuert wird, es insofern von den angeborenen und erworbenen Präferenzen abhängt, unter welchen Umständen Aufmerksamkeit erzeugt wird. Auf den Aspekt der ‚Bewußtheit‘ werde ich im nächsten Abschnitt eingehen. 114 Ebd.: S. 253. Als Beispiel führt er die Bewältigung komplizierter Aufgaben durch Arbeitsbienen an.

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Brücke zwischen seiner Neurobiologie der Emotionen und Freuds ‚Unbewußtem‘: „Wenn wir nicht auf bewußte Empfindungen angewiesen sind, um das, was man emotionales Verhalten nennen kann, bei Tieren zu erklären, dann sind wir auch nicht auf sie angewiesen, um dieses Verhalten beim Menschen zu erklären. Emotionale Reaktionen werden überwiegend unbewußt erzeugt. Freud hat, als er das Bewußtsein als die Spitze des Seelen-Eisbergs bezeichnete, genau ins Schwarze getroffen.“115

Überpointiert ist die Aussage, weil sie natürlich nur für einen Teil menschlichen emotionalen Verhaltens gilt, wenn auch für einen großen Teil. Aber wichtiger ist, daß damit nicht etwa menschliche Verhaltenssteuerung auf den biologischen Aspekt reduziert wird, das menschliche Unbewußte als etwas Tierisches begriffen wird oder die Individualität und Subjektivität der Gefühle abgestritten werden. Vielmehr wird aus dieser Perspektive klar, daß man ohne ein Verständnis der Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier das spezifisch Menschliche nicht fassen kann. Die evolutionäre Sicht ermöglicht es, die Emotionen in ihrer Gewordenheit zu verstehen, wodurch erst der gesellschaftsspezifische Wandel ihrer Funktion und Dynamik nachvollziehbar wird. Es geht folglich nicht um die Suche nach dem Tierischen im Menschen – unstrittig ist ja, daß sich ein Wandel vollzogen hat –, sondern um die Frage nach einer eventuellen Kontinuität des evolutionären Prozesses bezüglich der Hirnorganisation über die Artgrenzen hinweg. Ungeachtet des Wandels stellt LeDoux fest, „ist die Hirnevolution jedoch im wesentlichen konservativ, und bestimmte Systeme, besonders jene, die dem Überleben insgesamt dienlich waren und seit langem bestehen, haben sich in ihrer grundlegenden Struktur erhalten.“116 Und wie bereits ausgeführt, sind sie weiterhin an der menschlichen Verhaltenssteuerung grundlegend beteiligt, nicht nur in Form bewußter Empfindungen, sondern auch in Zusammenhang mit verdeckten Mechanismen, die dem Phänomen ‚Intuition‘ sehr nahe stehen. Damasio hebt die Rolle und Bedeutung der Intuition nicht nur im persönlichen und sozialen Bereich, sondern auch für wissenschaftliche und kreative Prozesse besonders hervor.117 Auch dieser Zusammenhang sei der ‚Sparsamkeit der Evolution‘ geschuldet, die natürliche Selektion „behält etwas bei, was sich bewährt hat, und sie selektioniert Apparate, die größere Komplexität bewältigen 115 LeDoux 2001: S. 20. Unter emotionalem Verhalten versteht LeDoux ebenfalls ein Reaktionsmuster mit den drei genannten Komponenten (vgl. ebd.). Eine Vertiefung der Relevanz unbewußter Prozesse findet in Kapitel VI statt. Überblicksartig zur Relevanz unbewußter Prozesse und ihrer differenzierten Sichtweise unter Berücksichtigung neuerer Ergebnisse aus Neurobiologie, Kognitionswissenschaften, Sozialpsychologie und Emotionsforschung s. Schüßler 2002. 116 LeDoux 2001: S. 134 117 Vgl. Damasio 1997: S. 256-260

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können, statt vollkommen neue zu entwickeln.“118 Dabei hat sich folgende Abfolge ergeben: „Evolutionär gesehen, ist der älteste Entscheidungsapparat für die fundamentale biologische Regulation zuständig, dann kommt der Apparat für den persönlichen und sozialen Bereich, und die jüngste Errungenschaft sorgt für eine Reihe abstrakt-symbolischer Operationen, zu denen das künstlerische und wissenschaftliche Denken, das utilitaristisch-technische Denken und die Entwicklung von Sprache und Mathematik gehören. Doch obwohl lange Zeiträume der Evolution und spezifische neurale Systeme jedem dieser Denk- und Entscheidungs-‚Module‘ eine gewisse Unabhängigkeit verliehen haben mögen, vermute ich doch, daß sie alle in Wechselbeziehung stehen.“119

Der Primat des Körpers Das fundamentale Bezugssystem dessen, was wir Denken, Geist und Bewußtsein nennen, ist der Körper im engeren Sinne. Das Gehirn, dem wir diese Funktionen herkömmlicherweise zuschreiben, ist das ‚aufmerksame Publikum dieses Körpers‘.120 Der Körper liefert nicht nur die Strukturen, die den ‚Geist‘ bedingen, er liefert auch einen Inhalt für diesen ‚Geist‘. Wie ist das gemeint? Die enge Angewiesenheit des Geistes auf den Körper – und damit auch die Relevanz der Emotionen für jeglichen Begriff von Rationalität – begründet Damasio mit der Tatsache, daß das Gehirn die Außenwelt durch den Körper erfaßt. Man liegt zwar richtig mit der Annahme, daß geistige Prozesse sich aus der Aktivität von Gehirnneuronen ergeben. Aber was diese berichten, ist zu Anfang die ‚unentbehrliche Geschichte des Körperschemas und der Körperaktivität‘.121 Da das Gehirn zunächst einmal mit dem Wohl des Organismus befaßt ist, ist es auch zunächst angewiesen auf grundlegende und aktuelle Informationen über Anatomie und Physiologie des agierenden Körpers, die im Gehirn in Form von Repräsentationen durch die Gehirnneuronen erzeugt werden. Dieser ‚Primat des Körpers‘, den Damasio ursprünglich in der Phylogenese begründet, gilt weiterhin und in geringerem Maße für die Ontogenese und „in noch geringerem, wenn auch nicht zu vernachlässigendem Maße gilt er für das Jetzt, für den Geist des Augenblicks und seine Erschaffung.“122 Der Primat des Körpers besagt, daß der Geist Funktion der Gehirn-KörperInteraktionen ist, eines Körpers, der die Außenwelt spürt. Insofern durch diese Interaktion Repräsentationen entwickelt werden können, die im Genom nicht verankert sind, sprechen wir von Geist. ‚Lernprozesse‘ funktionieren also folgendermaßen: 118 119 120 121 122

Ebd.: S. 259 Ebd.: S. 260 Vgl. ebd.: S. 219 Vgl. ebd.: S. 304f Ebd.: S. 305

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„[…] in dem Bemühen, das Überleben des Körpers so gründlich wie möglich zu sichern, ist die Natur, so vermute ich, auf eine höchst wirksame Lösung gestoßen: die Außenwelt durch die Veränderungen zu repräsentieren, die sie im Körper hervorruft, das heißt, die Umwelt dadurch zu repräsentieren, daß sie immer, wenn eine Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt stattfindet, die ursprünglichen Repräsentationen des Körpers modifiziert.“123

Das Verhältnis zwischen grundlegenden und aktuellen Körperzustandsrepräsentationen – die Bedingungen für Kontinuität und Wandel des Selbst – ist Thema des nächsten Abschnitts. Damasios Ausführungen zum ‚Selbst‘ und dessen Wandel lesen sich wie die neurobiologische Antwort auf Meads Theorie der Identität und des Geistes.

Das neuronale Selbst Im Zusammenhang mit der Relevanz von Hintergrundempfindungen war oben schon von der ‚illusorischen Konstanz‘ die Rede, in der unsere individuelle Identität wurzelt. Illusorisch ist diese Konstanz, weil es sich dabei – wie bei all unseren Bildern von uns, von anderen Menschen und Dingen – um Konstruktionen handelt, die neuronal erzeugt werden. Die Illusion der Konstanz kommt durch eine gewisse Beständigkeit dieser Wirklichkeitskonstruktionen zustande. Entsprechend definiert Damasio das ‚Selbst‘ als eine ‚sehr reale geistige Konstruktion‘, die auf Aktivitäten des gesamten Organismus, also des Körpers im engeren Sinne und des Gehirns beruht. Es ist ein immer wieder auf neuronaler Ebene rekonstruierter biologischer Zustand.124 Die neuronalen Repräsentationen, die dem Selbst zugrunde liegen, lassen sich in zwei Kategorien einteilen: die Repräsentationen autobiographischer Daten und die ‚Urrepräsentationen‘ des Körpers. Bei den autobiographischen Daten handelt es sich um kategorisierte Fakten, Schlüsselereignisse, rezente Ereignisse, Pläne und imaginäre Ereignisse, aus denen sich immer wieder ein Identitätsbegriff rekonstruieren läßt.125 Mit dem Begriff Urrepräsentation bezieht sich Damasio auf eine Repräsentation „nicht nur des Körpers, wie er im allgemeinen war, sondern des Zustands, in dem sich der Körper gerade befunden hat, kurz vor dem Prozeß, der zur Wahrnehmung von Objekt X geführt hat […]“.126 Diese Repräsentationen schließen sowohl Hintergrundzustände als auch Gefühlszustände des Körpers ein. „Frühe Körpersignale – in der Evolution wie der individuellen Entwicklung – trugen zu einem ‚Grundbegriff‘ des Selbst bei. Dieser Grundbegriff lieferte das fundamentale Bezugssystem für alles, was dem Organismus zustieß, einschließ123 124 125 126

Ebd.: S. 306, Herv.i.O. Ebd.: S. 302 Vgl. ebd.: 317 Ebd.: S. 318

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lich der aktuellen Körperzustände, die fortlaufend in den Selbst-Begriff eingegliedert wurden und daraufhin sogleich zu vergangenen Zuständen wurden. […] Was uns jetzt zustößt, stößt tatsächlich einem Selbstbegriff zu, der auf der Vergangenheit beruht, auch jener Vergangenheit, die noch einen Augenblick zuvor Aktualität war.“127

Die ‚Modifizierung der Urrepräsentationen‘ oder des ursprünglichen Selbst ist eine schwierige Angelegenheit, vor allem, was den Vorgang selbst angeht. Sie hängt mit dem Problem des Bewußtseins zusammen und für Damasio vor allem mit dem entscheidenden Merkmal des Bewußtseins, dem Prozeß der Subjektivität. Im Zusammenhang mit den sekundären Gefühlen, durch die neue Erfahrung entsteht, wurde deutlich, daß für Damasio das Bewußtsein u.a. das Wissen um die Beziehung zwischen Reizobjekt und Körperzustand bedeutet, das er dann als Empfindung bezeichnet. Diesem Problem sind wir schon oben im Zusammenhang mit Meads Konzept begegnet, der das Entstehen subjektiver Bewußtseinsinhalte mit der Hemmung präreflexiver Antriebe erklärt. Bei Mead war es also das Handlungsproblem, eine Desorganisation des präreflexiven Objekts, einfacher: ein Nicht-Wiedererkennen, wodurch das Individuum auf seine Subjektivität zurückgeworfen, sich selbst erfährt. Damasio hat eine ähnliche Hypothese entwickelt, wobei der Ausgangspunkt seiner Überlegungen natürlich der agierende Körper ist: „Zwar gibt es eine äußere Wirklichkeit, doch das, was wir von ihr wissen, erfahren wir, wie ich meine, durch den Körper in Bewegung, durch Repräsentationen seiner Störungen.“128

Eine ‚Störung‘ und ihre ‚Beschreibung‘ stellen also die Bedingung von Wissen bzw. Bewußtsein dar. Ich möchte hier den Vorgang kurz zusammenfassen. Was wir zunächst haben, sind die Elemente Reizobjekt und Selbstzustand. Der Prozeß der Subjektivität betrifft die Veränderungen, die während und nach der Verarbeitung des Objekts im Selbstzustand stattfinden. Während der Selbstzustand zunächst auf der sogenannten ‚Urrepräsentation des Körpers‘ beruht, kommt es durch die Verarbeitung des Objekts durch das Gehirn zu einer vorübergehenden Modifikation des Körperbildes, was diese ‚aktuelle Realisierung des Selbstbegriffs‘ stört. Die Störung bedeutet eine Wahrnehmung von Nicht-Übereinstimmung. Die Beschreibung betrifft „die Störung im Zustand des Organismus infolge der Reaktion des Gehirns auf die Vorstellung von Objekt X.“129 Und „die Vorstellung des gestörten Selbst wird zusammen mit der für die Störung verantwortlichen Vorstellung oder in rascher Interpolation mit ihr dargebo-

127 Ebd.: S. 318, Herv.i.O. 128 Ebd.: S. 312 129 Ebd.: S. 320, Herv.i.O.

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ten“.130 Der Begriff Interpolation geht über den Begriff der ‚Juxtaposition‘ hinaus. Für sie – so die Annahme – ist eine dritte Gruppe von neuralen Strukturen verantwortlich, die mit den beiden anderen, jenen, die die Repräsentation des Objekts tragen und jenen, die die Repräsentationen des Selbst tragen, vernetzt ist. Diese neuralen Strukturen, die Damasio ‚Konvergenzzonen‘ nennt, empfangen Signale von den beiden anderen, „während der Organismus von der Repräsentation des Objekts gestört wird.“131 Sie erzeugen dispositionelle Repräsentationen eines sich verändernden Selbst. Wenn diese drei Elemente gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis gehalten und mit Aufmerksamkeit bedacht werden, entsteht Subjektivität.132 Die Illusion einer ‚zentralen Erkenntnis- und Besitzinstanz‘ in uns mag durch den Prozeß der ‚wortlosen Erkenntnis‘ in seinem spezifischen Verlauf begründet sein. „Allerdings meine ich, daß die meisten unserer Erfahrungen eine gleichbleibende Perspektive haben, als gäbe es tatsächlich eine einzige Besitz- und Erkenntnisinstanz für die meisten, wenn auch nicht alle, Inhalte. Ich stelle mir vor, daß diese Perspektive in einem relativ stabilen, endlos wiederholten Zustand verwurzelt ist. Der Ursprung dieser Stabilität ist die überwiegend invariante Struktur und Arbeitsweise des Organismus und die allmähliche Entwicklung autobiographischer Daten.“133

Die verdinglichenden Begriffe, die wir oft in der wissenschaftlichen Sprache gebrauchen – die Rede von Instanzen wie Ich, Über-Ich und Es – erweisen sich als ebenso revisionsbedürftig wie die Annahme statischer Emotionen oder einer gefühlsfreien Rationalität. Das Denken der Menschen über sich, über ihre Kontrollinstanzen und Emotionen, ist ebenso ein Gewordenes wie die Emotionen und Kontrollinstanzen selbst. Thema dieser Arbeit ist beides: Der Wandel der Menschen und ihrer Beziehungen und ihres Denkens darüber. Bevor ich abschließend die Ergebnisse dieses Kapitel resümiere, möchte ich noch auf die Rolle der sogenannten ‚Kultur‘ aus neurobiologischer Sicht eingehen.

Zur Adaptivität somatischer Marker Das Anliegen von Damasios Buch „Descartes’ Irrtum“ ist es, anhand der Funktionsweise des menschlichen Gehirns aufzuzeigen, daß und wie ein 130 Ebd.: S. 320 131 Ebd.: S. 321, Herv.i.O. Im übrigen sind die Konvergenzzonen, die Damasio auch als ‚vermittelnde dritte Kraft‘ bezeichnet, verantwortlich für die Schaffung und Erhaltung der Ordnung in unserem Gehirn. Die Kausalität zwischen Reiz und Objekt, ihre Entstehung und Wiederabrufbarkeit ist diesen ‚vermittelnden Strukturen‘ zu verdanken. Zu den Konvergenzzonen vgl. ebd.: S. 147 u. S. 222f 132 Ebd.: S. 322 133 Ebd.: S. 317

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‚Mangel an Gefühlen‘ zu ‚irrationalem Verhalten‘ führen kann. Weder Prozesse der Entscheidungsfindung im persönlichen und sozialen Bereich noch abstraktes Denken und Theoretisieren kommen ohne eine angemessene Theorie des eigenen Geistes und des Geistes anderer aus, wenn die Entscheidung einigermaßen ‚rational‘ sein soll. Diese Theorie liefert der Körper in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen und Objekten. Ausgehend von angeborenen Präferenzen in Interdependenz mit den äußeren Umständen erweitert sich das Repertoire der Reize, die automatisch markiert werden. Es findet also eine gesellschaftsspezifische Markierung statt, die man wohl ‚Kultur‘ nennt. Damit ist schon deutlich, daß eine neurobiologische Sicht der Emotionen nicht unbedingt eine reduktionistische sein muß. Ihre Einbeziehung wird lediglich der Tatsache gerecht, daß die verschiedenen Dimensionen menschlichen Seins, soziale, psychologische und biologische, nicht getrennt voneinander existieren. In seiner Hypothese der somatischen Marker spricht Damasio zwei Modifikationsmöglichkeiten der Emotionen – im Verhältnis ihrer verschiedenen Komponenten zueinander – an, die individuums-, situations- und gesellschaftsspezifisch variieren können. Die erste betrifft die Möglichkeit der Umgehung des Körpers, die sogenannten ‚Als-ob‘-Schleifen. Im Laufe der individuellen Entwicklung bildet sich durch wiederholtes Kategorisieren eine ‚Ebene energiesparender Automatisierung‘, d.h. ein Teil der Entscheidungen wird dabei durch ‚Erinnern‘ statt durch ‚Spüren‘ somatischer Zustände bestimmt. Das erklärt, warum man keine vorherrschenden Körpererfahrungen haben muß, wenn man denkt. Nach Damasio wird „das heutige Geschehen zweifellos von nichtkörperlichen Vorstellungen beherrscht“,134 sein Fundament besteht jedoch nach wie vor aus Vorstellungen des Körperzustands. Es wird an dieser Textstelle nicht klar, ob das ‚Heute‘ sich auf die evolutionäre oder soziale Zeit bezieht. Ich gehe davon aus, daß das Ausmaß dieser Automatisierung von Komplexität und Tempo der gegebenen Gesellschaft ebenso abhängt, wie von der vorherrschenden Art der Beziehungen und ihrer Ausgestaltung. Das Gleiche gilt für die zweite Modifikationsmöglichkeit, den Wandel im Verhältnis von verdeckten und manifesten Markern, die zwei Routen der somatischen Marker: über das Bewußtsein und an diesem vorbei. Es ist aber auch beides gleichzeitig möglich: Eine Umgehung des Körpers am Bewußtsein vorbei. Ein anderes Problem ist die Frage nach der Angemessenheit der Emotionen als entscheidungssteuernde Prozesse sowohl allgemein als auch im Hinblick auf ihre jeweilige Modifiziertheit. Diese Frage ist nicht ohne weiteres eindeutig zu beantworten. „Symbolische Verarbeitung kann je nach Situation und Umständen vorteilhaft oder schädlich sein.“135 Allerdings ist – wie gesagt – ihr Wert, was die Aktualität der Information angeht ebenso eingeschränkt wie ihr Wert in bezug auf die leibliche Qualität des erzeugten 134 Ebd.: S. 311 135 Ebd.: S. 252

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Eindrucks. Weiter ist hier hervorzuheben, daß das Aktivwerden somatischer Marker nicht immer automatisch zu ‚rationalem‘ Verhalten führt. Einerseits kann man sagen, daß unsere Denkstrategien und logischen Fähigkeiten angesichts der Ungewißheit und Komplexität persönlicher und sozialer Gegebenheiten schlicht unzulänglich und somit auf spezielle Hilfe angewiesen sind. Andererseits aber sind Schwächen der Rationalität nicht immer auf einen Mangel an Gefühlen oder logische Schwäche zurückzuführen, sie können vielmehr gerade durch biologische Impulse und ihre Auswirkungen bedingt sein.136 Die These ist lediglich, daß die somatischphysiologische Komponente den Entscheidungsprozeß beeinflussen kann und es auch tut. Sie kann in einigen Fällen zu Irrationalität führen, unter bestimmten Umständen wiederum ist sie unentbehrlich.137 Und schließlich ist die Frage nach der Angemessenheit der Emotionen und ihrer jeweiligen Ausgestaltung auch deswegen nicht ohne weiteres zu beantworten, weil die automatischen somatischen Marker in Interdependenz mit den ‚Rationalitätsmaßstäben einer Kultur‘138 wachsen. Was in der einen Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit rational ist, kann in einer anderen völlig irrational sein. Die Frage der Angemessenheit hängt also davon ab, wann und wie körperliche Zustände markiert werden, und davon, wie und in welchem Ausmaß die somatischen Marker in einer gegebenen Situation Anwendung finden. Empirisch ist diese Frage schwer zu beantworten. Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias bietet einige Ansatzpunkte zum Verständnis eines möglichen Wandels der Funktion, Dynamik und Ausgestaltung der somatischen Marker und der Rationalität.

e) Resümee und Ausblick Emotionen haben als angeborene oder erworbene Reaktionsmuster eine Funktion für die Menschen in ihrer Beziehung zu anderen Existenzen und sind gleichzeitig eine Funktion dieser Beziehungen. Sie dienen der zwischenmenschlichen Kommunikation, Orientierung und Steuerung, sind in diesem Sinne als die ‚frühen Symbole‘ anzusehen. Es sind phylogenetische, gruppenspezifische und individuelle Erfahrungen, die in Emotionen zur Geltung kommen, die Psycho- und Beziehungsdynamik mitbestimmen und von diesen bestimmt werden. Affekte sind Emotionen mit unmittelbarem Charakter, sie spiegeln die aktuelle Situation wieder, sind eng an das Hier und Jetzt gebunden, die Verhaltenskomponente der Affekte ist bestimmt durch die ‚innere‘ und ‚äußere‘ Situation. Gefühle bezeichnen die subjektive Komponente der Emotionen, die im Bewußtsein aufgetretenen 136 Vgl. ebd.: S. 261 137 Vgl. ebd.: S. 262. Dort finden sich zwei anschauliche Beispiele dafür, wie vorteilhaft und wie nachteilig sich somatische Marker auswirken können. 138 Vgl. ebd.: S. 272

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Antriebe in Verbindung mit den Haltungen Anderer diesen gegenüber, gleichzeitig bedingt durch diese Haltungen. Was die Emotionalität eines Reaktionsmusters letztendlich ausmacht, ist die Relevanz dessen, was geschieht.139 Zu diesen Begriffsdefinitionen sind zwei einschränkende Anmerkungen notwendig. Erstens ist die mit ihnen unterstellte Auffassung von Bewußtsein und Erleben zu absolut, um der Komplexität dieser Prozesse gerecht zu werden. Im sechsten Kapitel wird es darum gehen, Erleben und Bewußtsein in unterschiedlichen Erscheinungsformen zu fassen und als solche auch in qualitativer Hinsicht zu präzisieren. Natürlich haben auch unmittelbare Reaktionsmuster eine Erlebenskomponente. Die Unterscheidung von Gefühl und Affekt ist also eher als tendenzielle zu verstehen. Zweitens ist die hier vorgeschlagene Definition keine allgemeingültige. Wie schon gesagt, werden die Begriffe meistens beliebig gebraucht. Einige Autoren, die sich genauer mit Emotionen auseinandersetzen, unterscheiden die verschiedenen Erscheinungsformen, benennen das Definierte aber anders. Der Begriff Affektivität, wie ich ihn in dieser Arbeit verwenden möchte, schließt alle in diesem Kapitel angesprochenen Aspekte menschlicher Emotionen und ihrer Modifizierungsmöglichkeiten ein, geht jedoch in gewisser Hinsicht über sie hinaus. Denn was in den bisher vorgestellten Ansätzen zu kurz gekommen ist, ist die Konzeptualisierung selbstreflexiver Affekte und des Beziehungsaspekts. Ansätze zu einer solchen Ergänzung finden sich sowohl bei Mead als auch bei Damasio. Bei Mead ist es die Fähigkeit zur Selbstaffektion, die im Verein mit einem ‚reagierenden Anderen‘ Identität und Wandel möglich macht. Bei Damasio sind es die in Juxtaposition auftretenden Repräsentationen, die durch dispositionelle Repräsentationen vernetzt Identität und Wandel ermöglichen. Einen ausgezeichneten Begriff für diesen Wandel hat aus meiner Sicht die Alteritätstheorie Seidlers mit dem Begriff ‚Alterierung‘ geliefert. Eine Theorie der Affektivität bedarf der Komponenten ‚Selbst‘, ‚Körper‘ und ‚Anderer‘. Die Komponenten ‚Körper‘ und ‚Selbst‘ wurden in diesem Kapitel ansatzweise ausgeführt. Aus alteritätstheoretischer Sicht werden ‚Schamaffekt‘ und ‚Anderer‘ als ‚Identitätsstiftende‘ und ihre Relevanz für die ‚Ausgestaltung der Affektivität‘ in einem späteren Kapitel Thema sein. Im folgenden Kapitel geht es zunächst um das Modell gesellschaftsspezifischen Wandels der Emotionen aus zivilisationstheoretischer Perspektive

139 „Wenn uns eine Emotion packt, dann deshalb, weil etwas Wichtiges, vielleicht etwas Bedrohliches mit uns geschieht, und auf dieses Problem wird ein Großteil der Ressourcen des Gehirns angesetzt. Emotionen lösen eine Fülle von Aktivitäten aus, die alle nur einem Ziel dienen. Das ist bei Gedanken nicht der Fall, es sei denn, sie würden emotionale Systeme anstoßen“ (LeDoux: S. 322).

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und gleichzeitig um die Explizierung und Problematisierung des von Elias in der Zivilisationstheorie zugrunde gelegten Affektbegriffs.140

140 Das in diesem Kapitel ansatzweise entwickelte Emotionskonzept geht in weiten Teilen mit Agnes Hellers (1985) allgemeiner Theorie der Gefühle konform, soweit sie nämlich das Fühlen als In-etwas-involviertsein und das Involviertsein wie folgt definiert: „Das Involviertsein ist nichts anderes als die regulierende Funktion des sozialen Organismus (des Subjektes, des Ichs) in seiner Beziehung zur Welt. Es bedeutet Führung bei der Aufbewahrung der Kohärenz und Kontinuität der subjektiven Welt, bei der Erweiterung des sozialen Organismus“ (ebd.: S. 38). Und: „Mit dem Involviertsein bewertet das Subjekt die eigentliche Gattungsmäßigkeit für sich selbst“ (ebd.: S. 39, Herv.i.O.). In diesem Rahmen ist beispielsweise Damasios Theorie der somatischen Marker in ihrem Konzept der Orientierungsgefühle bereits angelegt (vgl. ebd.: S. 114ff). Ich habe eine weiterreichendere Bezugnahme auf ihre Theorie der Gefühle hier vermieden, da dafür eine Explizierung der Differenzen bezüglich ihrer Kategorisierung der Gefühle und evtl. eine Auseinandersetzung mit den theoretischen Vorläufern notwendig gewesen wäre. Eine Verwandtschaft zu Hellers Gefühlskonzept besteht zwar, aber obwohl Heller die subjektive Perspektive heranzieht, um Gefühle zu erklären, fehlt die Explizierung eines Selbstkonzepts, woraus u.a. folgt, daß eine Klärung des Verhältnisses von physischen und psychischen Prozessen nur vage erfolgt. Dies kommt etwa dann zum Ausdruck, wenn sie von der ‚Kanalisierung und Sublimierung der Affekte‘ (ebd.: S. 104) spricht, ohne die Begrifflichkeiten zu klären und sie zu ihrem allgemeinen Gefühlskonzept in Beziehung zu setzen.

Kapitel II: Beitrag der Zivilisationstheorie zum Verständnis von Funktion, Dynamik und Wandel der Affektivität im Gesellschaftsprozeß

„Es gibt wenig Berechtigung dafür, die biologische Konstitution des Menschen als etwas zu betrachten, das sich nur auf das ‚Individuum‘, aber nicht auf die ‚Gesellschaft‘ bezieht und das dementsprechend beim Studium der Soziologie keine Beachtung zu finden braucht.“1

Die Natur des Menschen ist nicht tierisch. Sie weist fundamentale Unterschiede zur subhumanen Ebene auf. Für die ganze Debatte um ‚Zivilisation‘ – ob nun seitens der Zivilisationsbefürworter oder der -kritiker – ist das ein ausschlaggebender Punkt. Der Prozeß der Zivilisation ist keine Domestizierung einer ‚tierischen‘ Natur des Menschen.2 Und genauso wenig ist er der Erzeugungsprozeß eines mystischen Unbewußten oder einer erhabenen Rationalität, die losgelöst von der menschlichen Natur existieren. Wenn man so will, kann man es auch folgendermaßen formulieren: Aus evolutionärer Sicht ist der Mensch ein besonderes Tier. Die Ausgerichtetheit auf andere Existenzen der eigenen Spezies an sich ist nichts Humanspezifisches. Was den Menschen von der subhumanen Ebene un1 2

Elias 1986b: S. 149 Ähnlich z.B. eine Formulierung Duerrs zu seinem Verständnis des (Mythos des) Zivilisationsprozesses (vgl. Schröter 1990: S. 48). Auch Elias selbst spricht des öfteren von den ‚mehr animalischen Seiten des Menschen‘ (vgl. Elias 1988: S. 174) oder dem ‚ununterdrückbar Tierischen‘ (vgl. Elias 1989b: S. 222) im Dasein der Menschen. Das, was jedoch als animalisch erlebt wird, hängt wiederum vom jeweiligen Zivilisationsstandard ab. Entsprechend kann man den Prozeß der Zivilisation genauso gut als eine ‚Animalisierung‘ menschlicher Funktionen verstehen.

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terscheidet, ist, daß der biologische Automatismus der Verhaltensweisen zum großen Teil verschwunden ist. Damit einhergehend ist es u.a. das Ausmaß an neuronaler Plastizität, Art und Grad der Möglichkeit und Notwendigkeit der Modifizierung der Verhaltensweisen durch Interaktion, die den Menschen kennzeichnet. Der Begriff ‚zweite Natur‘ mag geeignet sein, um den unentrinnbaren Charakter ‚erlernter Impulse‘ und des sozialen Habitus zu veranschaulichen, er ist aber irreführend, wenn es um die Beschaffenheit des Menschen geht. Es gibt nur eine Natur des Menschen und diese Natur existiert nicht ohne das Soziale. Wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, ist die heutige Natur des Menschen bereits Ergebnis eines genetisch-kulturellen Prozesses. Was sich im Laufe sozialer Prozesse wandelt, ist Art und Grad der Ausgerichtetheit auf Andere. Die Ausgerichtetheit selbst, ‚das tiefliegende emotionale Bedürfnis eines Menschen nach der Gesellschaft von anderen Angehörigen seiner Gattung‘, gehört zu den biologisch vorgegebenen Antrieben, die fortbestehen.3 Ein Ansatz zur Konzeptualisierung dieser fundamentalen Ausgerichtetheit findet sich bei Elias im Begriff der ‚Valenzfiguration‘, welcher das sich wandelnde Muster der affektiven Bezogenheiten auf Andere meint. Der Mensch ist „gewissermaßen ein Vektor, der beständig vorübergehend gesättigte und ungesättigte Valenzen verschiedenster Art auf andere Menschen und Dinge hin richtet.“4 Im Anschluß an das vorangehende Kapitel könnte man sagen, der Begriff der Valenzfiguration bezieht sich auf die Beziehungsstruktur und -dynamik, die aus den sich wandelnden somatischen Markern erwächst, oder allgemeiner, sie bezieht sich auf den Beziehungsaspekt menschlicher Affektivität. Den Begriff Valenzfiguration setzt Elias dem individualistischen Menschenbild der Psychoanalyse entgegen und betont damit den ‚unaufhebbaren Zusammenhang von Subjekt und Objekt‘.5 Es sei, so Elias, zwar eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem Ausdruck ‚affektive Valenzen‘ und dem Libidobegriff Freuds vorhanden, jedoch sei Freud „in seinen theoretischen Untersuchungen nicht sehr an der Tatsache interessiert, daß sich die Libido, so wie er sie beschrieben hat, in vielen ihrer Aspekte von einem Menschen auf einen anderen richtet.“6 Die Folge war die Konstruktion eines ‚Innen‘, innerhalb dessen sich die Folgen des Libido-Schicksals betrachten lassen und womit sich die Psychoanalyse beschäftigt, und eines ‚Außen‘, das sozusagen unter dem Stichwort ‚Realität‘ abgetan wird und die Beziehungsgeflechte der Individuen meint, die die Psychoanalyse nicht untersucht. Entsprechend abgewandelt läßt sich im übrigen der Begriff ‚Trieb‘ bei Elias vorfinden:

3 4 5 6

Vgl. Elias 1986b: S. 149 Elias 1988: S. 58 Vgl. Elias 1972: S. 24 Elias 1972: S. 31

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„Gewiß ist das, was sich in dem Neugeborenen langsam an Triebfiguren heranbildet, niemals einfach eine Abbildung dessen, was andere in Beziehung zu ihm tun und lassen. Es ist ganz sein eigen. Es ist seine Antwort auf die Art, in der seine Triebe und Emotionen, die von Natur auf andere Menschen ausgerichtet sind, durch diese anderen Antwort und Befriedigung finden. Erst aufgrund dieses kontinuierlichen Triebgesprächs mit anderen Menschen erhalten die elementaren, die unbehauenen Impulse des kleinen Kindes eine fester umgrenzte Ausrichtung, eine schärfer umrissene Struktur; allein aufgrund eines solchen Triebgesprächs bildet sich in dem Kind jene differenzierte psychische Selbststeuerung heraus, durch die sich die Menschen von allen übrigen Lebewesen unterscheiden: ein mehr oder weniger individueller Charakter.“7

Die ‚unbehauenen Impulse‘ stellen die angeborenen Triebe und Affekte dar, die innerhalb der ‚Trieb- und Affektinterdependenzen‘,8 in die der Einzelne lebenslang verstrickt ist, einem ständigen Wandel unterliegen. Elias’ Kritik richtet sich in diesem Zusammenhang allerdings nicht allein gegen die Psychoanalyse, sondern auch gegen eine Soziologie, die die affektiven Valenzen als einen Aspekt zwischenmenschlicher Bindungen vernachlässigt.9 Der soziale Charakter der Trieb- und Affektinterdependenzen wird in der soziologischen Perspektive nicht genügend gewürdigt. So wird das, was eine Brücke zwischen Soziologie und Psychoanalyse sein könnte, zu einem Niemandsland: die Gefühlsbindungen der Menschen aneinander, Art und Grad der Bereitschaft zu solcher Bindung, die Natur der Valenzfigurationen, ihre gesellschaftsspezifische Ausprägung, ihre Ausprägung im Verhältnis zu den jeweiligen Figurationen, die die Menschen miteinander bilden, also im Verhältnis zu den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Befriedigung, kurz: die Frage nach dem Wandel der Valenzfiguration als Funktion jeweiliger Beziehungs- und Psychodynamik. Dieses vernachlässigte Gebiet der Menschenwissenschaften ist in dieser Arbeit mit der ‚Ausgestaltung der Affektivität in Interdependenz mit dem Gegenüber‘10 umschrieben. Zu ihrer ‚Natur‘ wurde schon einiges ausgeführt. Zu ihrer gesellschaftsspezifischen Ausgestaltung hat Elias selbst einen Beitrag ge7

Elias 1988: S. 46f. Auf den psychoanalytischen Triebbegriff werde ich im vorletzten Abschnitt dieses Kapitels, in Kapitel IV und Kapitel VI näher eingehen. Vgl. zum Triebbegriff von Freud und Elias s.a. Blomert 1991 8 Vgl. Elias 1972: S. 80. Daß Elias die Begriffe ‚Trieb‘ und ‚Affekt‘ oft in einem Atemzug nennt, zeugt von seiner Nähe zu Freuds Begrifflichkeiten. Irritierend ist dann, daß an einigen Stellen aber wiederum die Begriffe ‚Trieb‘ und ‚Emotion‘ (vgl. z.B. Elias 1989b: S. 277) undifferenziert aufeinanderfolgen. Eine Diskussion der Begriffe Trieb und Affekt in der Zivilisationstheorie folgt im letzten Abschnitt dieses Kapitels (‚Die Psychoanalyse in der Zivilisationstheorie‘). 9 Vgl. Elias 1972: S. 30 10 Vgl. Kap VI. Es sind bisher vorwiegend psychoanalytisch orientierte Wissenschaftler, die sich dieses Feld erschließen. Die Annäherungen seitens der Soziologie sind vage und meines Erachtens oberflächlich geblieben (vgl. Kap. III und V).

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leistet. In seiner Zivilisationstheorie geht es um die Interdependenz menschlicher Beziehungs- und Psychodynamiken. Mit seinem Ansatz wendet sich Elias nicht nur gegen ein individualistisches Menschenbild, sondern ebenso sehr gegen ein statisches. Nimmt man ausschließlich Beobachtungen an zeitgenössischen Menschen der entwickelteren Gesellschaften als empirisches Belegmaterial, so ist man weder in der Lage, eine angemessene Theorie über Menschen schlechthin zu formulieren, noch das gegenwärtig Gegebene als Gewordenes zu verstehen. Mit seinem Ansatz versucht Elias der Zustands- und Gegenwartsbezogenheit der zeitgenössischen Soziologie andere Perspektiven entgegenzusetzen. Den Ausgangspunkt seiner zivilisationstheoretischen Überlegungen formuliert er wie folgt: „Ob man sich mit Problemen der jahrhundertelangen Entwicklung europäischer Länder oder mit denen der sogenannten ‚Entwicklungsländer‘ in anderen Erdteilen befaßt, man stößt immer von neuem auf Beobachtungen, die zu der Frage drängen, wie und warum sich im Zuge solcher langfristigen, in einer bestimmten Richtung verlaufenden Gesamttransformationen von Gesellschaften, für die sich als terminus technicus der Begriff ‚Entwicklung‘ eingebürgert hat, unter anderem auch die Affektivität des Verhaltens und der Erfahrungen von Menschen, die Regelung der individuellen Affekte durch Fremd- und durch Selbstzwänge und damit also in gewisser Hinsicht die Struktur aller menschlichen Äußerungen überhaupt in einer bestimmten Richtung verändert.“11

Es sei noch angemerkt, daß Elias, obwohl er sich an vielen Stellen von der Psychoanalyse Freuds distanziert, dem psychoanalytischen Menschenbild im großen und ganzen sehr verbunden bleibt. Diesem Umstand ist es meiner Ansicht nach geschuldet, daß Elias zwar in seinen zivilisationstheoretischen Arbeiten – zu denen nicht nur die Zivilisationsbände gehören – einige Ansätze entwickelt, die über die damalige Psychoanalyse hinausgehen, was die menschliche Affektivität betrifft. Diese finden sich in seinen späteren Arbeiten jedoch nicht wieder, werden nicht weiterentwickelt bzw. nicht integriert, und gehen darüber hinaus, soweit ich sehen kann, auch in der Rezeption der Zivilisationstheorie tendenziell verloren oder werden assimiliert. Diese Elemente interessieren mich im folgenden besonders.

a) Die zivilisatorische Psychodynamik Die Struktur menschlicher Affekte und ihrer Kontrollen im Wandel ist Hauptgegenstand der Zivilisationstheorie. Die Untersuchung der abendländischen Gesellschaftsentwicklung seit dem Mittelalter führt Elias zu folgenden Grundaussagen: Es gab langfristige Wandlungen der Affekt11 Elias 1989b: S. VIIf

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und Kontrollstrukturen von Menschen dieser Gesellschaften in eine bestimmte Richtung; dieser Wandel hing mit langfristigen gesamtgesellschaftlichen Wandlungen in ebenfalls einer bestimmten Richtung zusammen; die Richtung des Wandels ist charakterisiert durch eine zunehmende gesellschaftliche Differenzierung und Integrierung einerseits und einem Strukturwandel von Menschen in Richtung auf eine größere Festigung und Differenzierung ihrer Affektkontrollen und damit auch ihres Verhaltens und Erlebens andererseits.12 Der Begriff ‚Zivilisation‘13 bezieht sich auf den Strukturwandel von Menschen in Interdependenz mit dem Wandel gesellschaftlicher Strukturen. Er ist zunächst fokussiert auf die Sozio- und Psychogenese der Verhaltens- und Empfindensmuster abendländisch zivilisierter Menschen innerhalb von Staatsgrenzen und ihrer Ausbreitung über Staatsgrenzen hinweg. Aus seiner empirischen Untersuchung des abendländischen Zivilisationsprozesses entwickelte Elias dann einen Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, eine Art Zivilisationsmodell, das zwar oft Gegenstand der Kritik wurde, jedoch gerade in seinen psychoanalytischen Anteilen keine produktive Überprüfung, Erweiterung und Vertiefung erfuhr. Was die Sozio- und Psychogenese der abendländisch zivilisierten Menschen kennzeichnet, ist also eine zunehmende ‚Verwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge‘ und damit die zunehmende ‚Regelung des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle‘, die immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird. Die in Art und Grad variablen Elemente, die man hier gemäß dem Eliasschen Denken vorfindet, sind die Trieb- bzw. Emotions-/Affektimpulse, die erlernten Gegenimpulse und die ‚Fremdzwänge‘ bzw. die Interdependenzen mit anderen Menschen und der außermenschlichen Natur, sie zusammen

12 Vgl. Elias 1989b: S. XI. Sämtliche hier angesprochenen Prozesse bergen das Potential der Reversibilität in sich: „Der Wandel, von dem hier gesprochen wird, ist ein strukturierter Wandel in einer von zwei entgegengesetzten Richtungen“ (Elias 1988: S. 236). Neben der Bipolarität und Reversibilität zeichnen sich soziale Prozesse durch die Möglichkeit der Simultaneität entgegengesetzter Prozesse aus. Gegenprozesse können kurzlebig sein – Elias spricht z.B. von einem leichten Zurückfluten – oder aber dominant werden und in jeweiliger Interdependenz mit anderen Teilprozessen die gesamte Prozeßrichtung ändern (vgl. Elias 1986a: S. 234ff). 13 Zur Problematik des Zivilisationsbegriffs bei Elias s. Schröter 1990: S. 4357. Schröter zeigt anhand der Entwicklung in der Terminologie Elias’, wie sozusagen unter der Hand eine Veränderung der zeitlichen und räumlichen Dimension des Zivilisationsbegriffs bei Elias erfolgt. Sowohl in zeitlicher Hinsicht (‚zivilisiert‘ versus ‚zivilisierter‘) als auch in räumlicher Hinsicht (‚die‘ Zivilisation versus viele Zivilisationsprozesse) lasse sich eine anthropologische Wendung ausmachen, wonach der Begriff nicht mehr allein für bestimmte Entwicklungen im Abendland steht, sondern für einen allgemeinmenschlichen Sachverhalt, die Möglichkeit und Notwendigkeit von Lernprozessen, benutzt wird. Ein Problem bleibt aber nach dieser Wende bestehen und wirkt verstärkt: Das anhand einer spezifischen Habitusentwicklung konzipierte Modell wird tendenziell verallgemeinert.

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ergeben das Zivilisationsmuster. In den folgenden Abschnitten möchte ich das Eliassche Verständnis dieser Psychogenese genauer betrachten.

Differenzierung der psychischen Funktionen Die scharfe und entschiedene Differenzierung der psychischen Funktionen, die mit hypostasierenden Begriffen wie ‚Verstand‘, ‚Es‘ oder ‚Ich‘ zum Ausdruck gebracht wird, ist, so Elias, nichts Naturgegebenes. Sie vollzieht sich im Laufe der je individuellen und gesellschaftlichen Entwicklung aus der ‚Verflechtung der Naturen vieler‘, und der Grad der Differenzierung geht einher mit dem Grad der Differenzierung der Menschenverbände selbst. Die Rede ist von Funktionen im Sinne bestimmter Formen der Selbststeuerung eines Menschen in Beziehung zu anderen Menschen und Dingen,14 wobei Art und Maß ihrer Wirksamkeit variabel sind. Das gleiche gilt nach Elias auch für ‚Triebe‘ und ‚Affekte‘: „Man findet selbst in der psychoanalytischen Literatur gelegentlich Äußerungen, die etwa besagen, das ‚Es‘ oder die Triebe, sie seien unwandelbar, wenn man von dem Wandel der Triebrichtungen absieht. Aber wie ist es möglich, bei etwas, das so fundamental auf etwas anderes hin gerichtet ist wie die Triebe der Menschen, von diesem Gerichtetsein abzusehen?“15

Was sich im Laufe des Zivilisationsprozesses ändere, sei die Balance zwischen den bzw. das Muster der verschiedenen Selbststeuerungsformen. Auf einer frühen Zivilisationsstufe sind es vorwiegend die Emotions- und Triebimpulse, die das Verhalten steuern; hier greift sozusagen ‚Affekt in Affekt‘.16 Elias’ Begriff der ‚Affektivität‘ bezieht sich auf eine Spontaneität und Unmittelbarkeit des Verhaltens und Erlebens, die zivilisationstheoretisch eine niedrige Differenzierung der psychischen Funktionen kennzeichnet. Den Gegenpol zu den ‚kurzfristigen Affekten‘ bilden ‚langfristigere gedankliche Modelle‘. Der Rationalisierungsprozeß als ein wesentlicher zivilisatorischer Teilprozeß besteht in einer Balanceverschiebung zwischen diesen beiden Polen: „Die Komplementärbegriffe ‚Rationalität‘ und ‚Irrationalität‘ beziehen sich […] auf den relativen Anteil von kurzfristigen Affekten und langfristigeren gedanklichen Modellen der beobachtbaren Realitätszusammenhänge an der individuellen Verhaltenssteuerung. Je größer das Gewicht der letzteren in dem labilen Spannungsgleichgewicht zwischen kurzfristigeren affektiven und langfristigeren realitätszugewandten Direktiven des Verhaltens ist, um so ‚rationaler‘ ist das Verhalten […].“17 14 15 16 17

Vgl. Elias 1988: S. 56f Elias 1988: S. 57, Herv.i.O. Vgl. Elias 1989c: S. 373 Elias 1990a: S. 140

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Die Rationalität langfristiger Modelle hängt jedoch von der Berechenbarkeit der Zwänge und Ereignisse ab. Sehr wohl wird von Elias eingeräumt, daß unter bestimmten Umständen eine höhere Affektivität der Empfindens- und Verhaltensmuster einen Überlebenswert besitzt und insofern ‚rational‘ sein kann. In einem ‚Leben zwischen hohen Extremen‘ jedenfalls stehen das höhere Maß an körperlicher Bedrohung und die Unberechenbarkeit der Zwänge, die selbst wiederum aus einem relativ niedrigen Grad der Kontrolle der Menschen über sich und über die außermenschliche Natur resultieren, in funktionaler Interdependenz zur größeren Triebungebundenheit und den spontaneren Affektäußerungen. In diesem Fall ist es „die unmittelbare Gegenwart, die den Antrieb gibt; wie diese, die augenblickliche Lage, wechselt, so wechseln auch die Affektäußerungen […]“.18 „Die Seele ist hier“, so schreibt er, „wenn man sich einmal so ausdrücken darf, unvergleichlich viel mehr bereit und gewohnt, mit immer der gleichen Intensität von einem Extrem ins andere zu springen, und es genügen oft schon kleine Eindrücke, unkontrollierbare Assoziationen, um die Angst und den Umschwung auszulösen.“19 Schon auf früheren Stufen gesellschaftlicher Entwicklung fehle es keineswegs an einer Selbstkontrollapparatur wie einem Gewissen oder Über-Ich. Nur sei diese im Vergleich zu einer späteren Stufe – entsprechend den Zwängen, die sie ‚züchten, erzwingen und erhalten‘ – diffus, instabil und durchlässig für heftige, affektive Entladungen.20 Mit der Verringerung der Bedrohung der physischen Existenz und der zunehmenden Differenzierung und Spezialisierung der gesellschaftlichen Funktionen werden die Zwänge, die auf den Einzelnen wirken, berechenbarer, aber auch beständiger. Es lassen sich darüber hinaus tendenziell zwei Arten zivilisatorischer Zwänge unterscheiden, die sich jeweils aufgrund der Eigentümlichkeit einer Verflechtungsordnung für den Einzelnen ergeben. Einerseits entstehen die Zwänge aus der Notwendigkeit für die interdependenten Menschen mit verschiedenen Bedürfnissen und Interessen zur Kooperation. Andererseits sind es die in jeder Verflechtungsordnung inbegriffenen Niveaudifferenzen und Spannungen, die die gesellschaftlichen Zwänge entscheidend mitbestimmen.21 Die Niveaudifferenzen und der Spannungsdruck beziehen sich auf die Verteilung der Mittel zur Bedürfnisbefriedung und den Kampf um diese. Während im Zuge der Differenzierung gesellschaftlicher Funktionen und Positionen der Einzelne jeweils aufgrund der Eigentümlichkeit seiner Funktion und Position innerhalb des Abhängigkeitsgeflechts zu einer spezifischen Abstimmung seines Verhaltens auf dieses gezwungen ist, erhöht sich durch die 18 Elias 1989c: S. 324 19 Ebd. 20 Vgl. Elias 1989b: S. 326f. Elias nennt hier als Beispiel eine extreme Selbstbeherrschung im Ertragen von Schmerzen, relativ extreme Formen der Askese, des Selbstzwanges und der Selbstentsagung und nicht weniger extreme Lustentladungen (vgl. ebd.: S. 327). 21 Vgl. Elias 1989c: S. 447f

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mit der Differenzierung einhergehende Verringerung der Machtdifferentiale der Spannungsdruck vor allem auf die höheren Schichten. Diese beiden Arten von Zwängen stellen die Antriebe des Zivilisationsprozesses dar. Beide wirken als Zwang zur Langsicht und zum Selbstzwang, deren Entwicklung auf psychischer Ebene zwei Seiten des gleichen Prozesses darstellt. Die Dynamik dieses Prozesses wird mit verschiedenen Fokussierungen als ein Prozeß der ‚Rationalisierung‘ und ‚Psychologisierung‘, als ‚Anstieg der Scham- und Peinlichkeitsschwellen‘ und als zunehmende ‚Trieb- und Affektkontrolle‘ beschrieben. Dabei wird die zivilisatorische Psychodynamik im Hinblick auf die Kontrollmechanismen in zwei Phasen unterschieden: der eher bewußten Regulierung des Verhaltens und der eher automatischen, wobei diese zwei Formen der Verhaltenssteuerung einander natürlich nicht ausschließen.22

Rationalisierung Die höfische Gesellschaft steht für Elias im Gegensatz zur bürgerlichen für eine Figuration, in der eine schnelle und intensive Durchformung dessen, was in der letzteren gegenüber dem Berufsleben zum ‚Privatleben‘ der Menschen wird, stattfindet.23 Kennzeichnend für die höfische Rationalität ist die Bewußtheit und Wachsamkeit der Selbst- und Beziehungsregulierung. Der Hof wird von Elias beschrieben als eine Figuration, in der die genaue Dosierung von Näherung und Distanzierung im Verhalten ausschlaggebend für den eigenen ‚Marktwert‘ sind. Die Bewußtheit und Aufmerksamkeit im zwischenmenschlichen Umgang stellen insofern „Instrumente der Selbstbehauptung und der Abwehr gegenüber dem Druck der jeweils niedriger Rangierenden nach oben“24 dar. Der Ausdruck ‚höfische Rationalität‘ bezieht sich somit auf ein relativ hohes, figurationsspezifisches Maß an ‚Bändigung der Affekte‘ um lebenswichtiger Zwecke willen. Wenn Elias in diesem Zusammenhang von ‚Bändigung‘ bzw. ‚Unterdrückung‘ der Triebe und Affekte spricht, so hat das seine Berechtigung darin, daß damit die Perspektive der Beteiligten selbst zugänglich wird. Denn es handelt sich dabei um den bewußten Umgang mit etwas Erlebtem, das aufgrund der Aufbaueigentümlichkeiten der Beziehungen eine ständige Problematisierung erfährt und als solches mit Aufmerksamkeit bedacht wird. Der Überlebenswert der spezifischen Affektkontrollmuster, der Zwang zum Selbstzwang ergibt sich in dieser Phase der Zivilisation am Hof im Verkehr mit bestimmten Menschen, Ranggleichen und -höheren, wo unkontrollierte spontane Impulse eine Bedrohung der sozialen Existenz 22 Ich werde hier die Ausbreitungsbewegung zivilisierter Verhaltensmuster und die dazugehörigen Mechanismen aussparen, da es mir vor allem um die Gegenüberstellung zweier von Elias beschriebener Habitusformen geht. Zur Ausbreitungsbewegung s. Schlußkapitel dieser Arbeit. 23 Vgl. Elias 1989b: S. 140 24 Elias 1990a: S. 88

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darstellen können. Es handelt sich um eine Figuration, in der die Beziehungen der Menschen in erster Linie Selbstwertbeziehungen sind und auch als solche wahrgenommen werden. Im Unterschied zum ‚bürgerlichen‘ Habitus wird der höfische Mensch von Elias wie folgt charakterisiert: „Ganz abgesehen davon, daß das Schema der Trieb- und Affektregulierung in der höfischen Gesellschaft ein anderes ist als in der bürgerlichen, auch das Wissen darum, daß es sich um eine Regulierung aus gesellschaftlichen Gründen handelt, ist noch wacher; die entgegenstehenden Neigungen schwinden wenigstens zum Teil noch nicht aus dem Tagesbewußtsein; die Selbstzwänge werden noch nicht so vollständig zu einer fast automatisch arbeitenden und alle menschlichen Beziehungen einschließenden Gewohnheitsapparatur. Aber ganz deutlich ist schon, wie sich der Mensch hier bereits in einer ganz spezifischen Form spaltet. Er steht sich gewissermaßen selbst gegenüber. Er ‚verbirgt seine Passionen‘, er ‚verleugnet sein Herz‘, er ‚handelt gegen sein Gefühl‘.“25

Die momentanen Trieb- und Affektregungen werden erlebt, mit der Angst vor kommender Unlust in Beziehung gesetzt und ‚unterdrückt‘. Diese Rationalisierung des Verhaltens in bezug auf andere Menschen nennt Elias Psychologisierung. Im Zuge dieses Prozesses ändert sich das Bild, das der Mensch von Menschen hat, es wird reicher an Schattierungen und weniger durch die momentanen Emotionen bestimmt. Der Einzelne ist zur Befriedigung seiner Bedürfnisse gezwungen, andere Menschen in ihrer Verflechtung wahrzunehmen, sich ihrer momentanen Machtposition, ihres Marktwertes und ihrer Bedürfnisse bewußt zu sein. Griff vorher ‚Affekt in Affekt‘, so greift nun ‚Berechnung in Berechnung‘.26 Was die höfische Gesellschaft an ihren Menschen besonders stark ausbildet, ist kurz gesagt einerseits die Kunst der Menschenbeobachtung und -behandlung, andererseits eine „Bändigung der Affekte zu Gunsten einer genau berechneten und durchnuancierten Haltung im Verkehr mit den Menschen“,27 bei der für spontane Gefühlsäußerungen unter Zugehörigen ein relativ geringer Spielraum bleibt. Insofern es sich hier um eine stark hierarchisierte Gesellschaft handelt, also insofern die Notwendigkeit der Kontrolle der eigenen spontanen Impulse im Hinblick auf einen Teil der Menschen zutrifft, mit denen man verkehrt, kann von einer allseitigen Selbstkontrolle noch nicht die Rede sein. Insofern jedoch die spätere Differenzierung in Privat- und Berufssphäre nicht gegeben ist, wird der höfische Mensch als Ganzes gleich erfaßt.28 Je bündiger und totaler das Muster der menschlichen Ab-

25 26 27 28

Elias 1989c: S. 371f Vgl. Elias 1989c: S. 373 Elias 1990a: S.169 Vgl. Elias 1990a: S. 175. Über die höfische Gesellschaft schreibt Elias: „Ihre Menschen waren gleich allen Menschen begrenzt entfaltete Menschen, nämlich begrenzt – abgesehen von allen individuellen Schranken – durch die spezifischen Schranken und Möglichkeiten dieses besonderen gesellschaftli-

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hängigkeiten wird, mit der zunehmenden Differenzierung und Integration und entsprechend der Verringerung der Machtdifferentiale, innerhalb deren sich der Einzelne bewegt, um so ‚rationaler‘ wird das Gesamtverhalten und -empfinden der jeweiligen Menschen, um so allseitiger, stabiler und differenzierter wird die Selbstkontrolle des Menschen. Die allgemeine Formel, in die Elias den Rationalisierungsprozeß gebracht hat, lautet: Das Bewußtsein wird weniger triebdurchlässig, die Triebe werden weniger bewußtseinsdurchlässig.29 Damit ist eine immer stärkere Differenzierung der Triebsteuerung und der Ich- und Überichsteuerung voneinander gemeint. Im Hinblick auf die ‚Triebe‘ bedeutet das nicht eine bloße ‚Unterdrükkung‘, vielmehr geht es um eine Modellierung der Trieb- und Affektstrukturen im Sinne von soziogenen Strukturen, die sich von den Ich- und Überichstrukturen nicht absondern lassen.30 Die Triebe und Affekte wirken weiterhin, kommen jedoch vermittelter zum Ausdruck und tendenziell nicht mehr in Form spontaner Äußerungen. Der Mensch ist dazu gedrängt, „seine augenblicklichen Affekte in stärkerem Maße zurückzuhalten und seine Triebenergien in höherem Maße umzuformen.“31 Was an die Stelle der Triebsteuerung tritt, ist die ‚Orientierung an der Erfahrung‘. Auf Elias’ Bewertung des Rationalisierungsprozesses werde ich später eingehen. Die andere Seite dieses psychischen Strukturwandels ist das Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle.

Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle Wie funktioniert die Modellierung der ‚Trieb- und Affektstrukturen‘? In dem von Elias hauptsächlich im ersten seiner Zivilisationsbände „Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes“ beschriebenen Wandel des Scham- und Peinlichkeitsempfindens wird deutlich, wie eng Veränderungen im Verhalten und Erleben der Menschen und ihrer jeweiligen Art der Selbststeuerung mit einem Wandel ihres Beziehungsgeflechts, ihrer Position und Funktion und mit entsprechenden chen Feldes. Die in diesem Sinne begrenzt entfalteten Menschen aber erfaßte sie als Ganzes gleich unmittelbar mit der gleichen Intensität“ (ebd.). 29 Vgl. Elias 1989c: S. 390 30 Vgl. ebd. 31 Elias 1989c: S. 374. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, wie eine solche Triebmodellierung aus neurobiologischer Sicht aussieht. Die Fähigkeit zum sog. Triebaufschub, die Tendenz, sich an langfristigen Folgen zu orientieren, setzt die Bewertung des bevorstehenden Ereignisses voraus. „Dieser positive somatische Marker, der durch das Vorstellungsbild einer angenehmen Zukunft ausgelöst wird, ist die Voraussetzung dafür, daß Sie die unmittelbaren Unannehmlichkeiten als Vorspiel zu einer potentiellen Verbesserung ertragen“ (Damasio 1997: S. 240). Die von Elias beschriebene ‚Langsicht‘, Damasio nennt es die Empfindlichkeit versus Kurzsichtigkeit für die Zukunft (vgl. ebd.: S. 291f), ist demnach nur durch Beteiligung der somatischen Marker möglich.

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Machtverlagerungen zusammenhängen. Die Restriktionen, die dem Verhalten auferlegt werden, sind in einer ‚pazifizierten‘ Gesellschaft zunächst ausdrücklich sozial begründet. Die Begründung, warum dieses und jenes unterlassen werden soll, bezieht sich auf Rücksicht auf den Anderen, auf sein Peinlichkeitsgefühl, auf das, was der Andere von einem selbst denken könnte. Dieser Prozeß der Formalisierung, der genauen Durchformung des Verhaltens, bedeutet, daß das Verhalten den Rangunterschieden entsprechend ausgerichtet wird. Statusunterschiede im Verkehr miteinander zum Ausdruck zu bringen, ist Gebot des Taktes, womit eben auch der Grad der eigenen Abhängigkeit vom Gegenüber zum Ausdruck gebracht wird. Je weniger aufgrund der Verringerung der Machtdifferentiale bzw. wachsenden Abhängigkeiten die spontanen Impulse ausagiert werden können, desto differenzierter werden die Gefühle, die psychologischen Nuancierungen und die Sensibilität der Menschen, ihr Erleben und entsprechend ihr Verhalten. Es sind zunächst die von außen auferlegten Restriktionen im Verhalten, die zu einer Gefühlsdifferenzierung, zu einem Erleben der Haltung der Anderen dem Subjekt gegenüber führen. Die gegenseitige Rücksichtnahme entsprechend den Machtunterschieden, die ‚Höflichkeit‘, entspringt zunächst den tatsächlich wahrgenommenen Zwängen. Ein jeweiliger Problemkreis des Verhaltens gewinnt natürlich dann an Wichtigkeit, wenn die alten Verhaltensmuster nicht mehr zur Bedürfnisbefriedigung ausreichen. Es ist eine solche Entwicklungsphase, in der die gesellschaftliche Dynamik an Tempo gewinnt, eine Phase der Desintegration älterer sozialer Verbände.32 Die Wiederverfestigung der Gesellschaftshierarchie setzt die Individuen dem Druck und der Kontrolle ihrer Gruppenzugehörigkeit aus, vor allem die neue Oberschicht, die dem verstärkten Zwang zur Langsicht und zum bewußten Umgang mit eigenen spontanen Impulsen kraft ihrer Funktion und Position ausgesetzt ist. Aus seiner Untersuchung der Manierschriften stellt Elias folgende Dynamik heraus: „Immer wieder werden durch die Jahrhunderte hin die gleichen Sitten und Unsitten erwähnt. Der gesellschaftliche Code verfestigte sich nur in begrenztem Maß im Menschen selbst zu dauernden Gewohnheiten. Jetzt, mit dem Umbau der Gesellschaft, mit einer neuen Anlage der menschlichen Beziehungen, tritt hier langsam eine Änderung ein: Der Zwang zur Selbstkontrolle wächst. In Zusammenhang damit gerät der Standard des Verhaltens in Bewegung.“33

32 Vgl. Elias 1989b: S. 103. So beschreibt Elias die Phase vor der Verfestigung des Hofes: „Die alten sozialen Verbände sind, wenn nicht zerbrochen, so doch in hohem Maße aufgelockert und in Umbildung begriffen. Individuen verschiedener Herkunft werden durcheinandergewirbelt. Die gesellschaftliche Zirkulation, Auf- und Abstiegsbewegungen vollziehen sich rascher“ (ebd.). 33 Elias 1989b: S. 106

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Das In-Bewegung-Geraten der Verhaltensstandards weist drei interdependente Aspekte auf, die sich im Zivilisationsprozeß in eine bestimmte Richtung entwickeln. Da wären die jeweiligen Verhaltensbereiche, die mit Aufmerksamkeit bedacht und ‚durchgeformt‘ werden; das Gegenüber, auf das sich das jeweilige Verhalten richtet; und die jeweilige Form der Verhaltenssteuerung. Im Zentrum der Regelungen und Restriktionen steht der Körper des Einzelnen. Den Verhaltensbereich, der von der Zivilisation erfaßt wird, kann man sich vorstellen als einen immer enger werdenden Kreis, der sich über die Regelung gröberer körperlicher Verrichtungen und der Körperlichkeit allgemein bzw. deren Verbannung aus dem öffentlichem Raum bis hin zu den feinsten affektiven Äußerungen hinzieht. Das Gegenüber dieser zivilisierteren Verhaltensmuster wandelt sich vom Ranghöheren bzw. -gleichen zu einem generalisierten Gegenüber und die Form der Verhaltenssteuerung wandelt sich von einem mehr über Emotions- und Triebimpulse gesteuerten Verhalten über ein durch den aktuellen Bezug zum Gegenüber gesteuertes hin zu einer automatischen Verhaltenssteuerung. Das Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen bezieht sich auf alle drei genannten Aspekte. Der jeweilige Stand dieser ‚Schwelle‘ bezeichnet den Kreis um den Körper des Einzelnen in Abgrenzung zum Gegenüber samt ihrer psychischen Repräsentation (der Schwelle und des Gegenübers) beim Subjekt. Den psychischen Mechanismus, aufgrund dessen sich dieser Wandel des Affektlebens vollzieht, beschreibt Elias folgendermaßen: „Gesellschaftlich unerwünschte Trieb- und Lustäußerungen werden mit Maßnahmen bedroht und bestraft, die Unlust erzeugen oder dominant werden lassen. In der Wiederkehr der als Strafe durch irgendeine Bedrohung erweckten Unlust und in der Gewöhnung an diesen Rhythmus verbindet sich die Unlustdominante zwangsläufig mit dem Verhalten, das an der Wurzel auch lustvoll sein mag.“34

Die Scham stellt bei Elias eine solche ‚Unlust‘ dar. Er definiert sie als „eine spezifische Erregung, eine Art von Angst, die sich automatisch und gewohnheitsmäßig bei bestimmten Anlässen in dem Einzelnen reproduziert.“35 Ich möchte im folgenden zeigen, daß sich im Eliasschen Gedankengebäude bei genauerem Hinsehen zwei unterschiedliche Schambegriffe finden lassen, die jedoch nicht explizit zueinander in Beziehung gesetzt sind. Der erste Schambegriff impliziert sein Verständnis vom Schamgefühl und von der Schamangst. Das Schamgefühl bezieht sich auf eine emotionale Situation, in der das Subjekt durch ein realisiertes Verhalten den Überlegenheitsgesten bzw. der Degradierung ausgesetzt ist und sich auch als Unterlegener anerkennt. Die Wehrlosigkeit des Scham-Subjekts ergibt sich daraus, daß die beschämenden Anderen „sich im Einklang mit dem 34 Ebd.: S. 282f 35 Elias 1989c: S. 397

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eigenen Über-Ich des Wehrlosen und Geängstigten befinden, mit der Selbstzwangsapparatur, die in dem Individuum durch Andere, von denen er abhängig war, […] herangezüchtet worden ist.“36 Insofern eine solche ‚Verinnerlichung‘ stattgefunden hat, kann durch die Antizipation der Unlust, durch die Scham-Angst das jeweilige Verhalten umgangen werden. Entsprechend dieser Auffassung von Scham kommt Elias zu der Schlußfolgerung, daß „die Angst vor der Übertretung gesellschaftlicher Verbote um so stärker und ausgesprochener den Charakter der Scham erhält, je stärker durch den Aufbau der Gesellschaft Fremdzwänge in Selbstzwänge umgewandelt werden, und je umfassender, je differenzierter der Ring der Selbstzwänge wird, der sich um das Verhalten der Menschen legt.“37 Die Scham, von der hier die Rede ist, ist eine statusgebundene Scham, die aus den gesellschaftlichen Niveaudifferenzen erwächst. Auf psychischer Ebene hängt sie – bezogen sowohl auf den gesellschaftlichen als auch auf den individuellen Zivilisationsprozeß – mit der ‚Über-Ich-Bildung‘ zusammen, ja sie wird sogar als Funktion der Über-Ich-Bildung angesehen. „Die Rationalisierung des Verhaltens ist ein Ausdruck für die Außenpolitik der gleichen Über-Ich-Bildung, deren Innenpolitik in einem Vorrücken der Schamgrenze zum Ausdruck kommt.“38

Mit der zunehmenden Differenzierung der Persönlichkeitsstruktur, der inneren Strukturbildung als Niederschlag der Beziehungen, findet auch eine ‚Verinnerlichung der Konflikte‘ statt: „Beide gleichermaßen, die Rationalisierung nicht weniger als das Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsgrenze, sind ein Ausdruck für eine Verringerung der direkten Ängste vor der Bedrohung oder Überwältigung durch andere Wesen und für eine Verstärkung der automatischen, inneren Ängste, die Zwänge, die der Einzelne nun auf sich selbst ausübt. In beiden gleichermaßen […] kommt die größere, die differenziertere Vor- und Langsicht zum Ausdruck, die mit der zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft für immer weitere Menschengruppen zur Erhaltung ihrer sozialen Existenz notwendig wird.“39

Gefühle der Peinlichkeit bilden nun das unabtrennbare Gegenstück zu den Schamgefühlen. Elias definiert sie „als Unlusterregungen oder Ängste, die auftreten, wenn ein anderes Wesen die durch das Über-Ich repräsentierte Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht oder durchbricht.“40

36 37 38 39 40

Ebd.: S. 398 Elias 1989c: S. 398 Ebd.: S. 401 Ebd.: S. 400 Ebd.: S. 404

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Automatisierung der Verhaltenssteuerung Der Weg zu Elias’ zweitem Schambegriff führt über seine These der Automatisierung der Verhaltenssteuerung und des damit einhergehenden Bezugsverlustes. In diesem Zusammenhang sind die Arbeiten Elias’ durchzogen von Begriffen wie ‚Panzerung‘, ‚Mauer‘, ‚Wall‘ oder z.B. der Rede von einem ‚Ring der Selbstzwänge‘, der sich um das Verhalten der Menschen lege.41 Sichtlich hat er Schwierigkeiten, das von ihm Wahrgenommene in Begriffe zu fassen. Das Denken sozialer Prozesse als zweipolig, deren Richtung jeweils an einem Mehr oder Weniger innerhalb gegensätzlicher Kategorien ausgedrückt wird, mag hier geholfen haben. Dennoch ist es Elias nicht entgangen, daß es bei der Richtungsbeständigkeit sozialer Prozesse um mehr geht als um bloß graduelle Unterschiede. Beim Vergleich verschiedener Phasen eines Prozesses, so schreibt er, könne man zwar in Komparativen sprechen wie z. B. von einer immer allseitiger, stabiler und differenzierter werdenden Selbstkontrolle, damit sei jedoch nicht gesagt, daß es sich um rein quantitative Veränderungen handle. Vielmehr seien es „Strukturveränderungen, die sich von der Seite der quantitativen Änderungen am leichtesten, am anschaulichsten, aber vielleicht auch am oberflächlichsten fassen lassen.“42 Begriffe wie ‚Panzer‘ und ‚Mauer‘ mögen den Versuch darstellen, einen qualitativen Wandel innerhalb des quantitativen zum Ausdruck zu bringen. In welchem Zusammenhang stehen diese Begriffe bei Elias? Von einem ‚Panzer der Selbstzwänge‘ ist schon in bezug auf den höfischen Habitus die Rede. Was sich im Laufe des fortschreitenden Zivilisationsprozesses ändert, ist die Beschaffenheit dieses ‚Panzers‘ und seine Wahrnehmung seitens der Gepanzerten selbst. Im Falle des höfischen Habitus kann der Panzer in Form von ‚guten Manieren‘ bzw. Masken auftreten. Über die höfischen Aristokraten schreibt Elias, sie seien „sich häufig in recht hohem Maße bewußt, daß sie im Verkehr mit anderen höfischen Menschen eine Maske aufsetzen, wenn sie sich auch wohl nicht bewußt sind, daß ihnen das Aufsetzen von Masken, das Spiel mit Masken zur zweiten Natur geworden ist.“43 Weiter ist bedingt durch die größere Ungleichheit der verschiedenen Schichten die Möglichkeit der Äußerung affektiver Impulse noch in relativ hohem Maße gegeben. Elias spricht von einer relativ ‚lockeren Panzerung‘44 der höfischen Menschen. Was sich im Zuge der ‚Verfestigung des Panzers‘ ereignet, ist mehr als eine bloße Kontrollzunahme der Affektäußerung, mehr als nur ein Wandel in der Verhaltenskomponente der Emotionen. Es ist gleichzeitig ein Wandel im Erleben, in der subjektiven Komponente und der somatisch-physiologischen. 41 Vgl. u.a. ebd.: S. 398, 1989b: S.89, S. 222, S. 249 42 Ebd.: S. 118. Um dieses Problem zu umgehen, spricht Elias auch oft von einem Schema oder Muster statt von einer Balance. 43 Elias 1990a: S. 357 44 Vgl. ebd.: S. 357

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Ein Aspekt dieses Wandels ist der Bezugsverlust nach außen, eine relative Emanzipation von der äußeren Situation. Sie geht einher mit der Automatisierung der Selbstkontrolle, die Elias als Gewissensbildung beschreibt. Dieses Gewissen ist die Erscheinungsform eines allseitigen verfestigten ‚Panzers‘, bei dem tendenziell keine Hintertür mehr zu spontanen Affektäußerungen offen steht: „Die momentane Trieb- und Affektregung wird gewissermaßen durch die Angst vor der kommenden Unlust überdeckt und bewältigt, bis diese Angst sich schließlich gewohnheitsmäßig den verbotenen Verhaltensweisen entgegenstemmt, selbst wenn gar keine andere Person mehr unmittelbar gegenwärtig ist, die sie erzeugt […].“45

Die Linie, die Elias hier nachzeichnet, ist eine partielle Belegung von Affektäußerungen mit Schamgefühlen über die Scham-Angst schon beim Erleben der Affektimpulse hin zu einem Habitus, in dem die Impulse tendenziell dem bewußten Erleben fernbleiben.46 Inwieweit Elias diesen Prozeß als einen körperlichen gedacht hat, inwieweit er sich der somatischphysiologischen Komponente der Affektkontrollstrukturen bewußt war, zeigt der in Zusammenhang mit der Automatisierung des Verhaltens bzw. der Über-Ich-Steuerung verwendete Begriff der ‚Konditionierung‘47 bzw. des ‚bedingten Reflexes‘, Begriffe, die Elias zur Beschreibung individueller Zivilisierungsprozesse heranzieht. Schamgefühle stellen sich ein, wenn etwas im ‚Inneren‘ an der gesellschaftlichen Gefahrenzone rührt, d.h. wenn der Impuls zu einer ‚Grenzüberschreitung‘ in bezug auf den gesellschaftlichen Verhaltensstandard auftritt; Peinlichkeitsgefühle treten auf, wenn etwas außerhalb des Einzelnen an dessen ‚Gefahrenzone‘ rührt. Diese ‚Gefahrenzone des Einzelnen‘ fällt, wenn man so will, bildlich mit dem Inneren des Panzers zusammen. Elias definiert diese Zone des Einzelnen als „Verhaltensformen, Gegenstände, Neigungen, die frühzeitig von seiner Umgebung mit Angst belegt wurden, bis sich diese Angst – nach Art eines ‚bedingten Reflexes‘ – bei analogen Gelegenheiten in ihm automatisch wieder erzeugt.“48 Die Begriffe ‚Konditionierung‘ und ‚bedingter Reflex‘ beziehen sich auf einen speziellen Verlauf der Über-Ich-Bildung, auf eine Automatisierung des Verhaltens, die der Körper leistet. Wie im ersten Kapitel bereits angedeutet, sind kulturelle Spezifika, soziale Konventionen erheblich an der Entwicklung und Ausgestaltung der somatischen Marker beteiligt. Eine – wenn auch vage – Idee von spezifischen ‚somatischen Markern‘ ist bei Elias u.a. in seiner These vom Vorrücken der Scham- und 45 Elias 1989c: S. 372 46 Vgl. Elias 1989b: S. 215. „Die verbotenen Neigungen […] verschwinden hier unter dem Druck des ‚Über-Ich‘ und der ‚Langsicht-Gewohnheit‘ zum Teil geradezu aus dem Bewußtsein“ (ebd.). 47 Vgl. ebd.: S. 194, S. 204, S. 207 u. Elias 1989c : S. 111 48 Elias 1989c: S. 404

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Peinlichkeitsschwellen angelegt, insofern man diese als verkörperlichte Markierungen sozialer Grenzsetzungen und ihrer Verschiebungen verstehen kann. Während bei der tendenziell ich-gesteuerten höfischen Habitusform das Spiel von Annäherung und Distanzierung das Bewußtsein bestimmt, ist es u.a. dieser Distanzierungsgrad, der bei zunehmender Zivilisierung ‚verinnerlicht‘ im Sinne von ‚verkörperlicht‘ wird. Während die bewußte Distanzierung für den höfischen Menschen in erster Linie Funktion der Selbstwertbeziehungen ist, ist die ‚Distanziertheit‘ beim bürgerlichen erwachsenen Menschen vor allem Funktion seiner psychischen Struktur. Erst im Zusammenhang mit einer solchen relativ hoch differenzierten Persönlichkeitsstruktur spricht Elias von der ‚Mauer‘, die sich im Erleben der Menschen zwischen sie und die Welt schiebt. Für die Genese des Gefühls der unsichtbaren Mauer zwischen Innenwelt und Außenwelt ist eine spezifische Form der Gewissensbildung verantwortlich, worauf ich später zurückkomme. Mich interessiert zunächst, wie Elias dieses Gewissen denkt. An einer Stelle werden ‚Mauer‘ und ‚Innenwelt‘ als ‚Kapsel‘ und ‚Abgekapseltes‘ entsprechend der Selbstwahrnehmung der Betroffenen beschrieben. Das, was als Kapsel oder Mauer erlebt wird, sind „die verstärkten Selbstzwänge, die unausweichlicher als zuvor die spontaneren Impulse daran hindern, sich direkt, ohne Dazwischentreten von Kontrollapparaturen, motorisch in Handlungen auszuleben […].“49 Das Abgekapselte sind „die zurückgehaltenen, am unmittelbaren Zugang zu den motorischen Apparaturen verhinderten Trieb- und Affektimpulse der Menschen.“50 Hier sind wir noch ganz im Bild des triebundurchlässigen, affektneutralen Bewußtseins, im Bild von Trieb- und Affektimpulsen einerseits und den erlernten Gegenimpulsen im Sinne von ich- und überichgesteuertem Verhalten andererseits. An einer anderen Stelle gerät dieses Bild jedoch ins Wanken, insofern die kontrollierenden Gegenimpulse selbst in Zusammenhang mit Affekten beschrieben werden. Um die Zivilisationsdifferentiale zwischen gegenwärtigen und früheren Habitusformen zu beschreiben, greift Elias zu folgender Formulierung: „Was in dieser courtoisen Welt fehlte oder sich jedenfalls nicht in der gleichen Stärke ausgebildet hatte, war jene unsichtbare Mauer von Affekten, die sich gegenwärtig zwischen Körper und Körper der Menschen, zurückdrängend und trennend, zu erheben scheint, der Wall der heute oft bereits bei der bloßen Annäherung an etwas spürbar ist, das mit Mund oder Händen eines anderen in Berührung gekommen ist, und der als Peinlichkeitsgefühl beim bloßen Anblick vieler körperlicher Verrichtungen eines anderen in Erscheinung tritt, oft auch nur bei deren bloßer Erwähnung, oder als Schamgefühl, wenn eigene Verrichtungen dem Anblick anderer ausgesetzt sind, und gewiß nicht nur dann.“51 49 Elias 1989b: S. LXIII 50 Ebd. 51 Ebd.: S. 89, Herv.i.O. Interessanterweise und wahrscheinlich aufgrund der eben zitierten Textstelle hat Krause das Gefühl der ‚Peinlichkeit‘ bei Elias

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Die Mauer, die die Affekte einschließt, besteht selbst aus Affekten. Das, worauf Elias hier anspielt, ist später mit dem Begriff Schamaffekt konzeptualisiert worden. Der Schamaffekt ist zunächst jenseits der gesellschaftlichen Niveaudifferenzen zu denken. Er ist vielmehr eine Realisierungsfunktion im Sinne der Feststellung von Identität und Nicht-Identität. Er signalisiert die soziogenen Grenzen des Selbst und geht jeder Über-IchBildung voraus (s. Kap. VI). Wenn Elias von der zunehmenden ‚Distanzierung der Menschen voneinander in ihren Beziehungen‘ und später vom Prozeß der Individualisierung spricht, dann geht es nicht nur um eine immer stärkere und allseitigere Selbstkontrolle und ein immer affektneutraleres Bewußtsein, sondern auch um ein spezifisches Verhältnis zu anderen Menschen im Hinblick auf Art und Grad der gegenseitigen ‚Affizierung‘. Der Prozeß der Zivilisation bedeutet nicht nur eine Unterdrückung und später ein Verschwinden von Affekten, sondern ihre Modellierung im Sinne des Wandels eines affektiv im Habitus der Menschen verankerten und in Beziehung reproduzierten/aktualisierten Musters von Nähe und Distanz.

b) Ansätze zu einer ‚Problematisierung‘ des Zivilisationsprozesses in der Zivilisationstheorie Ein Aspekt dieser Distanzierung wurde oben schon mit der ‚Verinnerlichung der Konflikte‘ angesprochen. Doch wenn man von einem Schub in Richtung einer Verinnerlichung der Ängste und Konflikte im langfristigen Prozeß der Zivilisation spricht, so betont auch Elias, darf man folgendes nicht übersehen: „Daß heute, wie ehemals alle Formen der inneren Ängste eines Erwachsenen mit Ängsten des Kindes in Beziehung zu Anderen, mit Ängsten vor äußeren Mächten zusammenhängen.“52 Ich möchte an dieser Aussage folgenden Aspekt betonen: Der Verinnerlichung, der inneren Strukturbildung geht die Interaktion voraus und sie bleibt lebenslang an diese Interaktion gekoppelt und dem Wandel unterworfen. Was sich ändert, ist die Balance der Verhaltenssteuerung durch äußere und innere Zwänge. Manchmal jedoch wird der Eindruck erweckt, als wenn der von Elias skizzierte, einmal ‚erreichte‘ Zivilisationsstandard bald genetisch weitergegeben wird, als wenn der individuelle Zivilisationsprozeß nach dem einmal erreichten Stand sich automatisch in gleicher Weise reproduziert. Die Frage, ob die Bedingung der Möglichkeit dieser Entwicklung überhaupt noch gegeben ist, ob die Mechanismen, die Elias beschrieben hat, auch heute noch in gleichem Maße greifen und zur gleichen Modellierung führen, stellt man sich oft gar nicht. Bei Elias ist dieses Problem exals den Affekt ‚Ekel‘ ausgemacht (vgl. Krause 1998: S. 60). Die Untersuchung des Zusammenhangs der Affekte Scham und Ekel erscheint mir als ein weiterer vielsprechender Zugang zum Zivilisationsprozeß. 52 Elias 1989c: S. 409

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plizit angesprochen. Der Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft wird zumindest thematisiert und stellenweise ausgeleuchtet. Die Frage nach weiteren unintendierten Folgen entsprechender Prozesse für die Gewissensbildung hat Elias selbst gestellt, wenn auch nicht beantwortet. Welche Hinweise lassen sich für den weiteren Verlauf des Zivilisationsprozesses in bezug auf die heutigen entwickelteren Gesellschaften bei Elias finden?

Privatisierung Die Genese der Privatsphäre stellt im Verein mit der Genese der Berufssphäre in Elias’ Überlegungen eine Struktureigentümlichkeit des Übergangs zur bürgerlichen Gesellschaft dar. Mit dieser Teilung der Lebenssphären geht ein Wandel in ihrer Beziehungsgestalt und im Erleben der Menschen einher, der eng mit der Formalitäts-Informalitätsspanne innerhalb einer Gesellschaft und entsprechend mit der Prägung der Menschen verknüpft ist. Den Prozeß der Privatisierung bei Elias kann man auf zwei verschiedenen Ebenen ausmachen. Zunächst einmal bezieht sich der Begriff Privatisierung auf die oben schon beschriebene „Ausklammerung bestimmter Sphären des Lebens aus dem gesellschaftlichen Verkehr der Menschen und ihre Belegung mit gesellschaftlich gezüchteter Angst, etwa mit Scham- und Peinlichkeitsgefühlen […]“,53 die Abdrängung bestimmter Funktionen in die ‚Heimlichkeit‘.54 Die Privatisierung ist hier als eine psychische Umstrukturierung des Einzelnen gemeint, welcher auf der Beziehungsebene eine Distanzierung zwischen den Menschen entspricht. Zur Erfassung der sozialen Distanz zwischen verschiedenen Gruppen führt Elias den Begriff der ‚Formalitäts-Informalitätsspanne‘ ein, die sich auf das synchronische Gefälle zwischen Formalität und Informalität in einer Gesellschaft bezieht, wobei der Formalisierungsgrad das Reglementierungsausmaß der Verhaltensmuster in der Beziehung bestimmter Gruppen und Personen bezeichnet.55 Einem hohen Machtgefälle zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen entspricht eine weite FormalitätsInformalitätsspanne des Verhaltens innerhalb und zwischen den Gruppen. Wie bereits erwähnt, sind auf dieser Stufe die ‚zurückgehaltenen‘ Impulse weitgehend im Erleben präsent. Aber auch das Gegenüber bzw. die Interdependenz zu ihm, kraft deren der Einzelne Zurückhaltung übt, wird weit bewußter erlebt. Mit der Automatisierung des Verhaltens gehen beide Bezüge tendenziell verloren. Entsprechend betont Elias an verschiedenen Stellen, daß erst mit der funktionalen Demokratisierung eine solche Automatisierung sich vollziehen kann, denn sie bedeutet, daß die Zwänge zum Selbstzwang allseitiger werden. Erst wenn die ständischen Mauern fallen, 53 Elias 1988: S. 49 54 Vgl. 1989b: S. 194 55 Vgl. Elias 1990b: S. 41 u. S. 100

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wenn die funktionalen Interdependenzen aller von allen stärker werden, dann erst werden bestimmte mit Schamgefühl belegte Verhaltens- und Empfindensweisen in Gegenwart jedes anderen Menschen zu einem Verstoß. Erst dann verschwindet der soziale Charakter des Verbots aus dem Bewußtsein, erst dann erscheint dem Einzelnen die Scham als Gebot seines eigenen Inneren,56 und erst damit „schließt sich die Rüstung um das Triebleben bis zu jenem Grade, der den Menschen der demokratischindustriellen Gesellschaft dann allmählich als selbstverständlich erscheint.“57 Den Wandel der Zwänge im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft beschreibt Elias folgendermaßen: „In der folgenden Phase wird das, was zu Triebverzicht, Triebregelung und Zurückhaltung zwingt, weit weniger durch bestimmte Personen repräsentiert; es sind, provisorisch und undifferenziert gesagt, unmittelbarer als zuvor die weniger sichtbaren und unpersönlicheren Zwänge der gesellschaftlichen Verflechtung, der Arbeitsteilung, des Marktes und der Konkurrenz, die zur Zurückhaltung und Regelung der Affekte und Triebe zwingen. Sie sind es, denen die oben erwähnte Begründungs- und Konditionierungsart entspricht, bei der die ‚Modellierung‘ darauf abgestellt ist, das gesellschaftlich erforderliche Verhalten als vom Einzelnen selbst aus eigenem, inneren Antrieb so gewolltes Verhalten in Erscheinung treten zu lassen. Das gilt für die Triebregelung und -zurückhaltung, die zur ‚Arbeit‘ notwendig ist; das gilt für das gesamte Schema der Triebmodellierung in der bürgerlich-industriellen Gesellschaft.“58

Die andere Ebene dieses Wandels ist die Privatisierung im interaktionellen Raum, die Ausprägung einer Privatsphäre neben der Berufssphäre. Die zunehmende Spaltung dieser beiden Sphären bezeichnet Elias explizit als eine neue Phase im Prozeß der Zivilisation.59 Die höfischen Menschen, für die es eine solche Trennung nicht gab, wurden ihm zufolge von ihrer Gesellschaft als Ganzes erfaßt. Damit meint er, daß sich mit der sozialen Kontrolle auch die Formungstendenzen der Gesellschaft auf alle Sphären des menschlichen Verhaltens gleich unmittelbar erstreckten.60 Mit der Trennung der beiden Sphären, die in vollem Umfange erst in einer städti56 Vgl. Elias 1989c: S. 403 57 Elias 1989b: S. 187 58 Ebd.: S. 207. Eine analoge Konzeption stellt der ‚generalisierte Andere‘ in Meads Modell der individuellen Entwicklung des Selbstbewußtseins dar: Während das Kind sich in einem frühen Stadium der Entwicklung zunächst spezifische, aufgrund seiner kindlichen Abhängigkeit relevante, Rollen aneignet, indem es, wie Mead sagt, fortlaufend in sich selbst die Reaktionen auf seine eigenen sozialen Handlungen hervorruft, wird das Verhalten mit zunehmender Erfahrung verschiedener Positionen von einer ‚organisierten Reaktion‘ begleitet und kontrolliert, die Mead den ‚generalisierten Anderen‘ nennt; und dieser generalisierte Andere seiner Erfahrung verleiht ihm eine ‚Ich-Identität‘ (vgl. Mead 1987: S. 319f). 59 Vgl. ebd.: S. 418 60 Vgl. Elias 1990a: S. 176

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schen Massengesellschaft möglich wurde, „konnte der Einzelne sich im Rahmen der gesetzlichen Kontrolle der gesellschaftlichen Kontrolle bis zu einem gewissen Grade entziehen.“61 In der bürgerlichen Massengesellschaft bildet die Berufssphäre die ‚primäre Angriffsfläche‘ der gesellschaftlichen Zwänge und Formungstendenzen, die Privatsphäre ist dagegen vielmehr durch eine spezifische ‚Undurchgeformtheit‘ bzw. durch eine ‚heteronome Geformtheit‘ charakterisiert: „[…] alles aber, was damit in die Sphäre des Privatverhaltens gewiesen wird, […] erhält seine entscheidende Formung nicht mehr unmittelbar und autonom wie früher im gesellschaftlich-geselligen Verkehr der Menschen selbst, sondern mittelbar und heteronom als Funktion von Berufssituationen und -interessen […].“62

Was Elias hier beschreibt, ist eine gewisse Informalität zwischenmenschlicher Beziehungen im privatisierten Bereich, die Existenz ‚bestimmter, enger Enklaven‘,63 die durch eigene Scham- und Peinlichkeitsschwellen gekennzeichnet sind. Das, was sich heute als Gegensatz darbieten mag, Informalisierung einerseits und stabile, allseitige und automatisierte Selbstzwänge andererseits, beschreibt Elias als ein spezifisches Zivilisationsmuster. Als charakteristisch auch noch für das 20. Jahrhundert sieht er die „eigentümliche Verbindung einer stark nach innen geschlagenen und zum Selbstzwang gewordenen Peinlichkeitsempfindung oder Moralität mit einer weitgehenden ‚Undurchgeformtheit des Intimen‘“.64 Damit wandelt sich natürlich grundlegend die gesellschaftliche Prägeapparatur, es gibt weiterhin zivilisierende Zwänge, doch wie schon erwähnt, ist Zivilisierung kein quantitativer Begriff. Angesichts der von Elias angedeuteten Umstrukturierung der gesellschaftlichen Zwänge sind schließlich zwei Aspekte hervorzuheben, die die Soziogenese der abendländischen Verhaltensund Empfindensmuster heute betreffen. Einerseits ist mit der Genese der Privatsphäre die ‚Kleinfamilie‘ angesprochen, die zunächst allmählich mit zunehmender Ausschließlichkeit zur Enklave ‚intimer Verrichtungen‘ und zum ‚primären Züchtungsorgan der gesellschaftlich geforderten Triebgewohnheiten für den Heranwachsenden‘ wird.65 Andererseits ist die Frage nach dem weiteren Schicksal der Berufssphäre, des Stellenwerts der ‚Arbeit‘ und ihrer Relevanz als ‚zivilisierende Instanz‘ zu stellen. Eine Entwicklungstendenz dieser Sphäre hat Elias problematisiert: „In den entwickelteren Industriegesellschaften verkürzt sich langsam die Berufszeit und die Privatzeit verlängert sich. Es ist vielleicht noch zu früh, um zu unter61 62 63 64 65

Ebd.: S. 175f Ebd.: S. 176 Vgl. Elias 1989c: S. 403 Elias 1989b: S. 227 Vgl. ebd.: S. 259

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suchen, welchen Einfluß diese Verlagerung auf das Gepräge der Menschen im allgemeinen und auf die Gewissensbildung im besonderen hat oder haben wird, wenn sie weiter in die gleiche Richtung geht.“66

Zur Erarbeitung der sozialen Bedingungen gegenwärtiger Zivilisationsprozesse müßten wohl außer der Quantität und Qualität der Freizeit viele andere grundlegende Entwicklungstendenzen in Rechnung gestellt werden, um ein klareres Bild von den in welcher Form auch immer zivilisierenden Zwängen zu bekommen. Da wären u.a. zu nennen die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, der Wandel der Arbeitssphäre und der Arbeitslosigkeit, der spezifische Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung in Interdependenz mit den Wandlungen der Privatsphäre und insbesondere der Familie und der sogenannten ‚Zweierbeziehungen‘. Zur Beurteilung der zivilisierenden Wirkung gegebener Zwänge bedarf es einer Berücksichtigung der entsprechenden Psychodynamik, und zwar weiter unter Berücksichtigung neuerer Ergebnisse aus psychoanalytischer Wissenschaft. Einige Ansätze solcher Fragestellungen, den weiteren Zivilisationsverlauf betreffend, werden in den nächsten Kapiteln vorgestellt.

‚Affektive Nöte‘ im Wandel „Alles, was sich heute sehen läßt, ist, daß mit der allmählichen Zivilisation eine Reihe von spezifischen Zivilisationsnöten auftreten.“67

Der Zivilisationsprozeß ist kein zweckgerichteter, sondern ein blinder Prozeß. Aus dem Ineinandergreifen der Pläne und Handlungen, der rationalen und emotionalen Regungen der einzelnen Menschen entstehen ungeplante Strukturen und Wandlungen, entsteht eine Verflechtungsordnung spezifischer Art mit einer spezifischen Eigendynamik, „eine Ordnung, die zwingender und stärker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden.“68 Dabei handelt es sich keineswegs um einen harmonischen Prozeß. Die ‚Kontinuität der großen Entwicklungslinie‘ ist durchzogen von Diskontinuitäten und Konflikten auf sozialer und psychischer Ebene. Einerseits sind es die gesellschaftlichen Auf- und Abstiegsprozesse, die gleichzeitigen Integrations- und Desintegrationsprozesse und damit einhergehende Spannungen und Konflikte als Funktion gesellschaftlicher Niveaudifferenzen, die Elias gerade als einen ‚Motor‘ gesellschaftlicher Entwicklung ausmacht. Andererseits stellt sich bei dem beschriebenen Wandel die von Elias durchaus ernstgemeinte Frage nach den ‚Grenzen der Transformierbarkeit des Seelenhaushaltes‘, nach der Ersetzbarkeit und

66 Elias 1990a: S. 177, Anm. 46 67 Elias 1989b: S. LXXX 68 Elias 1989c: S. 314

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Umformbarkeit der natürlichen Bedürfnisse69 und den damit einhergehenden soziogenen individuellen Leiden, den sogenannten ‚Zivilisationsnöten‘. Eine spezifische Form der Zivilisationsnöte hat Elias im Zusammenhang mit romantischen Bewegungen zu konzeptualisieren versucht.70 Bei der Genese romantischer Bewegungen spielt der Schub in Richtung zur umfassenderen Verwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge eine entscheidende Rolle. Gemeinsam sei den romantischen Bewegungen entsprechend „ihr Charakter als Symptom spezifischer affektiver Nöte, die mit dem Übergang zu einer jeweils umfassenderen und differenzierteren Interdependenzverflechtung und […] zu entsprechend differenzierten Herrschafts- und Selbstzwängen zusammenhängen; kraft ihrer werden affektive Ausbrüche, unkontrollierte emotionale Handlungsweisen für die derart Handelnden selbst immer gefährlicher, nämlich in immer höherem Maße durch gesellschaftliche Mißerfolge, durch staatliche Strafen und durch Gewissensstrafen bedroht.“71 Der Konflikt, welcher der romantischen Erfahrungsform zugrunde liegt, besteht darin, daß die Betroffenen die Zwänge, unter denen sie leiden, „nicht zerstören können, ohne die Grundlage und Kennzeichen ihrer gehobenen sozialen Position, ohne das, was ihrem Leben in den eigenen Augen Sinn und Wert gibt, ohne sich selbst zu zerstören.“72 In diesem Fall resultieren die Nöte aus dem Dilemma aufgestiegener Schichten in bezug auf ihre ‚Ketten‘. Neben solchen affektiven Nöten, die aus den sich wandelnden Niveaudifferenzen bzw. Selbstwertbeziehungen resultieren, wo die Unfähigkeit, den Zwängen zu entgehen, eher soziale Gründe hat, findet man in der Zivilisationstheorie Elias’ eine zweite Form, bei der diese Unfähigkeit eher der psychischen Ebene entspringt. Die Verschiebung in Richtung der letzteren Form findet statt, insofern neben der bewußten Selbstkontrolle sich zugleich und zunehmend eine ‚automatisch und blind arbeitende Selbstkontrollapparatur‘ verfestigt. Diesen Prozeß bezeichnet Elias als die ‚Verinnerlichung der Konflikte‘. Es seien diese Konflikte, die der Konditionierungsart entsprechen, die mit den mittelständisch-bürgerlichen Schichten zugleich vorherrschend wird. Und sie seien es auch, die „von den Seelentheorien der neueren Zeit, vor allem von der psychoanalytischen Theorie, 69 Vgl. Elias1989b: S. 217f. In bezug auf den menschlichen Seelenhaushalt schreibt er: „Ohne Zweifel hat er eine bestimmte Eigengesetzlichkeit, die man ‚natural‘ nennen mag. In ihrem Rahmen formt der geschichtliche Prozeß, sie gibt ihm Spielraum und setzt ihm Grenzen; und es bleibt eine Aufgabe, diese Modellierbarkeit des menschlichen Lebens und Verhaltens durch geschichtliche Prozesse näher zu bestimmen“ (ebd.). 70 Elias nimmt hier die aristokratische Romantik im Zuge der Verhofung als Fallbeispiel, aus der er versucht, den Ansatz einer Zentraltheorie romantischer Bewegungen allgemein, deren gemeinsame Struktureigentümlichkeiten herauszuarbeiten, anhand deren wiederum jeweilige Spielarten spezifiziert werden können (vgl. Elias 1990a: Kapitel VIII). 71 Elias 1990a: S. 335 72 Ebd.: S. 333

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in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden.“73 Hier übernimmt Elias explizit das psychoanalytische Menschenbild Freuds, wobei er jedoch ebenso explizit die Genese, die historische Gewordenheit, und die Dynamik, die Interdependenz mit den jeweiligen Beziehungsstrukturen, dieser neueren abendländischen Habitusform aufzeigen will, welche von der Psychoanalyse vernachlässigt worden seien. Von daher ist es nicht weiter verwunderlich, daß ihm ausgerechnet der Begriff ‚Neurose‘ zur Charakterisierung der dieser Habitusform entsprechenden Konflikte dient. „Mag sein, daß es ‚Neurosen‘ immer gegeben hat. Aber das, was wir heute als ‚Neurosen‘ um uns herum beobachten, ist eine bestimmte, historisch gewordene Gestalt des psychischen Konflikts, die der psychogenetischen und soziogenetischen Aufhellung bedarf.“74

‚Neurotische‘ Verhaltens- und Empfindensmuster als Symptome unbewußter psychischer Konflikte – Elias nennt hier ‚Zwangshandlungen und andere Störungserscheinungen‘ – stellen nur eine Bewältigungsmöglichkeit dar, denn aus „der gleichen, gesellschaftlichen Prägeapparatur gehen in einer breiten Streuungskurve günstiger und ungünstiger gelagerte, menschliche Prägungen hervor.“75 Natürlich verweist Elias u.a. auch auf den Vorgang der Sublimierung, der – mit Blick auf seine FreudOrientiertheit und trotz seiner Freud-Kritik – zentral für seine Zivilisationstheorie ist.76 Grundsätzlich ist jedoch mit Elias zu betonen, daß der individuelle Zivilisationsprozeß ebenso wie der gesellschaftliche blind verläuft. In dem Maße, in dem die Kleinfamilie zur primären ‚Produktionsstätte des Triebverzichts‘ wird, läßt sich der individuelle Zivilisationsprozeß als blindes Ineinandergreifen der Gewohnheiten von Kind und Eltern beschreiben: „Die soziogenen Triebfiguren und Gewohnheiten der Eltern lösen Triebfiguren und Gewohnheiten bei dem Kind aus, die – je nach dem – in der gleichen oder 73 74 75 76

Elias 1989b: S. 204 Ebd.: S. 204 Elias 1989c: S. 333 „Menschen sind nicht von Natur aus zivilisiert, aber sie haben von Natur aus eine Anlage, die unter bestimmten Bedingungen eine Zivilisierung, also eine individuelle Selbstregulierung momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse oder deren Umleitung von den primären auf sekundäre Ziele hin und gegebenenfalls auch deren sublimatorische Umgestaltung, möglich macht. (Es ist kaum nötig, aber vielleicht nützlich zu sagen, daß bei dem Begriff der bildsamen, sublimationsfähigen menschlichen Triebimpulse Sigmund und Anna Freud Pate standen“ (ebd.: S. 382). An anderer Stelle ist von der Umleitung und Verwandlung einzelner Triebenergien die Rede, die „statt in gesellschaftlich nutzlosen Zwangshandlungen, statt in Vorlieben und Gewohnheiten, die als absonderlich gelten, in einer individuell höchst befriedigenden und gesellschaftlich höchst fruchtbaren Tätigkeit oder Begabung ihren Ausdruck finden“ (ebd.: S. 333).

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auch in einer ganz anderen Richtung liegen, als die Eltern es entsprechend ihrer Konditionierung wünschen oder voraussehen. Die Verflechtung von Gewohnheiten der Eltern und der Kinder, in der der Triebhaushalt des Kindes langsam seine Modellierung, seinen Charakter erhält, ist mit anderen Worten zum geringsten ‚rational‘ bestimmt.“77

Sicherlich ist der Aussagewert solcher Gedanken nicht besonders hoch. Ich führe sie hier dennoch an, da sie für mich ein Indiz dafür darstellen, daß Elias sich über den Fortgang des abendländischen Zivilisationsprozesses keineswegs sicher war, und da ich meine, daß solche Problematisierungen nicht nur Randbemerkungen sind, sondern integraler Bestandteil seiner Zivilisationstheorie, der höchst theorie- und praxisrelevant ist. Wie dem auch sei, es ist an dieser Stelle neben den ‚Neurosen‘ noch eine Form von Zivilisationsnöten zu nennen, die im letzten Jahrhundert in der soziologischen und gründlicher in der psychoanalytischen Literatur besondere Beachtung erfahren hat. Mit der zunehmenden psychischen Differenzierung und der Herausbildung eines stabilen Über-Ich, so stellt Elias zunächst allgemein fest, „wird das Leben in gewissem Sinne gefahrloser, aber auch affekt- oder lustloser, mindestens, was die unmittelbare Äußerung des Lustverlangens angeht […]“.78 Die beständigen und allseitigen Selbstzwänge erzeugen im Einzelnen je nach gesellschaftlicher Funktion und Position „eigentümliche Spannungen und Störungen im Verhalten und Triebleben des Individuums; sie führen unter Umständen zu einer beständigen Unruhe und Unbefriedigtheit des Menschen, eben weil ein Teil seiner Neigungen und Triebe nur noch in verwandelter Form, etwa in der Phantasie, im Zusehen oder Zuhören, im Tag- oder Nachttraum Befriedigung finden kann […]“.79 Bei einem spezifischen Verlauf jedoch kann diese Tendenz ebenfalls pathologische Gestalt annehmen: „[…] und manchmal geht die Gewöhnung an eine Affektdämpfung so weit – beständige Gefühle der Langeweile oder Einsamkeitsempfindungen sind Beispiele dafür – daß dem einzelnen eine furchtlose Äußerung der verwandelten Affekte, eine geradlinige Befriedigung der zurückgedrängten Triebe in keiner Form mehr möglich ist. Einzelne Triebzweige werden in solchen Fällen durch einen spezifischen Aufbau des Beziehungsgeflechts, in dem der Mensch als Kind heranwächst, gewissermaßen anästhesiert; sie umgeben sich unter dem Druck der Gefahren, die ihre Äußerung im kindlichen Gesellschaftsraum mit sich bringen, dermaßen mit automatisch auftretenden Ängsten, daß sie unter Umständen für ein ganzes Leben taub und unansprechbar bleiben.“80

77 78 79 80

Elias 1989b: S. 260 Elias 1989c: S. 330 Ebd.: S. 332 Ebd.: S. 332

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Elias beschreibt hier jedenfalls ein Phänomen, das in abgewandelter Form bei anderen Autoren wiederkehrt. Während die ‚Neurose‘ gerade in einer ‚psychogenen Affektion‘81 besteht, diagnostiziert Elias in diesem Fall eine Tendenz der Unfähigkeit zur Affektion. Obwohl Elias an dieser Stelle allgemein von ‚Zivilisationsnöten‘ spricht, fasse ich dieses Phänomen unter dem von ihm im Zusammenhang mit der aristokratischen Romantik eingeführten Ausdruck ‚affektive Nöte‘ zusammen. Denn eine derartige Umgestaltung bleibt nicht ohne Konsequenzen für die affektiven Valenzen, die Elias als so grundlegend für das menschliche Sein ansieht. Den Stellenwert dieses hier ansatzweise beschriebenen Empfindensmusters im Zivilisationsprozeß hat Elias nicht konsequent ausgearbeitet. Die Relevanz, die es für ihn besitzt, wird eher daran deutlich, daß es in Gestalt der homoclausus-Problematik sein gesamtes Werk durchzieht. Allerdings beschäftigt sich Elias vielmehr mit der Soziogenese und den erkenntnistheoretischen Konsequenzen dieses Empfindensmusters, als mit seiner Struktur und Dynamik im Sinne einer sozialen Persönlichkeitsstruktur. Dennoch folgt einem anfänglichen Schwanken – „es ist eine offene Frage, wie weit das Gefühl der Vereinzelung und Entfremdung auf Ungeschick und Unwissenheit bei der Entwicklung individueller Selbstkontrollen, wie weit es auf Struktureigentümlichkeiten entwickelterer Gesellschaften zurückgeht“82 – dann doch noch der Ansatz einer Konzeptualisierung dieses Empfindensmusters als spezifische Habitusform entwickelterer Gesellschaften.

‚homo clausus‘ In einem sehr interessanten Gespräch hat Wolfgang Engler versucht, eine der heute relevantesten Fragen an die Zivilisationstheorie mit Elias zu erörtern. Die Frage richtet sich auf die Bedingung der Möglichkeit der Verwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge angesichts der Verlängerung und Differenzierung der Handlungsketten. Engler verweist auf die Begleit- und Folgeprozesse der Verlängerung der Interdependenzketten und deren Relevanz für Prozesse der Gewissensbildung: Bildet nicht eine „gleichzeitige Streckung der emotionalen Bande zwischen den Menschen bis zu dem Punkt, wo sie zu reißen drohen […]“,83 die andere Seite dieser 81 Die Definition der Neurose bei Laplanche/Pontalis lautet: „Psychogene Affektion, deren Symptome symbolischer Ausdruck eines psychischen Konflikts sind, der seine Wurzeln in der frühen Kindheitsgeschichte des Subjekts hat; die Symptome sind Kompromißbildungen zwischen dem Wunsch und der Abwehr“ (Laplanche/Pontalis 1994: S.325). Allgemein läßt sich ergänzen, daß die Neurose als ‚reife‘ Störung verstanden wird, die von den unreifen, wie z.B. Psychosen als Konflikt von Ich und Außenwelt, unterschieden wird. Die Reife bezieht sich hier auf das Entwicklungsniveau der Persönlichkeitsstruktur (Vgl. Henningsen 2000). 82 Elias 1989b: S. LXVI 83 Engler 1989: S. 750

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Entwicklung? Besteht nicht das heutige Problem der Gewissensbildung in entwickelteren Gesellschaften in einer ‚wachsenden Entkoppelung von subjektiven Handlungsplänen und objektiven Handlungsfolgen‘? Wie ist es zivilisationstheoretisch zu erklären, daß die natürlichen und sozialen Fremdzwänge der menschlichen Existenz psychisch kaum verhaltenswirksam werden? Elias jedoch hält nach wie vor daran fest, daß eine Verlängerung der Interdependenzketten die Gewissenbildung vereinfachen könne.84 Was ihn vielmehr beunruhige, sei die mit dieser Entwicklung einhergehende ‚Überindividualisierung‘.85 Was mag das sein? Elias konstatiert und kritisiert in den Menschenwissenschaften, in psychologischen und psychoanalytischen Denk- und Sprachkonventionen ebenso wie in philosophischen und soziologischen, ein Menschenbild, das er als homo clausus bezeichnet. Mit dieser Kritik geht es ihm um die Korrektur des statischen Bildes eines isolierten Menschen, der von anderen durch eine unsichtbare Mauer getrennt, von der ‚Umwelt‘ umgeben wird. Am anschaulichsten zeichnet Elias dieses Menschenbild in einer lustigen Metapher nach: „Das durch derartige Sprach- und Denkkonventionen heraufbeschworene Bild ist das einer hohen Mauer um ein einzelnes Individuum herum, von der herab geheimnisvolle Zwerge – die ‚Umwelteinflüsse‘ – kleine Gummibälle nach dem Betreffenden werfen, die bei ihm ‚Ein-drücke‘ hinterlassen.“86

Diesem Menschenbild entspricht ein bestimmtes Grunderleben der Menschen, das seit der frühen Neuzeit über einzelne Personen und wissenschaftliche Fächer hinaus eine außerordentliche Beharrlichkeit zeige.87 Es sei das Erleben der eigenen Person als wir-loses Ich. Und es sei dieses Grunderleben, das dem genannten Menschenbild seine Kraft verleihe. Während das Menschenbild schlicht unangemessen sei und der Korrektur bedürfe, sei das ihm zugrundeliegende Erleben echt und verdiene ebenfalls Würdigung. Die Genese der ‚unsichtbaren Mauer‘ im Zusammenhang mit der spezifisch abendländischen Gewissensbildung wurde oben schon angesprochen. Elias beschreibt diese Wahrnehmung als Verdinglichung des Distanzierungsaktes als tatsächlich vorhandene Distanz.88 Mit Damasio 84 Vgl. ebd.: 751f. Es ist wohl nicht unwichtig, daß Elias mit der Verlängerung der Interdependenzketten gleichzeitig die Möglichkeit der Entwicklung einer ‚Menschheitsautorität‘ ins Auge faßt: „Ich sehe keinen Grund zu der Annahme, daß, wenn es einmal eine Menschheitsautorität geben sollte, die Gewissensbildung irgendwelche Grenzen aufweisen könnte, die dieser Menschheitsautorität, weil die Interdependenzketten zu lang sind, nicht mehr folgen könnten“ (ebd.: S. 750). Auf die Frage der Gewissensbildung bis dahin läßt er sich nicht ein. 85 Vgl. ebd.: S. 752 86 Elias 1972: S. 18 87 Vgl. Elias 1988: S. 265 88 Vgl. u.a. Elias 1989b: S. 60

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könnte man sagen, die erlebte Distanz zwischen den Menschen wird verkörperlicht, um dann in Form der Selbstwahrnehmung als ‚homo clausus‘ wieder vergeistigt zu werden, im Sinne eines speziellen Empfindensmusters. Doch obwohl Elias diese Form des Selbst- und Fremderlebens als Funktion dieser Gewissensbildung versteht, ohne ihre Folgen selbst für die Gewissensbildung zu erfragen, liefert er eine Grundlage, um den anfangs von Engler gestellten Fragen näher zukommen. In seinem Aufsatz ‚Wandlungen der Wir-Ich-Balance‘ vollzieht Elias meiner Ansicht nach eine Erweiterung bzw. Fortsetzung seines Entwurfs zu einer Theorie der Zivilisation, auch wenn es sich dabei lediglich um eine grobe und kurze Skizze handelt: Während die Struktur neuerer Beziehungsgeflechte, die gesellschaftlichen Bedingungen dieses Selbsterlebens, von einer zunehmenden Impermanenz und Auswechselbarkeit charakterisiert sind, steht das Subjekt dieses Erlebens einerseits unter einem erhöhten Zwang zur Selbstregulierung, der von solchen Beziehungsformen ausgeht. Die Ansprüche an die Persönlichkeitsstruktur benennt Elias weiterhin mit erhöhter Umsicht, bewußteren Formen der Selbstregulierung, einer Verringerung der Spontaneität im Handeln wie im Sprechen bei der Gestaltung und Handhabung von Beziehungen überhaupt, aber auch – und hier ist eine neue Form der Psychologisierung im Gange – mit dem Zwang zu einer ständigen Bestandsaufnahme bzw. Beziehungs- und Selbstprüfung.89 Den dieses Persönlichkeitsmuster kennzeichnenden Konflikt sieht Elias nicht mehr in erster Linie in einem unbewußten psychischen Konflikt im Freudschen Sinne. Der Konflikt besteht in diesem Fall vielmehr zwischen dem Verlangen nach ‚Geben und Nehmen in affektiven Beziehungen‘ zu anderen Menschen und der Unfähigkeit, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Es sei ein ‚persönliches Leiden‘, das die Menschen an der Möglichkeit genuiner Empfindungen für andere Menschen hindere. Und dieses Leiden stelle ein Habitus-Problem, einen ‚Grundzug der sozialen Persönlichkeitsstruktur von Menschen der neueren Zeit‘ dar:90 „Die Gewohnheit der Umsicht und Vorsicht in der Gestaltung von Beziehungen hat in solchen Fällen nicht das Verlangen nach dem Geben und Empfangen von Gefühlswärme und Bindung in der Beziehung zu anderen Menschen erstickt, wohl aber die Möglichkeit, sie selbst sei es zu geben, sei es zu empfangen.“91

Einen anderen Strang dieses Distanzierungsprozesses zeigt Elias am Wandel des Verhältnisses von Wirklichkeit und Illusion im Laufe der Psychogenese zivilisierterer Verhaltens- und Empfindensmuster auf. Auf einer frühen Bewußtseinsstufe sei die Basis für das, was als wirklich gilt, eine affektive Basis. Es sei der Charakter der affektiven Vorstellungen in bezug 89 Vgl. Elias 1988: S. 272f 90 Vgl. ebd.: S. 268f 91 Ebd.: S. 273

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auf Menschen und Dinge, die diesen ihre Identität verleihe. Bei hohem ‚Affiziertsein‘ wird etwas oder jemand als mächtig erlebt „und ein entscheidender Faktor in dem, was Menschen als ‚wirklich‘ bewerten, ist und bleibt dieses Element der Macht.“92 Die Rationalisierung im Sinne affektfreierer Wahrnehmung und eine Verringerung der Machtdifferentiale in bezug auf die außermenschliche Natur und die zwischenmenschlichen Beziehungen sind für Elias interdependente Prozesse. Diese Interdependenz resultiert einfach gesagt aus folgendem Sachverhalt: Während eine Verringerung der Machtdifferentiale eine Verringerung der Bedrohung bedeutet, die vom Wahrgenommenen ausgeht, und so zu einer niedrigeren Affektivität führt, wird mit der niedrigeren Affektivität eine angemessenere Wahrnehmung möglich,93 die wiederum mehr Kontrolle ermöglicht usw.. Die zunehmende ‚Panzerung‘ der Menschen erhöht einerseits die Kontrolle der Menschen über sich selbst, über Natur und Menschenwelt, während gleichzeitig, und dies sei eine der großen Paradoxien der ganzen Epoche seit der Renaissance bis in unsere Tage, „immer von neuem in den verschiedensten Formen als stehendes Leitmotiv dieser ganzen Periode die Frage auftaucht, was denn nun eigentlich wirklich, real, objektiv […] sei, und was lediglich menschlicher Gedanke, Kunstprodukt, Illusion, kurzum nur ‚subjektiv‘ und in diesem Sinne unwirklich.“94 Letztere Tendenz ist genauso Funktion der Panzerung wie die Kontrollen, es ist das durch die ‚Panzerung‘ erzeugte Gefühl der Getrenntheit, „so daß sie nicht in der Lage sind, sich selbst in überzeugender Weise Rechenschaft davon abzugeben, daß dasjenige, was durch ihren Panzer zu ihnen hindurchdringt, nicht […] unwirklich ist.“95 Auch an dieser Tendenz weist Elias verschiedene Phasen auf. Während die Suche nach dem, ‚was die eigene Existenz verbürge‘ nach ‚Innen‘ gerichtet anhält, wandelt sich der Zweifel an der Existenz der Außenwelt mit der Zeit zu einer Verzweiflung. Eine verzweifelte Suche im Innern beginnt. Begleitet ist diese Suche von einem beständigen Gefühl der Isoliertheit und Verlassenheit.96 Auch diese Tendenz weist in ihrer Fortsetzung über die erkenntnistheoretische Relevanz hinaus eine oft unermessene Bedeutung auf psycho- und beziehungsdynamischer 92 Elias 1990a: 372. Dieser Zusammenhang der Dynamik von Macht, Affekt und Wahrnehmung wird von Elias mit dem Begriff ‚Doppelbinder‘ konzeptualisiert (vgl. Elias 1987). 93 Mit starker Gewöhnung an Langsicht und Zurückhaltung der Affekte erst „lichtet sich der Schleier ein wenig, den die Leidenschaften vor das Auge legen, und dem Blick eröffnet sich eine neue Welt, die freundlich oder feindlich für den einzelnen Menschen verläuft, ohne daß es unmittelbar feindlich oder freundlich für ihn gemeint zu sein braucht […]“ (Elias 1989c: S. 373). 94 Elias 1990a: S. 371 95 Ebd.: S. 371 96 Vgl. Elias 1988: S. 264-269. Elias bezieht sich hier auf Beispiele, die er aus literarisch-philosophischen Schriften entnimmt: „Immer von neuem taucht dieses Thema in der Literatur auf, und immer von neuem findet es Resonanz“ (ebd.: S. 267).

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Ebene auf. Die Unfähigkeit zum affektiven Austausch und die verzweifelte Suche im Innern nach etwas Realem charakterisieren tendenziell den von Elias beschriebenen Habitus des wir-losen Ich als Produkt des abendländischen Zivilisationsprozesses.

c) Resümee und Ausblick Die Psychoanalyse in der Zivilisationstheorie Was Elias in der Zivilisationstheorie macht, ist folgendes: Er übernimmt das Vokabular Freuds in bezug auf die Beschaffenheit und Modellierbarkeit des Menschen und zieht es zum Verständnis der Sozio- und Psychogenese einer bestimmten Habitusform – der abendländisch zivilisierten Verhaltens- und Empfindensmuster – heran, anhand derer und aus der heraus Freud sein Konzept ja gerade entwickelt hat. In gewissem Sinne schließt sich so der Kreis. Die Fokussierung auf die Genese eines bestimmten sozialen Habitus ist bedingt durch und reproduziert weiterhin eine gesellschaftsspezifisch gestaltete Sicht auf den Menschen. Sowohl in Freuds Psychoanalyse als auch in Elias’ Zivilisationstheorie steht das problematische Verhältnis von Individuum und Gesellschaft und die konfliktbehaftete Verarbeitung bestimmter Formen gesellschaftlicher Zwänge durch das Individuum im Vordergrund. Diese Schwerpunktsetzung und Fokussierung ist nicht zuletzt dem sozialen Habitus der Forscher selbst, ihrer spezifischen Art der Wahrnehmung und Problematisierung bestimmter sozialer und psychischer Verhältnisse geschuldet.97 Die explizite Prozessualisierung des abendländischen Habitus und die Ausarbeitung seiner Soziogenese ist sicherlich ein fruchtbarer Schritt der Zivilisationstheorie, wenn auch nur ein Ansatz auf dem Weg zum Verständnis westlicher Gegenwartsgesellschaften gewesen. Wie ist nun darüber hinaus die Übernahme und Weiterentwicklung der Psychoanalyse durch Elias aus heutiger Sicht zu bewerten? Ein in diesem Zusammenhang hilfreicher Beitrag stammt von Rainer Krause, der vom heutigen Erkenntnisstand aus einige zentrale Konzepte Freuds einer Prüfung unterzogen hat. Da wäre zunächst Freuds Konzept von Trieb und Affekt zu nennen. Was den wissenschaftlichen Entstehungszusammenhang des Triebkonzepts angeht, so ist dieser nach Krause zunächst gekennzeichnet durch einen niedrigen Erkenntnisstand der Biologie menschlichen Verhaltens. So habe Freud versucht, in Ermangelung einer humanethologischen Wissenschaft, die Physiologie als Beschreibungsheuristik anzuwenden, und zwar speziell die Reflexphysiologie, wo97 Elias geht trotz der beträchtlichen Unterschiede von einer grundsätzlichen Kompatibilität seiner Theorie mit Freuds Psychoanalyse aus (vgl. Elias 1989b: S. 324, Anm. 77).

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bei er sich am Beispiel des reflektorischen Wegziehens eines Organs bei Schmerzreizung orientiert habe,98 woraus sich dann drei Spezifika der Triebreize ergeben, „nämlich die Wirkung von Innen, die Dauerhaftigkeit der Wirkung und die Unmöglichkeit, sich durch motorische Flucht zu entziehen.“99 Neben diesem vermeintlich biologischen Triebbegriff entwikkelt Freud einen explizit psychischen: „Das Reflexgeschehen wird zum grundlegenden Prinzip alles Lebendigen erklärt und mit einem explizit ‚psychologischen‘ Geschehen, nämlich dem Erleben von Lust und Unlust verknüpft, dergestalt, daß Reizverminderung Lust, Reizsteigerung hingegen Unlust schaffe.“100

Diese beiden problematischen Triebbegriffe bleiben unvermittelt nebeneinander bestehen. Die Problematik ergibt sich einerseits aus der einseitig naturwissenschaftlichen Orientierung. So weist Krause korrigierend u.a. darauf hin, daß „die Natur den Menschen von Beginn an mit einer erblich festgelegten reflektorischen Reaktion der Hinwendung zum Reiz im Sinne von Orientierungsreaktionen ausgerüstet hat.“101 Durch die individualistisch eingeschränkte Sicht blieben außerdem gerade die Biologie und Psychologie ‚lustvoller sozialer Interaktionen‘ unberücksichtigt.102 Andererseits ergibt sich das Problematische daraus, daß die psychologischen Triebrepräsentanzen in Form von ‚Wünschen‘, als Ausdruck individueller Intentionalität biologisch nicht verankert werden können. Das Resultat ist eine „seltsame Körperferne der Psychoanalyse“, welche eben „mit diesem Verzicht auf die Untersuchung der Quellen und die Beschränkung auf die mentalen Repräsentanzen zu tun haben [mag].“103 Entsprechend unzulänglich sei die Gleichsetzung der Affekte mit Lust und Unlust. Die menschlichen Affekte als Folge von Triebhandlungen zu definieren läuft ihrer anthropologischen Beschaffenheit zuwider: „Affekte sind autochtone biologische Prozesse, die sich in der Evolution zeitlich parallel zum Verschwinden bzw. der Reduktion instinktiver Verhaltensweisen entwickelt haben, so daß der Mensch, als das am wenigsten instinktmäßig festgelegte Lebewesen, gleichzeitig dasjenige mit dem reichhaltigsten und intensivsten Affekt(er)leben ist.“104

98 Vgl. Krause 1998: S. 10 99 Ebd.: S. 11 100 Ebd.: S. 11f 101 Ebd.: S. 12, Herv.i.O. 102 Ebd.: S. 12 103 Ebd.: S. 14, ausführlicher zu Freuds Triebbegriff und der Entwicklung seiner Triebtheorie s. Nagera (1993) 104 Krause 1998: S. 14. So gibt „es Lust ohne Affekt, Affekt ohne Lust und Affekt-Lust wie auch Lustaffekte“ (ebd.: S. 22).

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Die ‚Negierung der sozialen Anteile des Affektes‘105 ähnlich wie in der Triebdefinition haben weitreichende Folgen für das Menschenbild der psychoanalytischen Theorie, welches Krause zusammenfassend folgendermaßen charakterisiert: „Es zeigt sich hier das grundlegende Problem, daß schon in der damaligen Theoriebildung die Physiologie als scheinbar biologische Heuristik falsche Modelle lieferte, die notwendigerweise in eine Art Monadenregulationssystem hineinführen mußten, nach dem der Mensch eine in sich geschlossene Einheit darstellt, die sich nur höchst widerwillig ‚öffnet‘.“106

Wie bereits dargelegt, versucht Elias, gerade dieses Menschenbild zu korrigieren. Zum Verständnis seiner Genese jedoch rekurriert er auf ein anderes Konzept Freuds, nämlich der Über-Ich-Bildung, die für Freud eng mit der Konstatierung eines ödipalen Konfliktes zusammenhängt. Der Stellenwert des sogenannten ‚Ödipuskomplexes‘ ist wohlbekannt. „Im klassischen Modell“, so Krause, wird im ödipalen Konflikt einerseits „die Hauptbezugsachse der psychoanalytischen Psychopathologie gesehen und jede Störung relativ zum Ödipuskomplex bestimmt“, anderseits „wird das Dreieck des Ödipuskomplexes für ein humanspezifisches Radikal, das in allen Kulturen wiederzufinden sei, gehalten.“107 Hier sei zunächst mit Krause festgehalten, daß unbeschadet der Existenz der von Freud beschriebenen ödipalen Konflikte die These von ihrer Ubiquität ebenso wenig haltbar ist wie die Unterstellung ‚typischer humanspezifischer an phylogenetisch vorgezeichneten Sexualentwicklungen und -phantasmen gebundener Abläufe‘. Das von Freud entwickelte Modell der Über-IchEntwicklung ist zwar nicht falsch, kann aber auch keine Allgemeingültigkeit beanspruchen.108 Vielmehr hängt die Wahrscheinlichkeit solcher Entwicklungen eng mit gesellschaftlichen Macht- und Beziehungsstrukturen zusammen, die Freud jedoch nicht reflektiert.109 Weiter ist die Ausgestal105 106 107 108 109

Vgl. ebd.: S. 25f Ebd.: S. 13 Ebd.: S. 99 Ebd.: S. 123 Im Zusammenhang mit dem Ödipuskomplex hat Elias aus seiner figurationstheoretischen Sicht auf diesen Sachverhalt am Rande hingewiesen: „Es bedarf weitgehender Figurationsanalysen von Vätern und Söhnen, um herauszufinden, in welchem Maß das Gefühl des Sohnes von Rivalität und Eifersucht gegenüber dem Vater, wie sie Freud bei seinen Patienten entdeckte, zugleich auch eine Reaktion auf die Rivalität und Neidgefühle des Vaters gegenüber dem Sohn sind. […] Die Verwendung dieser Sage als theoretisches Modell scheint solange unvollkommen zu sein, wie die Rolle nicht eingehender untersucht worden ist, die die Dynamik dieser Figuration durch die Interdependenz der Affekte zwischen dem Sohn, der anfangs schwach, dann aber immer stärker wird, und dem Vater, der zunächst stark, dann aber zunehmend schwächer wird, spielt“ (Elias/Dunning 1983: S. 46, Anm. 22). Auch der Stand des Staatsbildungsprozesses und entsprechend

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tung ödipaler Konflikte in präödipalen Strukturen angelegt,110 die die Entwicklung des Selbst als Grundlage jeglicher Überich-Bildung betreffen. Der inneren Strukturbildung geht stets die Interaktion voraus. Ferner führt Elias zur Überwindung der Vorstellung eines ‚Monadenregulationssystems‘ die Vorstellung von ‚Trieb- und Affektinterdependenzen‘ ein. Der Vorstellung von einem selbstgenügsamen Subjekt setzt er die ‚affektiven Valenzen‘ als grundlegendes Merkmal von Menschen entgegen. Von einer Körperferne der Zivilisationstheorie kann keine Rede sein, vielmehr werden die beschriebenen Teilprozesse stets in bezug auf den Körper gedacht. Die Beschreibung individueller Zivilisationsprozesse als Konditionierungsprozesse u.a. bezeugt dies. Konditionierungsprozesse stellen, wie im ersten Kapitel bereits ausgeführt, die grundlegenden Lernprozesse in bezug auf die menschliche Verhaltenssteuerung dar. Krause unterscheidet aus neuerer Sicht zwei Formen der Konditionierung. Die klassische Form ist die, in der neutrale Stimuluskonfigurationen „durch die annähernd zeitgleiche (wiederholte) Entwicklung eines Angstaffektes die Fähigkeit zur Auslösung des affektiven Verhaltens gewinnen“,111 wobei die Vermeidung dieser Stimuluskonfiguration später belohnende Wirkung hat. Dabei müsse es sich jedoch nicht immer um Furchtkonditionierungen handeln, diese sind lediglich die meist untersuchten, auch andere Reaktionsmuster können auf diese Weise erlernt werden.112 Diese klassische Form wird ergänzt um das sogenannte ‚social referencing‘, bei dem es sich um „einen Vorgang [handelt], durch den die Wahrnehmung der Objektwelt, aber auch des Selbst nach Maßgabe der Affekte der signifikanten Bezugsperson bestimmt wird“,113 handelt. Demnach extrahieren die Kleinkinder die affektiven Informationen aus den Reaktionsweisen der anderen Personen und wenden sie auf das Selbst und die unbekannte Objektwelt an.114 Die zweite Lernform ist die ‚operante Konditionierung‘, durch die das affektive Ausdrucksmuster und sekundär das Erleben modifiziert wird, wobei sowohl Hemmung als auch Löschung als Möglichkeiten genannt werden.115 Neben diesen Lernformen werden u.a. die für solche Lernpro-

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der Stellenwert physischer Stärke seien zum Verständnis einer solchen Figuration von Bedeutung (ebd.). Krause weist in diesem Zusammenhang ähnlich zumindest auf die Möglichkeit hin, daß bestimmte Phasen des als ödipal bezeichneten Verlaufs Folge der realen Handlungen der Eltern und nicht Niederschlag autochthon entwickelter phylogenetisch vorgezeichneter Kinderphantasien seien, somit dann aber spezifisch für eine Gruppe traumatisierter Patienten und nicht für den Rest der Bevölkerung (vgl. Krause 1998: S. 109). Vgl. ebd.: S. 113 Ebd.: S. 51 Vgl. ebd. Ebd.: S. 52 Vgl. ebd. Vgl. ebd.: S. 52. Auf diese Weise können sogenannte individuelle ‚Gefühlsdrehbücher‘ entstehen. Dazu ein Beispiel: „Auf Schmerz ist eine natürliche affektive Reaktion Angst. Auf die Angstreaktion kann nun eine

BEITRAG DER ZIVILISATIONSTHEORIE | 103

zesse relevanten Mechanismen ‚Affektansteckung‘, ‚Affektinduktion‘ und ‚Affektabstimmung‘ genannt. Während mit Affektansteckung die Herstellung gleichsinniger Kreisreaktionen durch interaktive Synchronisierung,116 mit Affektinduktion die Herstellung verschiedensinniger interdependenter Affektzustände im Zuge der Interaktion gemeint ist, dient die Affektabstimmung auf allgemeinerer Ebene der Kommunikation und ist Teil dieser. So könne man z.B. zeigen, „daß die wechselseitige Rede, der wechselseitige Blickkontakt und die Intensität und Qualität des affektiven Signalisierens in einer Dyade hochgradig geordnet abläuft und auch ablaufen muß, wenn es nicht zu einem Zusammenbruch des Dialogs kommen soll […]. Die Bedeutung der mimischen Signale verändert sich in Abhängigkeit von dem, was der andere gemacht hat und was man selbst im Moment macht und vorher gemacht hat.“117 Auch wenn die affektive Entwicklung mit zunehmender Reife immer stärker an die kognitive angebunden wird, so bleibt die Affektivität in ihrer jeweils modifizierten Form doch verhaltensund beziehungssteuernd wirksam. Der Gedanke, „daß das Erlernen bzw. Verlernen von Affekten und das Teilen derselben mit anderen möglicherweise sehr weitreichende Konsequenzen für die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden haben kann“,118 daß die menschliche Affektivität nicht lediglich in Zusammenhang mit gesellschaftsspezifischer ‚Irrationalität‘ eine Rolle spielt, daß sie zivilisationstheoretisch nicht bloß als Gegenspieler von ‚langfristigeren gedanklichen Modellen der beobachtbaren Realitätszusammenhänge‘ zu denken ist, ist bei Elias wohl angelegt. Eine Verschiebung in der labilen Spannungsbalance zwischen kurzfristigeren affektiven und langfristigeren realitätszugewandten Direktiven des Verhaltens zugunsten der letzteren führt, so schreibt er, zu rationalerem Verhalten, „vorausgesetzt, daß die Kontrolle der affektiven Direktiven nicht zu weit geht; denn deren Druck und Sättigung selbst bildet ein integrales Bestandstück der menschlichen Realität.“119 Die Rede vom ‚überindividualisierten Menschen‘ und sein Konzept des ‚homo clausus‘ weisen in die gleiche Richtung. Es ergeben sich aufgrund des bisher Ausgeführten folgende Korrektur- und Ergänzungsnotwendigkeiten: 1. Wenn Elias die Habitusform von Menschen entwickelterer Gesellschaften problematisiert, dann tut er dies vor allem in bezug auf das ‚Wohlbefinden‘ des Einzelnen und der ‚Gesellschaft‘ und eine eventuelle Überlastung des Einzelnen, was der Begriff ‚Überindividualisierung‘ zum Aus-

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Verachtungsreaktion der Umgebung folgen, so daß sich in einer Art Kettenbildung Schmerz mit Scham verbindet, wobei der vermittelnde Teil unter dem Einfluß der operanten Konditionierung den Zugang zum Verhalten und Erleben verliert“ (ebd.). Vgl. ebd.: S. 54 Ebd.: S. 55 Ebd.: S. 56 Elias 1990a: 140f

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druck bringen soll.120 Mit der für das sogenannte wir-lose Ich charakteristischen Unfähigkeit zum affektiven Austausch beschreibt Elias zwar einen tendenziellen Verlust der affektiven Realisierungs- und Beziehungssteuerungsfunktion, jedoch wird die daraus erwachsende Psychodynamik einer solchen Persönlichkeitsstruktur in Interdependenz mit der jeweiligen Beziehungsdynamik nicht vertieft. Vor allem die Folgen einer solchen Entwicklung für die Gewissensbildung werden ausgeblendet. 2. Dies hängt mit einem grundlegenderen Problem in der Zivilisationstheorie zusammen, die im Hinblick auf Funktion und Dynamik der menschlichen Affektivität gespalten ist. Der Relevanz der Affektivität wird auf anthropologischer Ebene Rechnung getragen, sie wird jedoch im Hinblick auf Gesellschaftsspezifität und individuelle Zivilisationsprozesse nicht genügend konzeptualisiert. Elias schenkt der Tatsache, daß ein Begleit- und Folgephänomen der Überich-Bildung eine Affektmodellierung in einer bestimmten Richtung ist, mehr Aufmerksamkeit als der Tatsache, daß die Über-Ich-Entwicklung (und sein Fortbestehen) der Affektivität bedarf. Frijda hat den letzteren Sachverhalt in dem einfachen Satz zusammengefaßt: „Emotionskontrolle ist meist selbst eine emotionale Reaktion.“121 Mit dem Anstieg der Scham- und Peinlichkeitsschwellen und der Rede von der ‚Mauer der Affekte‘ werden solche Funktion und Dynamik der Affekte angesprochen. Die einfache Frage bleibt jedoch, ob diese Grenzsignale lediglich bei fortgeschrittener Über-Ich-Bildung, Habitualisierung und Automatisierung als solche fungieren (als Mauer, Wall, Ring usw.), bzw. wo sie bleiben, wenn die Über-Ich-Bildung nicht so weit fortgeschritten ist. Im Hinblick auf die Kulturabhängigkeit der menschlichen Verhaltenssteuerung sind Art und Stärke der als ‚Panzerung‘ bezeichneten automatisierten Selbstzwänge und ihre Konsequenzen tatsächlich entscheidend. Wie und unter welchen Bedingungen wird die Panzerung, dieser ‚Ring der Selbstzwänge, der sich um das Verhalten der Menschen legt‘, aufgebaut, aufrechterhalten und verändert? 3. Die These von der Verminderung der Affektäußerung bis zu einem Fernbleiben der Affekte im Erleben der Menschen im Zuge des Zivilisationsprozesses beruht notwendigerweise auf einem vereinfachten Prozeßmodell. Im Groben mag Elias damit Entwicklungstendenzen aufgezeigt haben und hat dies m. E. auch. Tatsächlich geht man nach Krause heute davon aus, daß die verschiedenen Emotionskomponenten weitgehend unabhängig voneinander funktionieren können.122 Wenn es jedoch um die

120 Vgl. Engler 1989: S. 752 121 Frijda 1996: S. 217 122 Vgl. Krause 1998: S. 27. Die Verwendung des Begriffs ‚Modul‘ statt ‚Komponente‘ soll eben diese relative Unabhängigkeit zum Ausdruck bringen.

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Modifizierung der Emotionen im Zuge individueller und gesellschaftlicher Zivilisationsprozesse geht, dann gilt es die ‚dynamische, interaktionelle modulare Struktur‘ der Emotionen zu berücksichtigen.123 D.h., es geht darum zu zeigen, welches Profil von affektiven Modulen von einer Person aufgrund seiner biologischen und sozialen Disposition in einer bestimmten Situation entwickelt wird, es geht also um das Zusammenwirken der Module in Interdependenz mit dem Gegenüber.124 Entsprechend wäre der ‚gesunde Normalfall‘ dadurch definiert, „daß die Personen in der Beziehungsgestaltung mit einer anderen Person relativ frei über die Verbindung der einzelnen Module verfügen könnten, daß beispielsweise das eigene Erleben vom Ausdruck der anderen Person bestimmbar sein kann, dann aber wieder mit dem eigenen Ausdruck übereinstimmt. Die Zusammenhänge wären also situationsspezifisch veränderbar und würden durch die Beiträge und die Situationsdefinition beider Interaktionspartner bestimmt.“125 So kann eine habituelle Reduktion des affektiven Ausdrucksverhaltens (Module, die das wahrnehmbare Körperverhalten betreffen) wie Elias dies in der Zivilisationstheorie beschreibt, als Anpassungsprozeß betrachtet werden, in welchem die Kleinkinder lernen „durch Verzicht auf das Zeigen spezifischer eigener Affekte die Wahrscheinlichkeit zu verringern, daß gefährliche Zustände in den Eltern bzw. der kulturellen Referenzgruppe entstehen.“126 Die andere Seite dieses Prozesses ist ja die Aneignung gesellschaftsspezifischer Bedeutungen (Wandel im Aufbau des Moduls zur affektspezifischen situativen Bedeutungswahrnehmung und -attribuierung der inneren Welt und der Objekte). So geht Elias insofern über Reichs Begriff der ‚Charakterpanzerung‘127 hinaus, als er die Panzerung als Funktion des gesellschaftlichen Aufbaus betrachtet, dessen Durchbrechung nicht notwendigerweise ‚Befreiung‘ bedeutet. Weiter ist bei ihm mit der These von der Verringerung des Vermögens zur affektiven Kommunikation ebenfalls die Realisierungs- und Beziehungsgestaltungsfunktion der Affekte angesprochen, jedoch ohne daß die Konsequenzen einer solchen Entwicklung für den weiteren Prozeßverlauf in Rechnung gestellt werden.

123 Vgl. ebd.: S. 67 124 Vgl. ebd.: S. 68 125 Krause 2000: S. 33. Jeweilige Psychopathologien, die heute zunehmend als affektive Störungen verstanden werden, sind dann gekennzeichnet durch die Beeinträchtigung der Verfügbarkeit der affektiven Module. Als Beispiele nennt Krause u.a. überdauernde Festschreibung zwischen Ausdruck und Physiologie, überdauernde Abweichung der Zusammenhänge zwischen den Modulen Physiologie und der Wahrnehmung derselben, oder ein von einer passenden Situationswahrnehmung entkoppelter Ausdruck usw. (vgl. ebd.: S. 34). 126 Krause 1998: S. 212 127 Zum Vergleich des Begriffs Panzerung s.a. Hinz 2002: S. 36, Anm. 5. Zum Ansatz Reichs aus heutiger psychoanalytischer Sicht vgl. Krause 1998: S. 246f

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4. Und schließlich stellt sich die Frage nach der somatisch-physiologischen Komponente des Zivilisationsprozesses. Wie im vorangehenden Kapitel gezeigt wurde, läuft ein Großteil der menschlichen Verhaltenssteuerung nicht nur unbewußt, sondern auch unvermittelt, affektiv ab, auch bei zunehmender Rationalisierung und Distanzierung. Die spannende Frage wäre hier, ob mit dem Zivilisationsprozeß ein Wandel im Verhältnis der Wirksamkeit der Affektivität unter Umgehung des Körpers (Als-obGefühlszustände bzw. ‚nichtkörperliche Vorstellungen‘128) zu ihrer Wirksamkeit als reale Körper-Schleifen stattfindet, was zumindest auf einen Wandel in der Qualität der affektiven Steuerung hindeuten würde.

Affektivität in der Zivilisationstheorie Worauf bezieht sich Elias, wenn er von Affekten spricht? Darauf gibt es viele Antworten. Manchmal meint er den Affektbetrag im Freudschen Sinne, manchmal die Empfindung von Lust/Unlust im Freudschen Sinne, manchmal wird damit die Spontaneität und Unvermitteltheit des Verhaltens betont, manchmal aber meint er Emotionen als Reaktionsmuster mit den drei Komponenten (Kap. I) und manchmal bezieht er sich damit sogar – allerdings auf eine für Elias eher untypische, verschwommene Weise – auf die kommunikative Funktion der Affekte und auf ihren Überlebenswert. Ich möchte abschließend den Versuch unternehmen, den Eliasschen Affektbegriff etwas zu ordnen, indem ich die oben unterstellte Zweigleisigkeit seines Menschenbildes an seinem Gebrauch des Affektbegriffs aufzeige.129 Die Zweigleisigkeit läßt sich fassen in einem Affektbegriff, der sich zwischen dem Freudschen Affektbegriff und dem von Krause bewegt. Vorweg aber das explizierte Menschenbild, das Elias der Zivilisationstheorie zugrunde legt:

128 Vgl. Damasio 1997: S. 311 129 Ich habe mich für diesen Abschnitt nach vielen Gesprächen mit EliasKennern entschlossen, in denen ich feststellen mußte, daß meine These der Zweigleisigkeit schwer nachvollziehbar ist und zunächst eher verwirrend wirkt. So wurde die Zweigleisigkeit sehr oft abgestritten, ohne daß klar war, was Elias eigentlich mit Affekten meint. Das Eliassche Menschenbild hinterläßt einen gut durchdachten und abgerundeten Eindruck. Wie es zu dieser Zweigleisigkeit kam, kann ich nicht entscheiden. Seltsam und nicht sonderlich hilfreich ist, daß Elias in diesem Zusammenhang einzig den Namen Freuds erwähnt. Sicher ist, daß er Mead kannte, sehr wahrscheinlich auch Kohut, Ähnlichkeiten zu diesen Autoren in Formulierungen und im Menschenbild lassen sich viele finden, aber eben keine expliziten Hinoder Verweise. So kann die Erörterung des Affektbegriffs lediglich einen Sinn bei der Lektüre von Elias’ Werk und bei der Weiterentwicklung seiner Theorie haben. Sein Affektbegriff ist meines Erachtens schwer faßbar und es gibt sicherlich andere Möglichkeiten, an ihn heranzugehen, als ich es hier tue.

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„Der Mensch ist ein außerordentlich modellierbares und variables Wesen; die Veränderungen der menschlichen Haltung, von denen hier die Rede war, sind Beispiele für diese Modellierbarkeit; sie bezieht sich durchaus nicht nur auf das, was wir als ‚psychologisch‘ von dem ‚Physiologischen‘ zu scheiden pflegen. Verschiedenartig modelliert wird im Lauf der Geschichte und entsprechend dem Geflecht von Abhängigkeiten, das durch ein Menschenleben hingeht, auch die ‚Physis‘ des Einzelnen in unablösbarem Zusammenhang mit dem, was wir ‚Psyche‘ nennen; man denke etwa an die Modellierung der Gesichtsmuskulatur und damit des Gesichtsausdrucks durch den Lebensgang eines Menschen; man denke an die Ausbildung von Lese- und Schreibzentren im Gehirn.“130

Der Zivilisationsprozeß als ‚Affektmodellierung‘ bezieht sich also auf alle von Krause genannten Module und auf ihr Verhältnis zueinander. Der Zivilisationsprozeß dreht sich nicht nur um den Körper, sondern ist ein körperlicher Prozeß. Über die Wandlungen der Leiblichkeit schreibt er u.a.: „Augenfreuden und Ohrenfreuden werden intensiver, reicher, subtiler und auch allgemeiner. Gliederfreuden werden mehr und mehr durch Gebote und Verbote eingehegt und auf wenige Bezirke des Lebens beschränkt. Man nimmt vieles wahr, ohne sich zu bewegen. Man denkt und beobachtet, ohne sich zu rühren.“131

Gleichen wir also die von Elias genannten Aspekte mit den Modulen des Affektsystems (Vgl. Kap. I) ab, um den Unterschied auszumachen. Das physiologische Modul ist bei Elias mit den ‚spontanen Wallungen‘132 und wohl auch mit der ‚Triebenergie‘133 benannt, die im Zuge des Zivilisationsprozesses gedämpft werden. Dies kommt dem Freudschen ‚Affektbetrag‘ nahe, „etwas, das der Vergrößerung, Verminderung, der Verschiebung und der Abfuhr fähig ist und sich über die Gedächtnisspuren verbreitet, etwa wie eine elektrische Ladung über die Oberfläche der Körper“.134 In diesem Sinne benutzt Elias den Affektbegriff etwa, wenn er von der Möglichkeit ausgeht, man könne affektive Valenzen, die blockiert sind, auftauen und in neue Kanäle lenken,135 oder trieb- und affektbedingte Verhaltensimpulse umleiten bzw. sublimatorisch umgestalten.136 Wenn man so will, ist es durchaus möglich und von Elias stellenweise nahegelegt,137 diese Umleitung auf sekundäre Ziele bzw. Sublimierung als den Kernprozeß der Zivilisation zu verstehen. Das Modul zur Wahrnehmung der körperlichen Module ist bei Elias gemäß dem Freudschen Affektbegriff als subjektive Äußerung der Quantität an Triebenergie der Tendenz nach auf 130 131 132 133 134 135 136 137

Elias 1989c: S. 377f Elias 1988: S. 162 Vgl. Elias 1989c: S. 322 Vgl. ebd.: S. 332 Freud, zit. n. Laplanche/Pontalis 1994: S. 39 Vgl. Elias 1972: S. 22 Vgl. Elias 1986c: S. 382 Vgl. ebd.: S.382

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Lust-/Unlustempfindungen verkürzt, was etwa in der Formulierung zum Ausdruck kommt, das Leben werde zunehmend „affekt- oder lustloser“,138 oder bei der Beschreibung des psychischen Mechanismus, aufgrund dessen sich die Transformation des Affektlebens vollzieht: „Gesellschaftlich unerwünschte Trieb- und Lustäußerungen werden mit Maßnahmen bedroht oder bestraft, die Unlust erzeugen oder dominant werden lassen“,139 und schließlich wenn etwa die Rede von „Lustökonomie“140 ist. Dem Modul zur Verhaltensanbahnung begegnen wir kaum, denn die Affekte neigen dazu, sofern sie nicht gedämpft oder umgeleitet worden sind, sofort in Verhalten umzuschlagen. Wir haben es also mit „Affektäußerungen“141 zu tun, die mit der augenblicklichen Lage wechseln und auch „Affektentladung“142 genannt werden. Sehr oft werden die Begriffe Affekt, affektiv und Affektivität selbst in diesem Sinne zur Kennzeichnung der Spontaneität und der Unmittelbarkeit des Verhaltens gebraucht, so etwa im folgenden Satz über zivilisiertere Verhaltensmuster im Vergleich zu weniger zivilisierten: „Greift hier Berechnung in Berechnung, so dort unmittelbarer Affekt in Affekt.“143 Das Modul für die bewußte Wahrnehmung des Affekts hat dann schon scheinbar nichts mehr mit dem Affekt bzw. eher etwas mit seiner Abwesenheit zu tun. Das Erleben differenziert sich, je ‚affektneutraler‘ das Bewußtsein, je freier die Sicht der Menschen von Emotionen wird.144 Das expressive Modul schließlich ist zwar mit der ‚Modellierung der Gesichtsmuskulatur und damit des Gesichtsausdrucks‘ im obigen Zitat angesprochen, aber die Signalfunktion der Affekte wird in keinem zivilisationstheoretisch relevanten Zusammenhang hervorgehoben. Soweit der eher Freudsche Anteil des Eliasschen Affektbegriffs, der in den zivilisationstheoretischen Zusammenhängen dominiert. Auch wenn der Begriff Affektinterdependenz eingeführt wird, um das monadistische Menschenbild aufzubrechen, wird nicht klar, was sich da genau gegenseitig bedingt und wie. Man kann ein monadistisches Menschenbild nicht unter Beibehaltung eines monadistischen Affektbegriffs aufbrechen. Das alternative Verständnis, das den kommunikativen Charakter der Affekte und ihren Überlebenswert hervorhebt, taucht bei Elias in zwei Zusammenhängen auf: allgemein bei der Beschreibung der menschlichen Beschaffenheit und in dem Fall ihrer Problematisierung, nämlich wo die Affekte nicht mehr bezwungen werden müssen, sondern irgendwie vermißt werden. Für die anthropologische Ebene wird konstatiert, daß die Signalfunktion der Affekte der Vergewisserung der gegenseitigen Absichten diene und damit zur Entschärfung von Spannungen und einem differenzierten 138 139 140 141 142 143 144

Elias 1989c: S. 330 Elias 1989b: S. 282f Elias 1989c: S. 445 Ebd.: S. 324 Ebd.: S. 378 Ebd.: S. 373 Ebd.: S. 373ff

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Miteinander beitrage.145 Der Überlebenswert wird hervorgehoben, wenn es etwa heißt, die Kontrolle der affektiven Direktiven dürfe nicht zu weit gehen, da deren Sättigung ein integrales Bestandstück menschlicher Realität bilde.146 Für individuelle Zivilisationsprozesse wird die Relevanz ‚affektiver Wärme‘147 hervorgehoben und allgemein wird an mehreren Stellen betont, daß Menschen der ‚emotionalen Stimulation‘ durch andere bedürfen.148 Wie sich diese ‚affektive Wärme‘ und die ‚emotionale Stimulation durch andere‘ im Laufe des von ihm beschriebenen Zivilisationsprozesses verändern und welche Rolle sie genau darin spielen, wird an keiner Stelle thematisiert. Erst im Zusammenhang mit dem homo clausus und der Problematisierung eines spezifischen Habitus ist dann vom ‚Geben und Nehmen in affektiven Beziehungen‘149 als elementare Bedingungen der menschlichen Existenz und einem habitusspezifischen Unvermögen dazu die Rede. Aber wie gibt und nimmt man in affektiven Beziehungen und woher ‚weiß‘ der Andere, daß man ihm etwas gibt? Was bedeutet ‚affektive Bejahung‘150 und welchen Stellenwert hat das Ganze für die Zivilisationsdynamik? Kraft dieser Ambitendenz des Affektverständnisses ergibt sich im Gesamtwerk die seltsame Komposition, daß die Verringerung von Spontaneität, Affektivität oder Unmittelbarkeit Zivilisierung auch im Sinne von Humanisierung der menschlichen Beziehungen bedeutet und Erkenntnis ermöglicht, andererseits aber die Menschen ihrer bedürfen und sie missen, wenn sie nicht da sind. Was fehlt, ist der Brückenschlag: Wie wird Interaktion zur Erkenntnis? Wie findet das Erleben des Einen den Weg zum Erleben des Anderen? Wie sind Beziehungs- und Psychodynamik vermittelt? Eine fehlende Brücke ist, so meine ich, das expressive Modul. Die wahrnehmbare Veränderung der Gesichtsmuskulatur, des Blicks, der Stimme, des Ausdrucks hat einerseits Signalcharakter für das Gegenüber und somit affizierende Wirkung auf dieses. Und als Teil der körperlichen Veränderungen kann es andererseits auch vom Subjekt empfunden werden und das ihm eigene Erleben mitbestimmen. In der Zivilisationstheorie können die Affekte scheinbar lediglich dann etwas in der Außenwelt verändern, wenn sie ‚entladen‘ werden. Bei Krause ist, wie bei Mead, das expressive Modul der Affekte dieser ‚Entladung‘ der Handlung vorgeschaltet, und man kann aus dieser Sicht, wenn man so will, das Zivilisationspotential der Affekte gerade und in erster Linie in ihrem Signalcharakter ausmachen, insofern sie handlungssteuernd wirken. Während bei Elias die Affekte tendenziell der eher wilden, destruktiven ‚animalischen Natur‘ des Menschen zugerechnet werden, stellen aus Krau145 146 147 148 149 150

Vgl. Elias 1990c: S. 354 Vgl. Elias 1990a: S. 140f Vgl. Elias 1986c: S. 383 Vgl. Elias 1986b: S. 147 Elias 1988: S. 268 Vgl. ebd.: S. 273

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ses Sicht das Hypertrophieren des Affektsystems und der kognitiven Funktionen Begleitprozesse der Lockerung der festen Instinktabläufe im Zuge der Hominisation und der durch kooperative Lebensweisen zunehmende Notwendigkeit für eine Zeichenentwicklung dar. Die Mobilisierung eines Affekts bringe zwar eine Erhöhung der Wahrscheinlichkeit bestimmter Verhaltensweisen mit sich, aber auch eine Unterbrechung bestehender Aktivitäten: „Die phylogenetisch erworbene Kenntnis des Zeichens erlaubt eine Berücksichtigung möglicher Intentionen, ohne daß diese realisiert werden müssen.“151 Denn Ausdruck eines Beziehungswunsches, einer Intentionalität im Affekt ist nicht die Handlung selbst, sondern eben ein Zeichen derselben,152 so kann der expressive Anteil selbst als ‚Handlungshemmung‘ im Sinne Meads verstanden werden, die die Bewußtwerdung von Intentionen bedingt. Eine entscheidende Frage ist: Wenn die Behauptung aufgestellt wird, daß unter bestimmten gefahrvolleren Bedingungen ‚Affekt in Affekt greift‘, sagt das etwas über die Beschaffenheit der Natur der Menschen aus oder über die Beschaffenheit ihrer Beziehungen? Ich meine, man findet bei Elias beides nebeneinander. Einerseits schreibt er über die Psychogenese, daß der Grund, warum sich das Verhalten der Menschen ändere, die Art sei, in der die Menschen miteinander zu leben gehalten sind, die Beziehungen zwischen den Menschen selbst. An anderer Stelle begegnet man wiederum einem ‚Freilauf der Triebe und Affekte‘ und gar einem ‚Freilauf der Affekte im Quälen von Anderen‘.153 Ich meine, daß hier zwei Menschenbilder und Affektbegriffe inkompatibel zueinander stehen. Das Quälen der Artgenossen gehört weder zur gegebenen Natur von Menschen noch von Tieren. Was also noch zu erörtern bleibt, ist die Annahme einer ‚animalisch‘ ‚es-haft‘ gedachten menschlichen Natur. Bevor ich im vierten Kapitel darauf zu sprechen komme, sollen zunächst einige neuere HabitusDiagnosen auf ihren Umgang mit Affektivität abgeklopft werden. Wie wir sehen werden, hat sich in der Fortsetzung der Zivilisationstheorie der eshafte Affektbegriff gegenüber dem beziehungsorientierten durchgesetzt.

151 Krause 1998: S. 30 152 Vgl. ebd. 153 Vgl. Elias 1989c: S. 377, S. 323 u. S. 327

Kapitel III: Zum Umgang mit Affektivität in den ‚Diagnosen‘ über die westlichen Gegenwartsgesellschaften

Die problematischen Aspekte der Zivilisation, die von Elias sogenannten ‚Zivilisationsnöte‘, sowie die problematischen Aspekte der Zivilisationstheorie sind in teils anderen Zusammenhängen und in mehr oder weniger ausgearbeiteter Form bereits oft thematisiert worden.1 Aus der ‚zivilisationskritischen‘ Richtung werde ich den narzißmustheoretischen Strang herausgreifen, um eine Auseinandersetzung grob zu skizzieren, die zwischen zwei soziologischen Lagern stattfindet, in denen sich Zivilisierungs- und Entzivilisierungstheoretiker gruppieren. Während parallel zu und in der 1

Während ersteres in der Modernisierungskritik und der Kritischen Theorie eine längere Geschichte hat, ist die Kritik der Eliasschen Zivilisationstheorie auch aufgrund der späten Rezeption jüngeren Datums. Großes Aufsehen hat die in theoretischer Hinsicht eher schwache Kritik Hans Peter Duerrs erregt. Dieser charakterisiert im Gegenzug zu Elias die Tendenzen in entwickelteren Gesellschaften als ‚Enttabuisierung‘ und ‚Brutalisierung‘ (vgl. Hinz 2002: S. 207). Diese Tendenz sei dadurch zu erklären, daß die Interdependenzketten mit zunehmender Zahl und Länge ihre normierende Kraft verlieren (vgl. Duerr 1997: S. 17). Lediglich in traditionellen Gesellschaften finde man eine lückenlose, soziale Kontrolle, die zur Verinnerlichung (!) der Kontrolle führe (vgl. Duerr 1990: S. 20-22). Vor allem in der Ersetzung der ‚Sittenaufsicht‘ des ‚Dorfauges‘ durch andere Institutionen sieht Duerr die Ursachen der ‚Entzivilisierungstendenzen‘: „Die Kontrollinstanzen wurden also immer ‚synthetischer‘ und sie verstärkten weniger das soziale Netz der familiären Bindungen, als daß sie es ersetzten, was wiederum bedeutete, daß die Normen immer weniger ‚verinnerlicht‘ wurden, da man ihre Einhaltung in stärkerem Maße als früher ‚von außen‘ und zudem unvollständiger überwachte“ (ebd.: S. 22, Herv.i.O.). Auf die Problematik des Verinnerlichungsbegriffs bei Duerr und seinen Gegenentwurf allgemein werde ich nicht näher eingehen (zum letzteren ausführlich Hinz 2002), aber einige Anmerkungen zu seiner Entzivilisierungsthese folgen unten.

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Nachfolge von Elias die Zivilisationstheorie bezüglich ihrer Gesellschaftsdiagnosen (habitus-)relativistische Züge annimmt, indem sie bestimmte individuelle Verhaltensweisen zwar zivilisationstheoretisch einordnet, diese aber in der sozialen Praxis zunehmend an Bedeutung und Bezug zu verlieren scheinen, lautet der Vorwurf derselben an das Gegenlager, dort werde normativ und moralisierend argumentiert, was zu einseitigen Diagnosen führe. Daß sich das Gegenlager auf die Theorietradition der Kritischen Theorie beruft, erhärtet – ungeachtet der Tatsache, daß diese sich weitaus differenzierter des psychoanalytischen Vokabulars bedient hat – lediglich die Vorwürfe, war diese doch zu sehr vom herkömmlichen ‚Ideal der Selbstbestimmung des Subjekts‘ eingenommen, um neuen Freiheiten und sich neu eröffnenden Möglichkeiten des Subjekts in der Betrachtung gerecht werden zu können, so die Argumentationsrichtung der Zivilisationstheoretiker. Die Moralisierungsvorwürfe an diese Gesellschaftsdiagnostiker scheinen einleuchtend. Denn mit welchen und vor allem wessen Kriterien werden solche Prozesse wie etwa die ‚Auflösung des Subjekts‘ oder ‚psychische Regression‘ in der Gesellschaft gemessen? Welche Schwerpunktsetzungen und Bewertungen sind vorab entschieden, die dann die Diagnose beeinflussen? Hans-Peter Dreitzel hat in anderem Zusammenhang auf die Gefahr hingewiesen, daß unter Umständen die Gesellschaftsdiagnose in bloße Kulturkritik mündet, „die häufig nur auf einer Projektion der Entfremdung des Intellektuellen auf die ganze Gesellschaft beruht und jedenfalls ihre Maßstäbe aus – sei es konservativen, sei es progressiven – Sozialutopien gewinnt und nicht aus der Sozialstruktur selbst.“2 So berechtigt dieser Warnhinweis auch sein mag, die stigmatisierende Kraft, die Bezeichnungen wie ‚Kulturkritiker‘ und ‚Kulturpessimist‘ selbst zu eigen geworden ist, dient nicht nur oft dazu, ganze Werke engagierter – und aufgrund ihrer pessimistischen und unbequemen Haltung ohnehin nicht sonderlich beliebter – Autoren zu disqualifizieren, sondern erlaubt darüber hinaus eine gelassen-ignorante Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Tendenzen, auf die die Autoren hinzuweisen versuchen. Beim genaueren Hinsehen könnte sich so erweisen, daß manch ein ‚Kulturkritiker‘ die Interdependenz von Psycho- und Beziehungsdynamik weit stärker berücksichtigt als manch vermeintlicher Prozeßsoziologe, was im Übrigen zumindest den Pessimismus der einen teilweise erklären mag. Ziel dieses Kapitels ist es keineswegs, die beschriebene Ambivalenz in der Soziologie zwischen Normativität versus Neutralität oder Kulturpessimismus versus -optimismus zu der einen oder anderen Seite hin aufzulösen. Mein Vorschlag ist, neben den Zielen und Idealen der Autoren auch ihren theoretischen Ausgangspunkt ins Visier zu nehmen: Welches Bild ergibt sich, wenn man das Kriterium der Normativität zeitweise beiseite rückt und statt dessen einmal die Brauchbarkeit der Theorien an ihrem Menschenbild prüft? Welche Auffassung von der Beschaffenheit des Menschen und sei2

Dreitzel 1980: S. 18

AFFEKTIVITÄT IN ‚GEGENWARTSDIAGNOSEN‘ | 113

ner Wandelbarkeit, also von Zivilisation, implizieren die Theorien? Ich werde im folgenden die Debatte um den ‚gegenwärtigen Sozialcharakter‘ (versus ‚gegenwärtiges Zivilisationsmuster‘) anhand des narzißmustheoretischen und des neueren zivilisationstheoretischen Standpunktes skizzieren und mit dem Augenmerk auf das jeweils zugrunde liegende Menschenbild unter Berücksichtigung des Umgangs mit Affektivität und entsprechend mit Ausschau nach psychoanalytischen Anteilen und Grundannahmen diskutieren. Ich möchte hier vor allem aufzeigen, daß ein Großteil des Durcheinanders in der Debatte um Narzißmus und Zivilisation durch die NichtUnterscheidung der Ebenen Selbst und Selbstwert und das Versäumnis der Klärung ihres Verhältnisses zueinander und einen entsprechend undifferenzierten Zivilisationsbegriff bedingt ist. Die Differenzierung dieser Ebenen dient hier der Fokussierung des Problems als Vorbereitung auf das vierte Kapitel, in dem die unterschiedlichen psychologischen Grundlagen der beiden ‚Lager‘ etwas genauer betrachtet werden. Des weiteren möchte ich zeigen, daß die Kontroverse über die Richtung des gegenwärtigen Zivilisationsprozesses in westlichen Gesellschaften, die zunächst als ein Mißverständnis erscheint, auf zwei unterschiedlichen Begriffen von ‚Emotionen‘ bzw. ‚Affekten‘ aufbaut, eine These, die im fünften Kapitel vertieft wird.

a) Soziologische Narzißmustheorie Der Narzißmus ist implizit oder explizit von einigen Soziologen des letzten Jahrhunderts mit jeweils unterschiedlichen Standpunkten und Grundannahmen im Zusammenhang mit dem ‚modernen Selbst‘ thematisiert worden. Implizit hat ihn zunächst David Riesman in Form des ‚Außengeleiteten‘ im Unterschied zum ‚Innengeleiteten‘ konzeptualisiert. Er hat in seiner Untersuchung markante Züge und Problematiken ‚narzißtischer Persönlichkeits- und Beziehungsstrukturen‘ vorweggenommen, die heute eher verschwommen diskutiert werden. Der ‚außengeleitete‘ Mensch wird von ihm über seine Steuerungsquelle wie folgt charakterisiert: „Das gemeinsame Merkmal der außen-geleiteten Menschen besteht darin, daß das Verhalten des einzelnen durch die Zeitgenossen gesteuert wird; entweder von denjenigen, die er persönlich kennt, oder von jenen anderen, mit denen er indirekt durch Freunde oder durch die Massenunterhaltungsmittel bekannt ist. Diese Steuerungsquelle ist selbstverständlich auch hier ‚verinnerlicht‘, und zwar insofern, als das Abhängigkeitsgefühl von dieser dem Kind frühzeitig eingepflanzt wird. Die von dem außengeleiteten Menschen angestrebten Ziele verändern sich jeweils mit der sich verändernden Steuerung durch die von außen empfangenen

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Signale. Unverändert bleibt lediglich diese Einstellung selbst und die genaue Beachtung, die den von den anderen abgegebenen Signalen gezollt wird.“3

Während so der außen-geleitete Mensch sich durch seine „Empfangs- und Folgebereitschaft, die er für die Handlungen und Wünsche der anderen aufbringt“,4 auszeichnet, ist der innen-geleitete Mensch früher freigesetzt von beliebigen Anderen. Dieser verinnerlicht frühzeitig eine Art ‚seelischen Kreiselkompaß‘, „mit dem er, wenn er einmal von seinen Eltern in Gang gesetzt ist, später auch Signale von anderen, seinen Eltern entsprechenden Autoritäten aufnehmen kann […]“.5 Weicht der innen-geleitete Mensch von seinem Kurs ab, entwickelt er Schuldgefühle, der außengeleitete dagegen ist ständig auf Kurssuche, seine Kontrollmechanismen vergleicht Riesman mit einer ‚Radaranlage‘, ständig getrieben von einer ‚diffusen Angst‘, auf der Suche nach einer dauernden Daseins- und Selbstbestätigung, gekennzeichnet durch einen fehlenden ‚festen Kern des Selbst‘, ‚gesteigerte seelische Verarmung‘, eine ‚Begierde nach Befriedigungen ohne konkreten Gegenstandsbezug‘ und einen ‚Mangel an Privatsphäre‘, 6 Charakterisierungen, die die Literatur zum modernen Selbst bis heute durchziehen. Riesman allerdings versteht seinen Beitrag nicht als Kulturkritik und wendet sich gegen eine Idealisierung des innen-geleiteten Typs. Nur vom heutigen Standpunkt seien wir in der Lage, die Vorteile der Nachteile der zuvor vorherrschenden Habitusform zu erkennen.7 3

4 5 6 7

Riesman 1956: S. 55. Riesman weist bei der Definition der ‚AußenLenkung‘ auf die Nähe u.a. zu Fromms ‚Marktcharakter‘ und zu anderen Sozialwissenschaftlern (v.a. zur Frankfurter Schule) hin, die entsprechende Charakterzüge im zeitgenössischen hochindustrialisierten und bürokratisierten ‚Amerika‘ an der Mittelschicht beobachtet hätten. Die Reichweite seiner Theorie beschränke sich jedoch nicht auf diese Gruppe: „So stellt meine Untersuchung des außen-geleiteten Charakters eine Analyse sowohl des Amerikaners als auch des heutigen Menschen überhaupt dar“ (ebd.: S. 52). Mit dem ‚heutigen Menschen‘ meint er solche, die in starkem Maße von ‚globalen Entwicklungstendenzen‘ wie Kapitalismus, Industrialisierung und Verstädterung betroffen sind (vgl. ebd.). Eine erste Grundlegung haben seine Gedanken in dem älteren Werk von Alexis de Tocqueville „Über die Demokratie in Amerika“, das ich im siebten Kapitel „Narzißmus im Wandel der Wir-Ich-Balance“ heranziehen werde. Ebd.: S. 55 Ebd.: S. 59 Vgl. ebd.: u.a. S. S. 60, S. 233, S. 251, S. 412f, S. 136, S. 228 Vgl. ebd.: S. 123. Riesman wendet sich nicht nur gegen eine moralisierende Kulturkritik, sondern versucht darüber hinaus, für den ‚Außengeleiteten‘ Partei zu ergreifen.: „Eines der Hauptanliegen dieses Buches besteht aber gerade darin, zu beweisen, daß der außengeleitete Mensch unter den gegebenen Umständen in gewisser Weise sogar noch zu hart gegen sich selbst ist, und klarzumachen, wie groß die Spannungen und Ängste sind, denen das Kind bei der Verbrauchsausbildung, die Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder und der Berufstätige in Dienst- und Freizeit ausgesetzt sind. […] Unter solchen Umständen auch noch die Illusion der festen, unbeirrbaren Innen-Lenkung als Vorbild vor ihn hinzustellen, würde sein Leben nur noch komplizierter

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Explizit ist eine gesellschaftliche Zunahme narzißtischer Störungen und Strukturen zunächst u.a. von Adorno aus einer eher ‚kulturkritischen‘ Sicht diagnostiziert worden. In seinem Aufsatz ‚Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie‘ (1955) schreibt er über den Narzißmus, auf ihn würden „mit unwiderstehlicher Beweiskraft alle Befunde der Sozialpsychologie über die heute vorherrschenden Regressionen, in denen das Ich zugleich negiert und in falscher, irrationaler Weise verhärtet wird“,8 deuten. Einerseits wird dies an der Verbreitung psychischer Störungen abgelesen, wo Konflikte in der Zone des Narzißmus mehr als 60 Jahre zuvor auffallen und die Konversionshysterien zurücktreten würden. Doch die Entwicklung ist nicht bloß klinisch relevant, sondern spiegelt gesellschaftliche Züge wieder. Für Adorno gibt es zu diesem Zeitpunkt „keine ‚neurotische Persönlichkeitsstruktur unserer Zeit‘ – der bloße Name ist ein Ablenkungsmanöver – aber die objektive Situation weist den Regressionen ihre Richtung.“:9 „Zeitgemäß sind jene Typen, die weder ein Ich haben noch eigentlich unbewußt handeln, sondern reflexartig den objektiven Zug widerspiegeln.“10

Auch hier ist von ‚affektiver Verarmung‘ und einer ‚Zerstörung des Ich‘ die Rede.11 Es lassen sich einige Gemeinsamkeiten zwischen Riesmans ‚Außengeleiteten‘ und Adornos ‚Narzißten‘ finden, denn sie untersuchen dieselbe Entwicklungstendenz, wenn auch von verschiedenen Standpunkten aus. Der wesentliche Unterschied besteht in den zugrunde gelegten Gedankenmodellen. Während Adorno trotz seiner Psychoanalyse-Kritik einer revisionistischen Sicht widersteht und weiter am triebtheoretischen bzw. ‚libidopsychologischen‘ Ansatz festhält, kann Riesman in seiner Untersuchung des Außengeleiteten mit dem Freudschen Narzißmusbegriff machen […]“ (ebd.: S. 255). Seine Schlußfolgerungen und Zukunftsvorstellungen, die eher in Richtung eines ‚integrativen Narzißmus‘ (s.u.) gehen und stark funktionalistisch anmuten, bleiben fragwürdig. Nachdem er sich von dem ‚Stelldichein uralter Selbstgefälligkeiten‘ vernichtender Kulturkritik abgrenzt, ordnet er seinen Beitrag wie folgt ein: „Meine Abhandlung […] ist der Versuch, das Bild einer Gesellschaft zu entwerfen, die die neuen Möglichkeiten für Muße, Sympathie und Wohlstand nicht ablehnt, sondern akzeptiert. Sowohl die neuen Formen der Geselligkeit als auch die Suche nach Unterweisung in der Anpassung an die Gruppe durch die Massenunterhaltungsmittel sind selbst treffende Beweise solcher Möglichkeiten“ (ebd.: S. 256). 8 Adorno 1973: S. 40 9 Ebd.: S. 42. Herbert Marcuse datiert die von Freud erfaßte Persönlichkeitsstruktur noch weiter zurück: „Schon zur Zeit ihrer Reife erfaßte die Freudsche Theorie mehr die Vergangenheit als die Gegenwart – ein verblassendes eher als ein allgemein herrschendes Bild des Menschen, eine verschwindende menschliche Daseinsform“ (Marcuse 1970: S. 86). 10 Adorno 1973: S. 51 11 Vgl. ebd.

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wenig anfangen. Für Adorno haben alle Abwehrmechanismen eine narzißtische Note: „das Ich erfährt seine Schwäche dem Trieb gegenüber wie seine reale Ohnmacht als ‚narzißtische Kränkung‘. Die Leistung der Abwehr wird aber nicht bewußt, kaum überhaupt vom Ich selber vollbracht, sondern von einem psychodynamischen Derivat, einer gleichsam verunreinigten, aufs Ich gerichteten und dabei unsublimierten und undifferenzierten libido.“12 Damit bewegt sich Adorno mit seiner Verwendung des Narzißmusbegriffs auf der Ebene des Selbstwerts. Narzißmus ist eine kompensatorische Reaktion auf die Erfahrung von Ohnmacht und erlittenem Unrecht, durch die das Individuum gezwungen ist, seine ‚ungenutzten Triebenergien‘ auf sich selbst zu lenken.13 Riesman dagegen verwendet an einer einzigen Stelle den Narzißmusbegriff, wo er jedoch zur Charakterisierung des ‚Außengeleiteten‘ nicht von einem übersteigerten, sondern von einem ‚abgedämpften‘ Narzißmus spricht.14 Der ‚Außengeleitete‘ leidet nicht wie Adornos Narziß in erster Linie an einer Ich-Schwäche, sondern er hat keinen ‚festen Kern des Selbst‘,15 seine Problematik bewegt sich damit vorrangig auf der Ebene des Selbst und seinen Grenzen. Bezeichnenderweise wird von Riesman auch der Begriff ‚Über-Ich‘ lediglich zur Kennzeichnung des ‚Innengeleiteten‘ herangezogen.16 Die beiden hier freilich verkürzt vorgestellten Standpunkte kann man als Grundlegung der späteren soziologischen Narzißmustheorie ansehen. Die beiden folgenden Hauptvertreter dieser Richtung sind Richard Sennett und Christopher Lasch, die als Nachfolge der Kritischen Theorie eingeordnet werden. Auch 12 13 14 15 16

Adorno 1955: S. 40 Vgl. Adorno 1980: S. 33 Vgl. Riesman 1956: S. 89f Vgl. ebd.: S. 251 Vgl. ebd.: S. 85, S. 382 u. S. 483, Anm. 9. Riesman ist vor allem zu gute zu halten, daß er die Gesellschafts- und Zeitspezifität des Freudschen Menschenbildes erkennt und so bei der Beschreibung des ‚außengeleiteten Menschen‘ auf das entsprechende Vokabular verzichtet: „Erweist sich dieses Schema auch weniger fruchtbar in der Anwendung auf andere Gesellschaften, so scheint es doch auf die Lebensstimmung des Mittelstandes auf dem Höhepunkt der Innen-Lenkung in den westlichen Gesellschaften genau zu passen“ (ebd.: S. 85). An anderer Stelle vergleicht er die Theorie über den Vergesellschaftungsprozeß von Freud und Harry S. Sullivan, der der Konzeption Freuds vom Über-Ich folgt, dabei jedoch mehr Gewicht auf die Gruppe der Altersgenossen legt, und kommt zu folgendem Schluß: „Eben dieser Nachdruck, den Sullivan auf die Bedeutung zwischenmenschlicher Beziehungen legt, […] mag als ein Symptom für den Wandel zur AußenLenkung angesehen werden“ (ebd.: S. 484, Anm. 9). Sullivan war mit Karen Horney und Erich Fromm Mitbegründer der ‚Neo-Psychoanalyse‘ in den dreißiger Jahren. Sie waren die sogenannten Revisionisten, die in der Nachfolge Adlers einseitige triebtheoretische Erklärungen menschlichen Verhaltens ablehnten. Sullivan steht damit in der Entwicklungslinie der Psychoanalyse für eine Umorientierung von den physiologienahe gedachten Triebvorgängen zu einer stärker psychologischen und sozialen Orientierung (vgl. Seidler 1999: S. 59f).

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ihnen wird vorgeworfen, sie orientierten sich am Ideal des ‚bürgerlichen Subjekts‘ und ihre Arbeiten werden oft als ‚Kulturkritik‘ abgetan, was bedeuten soll, daß ihre eigenen Empfindensmuster eine größere Rolle bei der Theoriebildung gespielt hätten als die der Untersuchten.

Narzißmustheorie als Soziologie? Richard Sennett hat in seiner Arbeit „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität“ den Versuch unternommen, den Wandel zivilisatorischer Zwänge bzw. der ‚Prägeinstanzen‘ am Wandel des Verhältnisses von Privatsphäre und Öffentlichkeit abzulesen. In gewisser Weise kehrt er – wie er selbst schreibt – die Argumentation von David Riesman um: „Die westlichen Gesellschaften befinden sich auf dem Weg von in gewissem Sinne außen-geleiteten zu innen-geleiteten Verhältnissen – bloß, daß inmitten von Selbstversunkenheit keiner mehr sagen kann, was ‚innen‘ ist.“17 Während Riesman mit der ‚Außengeleitetheit‘ die Empfangs- und Folgebereitschaft für die Wünsche Anderer meinte, ist bei Sennett damit eine Art Empfänglichkeit für die Realität und die Fähigkeit, sich mit dieser auseinanderzusetzen, gemeint. Die Innengeleitetheit bezeichnet dagegen einen Zustand des Selbst, in dem das ‚eigene Innere‘ zum Maßstab der Realität wird, wodurch das Vermögen zur Auseinandersetzung mit Anderen als Andere schwindet. Riesman konnte in der von ihm beschriebenen Entwicklungstendenz etwas Positives ausmachen, insofern er annahm, die zunehmende Relevanz zwischenmenschlicher Beziehungen könne zu einer Humanisierung dieser führen. Bei Sennett allerdings ist diese Tendenz unumgänglich mit Destruktivität im Hinblick auf das ‚Selbst‘ und die ‚Beziehung‘ verbunden. Seine Diagnose ist der Riesmans genau entgegengesetzt: Wenn die Menschen sich nicht in ihrer Getrenntheit begegnen können, können sie auch keine Rücksicht aufeinander nehmen, sie begegnen sich auf der Funktionsebene der Beziehung, die Inhaltsebene tritt in den Hintergrund. Mit der Funktionsebene ist gemeint, daß der Andere in seiner Funktion für das eigene Selbst relevant ist und nicht als eigenständige Person. Die daraus erwachsende ‚Tyrannei der Intimität‘ ist für Sennett eindeutig Ausdruck eines Entzivilisierungsprozesses. Sie bezeichnet die Herrschaft einer Grundüberzeugung, nämlich daß Nähe an sich einen Wert darstelle, daß Nähe allein Wärme erzeuge. Sennett erkennt nicht nur wie Riesman, daß die herkömmliche Psychoanalyse nicht zur Erfassung der neuen ‚Charakterstrukturen‘ ausreicht, er kann sich darüber hinaus bereits auf die Arbeiten des Psychoanalytikers Heinz Kohut beziehen, der den postulierten Wandel der Persönlichkeitsstrukturen in seiner Theorie explizit thematisiert und mitunter als Anlaß für seine Theorieentwicklung nimmt, aus der später die Selbstpsychologie (s. Kapitel IV) hervorgeht. Über die neuen psychischen Störungen schreibt Sennett: 17 Sennett 1986: S. 18

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„Diese Charakterstörungen zeichnen sich dadurch aus, daß sich psychisches Leiden nicht mehr in einem pathologischen Verhalten zeigt, das die jeweilige Person deutlich markiert; die psychische Störung bildet kein greifbares Symbol mehr aus. Vielmehr besteht die Störung gerade in ihrer Formlosigkeit: Ablösung oder Entfremdung des Fühlens von der Aktivität, was im Extremfall zu einer schizophrenen Sprache und im Regelfall zu einem Gefühl der Sinnlosigkeit inmitten aller Aktivität führen kann. Diese Erfahrung der Leere, diese Empfindungslosigkeit läßt sich kaum als Verdrängung begreifen, läßt sich überhaupt schwer mit den herkömmlichen psychoanalytischen Kategorien erfassen. Der Wandel in der allgemeinen Symptomatologie hat das psychoanalytische Denken veranlaßt, eine neue diagnostische Sprache zu entwickeln, und bestimmte Begriffe und Theoriebereiche zu erweitern, die in den frühen Jahren der Psychoanalyse nur wenig reflektiert worden waren, weil die damaligen klinischen Erfahrungen dies nicht erforderten.“18

Die Sprache Kohuts ist für Sennett insofern interessant, weil sie sich auf gesamtgesellschaftliche Vorgänge übertragen läßt und zur Beschreibung langfristiger kultureller Entwicklungen verwendet werden kann:19 „Vieles, was heute über Narzißmus geschrieben wird, ist pure Soziologie […]“.20 Die von Sennett hier zur Charakterisierung der neueren psychischen Strukturen herangezogenen Kategorien ‚Empfindungslosigkeit und Leere‘ einerseits und die ‚verzweifelte Suche im Inneren‘ sind eben jene, die Elias zur Charakterisierung des ‚homo clausus‘ heranzieht. Im Gegensatz zu Elias geht es Sennett jedoch bei der Beschreibung dieser Phänomene weder um erkenntnistheoretische Implikationen dieser Selbsterfahrung noch um das Wohlbefinden der Betroffenen, sondern in erster Linie um die Konsequenzen entsprechender psychischer Strukturen für die Beziehungsdynamik. Die Tendenzen zur Intimisierung der Beziehungen und der ‚Verfall der Öffentlichkeit‘, die Sennett in seiner Untersuchung als historische Prozesse in entwickelteren Gesellschaften herausarbeitet, führen seiner Meinung nach zu einer Unfähigkeit zum politischen Handeln und blockieren psychisches Wachstum. Christopher Lasch geht in seiner Arbeit ‚Zeitalter des Narzißmus‘ nicht weiter über Sennetts Theorie hinaus, sondern nimmt lediglich eine Akzentverschiebung vor. Nicht der Rückzug der Menschen ins Privatisieren sei zu kritisieren und zu verurteilen, sondern die Verwüstung des Privaten durch die gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen.21 Unter diesem Gesichtspunkt nimmt er eine Bestandsaufnahme der US-amerikanischen Gesellschaft vor, wobei er an unterschiedlichen zeit- und gesellschaftsspezifischen Phänomenen narzißmusfördernde Strukturen aufzuweisen sucht. Die gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen hätten zu einer Kompetenzbeschneidung der Individuen geführt, und 18 19 20 21

Ebd.: S. 407, Herv.v.mir Ebd.: S. 408 Ebd.: S. 408f Lasch 1980: S. 47

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der Narzißmus stelle die psychologische Dimension der Abhängigkeiten der Menschen von Institutionen und Experten dar:22 „In unseren Tagen ist dieser Eingriff von Mächten organisierter Herrschaft in die Privatsphäre so umfassend geworden, daß es ein privates Leben kaum mehr gibt. […] In Wirklichkeit […] rührt die Betonung des Privaten keineswegs aus einer starken Geltung der Persönlichkeit, sondern aus ihrem Zusammenbruch.“23 Der Narzißmus sei deswegen in erster Linie nicht als Ausdruck der Selbstbezogenheit und Zügellosigkeit der Individuen zu sehen, sondern als Ausdruck ihrer Verzweiflung. Wie Elias betont auch Lasch die Wirklichkeit der individuellen Erlebnisse von ‚innerer Leere‘ und ‚mangelnder Echtheit‘ und ihre soziale Bedingtheit.24 Während Sennett in seiner Kulturkritik sich an die Individuen wendet, richtet sich Laschs Kritik tendenziell eher gegen die gesellschaftlichen Institutionen, das Expertentum und die Enteignung der moralischen Verantwortung durch die geschaffenen Abhängigkeiten. Im Übrigen bleibt Lasch, was die psychoanalytische Dimension betrifft, hinter Sennett zurück. Während Sennett den Narzißmus als einen Zustand des Selbst begreift, ist er bei Lasch weiterhin eine Abwehrreaktion gegen erfahrene Ohnmacht.25 Eine Synthese dieser Standpunkte, die die tendenzielle Gegenüberstellung ‚Institution versus Individuen‘ auflöst, und weiter eine Integration soziologischer und psychoanalytischer Ergebnisse leistet, ist nicht in Sicht. Bevor ich im nächsten Teil dieses Kapitels den Fortgang der Debatte um Narzißmus im zivilisationstheoretischen Bereich darlege, folgt zunächst eine kurze Diskussion der 1987 erschienenen Arbeit von Franz Stimmer mit dem zunächst vielversprechenden Titel „Zur Psychogenese und Soziogenese narzißtischen Verhaltens“, eines der bislang letzten Bücher, die den Anspruch einer psychoanalytisch fundierten soziologischen Narzißmustheorie erheben, allerdings mit erheblichen Einbußen im Verhältnis zu den Vorläufertheorien. Das Buch von Stimmer, das in der Gesamtdebatte kaum Aufsehen erregt hat, ist hier insofern relevant, als es die in der neueren Zivilisationstheorie vorherrschenden Tendenzen bereits in sich trägt und im Grunde schon ein Ende der soziologischen Narzißmustheorie markiert.

22 23 24 25

Vgl. ebd.: S. 27 Ebd.: S. 51 Vgl. u.a. ebd.: S. 47 Damit bewegt sich Lasch wiederum weiterhin im traditionellen psychoanalytischen Vokabular. So beschreibt er die Psychodynamik des neuen Typus: „Der Verfall der institutionalisierten Autorität in einer offenkundig permissiven Gesellschaft führt […] keineswegs zum ‚Verfall des Über-Ichs‘ bei den Individuen. Er fördert vielmehr die Entwicklung eines harten, strafenden Über-Ichs, das angesichts fehlender, maßgebender, gesellschaftlicher Verbote einen Großteil seiner psychischen Energie aus den destruktiven, aggressiven Impulsen im Es herleitet. Das Über-Ich wird allmählich von unbewußten, irrationalen Elementen in ihm selbst beherrscht“ (ebd.: S. 29). Was dabei ausbleibe, sei die Gewissensbildung (vgl. ebd.: S. 30, Anm.1).

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Von der Narzißmustheorie als Soziologie zur Soziologie ‚narzißtischer Verhaltensweisen‘ Obwohl auch Stimmer in Zusammenhang mit dem Narzißmus von einem Massenphänomen spricht, meint er in Abgrenzung zu Sennett und Lasch, es sei eine unzulässige Pauschalisierung, den ‚modernen Sozialcharakter‘ grundsätzlich als ‚narzißtisch‘ zu bezeichnen. Was man in ‚modernen Industriegesellschaften bundesrepublikanischer Prägung‘ zunehmend beobachten könne,26 seien narzißtische Verhaltensweisen, die nicht unbedingt und in allen Fällen auf narzißtische Persönlichkeitsstrukturen und Störungen schließen lassen. Dem ‚Wert-Unwert-Prinzip‘ als dem bedeutsamsten Regulativ menschlichen Handelns sei es geschuldet, daß narzißtische Verhaltensweisen in ihren vielfältigen Ausprägungen für den Menschen schon immer potentielle Handlungsstrategien gewesen seien, um der phylogenetisch wie ontogenetisch tief verankerten Angst vor Unsicherheit und Minderwertigkeit zu entgehen,27 und in diesem Sinne komme ihnen auch durchaus eine positive und stabilisierende Wirkung zu. Entsprechend versteht er unter Narzißmus „ein spezifisches Verhalten (Rückzug aus sozialen Bindungen, Entwicklung von Größenphantasien), das der Kompensation von Selbstwertstörungen dient.“28 Das negative Selbstwerterleben als Auslöser narzißtisch-kompensatorischen Verhaltens ist im ‚narzißtischen Basissyndrom‘ mit den Gefühlen von Sinnlosigkeit, Leere, Minderwertigkeit, Verzweiflung, Langeweile und Mißtrauen beschrieben.29 Die Palette solcher Verhaltensweisen reicht von den Bewältigungsversuchen quälender Zustände eines gestörten Selbstwerterlebens bis zu den hedonistisch gefärbten oberflächlichen Zufuhren narzißtischer Gratifikationen.30 Die narzißtische Variante der Selbstwertregulierung trete immer dann ein, wenn andere Möglichkeiten aufgrund der biographischen Verläufe nicht erlernt oder momentan aufgrund starker Bedrohung des Selbstwertgefühls nicht realisiert werden können oder aber, wenn ein hohes gesellschaftliches Entgegenkommen für narzißtische Verhaltensweisen besteht.31 All diese Bedingungen sind nach Stimmer in modernen Industriegesellschaften erfüllt: „Narzißtisches Verhalten ist eine kompensatorische Reaktion auf die Störungen, Überforderungen und Gefährdungen bei der Konstitution der modernen Identität. 26 27 28 29 30 31

Vgl. Stimmer 1987: S. 7 Vgl. ebd.: S. 7 Ebd.: S. 15 Vgl. ebd.: S. 16 Vgl. ebd.: S. 51 Vgl. ebd.: S. 16. Die anderen Möglichkeiten der Selbstwertregulierung werden benannt als ‚aktive Auseinandersetzung‘ im Sinne von Realitätsprüfung, eine ‚Bewußtmachung und Reaktivierung stützender internalisierter positiver Selbstaspekte‘ oder ‚bewußte Anpassung an die Wünsche und Vorstellungen anderer‘ (vgl. ebd.).

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Gleichlaufend werden aber in den wohlhabenden modernen Industriegesellschaften narzißtische Optionen verstärkt zur Verfügung gestellt und individuell zur Behebung und Verdrängung von Schwierigkeiten bei der Identitätsbildung und Selbstwertstabilisierung in Anspruch genommen.“32

In diesem Sinne werden psychoanalytische Modelle, die Narzißmus als Folge frühkindlicher Störungen verstehen, als unzureichend bewertet und die Aufmerksamkeit wird auf die sozialen Prozesse gelenkt, die narzißtisches Verhalten begünstigen bzw. fördern. Die für die Selbstwertstörungen verantwortlichen sozialen Prozesse sind auch hier die üblichen Verdächtigen: Individualisierungsschübe, Technologisierung, Bürokratisierung, Pluralisierung und die soziale Dynamik selbst.33 Dabei wird die allgemeine These entwickelt, daß es ‚Zeiten der sich auflösenden sozialen Bezüge und verbindlichen Wertvorstellungen‘ sind, in denen die Wahrscheinlichkeit für narzißtische Verhaltensweisen bei den Betroffenen sehr hoch ist.34 Nach einem Abwägen der Pros und Contras der ‚modernen Gesellschaft‘ („Das Dilemma ist, daß die gleiche moderne Gesellschaft aufgrund ihrer gefährdenden Aspekte über ihre Sozialisationsinstanzen Menschen formt, die sich wegen ihrer im Sozialisationsprozeß erworbenen Interaktionsgestörtheit zunehmend schwerer tun, die grundlegenden Chancen überhaupt wahrzunehmen und zu nutzen und die in dieser Gesellschaft grundsätzlich möglichen Ziele der Autonomie und Selbstverwirklichung zu erreichen“35),

kommt es unter Beibehaltung der ‚Selbstbestimmung‘ als entscheidendes Kriterium zu folgender Diagnose: „Die ‚faktische Freiheit‘ ist zwar sicherlich begrenzt, doch sind die Möglichkeiten für eine flexible Gestaltung der sozialen Beziehungen, des Lebensstils und der Lebenslaufplanung relativ vielfältig wahrnehmbar.“36

Obwohl die Menschen sich schwer tun, ihre Chancen wahrzunehmen, sind die Chancen doch objektiv wahrnehmbar. In diesem typischen Denkmuster hat man ein gutes Beispiel für eine Niedrigbewertung der habituellen Ebene in der neueren Soziologie.37 Und nur aufgrund dieser Bewertung ist Stimmer zu folgender Kategorisierung des ‚Narzißmus‘ in der Lage: In Gesellschaften, in denen ein hohes soziales Entgegenkommen für narzißti32 33 34 35 36 37

Ebd.: S. 209 Vgl. ebd.: S. 7 Vgl. ebd.: S. 132 Ebd.: S. 202, Herv.i.O. Ebd.: S. 203 Dieses Denken ist von den Kategorien ‚neue objektive Chancen‘ versus ‚neue subjektive Unfähigkeiten‘ geleitet. Würde man die habituelle Ebene angemessen einbeziehen, müßte man allerdings von ‚Freiheit unter fehlenden Bedingungen‘ sprechen.

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sches Verhalten besteht und dieses nicht mehr als deviant bewertet wird, bekommt es einen ‚adaptiven‘ Charakter.38 Bekommen diese Verhaltensweisen zunehmend eine funktionale Bedeutung für eben diese Gesellschaft – was bedeutet, daß die ‚Kultur‘ zunehmend ‚narzißtisch‘ wird –, können sie eine ‚sozial-integrative Funktion‘ annehmen.39 Diese integrative Funktion kann nun Folge einer aktiven oder passiven Anpassung an gesellschaftliche Gegebenheiten sein. Die passive Ausprägung kann eine Verhaltensänderung nach außen in konformistischer Weise ohne Persönlichkeitsveränderung oder in assimilatorischer Form eine Persönlichkeitsveränderung der Umweltveränderung entsprechend bedeuten. Bei der aktiven Ausprägung dagegen „werden gesellschaftlich ermöglichte narzißtische Lebensweisen in einer autonomen und flexiblen sozialen Konstitution der Identität und des Selbstwerterlebens integriert, wobei narzißtische Elemente allerdings wesentliche Teilfaktoren der Selbstwertregulierung bilden.“40 In der letztgenannten Form sieht Stimmer die ‚eigentliche Hoffnung der Narzißmusthematik‘, nämlich die Möglichkeit der ‚aktiven Gestaltung narzißtischen Erlebens in sozialen Beziehungen‘, die in der Zukunftsvision eines ‚integrativen Narzißmus‘ verwirklicht werden könnte:41 „Die Wahrnehmung und aktive Umsetzung eines so ausgedehnten sozialen Entgegenkommens für narzißtische Verhaltensweisen in modernen Wohlstandsgesellschaften, die zu in dieser Allgemeinheit bisher noch nie dagewesenen Realisierungsmöglichkeiten und Erweiterung der ‚Reste des primären Narzißmus‘ führen würden, kennzeichnen den Typ des integrativen Narzißmus.“ 42

Damit zieht Stimmer die Möglichkeit in Betracht, durch den gesellschaftlichen ‚Wohlstand‘ den zunehmend an Selbstwertstörungen leidenden Menschen narzißtische Kompensation zu ermöglichen. Diese ‚optimistische Zukunftsvariante‘ zieht der Narzißmusdiskussion den Stachel, indem sie sie auf ein Problem der Verteilung materieller Werte und Expertenwissen reduziert und die psychische bzw. affektive Dimension und die damit zusammenhängende Dynamik ausblendet.

Resümee Während Sennetts Untersuchung über den Verfall der Öffentlichkeit, auf die ich in den folgenden Kapiteln näher eingehen werde, vom Wandel der Emotionen im Verhältnis ihrer Komponenten zueinander und insgesamt zur Realität handelte und die Interdependenz von Beziehungs- und Psychodynamik in den Vordergrund der Betrachtung stellte, wird im weiteren 38 39 40 41 42

Vgl. ebd.: S. 134 Vgl. ebd.: S. 226 Ebd.: S. 227 Vgl. ebd.: S. 227 Ebd.: S. 227

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Verlauf der Theoriebildung der Beziehungsaspekt ausgeblendet und die Aufmerksamkeit auf das Individuum gelenkt, welches einer Gesellschaft gegenübersteht, die seine Bedürfnisse befriedigen kann oder nicht. Obwohl Stimmer eine relativ ausführliche psychoanalytische Theoriegeschichte des Narzißmus liefert, hat sein Beitrag eher einen entdifferenzierenden und entsynthetisierenden Charakter innerhalb der Gesamtdiskussion. Von welcher psychischen Struktur aus die genannten Bewältigungsversuche unternommen werden, welches Selbst dem Werterleben zugrunde liegt und welche Beziehungsdynamik aus solchen Verhaltens- und Empfindensmustern erwächst, wird nicht thematisiert. Es findet keine Verknüpfung von Sozio- und Psychogenese statt, vielmehr wird der Schwerpunkt auf erstere verlagert. Im Ergebnis läßt sich festhalten, daß die soziologische Narzißmustheorie seit Sennett einem Verfall in bezug auf das einmal erreichte Syntheseniveau ausgesetzt ist und weiter, daß dieser u.a. bedingt ist durch das andauernde Versäumnis der Integration psychoanalytischer und soziologischer Ergebnisse und Sichtweisen.

b) Zivilisationstheoretische Fortsetzung der Diagnostik ‚Weg vom normativen Konzept des Sozialcharakters‘ Die zivilisationstheoretische Herangehensweise an den ‚modernen Sozialcharakter‘ besteht darin, die von der Narzißmustheorie und ähnlich ausgerichteten Theorien beschriebenen gesellschaftlichen Phänomene und Tendenzen unter Beibehaltung des herkömmlichen psychoanalytischen Vokabulars aus zivilisationstheoretischer Perspektive einzuordnen. Hierbei wird der ‚Entzivilisierungsthese‘, die in einer konstatierten Entgrenzung der Individuen begründet wird, die These der zunehmenden Zivilisierung entgegengesetzt, die vorrangig mit einer ‚steigenden‘ Selbstkontrolle begründet wird. Eine solche Diskussion der kulturkritischen Arbeiten in ausführlicherer Form findet man in Helmut Kuzmics Buch ‚Der Preis der Zivilisation‘. Zum Ausgangspunkt seiner Erörterungen nimmt Kuzmics ‚das paradox anmutende Unbehagen in der Wohlstandsgesellschaft‘, von dem u.a. die Arbeiten kulturkritischer Autoren zeugen.43 Die unreflektierte Übernahme psychoanalytischen Vokabulars und eine entsprechende Reduktion des Eli-

43 Neben Lasch und Sennett berücksichtigt er ebenfalls Arbeiten von Daniel Bell (1976) zum Hedonismus und Cohen/Taylors „Ausbruchsversuche“ (1977) (vgl. Kuzmics 1989: u.a. Kap. 3: ‚Pathologien‘ der Individualisierung). Die Stichworte, unter denen der ‚moderne Sozialcharakter‘ diskutiert wird, sind hier die ‚Konsequenzen gesteigerten Konsums‘, ‚Folgen der Zivilisierung von Arbeit für die Masse von Angestellten‘ und eine ‚fragile Intimisierung der Familie‘ (vgl. Kuzmics 1989: S. 12).

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asschen Menschenbildes auf das Freudsche kennzeichnen diese Untersuchung. So charakterisiert Kuzmics den Zivilisationsprozeß wie folgt: „Die Transformationen des durchschnittlichen ‚Affekthaushaltes‘ im Laufe des Zivilisationsprozesses bedeuten – als Stärkung der Selbstzwänge in Form von Über-Ich und Ich-Entwicklung – eine Hemmung und Kanalisierung der dem Lustprinzip folgen wollenden Es-Regungen.“44

An dieser Stelle zitiert Kuzmics eine Textstelle von Freud selbst, wo es heißt, den Kern unseres Wesens bilde das ‚dunkle Es‘, „das nicht direkt mit der Außenwelt verkehrt […]“.45 Auf dieses vermeintlich Eliassche Menschenbild aufbauend, wird der Titel der Arbeit („Der Preis der Zivilisation“) erläutert: „Aus der Annahme eines ‚Affekthaushalts‘, der individueller Planung zugänglich ist, kann man auch die Idee einer ‚Affektbewirtschaftung‘ ableiten: die Verlängerung der Handlungsketten bringt oft etwas (mehr ökonomischen Ertrag, mehr Sicherheit durch ein realitätsgerechteres Ich und Über-Ich), aber sie ‚kostet‘ triebökonomisch auch etwas.“46

Die Ware ‚Zivilisiertheit‘ wäre dann eine ‚Ebenmäßigkeit der Affekte‘, „[…] aber um den Preis, daß die Spannung zwischen Es und Über-Ich größer wird: die ‚inneren‘ Instanzen der Triebunterdrückung gewinnen an Bedeutung. Die Menschen werden freier und gebundener zugleich. Psychische Fehlanpassungen lassen sich nicht vermeiden. Realitätsflucht in die Phantasie, ständige Unruhe, voyeuristische Handlungshemmungen sind unerwünschte Auswege der unter der Oberfläche brodelnden Triebenergie.“47

Die Dampfkessel-Metapher wird hier so selbstbewußt präsentiert, als wenn nie ein Zweifel an ihrer Evidenz bestanden hätte. In dem 2002 erschienenen Beitrag von Michael Hinz zur Zivilisationstheorie findet dieses Denkmuster seine Fortsetzung. In dieser Arbeit geht es um die zivilisationstheoretische Kontroverse zwischen Hans-Peter Duerr und Norbert Elias. Duerr vertritt eine ‚Entzivilisierungsthese‘ bezüglich der westlichen Gegenwartsgesellschaften, in denen er eine Senkung der Scham- und Peinlichkeitsschwellen konstatiert. Die Verlängerung der Interdependenzketten habe seiner Meinung nach eben nicht zu einer zunehmend verinnerlichten 44 Kuzmics 1989: S. 99 45 Freud, zit. n. Kuzmics 1989: S. 335, Anm. 41. Weiter heißt es im FreudZitat: „In diesem Es wirken die organischen Triebe, selbst aus Mischungen von zwei Urkräften (Eros und Destruktion) in wechselnden Ausmaßen zusammengesetzt und durch ihre Beziehungen zu Organen oder Organsystemen voneinander differenziert“ (Freud, zit. n. ebd., Herv.i.O.). 46 Kuzmics 1989: S. 99 47 Ebd.: S. 102

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Selbstkontrolle, sondern vielmehr zu einer Enttabuisierung und Brutalisierung in den zwischenmenschlichen Beziehungen geführt. Auch hier fehlt nicht der Vorwurf der Kulturkritik, der Duerrs vorgebrachten Argumenten den Stachel nehmen soll: „Duerr tritt als kulturpessimistischer Prophet des Untergangs auf und entwirft für die Gegenwart ein Katastrophenszenario, in dem viele bekannte Topoi der Zivilisationskritik vereint werden: Zersetzung des Solidarverhaltens, gesellschaftlicher Narzißmus, Suche nach hemmungslosem Genuss, Pseudo-Intimität und Gefühlskälte, Entfremdung von der sozialen und materiellen Umgebung, soziale Beliebigkeit, Anonymität der Sozialbeziehungen, Kriminalität und Gewaltentfesselung, Prostitution und Sittenverfall.“48

An dieser Aufzählung wird schon deutlich, daß hinter Duerrs konzeptuell eher schwachem Gegenentwurf zur Zivilisationstheorie soziologische Narzißmustheorien stehen, mit denen sich Hinz ebenfalls auseinandersetzt.49 Was hat die Zivilisationstheorie dieser Diagnoserichtung entgegenzusetzen? Zunächst einmal ist die Arbeit Hinz’ – ebenso wie Kuzmics’ und mit Bezug auf diese – u.a. darauf angelegt, der Behauptung der Hemmungslosigkeit in der ‚Konsumgesellschaft‘ die hoch entwickelte Fähigkeit zur Selbstkontrolle entgegenzusetzen. Ob es um den Konsumakt geht, um die Sphäre der Sexualität und die unterschiedlichen sexuellen Praktiken, die Handhabung der technischen Produkte oder auch um die Urlaubsplanung, überall sind gestiegene Ansprüche an die Selbstkontrolle der Einzelnen auszumachen.50 Speziell für die ‚Enttabuisierung der Sexualität‘ wird hervorgehoben, daß es sich dabei nicht gleich um ein hemmungsloses Ausleben der Sexualität handelt. Es müsse unterschieden werden zwischen den ‚augenfälligen Veränderungen des Sprechens über Sexualität und des öffentlichen Zur-Schau-Stellens und Betrachtens sexualisierter Körper‘, also der ‚öffentlich-medialen Präsentation‘ einerseits und dem ‚sexuellen Alltagsverhalten‘ andererseits.51 Die Enttabuisierung finde in körperlich distanzierter Weise durch passives Zusehen und Zuhören statt und nicht in der sinnlich-aktiven Erfahrung. Hier zitiert Hinz Thomas Kleinspehn, der hinter dieser Form der Enttabuisierung ‚die verzweifelte Suche nach dem Gegenüber‘ sieht, das als Bild zu verschwimmen droht und nicht greifbar ist, und fügt selbst hinzu: „Die mediale Inszenierung von Nacktheit und 48 Hinz 2002: S. 157 49 Bei Duerr findet keine Auseinandersetzung mit den Autoren statt, er verweist lediglich knapp auf die Theorien, die ebenfalls einer Entzivilisierungsthese zuzuordnen wären. Diese wären Richard Sennett in Zusammenhang mit der „Tyrannei der Intimität“ (vgl. Duerr 1993: S. 27), Christopher Lasch in Zusammenhang mit „demoralization of the public world“ (vgl. Duerr 1997: S. 14f) und Zygmunt Bauman in Zusammenhang mit dem Verhältnis von Verantwortung und Modus der Interdependenz (vgl. ebd.: S. 16). 50 Vgl. Hinz 2002: S. 272f u. Kuzmics 1989: u.a. S. 282ff 51 Vgl. Hinz 2002: S. 283

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Scham resultiert aus dem Mangel an eigenem körperlichen Erleben und fungiert als externalisierter Ersatz für eigene Gefühle und Wünsche.“52 Tatsächlich wird hier auch auf Sennett Bezug genommen, der die der Enttabuisierung innenwohnende Beziehungs- und Psychodynamik hervorhebt, die nach Hinz’ eigener Formulierung darin besteht, „dass man nicht nur über Sexualität sprechen darf, sondern auch, dass man über Sexualität sprechen muss.“53 Doch zugleich wird diese Sicht zivilisationstheoretisch integriert: Die neuartigen sozialen Zwänge zu kontinuierlicher Selbstbefragung und Selbstrechtfertigung würden auf eine jüngere Phase von Zivilisierungsprozessen hinweisen, die W. Engler als ‚reflexive Zivilisierung‘ bezeichnet hat.54 Der kurze narzißmustheoretische Exkurs besteht so neben der herkömmlichen Argumentationsweise weiter, ohne diese ins Wanken zu bringen. Letztere läßt sich an dem von Hinz neu eingeführten Beispiel tabubrechender Sexualpraktiken verdeutlichen.

Von formenden zu kompensationsbedürftigen Zwängen In dem Abschnitt ‚Der Sadomasochismus als Strategie zur Kompensation zivilisatorischer Zwänge?‘ werden einige theoretische Prämissen gesetzt, die die Argumentationsrichtung mitbestimmen. Der Sadomasochismus als tabubrechende Sexualpraktik stelle „eine Möglichkeit dar, dem Alltag und seinen umfassenden, beständigen Zwängen und Tabus zu entfliehen, die aus der langfristigen staatlichen Gewaltmonopolisierung und der Erhöhung des gesellschaftlichen Komplexitäts- und Interdependenzniveaus resultieren […].“55 Bei dem sadomasochistischen Ritual biete sich die Chance, „in vom Alltag abgetrennten Situationen temporär soziale Tabus zu brechen, ekstatische Grenzerfahrungen zu machen, sich gehen zu lassen, die alltägliche Selbstkontrolle außer Kraft zu setzen und dabei von jeglichen Rechtfertigungs- und Verantwortungszwängen entlastet zu sein.“56 Dabei werde den SM-Akteuren in solchen Praktiken ein beträchtliches Selbstkontrollniveau abverlangt, dieser Spezialkultur (auch ‚Affektkultur‘ genannt) sei ein zwar ungeschriebenes, aber unerläßliches ‚Regelwerk zur Ausschließung von Verletzungsfolgen und Kontrollverlusten‘ ebenso wie spezifische Symbole und Codes eigen: „Diese koppeln Lustgefühle und sexuelle Empfindungen an nicht-sexuelle, aggressionsaffine Gefühle von Macht, Ohnmacht, Angst, Schmerz, Ekel, Aggression, Demut und Scham, die im Laufe des abendländischen Zivilisationsprozesses einer starken Tabuisierung und Kontrolle unterworfen wurden. Zur Selbstver52 Ebd.: S. 301 53 Ebd., Herv.i.O. 54 Vgl. ebd.. Zu Englers Unterscheidung von selbstdestruktiver und reflexiver Zivilisierung s. Kap. V. 55 Ebd.: S. 296 56 Ebd.

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wirklichung, Selbstvergewisserung und Identitätsfindung brechen sadomasochistische Akteure mit zivilisatorischen Geboten, physische Gewalt zu vermeiden oder Gewalt und Sexualität voneinander zu trennen, und verletzen zivilisatorische Ekelgrenzen gegenüber menschlichen Exkrementen.“57

Die Betonung der Ausführungen liegt darauf, daß die Inszenierung von ‚tabuisierten‘ ‚Emotionen‘ und Handlungen nicht regel- und hemmungslos betrieben wird. Vergleichbar dem ‚integrativen Narzißmus‘ bei Stimmer wird auch hier eine Zukunftsvision der modernen Zivilisation entworfen, die die neueren Entwicklungstendenzen funktional aufnimmt: „Ungeachtet des majoritären gefühlsmäßigen Abgestoßenseins von der Sexualpraxis des Sadomasochismus sollte die Frage erlaubt sein, ob minoritäre Spezialkulturen mit abweichenden Sexualpraktiken in die moderne Zivilisation integrierbar sind, vielleicht sogar – ähnlich wie der Sport und konsensfähige Erlebniskulturen – dazu beitragen können, andere Lebensbereiche von destruktiven Impulsen zu entlasten […].“58

Eine solche Tendenz wird für den Umgang mit physischer Gewalt im allgemeinen für die zivilisierteren Gesellschaften konstatiert. So sei einerseits die Sensibilität gegenüber und der Grad der Hemmung vor dem Gebrauch physischer Gewalt gestiegen.59 Andererseits jedoch diene die inszenierte fiktive Gewalt ihren passiven Konsumenten als ‚Quelle der Lust und Ergötzung‘:60 „In der Realität werden die sozial akzeptierten Spielräume zum Ausleben aggressiv-gewaltsamer Impulse in westlichen Staatsgesellschaften zunehmend eingeschränkt, etwa auf sportliche Aktivitäten, das passive Betrachten aggressivsportlicher Wettkämpfe oder den Konsum von Gewaltfilmen.“61

Die von Kulturkritikern geäußerten Befürchtungen im Hinblick auf eventuelle desensibilisierende und abstumpfende Wirkung ständiger Präsentation physischer Gewalt in den Medien wird als von falschen Grundannahmen ausgehend relativiert.62 In den Vordergrund wird dagegen die Frage 57 58 59 60 61 62

Ebd. Ebd.: S. 296f Vgl. ebd.: S. 304 Vgl. ebd.: S. 305 Ebd. Hinz verweist auf die Fähigkeit der Konsumenten, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden (vgl. ebd.: S. 305f). Hier wäre es erstens vonnöten, zwischen verschiedenen Altersgruppen zu unterscheiden – allgemein wird in der neueren Zivilisationstheorie der Kindheit wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Insbesondere für diese Phase menschlichen Lebens, aber auch je nach psychischer Ausgestaltung mehr oder weniger für das ganze Leben, gilt andererseits, daß die Prägung über Affizierung eine dem Bewußtsein nicht zugängliche Lernform darstellt. Damasio schreibt in Zusammenhang mit so-

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gestellt, „ob das Betrachten medialer Gewaltinszenierungen ‚kathartisch‘ zu wirken und im Sinne eines ‚Ventils‘ zum kontrollierten Ausleben aggressiver Impulse zu dienen vermag.“63 Mit bezug auf Autoren, die sich mit der interpersonellen und medialen Inszenierung von Gewalt und Sexualität beschäftigen, konstatiert Hinz eine ‚Partialisierung der Affekte‘ und eine ‚Partialisierung des Zivilisationsprozesses‘ in westlichen Staatsgesellschaften gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Danach gelten zivilisatorische Vorschriften inzwischen infolge gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse je nach ‚Sozialwelt‘, ‚Spezialkultur‘ und ‚sozialer Situation‘ in unterschiedlicher Weise. Der Prozeß der Zivilisation mündet in ein ‚situationsangepaßtes Emotionsmanagement‘, anstelle genereller Affektkontrollen tritt das Erlernen von Trennregeln und Situationsdefinitionen.64 Eine ähnliche Auflösung der Zivilisierungs-/Entzivilisierungsdebatte führt auch Helmut Kuzmics herbei, der mit Bezug auf Goffmans ‚Fassaden-Ich‘ versucht aufzuzeigen, daß der Alltag der Menschen nicht von Hedonismus und Zügellosigkeit, sondern eben von Verhaltensregeln und einem hohen situationsspezifischen Grad an Emotionskontrolle gekennzeichnet sei.65 Bevor ich auf die Problemhaftigkeit einer solchen Argumentation eingehe, möchte ich zunächst auf einen Widerspruch hinweisen, der durch die unreflektierte Übernahme unterschiedlicher Denkmodelle entsteht, was wiederum dadurch zustande kommt, daß die von Hinz oder Kuzmics herangezogenen Autoren selbst ihren theoretischen Standpunkt teilweise nicht explizieren.66 So kommt es, daß zur Erklärung z.B. enttabuisierender Sexualpraktiken einerseits das Begehren des Subjekts nach ‚Selbstvergewisserung‘ genannt wird, andererseits von einer ‚Ventilfunktion‘ solcher Praktiken die Rede ist, bei denen die schon ‚überschießenden Emotionen‘ kontrolliert ausgelebt werden können. Im ersten Fall ist es die Affizierung selbst, die gesucht wird, worauf der Ausdruck ‚Inszenierung der Emotionen‘ hinweist. Im zweiten Fall wird das Bild eines Energiestaus vermittelt,

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ziokulturellen Konsequenzen seiner Theorie u.a. über das Verhältnis von Erziehung und Gewaltbereitschaft, „daß sich unsere Erziehungssysteme mit großem Gewinn die eindeutigen Zusammenhänge zwischen aktuellen Empfindungen und vorhersagbaren künftigen Ergebnissen zunutze machen könnten und daß für Kinder, die im wirklichen Leben, in den Nachrichten oder in Spielfilmen zuviel Gewalt erleben, Gefühle und Empfindungen beim Erwerb und der Anwendung adaptiven Sozialverhaltens ihren Wert verlieren. Der Umstand, daß soviel anonyme Gewalt ohne moralisches Bezugssystem dargeboten wird, verstärkt ihre desensibilisierende Wirkung nur noch“ (Damasio 1997: S. 327f). Hinz 2002: S. 306, Herv.i.O. Vgl. ebd.: S. 297 Vgl. Kuzmics 1989: u.a. Abschnitt 4.2.2 und Kuzmics 1985 Roland Eckert, auf den sich Hinz in Zusammenhang mit ‚Inszenierung der Affekte‘ bezieht, macht zumindest andeutungsweise klar, vor welchem psychoanalytischen Hintergrund seine Ausführungen zu verstehen sind, indem er auf die psychoanalytische Wende von ödipalen zu narzißtischen Konflikten verweist (vgl. Eckert 1990: S. 156f).

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der dann unter bestimmten Bedingungen abgeführt werden kann. Insgesamt tendiert die Argumentation wie gezeigt zum letzteren Standpunkt hin, vor allem, wenn es sich um den Umgang mit physischer Gewalt handelt. Im Hinblick auf die Sexualität werden zumindest ansatzweise die beiden Standpunkte historisch geordnet: „Klagten noch in den 1960er Jahren viele über ein Zuviel an Triebspannung und unerfüllte, quälende sexuelle Wünsche, ist dreißig Jahre später eine lauter werdende Klage über ein Zuwenig an Triebspannung und sexuelle Langeweile zu vernehmen.“67

Das Problematische der Argumentationsrichtung, die im Übrigen auch für die zivilisationstheoretische Informalisierungsthese allgemein gilt (s. Kap. V), besteht in einem impliziten triebökonomischen Verständnis der Emotionen. Hier wird ihr interaktioneller Charakter und damit zusammenhängend ihre Bedeutungsfunktion ausgeblendet. Wie ich in den letzten beiden Kapiteln bereits hervorgehoben habe, sind Emotionen nicht lediglich etwas, das im Laufe des Zivilisationsprozesses unterdrückt, tabuisiert bzw. ausgelebt werden kann. Bei der undifferenzierten Rede von ‚tabuisierten Emotionen‘ wie Scham, Ekel, Angst, Schmerz, Aggression usw. stellt sich nochmals die Frage, was denn Emotionen sind, wieso z.B. Aggression und Schmerz zu ihnen zählen. Es stellt sich nach dem in den letzten Kapiteln ausgearbeiteten Menschenbild unter Berücksichtigung der Affektivität weiter die Frage, wie man sich eine ‚Ventilfunktion‘ vorzustellen habe. Bei der Rede von ‚destruktiven Impulsen‘, von denen bestimmte Lebensbereiche ‚entlastet‘ werden können, stellt sich die Frage, wo die destruktiven Impulse herkommen,68 welche Funktion sie haben und im Hinblick 67 Hinz 2002: S. 299, Herv.i.O. 68 Die Beantwortung dieser Frage ist unabdingbar für die Explikation des zugrunde gelegten Menschenbildes. Überlagert der Zivilisationsprozeß bestimmte Triebbedürfnisse, die dann unter Umständen wieder zum Vorschein kommen, oder sind die ‚destruktiven Impulse‘ selbst eingeflochten in die Zivilisationsdynamik? Zur Annahme eines Aggressionstriebes schreibt Elias: „Die Vorstellung, daß Menschen einen angeborenen Trieb zum Angreifen anderer Menschen, einen Aggressionstrieb haben, der in seiner Struktur anderen angeborenen Trieben, also etwa dem Geschlechtstrieb, gleicht, ist unbegründet. Menschen besitzen ein angeborenes Potential zu einer automatischen Umschaltung ihrer ganzen Körperapparatur auf einen anderen Gang, wenn sie sich in Gefahr fühlen. Man spricht zuweilen von einer Alarmreaktion. Der Körper reagiert auf das Gefahrerlebnis mit einer automatischen Umstellung, die auf intensive Bewegung der Skelettmuskulatur, besonders auf Kampf oder Flucht vorbereitet. Menschliche Impulse, die dem Modell eines Triebes entsprechen, werden physiologisch ausgelöst – also, wie man oft sagt, ‚von innen‘, relativ unabhängig von der jeweiligen Situation. Die Umschaltung des Körperhaushaltes auf Kampf- oder Fluchtbereitschaft ist in weit höherem Maße bedingt durch spezifische Situationen, seien es hier und jetzt gegenwärtige, seien es erinnerte./Das Aggressionspotential kann durch naturale und soziale Situationen bestimmter Art, vor allem durch Konflikte

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auf was und warum sie denn überhaupt destruktiv sind. Sind die von Hinz so dargestellten ‚Ausbruchsversuche‘ zwangsläufige Begleiterscheinungen zunehmender gesellschaftlicher Komplexität und Interdependenz? In dem von Elias und Dunning verfaßten Aufsatz „Freizeit und Muße“ wird eine solche Interpretation des ‚Freizeitverhaltens‘ in Frage gestellt, aber allgemeiner auch die Vorstellung, es gäbe Lebensbereiche, in denen Spannung aufgebaut, und andere, in denen sie abgebaut wird. Im Zusammenhang mit Zwängen der Arbeitswelt heißt es dort: „Als wissenschaftliche Annahme ist die Vorstellung, Muße und Zeitvertreib als Funktionen der Arbeit zu betrachten, bestenfalls eine Hypothese, die der Überprüfung bedarf. Gegenwärtig hat scheinbar niemand eine klare Vorstellung, von welchen Arbeitsbelastungen sich der Einzelne in seiner Freizeit erholen möchte. Es bleibt allenfalls die schlichte, körperliche Ermüdung; in diesem Fall wäre es besser, statt ins Theater oder Fußballstadion ins Bett zu gehen. Und da niemand weiß, zu welcher ‚Anstrengung‘ oder ‚Anspannung‘ die Arbeit beim Menschen führt, vermag auch niemand zu sagen, wie Muße, Müßiggang und Zeitvertreib eine Entspannung herbeiführen können. Statt diese gängige Hypothese einfach zu übernehmen, die sich hinter unseren umgangssprachlichen Begriffen verbirgt, tut man besser daran, einen neuen Anfang zu machen und sich einzugestehen: hier ist ein ungelöstes Problem. Man braucht die verbreitete These nicht zu übernehmen, die den Sinn angenehmer Freizeitbeschäftigungen auf die Verbesserung der Arbeit beschränkt oder sie gar auf Funktionen der Arbeit reduziert. Ein Werturteil soll scheinbar in eine Tatsachenbehauptung verwandelt werden. […] Fast alle Freizeittätigkeiten, die dem reinen Zeitvertreib dienen, erzeugen ‚angenehme Spannungen‘. Vor diesem kaum zu bestreitenden Tatsachenbestand ist die Behauptung, Freizeit diene der Entspannung, zu hinterfragen“69

Die Vorstellung, bestimmte Lebensbereiche könnten auf Kosten der anderen von bestimmten Impulsen gereinigt werden, fällt zumindest in dieser Textstelle bei Elias nicht auf fruchtbaren Boden.70 Die Frage, die sich im

ausgelöst werden. In bewußter Frontstellung gegen Konrad Lorenz und andere Forscher, die den Menschen einen analog dem Geschlechtstrieb modellierten Angriffstrieb zuschreiben, möchte ich, etwas zugespitzt, formulieren: Es ist nicht die Aggressivität, die Konflikte, es sind Konflikte, die die Aggressivität auslösen. Unsere Denkgewohnheiten erzeugen die Erwartung, alles, was wir an Menschen zu erklären suchen, lasse sich vom isolierten Individuum her erklären“ (Elias 1990b: S. 226, Anm. 2, Herv.i.O.). Udo Rauchfleisch definiert Aggression aus heutiger Sicht als „eine dem Menschen (wie dem Tier) eigene Dynamik des Herangehens (i.S. des ad-gredi), was so verschiedene Phänomene umfaßt wie Interesse, Selbstbehauptung, Abgrenzung, Verteidigung und Schädigung anderer“ (Rauchfleisch 2002: S. 37). Vgl. zur Psychoanalyse menschlicher Destruktivität s.a. Krause 2001. 69 Elias/Dunning 1983: S. 134f 70 Ganz im Sinne der Eliasschen Zweigleisigkeit findet sich die genau gegenteilige Tendenz bei Elias, wenn etwa in Zusammenhang mit sportlichen Aktivitäten und Veranstaltungen die Vorstellung von ‚Ventilsitten‘ nahegelegt

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Hinblick auf Hinz’ Ausführungen stellt, ist vielmehr, wie es zur Entgrenzung der Spannungssuche kommt. Denn nicht ein Ausleben der Affekte, sondern die Affizierung, das leibhaftige Betroffensein, selbst macht das Begehren des Subjekts aus, welches den von Hinz genannten Phänomenen zugrunde liegt. Eng damit zusammen hängt die Frage, was eine ‚Partialisierung‘ der Affekte bzw. des Zivilisationsprozesses bedeuten soll. Wird damit auf Wandlungen der Formalitäts-Informalitätsspanne bezug genommen? Welches Selbst liegt diesen Wandlungen zugrunde und von welchem Begehren ist es ‚getrieben‘ und warum? Von den Autoren, die mit bezug auf die Fragmentierung der Lebenszusammenhänge auf eine Fragmentierung der Personen schließen, werden eben diese Fragen nicht beantwortet. Interessant ist hier die Auseinandersetzung, die Hinz mit Z. Baumans Kritik der Zivilisations- und Modernisierungstheorie vornimmt. Dort heißt es u.a.: „Statt der Festigung und Stabilisierung des Gewissens und der Ausweitung der Identifizierung im Zivilisationsprozeß betont Bauman […] die ‚Erzeugung von moralischer Indifferenz‘ durch staatlich-bürokratische Zwänge und Abhängigkeiten.“71

Hier wird das Problem als eines unterschiedlicher Betonungsmöglichkeiten nahegelegt, je nachdem, ob man eine eher pessimistische oder optimistische Sicht des Zivilisierungsprozesses pflegt. Doch will man den psychogenetischen Aspekt des Zivilisationsprozesses verfolgen, so gilt es gerade das Verhältnis dieser beiden Sachverhalte zu bestimmen. Dabei ist es unumgänglich zu klären, was hier mit ‚Gewissensbildung‘ gemeint ist. Bezieht man sich damit auf steigende Selbstkontrolle und die Fähigkeit zur Langsicht, so ist es empfehlenswert, von einer bestimmten Über-IchEntwicklung zu sprechen, die sich eher auf eine Introjektion des Anderen bezieht und somit ‚selbstfremd‘ wirkend zu den genannten Ausbruchsversuchen führen kann. Dann könnte man die von Elias und Bauman beschriebenen Aspekte als zwei Seiten des gleichen Prozesses verstehen. Spricht man jedoch von Gewissensbildung und Ausweitung der Identifizierung im Zivilisationsprozeß und versteht unter Gewissen tatsächlich eine Zunahme des Wissens um den Anderen und dessen Berücksichtigung bzw. Wirksamkeit in der eigenen Verhaltens- und Empfindenssteuerung, dann steht die Eliassche Zivilisationstheorie einem ungelösten Problem gegenüber, welches eben nicht zu lösen ist, indem man die von Bauman betonte Ambivalenz des Zivilisationsprozesses durch die Betonung der einen Seite zu relativieren sucht. Dies geschieht bei Hinz, indem er die ‚soziale Indifferenz‘, die er problemlos zu den Charaktereigentümlichkeiten wird und etwa die Rede ist von ‚controlled decontrolling of emotional controls‘ (s. Kap. V). 71 Hinz 2002: S. 318

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der ‚modernen Zivilisation‘ zählen kann, als eine selbstverständliche Nebenfolge des selbstverständlichen Zivilisationsprozeßverlaufs zu seinem ‚psychischen Preis‘ klassifiziert.72 Während nun die Arbeiten von Z. Bauman von Michael Hinz als philosophische Moral-Diskurse klassifiziert und damit disqualifiziert werden, wird den Arbeiten Stefan Breuers größere Fundiertheit zugestanden. Dieser allerdings entwirft im Gegenzug zu Elias und Nachfolge eine Entzivilisierungstheorie und konstatiert im Gegensatz zu Hinz eindeutig eine Abnahme der Selbstkontrolle im Zuge neuerer Entwicklungstendenzen.

Zurück zu Adorno? Der Informalisierungsprozeß als Lockerung von Konventionen und Verhaltensstandards unter Erhöhung des Vermögens zur Selbstregulierung, der von dem niederländischen Soziologen Wouters und letztlich auch von Elias als Beleg für eine Intensivierung des Zivilisationsprozesses angesehen wird, stellt sich aus Breuers Sicht völlig anders dar. Dieser bestreitet zwar nicht, daß die moderne Gesellschaft durch ein hohes Maß an Regulierung gekennzeichnet ist, worin er sich aber von den Zivilisationstheoretikern scheidet, ist die Frage nach der Art der Vermittlung dieser Regulierung. Seine Kritik entfaltet er mit Bezug auf die Systemtheorie und die Kritische Theorie. Bevor ich seine Entzivilisierungsthese vorstelle, ist es nützlich, zunächst nach seinem Zivilisationsbegriff zu fragen. Was nach Breuer Elias mit Recht als Wesensmerkmale eines zivilisierten Habitus herausgestellt habe, seien Selbstdistanz, Selbstkontrolle, Takt und die Technik der Simulation, welche die Fähigkeit bedeute, ‚die anderen mit der Last des eigenen Selbst zu verschonen‘.73 Diese Art der Verhaltensre72 Zum Umgang mit der Kategorie ‚sozialer Indifferenz‘ in der neueren Zivilisationstheorie z.B. Hinz 2002: S. 276f, S. 280f und S. 318, an der letzten Stelle in Auseinandersetzung mit Z. Bauman. 73 Vgl. Breuer 1995: S. 44. Die letzte Formulierung stammt allerdings nicht von Elias, sondern ist dem Sennettschen Zivilisationsbegriff entliehen (vgl. Sennett 1986: S. 335). Der Zivilisationsbegriff von Breuer beinhaltet im Vergleich zum Eliasschen gleichzeitig eine Verflachung und Erweiterung. Die Verflachung besteht darin, daß er den Zivilisationsprozeß auf die Produktion einer bestimmten Habitusform reduziert und ihn nicht als das Ineinandergreifen von Sozio- und Psychogenese und die Zivilisationstheorie entsprechend nicht als Erfassung entsprechender Mechanismen und Dynamiken verstehen will. Ein solcher Zivilisationsbegriff führt ihn dahin, den Vorschlag zu machen, den Zivilisationsbegriff für einen Idealtypus der Affektmodellierung zu reservieren: „Für die Wissenschaft kann der Zivilisationsbegriff nur noch einen Nutzen haben, wenn man ihn seiner Prätention auf Allgemeinheit entkleidet und ihn in einen Idealtypus transformiert, dessen Bezugspunkt die höfische Interaktion ist“ (Breuer 1994: S. 14). Und: „ Wir müssen uns wohl damit abfinden: Die Epoche der Zivilisation liegt hinter uns, es führt kein Weg zurück“ (ebd.: S. 24), denn: „Zeitökonomie und Zivilisation schließen einander aus“ (Breuer 1995: S. 40). Eine tendenzielle Erweiterung, die in der Formulierung Sennetts angelegt ist, wäre die Hervorhebung des Verhältnis-

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gulierung sei jedoch an Lebensbedingungen gebunden, die zwar am Hof gegeben waren, dem modernen Leben jedoch, das durch zunehmende Verflechtung und Komplexität gekennzeichnet ist, abgingen. Die ‚organisierten Sozialsysteme‘ gegenwärtiger Gesellschaften würden auf einer systematischen ‚Verknappung von Zeit‘, einem Gut, das Voraussetzung zivilisierten Verhaltens im beschriebenen Sinne sei, beruhen. In solchen ‚organisierten Sozialsystemen‘ geht es, „wie man nicht nachdrücklich genug hervorheben kann, um Zeitgewinn und um die damit verbundenen Konkurrenzvorteile gegenüber anderen Organisationen: daher die Verkürzung und Kanalisierung der Kommunikation, die simultane Erledigung von Aufgaben durch Arbeitsteilung, die Entlastung der Operationen von der zeitraubenden Notwendigkeit, für jeden einzelnen Fall natürlich gewachsene Motive oder moralischen Konsens zu beschaffen.“74 Die Regulierung, die Elias und Wouters als eine zunehmende Emanzipation durch Verringerung der Machtdifferentiale im Sinne zunehmender Selbstregulierung interpretieren, ist für Breuer vielmehr ein Effekt dieser ‚organisierten Sozialsysteme‘, deren ‚endemischer Rationalisierungszwang‘ weit mehr als Verschiebungen in der gesellschaftlichen Machtstruktur dafür verantwortlich ist, daß überkommene Interaktionsrituale nach und nach über Bord geworfen werden.75 Sein zweiter Einwand richtet sich entsprechend gegen den von Elias und Wouters konstatierten Verlauf der Psychogenese: „Zweitens aber kann die Informalisierung auch deswegen keine Intensivierung des Zivilisationsprozesses bedeuten, weil die partielle Entstrukturierung der äußeren Beziehungen mitnichten durch Strukturgewinne im Inneren der Subjekte kompensiert wird.“76

Nach jahrzehntelangem Hin und Her wird hier wieder einmal auf den Wandel in der Psychoanalyse nach Freud hingewiesen, der bei Riesman und Adorno und anderen Kritischen Theoretikern angeklungen und bei Sennett teilweise soziologisch konzeptualisiert war. Das Modell der ÜberIch-Entwicklung bei Freud sei zu stark auf die väterliche Intervention in der ödipalen Phase fixiert, die grundlegende Bedeutung der präödipalen Entwicklung im Rahmen des Sozialisationsvorgangs hingegen wurde erst später in den Vordergrund gestellt.77 Weiterhin im triebtheoretischen Vokabular und Denkmuster sich bewegend wird von Breuer hervorgehoben,

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ses von Selbst und Beziehung als eine Dimension der Zivilisation. Zur Erweiterung des Zivilisationsbegriffs bei Breuer s.u.. Breuer 1995: S. 40. Gleichzeitig weist Breuer auf eine aus dieser ‚Zeitökonomie‘ entspringende Dialektik hin, wonach die organisiert betriebene Vernichtung von Zeit zur Produktion von freier Zeit, die nun leere Zeit ist, führt, einer Art ‚Zeitmüll‘, mit deren ‚Entsorgung‘ wiederum ganze Großindustrien beschäftigt seien (vgl. ebd.: S. 213, Anm. 13). Vgl. Breuer 1995: S. 41 Breuer 1995: S. 41 Vgl. ebd.: S. 33

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daß heute „der Zugriff des Ganzen auf das Individuum zu einem Zeitpunkt erfolgt, in dem der psychosexuelle Reifungsprozeß noch nicht zur Herausbildung eines stabilen und kohärenten Ichs geführt hat“:78 „Zahlreiche Diagnosen stimmen darin überein, daß unter den gegenwärtigen Bedingungen des abwesenden Vaters ein großer Teil der psychischen Energien an präödipale Objekte gebunden bleibt, so daß für den Aufbau und die Besetzung reifer Ich- und Über-Ich-Strukturen nur ein vermindertes Quantum zur Verfügung steht. Die Folge ist, daß die frühkindliche Entwicklung gar nicht mehr bis zum entscheidenden ödipalen Konflikt gelangt, was wiederum zugleich bedeutet, daß die präödipalen, archaischen Anteile des Über-Ichs gegenüber den ödipalen ein Übergewicht erlangen.“79

Unter Berücksichtigung der noch triebtheoretisch ausgerichteten Arbeiten Kohuts80 versucht Breuer in seinem Aufsatz „Sozialpsychologische Implikationen der Narzißmustheorie“ diese (ent-)zivilisationstheoretisch zu integrieren. Dabei findet eine psychoanalytische Erweiterung der Zivilisationstheorie statt: Die von Elias beschriebene zunehmende Affektkontrolle und die Ausbildung einer immer perfekteren Selbstkontrollapparatur seien aus psychoanalytischer Sicht als eine ‚Transformation des Narzißmus‘ im Sinne Kohuts zu verstehen.81 Was ist damit gemeint? Ein Schritt in Richtung Weiterentwicklung des Narzißmusbegriffs nach Freud geht dahin, narzißtische Besetzungen und Objektbesetzungen nicht mehr als libidoökonomisch aneinander gekoppelt anzusehen. Dabei gibt es die Möglichkeit, den Narzißmus dennoch weiterhin in der Zuständigkeit der Libidotheorie zu belassen, oder aber ihn als eine gegenüber den Trieben unabhängige Größe anzusehen.82 Kohut hat beide Phasen durch78 Ebd.: S. 34 79 Ebd.: S. 34f 80 Nicht berücksichtigt bleibt Kohuts Wende zur Selbstpsychologie, die das herkömmliche Triebkonzept allgemein in Frage stellt. Bei Breuer ist keine Erklärung für diese Entscheidung zu finden, lediglich Literaturhinweise zur Kritik dieser Position (vgl. Breuer 1992: S. 11, Anm. 1). Der einzige Vorwurf an Kohut, der angeführt wird, besteht in der Kritik seiner ‚Unterbewertung der (nichtnarzißtischen) Triebe‘. Auf der Suche nach einem angemessenen psychoanalytischen Konzept für die soziologische Narzißmusdiskussion wendet Breuer zwei Kriterien an: die empirische Fundiertheit und die libidotheoretische Ausrichtung. Interessanterweise ist letzteres dem ersteren bei der Auswahl vorgeschaltet. Im Gegensatz zu Breuer werde ich im nächsten Kapitel vor allem die späteren, selbstpsychologischen Arbeiten Kohuts heranziehen. 81 Vgl. Breuer 1992: S. 23 82 Vgl. ebd.: S. 6f. „Für Freud war die sekundärnarzißtische Libido ein Derivat der Objektlibido und damit von deren Energiemenge abhängig. Eine stärkere narzißtische Besetzung bedingte deshalb eine geringere Objektbesetzung, wie umgekehrt eine stärkere Objektbesetzung den für den Sekundärnarzißmus verfügbaren Energiebetrag schmälern mußte“ (ebd.). Freuds Narzißmusbegriff ist nicht eindeutig zu klären. Hier findet die Abgrenzung gegen

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laufen. Breuer zieht jedoch lediglich die Arbeiten heran, die die Notwendigkeit einer libidotheoretischen Fundierung des Narzißmuskonzepts nicht verneinen. Es geht dann nicht mehr nur um eine Verteilung der Libido, sondern um eine qualitative Umwandlung der Libido durch die Art der Besetzung, „so daß wir es nach dem Auseinanderbrechen des primären Narzißmus mit zwei verschiedenen Arten von Libido zu tun haben: einer Libido, die sich den Objekten zuwendet, und einer Libido, die sich auf SelbstObjekte bezieht.“83 Für die Entwicklung des letzteren, der narzißtischen Libido, werden zwei Varianten genannt. Zu einer ‚Transformation des Narzißmus‘ kommt es, „wenn das Kind durch dosierte Frustrationen eine schrittweise Enttäuschung hinsichtlich des idealisierten Objekts erfährt und dieses zunehmend realistisch zu sehen vermag. Dadurch wird es in die Lage versetzt, seine narzißtischen Besetzungen von der idealisierten Elternimago abzuziehen und die freigewordenen Energien zum Aufbau triebbeherrschender Strukturen zu verwenden – allen voran des Über-Ichs, das auf diese Weise neben seiner objektlibidinösen auch eine narzißtische Komponente erhält. […] Im Bereich des Größen-Selbst wird die Transformation des Narzißmus durch richtige selektive Reaktionen der Eltern auf die Spiegelungsbedürfnisse des Kindes eingeleitet, die es diesem ermöglichen, seine Grenzen zu erkennen […]“84

Die zweite Entwicklungsvariante, der ‚unmodifizierte Narzißmus‘, die beim Fehlen der besagten Bedingungen einsetzt, ist dadurch gekennzeichnet, daß der Strukturerwerb nicht stattfindet, vielmehr eine spezifische Objektabhängigkeit fortbesteht, bei der Objekte als Ersatz für fehlende Segmente der psychischen Struktur gesucht werden. In diesem Sinne sei der Narzißmus in seiner transformierten Gestalt „eine Grundbedingung nicht nur von Individuierung schlechthin, sondern auch die Wurzel wichtiger soziokultureller Fähigkeiten wie Ich-Stärke, Integration von Werten oder Empathie – Fähigkeiten also“, so fügt Breuer die weitere Argumentationsrichtung andeutend hinzu, „deren Fehlen bekanntlich den autoritären Charakter ausmacht […].“85 Aus dieser Perspektive beschreibt Breuer die Zivilisationslinie der okzidentalen Gesellschaften wie folgt: Durch Veränderungen des gesellschaftlichen Gefüges kommt es zu einer Übertragung der jenes Verständnis von Narzißmus statt, nach dem der primäre ein Zwischenstadium in der Entwicklungsgeschichte der Libido auf dem Weg vom Autoerotismus zur Objektliebe und der sekundäre eine Rückwendung der von ihren Objektbesetzungen zurückgezogenen Libido sei. Der Gegensatz, gegen den sich Kohut wendet, ist der zwischen Ich- und Objektlibido, wonach je mehr die eine sich verbrauche, desto mehr die andere verarme. Vgl. zum Freudschen Narzißmusbegriff Wahl 2000: S. 473f u. Laplanche/Pontalis: S. 317ff u. S. 320ff 83 Breuer 1992: S. 12 84 Ebd.: S. 12 85 Ebd.: S. 13

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narzißtischen Libido in der höfischen Zivilisation auf das Ich und in der bürgerlichen Gesellschaft auf das Über-Ich. Im Gegensatz zu Elias bezweifelt Breuer jedoch, daß dieser Prozeß sich über die Oberschichten hinaus ausgebreitet hat. Fest stehe, daß im Vergleich mit anderen Epochen eine Abschwächung der Indikatoren des nicht-transformierten Narzißmus für die ‚kulturtragenden Schichten‘ der okzidentalen Kultur etwa vom siebzehnten Jahrhundert an zu verzeichnen sei.86 Ausgangspunkt seiner folgenden Gegenwartsdiagnose ist also die Annahme eines ‚universalen, unmodifizierten Narzißmus‘, der in der ‚bürgerlichen Kultur‘ noch ein Gegengewicht besaß, welches ab dem ‚Zerfall der bürgerlichen Kultur‘ zunehmend verlorenging. Die Zunahme narzißtischer Störungen im zwanzigsten Jahrhundert sei in diesem Sinne nicht als Übergang zu einem neuen ‚Zeitalter des Narzißmus‘ (Lasch) zu deuten, sondern als eine „Wiederkehr von Dispositionen und psychischen Strukturen, die durch den Zivilisationsprozeß für eine gewisse Zeit überlagert, obschon nie ganz aufgehoben worden waren.“87 Der von der Kritischen Theorie diagnostizierte ‚autoritäre Charakter‘ markiere lediglich ein Zwischenstadium in der Zerfallskurve der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘, bei dem noch die mangelnde narzißtische Besetzung von Ich und Über-Ich durch eine ‚rigide Erziehung‘ kompensiert wurde, die die psychischen Strukturdefizite verdeckte.88 Mit dem Verschwinden der ‚rigiden Erziehung‘89 verschwinden auch „jene sozialen Krücken, die dem einzelnen wenn schon nicht einen aufrechten Gang, so doch wenigstens eine zielgerichtete Fortbewegung ermöglicht hatten.“90 Zu erwarten sei somit ein größeres Ausmaß an psychischen Strukturdefiziten sowie eine ungehemmtere Artikulation derselben.91 Und es sei dieser ‚unmodifizierte Narzißmus‘, dessen Existenz „das eindrucksvollste Argument gegen die gedankenlose Rede von der Individualisierung 86 Vgl. ebd.: S. 24. Als Indikatoren des unmodifizierten Narzißmus zählt Breuer in Anlehnung an Kohut auf: das Spektrum der Suchterscheinungen, die Abhängigkeit von omnipotenten Selbstobjekten, die soziale Resonanz von messianischen oder charismatischen Persönlichkeiten, die kulturelle Verbreitung und Lizenzierung von Größen-Phantasien und die Suizidrate (vgl. ebd.: S. 22). 87 Breuer 1992: S. 24, Herv.v.mir 88 Vgl. ebd.: S. 25 89 „Die rigide Sexualmoral ist verschwunden, der Zwang zum Triebverzicht ist schwächer geworden; die ‚Vaterkultur‘, die schon zur Zeit der Jugendbewegung kaum mehr als ihr eigener Schatten war, ist der ‚vaterlosen Gesellschaft‘ (Mitscherlich) gewichen und der ödipale Konflikt längst nicht mehr von der Bedeutung, die Freud ihm noch zuschrieb“ (ebd.: S. 26). 90 Ebd.: S. 26 91 Vgl. ebd.: S. 26f. Als Indizien für diese Entwicklungstendenz werden genannt Steigerung der Suizidrate, epidemische Ausbreitung von Glücksspielen, der süchtige Umgang mit Computern, der Siegeszug der Popmusik, der Konsum einer Überfülle von Trivialmythen, Zulauf zu neuen Jugendreligionen und -kulturen und die anhaltende Zunahme des Konsums von Halluzinogenen (vgl. ebd.: S. 26f).

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ist, die die sozialwissenschaftlichen Diskurse der Gegenwart durchzieht.“92 Was die moderne Gesellschaft in dieser Hinsicht kennzeichne, sei, „daß der Komplexitätssteigerung des Ganzen eine abnehmende Integrationskraft der Teile entspricht. Was sich vollzieht, ist gewiß eine Bewegung der Differenzierung, mehr noch: der Fragmentierung und Dekomposition. Diese aber findet ihre Grenze und ihren neuen Mittelpunkt nicht in Individuen, sondern setzt sich vielmehr in die Personen hinein fort und verwandelt sie in Dividuen […].“93

Dort wo Hinz u.a. also eine ‚Partialisierung der Zivilisation‘ sehen, sieht Breuer jene ‚Typen‘, die nach Adorno (s.o.) reflexartig den objektiven Zug widerspiegeln: „Weit davon entfernt, über die von den Zivilisationstheoretikern unterstellte Souveränität zu verfügen, die es ihm erlaubte, rigide Kontrollen in bestimmten Bereichen zu lockern, scheint das Subjekt eher zum Zufall zu tendieren: zur Spaltung in ein uneigentliches Selbst, das sich den externen Funktionsimperativen der organisierten Sozialsysteme anpaßt, und in ein eigentliches Selbst, das sich in den Intermundien dieser Systeme entfaltet und überall dort, wo es auf keine Schranken stößt, den Impulsen seiner jeweiligen emotionalen Befindlichkeit folgt […].“94

Nun läßt Breuer in diesen Ausführungen entscheidende Elemente der Narzißmustheorie wieder in der Soziologie aufleben, doch gleichzeitig führt er eine Entdifferenzierung des Narzißmusbegriffs herbei, wenn er vom Narzißmus als conditio humana ausgeht, der durch gesellschaftliche Entwicklungen verdeckt oder freigegeben werden kann, und dabei die Verflechtung der anthropologischen, gesellschaftsspezifischen und individuellen Ebenen der menschlichen Beschaffenheit nicht hinterfragt. Auf was für ein Menschenbild Breuer seine Theorie aufbaut, wird nicht klar. Der schwerwiegendste Fehler ergibt sich daraus, daß Wandlungen der Wir-IchBalance in seinen Überlegungen nicht berücksichtigt werden. Auch ich bin gegen eine ‚gedankenlose Rede von Individualisierung‘, doch deswegen kann man nicht den Narzißmus einer stärker wir-gebundenen Persönlichkeit mit dem einer ‚individualisierten‘ in einen Topf werfen. Eben auch von einer jeweiligen Wir-Ich-Balance des sozialen bzw. individuellen Habitus hängt nämlich das gesellschaftlich erlaubte bzw. selbstverständliche Maß an ‚Entgrenzung‘ ab, dessen Überschreitung erst von Menschen mit einem bestimmten Empfindensmuster als solche erlebt und als ‚narzißtische‘ Tendenz klassifiziert wird. Aus dieser Sicht muß entsprechend die Individualisierungstheorie neu überdacht werden (s. Kapitel VII).

92 Breuer 1992: S. 27 93 Ebd.: S. 27, Herv.i.O. 94 Breuer 1995: S. 42

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Vom normativen Konzept des Sozialcharakters zum Konzept des fragmentierten Sozialcharakters? Während also die Zivilisationstheoretiker in den Mittelpunkt ihrer Diagnose „die mit den neuen Verhaltensfreiheiten einhergehenden neuartigen Verhaltensanforderungen, die zu einer beständigen und gleichmäßigen Trieb- und Affektkontrolle auf mittlerer Linie zwingen“,95 stellen, also die neuen, unsichtbaren Zwänge, die dann wiederum innerhalb bestimmter Enklaven ‚kompensiert‘ werden, steht im Mittelpunkt der Diagnose der Gegenpartei die psychische Ungehemmtheit von Individuen, die bei fehlendem Gegendruck ihren ‚Impulsen‘ freien Lauf lassen. Sind das lediglich zwei Sichtweisen auf den gleichen Sachverhalt? Auch wenn man bei Breuer wenig über die subjektive Befindlichkeit seines ‚Untersuchungsgegenstandes‘ erfährt, so liefert er doch einige Anhaltspunkte über seine eigene Befindlichkeit in der von ihm untersuchten Gesellschaft, wenn er z.B. in Bezug auf den freien Lauf der Impulse bei fehlenden Schranken schreibt: „Wie dünn dabei manchmal die Linie ist, die die psychische von der physischen Inkontinenz trennt, weiß jeder, der die öffentlichen Verkehrsmittel in Großstädten benutzt.“96

Weiter heißt es an einer anderen Stelle, „fünf Minuten auf der Autobahn sollten genügen, um sich davon zu überzeugen, daß hier nicht die Zivilisation herrscht, sondern das Gesetz des Dschungels“, und „eine Welt, in der man bei jedem Streit um eine Parklücke, bei jeder Beschwerde über zu lauten Partylärm damit rechnen muß, erschossen, erstochen oder zusammengeschlagen zu werden, ist von der Zivilisation noch immer genauso entfernt wie der von Hobbes beschriebene Kriegszustand […]“.97 Leben Breuer und Hinz tatsächlich in derselben Gesellschaft? Kann man Breuers ‚kulturpessimistische‘ Sicht selbst als Ausdruck einer erhöhten Sensibilität gegenüber physischer Gewalt und somit als Ergebnis des fortschreitenden Zivilisationsprozesses abhandeln?98 Mir geht es darum, zu zeigen, daß diesen widersprüchlichen Diagnosen zwei unterschiedliche Zivilisationsbegriffe zugrunde liegen. Dabei ist der erste vielmehr durch einen Schwund als durch eine Weiterentwicklung in der Theorie bestimmt, der zweite stellt eine Explizierung und Hervorhebung eines bestimmten Aspekts der Zivilisation dar, der in zunehmende Spannung mit dem ersteren gerät und entsprechend als problematisch empfunden wird. Aus dem Spannungsverhältnis dieser beiden Begriffe möchte ich die Notwendigkeit einer Weiter-

95 96 97 98

Hinz 2002: S. 280 Breuer 1995: S. 42 Breuer 1992: S. 45 Vgl. Hinz 2002: S. 304

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entwicklung der Zivilisationstheorie aufzeigen und in den nächsten Kapiteln einen entsprechenden Weg einschlagen. Im Falle des ersten Zivilisationsbegriffs werden bestimmte eigene Empfindensmuster in die Theorie hineingetragen und dort als Züge der Psychogenese wiederentdeckt, ohne als solche reflektiert zu werden. Es handelt sich dabei einerseits um die monadistische, andererseits um die fragmentierte Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die monadistische Sichtweise läßt sich ablesen an dem weiterhin vorherrschenden triebtheoretischen Vokabular und der Fokussierung des Zivilisationsbegriffs auf die Kategorien ‚Selbstkontrolle‘ und ‚Langsicht‘, ohne das Gegenüber dieser Habitusform zu thematisieren. Wie ist der Andere in der Interaktion psychisch repräsentiert? Welchen ‚sozialen Wert‘ hat die vermeintlich so mühsam aufgebrachte Selbstkontrolle? Entsprechend sind z.B. die von Kuzmics angeführten Beispiele aus Situationen, in denen der Andere als solcher zur Bedürfnisbefriedigung nicht relevant ist, wie der Akt des Konsums, Teilnahme an Verkehr und Urlaubsplanung. Wird doch noch auf zwischenmenschliche im Sinne von tatsächlich interaktionellen Situationen bezug genommen und werden dort Probleme aufgespürt, so werden diese als ‚Preis der Zivilisation‘ klassifiziert, womit jede weitere Auseinandersetzung abgeschnitten ist. Wenn Adorno noch schreibt, daß „Freud eben durch seine psychologische Atomistik einer Realität, in der die Menschen tatsächlich atomisiert und durch eine unüberbrückbare Kluft voneinander getrennt sind, adäquat Ausdruck verliehen […]“99 hat, so deswegen, weil er darin eine – vielleicht sogar politische – Kraft ausmachen kann, insofern gesellschaftliche Verhältnisse widergespiegelt und problematisiert werden, und nicht, weil er darin eine der Sache angemessene Vorgehensweise sieht: „Die analytische Theorie denunziert die Unfreiheit und Erniedrigung der Menschen in der unfreien Gesellschaft ähnlich wie die materialistische Kritik einen von der Wirtschaft blind beherrschten Zustand. Aber unter ihrem mit dem Tode verschworenen Medizinerblick gerinnt die Unfreiheit zur anthropologischen Invariante, und damit versäumt die quasi-naturwissenschaftliche Begriffsapparatur an ihrem Gegenstand, was nicht nur Gegenstand ist: das Potential der Spontaneität. Je strikter der psychologische Bereich als in sich geschlossenes, autarkisches Kraftfeld gedacht wird, um so vollständiger wird Subjektivität entsubjektiviert. Die auf sich selbst zurückgeworfene, gleichsam objektlose Seele erstarrt zum Objekt. Sie kann aus ihrer Immanenz nicht ausbrechen, sondern erschöpft sich in ihren energetischen Gleichungen. Die streng nach eigenen Gesetzen studierte Seele wird unbeseelt: Seele wäre erst das Tasten nach dem, was sie nicht selbst ist.“100

99 Adorno 1980: S. 35 100 Adorno 1973: S. 29f

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Dieses Zitat trifft den Zustand der neueren Zivilisationstheorie. Die von Adorno beschriebene Konsequenz triebtheoretischen Denkens und Empfindens trifft nicht nur auf die ‚zivilisierte Seele‘ zu, sondern auch auf die sich damit beschäftigende Soziologie: Das Subjekt ‚verschwindet‘ aus den Menschenwissenschaften. Diese Tendenz spiegelt sich auch in der Rede von einer ‚Partialisierung der Affekte‘ bzw. der ‚Zivilisation‘ wider. Welches Selbst und welches Erleben liegen diesen vermeintlichen ‚Prozessen‘ zugrunde? Ähnlich wie Adorno im Hinblick auf das monadistische Denken gegenüber der analytischen Theorie, hat sich Richard Sennett in bezug auf das fragmentarisierende Denken in der ‚Goffman-Schule‘ und die Vorstellung vom ‚Fassaden-Ich‘ geäußert: „[…] die Autoren der Goffman-Schule entwerfen keine allgemeine Gesellschaftstheorie, sondern eine erste Symptomatik der modernen Malaise […] – der Unfähigkeit, sich soziale Beziehungen vorzustellen, die starke Gefühle zu wekken vermögen; der Unfähigkeit, ein öffentliches Leben zu denken, in dem das Verhalten der Menschen nicht bloß von Rückzug, Angleichung und Versöhnung geprägt ist.“101

Hier hilft auch der Versuch nicht weiter, das von Goffman entworfene Menschenbild zu historisieren, wie ihn Kuzmics unternommen hat, wenn man als Kriterium des Wandels in erster Linie die Zwänge im Auge hat, die auf den Einzelnen einwirken und sein Verhalten regulieren, bzw. ihn zur Selbstregulierung zwingen. Kuzmics zieht die Arbeiten Goffmans heran, um sich vom ‚normativen Konzept‘ des Sozialcharakters abzusetzen und einen ‚intellektuell redlichen Weg‘ zu finden, die zentralen Sozialcharakterannahmen der ‚Kulturkritiker‘ zu operationalisieren. Diesen Weg findet Kuzmics in der ‚neutralen Sprache‘ des dramaturgischen Modells Goffmans. Nach diesem Modell könne man – im Gegenzug zu den Kulturkritikern – zeigen, daß auch die heutigen Umgangsformen von einer starken Normiertheit und Reguliertheit geprägt seien, „daß Takt selbst in anonymen Gelegenheitssituationen mobilisiert wird – ein Zeichen, wie tief der Altruismus in den Menschen verankert ist.“102 Daß das von Goffman beschriebene ‚Fassaden-Ich‘ eben kein Ausdruck der ‚modernen Malaise‘, kein Portrait des modernen Sozialcharakters ist, will Kuzmics daran zeigen, daß sich bestimmte Elemente desselben ebenfalls in der nachhöfischen Welt finden lassen, sprich eben das Aufsetzen der Masken, die ‚Nicht-Authentizität‘ beim Rollenspiel. Im Ergebnis seines Vergleichs anhand von belletristischem Material, das sich auf die nachhöfische Salonwelt einerseits und das moderne Büro andererseits konzentriert, kommt er zu dem Schluß, „daß sowohl Verlegenheit wie Fassaden-Ich in beiden so-

101 Sennett 1986: S. 57 102 Kuzmics 1989: S. 301. Der tiefverankerte Altruismus koexistiert wohlgemerkt neben dem ‚brodelnden Es‘.

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zialen Konfigurationen häufiger anzutreffen sind als z.B. in einer traditionell ländlichen Welt oder in einer Fabrik.“103 Dies ist insofern plausibel, als es sich bei ersteren um Figurationen handelt, in denen die zwischenmenschliche Beziehungssteuerung eine große Rolle spielt, andererseits diese Beziehungen schwerer durchschaubar bzw. von undurchsichtigeren Zwängen geprägt sind als letztere. Doch meines Erachtens sind Verlegenheit und Fassaden-Ich seicht-soziologische Begriffe, wenn es darum geht, die Psychogenese bestimmter Verhaltens- und Empfindensmuster herauszuarbeiten. So bleibt Kuzmics auch verborgen, daß die von ihm beschriebene Salonwelt vielmehr durch eine Distanz der Individuen zu ihren Masken geprägt ist, die von ihm beschriebenen Individuen im Büro jedoch jeweils mit ihren ‚Masken‘ vorübergehend zusammenzufallen scheinen. So heißt es in einer von ihm zitierten Textstelle aus einem Roman im Hinblick auf den Büro-Menschen: „In Gegenwart von Arthur Baron spreche ich leise, überlegt, gescheit und komme mir liebenswert vor, klug und würdig und weltgewandt, nicht nur während des Zusammenseins mit ihm, sondern auch noch eine Weile danach; sein Wesen wird mein Wesen, bis mir ein anderer begegnet, der eine stärkere Persönlichkeit hat als ich, oder eine überlegene gesellschaftliche oder geschäftliche Stellung.“104

Nicht der Kampf um Mittel zur Befriedigung eigener Bedürfnisse steht hier hinter der Fassade, noch scheint der Aufbau der Fassade besonders arbeitsaufwendig zu sein. Vielmehr scheint der Erzähler seinem Gegenüber ausgeliefert zu sein. Aus Kuzmics Ausführungen läßt sich lediglich die Erkenntnis gewinnen, daß der Einzelne weiterhin durch das Gegenüber bedingt ist; was er nicht erfassen kann, sind Art und Grad dieser Bedingtheit, die erst Aussagen über die Psychogenese im Zivilisationsprozeß ermöglichen. Während Goffman sich für die Analyse der Struktur der Erfahrungsdimension von Menschen interessierte und nicht für deren Genese und das ihnen zugrundeliegende Selbst, trägt Kuzmics diese Erfahrungsdimension in die Theorie hinein, wobei er weiterhin – entgegen seinem Anspruch – sowohl deren Genese als auch die Genese des Selbst ausblendet. Dabei erscheinen ‚Außengeleitetheit‘ bzw. erhöhte Anfälligkeit für Verlegenheit als nicht weiter zu hinterfragende Selbstverständlichkeiten. Claus Daniel hat in seiner Arbeit „Theorien der Subjektivität“ über die Veränderung von Individualität und von Auffassungen über die Individualität auf einen Bruch in der ‚Subjekttheorie‘ hingewiesen, der durch den Moralisierungsvorwurf an die älteren Theorien mitbedingt zu sein scheint. Dieser Bruch vollzieht sich dort, wo das Fassaden-Ich an Stelle des Subjekts tritt. Mit dem Auftauchen des Fassaden-Ich verschwinden Reflexivi103 Kuzmics 1989: S. 251 104 Heller, J.: „Was geschah mit Slocum?“, zit.n. Kuzmics 1989: S. 249

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tät und Selbstbestimmung als zentrale Kategorien der Gesellschaftskritik, denn diese werden als letztlich doch dem bürgerlichen Individualismus verhaftet abgetan.105 Damit entkommt man zwar dem Kulturpessimismus, der auch unter Soziologen aus der Mode gekommen zu sein scheint, aber was hat man gewonnen? Welches Erkenntnisinteresse steht hinter den unterschiedlichen Standpunkten? Welche Alternativen gibt es für die Soziologie, außer eine Partialisierung des Zivilisationsprozesses, die der Notwendigkeit der Kompensation der zivilisatorischen Zwänge entspräche, zu konstatieren?

Resümee und Ausblick „Verhält es sich nicht vielmehr so, daß es absinkende und aufsteigende Integrationsebenen und Gesellungsformen gibt, so daß eine Integrationsebene, die für uns selbst nicht sonderlich relevant ist, ehemals vielleicht die eigentlich aufschlußgebende, zentrale Schicht bildete und umgekehrt eine heute zentrale Schicht ehemals peripher war?“106

Der weitere Weg führt über den zweiten oben angekündigten Zivilisationsbegriff, der bei Breuer in seinem Verständnis des ‚zivilisierten Habitus‘ anklingt. Zu diesem zählt Breuer nicht nur das Vermögen zur Selbstkontrolle und Selbstdistanz, sondern auch ‚Takt‘ und die ‚Technik der Simulation‘, welche die Fähigkeit meint, die anderen mit der ‚Last des eigenen Selbst‘ zu verschonen. Eine entscheidende Erweiterung gegenüber Hinz und Kuzmics ist in dieser Aufzählung insofern vorhanden, als damit Selbstkontrolle nicht als ‚Selbstzweck‘ erscheint, auch nicht Selbstkontrolle als eine bloß dem funktionalen Verflechtungszusammenhang dienliche Funktion, sondern ihr auch und vor allem im Hinblick auf das menschliche Gegenüber eine Bedeutung zukommt. Der Begriff ‚Takt‘ bezieht sich nicht nur auf eine aufgesetzte oder strategische Höflichkeit, sondern kann als habitualisiertes gesellschaftliches Grenzmuster verstanden werden, das Art und Grad der psychischen Repräsentanz des Anderen anzeigt. Welche Konsequenz für ‚Zivilisationsmuster‘ unter Berücksichtigung der Beziehungsdimension ergibt sich also, wenn Breuer von einem Subjekt spricht, das sich aufspaltet in ein sich anpassendes ‚uneigentliches Selbst‘ und ein seinen Impulsen bei fehlenden Schranken freien Lauf lassendes ‚eigentlichen Selbst‘? Angesichts der Relevanz des Erlernens bzw. Verlernens von Affekten und des Teilens derselben mit anderen in der menschlichen Verhaltens-

105 Daniel 1981: S. 140f 106 Elias 1990a: S. 64

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und Beziehungssteuerung weist Rainer Krause darauf hin, daß die ganze Vorstellung vom wahren und falschen Selbst unauflösbar mit Wissen um das ‚humanspezifische Affektspektrum‘ und dessen Verfügbarkeit verbunden ist.107 Versteht man Affekte lediglich als etwas, was im Laufe des Zivilisationsprozesses unterdrückt, modelliert und reguliert wird und im Laufe des Informalisierungsprozesses wieder – kontrolliert oder unkontrolliert – zugelassen wird, und fokussiert man zivilisationstheoretisch Selbstkontrolle und Langsicht einzelner Individuen, ohne den Wandel der Affektivität und somit die Beziehungsdimension zu berücksichtigen, so blendet man im Grunde die Psychogenese aus. Bei Elias allerdings läßt sich tatsächlich ein Zivilisationsbegriff finden, der eher dem von Breuer nahe ist: „Wenn man versuchen wollte, das Schlüsselproblem jedes Zivilisationsprozesses auf seine einfachste Formel zu bringen, dann könnte man sagen, es ist das Problem, wie Menschen für ihre elementaren animalischen Bedürfnisse im Zusammenleben miteinander Befriedigung finden können, ohne daß sie sich bei der Suche nach dieser Befriedigung immer von neuem gegenseitig zerstören, frustrieren, erniedrigen oder in anderer Weise schädigen, also ohne daß die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse des einen Menschen oder der einen Gruppe von Menschen auf Kosten der Bedürfnisbefriedigung eines anderen oder einer anderen Gruppe geht.“108

Dieses Problem ist aber keineswegs mit der Pazifizierung bestimmter Räume und der Hebung des Lebensstandards in diesen behoben. Es ist meines Erachtens nicht zulässig, bei strukturell neuen Problemen und Konflikten weiterhin auf befriedete Räume, Wohlfahrtsstaat und Selbstkontrollmuster zu verweisen, vielmehr bedarf es hier einer Weiterentwicklung des Zivilisationsbegriffs sowie der Zivilisationstheorie. Auch dieser Weg ist bei Elias vorgezeichnet. In Anbetracht der Tatsache, daß sich menschliche Bedürfnisse und die Bedingungen ihrer Erfüllung wandeln, ist der oben angeführte Zivilisationsbegriff, in dem es um die elementaren Bedürfnisse der Menschen geht, zu eng bzw. zu allgemein gefaßt, je nachdem, was man unter ‚elementare animalische Bedürfnisse‘ versteht. Welche Bedürfnisse dominant verhaltens- und empfindenssteuernd sind, kann sich ja im Zuge gesellschaftlicher Entwicklungen wandeln. Wie Elias oft betont hat, geht es den Menschen nicht nur um ein physisches, sondern auch ein um soziales Überleben. Auf dieses bezieht er sich etwa, wenn er von der ‚Kraft der lebenssteigernden Funktion des Selbstwertgefühls‘109 oder dem ‚Überlebenswert‘ von Techniken der Selbsterhöhung bzw. Herabsetzung Anderer spricht. In Anlehnung an Freuds Narzißmusbegriff und dessen Weiterentwicklung schlägt Elias den Begriff Selbstwertbeziehungen vor, mit dem neben ökonomischen und staatlichen Bindungen ein wei107 Vgl. Krause 1998: S. 56 108 Elias 1990b: S. 46 109 Elias/Scotson 1990: S. 312

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terer Aspekt menschlicher Verflechtungszusammenhänge erfaßt werden kann: das emotionale Erleben der gesellschaftlichen Strukturen und ihrer Wandlungen, ihre um das Selbst zentrierte Deutung, welche wiederum die gesellschaftliche bzw. die Beziehungsdynamik mitbestimmen.110 Obwohl der Begriff ‚Selbstwertbeziehungen‘ relativ spät in seinem Werk auftaucht, so ist nicht zu übersehen, daß es Elias – angefangen bei der Untersuchung der höfischen Gesellschaft – stets auch darum ging, die Mechanismen der Verflochtenheit von ‚Macht‘ und ‚Gefühl‘ aufzudecken, aufzuzeigen, wie er in seinem ‚Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation‘ schreibt: „Wie tief die Niveaudifferenzen, die Druckverhältnisse und Spannungen der eigenen Zeit in das Gefüge der einzelnen Seele eingreifen.“111 An anderer Stelle spricht er in diesem Zusammenhang von einer zwingenden ‚Logik der Emotionen‘,112 einer Logik, die den gesellschaftlichen Machtverhältnissen folgt. Wie stark bzw. wie tief die Niveaudifferenzen in die ‚einzelne Seele‘ eingreifen, hängt einerseits von der Größe der Differentiale selbst, also vom Grad der Abhängigkeiten ab. Einfach gesagt, lautet dann die These, mit Verringerung der Machtdifferentiale verringert sich auch die Macht des Stigmas. Diesen Aspekt – sprich: den Prozeß der Demokratisierung – stellt die neuere Zivilisationstheorie in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen zu den gegenwärtigen Tendenzen in entwickelteren Gesellschaften. Doch andererseits ist für die Bedingungen der Möglichkeit von ‚Fremdbestimmtheit‘ auch die Art der Abhängigkeiten entscheidend,113 die in Interdependenz mit der Psychodynamik den Prozeßverlauf mitbestimmt. Dieser Aspekt steht im Mittelpunkt einiger Narzißmustheorien, die versuchen, uns auf eine Dimension der neueren Tendenzen aufmerksam zu machen, die der Zivilisationstheorie abgeht. Um den Kontrast zu verdeutlichen, möchte ich zwei Standpunkte zur Charakterisierung gegenwärtiger Familienstrukturen aus den genannten zwei Lagern anführen. Ähnlich wie Kuz110 Vgl. ebd.: S. 307-312. „Der tatsächliche Gang der Ereignisse erhält für die Menschen, die darin verwickelt sind, Bedeutung und Sinn durch seine Funktion der Erhöhung oder Erniedrigung in einem vorgegebenen Schema von Selbstwerten“ (ebd.: S. 308). 111 Elias 1989c: S. 451 112 Vgl. Elias/Scotson 1990: S. 18. Diese Logik besteht darin, so Elias, Eigenschaften wie ‚mächtiger‘ oder ‚zivilisierter‘ mit ‚besser‘ zu assoziieren und umgekehrt. 113 Hans Peter Duerr hat recht, an dem Eliasschen Modell die Vernachlässigung dieses Aspekts zu kritisieren und sehr richtig zu fragen, „ob die Trieb- und Affektmodellierung wirklich in erster Linie eine Funktion der Länge von Interdependenzketten ist und nicht viel eher eine Funktion vom Modus der gegenseitigen Abhängigkeiten […]“ (Duerr 1993: S. 27, Vgl. a. Hinz 2002: S. 212). Es gilt jedoch, eben Wandlungs- und Unterscheidungskriterien für den Modus der Abhängigkeiten auszuarbeiten. Die von Duerr verwendeten Kriterien persönlich/unpersönlich oder mittelbar/ unmittelbar reichen nicht aus. Auch persönliche, unmittelbare oder intime Beziehungen lassen eine ganze Bandbreite verschiedener Gestaltungsmöglichkeiten offen.

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mics eine ganze Liste von Aufgaben anführt, die man zu erledigen habe, wenn man einen Urlaub plant, verfährt er im Hinblick auf die Familie, um die Komplexität des Alltags und die daraus resultierende Notwendigkeit der Selbstregulierung hervorzuheben, denen der Einzelne ausgesetzt ist. So verweist er auf den beträchtlichen Aufwand an Selbstdisziplin und Überwindung, der nötig sei, „um schon rein auf Planungsebene einen normalen Familienalltag mit Kindern in geordnetem Rahmen zu halten (von der Lust ganz zu schweigen). Lasch z.B. übersieht mit seinen Klagen über den Autoritätsverlust in der Familie, wie selbstverständlich viele Formen der Verantwortung für die Heranwachsenden getragen werden: das reicht von der Verkehrserziehung bis zur Vorbeugeimpfung, vom Schikurs bis zur Kinderzusammenführung in unwirtlichen Nachbarschaften […], auch übersieht die Kritik am Autoritätsverfall, daß es für diesen Gründe gegeben hat: es häufen sich ja die Situationen, wo die Eltern selbst nicht weiter wissen können.“114

Lasch jedoch will auf etwas anderes hinaus. Wenn auch in etwas elternverachtender Manier weist er auf eine andere Ebene familiärer Beziehungen hin: „Daß moderne Eltern sich anstrengen, ihren Kindern das Gefühl zu vermitteln, erwünscht oder geliebt zu sein, vermag die innere Kälte kaum zu verbergen – die Ferne derer, die der überkommenen Generation wenig zu überliefern haben und jedenfalls den Anspruch auf Selbsterfüllung voranstellen. Die Kombination von emotionaler Distanzierung und Versuchen, ein Kind von seiner Vorzugsstellung innerhalb der Familie zu überzeugen, ist ein gutes Rezept für die Entwicklung einer narzißtischen Persönlichkeitsstruktur.“115

Breuer zitiert Kohut: „Wo früher eine Überstimulierung der Kinder durch übergroße elterliche Nähe das Hauptproblem war, dominieren heute soziale Bedingungen, die nach Kohut ‚entweder die Schaffung einer unterstimulierenden, einsamen Umgebung für das Kind fördern und/oder das Kind ohne die Möglichkeit wirksamer Erleichterung dem pathogenen Einfluß eines an Selbst-Pathologie leidenden Elternteils aussetzen.‘“ 116

Die Zivilisations- und die Entzivilisationstheoretiker reden offensichtlich aneinander vorbei. Die Dimension, auf die uns die letzteren stoßen wollen, 114 Kuzmics 1989: S. 293 115 Lasch 1980: S. 74 116 Breuer 1992: S. 26. Entgegen seinem Vorhaben zitiert Breuer im übrigen doch noch aus Kohuts selbstpsychologischen Arbeiten. Im libidotheoretischen Konzept dürfte eine Unterstimulierung des Kindes kein Problem darstellen.

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ist die Dimension des Selbst, die unter bestimmten Bedingungen so problematisch werden kann, daß ihre Zwänge dominant verhaltens- und empfindenssteuernd und beziehungssteuernd wirken können, womit der dritte Überlebensaspekt beim Menschen angesprochen ist: die Zwänge zum psychischen Überleben. Physische, soziale und psychische Bedürfnisse sind nicht voneinander zu trennen und spielen immer allesamt eine Rolle im menschlichen Leben, oder wie Horkheimer es ausdrückt: „Die gesellschaftliche Ordnung gehört ganz genauso gut zur Milch wie der Fettgehalt.“117 Sie sind jedoch insofern zu unterscheiden, als daß sie mit Art und Grad der Abhängigkeiten variieren. Je nach erfahrenem Mangel bzw. wahrgenommener Bedrohung kann einer dieser Überlebensaspekte im Vordergrund stehen und entsprechend das Begehren des Subjekts ausmachen.118 Angesichts dieser Differenzierung der ‚Überlebensaspekte‘ ist die Zivilisierungs-/Entzivilisierungs-Debatte in neuem Licht zu betrachten. Die Annahme der Gewalt als einer menschlichen Konstante, die vom Zivilisationsprozeß überlagert wird oder unter Umständen wieder durchbricht ist ebenso unzureichend wie eine ähnliche Annahme in bezug auf den Narzißmus. Beide sind jeweils in ihrem gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang zu betrachten und zu erklären. Physische Gewalt kann in einer weniger pazifizierten Gesellschaft nicht nur anders empfunden werden als in einer Gesellschaft mit stabilem Gewaltmonopol, sondern auch ganz anders bedingt sein. Die Entzivilisierungsthese in bezug auf entwickeltere Gesellschaften muß nicht als Behauptung eines Zurückgehens zu früheren Zivilisationsmustern aufgefaßt werden, sie kann auch bedeuten, daß neue Verhaltens- und Empfindensmuster entstehen, die das Vermögen der Menschen zur Bedürfnisbefriedigung mindern. Und genau dies bringt Adorno

117 Horkheimer 1985: S. 253. 118 Eine kurze Anmerkung zum Ausdruck ‚Begehren des Subjekts‘ und zu dessen Stellenwert in dieser Arbeit: Bekanntlich spielen die Ängste im (individuellen und gesellschaftlichen) Zivilisationsprozeßmodell eine zentrale Rolle: „Die Ängste bilden einen der Verbindungswege – einen der wichtigsten – über den sich die Struktur der Gesellschaft auf die individuellen psychischen Funktionen überträgt“ (Elias 1989c: 446). Diese Sicht ist meines Erachtens etwas zu eng gefaßt, da die Entwicklungsmuster des Selbst, die diese Ängste bedingen, und ihre Wandlungsmöglichkeiten im Zuge gesellschaftlicher Entwicklung dabei zu kurz kommen. Geht man in Gedanken bis auf den Grund der Ängste zurück (vgl. ebd.: 445), findet man bestimmte Bedürfnisse, deren Befriedigung bedroht ist. Natürlich spielen Ängste und Zwänge immer eine Rolle im menschlichen Leben, doch welche Ängste und Zwänge dominant verhaltenssteuernd sind oder überhaupt als solche erlebt werden, hängt mitunter in starkem Maße davon ab, die Befriedigung welcher Bedürfnisse gefährdet ist. Das ‚Begehren des Subjekts‘ ist den Ängsten vorgeschaltet, vorherrschende Ängste sind Ausdruck dafür, daß die Befriedigung bestimmter Bedürfnisse problematisch geworden ist.

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in seinen kulturkritischen „Thesen über Bedürfnis“ (1942) vortrefflich auf den Punkt, wenn er schreibt: „Die Unterscheidung von Oberflächenbedürfnissen und Tiefenbedürfnissen ist ein gesellschaftlich entstandener Schein. […] An den sogenannten Oberflächenbedürfnissen ist das Schlechte nicht ihre Oberflächlichkeit, deren Begriff den selber fragwürdigen der Innerlichkeit voraussetzt. Sondern schlecht ist an diesen Bedürfnissen – die gar keine sind –, daß sie auf eine Erfüllung sich richten, die sie um eben diese Erfüllung zugleich betrügt. Die gesellschaftliche Befriedigung des Bedürfnisses – als Vermittlung durch die kapitalistische Gesellschaft – hat einen Punkt erreicht, wo das Bedürfnis in Widerspruch mit sich selbst gerät. Daran, und nicht an irgendeine vorgegebene Hierarchie von Werten und Bedürfnissen, hat die Kritik anzuknüpfen.“119

Was ich hier erkennen kann, ist keine unangemessene ‚Moralisierung‘, sondern der Verweis auf eine Dynamik, die einen zentralen und höchst aktuellen Stellenwert besitzt. Das, was Adorno als ‚die Gefahr einer Einwanderung der Herrschaft in die Menschen durch deren monopolisierte Bedürfnisse‘ bezeichnet, welche kein Ketzerglaube sei, der durch Bannsprüche zu exorzieren sei, sondern eine reale Tendenz des späten Kapitalismus,120 bleibt freilich als Beziehungs- und Psychodynamik zu präzisieren. Aufgabe der Soziologie ist und bleibt es, diesen Wandel im Blickfeld zu behalten. Diese Gefahr, der die dialektische Theorie nach Adorno standhalten müsse, bezieht sich nicht auf die ‚Möglichkeit der Barbarei nach der Revolution‘, sondern auf die ‚Verhinderung der Revolution durch die totale Gesellschaft‘. Auch wenn die Revolution heute nicht mehr ernsthaft zur Debatte steht, geht es doch im Hinblick auf die Soziologie nach wie vor um ihre Praxisrelevanz und um ihre Fähigkeit, unsichtbare Strukturen, die Konflikt und Leiden zugrunde liegen, sichtbar zu machen. In diesem Sinne scheint mir dieses Problem der dialektischen Theorie heute ein Problem der Soziologie und beispielhaft der neueren Zivilisationstheorie zu sein. Der Gefahr zu widerstehen, die unsichtbaren Strukturen unvermittelt wiederzuspiegeln, vermag auch sie nur, „indem sie jede Frage des Bedürfnisses in ihrem konkreten Zusammenhang mit dem Ganzen des gesellschaftlichen Prozesses erkennt, anstatt das Bedürfnis im allgemeinen sei’s zu sanktionieren, sei’s zu reglementieren oder gar als Erbe des Schlechten zu unterdrücken.“121 Ein normatives Bild des Subjekts als Bezugspunkt der Untersuchung zu nehmen, wie es den impliziten und expliziten Narzißmustheoretikern durchweg unterstellt wird, bringt zudem nicht nur Nachteile mit sich. Der normative Standpunkt dieser Theoretiker kann selbst der Soziologie als Material dienen, um bestimmte Wandlungen der Verhaltens- und Empfin119 Adorno 1995: S. 392f, Herv.v.mir 120 Ebd.: S. 393 121 Ebd., Herv.v.mir

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densmuster und entsprechende Diskrepanzen und affektive Brucherfahrungen nachzuvollziehen.122 Was das vermeintlich nicht-normative Gegenlager jedoch vollbringt, ist, diese Wandlungen einer oberflächlichen Kosten-Nutzen-Analyse zu unterziehen, anstatt sie als Psychogenese zu denken, und somit zu abstrahieren von dem, wovon nicht zu abstrahieren ist: den Subjekten, die in diesen Wandlungen verflochten sind. Um diese Wandlungen zu erfassen, bedarf es einer Weiterentwicklung des theoretischen Instrumentariums, wo derzeit ein Schwund an Theorie zu verzeichnen ist. Eine Weiterentwicklung der Zivilisationstheorie bedeutet nicht, den Preis der Zivilisation zu berechnen, sondern die Fortsetzung des Versuchs, die Interdependenz von Psycho- und Soziogenese zu verstehen versuchen, um die sich in diesem Prozeß wandelnden psychischen und zwischenmenschlichen Konflikte besprechbar zu machen. Weder ist Freuds Instanzenmodell von vornherein darauf angelegt, die Beziehungsdimension des Psychischen und somit die Affektivität, noch die Kategorie Selbstkontrolle ausreichend, um gesellschaftliche Wandlungen in der Ausgestaltung der Affektivität zu erfassen. Die von Breuer in die soziologische Diskussion eingeführte Kategorie der ‚narzißtischen Energie‘, die allerdings selbst noch libidopsychologisch begründet ist, deutet die Richtung der Weiterentwicklung an. Im nächsten Kapitel geht es zunächst um die Begründung einer Abwendung vom triebpsychologischen Denken. Wie ist die Kategorie ‚narzißtische Energie‘ menschennäher zu fassen? Das von den Narzißmustheoretikern entworfene Bild des Selbst setzt sich jedenfalls trotz aller Diskreditierungsversuche auch in der Charakterisierung des sogenannten ‚postmodernen‘ Selbst in der Soziologie fort, oh-

122 Fragt man nach den ‚Affektmotiven‘ Duerrs für seinen Feldzug gegen die Zivilisationstheorie – wie Hinz dies in seiner Arbeit zur Elias-DuerrKontroverse tut –, so ist es vielleicht fruchtbarer, solche zeit- und gesellschafsspezifischen Entgrenzungs- und Brucherfahrungen herauszuarbeiten, auf die es bei Duerr viele Hinweise gibt, anstatt sich mit solchen ‚spezifischen Affektmotiven‘ wie Duerrs vermeintlichen Problemen mit Autoritäten oder mit Sexualität auseinanderzusetzen (Vgl. Hinz 2002: Kap. 3.6. Duerrs Affektmotive bei seiner Kritik an Elias’ Zivilisationstheorie, S. 173ff, insbes. S.203). Einer solchen ‚narzißtischen Reflexivität‘ hat Pierre Bourdieu die wissenschaftliche entgegengesetzt, die er als eine ‚Soziologie der Soziologie‘ bezeichnet; sie „ermöglicht das Soziale im Herzen des Individuellen zu entdecken, das Unpersönliche hinter dem Persönlichen“ (Bourdieu 1993a: S. 369). Ungeachtet dessen, daß der Erkenntniswert solcher Aussagen über die sogenannten ‚spezifischen Affektmotive‘ in der Soziologie nichtig ist, ist es auch nicht ratsam, das Vorführen einzelner Personen zur ‚wissenschaftssoziologischen‘ Methode zu erklären und damit in der Wissenschaft Standards zu setzen, die jeglicher Ethik entbehren. Diese vermeintlich wissenschaftliche Vorgehensweise entspricht allerdings einem bestimmten Verständnis der mancherorts gefeierten Informalisierung: Was vorher verboten war, ist jetzt erlaubt, ungeachtet des sozialen Werts des Verbotenen bzw. Erlaubten.

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ne jedoch mit der Narzißmustheorie weiter fundiert zu werden. Ein Amalgam aus Beck, dem neueren Sennett und Bauman ergibt folgendes Bild: Das postmoderne Individuum ist ruhelos und getrieben von der endlosen Suche nach Anerkennung und Selbstachtung und der Suche nach Mitteln und Lehrern zur Verstärkung, Vertiefung und Intensivierung der Gefühle, die bedingt ist durch seinen steigenden Appetit nach immer intensiveren Erfahrungen und immer neuen Erlebnissen. Es leidet an einem chronischen Mangel an Ressourcen zum Aufbau dauerhafter Identität. Es weist ‚rätselhafte Impulse zum Wechsel‘ auf.123

123 Vgl. u.a. Beck 1986: S. 156f, Bauman 1999: S. 317f, Sennett 2000: S. 115

Kapitel IV: ‚Paradigmenwechsel‘ in der Psychoanalyse

„Nicht begriffliche und terminologische Verfeinerung, sondern Vertiefung unseres Begreifens der psychologischen Essenz des Menschen und Vergrößerung unserer Fähigkeit zur Erklärung menschlicher Motivationen und Verhaltensweisen werden unsere Entschlossenheit stärken, die emotionale Härte des Verzichts auf die tröstliche Hilfe des vertrauten begrifflichen Rahmens auf uns zu nehmen und bestimmte Gruppen von empirischen Daten – oder bestimmte Aspekte dieser empirischen Daten – aus dem Blickwinkel der Psychologie des Selbst zu betrachten.“1

Das Überdauern triebökonomischen Vokabulars und entsprechender Denkmuster, das nicht nur für Teile der Soziologie, sondern auch für weite Teile der Psychoanalyse selbst charakteristisch ist, mutet um so merkwürdiger an, als deren Kritik und alternative Denkmodelle schon zeitgleich mit der traditionellen Psychoanalyse Freuds und aus ihr heraus entstanden sind. Einer der frühen Kritiker triebökonomischen Denkens war Alfred Adler, Mitglied des Wiener Psychoanalytischen Vereins und dessen Präsident, bis er 1911 aufgrund der Zuspitzung der Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und Freud sein Amt niederlegte und mit anderen Mitgliedern den Verein verließ. Diese ‚Spalter‘ gründeten dann eine eigene Gesellschaft für ‚Freie Psychoanalyse‘, die 1912 in ‚Verein für Individualpsychologie‘ umbenannt wurde. Ein anderer Vertreter dieser psychoanalytischen Richtung, die neben der Freudschen immer fortbestand, war später 1

Kohut 1981: S. 14

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Heinz Kohut, der – selbst zunächst überzeugter Freudianer – nach und nach die Triebtheorie relativierte, um schließlich eine eigene Theorie, nämlich die ‚Selbstpsychologie‘ vorzulegen.2 Wenn ich im Hinblick auf diesen psychoanalytischen ‚Strang‘, der spätestens seit Adlers Arbeiten neben der traditionellen Psychoanalyse bestand, von einem ‚Paradigmenwechsel‘ spreche, dann deshalb, weil ich der Überzeugung bin, daß hier zumindest auf der Erkenntnisebene ein Fortschritt stattgefunden hat, auch wenn dieser von großen Teilen der psychoanalytischen Welt ignoriert oder unzulänglich assimiliert wurde. In der Tat ist es schwierig, auf institutioneller Ebene einen Paradigmenwechsel zu konstatieren. Neue Erkenntnisse, Ideen und Standpunkte haben in der Psychoanalyse entweder zu neuer Schulbildung geführt oder sind als Weiterentwicklung der alten Theorie ausgegeben worden, ohne deren Menschenbild und grundlegende Aussagen konsequent zu korrigieren. Die Macht, die vom traditionellen psychoanalytischen Denkmuster ausgeht, ist – in den Fällen der Assimilierung ebenso wie in Fällen der Abgrenzung – bemerkenswert. Morris N. Eagle hat die Situation der Psychoanalyse 1984 folgendermaßen zusammengefaßt: „Wenn man den Umfang der Neuformulierungen genau betrachtet, ist man völlig im Ungewissen, was von der traditionellen psychoanalytischen Theorie übrigbleibt. Und doch werden diese Neuformulierungen und Änderungen oft so dargestellt, als wären sie lediglich Erweiterungen früherer Ideen oder nur ergänzende Formulierungen, ohne zu fragen, ob sie sich mit der bereits bestehenden tradi-

2

Kohut (1913-1981) studierte ebenfalls Medizin in Wien. Aufgrund seiner jüdischen Abstammung mußte er 1939 Österreich verlassen und ging nach Chicago, wo er zunächst in Neurologie eine Facharztausbildung und danach eine analytische Weiterbildung in klassischer Freudscher Psychoanalyse begann. Von 1964/5 war er Präsident der Amerikanischen Psychoanalytischen Vereinigung, ab 1965 einer der Vizepräsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und ab 1970 Vizepräsident der Sigmund-FreudArchive. Weiter gehörte er zum Kreis um Anna Freud und Heinz Hartmann. Mit der Veröffentlichung seiner abweichenden Überlegungen zum Narzißmus und zum Selbst begannen sich Freunde und Kollegen von ihm abzuwenden, was zu einer studentischen Gruppenbildung um in herum führte. Wie Ernest S. Wolf berichtet, hielt die Freundschaft zu Anna Freud an, die Psychoanalyse wurde darin jedoch mit dem Aufkommen der Selbstpsychologie zum Tabu-Thema (vgl. Siegel 2000: S. 19f). Kohut hat an mehreren Stellen seines Werkes dargelegt, wie schwer ihm die Umorientierung im theoretischen Denken gefallen ist und sein ‚coming-out‘ hat in der Tat lange gedauert. Allen M. Siegel hält zwei Ereignisse in Kohuts Leben für ausschlaggebend für seinen späten Bruch mit der alten Theorie: „Im Herbst 1971 erfährt Kohut, daß er unheilbar an Leukämie erkrankt ist. Zum gleichen Zeitpunkt lösen seine narzißmustheoretischen Überlegungen eine Welle an Kritik aus. Das Wissen um einen frühen Tod, aber auch die Unterstützung seiner Freunde haben, so meine ich, Kohut den Mut finden lassen, das psychoanalytische Establishment zu verlassen und sich mit seinen Ideen von der klassischen Theorie eindeutig abzugrenzen“ (ebd.: S. 13).

‚PARADIGMENWECHSEL‘ IN DER PSYCHOANALYSE | 153

tionellen Theorie in logischer Übereinstimmung befinden. Diese Neuformulierungen enthalten nämlich oft auch hartnäckige, besonders zwingende kritische Beurteilungen der psychoanalytischen Theorie, ohne ausdrücklich zu erwähnen, daß solche Kritik bereits erfolgte, jetzt zur Kenntnis genommen wird und man sich tatsächlich mit ihr auseinandersetzt. So wird die angebliche Behebung eines Mangels der traditionellen psychoanalytischen Theorie, die von Kritikern längst erkannt wurde, allzu oft als theoretischer Fortschritt oder gar als Durchbruch begrüßt, wobei die frühere Kritik häufig nicht zitiert wird, wie es wissenschaftlicher Übung entspräche. Und schließlich ist es nicht selten so, daß vorgegeben wird, einige dieser Neuformulierungen – mitunter recht radikaler Art – seien bereits in manchen Freudschen Schriften vorweggenommen, sie stünden im Einklang mit manchen Ideen Freuds oder erweiterten sie, und es wird kaum oder gar nicht danach gefragt, ob diese Neuformulierungen in einem logischen Zusammenhang mit den Grundgedanken der Psychoanalyse als einem kohärenten theoretischen System stehen.“3

Die gesellschafts- und wissenschaftstheoretischen Bedingungen für solchen Prozeßverlauf in der psychoanalytischen Disziplin zu ergründen, würde einer eigenen Untersuchung bedürfen. Ich werde diese Frage hier nur kurz streifen, wenn es um die ideologischen Anteile der psychoanalytischen Theorie geht. Im Zentrum dieses Kapitels steht der Paradigmenwechsel selbst oder besser: gedankliche Zwischenstationen auf dem Weg zum Paradigmenwechsel.

a) Ein alternativer psychoanalytischer Strang Der Beitrag Adlers „Wichtiger als angeborene Dispositionen, objektive Erlebnisse und Umwelteinflüsse ist die subjektive Einschätzung dieser Faktoren. Ferner steht diese Einschätzung in einem seltsamen Verhältnis zur Wirklichkeit.“4

Mit der Bezeichnung ‚Individualpsychologie‘ werden in der Adlerschen Schule Ganzheit und Einmaligkeit der Individuen betont, was nicht bedeutet, daß ihre Gesellschaftlichkeit ausgeblendet oder vernachlässigt würde. Vielmehr stellt die Gesellschaftlichkeit für Adler eine Eigentümlichkeit menschlichen Lebens dar, unter der er jedoch entgegen der Freudschen Theorie nicht ein Zwangsverhältnis versteht, dem sich ein monadenhaft konstruierter, letztlich nur auf seine biologischen Bedürfnisse bezogener Mensch aus Gründen der Lebenserhaltung unterwerfen muß, sondern die 3 4

Eagle 1988: S. 4 Adler, zit. nach Ansbacher/Ansbacher 1982: S. 63

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Bezogenheit auf andere Menschen wird selbst als primäre, naturgegebene Tatsache, zwischenmenschliche Beziehungen als Basis der menschlichen Existenz anerkannt.5 Als Hauptziele der psychischen Aktivität werden somit nicht Lust und Triebbefriedigung, sondern Sicherheit, Geltung und Macht angesehen.6 Das, was angestrebt wird, ist primär das, was aufgrund der eigenen Sozialisation als wertvoll erlebt wird und nicht das, was als lustvoll erlebt wird. Oder anders ausgedrückt: lustvoll ist letztlich das, was wertvoll ist.7 Erziehungsfehler werden im Hinblick auf den Selbstwert des Kindes als solche ausgemacht, dem grundsätzlich zwei Entwicklungsrichtungen offen stehen: „Im großen und ganzen bleiben da zwei Hauptrichtungen bestehen: zu weit gehende Unterwerfung oder Auflehnung und Hang zur Selbständigkeit. Gehorsam oder Trotz – die menschliche Psyche ist fähig, in jeder dieser Richtungen zu arbeiten./Diese beiden richtungsgebenden Tendenzen modifizieren, verändern, hemmen und erregen jede Triebregung so sehr, daß, was immer angeborenerweise sich als Trieb geltend macht, von diesem Punkte aus nur zu verstehen ist. ‚Schön ist häßlich, häßlich – schön‘, wie Macbeth’s Hexen singen.“8

Die subjektive Ebene bzw. der Selbstwert werden hier als zentrale Kategorien gedacht, womit Adler einerseits den aus Chemie oder Physik entliehenen ‚Hilfsvorstellungen‘ wie Stauung oder erhöhter Druck, welche er an Freuds Denkmodell scharf kritisiert, entkommt, und eine menschennähere Vorstellung der Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen konzeptualisiert. Andererseits durchbricht er auch den Freudschen Determinismus, indem er das Prinzip der Spontaneität als einen Aspekt der Subjektivität mitdenkt. Die Persönlichkeit ist demnach nicht nur als Produkt der Vergangenheit zu verstehen, sondern als eine ziel- und also in die Zukunft gerichtete Einheit.9 Die Konsequenzen eines solchen Umdenkens und der Kontrast zwischen den beiden Menschenbildern lassen sich am Beispiel seiner Kritik und Umformulierung des Verdrängungskonzepts verdeutlichen. Während Freud mit dem Gedanken spielte, psychologische Phänomene wie eben die Verdrängung auf Physiologie und Chemie zurückführen zu können, kommt Adlers Psychologie nicht ohne ein erfahrendes, auf andere gerichtetes Subjekt aus. So sind für ihn auch Triebverdrängungen als Ausdruck des Geltungsdranges und der Sicherungstendenzen zu verstehen. Die Bedrohung der letzteren, die Erwartung bzw. das Gefühl der Herabsetzung führen zu Neurosen, die Verdrängung sei sozusagen ein Nebenprodukt der

5 6 7 8 9

Vgl. Köppe 1977: S. 45 Vgl. ebd.: S. 51 Vgl. Ansbacher/Ansbacher 1982: S. 80ff, Abschnitt 2 („Werte anstelle von Lust“) Adler, zit. n. ebd.: S. 81 Vgl. Köppe 1977: S. 63f

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Sicherungstendenzen.10 Eine charakteristische Eigentümlichkeit des Adlerschen Menschenbildes im Gegensatz zum Freudschen ist so die Berücksichtigung der Relevanz des affektiven Austausches sowohl für die frühe Kindheit11 als auch für die spätere Entwicklung und speziell die psychischen Störungen. So wird Adlers Theorie bisweilen im Gegensatz zur Triebtheorie als Gefühlstheorie bezeichnet,12 anderenorts wird die Auseinandersetzung zwischen Adler und Freud als eine Kontroverse zwischen einer Psychologie mit Seele und einer Psychologie, aus der die Seele oder die Persönlichkeit ausgeschlossen wurde,13 betrachtet. So stellt Rattner die Frage, „ob nicht die Psychoanalyse, der wir so viele Einsichten über das menschliche Seelenleben verdanken, letztlich eine Psychologie ‚ohne Seele‘ darstellt, d.h. eine Projektion seelischer Befunde auf eine imaginäre Triebwelt, welche nur in Verzerrungen die menschliche Lebenswirklichkeit widerspiegelt.“14

Der Beitrag Kohuts Heinz Kohut hat sich selbst als einen Analytiker charakterisiert, der versucht, „sich zu größerer Klarheit durchzukämpfen auf einem Gebiet, das er trotz jahrelanger gewissenhafter Bemühung nicht innerhalb des verfügbaren psychoanalytischen Rahmens – selbst des durch die Beiträge moderner

10 Vgl. Ansbacher/Ansbacher 1982: S. 77 u. S. 82. „ist das treibende Moment in der Neurose die Verdrängung oder, wie ich vorläufig unpräjudizierlich sagen will, die andersartige irritierte Psyche, bei deren Untersuchung auch die Verdrängung zu finden ist?“ (Adler, zit. n. ebd.: S. 77). Ansbacher/ Ansbacher weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Freud Jahre später seine Ansichten denen Adlers anglich, „als er die Verdrängung unter dem Begriff ‚Abwehr des Ichmechanismus‘ einreiht […]. Tatsächlich erkannte er dann, daß die Verdrängung vom Ich ausging – in diesem Falle ein Äquivalent zu Adlers Begriff ‚irritierte Psyche‘“ (ebd.: S. 77, vgl. a. S. 252). Daß Freud diese Ansichten nicht früher übernommen habe, läge daran, daß zu jener Zeit ein ‚Makel der analytischen Unorthodoxie‘ dem Studium des Ich anhaftete (vgl. ebd.: S. 252). 11 „Schon in den ersten Anpassungen liegen Gefühlswerte gegenüber den umgebenden Personen“ (ebd.: S. 81). Als ein Grund für die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und der daraus resultierenden theoretischen Differenzen zwischen Freud und Adler wird in der Literatur die unterschiedliche soziale Herkunft ihrer Patienten genannt. Daß Adlers ‚Material‘, wie Freud es ausdrückte, Menschen mit ‚schlampigen Konflikten‘, verdrehten und verschrobenen Charakteren gewesen seien, aber keine wirklichen Hysterien und großen Neurosen, könne daran gelegen haben, daß Adler es vorwiegend mit schweren Frühstörungen und psychosomatischen Krankheitsbildern zu tun gehabt hat. Damit hätte sich Adler lange Zeit vor Kohut schon im Bereich der präödipalen Störungen bewegt, die Freud vernachlässigt hatte (vgl. Handlbauer 2001: S. IXff u. 164ff). 12 Vgl. Köppe 1977: S. 56. 13 Vgl. Ansbacher/Ansbacher 1982: S. 78 u. Köppe 1977: S. 45 14 Rattner, zit.n. Köppe 1977: S. 45

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Forscher berichtigten Rahmens – zu verstehen in der Lage war.“15 Entsprechend sind seine Kritik, Neueinschätzung und Neuformulierung der herkömmlichen Theorie aus seiner klinischen Erfahrung erwachsen und in ihrer Ausrichtung eng an diese gebunden. Seine neue Sicht läßt sich daher vielleicht am besten an seiner Neuformulierung des therapeutischen Ziels verdeutlichen, womit implizit eine grundlegende Kritik des Freudschen Menschenbildes verbunden ist. Damit zusammenhängend sind auf theoretischer Ebene die Neubewertung des Triebkonzepts und die Vertiefung der Kategorie Beziehung von entscheidender Bedeutung für den weiteren (Erkenntnis-)Gang der Psychoanalyse. Diese Gedanken kulminieren schließlich in Kohuts Konzept des Selbst, welches eine Explikation seines Menschenbildes ermöglicht. Freuds Ethik sei vor allem eine ‚Ethik der Wahrheit‘ gewesen.16 In dieser Aussage Kohuts bezüglich seines Meisters steckt sowohl Bewunderung als auch entschiedene Kritik, eine ambivalente Haltung, die die gesamte Selbstpsychologie Kohuts durchzieht. Dieser Einstellung Freuds entspreche auch sein Verständnis vom analytischen Prozeß, der „entweder in Begriffen der Erkenntnis als das Unbewußte bewußt machend oder in Strukturbegriffen als den Bereich des Ich ausweitend definiert werden kann […]“.17 Das von Freud so formulierte therapeutische Ziel der Psychoanalyse habe der wissenschaftlichen Weltsicht seiner Zeit entsprochen, welche er nicht nur zu seinem ‚persönlichen kategorischen Imperativ‘, seiner ‚persönlichen Religion‘ gemacht, sondern eben auch in den analytischen Prozeß hineingetragen habe.18 Diese Grundhaltung als Ausdruck des ‚Ideals wissenschaftlicher Objektivität‘ impliziere eine klare Unterscheidung zwischen Beobachter und beobachtetem Gegenstand. Freud habe den äußersten Schritt ‚objektiver Wissenschaft‘ unternommen, als er das Innenleben des Menschen untersuchte, aber „er betrachtete das Innenleben des Menschen mit der Objektivität eines äußeren Beobachters, aus dem Blickwinkel also, den der Wissenschaftler seiner Zeit vervollkommnet hatte gegenüber der äußeren Umgebung des Menschen, in den biologischen Wissenschaften und vor allem in der Physik.“19 Die Übernahme dieser Grundhaltung durch Freud führte zum ‚Ersinnen‘ eines begrifflichen Rahmens für einen „psychischen, von Trieben – d.h. von nach Ausdruck strebenden Kräften, die von Gegenkräften gehemmt wurden und miteinander in Konflikt standen – gespeisten Apparat […]“.20 Kohuts Arbeiten sind gekennzeichnet von dem Bestreben, zwei interdependente Aspekte des herkömmlichen Denkmusters zu überwinden, nämlich die ‚Vorherrschaft

15 16 17 18 19 20

Kohut 1981: S. 16 Vgl. Kohut 1989: S. 88 Kohut 1981: S. 67f Vgl. ebd.: S. 68 Ebd.: S. 70 Ebd.

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von wissensausdehnenden Werten‘21 in der Psychoanalyse und das Verständnis der Psychoanalyse als einer Triebpsychologie, die nicht das Subjekt als gerichtetes Ganzes in den Mittelpunkt ihrer Theorie stellt. Die von ihm entwickelte Selbstpsychologie erfülle einen Anspruch, wozu das Konzept des Primats der Triebe und die Theorie der Triebverarbeitung und die entsprechende Sublimationstheorie nicht in der Lage seien, nämlich „uns irgend etwas über den Sinn und die Erfüllung oder die Leere und Sterilität eines Menschenlebens zu sagen.“22 Die Verknüpfung von ‚Trieb‘, ‚Beziehung‘ und ‚Selbst‘ in der Selbstpsychologie stellt eine ausgereiftere Version der Adlerschen Gedanken dar. Auch hier wird das Triebkonzept nicht völlig aufgelöst, sondern in einer umfassenderen Theorie eingebettet und in seiner Relevanz und Erklärungskraft beträchtlich eingeschränkt. Das Verhältnis der Selbstpsychologie zur Triebtheorie ist durch die These Kohuts bestimmt, „daß von Anfang an die Trieberfahrung der Erfahrung untergeordnet ist, die das Kind in der Beziehung zwischen dem Selbst und den Selbstobjekten macht […]“.23 Hier wird also eine neue Abhängigkeit aufgezeigt, die den Triebbedürfnissen übergeordnet ist, was an Kohuts Behauptung deutlicher wird, „daß selbst ernste, reale Deprivationen (was man als ‚Trieb- [oder Bedürfnis-]Frustrationen‘ bezeichnen könnte) psychologisch nicht schädlich sind, wenn die psychologische Umgebung mit einem vollen Spektrum unverzerrter empathischer Reaktionen auf das Kind antwortet. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“24 [Einfügung i.O.]. Den Trieben wird das Selbst, den physischen Bedürfnissen das psychische Überleben übergeordnet: „Das Kind, das psychologisch überlebt, wird in eine empathisch-responsive menschliche Atmosphäre (von Selbst-Objekten) hineingeboren, ebenso wie es in eine Atmosphäre hineingeboren wird, die eine optimale Menge Sauerstoff enthält, wenn es physisch überleben soll. Und sein Selbst ‚erwartet‘ – um einen unangemessenen anthropomorphen, doch angemessen bildhaften Ausdruck zu gebrauchen – eine empathische Umgebung, die auf seine psychologischen Wünsche und Bedürfnisse eingestellt ist, mit der gleichen selbstverständlichen Ge21 „Freuds Hingabe an die Wahrheit ist bewundernswert und, für sich betrachtet, über jede Debatte erhaben. Außerdem ist sie auf dem Wege unserer Identifikation mit ihm zum Leitwert der Analytiker geworden. Der Einfluß, den die Vorherrschaft von wissensausdehnenden Werten auf die Theorien und den therapeutischen Standpunkt der Psychoanalyse ausübt, zwingt uns jedoch trotz unseres Widerstrebens dazu, sie erneut zu prüfen, ihre starke Machtposition bezüglich unseres Denkens in Frage zu stellen, da sie zu einem einengenden Faktor geworden ist, wenn wir versuchen, Formen der Psychopathologie und Heilungsmethoden in den Griff zu bekommen, die der klassische Standpunkt nicht einschließt“ (ebd.: S. 69). 22 Kohut 1989: S. 74 23 Kohut 1981: S. 80. Mit Selbstobjekten sind andere Menschen gemeint, hier die kindlichen Bezugspersonen, die in verschiedener Form ‚stützende‘ Funktion für das Selbst haben. 24 Ebd.: S. 85f

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wißheit, mit der ein neugeborener Säugling ‚erwartet‘, daß in der ihn umgebenden Atmosphäre Sauerstoff enthalten ist. Wenn das psychologische Gleichgewicht des Kindes gestört ist, werden die Spannungen des Kindes unter normalen Umständen von dem Selbstobjekt empathisch wahrgenommen und erfahren eine Reaktion.“25

Wohlgemerkt geht es hier in erster Linie um die Wahrnehmung und Reaktion und nicht um Befriedigung oder Beseitigung der Störung. Was ist damit gemeint? Kohut sieht die Relevanz der ‚empathischen Resonanz‘ des Selbstobjekts (Mutter) dem Kind gegenüber darin, daß dadurch – etwa durch die Herstellung von Berührungs- und oder Sprechkontakt – die Bedingungen für das phasengerechte Erleben der ‚Verschmelzung mit dem allmächtigen Objekt‘ geschaffen werden. Das phasengerechte Erleben der Verschmelzung meint hier wiederum die Teilhabe der rudimentären Psyche des Kindes an der entwickelten psychischen Organisation des Selbstobjektes, „das Kind erlebt die Gefühlszustände des Selbstobjektes – sie werden dem Kind durch Berührung, den Ton der Stimme und vielleicht noch auf anderen Wegen vermittelt –, als wären es seine eigenen.“26 Der Begriff Verschmelzung hat seine Berechtigung darin, daß das Kind die Gefühlszustände erlebt, als wären es seine eigenen, ist aber irreführend insofern, als innerhalb dieser undifferenzierten Beziehung eine Kommunikation stattfindet, die empathische Verschmelzung der Mutter bedeutet für das Kind die „Teilnahme daran, daß das Selbstobjekt ein Affektsignal statt einer Affektausbreitung erlebt.“27 Der Erwerb der Fähigkeit zum affektiven Austausch (Empathie) wiederum ist an das phasengerechte, nichttraumatische (empathisch bedingte) Erleben des affektiven Austauschs in einer Situation hohen Machtgefälles (allmächtiges Selbstobjekt) gebunden. Die Folgen einer fehlenden oder schwer beeinträchtigten empathischen Resonanz formuliert Kohut wie folgt: „Das Endergebnis ist in all diesen Fällen entweder ein Mangel an normaler spannungsregulierender Struktur (eine Schwäche der Fähigkeit, Affekte zu zähmen – Angst zu zügeln) oder der Erwerb fehlerhafter Strukturen (die Neigung zu aktiver Intensivierung von Affekt – zum Entwickeln von Panikzuständen).“28

Aus einer anderen Perspektive kann man beide Varianten als eine Nichtverfügbarkeit der Affekte verstehen, was bedeutet, daß die automatischen Reaktionsmuster in ihrer Realisierungsfunktion und somit in ihrer Kom25 Ebd.: S. 84 26 Ebd.: S. 85 27 Ebd.: S. 86. Heute wird der kommunikative Aspekt, der zwei getrennte Teilhaber voraussetzt, mehr betont. Die Verschmelzung im Sinne des ‚Einswerdens‘ ist dann kein gegebener Zustand, sondern ein aktiv hergestellter (vgl. Stern 2000). 28 Kohut 1981: S. 87

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munikations-, Orientierungs- und Steuerungsfunktion beeinträchtigt sind. Der Mangel an Struktur bzw. der Erwerb fehlerhafter Strukturen betreffen die Beschaffenheit und Entwicklung des Selbst. Mit seinem Konzept der Selbstentwicklung wendet sich Kohut gegen die traditionelle Konzeption eines machtlosen Babys, welches außerhalb eines stützenden SelbstObjekt-Milieus existiert.29 Dieses Artefakt der psychoanalytischen Theorie enthält zwei irrige und interdependente Implikationen, die Kohut richtigzustellen versucht. Die erste betrifft das Selbst, die zweite die Beziehung. Nach Kohut besitzt das neugeborene Kind ein ‚virtuelles‘ Selbst, insofern einerseits auf es reagiert wird, als habe es bereits ein solches Selbst, andererseits mit diesen Reaktionen die angeborenen Entwicklungsmöglichkeiten selektiv genährt oder zurückgedrängt werden.30 Die Relevanz der empathischen Resonanz im oben beschriebenen Sinne besteht darin, daß sie dem Kind ermöglicht, auf dem Weg umwandelnder Verinnerlichung psychologische Strukturen zu errichten, was für Kohut gleichbedeutend ist mit der Konsolidierung eines Kern-Selbst.31 Dieses bezeichnet das gleichbleibende ‚Feld‘, von dem aus Alterierungen32 stattfinden: „Diese Struktur ist die Grundlage für unser Gefühl, daß wir ein unabhängiger Mittelpunkt von Antrieb und Wahrnehmung sind, ein Gefühl, das mit unseren zentralsten Bestrebungen und Idealen und unserer Erfahrung integriert ist, daß unser Körper und Geist eine Einheit im Raum und ein Kontinuum in der Zeit darstellen. Diese kohärente und bleibende psychische Konfiguration, gemeinsam mit einer damit verbundenen Gruppe von Begabungen und Fertigkeiten, die sie an sich zieht oder die sich als Reaktion auf die Forderungen der Strebungen und Ideale des Kern-Selbst entwickeln, bildet den zentralen Sektor der Persönlichkeit.“33 Und: „Letzten Endes gibt uns nur die Erfahrung eines stabil kohärenten Kern-Selbst die Überzeugung, daß wir fähig sein werden, das Gefühl unserer beständigen Identität aufrechtzuerhalten, wie sehr wir uns auch verändern mögen.“34

Aus dem bisher Gesagten läßt sich festhalten: Das Selbst ist nicht nur Struktur, sondern auch Inhalt, eine Struktur mit Bedeutung; und es ist gerichtet. Letzteres wendet sich gegen das Verständnis der Psyche als einer reagierenden Maschine und betont das Prinzip der Spontaneität und Intentionalität, das Selbst ist auch ein Antriebszentrum: „Eine Einheit, die versucht, ihrem eigenen Weg zu folgen“,35 mit einer ihr inhärenten in die Zukunft weisenden Spannung. Der Mangel an Struktur bzw. der Erwerb feh29 30 31 32

Vgl. Kohut 1989: S. 297 Vgl. Kohut 1981: S. 94f Vgl. ebd.: S. 84 Alterierung bezeichnet den Wandel des Selbst durch Begegnung mit bislang fremden Wahrnehmungs- und Erlebnisinhalten (vgl. Kap. VI dieser Arbeit). 33 Kohut 1981: S. 155 34 Ebd.: S. 158 35 Ebd.: S. 249

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lerhafter Strukturen bedingen ein Selbst, welches gerade in dieser Einheit bedroht ist. Das damit zusammenhängende Erleben des Zerfalls dieser Einheit hat Kohut als Fragmentierung bezeichnet, die einhergeht mit der räumlichen Entfremdung von Körper und Geist und dem Zusammenbruch des Empfindens zeitlicher Kontinuität.36 Und es ist – so könnte man sagen – der Kampf gegen diesen Zerfall bzw. dessen Erleben, der die ‚narzißtische Störung‘ im Sinne Kohuts ausmacht. Die Störungen, mit denen sich die traditionelle Psychoanalyse beschäftigt hat, zu dieser Schlußfolgerung tendiert Kohut, sind im Rahmen dieser die umfassende Erfahrung des Subjekts einbeziehenden Theorie zu betrachten. Verhaltensmuster, die von der Psychoanalyse auf primäre Triebe zurückgeführt wurden, seien als Desintegrationsprodukte eines fragmentierten Selbst bzw. als Überlebensversuche eines defekten Selbst zu verstehen: „Meine klinische Erfahrung mit Patienten, deren schwere Persönlichkeitsstörungen ich ehemals einer Fixierung auf die Trieborganisation eines frühen Entwicklungsstadiums (Oralität) und den damit einhergehenden chronischen Infantilismus ihres Ich zurückgeführt hätte, hat mich immer mehr zu der Einsicht gebracht, daß die Triebfixierung und die weitreichenden Defekte des Ich weder genetisch der primäre noch dynamisch-strukturell der zentralste Brennpunkt der Psychopathologie sind. Es ist das Selbst des Kindes, das infolge der schwer gestörten empathischen Reaktion der Eltern nicht sicher etabliert wurde, und es ist das schwache und von Fragmentierung bedrohte Selbst, das (in dem Versuch, sich selbst zu vergewissern, daß es lebendig, ja, daß es überhaupt existiert) sich auf defensive Weise durch die Stimulierung erogener Zonen Lustzielen zuwendet und dann, sekundär, die orale (und anale) Triebfixierung und die Versklavung des Ich an die mit den stimulierten Körperzonen verbundenen Triebziele herbeiführt.“37

Die Abnormitäten der Triebe und des Ich – Gegenstand der Psychoanalyse bisher – seien also lediglich als symptomatische Konsequenzen des zentralen Defekts des Selbst zu sehen. Der Versuch, den Mangel an emotionalem Widerhall wettzumachen, kann in einer Art ‚Pseudovitalität‘ münden, hinter der die Selbstpsychologie etwas anderes erkennt: „[…] geringe Selbstachtung und Depression – ein tiefes Gefühl der Verlassenheit, Wertlosigkeit und Zurückweisung, ein ständiger Hunger nach Widerhall, ein Verlangen nach Bestätigung. Alles in allem muß die erregte Hypervitalität des Patienten als Versuch verstanden werden, durch Selbststimulierung einem Gefühl von innerem Abgestorbensein und Depression entgegenzuwirken.“38 Dieser Versuch ist jedoch – wie in diesem Zitat bereits anklingt – nicht auf die Funktionalisierung des Körpers zur Selbsterhaltung beschränkt, sondern erstreckt sich darüber hinaus auf den Anderen, auf seine 36 Ebd.: S. 99 37 Ebd.: S. 75 38 Ebd.: S. 22

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Funktionalisierung in der Beziehung. In Interdependenz mit der Beschaffenheit des Selbst wird hier eine differenziertere Sicht der ‚Beziehung‘ eingeführt, worin meines Erachtens einer der wichtigsten Beiträge der Selbstpsychologie innerhalb der Theorieentwicklung liegt. Es ist eine Sicht, die der traditionellen Psychoanalyse abgeht und die eine notwendige Ergänzung zur Zivilisationstheorie darstellt. Die Selbstpsychologie sei „eine Psychologie, die zwischen Objekten unterscheidet, die als Teil des Selbst (Selbstobjekte) erlebt werden, und solchen, die als unabhängig vom Selbst erlebt werden, als unabhängige Zentren von Antrieben (echte Objekte) […]“.39 Genauer gesagt, handelt es sich hierbei nicht um unterschiedliche Objekte, sondern um zwei miteinander verwobene Bezugsrahmen der Erfahrung des ‚Ich‘ mit dem ‚Du‘. Die Unterscheidung wird getroffen „(1) hinsichtlich der Rolle, die das ‚Du‘ bei der Stützung der Kohärenz, Stärke und Harmonie des Selbst spielt, d. h. der Erfahrung des ‚Du‘ als ‚Selbstobjekt‘; und (2) hinsichtlich des ‚Du‘ als (a) Ziel unseres Begehrens und unserer Liebe und (b) als Ziel unserer Wut und Aggression, wenn es den Weg zu dem Objekt versperrt, das wir begehren und lieben, d.h. zur Erfahrung des ‚Du‘ als Objekt“.40 Diese beiden Erfahrungsweisen des Gegenübers – so möchte ich vorwegnehmend betonen – sind vom Eliasschen Individualisierungsmodell bzw. seinem Konzept von Wandlungen der Wir-Ich-Balance nicht abgedeckt. Vielmehr ist die Selbst-Selbstobjektbeziehung selbst im Hinblick auf Wandlungen der Wir-Ich-Balance noch zu betrachten und zu integrieren. Wogegen sich Kohut abgrenzt, ist die Vorstellung einer ‚Bewegung von Abhängigkeit zu Autonomie und von Narzißmus zu Objektliebe‘41 in der individuellen Entwicklung. Ein solcher Schritt in der psychologischen Sphäre sei ebenso wenig möglich wie wünschenswert wie ein entsprechender Schritt von einem Leben, das von Sauerstoff abhängig ist, zu einem davon unabhängigen Leben in der biologischen Sphäre.42 Vielmehr – und dies stellt einen zentralen Aspekt des Kohutschen Menschenbildes dar – sei „Normalität angemessen definiert […] durch das Postulat einer sinnvollen Abfolge von Veränderungen in der Natur der Selbst-Selbstobjekt-Beziehungen im ganzen Verlauf eines menschlichen Lebens […]“.43 Entwicklungsfortschritte können entsprechend nicht am Grad der erreichten Autonomie dem Objekt gegenüber gemessen werden, sondern sind im Wandel der Ausgestaltung der Beziehung bzw. in der Art der Abhängigkeit selbst zu suchen. Bei diesen Abhängigkeiten können unterschiedliche Beziehungsaspekte im Vordergrund stehen. Kohut benennt die drei wesentlichen Selbstobjekt-Bedürfnisse des Menschen, also seine Bedürfnisse nach Stützung seines Selbst, mit dem Bedürfnis, Spiege-

39 40 41 42 43

Ebd.: S. 83 Kohut 1989: S. 85 Vgl. Kohut 1989: S. 297 Vgl. ebd.: S. 79 Ebd.: S. 298, Herv.v.mir

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lung und Akzeptanz zu erfahren, dem Bedürfnis, Verschmelzung mit Größe, Stärke und Ruhe zu erfahren, und dem Bedürfnis, das Bestehen ‚essentieller Gleichheit‘ zu erfahren.44 Das Bedürfnis nach und die Erfahrung von entsprechenden Objekten unterliegen also einer lebenslangen Reifung und Veränderung. Es wird unterschieden zwischen ‚archaischen‘ Selbstobjekten, die einerseits dem Bedürfnis des frühen Lebens, andererseits aber auch vorherrschenden Bedürfnissen bei chronischen Störungen oder bei vorübergehenden Belastungen entsprechen, und den ‚reifen‘ Selbstobjekten, die der Mensch für sein psychisches Überleben von der Geburt bis zum Tod braucht.45 Mit diesem Verständnis der Selbstobjekte entfällt Autonomie im Sinne von Unabhängigkeit vom ‚Objekt‘ als Entwicklungskriterium. Welches Kriterium Kohut dem entgegensetzt, möchte ich abschließend anhand seiner Neuformulierung des therapeutischen Ziels in der psychoanalytischen Behandlung aufzeigen. Entsprechend seiner oben eingeführten Kritik der Freudschen Ethik und dessen Verständnisses des therapeutischen Ziels nimmt Kohut eine Schwerpunktverschiebung vor, die etwas zugespitzt formuliert als eine Verschiebung von der Frage nach ‚Wissen oder Nichtwissen‘ zur Frage nach (psychischem) ‚Sein oder Nichtsein‘ beschrieben wird.46 Das Wesen des Heilungsvorgangs sei nicht in der kognitiven Sphäre anzusiedeln, es bestehe weder in der Erweiterung des Bewußtseinsfeldes noch in der jeweiligen Fähigkeit eines psychischen Apparates zur Triebmodifizierung.47 Solche Prozesse seien vielmehr als Begleiterscheinungen des Heilungsvorgangs anzusehen. Was die Essenz der psychoanalytischen Heilung ausmache, gehe über die Erfahrung empathischer Resonanz und bestehe „in der neugewonnenen Fähigkeit eines Patienten, angemessene Selbstobjekte zu identifizieren und zu suchen […], die in seiner realen Umgebung

44 Vgl. ebd.: S. 277. Die Natur der Abhängigkeit von Selbstobjekten wird differenziert in Anlehnung an dem Selbstkonzept (s.o.), nach dem das Selbst aus den drei Hauptbestandteilen ‚Pol der Bestrebungen‘, ‚Pol der Ideale‘ und dem ‚intermediären Bereich der Begabungen und Fertigkeiten‘ besteht. Kohut leitet diese aus klinischer Erfahrung der Selbstobjekt-Übertragungen ab, die dann als Spiegel-Übertragung, idealisierende Übertragung und die Zwillings-Übertragung bezeichnet sind (vgl. ebd.: S. 275). Die letztere dieser Erfahrungen ist die Bestätigung des Empfindens, daß man ein menschliches Wesen unter anderen menschlichen Wesen ist. Solche Empfindungsmöglichkeiten weisen auf etwas hin, das allen Menschen gemeinsam ist:„[…] eine durchgehende Ähnlichkeit in der Fähigkeit zu Gut und Böse, in der Emotionalität, in Gesten und Stimme“ (ebd.: S. 286). 45 Vgl. ebd.: S. 277 46 Ebd.: S. 208. Über das herkömmliche therapeutische Ziel ‚Bewußtmachung des Unbewußten‘ schreibt Kohut: „Das Unbewußte war ‚eitergefüllte Höhle‘, die eröffnet werden mußte […] – das dazwischenliegende Gewebe mußte mit allen Mitteln durchtrennt werden, und die Heilung würde von selbst eintreten, sobald die schädigende Substanz entfernt wäre“ (ebd.: S. 166f). 47 Vgl. ebd.: S. 102

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vorhanden sind, um sich von diesen unterstützen zu lassen.“48 Während im ‚unreifen‘ Fall die Sicherheit aus alten Verschmelzungszuständen geschöpft wird, was ‚Nichtsein‘ bedeutet, insofern die Übernahme der Persönlichkeit des Anderen anstelle seiner aktiv hervorgerufenen Reaktionen im Vordergrund steht, wird im ‚reifen‘ Fall die Sicherheit aus der Resonanz geschöpft, die die gegenwärtige Realität zu bieten hat: „Eine erfolgreiche Analyse ist eine, durch die die zuvor archaischen Bedürfnisse des Analysanden nach den Reaktionen archaischer Selbstobjekte überlagert werden von der Erfahrung der Verfügbarkeit empathischer Resonanz, dem Hauptbestandteil des Gefühls der Sicherheit im erwachsenen Leben.“49

Diese Analyse dient nicht in erster Linie der Ersetzung der Objekte durch innere Struktur und der erweiterten Kontrolle, sondern der Vergrößerung der Fähigkeit, Selbstobjekte zur eigenen Stützung zu benutzen, und einer Vergrößerung der Freiheit bei der Wahl dieser Selbstobjekte.50 Die herkömmlichen ‚wissensausdehnenden Werte‘ in der Psychoanalyse führen zu einer Art ‚Realitätsprinzip-Moralität‘, die die Haltung des Analytikers dem Analysanden gegenüber prägt und zu einem erzieherischen Druck führt, etwa in Form des Anspruchs, der Patient möge seine infantilen und lustsuchenden Neigungen aufgeben. Für Kohut jedoch ist der Primat der Selbstbewahrung nicht nur das Prinzip seiner Selbstpsychologie, sondern auch des Selbst. In diesem Sinne seien auch Widerstände zu deuten: Sie dienen den grundlegenden Zielen des Selbst und müssen niemals überwunden werden.51 Bei sogenannten ‚Widerständen‘ gehe es vor allem darum zu erkennen, daß dem Patienten keine andere Haltung zur Verfügung steht als die, die er eben einnimmt.52 Was schließlich bei Kohut als Alternative zur Autonomie zum Entwicklungskriterium wird, ist etwas, dessen Fehlen Elias als Charakteristikum eines bestimmten Zivilisationsmusters ausmacht: die Fähigkeit affektiven Austauschs als Bedingung der Möglichkeit relativer Autonomie in 48 Ebd.: S. 120 49 Ebd.: S. 119 50 Vgl. ebd.: S. 120. In Kohuts Metapher der biologischen Sphäre verbleibend heißt es: „Wir brauchen einen gesunden biologischen Apparat, um den Sauerstoff zu nutzen, der uns umgibt, aber wir können nicht ohne Sauerstoff leben“ (ebd.). 51 Ebd.: S. 217. Der Patient wird also weniger in Begriffen seiner Triebwünsche und Abwehrmechanismen betrachtet, diese müssen vielmehr im Rahmen eines Gesamtverständnisses für die Bedürfnisse des Selbst des Patienten integrieret werden: „Die Abwehrmotivation in der Analyse wird in den Begriffen von Aktivitäten verstanden, die im Dienste des psychologischen Überlebens unternommen werden, d.h. als Versuch des Patienten, zumindest den Sektor seines Kernselbst zu retten, so klein und zerbrechlich dieser auch sein mag, den er trotz schwerer Unzulänglichkeiten in der entwicklungsfördernden Matrix der Selbstobjekte der Kindheit bilden konnte“ (ebd.: S. 171). 52 Ebd.: S. 206

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der psychischen Sphäre. Der Ansatz Kohuts ist erwartungsgemäß von unterschiedlichen Lagern unterschiedlich aufgenommen bzw. abgestoßen worden. Vor allem Kohuts Konzept der Empathie – einer Empathie, die in seiner Wertehierarchie mehr wiegt als ‚Wahrheit‘ – ist Gegenstand großer Mißverständnisse und starker Kritik geworden. Stellt die Selbstpsychologie eine Verweichlichung der Psychoanalyse dar oder eine Annäherung an ihren Gegenstand? Da gibt es einerseits den Vorwurf der Soziologisierung und Harmonisierung, andererseits wohlwollendere und ernsthafte Versuche der Kritik und Weiterentwicklung. In den folgenden zwei Abschnitten werde ich kurz zwei Standpunkte darlegen, die sich mit dem hier vorgestellten alternativen Strang auseinandersetzen.

‚Widerstände‘ in der Psychoanalyse Wie reagierte Freud auf Adlers Kritik und seine Revisionsversuche? Aus seiner Stellungnahme zu Adlers – letztendlich zum Bruch führenden – Vorträgen läßt sich zunächst entnehmen, daß eine Auseinandersetzung um die grundlegenden inhaltlichen Gedanken Adlers nicht erfolgt, und daß die von Adler eingeführte Erfahrungsdimension nicht gewürdigt wird.53 Vielmehr wird seine Psychologie zur eigenen in Beziehung gesetzt und es wird festgestellt, daß er eine andere Psychologie betreibt, die mit der eigenen nicht nur nicht vereinbar, sondern auch gefährlich für diese ist. So wird Adlers Theorie danach bewertet, was sie nicht ist, nämlich eine Theorie innerhalb des bisherigen Denkmodells. Während also Adler eine Relativierung der Triebtheorie vornimmt und der Relevanz des Unbewußten die Relevanz der Bezogenheit auf Andere an die Seite stellt, wird ihm eben das vorgeworfen: eine Vernachlässigung der Triebe, die einhergeht mit einer ‚anti-sexuellen Richtung‘, und eine Verkennung des Unbewußten. Anerkannt wird Adlers Theorie von Freud als eine Ich-Psychologie, also eine, die sich mit Oberflächen-Phänomenen befaßt.54 Daß in einer solchen Herangehensweise eine Gefahr für die Psychoanalyse gesehen wird, ist ganz der Deutungstendenz im Rahmen des herkömmlichen Denkmodells geschuldet. So habe die ganze Lehre – wohl gemessen an den bisherigen Kriterien und Selbstdefinitionen – einen reaktionären und rückschrittlichen Charakter, wodurch sich eine größere Zahl von Lustgewinnen biete, was für die Theorie wiederum bedeute, daß sie, um die Oberhand zu gewinnen,

53 Die Verkennung und das Unverständnis, welche Freud den Adlerschen Gedanken entgegenbringt, mag in dem folgenden Satz deutlich werden, der gleichzeitig nahelegt, daß er sich von Adler verkannt und unverstanden glaubte: „Persönlich nehme ich es dem Autor übel, daß er von denselben Dingen redet, ohne sie mit den Namen zu bezeichnen, die sie schon haben, und ohne einen Versuch zu unternehmen, seine neuen Begriffe zu den alten in Beziehung zu setzen“ (Freud, zit.n. Ansbacher/Ansbacher 1982: S. 84). 54 Vgl. ebd.: S. 85

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aus den in jedem Psychoanalytiker noch latenten Widerständen Kapital schlage.55 So heißt es bei Freud weiter: „Seine Lehre ist eine Charaktertheorie, aber sie wiederholt nur die üblichen falschen Auffassungen vom Ich. Diese beinhalten eine Leugnung des Unbewußten, an der das Ich die Schuld trägt. Diese Leugnung wird hier als Theorie neu formuliert.“56

Freuds Reaktion auf Adlers abweichende Deutungen psychischer Phänomene ist auch kennzeichnend für den Umgang mit den sogenannten Revisionisten im weiteren Verlauf der Psychoanalyse und die Bewertung ihrer inhaltlichen Beiträge. Während jedoch Freuds Festhalten an seinem – wenn auch wackeligen – Triebmodell, das er selbst als Mythologie bezeichnete, durch seine Befürchtungen im Hinblick auf einen möglichen Kontrollverlust und eine Verflachung seines hart erkämpften Gedankengebäudes durch andere Theoretiker bedingt zu sein scheint, nimmt die orthodoxe Haltung seiner ‚Nachfolger‘ die Form eines erstaunlich offenen Dogmatismus an. Ich möchte an dieser Stelle exemplarisch eine Kritik des psychoanalytischen Revisionismus zu Wort kommen lassen, die diesen Dogmatismus unverhohlen repräsentiert. Es handelt sich bei dem zugrundeliegenden Text um einen Aufsatz von Berthold Rothschild mit dem Titel „Der neue Narzißmus – Theorie oder Ideologie?“ und einigen anderen Aufsätzen, die aus einem 1981 vom ‚psychoanalytischen Seminar Zürich‘ herausgegebenen Band entstammen, in dem es um eine Diskussion der neuen Narzißmustheorien und insbesondere um den Beitrag Kohuts geht. Dort heißt es: „Die psychoanalytischen Narzißmustheorien sind nur dann von psychoanalytischem Wert, wenn sie wissenschaftstheoretisch und ideologisch der Freudschen Psychoanalyse verbunden bleiben. Verselbständigungen von Narzißmus-Theorien (wie ansatzweise bei Kohut) laufen Gefahr, Teil der historisch bekannten Revisionismus-Tendenzen innerhalb der Psychoanalyse zu werden, und weisen Merkmale der konformistischen Reproduktions-Psychologie auf.“57

Revisionismus wird hier verstanden als „eine (theoretische) Veränderung, welche am Lebensnerv der Grundtheorie (Marxismus/Freuds Psychoanalyse) eine wesentliche Inzision vornimmt.“58 Den Revisionisten, die meinten, eine Theorie weiterzuentwickeln, dabei jedoch lediglich eine Harmonisierung der Gegensätze zwischen Individuum und Gesellschaft in der Theorie herbeiführten, wird der zentrale Wert der Freudschen Psychoanalyse, nämlich der ‚revolutionäre‘ Aspekt der Psychoanalyse entgegenge55 56 57 58

Vgl. ebd.: S. 85 Freud, zit.n. Ansbacher/Ansbacher 1982: S. 86 Rothschild 1981: S. 61 Russell Jacoby, zit. n. Rothschild 1981: S. 50

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setzt, der in ‚sozialpsychologischer Herausforderung‘, ‚Nicht-Konformismus‘ und ‚Verzicht auf positive Werte‘ besteht.59 Dabei wäre doch innerhalb des klassischen Modells genügend Raum vorhanden, so die Argumentation, um etwa das Selbst-Konzept auszubauen.60 Der Kern der Argumentation der alternativen Theorien, etwa der Einwand Adlers, daß man beobachten kann, „daß das Kind Zärtlichkeitsbestrebungen auf andere – nicht, wie Freud meint, auf sich selbst – richtet“,61 oder Kohuts Betonung der Tatsache der lebenslangen Angewiesenheit des Menschen auf andere, ihre Infragestellung grundlegender Elemente des Freudschen Menschenbildes bleiben von dieser Gegenargumentation unberührt. Eine mit der ‚Harmonisierungstendenz‘ zusammenhängende Sorge der Psychoanalyse mit der Selbstpsychologie ist deren rasche Rezeption in den 70er Jahren, die sogenannte Kohut-Welle, die als Teil eines ‚weltweiten Angebots von Sunshine-Psychologien und Beglückungspraktiken‘ gesehen wird.62 Rothschild vertritt die Meinung, daß die neuen NarzißmusTheorien nicht in erster Linie Erklärungsmodelle für, sondern selbst Ausdruck und Teil jener kulturellen Phänomene sind, auf die Ch. Lasch mit Umschreibungen wie ‚Kult des Selbst‘ und ‚Ethik der Selbsterhaltung‘ hingewiesen hat.63 Auf die Zeitspezifität der Selbstpsychologie aus Kohuts eigener Sicht werde ich später noch eingehen. An dieser Stelle möchte ich vor allem auf zwei Mißverständnisse hinweisen. Erstens ist Kohut nicht in erster Linie Narzißmustheoretiker in dem Sinne, daß er sich mit einem bestimmten klinischen oder gesellschaftlichen Persönlichkeitsbild befaßt. Sein Werk ist vielmehr als ein Beitrag zur psychologischen Anthropologie zu betrachten. Zweitens und damit zusammenhängend ist sein Empathiebegriff kein verschwommener Alltagsbegriff, sondern ein Versuch zur Erfassung der affektiven Dimension menschlicher Kommunikation. Das Problem mit ‚Empathie‘ resultiert aus der weitverbreiteten Vorstellung von der affektiven Dimension als einer nebensächlichen und/oder zumindest unzugänglichen: „Wie immer man den Empathie-Begriff verwendet, er beinhaltet jedenfalls hinsichtlich der Rolle des Analytikers viel eher eine Haltung als eine (deutende) Aktivität. Dies mag der Grund dafür sein, daß das Konzept der Empathie bei so vielen Analytikern (aber auch Nicht-Analytikern) ein solches Echo gefunden hat: Empathie befreit, so verstanden, von der lästigen und versagenden intellektuellen Funktion und wendet sich der unbestimmbaren Sphäre der ‚Gefühle‘ zu […].“64

59 60 61 62 63 64

Vgl. ebd.: S. 51 Vgl. ebd.: S. 55 Adler 1984: S. 50 Vgl. Cremerius 1981: S. 116 Rothschild 1981: S. 61 Ebd.: S. 55

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Man kann sich darüber streiten, ob Kohuts Empathie-Konzept ein gelungenes ist oder nicht, was hier jedoch verkannt wird, ist, daß dieses Konzept den Versuch darstellt, eben diese vermeintlich ‚unbestimmbare Sphäre‘ und ihre Relevanz für die menschliche Verhaltens- und Empfindenssteuerung zu bestimmen und für die Psychoanalyse zu operationalisieren. Bis kurz vor seinem Tod setzte sich Kohut mit dem Mißverständnis seines Empathie-Konzepts und dessen Mißbrauch auseinander und war bestrebt „einen Gegenpol zu jenen sentimentalen Pervertierungen in der Psychotherapie darzustellen, die durch Liebe, Mitleid, bloßes Da-Sein und Nettigkeit heilen wollen.“65 Nun hat es Verflachungen der Theorie nicht nur nach Kohut, sondern auch nach Freud gegeben, zeitspezifische ‚Vulgarisierungen‘ unter dem engeren und breiteren Publikum und ein entsprechender mißbräuchlicher Umgang sind ja Ausdruck eben dieser Zeitspezifität, Ausdruck der Tatsache, daß die in der Theorie problematisierten Sachverhalte auf entsprechende Verhaltens- und Empfindensmuster treffen und daher einen gewissen Reiz ausüben. Gerade das Überleben des Triebmodells und der Dampfkessel-Metapher mag von ihrer Verankerung in einem bestimmten sozialen Habitus zeugen, die wiederum die Beharrlichkeit dieses Modells teilweise erklären mag. Doch dies alles hat wenig mit Forschungskontinuität auf inhaltlicher Ebene zu tun. Die ‚Widerstände‘ in der Psychoanalyse gegenüber Revisionen, die oft akademistisch und ideologisch geführten Auseinandersetzungen und der Mangel an Reflexion des zugrunde gelegten Menschenbildes, die die Frage nach der Zentralität der postulierten Triebe eher als eine Frage der Schule und Denktradition erscheinen lassen, haben auch etwas mit dem Selbstbild mancher Psychoanalytiker zu tun, sich einerseits in einer gesellschaftlichen Isolation zu befinden, wobei andererseits jeder Versuch, ‚salonfähig‘ zu werden, zur Selbstentfremdung führen muß.66 In bezug auf die Selbstpsychologie und deren hier vorgestellte Kritik muß jedenfalls festgehalten werden, daß weder eine Verflachung durch Epigonen, noch die Entfernung von zentralen Grundannahmen des eigenen Standpunktes als Bewertungskriterien dienen können. Letzteres Verhalten beruht nach Peter Passett auf einem Vorurteil, das m.E. dem herkömmlichen psychoanalytischen Denken in besonderer 65 Kohut, zit. n. Siegel 2000: S. 176. Siegel berichtet von Kohuts Vortag auf seiner letzten Jahrestagung zur Selbstpsychologie, den er dem EmpathieKonzept gewidmet hatte: „Mit ironischem Unterton hebt er hervor, daß die Präsenz von Empathie im Umfeld wesentlich für das psychische Leben ist, ob sie für gute oder schlechte Zwecke eingesetzt wird. Empathie, ob positiv oder negativ ausgerichtet, erkennt die Existenz des anderen an. Sie bestätigt sein Menschsein. Obgleich der destruktive Einsatz von Empathie besonders grauenvoll ist, bezeichnet Kohut eine Umgebung ohne Empathie als noch größere Katastrophe, denn sie stoße einen zurück, als existiere man nicht. Er weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß mit das Schlimmste, das die Nazis ihren Opfern antun konnten, darin bestand, ihnen ihr Menschsein abzusprechen“ (ebd.: S. 177). 66 Vgl. von Salis 1981: S. 66

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Art eigen ist, und wie er anmerkt, bei der gängigen Idealisierung dieser Psychoanalyse eine große Rolle spielt: „Das Vorurteil, das ich meine, ist die gewaltige Überschätzung der Wirkung der Wahrheit, einer Wahrheit, die verstanden wird als etwas Statisches und Widerspruchsfreies. Das Aufdecken dieser Wahrheit scheint ja die große Stärke der Psychoanalyse zu sein, versteht sie sich doch als eine ‚aufdeckende‘ Methode. Wer aber über Wahrheit verfügt, hat die Tendenz, sie zu konservieren und nicht mehr daran zu rühren. Jede Modifikation und Veränderung der Theorie bedeutet für ihn eine Relativierung der alten Wahrheit und ist deshalb unerwünscht.“67

Bezeichnenderweise ist nun diese ‚Wahrheit‘ der traditionellen und orthodoxen Psychoanalyse ihre Mythologie, nämlich die Triebtheorie samt ihrer Implikationen, die einerseits am meisten Gegenstand der Kritik und Ablehnung geworden ist und andererseits den Verteidigern als wichtigstes Kriterium diente, um Entfremdung und Abtrünnigkeit von der ursprünglichen Theorie zu definieren.68 Das Spektrum der psychoanalytischen Arbeiten kann entsprechend des unterschiedlichen Umgangs mit dem Triebmodell beschrieben werden: Abgesehen von der orthodoxen Psychoanalyse gibt es den Versuch, unter Beibehaltung der Triebtheorie den Objektbeziehungen und dem Selbst größeres Gewicht zuzumessen, wobei die Entwicklung in diesen Bereichen weiterhin in Abhängigkeit mit den Triebschicksalen gesehen wird. Als ein Vertreter dieser Richtung kann Otto F. Kernberg genannt werden, der die beliebtere Alternative zu Kohut darstellt.69 Zweitens gibt es sogenannte ‚Zwei-Faktoren-Theorien‘, zu denen Kohuts frühe Arbeiten gezählt werden, in denen unterschiedliche theoretische Perspektiven unterschiedlichen psychischen Phänomenen zugerechnet werden, etwa Triebtheorie bei neurotischen Konflikten und Selbstpsychologie bei narzißtischen Störungen. Kohuts spätere Arbeiten gehören tendenziell in jene dritte Kategorie, die das Triebmodell ablehnt und es durch eine Psychologie des Selbst zu ersetzen sucht.70 Leider findet man bei Kohut keine Vertiefung, Reflexion und Diskussion grundlegender Begriffe, die er trotz aller Distanzierung weiterbenutzt. Darüber hinaus wird 67 Passett 1981: S. 162 68 Vgl. Eagle 1988: S. 7 69 Zu Kernbergs Kritik an Kohut: „Kohuts […] Entwicklungsmodell, das die zentrale Natur des kohäsiven Selbst betont (dessen motivationale Kraft nicht erläutert wird und nur als ein sich selbst generierender Reifungstrieb impliziert wird), ist nur eine von vielen psychologischen und kulturalistischen psychoanalytischen Theorien, die explizit oder implizit die Triebtheorie, insbesondere die Aggression und die biologische Basis der menschlichen Entwicklung ablehnen“ (Kernberg 1988: S. 340). Die Frage ist, ob Kohut die biologische Basis schon dadurch ablehnt, daß er die Triebtheorie ablehnt, bzw. ob jeder, der die Triebtheorie nicht ablehnt, dadurch schon der biologischen Basis zur Genüge Rechnung getragen hat. 70 Vgl. Eagle 1988: S. 22

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das Spannungsverhältnis zweier unterschiedlicher Theorien und Denkmuster auch in seinem späteren Werk nicht aufgelöst und manifestiert sich in Widersprüchen und Inkohärenzen der Theorie, die ich hier jedoch nicht weiter ausführen möchte.71 Statt dessen folgt im nächsten Abschnitt eine Vertiefung der triebtheoretischen Implikationen für ‚Selbst‘ und ‚Beziehung‘, womit – im Hinblick auf das genannte Theorie-Spektrum – die Frage angesprochen ist, ob eine ‚stückweise Flickarbeit an Freuds Erbe‘, wie der Psychoanalytiker Gedo es genannt hat, ausreichend ist oder nicht vielmehr eine explizite Generalüberholung angesagt ist.

Diskussion einiger psychoanalytischer Grundannahmen Eine Ablehnung des Triebmodells bedeutet nicht gleichzeitig eine Vernachlässigung oder Verleugnung der biologischen Dimension menschlicher Verhaltenssteuerung. Was kritikwürdig ist, ist die Art, wie die Verflechtung der biologischen, psychologischen und sozialen Dimension gedacht wird, nämlich in Form eines Erregungs-Abfuhr-Modells, das auch als triebökonomisches oder ‚hydraulisches‘ Modell bekannt ist, wobei den Trieben ein primärer, Beziehungen ein sekundärer, aus ersteren abgeleiteter Charakter zugewiesen wird. Bei Laplanche/Pontalis ist ‚Trieb‘ wie folgt definiert: „Dynamischer, in einem Drang bestehender Prozeß (energetische Ladung, motorisches Moment), der den Organismus auf ein Ziel hinstreben läßt. Nach Freud ist die Quelle eines Triebes ein körperlicher Reiz (Spannungszustand); sein Ziel ist die Aufhebung des an der Triebquelle herrschenden Spannungszustandes; am Objekt oder dank diesem kann der Trieb sein Ziel erreichen.“72 Objekte und Objektbeziehungen sind relevant, insofern sie zur Abfuhr libidinöser und aggressiver Triebe dienen. Wird einerseits ein inneres biologisch gedachtes ‚Reflexgeschehen‘ von Freud zum ‚Grundprinzip alles Lebendigen‘ erklärt und mit einem explizit ‚psychologischen‘ Geschehen, nämlich dem Erleben von Lust und Unlust verknüpft, dergestalt, daß Reizverminderung Lust, Reizsteigerung hingegen Unlust schaffe, wird doch andererseits von ihm eingeräumt, daß es auch lustvolle Spannungen und unlustige Entspannung geben kann, daß es also nicht die Quantität sein könne, sondern etwas ‚unbekannt Qualitatives‘, das die Lust ausmache.73 Dieses Qualitative wird der Psychoanalyse jedoch solange unbekannt bleiben, solange die der Interaktion als Gemeinsamkeit zugrundeliegende, die in der Interaktion erworbene und gelebte Bedeutung nicht berücksichtigt wird, und zwar eine Bedeutung, die immer nur als eine auf ein Selbst bezogene eine solche ist. Daß es beim Menschen angeborene Neigungen gibt, kognitive und affektive Bindungen herzustellen, ist schon des öfteren in dieser Arbeit dargelegt worden. Den Ob71 Zu einer ausführlichen Kritik der Selbstpsychologie s. ebd.: Kap. 5 u. 6 72 Laplanche/Pontalis 1994: S. 525f 73 Vgl. Krause 1998: S. 11f

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jektbeziehungen einen sekundären Status zuzuschreiben, der sich aus dem Bedürfnis nach Triebbefriedigung bzw. Spannungsminderung ableiten ließe74, ist also schlichtweg falsch. Ich bin aber der Meinung, daß dieses Problem nicht behoben werden kann, indem man dem triebökonomischen Modell einen Mantel umlegt – um nicht zu sagen, einen Gedanken überstülpt –, der im soziologischen Vokabular die Lehre von der ‚existentiellen Interdependenz‘ der Menschen, im psychoanalytischen ‚Objektbeziehungstheorie‘ heißen mag, wenn man ansonsten in diesem Denkmuster fortfährt. In diesem Sinne mag z.B. der Begriff ‚Triebgespräch‘ (Elias) wie eine gute Auflösung des Monadismus erscheinen. Doch führte diese einseitige Korrektur nicht dazu, andere ideologische Anteile der Psychoanalyse unbemerkt in der Zivilisationstheorie zu belassen? Was die Freudsche Psychoanalyse nahelegt, ist schließlich nicht nur ein Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft, sondern auch ein Widerspruch im Menschen selbst, eine Art angeborene ‚Autoallergie‘,75 eine grundlegende Annahme, ohne die das Postulat der Spannungsminderung als letzte Motivation ebenso wenig zu verstehen ist, wie daraus abgeleitete Begriffe wie z.B. ‚Sublimierung‘, die in der Zivilisationstheorie eine zentrale Rolle spielt. Im folgenden stütze ich mich auf Erörterungen des triebökonomischen Modells bei Eagle, welcher m.E. eine der fruchtbareren Problematisierungen der traditionellen Psychoanalyse vorlegt, indem er über das Problem des Monadismus hinausgeht. Das triebökonomische Modell besagt ja zunächst, daß sich im Menschen Triebspannungen aufbauen (Erregung), die nach Abfuhr drängen, welche der Triebbefriedigung gleichkommt. Die Frage lautet, warum die Erregung nach Abfuhr verlangt. Die Antwort lautet, daß Erregung den Organismus schädigen kann, wenn sie nicht abgeführt wird oder einen extrem hohen ‚Pegelstand‘ erreicht und deshalb Angst auslöst. Dabei sind Triebspannungen, also innerlich erzeugte Spannungen, die Hauptquelle der Gefahr, da man vor ihnen – im Gegensatz zu von äußeren Reizen hervorgerufener Erregung – nicht flüchten kann.76 Die Frage lautet also weiter, 74 Ausführlicheres zur Diskussion des Stellenwerts der Objektbeziehungen in der Freudschen Triebtheorie s. u.a. Eagle 1988: Kap.2. 75 Vgl. Eagle 1988: S. 143 76 Vgl. ebd.: S. 8. Tatsächlich ist schon diese Unterscheidung von inneren und äußeren Reizen ebenso problematisch wie die damit zusammenhängende Annahme konstanter Triebkräfte, die unabhängig von ‚äußeren‘ Reizen zu denken wären. Eagle schreibt dazu – sich gegen jene Autoren abgrenzend, die dem psychoanalytischen Monadismus dadurch beizukommen versuchen, daß sie neben den Es-Trieben eigenständige Objektbeziehungstriebe postulieren: „Die Eigenschaften, die angeblich für Objektbeziehungstriebe bezeichnend sind, sind es in Wahrheit auch für die sogenannten Es-Triebe. Beispielsweise sind Sexualität und Aggression beim Menschen ebenso interaktional, ebenso mit äußeren Objekten verbunden und ebenso schwerlich schlichtweg im Sinne von Spannungsanhäufung und -abfuhr zu erklären wie die sogenannten Objektbeziehungstriebe“ (ebd.: S. 152). Einen anderen Autor zitierend heißt es weiter in bezug auf das Beispiel des Sexualverhalten

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warum sexuelle und aggressive Regungen per se so bedrohlich sein sollen. Nach Eagle gibt es keine Antwort auf diese Frage, es handelt sich dabei um ein unbegründetes Postulat. Exzessive Erregung könne zwar sehr wohl den Organismus schädigen, aber es gäbe keinen Beweis dafür, daß die Hauptursache exzessiver Erregung die Triebregungen seien. Triebregungen stehen nicht von Natur aus dem Wohlbefinden des Ichs feindlich gegenüber, sondern können mit Bedrohungen verbunden sein und Angst auslösen. Doch angstauslösend ist „alles, was als Bedrohung der Integrität und Unversehrtheit des Individuums empfunden wird.“77 Auf psychischer Ebene hat Kohut diese Angst Desintegrationsangst genannt. Eagle nimmt an, daß dieses unbegründete Postulat eine zentrale Vorstellung Freuds gewesen ist, die er niemals aufgegeben habe,78 die Vorstellung, „daß Triebregungen, insbesondere solche von großer Intensität, von Natur aus eine Gefahr für das Ich darstellen, ist von einem a priori-Modell menschlichen Verhaltens, das nach Spannungsminderung strebt, abgeleitet sowie von der Annahme, daß sich das Nervensystem seinem Wesen nach und im Idealfall im Ruhezustand befinde und durch Erregung in wechselnden Graden gestört wird.“79Was also dem Spannungsminderungsmodell zugrunde liegt, ist die Annahme eines ‚primären Antagonismus‘ zwischen Es und Ich als menschliche Universalie, und es handelt sich dabei um eine bloße Unterstellung, eine jedoch, die starken Einfluß auf die weitere Wahrnehmung in der Psychoanalyse ausgeübt hat. Weiter handelt es sich aber bei den Funktionen Es und Ich keineswegs um gegebene, beobachtbare Phänomene, deren antagonistisches Verhältnis zu erkennen wäre, sondern selbst schon um Konstruktionen, die in erster Linie diesen Antagonismus zum Ausdruck bringen. Die Implikationen dieser Begriffsbildung betreffen den des Hirschs: „Es ist höchst unwahrscheinlich, daß er sich beim Fehlen erotischer Reize in einem Dauerzustand nicht-abgeführter sexueller Spannung befindet. Dies würde ebenso auf den Menschen männlichen Geschlechts zutreffen, gäbe es nicht die mächtigen Wirkungen symbolischer Reize, die er mit sich herumzutragen pflegt, wohin er immer geht“ (Beach, zit.n. Eagle 1988: S. 152, vgl. zu ethologischen Triebtheorien Krause 1998: S. 16ff). Doch dieses Problem betrifft den Monadismus allgemein, mir geht es an dieser Stelle vielmehr darum, wie diese Monade selbst beschaffen sein soll. 77 Eagle 1988: S. 144, Herv.i.O. 78 „Die Idee, daß exzessive Erregung eine Gefahr darstelle und das zentrale Nervensystem sich davon zu befreien suche, ergab sich nicht induktiv aus der Anhäufung klinischer Beweise, sie war vielmehr bereits in Freuds ‚Entwurf‘ […] enthalten und blieb danach ein zentrales Thema in seinem Denken. Die Vorstellung, daß nicht-abgeführte Triebspannungen zu exzessiver Erregung führen und damit Angst auslösen, kann als ein Überbleibsel der frühen, vermutlich aufgegebenen Theorie Freuds […] von der Angst als akkumulierter und umgewandelter Libido angesehen werden; sie geht aber auch von dem grundlegenden, niemals aufgegebenen Modell der Spannungsminderung aus, wonach jede Erregung bis zu einem gewissen Grade schädlich ist und das Verhalten in erster Linie durch ihre Abfuhr motiviert ist“ (ebd.: S. 143). 79 Ebd.: S. 143, Herv.i.O.

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Kern des psychoanalytischen Menschenbildes und insbesondere den Stellenwert der biologischen Dimension darin. Eagle stellt zwei unterschiedliche Bedeutungsebenen dieser Begriffe in der Freudschen Theorie heraus, deren implizites Menschenbild jedoch auch in späteren Theorien tendenziell erhalten bleibt. Zum einen sind die Begriffe in dem ‚Triebbeherrschungsmodell‘ zu denken, wonach das Es unter dem Aspekt von Triebregungen und das Ich unter dem Aspekt von kontrollierenden und vermittelnden Funktionen definiert ist. Zu dieser Dichotomie gesellt sich eine zweite, wonach das Es das Unpersönliche oder Verleugnete darstellt, das Ich das Persönliche, das wir als Teil von uns erleben. Nimmt man beide Bedeutungen zusammen, „gelangt man zu einer Begriffsbildung, wonach das Triebhafte notwendigerweise und von Natur aus unpersönlich ist und etwas von einer Es-Eigenschaft an sich hat […], während das Ich persönliche Erfahrung vermittelt. Wie Bettelheim […] ausführt, vermitteln die deutschen Worte ‚Ich‘ und ‚Es‘ die Vorstellung, daß der rationale, kontrollierende Teil der Persönlichkeit derjenige ist, mit dem man sich identifiziert, während das Triebhafte aus dunklen, unterschwelligen Kräften besteht, die als unpersönliche Geschehnisse, von denen man überwältigt werden kann, erlebt werden.“80 Was berechtigt zu der Annahme, daß es in der menschlichen Verhaltenssteuerung etwas Triebhaftes gibt, das einen unpersönlichen Charakter, einen ‚Es‘-Status hat? Damit sind wir wieder bei dem Problem, auf welche Dimension sich der Triebbegriff eigentlich beziehen soll? Sind die Triebe die biologischen ‚Kräfte‘, ihre psychischen Repräsentanzen oder etwas dazwischen?81 Die Ausdifferenzierung der Begriffe ‚Trieb‘, ‚Affekt‘ und ‚Vorstellung‘ legt zumindest nahe, daß es sinnvoll ist, Triebe zunächst lediglich als biologische Kräfte zu verstehen, um etwa – wie Freud es tut – hervorzuheben, daß ein Trieb niemals Objekt des Bewußtseins werden könne, sondern nur die Vorstellung, die ihn repräsentiert.82 Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden, außer vielleicht die Frage: Was ist damit gewonnen? Wie Eagle sehr richtig einwendet, trifft dieses Postulat nicht 80 Ebd.: S. 148 81 Zum Spielraum des Triebbegriffs bei Freud führt Eagle aus: „Manchmal unterscheidet er zwischen Es und Trieb im Sinne einer Gegenüberstellung von Psychisch und Biologisch. So sagt er an einer Stelle […]: ‚Die Kräfte, die wir hinter den Bedürfnisspannungen des Es annehmen, heißen wir Triebe‘. In der Editorischen Vorbemerkung […] heißt es, daß Freud den Trieb manchmal als ‚psychischen Repräsentanten der aus dem Körperinnern stammenden … Reize‘ bezeichne und dann wieder einen scharfen Trennungsstrich zwischen dem Trieb und seinem psychischen Repräsentanten ziehe. Dann wieder sprach er vom Trieb als ‚Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem‘ […], und schließlich […] schreibt er, daß die Triebe ihren Ursprung in der somatischen Organisation haben und ihren ersten psychischen Ausdruck im Es in Formen finden, die uns unbekannt seien“ (ebd.: S. 153, Herv.i.O). Zu diesem Problem s.a. Laplanche/Pontalis 1994: S. 441f 82 Vgl. ebd.: S. 153

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nur auf ‚Triebregungen‘ zu – wobei noch nicht einmal klar ist, welche spezifischen somatischen Abläufe damit gemeint sind –, sondern auf die Beziehung zwischen dem Biologischen und dem Psychologischen im allgemeinen: Weder Hormonausschüttungen, noch neuronale Entladungen oder Denk- und Gedächtnisprozesse sind als solche bewußtseinsfähig, sehr wohl aber ihre Repräsentanten in Form von Gedachtem, Gewünschtem, Phantasiertem und Erinnertem. Den sexuellen und aggressiven Motiven einen besonderen Platz in der menschlichen Verhaltenssteuerung zuzugestehen bzw. sämtliche Antriebe als deren Abkömmlinge zu sehen, beruht zum einen auf einem theoretischen Vorurteil.83 Zweitens kann man biologische Prozesse nicht auf derselben Ebene betrachten wie die Erfahrungsdimension, die sie bestimmen und erzeugen, wenn es darum geht, das Verhältnis zwischen diesen beiden Ebenen zu verstehen. In Eagles Worten: „[…] daß unsere biologische Struktur den Charakter unserer Wünsche und Sehnsüchte bestimmt, erfordert nicht, daß man eine Struktur, die biologische Triebe repräsentiert, als eine separate Komponente der Persönlichkeit beiseiterückt. […] Ein Triebwunsch ist nicht weniger ein Ich-Faktor als jeder andere Wunsch. Das Adjektiv ‚triebhaft‘ bezeichnet lediglich den Inhalt des Wunsches.“84

Sinnvoll kann ein ‚Es‘-Begriff nach Eagle nur sein, wollte man daran festhalten, wenn das Es nicht als Reservoir von Triebregungen verstanden wird, sondern – wie bei Adler und Kohut bereits eingefordert, eine umfassendere Erfahrungsebene einbeziehend – als „Ausdruck der fundamentalen Abwehr gegen die Anerkennung gewisser Wünsche und Ziele, die mit unseren beherrschenden Zielen und Werten konfligieren, indem wir sie als Nicht-Ich erleben“,85 und eine Unterscheidung von Es und Ich nicht als Dichotomie von Impuls und Beherrschung, sondern als verschiedene Grade von Verleugnung und Eigenverantwortlichkeit. Bei Zielen und Wünschen handle es sich eher um kognitiv-affektive als um Triebbegriffe, und bei der psychischen Entwicklung steht die Integration bzw. fehlende Integration dieser kognitiv-affektiven Komplexe in eine übergeordnete Struktur im Vordergrund, also die erlebte Selbst-Kohärenz, welche unter dem Aspekt des Umfangs und der Angemessenheit dieser Integrationsleistungen zu definieren ist.86 Begriffe wie Psychodynamik und psychischer Konflikt beziehen sich also auf die Verarbeitung von Informationen, die eine 83 Was diese Vorgehensweise bedingt, aber nicht dazu berechtigt haben mag, ist eine zeitspezifische, perspektivengebundene Problematisierung bestimmter Verhaltensbereiche, die dazu führt, eben diese als zentrale verhaltensbestimmende Antriebe menschlicher Verhaltenssteuerung zu postulieren. Mal kann dies das Problem von Sexualität und Aggression betreffen, mal die dem übergeordnete Struktur des Selbst und dessen Kohärenz. Zur Zeitspezifität der Theorien Freuds und Kohuts s. letzter Abschnitt dieses Kapitels. 84 Ebd.: S. 154 85 Ebd.: S. 158 86 Vgl. ebd.: S. 160ff

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bestimmte Bedeutung für ein bestimmtes Individuum, also eine Relevanz besitzen – und: „Information ist Information, weder Materie noch Energie“.87

b) Zum ‚Biologismus‘ in Freuds Psychoanalyse Es ist richtig, daß viele der in diesem Kapitel ergänzend und korrigierend zum traditionellen Modell eingeführten Gedanken aus dem ‚alternativen Strang‘ im Freudschen Werk bereits angelegt sind.88 So hat Eagle darauf hingewiesen, daß auch für Freud der Kern der Angst die Furcht vor IchSchädigung ist, die in etwa Kohuts Vorstellung von der ‚Desintegrationsangst‘ entspricht.89 Und auch das oben zuletzt angeführte Prinzip der Unverträglichkeit von Erfahrungen, Zielen und Wünschen als psychische Konflikte und Prozesse bestimmend ist bei Freud in überraschend klaren Worten dargelegt: „Bei den von ihm analysierten Patienten, so Freud, habe Gesundheit vorgeherrscht, bis ‚ein Fall von Unverträglichkeit in ihrem Vorstellungsleben vorfiel, d.h. ein Erlebnis, eine Vorstellung, Empfindung an ihr Ich herantrat, welches einen so peinlichen Affekt erweckte, daß die Person beschloß, daran zu vergessen, weil sie sich nicht die Kraft zutraute, den Widerspruch dieser unverträglichen Vorstellung mit ihrem Ich durch Denkarbeit zu lösen.‘ Und Freud schreibt weiter, er habe sich ‚eine Meinung gebildet, die sich in den gebräuchlichen psychologischen Abstraktionen etwa so ausdrücken läßt: Die Aufgabe, die sich das abwehrende Ich stellt, die unverträgliche Vorstellung als >non arrivée< [Herv.i.O.] zu behandeln, ist für dasselbe direkt unlösbar; sowohl die Gedächtnisspur als auch der der Vorstellung anhaftende Affekt sind einmal da und nicht mehr auszutilgen.‘“90

Doch obwohl eine umfassende Erfahrungsebene Berücksichtigung findet, wird sie in letzter Konsequenz in Energiebegriffe aufgelöst: Die Ursache der Desintegrationsangst bleibt der exzessive Erregungsgrad, der aus der Anhäufung nicht abgeführter Spannungen resultiert. Und die Möglichkeit der Abwehr dieser Bedrohung besteht in einer Art Umverteilung der Erregung. So heißt es in dem Zitat weiter:

87 Bastian 1999: S. 48 88 Meine Auseinandersetzung mit Freud in dieser Arbeit verläuft hauptsächlich über die Arbeiten anderer Autoren. Die Potentiale der Freudschen Theorie oder alternative Rezeptionsmöglichkeiten aus Freuds Werk herauszuarbeiten, würde eine eigene Arbeit beanspruchen. Mir geht es hier vor allem um die bisherige Rezeption, um Weiterentwicklungen und Konservierungen der Theorie. 89 Vgl. Eagle 1988: S. 59 90 Bastian 1999: 34f

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„Es kommt aber einer ungefähren Lösung dieser Aufgabe gleich, wenn es gelingt, aus dieser starken Vorstellung eine schwache zu machen, ihr den Affekt, die Erregungssumme, mit der sie behaftet ist, zu entreißen. Die schwache Vorstellung wird dann so gut wie keine Ansprüche an die Assoziationsarbeit zu stellen haben; die von ihr abgetrennte Erregungssumme muß aber einer anderen Verwendung zugeführt werden.“91

Wo eben noch die Rede von Emotionen war, von der Bedeutung eines Prozesses im Hinblick auf ein Selbst in Interdependenz mit Anderen (peinlicher Affekt), wird Bedeutung letztlich doch auf Quantität reduziert oder besser, zu reduzieren versucht. Freud quält – wie er 1895 an einen Freund schreibt – u.a. die Absicht „nachzusehen, wie sich die Funktionslehre des Psychischen gestaltet, wenn man die quantitative Betrachtung, eine Art Ökonomik der Nervenkraft einführt […]“.92 Die Analogien aus den Naturwissenschaften sind also weder zufällig noch metaphorisch gemeint, die Triebtheorie ist eine Mythologie, doch das muß sie nur solange bleiben, bis die Forschung die Mechanismen des ‚psychischen Apparates‘ im organischen Grund verankert hat, in Freuds späteren Worten: „Die Mängel unserer Beschreibung würden wahrscheinlich verschwinden, wenn wir anstatt der psychologischen Termini schon die physiologischen oder chemischen einsetzen könnten.“93 Der Nicht-Psychoanalytiker Till Bastian kommt in seiner Bewertung des Freudschen Gedankengebäudes zu dem Schluß, daß die langandauernden und verbissen fleißigen ‚Anti-Freud-Bemühungen‘, die schon an eine Art Teufelsaustreibung gemahnen, nicht zu erklären sind, ohne die Zweigleisigkeit und Ambivalenz dieser Theorie in Betracht zu ziehen. Freuds Verdienst war es, der Psychodynamik eine Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit zuzuschreiben, diese Überzeugung dem Dogma seiner Zeit, Seelenprobleme wären geistige und als solche Gehirnkrankheiten, entgegenzusetzen, und in bewußter Abgrenzung zum Mainstream der damaligen Psychiatrie, der von Begriffen der ‚Entartung‘, ‚Degeneration‘ und ‚Minderwertigkeit‘ durchzogen war, eine eigene Theorie zu formulieren, die die soziale Bedingtheit seelischer Störungen hervorhebt.94 Weiter war es eben91 Freud, zit.n. Bastian 1999: S. 35. Die Erregungssumme (Affektbetrag) entspricht wohl am ehesten dem im ersten Kapitel als physiologisches Modul vorgestellten Anteil des Affektsystems, welches die Aktivierung bzw. Deaktivierung des autonomen und endokrinen Systems steuert (vgl. Krause 2000: S. 32). 92 Freud, zit.n. Bastian 1999: S. 35. Zum psycho-physiologischen ‚Übersetzungsproblem‘ s.a. Hohendorf/Bölle 2001 93 Freud, zit.n. Ansbacher/Ansbacher 1982: S. 77, Herv. v. mir 94 Vgl. Bastian 1999: S. 40ff. „Aus der Natur der Dinge, welche das Material der Psychoanalyse bilden, folgt, daß wir in unseren Krankengeschichten den rein menschlichen und sozialen Verhältnissen der Kranken ebensoviel Aufmerksamkeit schuldig sind wie den somatischen Daten und den Krankheitssymptomen“ (Freud, zit. nach Görlich/Lorenzer 1994: S. 18). Bekanntlich verstand Freud die Psychoanalyse auch als Sozialpsychologie. Doch auch

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so sein Verdienst, der biologischen Verankerung dieser Psychodynamik in der menschlichen Natur nachzuforschen. Der Weg, den er dahin einschlug, führte jedoch in eine Sackgasse. Sein Interesse an Quantitäten und Beträgen führte schließlich dazu, „gerade dort ‚Energieflüssen und -umwandlungen‘ nachzuspüren, wo die energetische Seite des Vorgangs ausgesprochen uninteressant und das Beharren auf ihr Ausdruck eines Irrweges ist.“95 Denn wie oben bereits dargelegt, bewegen sich die menschliche Verhaltensregulierung und damit einhergehende Konflikte nicht zwischen Spannungsaufbau und -minderung, sondern zwischen Wandel und Kontinuität. Die Regulierung bezieht sich auf die Verarbeitung relevanter Informationen, man könnte sagen auf Gefühlszustände. Untersucht man die Psychodynamik des Menschen und seine biologische Dimension, so ist es sinnvoller, statt nach einem ‚Apparat‘ und seiner treibenden Energie nach der Wirkungsweise zu fragen, nach den Mechanismen, nach denen Integration bzw. Nicht-Integration stattfindet, um das Erleben der SelbstKohärenz zu regulieren.96 Bastian weist darauf hin, und es ist im ersten Kapitel dieser Arbeit ausgeführt worden, daß einige Ablaufmuster solcher Regulationen genetisch verankert und ihre inhaltlichen Ausprägungen größtenteils zeit- und gesellschaftsspezifisch sind; so muß beispielsweise „heute gewiß nicht mehr jeder sexuelle Impuls, der noch zu Freuds Zeiten als schier ‚undenkbar‘ gegolten haben mochte, durch innere ‚Zensur‘ ins Tiefenbewußtsein abgedrängt werden.“97 Was Freud auf seiner Suchbewegung getan und unterlassen hat, ist eine Sache, wie die Rezeption nach ihm verlaufen ist, eine andere. Die Amhier führt ihn seine spezifisch geartete, naturwissenschaftliche Ausrichtung in eine Sackgasse, nämlich in eine phylogenetische Kulturtheorie. Dazu W. Schoene: „Daß die Psychoanalyse ihre Anschauung von der Entstehung neurotischer Symptome auf die Entstehung des – normalen wie neurotischen – Charakters ausdehnte, hätte schon damals die Sozialpsychologie auf eine neue Grundlage stellen können. Statt dessen aber führt sie die ‚phylogenetische Hypothese‘ ein […]. Damit wird die Bedeutung der Umwelteinwirkungen zwar weiterhin anerkannt, gerade die wesentlichsten unter ihnen, vor allem also die ‚Erwerbung des Ödipuskomplexes‘, werden jedoch in die Vergangenheit projiziert. Selbst wenn die dafür erforderlichen Theorien (der ethnologische Evolutionismus, das Biogenetische Grundgesetz und der Lamarckismus) gültig wären, wird doch die eigentlich bedeutungsvollste Erkenntnis der Psychoanalyse, streng genommen, wieder aufgegeben: nämlich die Erkenntnis von der weitgehenden Milieubedingtheit der psychischen Entwicklung des Individuums“ (Schoene, zit.n. Görlich/Lorenzer 1994: S. 28, Herv.i.O.). Der Lamarckismus, die Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften, war schon zu Freuds Zeiten nicht mehr anerkannt. Freuds Stellungnahme dazu war, daß ‚wir‘ uns keine Gedanken über die Einspruch erhebenden Biologen machen können, ‚wir‘ hätten unsere eigene Wissenschaft und diese strittige Annahme wäre nicht entbehrlich für diese (vgl. Sulloway 1982: S. 600). 95 Bastian 1999: S. 48 96 Vgl. ebd.: u.a. S. 73ff 97 Ebd.: S. 80

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bivalenz in seinem Werk jedenfalls, die Freud zu seinen Lebzeiten unter Kontrolle zu halten versuchte, zerfiel später und ließ verschiedene Schulen entstehen, die sich u.a. mit den gegenseitigen Vorwürfen des ‚Kulturalismus‘ versus ‚Biologismus‘ auseinanderzusetzen hatten. Freuds eigene Sorge galt wohl eher der biologischen Dimension seines Werks und dessen eventuellen Mißverständnissen. Frank J. Sulloway, der sich ausführlich mit den ‚biologischen Wurzeln‘ des Freudschen Denkens und dessen wissenschaftlichem Entstehungszusammenhang beschäftigt hat, legt den Gedanken nahe, daß es Freud selbst war, der das Fundament für spätere, eher umweltorientierte und rein psychologische Neuinterpretationen seines Werks legte, eben weil er selbst nicht so ungezwungen mit seinen hypothetischen Modellen umzugehen pflegte wie seine Nachfolger: „Wohl wissend, daß sein innovatives und weitreichendes Paradigma des psychischen Geschehens einer beträchtlichen Zeit der Nachprüfung bedurfte, versuchte er aktiv, seine Anhänger auf das gesichertere Gebiet der reinen Psychologie zu beschränken. Wer seine Warnungen nicht beachtete, wurde aus der psychoanalytischen Bewegung ausgeschlossen, wie wir gesehen haben. Einst bedrängt, seine Einstellung zum organischen Ansatz bei psychischen Störungen, die Adler und Stekel Organsprache genannt hatten, zu definieren, antwortete Freud ohne zu zögern: ‚Von solchen Untersuchungen mußte ich die Analytiker fernhalten, denn Innervationen, Gefäßerweiterungen, Nervenbahnen wären zu gefährliche Versuchungen für sie gewesen, sie hatten zu lernen, sich auf psychologische Denkweisen zu beschränken.‘“98

Wie dem auch sei, angesichts der neueren Entwicklungen in der Psychoanalyse und des heutigen Erkenntnisstandes bezüglich der menschlichen Natur mag eine Erörterung der Unangemessenheit des Triebmodells überflüssig erscheinen. Till Bastian hat für sich einen solchen Einwand, etwa man würde mit solchen Ausführungen und Kritiken offene Türen einrennen, vorwegnehmend beantwortet (und ich möchte mich dem Gesagten anschließen): „Es ist richtig, daß viele Psychoanalytiker heute Freuds pseudophysikalischen Konzepten wie etwa dem der ‚psychischen Energie‘ reserviert gegenüberstehen, warum davon noch großes Aufhebens machen? Mein Gegeneinwand lautet, daß 98 Sulloway 1982: S. 598, Herv.i.O.. Adler, selbst Mediziner, hatte anfänglich versucht, die Psychodynamik aus der biologischen Basis, und zwar aus der Beschaffenheit einzelner Organe, abzuleiten. Später wurde die Organminderwertigkeit (Kurzsichtigkeit, Bewegungsanomalien usw.) nur noch als ein Kriterium von mehreren für die Verstärkung von Minderwertigkeitsgefühlen angesehen (vgl. Köppe 1977: S. 53). Die Organsprache bezeichnet den umgekehrten, den psychosomatischen Weg und bezieht sich auf den ‚Botschaftscharakter‘ somatischer Beschwerden: Empfindungen, Konflikte und Charakterzüge finden ihren Ausdruck in körperlichen Veränderungen, an denen sie ‚abgelesen‘ werden können.

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bisher eben noch keine andere Leitvorstellung von ähnlich bindender Kraft die Stelle des Energiekonzeptes eingenommen hat und daß eigentlich energetisch gemeinte Begriffe wie ‚Besetzung’ zumindest als Metaphern im Schrifttum der Psychoanalytiker allenthalben fröhliche Urstände feiern. Wie das? Wenn nachgewiesen worden ist, daß die Erde keine Scheibe, sondern eine Kugel ist, können wir doch in seriösen Publikationen nicht mehr vom ‚Rand‘ der Erde sprechen – auch metaphorisch nicht.“99

Dieser Zustand betrifft nicht nur Teile der Psychoanalyse,100 sondern wie ich im vorangehenden Kapitel dargelegt habe auch die Zivilisationstheorie. Dabei tendiert letztere nicht nur dazu, die übernommenen triebtheoretischen Begriffe zu konservieren, darüber hinaus – dies werde ich im nächsten Kapitel ausführen – wird in der zivilisationstheoretischen Informalisierungstheorie die neu eingeführte Debatte um Wandlungen der Emotionen, die ja eigentlich begrüßenswert ist, ebenfalls triebtheoretisch verflacht.

c) Zum Verhältnis von ‚Selbst‘ und ‚Zivilisation‘ Auf Grundlage der obigen Abhandlungen ist es jetzt vielleicht möglich, das in den letzten Kapiteln konstatierte Problem der der Zivilisationstheorie inhärenten Zweigleisigkeit und Ambitendenz etwas genauer zu bestimmen. In dem Artikel ‚Zivilisation‘ definiert Elias Zivilisierung als „individuelle Selbstregulierung momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse oder deren Umleitung von den primären auf sekundäre Ziele hin und gegebenenfalls auch deren sublimatorische Umgestaltung“101 mit explizitem Verweis auf Sigmund und Anna Freud. Entsprechend diesem Verweis und dem verwendeten Vokabular muß danach gefragt werden, wie ein solcher ‚Umbau‘ des Psychischen vonstatten geht, also wie er vermittelt ist, und zwar im Rahmen des Spannungsminderungsmodells. Gemäß diesem Modell ist es die aufgrund der physischen und gesellschaft99 Bastian 1999: S. 135 100 Als aktuelles Beispiel für eine solche Ambivalenz und Ambitendenz wird von Bastian das Buch Otto F. Kernbergs ‚Wut und Haß‘ genannt: „Kernberg ist ein Theoretiker vom alten Schrot und Korn. Er kennt die Schriften der Säuglingsforscher, von denen viele meinen, sie hätten der überkommenen Triebmythologie endgültig den Boden entzogen – ja er zitiert sie sogar. Doch er setzt sich nicht mit ihnen auseinander. Eigentlich müßte er seine Theorie verteidigen – oder die Argumente der Andersdenkenden widerlegen. Beides findet nicht statt. So durchweht ein merkwürdiger Geist von inhaltlicher Koexistenz das Buch, das den Leser nicht zuletzt deshalb unbefriedigt zurückläßt. Was gilt denn nun? Anything goes? Oder herrscht eine Art nicht erklärter Waffenstillstand? Oder sind die theoretischen Grundlagen der Psychoanalyse soweit auseinandergeborsten, daß die Risse per Diskussion nicht mehr zu übertünchen sind?“ (ebd.: S. 136). 101 Elias 1986c: S. 64

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lichen Realität gegebene Unmöglichkeit unmittelbarer Erregungsabfuhr, die die Entwicklung des Denkens und anderer Ich-Funktionen erzwingt und das Interesse an Objekten und Objektbeziehungen bedingt.102 Gewiß kann die existenzielle Angewiesenheit des Menschen auf Andere als eines der konstitutiven Elemente des Eliasschen Denkens angesehen werden, und darüber hinaus kennt man wohl in der traditionellen Psychoanalyse Phänomene wie Schuldgefühle, Überich-Angst, Angst vor Objektverlust und vor Verlust der Liebe des Objekts, die die Relevanz des Anderen für die menschliche Verhaltenssteuerung hervorheben. Doch darf man dabei nicht vergessen, daß im Rahmen des Spannungsminderungsmodells letztgenannte Phänomene ursprünglich auf die ‚ökonomische Situation‘ der exzessiven Erregung und der daraus entstandenen Angst zurückzuführen sind. Zugespitzt bedeutet dann Verlust des Liebesobjekts die Unterbrechung der Triebabfuhr und ist deshalb gefährlich. Und anders als in solchen triebökonomischen Begriffen ergibt der Sublimierungsbegriff103 auch gar keinen Sinn. Ein anderes Gesicht des Eliasschen Denkens zeigt sich jedoch, wenn jenseits des Trieb- und Affektkontrollparadigmas von menschlicher Affektivität die Rede ist. So heißt es etwa im gleichen Zivilisations-Artikel weiter, es bedürfe gleichmäßiger ‚Fremdzwänge auf einer sicherheitsgebenden Grundlage affektiver Wärme‘ zur Ausbildung eben jener Kontrollen, und in einem früheren Text ist die Rede davon, daß der ‚Druck‘ und die ‚Sättigung‘ der Affekte selbst ein integrales Bestandstück der menschlichen Realität bilden.104 Es wurde in den vorangehenden Kapiteln bereits ausgeführt, daß Elias dem Freudschen Monadentum das Bild von Menschen entgegensetzt, die kraft ihrer ‚affektiven Valenzen‘ aufeinander gerichtet sind, und in Anlehnung an Freuds Narzißmuskonzept und dessen Weiterentwicklung die Relevanz der ‚Selbstwertbeziehungen‘ und die ihnen inhärenten Spannungen und Konflikte als Motor gesellschaftlicher und individueller Entwicklung hervorhebt. Da Elias das von Freud übernommene Triebmodell nicht ganz aufgibt, könnte man seine Theorie ähnlich wie die frühe Kohut-Theorie als eine Zwei-Faktoren-Theorie bezeichnen, also eine, die unter Beibehaltung grundlegender triebtheoretischer Annahmen die Rolle affektiver Bindungen hervorhebt, wobei das Verhältnis der beiden ‚Faktoren‘ ungeklärt und problematisch bleibt. Auch Kohuts Theorie hat ihren Ausgangspunkt im Freudschen Modell, insbesondere in dessen Narzißmuskonzept. Inwiefern Kohut weitergegangen ist 102 Vgl. Eagle 1988: S. 8 103 „Von Freud postulierter Vorgang zur Erklärung derjenigen menschlichen Handlungen, die scheinbar ohne Beziehung zur Sexualität sind, deren treibende Kraft aber der Sexualtrieb ist. Als Sublimierungen hat Freud hauptsächlich die künstlerische Betätigung und die intellektuelle Arbeit beschrieben. […] Der Trieb wird in dem Maße ‚sublimiert‘ genannt, in dem er auf ein neues, nicht sexuelles Ziel abgelenkt wird und sich auf ein neues, nicht sexuelles Objekt richtet“ (Laplanche/Pontalis 1994: S. 478). 104 Vgl. Elias 1990a: S. 141

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als Elias, soll im folgenden Abschnitt gezeigt werden. Wieso er nach eigenen Angaben weitergehen konnte und mußte, ist Thema des darauffolgenden Abschnitts.

Zur Beziehung der Kohutschen und der Eliasschen Theorie Michael Schröter, langjähriger Mitarbeiter und Herausgeber von Elias, sieht den Einfluß der psychoanalytischen Trieblehre auf die Zivilisationstheorie in der Gliederung der behandelten Verhaltensbereiche im ersten Band des Zivilisationsbuches offen zutage treten: „[…] – Essen, natürliche Bedürfnisse, Verhältnis von Mann und Frau, Angriffslust – folgt dem Freudschen Schema der Libido-Entwicklung, ergänzt durch den später eingeführten Aggressionstrieb.“105 Ob und inwieweit Elias sich jemals mit dem alternativen Strang der Psychoanalyse auseinandergesetzt hat, wissen wir nicht.106 Fest steht aber, daß die Schwerpunktsetzung, die er vorgenommen hat, der Relativierung der Triebtheorie und ihrer Unterordnung unter die Selbstwerttheorie durch Kohut entspricht. Schon in der Zivilisationstheorie ist das Muster der Triebmodellierung nicht ohne die gesellschaftlichen Machtbalancen und ihre auf das Selbst zentrierte Deutung, die Bedeutung, die sie durch „ihre Funktion der Erhöhung oder Erniedrigung in einem vorgegeben Schema von Selbstwerten“107 erhalten, zu denken. Es ist sowohl bei Kohut als auch bei Elias zu sehen, daß die Einbeziehung der Beziehungsdynamik bei der Betrachtung der Psychodynamik dazu führt, sich vom Triebmodell zu entfernen. So haben z.B. beide Autoren schließlich die Annahme eines Aggressionstriebes abgelehnt108 und die Rolle von Demütigung und gekränkter Selbstliebe für die menschliche Destruktivität hervorgehoben.109 Das Problem des Verhältnisses von Trieb und Selbstwert ist bei Kohut im Gegensatz zu Elias explizit angesprochen und stellt sich aus seiner Sicht wie folgt dar: Es sei zwar möglich, Aussagen über Zivilisationsprozesse ohne bezug auf das Selbst zu machen, indem man Erscheinungen, die im Bereich der Liebe, Zuneigung und des Interesses liegen, sowie Phänomene, die mit Selbstbehauptung, Haß und Destruktivität zu tun haben innerhalb eines Triebrahmens betrachtet. Demnach würde z.B. die Destruktivität des Menschen als ‚primäre Gegebenheit seiner psychologischen Ausstattung‘, und seine Fähigkeit, seinen Tötungsinstinkt zu überwinden, als sekundär angesehen „und begrifflich so formuliert werden, daß er in der Lage war, einen Trieb zu zähmen.“110 Doch diese Sicht105 Schröter 1997: S. 210 106 Begriffs- und Formulierungsähnlichkeiten sowie ähnliche Denkrichtungen bei Elias und Kohut lassen sich finden, Quellenangaben bei Elias sowie explizite Verweise keine. 107 Elias/Scotson 1990: S. 308 108 Vgl. Elias 1990b: S. 226, Anm. 2 109 Vgl. Kohut 1975: S. 81, Vgl. Elias 1990: S. 226, Anm.2 110 Kohut 1981: S. 104

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weise bleibe für einen ‚empathischen Beobachter‘ – also einen, der die umfassendere Erfahrungsebene berücksichtigt – unzureichend: „Gewisse Grenzen der erklärenden Kraft dieses Ansatzes werden jedoch erkennbar, sobald wir uns fragen, warum der Erwerb zivilisierter Sitten ein erhöhtes Selbstwertgefühl verleiht. Ich glaube, daß sich die Antwort mit Hilfe einer Psychologie von Trieb und Abwehr nicht finden läßt, nicht einmal mit Hilfe der strukturellen Psychologie (das heißt, auf der Grundlage des Konzepts des ÜberIch) – man muß sich ihr durch eine vergleichende Untersuchung des beteiligten Selbst und seiner Bestandteile nähern.“111

Der Frage nach dem Selbstwert als verhaltenssteuerndem Aspekt, nach dem Verhältnis von Macht und Emotion, ist Elias an verschiedenen Stellen nachgegangen, und das Etablierten-Außenseitermodell, dessen Anfänge bereits in den Prozeßbänden sichtbar sind, stellt die Vertiefung und Konzeptualisierung dieser Dimension dar. Wo Elias aber darauf hinweist, daß der Gang der Ereignisse für die Menschen, die darin verwickelt sind, Bedeutung und Sinn erhält durch seine Funktion der Erhöhung und Erniedrigung in einem vorgegebenen Schema von Selbstwerten und in diesem Sinne verhaltens- und empfindenssteuernd wirkt, geht Kohut einen Schritt weiter und formuliert die These, daß das Muster der Selbstwertregulierung von der Beschaffenheit des Selbst abhängt, welche wiederum die jeweilige Beziehungsausgestaltung bedingt. Beziehungen sind demnach nicht nur eine Funktion des Selbstwerts und umgekehrt, sondern auch und auf fundamentaler Ebene eine Funktion des Selbst – und umgekehrt.112 Mit dem 111 Ebd.: S. 104f 112 Kohut 1975: S. 142. Kohuts Kritik gegen die Sozialpsychologie seiner Zeit, die die Relevanz zwischenmenschlicher Beziehungen betont – eine Kritik, die man auch auf die Zivilisationstheorie beziehen könnte – richtet eben sich darauf, keine differenzierten Kriterien für das Selbst und die Beziehung zu haben, denn – wie es schon in einer frühen Schrift (Formen und Umformungen des Narzißmus v. 1965) heißt –: „[…] das Selbst im psychoanalytischen Sinne ist variabel, und seine Grenzen decken sich keineswegs mit den Grenzen der Persönlichkeit, so wie sie von einem Beobachter im sozialen Feld beurteilt werden. In bestimmten seelischen Zuständen kann sich das Selbst weit über die Grenzen des Individuums hinaus erstrecken, oder es kann zusammenschrumpfen und mit einem einzigen seiner Handlungen und Ziele identisch werden […]“ (Kohut 1975: S. 141). U.a. wendet sich Kohut damit gegen Riesmans Postulierung des Gegensatzes zwischen ‚Außengerichtetheit‘ und ‚Innengerichtetheit‘: „[…] intrapsychische Strukturen wie das Über-Ich […] sind in ihrer psychischen Bedeutung und in ihrer Funktionsweise von den reifen Objekten weniger weit entfernt als die archaischen Objekte, die noch nicht zu inneren psychischen Strukturen umgewandelt worden sind“ (Kohut 1976: S. 72). Die Zunahme der Relevanz zwischenmenschlicher Beziehungen sagt noch nichts aus, solange die Beschaffenheit dieser Beziehungen nicht hinterfragt wird: „Was einem Beobachter des sozialen Feldes als Fülle der Objektbeziehungen eines Menschen vorkommen mag, kann dessen rein narzißtisches Erleben der

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homo-clausus-Konzept ist Elias auf die Ebene des Selbst vorgestoßen, ohne jedoch diese Ebene explizit für eine Theorie der Zivilisation zu berücksichtigen. Der Wandel der Verhaltens- und Empfindensmuster in Richtung der Habitusform, die Elias als das ‚wir-lose Ich‘ bezeichnet, ist für Kohut aber Anlaß und Bedingung der Möglichkeit seiner Selbstpsychologie.

Zur Zeitspezifität der Psychoanalyse Über die Entstehung eines zentralen Konzepts der Psychoanalyse schrieb Freud (an einen Freund): „Ein einziger Gedanke von allgemeinem Wert ist mir aufgegangen. Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit.“113 Der aus diesem Gedanken konzeptualisierte Ödipuskomplex betont die Triebnatur des Kindes und dessen Konflikthaftigkeit sowie die Bewältigung dieses Konflikthaften als den relevanten Reifungsschritt in der individuellen Entwicklung. Kohut dagegen setzt sich eher mit den präödipalen und familiendynamischen Vorgängen individueller Entwicklung auseinander, wobei er diese Schwerpunktverschiebung u.a. damit begründet, daß die Voraussetzung für die Erfahrung eines solchen Ödipuskomplexes das Bestehen eines kohärenten Selbst sei, denn solange „sich das Kind nicht als abgegrenzten, dauernden, unabhängigen Mittelpunkt von Antrieben erlebt, ist es nicht fähig, die objektgerichteten Wünsche zu erleben, die zu den Konflikten und sekundären Anpassungen der ödipalen Periode führen.“114 Seine Beschäftigung mit der präödipalen Phase beschränkt sich jedoch nicht auf die Herausarbeitung der Bedingungen des Ödipuskomplexes, sondern läßt darüber hinaus zentrale Annahmen der traditionellen Theorie in neuem Licht erscheinen. Die Behauptung, daß die Selbstpsychologie eine zeitspezifische Theorie ist, die durch den Habituswandel in westlichen Gesellschaften bedingt ist, und jene andere, daß die Selbstpsychologie eine angemessenere Theorie auf anthropologischer Ebene ist, stehen bei Kohut nebeneinander. Die höhere Realitätstüchtigkeit der Selbstpsychologie ergibt sich aus der durch den Habituswandel neu zugänglich gewordenen Erfahrungsdimension, nämlich der Problemhaftigkeit des Selbst. Während aber die Selbstpsychologie ihre Zeit- und Habitusbedingtheit reflektiert, hat die traditionelle Theorie diese Reflexion versäumt. Dieses Versäumnis holt Kohut nach bei dem Versuch, das Verhältnis der Selbstpsychologie zu ihrer Muttertheorie zu klären. Was zunächst eine Umorientierung innerhalb der Psychoanalyse notwendig mache, sei die Tatsache, daß sich der Mensch, die Welt, in der er lebt,

Objektwelt verhüllen; umgekehrt können bei einem Menschen, der in scheinbarer Isolierung und Einsamkeit lebt, die reichsten Objektbeziehungen bestehen“ (Kohut 1975: S. 142). 113 Freud, zit.n. Bastian 1999: S. 12, Vgl. a. Mertens 2000: S. 515 114 Kohut 1981: S. 234

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und somit die Gefahren, die ihn auf psychologischer Ebene bedrohen, verändern: „Ich werde direkt auf den Kern der Sache kommen, indem ich die Behauptung aufstelle, daß die psychologische Gefahr, die das psychologische Überleben des modernen westlichen Menschen der größten Gefährdung aussetzt, eine neue ist. Bis vor relativ kurzer Zeit waren unlösbare innere Konflikte die Hauptbedrohung des Individuums. Und die damit verbundenen vorherrschenden zwischenmenschlichen Konstellationen, denen die Kinder der westlichen Zivilisationen ausgesetzt waren, waren übergroße Nähe zwischen Eltern und Kindern und intensive emotionale Beziehungen zwischen den Eltern […].“115

Die ‚übergroße Nähe‘ ging einher mit erhöhter Kontrolle, v.a. des Wissens. So seien Kinder der Freudschen Zeit antithetischen Einflüssen ausgesetzt gewesen: „Da war einerseits der Einfluß jener starken, zeitspezifischen kulturellen Strömung, die sich als offene, selbststärkende Bewunderung für Freiheit des Handelns und Denkens äußerte. Und da war andererseits der Einfluß selbsthemmender, konservativer religiöser Überzeugungen, die bedroht und damit defensiv intensiviert wurden durch das offene Anwachsen selbststärkenden wissenschaftlichen Denkens und die Regungen selbststärkenden Selbstgefühls“.116 Die konservativen Überzeugungen brachten traumatisierende Vorenthaltungen des Wissens mit sich. In dieser soziokulturellen Schichtung sieht Kohut die Parallele zu Freuds Begriffsbildung und seinem Konzept der Psyche: „Ebenso, wie im Europa seiner Zeit im allgemeinen und in Österreich, wo er aufwuchs, im besonderen der politische Liberalismus dominierte und die Künste und Wissenschaften blühten, während sich gleichzeitig die Kräfte tyrannischen, mystischen Glaubens bemerkbar machten – zumindest rückblickend, wenn auch damals ihr enormes Potential nicht erkannt wurde und die Tendenz bestand, sie zu verachten und lächerlich zu machen –, so war auch Freuds Psyche dichotomisch. Es gab ‚das Bewußte‘ (später die bewußten Teile von Ich und Über-Ich) auf der einen Seite und das ‚Unbewußte‘ (später das Es und die unbewußten Teile von Ich und Überich) auf der anderen. Mit anderen Worten, genau die Teilung, die im kulturellen und sozialen Leben von Freuds Zeit wirksam war, galt auch für die Psyche des Individuums, wie Freud sie auffaßte.“117

Doch Menschen in gegenwärtigen westlichen Demokratien sind keiner traumatischen Vorenthaltung von Wissen ausgesetzt, und die Umgebung, die früher als bedrohlich nah erlebt wurde, wird zunehmend als bedrohlich fern erlebt.118 In dieser Entwicklung versucht Kohut, eine Erklärung für 115 116 117 118

Ebd.: S. 266 Kohut 1989: S. 97 Ebd.: S. 95 Vgl. Kohut 1981: S. 272 u. ders. 1989: S. 98

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die allmähliche Abnahme struktureller Störungen und die gleichzeitig auftretende allmähliche Zunahme von Störungen des Selbst zu finden. Wo früher Art und Ausmaß der Verbote unter den gegebenen Bedingungen relativ dichter Beziehungen zu inneren Konflikten führten, würden die neueren Tendenzen, die man im groben als Individualisierung bezeichnet, zur Entstehung einer ‚unterstimulierenden‘, einsamen Umgebung für das Kind ohne die Möglichkeit wirksamer Erleichterung durch AlternativBezugspersonen (Großeltern, Personal, Elternteil) führen. Er bezieht sich damit jedoch nicht lediglich auf Wandlungen der Familienstrukturen wie zunehmende Abwesenheit der Eltern, sondern zielt eben auf das intergenerationelle Moment des Zivilisationsprozesses ab. Die bedrohliche Ferne bzw. Nähe betrifft das zivilisatorische Vermögen im affektiven Bereich. Und in diesem Bereich macht Kohut die konkrete Erfahrungsbasis aus, auf der die ‚Malaise unserer Zeit‘ beruht, es ist eine spezifische Außengerichtetheit, die sich aus dieser zivilisatorisch gewachsenen konkreten Erfahrungsbasis ergibt: „Der Mensch unserer Zeit ist der Mensch mit der gefährdeten Selbstkohärenz, der Mensch, der nach Anwesenheit, dem Interesse, der Verfügbarkeit des die Selbstkohärenz zusammenhaltenden Selbstobjekts hungert.“119

Der Primat von Werten ist relativ und zeitspezifisch. Wo einst die Werte des Wissens an der Spitze der Wertehierarchie standen, haben heute die Kämpfe des Selbst und sein Versuch, seine Potentialitäten zu bewahren, die klare Priorität.120 Die Frage, welche sozialen Prozesse „für die Natur der sich verändernden elterlichen Selbstobjekt-Muster und damit wiederum für die veränderte zahlenmäßige Verteilung der Formen von Psychopathologie in den nachfolgenden Generationen verantwortlich sein könnten […]“,121 bleibe, so Kohut, letztlich psychoanalytisch geschulten Historikern und Sozialwissenschaftlern überlassen. Doch die Befruchtung, die die Menschenwissenschaften – hier von besonderem Interesse: die Zivilisationstheorie – erfährt, ist die Erweiterung der Soziogenese um den Selbstobjekt-Beziehungs-Aspekt und der Psychogenese um die Dimension des Selbst. Eine andere Frage, die Kohut offenläßt, ist, „ob die Veränderung von ödipaler Pathologie zu Selbst-Pathologie bereits einzutreten begann, als die Tiefenpsychologie ihre ersten Untersuchungen durchführte.“122 Damit spielt Kohut auf die Möglichkeit an, daß das, was als Konflikthaftigkeit der Triebnatur des Kindes wahrgenommen und konzeptualisiert wurde, im Grunde einer Störung aus dem affektiven Bereich entspringt. In seinen eigenen Worten:

119 120 121 122

Kohut 1989: S. 98, Vgl. a. Kohut 1975: S. 51 Vgl. Kohut 1989: S. 215 Kohut 1981: S. 273 Ebd.

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„Könnte es nicht sein, daß wir die dramatischen Wünsche und Ängste des ödipalen Kindes als normale Vorkommnisse angesehen haben, während sie in Wirklichkeit Reaktionen des Kindes auf mangelnde Empathie von Seiten der Selbstobjekt-Umgebung der ödipalen Phase waren?“123

Für die herkömmliche Psychoanalyse aber würde das bedeuten, daß sie in der Triebtheorie nicht die universelle Natur des Menschen konzeptualisiert hat, sondern Desintegrationsprodukte eines zeit- und gesellschaftsspezifisch in seiner Kohärenz gestörten Selbst. Dieser Gedanke läßt sich kurz anhand des Verhältnisses von Trieb, Selbst und Selbstwert in Kohuts Theorie veranschaulichen. Wenn das Selbst als die umfassende übergeordnete Konfiguration stabil kohärent ist, dann wird es nicht zum Brennpunkt der Aufmerksamkeit, sondern seine untergeordneten Inhalte und deren Konflikte, zu denen die ‚Triebwünsche und -konflikte‘ gehören können. Die Verfolgung dieser Inhalte und der Erfolg bzw. Mißerfolg können dann zu Veränderungen des Selbstwertgefühls und entsprechend zu einer Stärkung bzw. Schwächung des Selbst führen. Was sich unterscheidet, wenn das Selbst in seiner Kohärenz gestört ist, ist die Funktion der Ziele und Wünsche, die dann weniger inhaltlich bestimmt und mehr als Funktion des Selbst zu verstehen sind, welches versucht, zumindest eine Teil-Kohärenz herzustellen. Wie bereits erwähnt, lehnt Kohut die Annahme eines Aggressionstriebes, die Auffassung von der Destruktivität als primärem Trieb, der nach seinem Ziel strebt und ein Ventil sucht, ab: „Ausmaß und Gewicht der menschlichen Destruktivität stehen außer Frage – was in Frage steht, ist ihre Bedeutung, d.h. ihre dynamische und genetische Essenz.“124 Gemäß der Unterscheidung von Objekt und Selbstobjekt, die eigentlich zwei Pole definieren, innerhalb derer der Stellenwert des Gegenübers zu bestimmen ist, differenziert er die Destruktivität in Aggression und narzißtische Wut. Die auf ein Objekt gerichtete Aggression ist gekennzeichnet durch das Fehlen des Bedürfnisses, den Gegner unnötig zu verletzen, und durch das völlige Verschwinden der Aggression, wenn das betreffende Ziel erreicht ist,125 sie ist der Erfüllung von Aufgaben untergeordnet. Die narzißtische bzw. destruktive Wut bezieht sich auf ein Selbstobjekt und ist der Erfüllung von Aufgaben übergeordnet, in diesem Sinne als ‚isolierte Zerstörungslust‘ zu verstehen, die nach dem ‚Zerbrechen‘ der umfassenden Konfiguration – des Selbst – auftaucht und insofern ein Zerfallsprodukt darstellt.126 Weiter verdeutlicht wird das Verhältnis von Trieb und Selbst schließlich in Kohuts Unterscheidung von Lust und Freude: Wenn die Freude im zwischenmenschlichen Austausch bzw. wenn der Austausch 123 Ebd.: S. 250. Vgl. a. Krause (1998: S. 105ff), der die Relevanz der realen elterlichen Handlungen im ödipalen Umfeld für die betreffenden Konfliktkonstellationen stärker ins Blickfeld rückt. 124 Kohut 1981: S. 106 125 Vgl. Kohut 1989: S. 86 u. ders. 1981: S. 111 126 Vgl. Kohut 1981: S. 110

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selbst fehlt, kommt es zur Triebisolierung, „da ein depressives Selbst versuchte, sich durch freudlose Lustsuche aufrechtzuerhalten.“127 Die Frage, ob die Konzentration der Freudschen Theorie auf Triebe auf diese Weise, auf Grundlage des von Kohut skizzierten Zivilisationsverlaufs, erklärt werden kann, wird von diesem nicht endgültig entschieden. Nichtsdestotrotz ist es auffallend, daß die neuere Zivilisationstheorie, wie sie im vorangehenden Kapitel vorgestellt wurde, durch ihre triebtheoretische Orientierung die Lustkategorie ohne jegliche Reflexion der Ausgestaltung des Zwischenmenschlichen bei der ‚Lustsuche‘ und ‚Triebbefriedigung‘ in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt. Daß die von ihr beschriebene Aggression, Sexualität und Lust keine Bedeutung und kein Ziel haben und endlos in die Leere verlaufen, scheint dabei kein Problem darzustellen. Schon Kohut hat auf die durch die Triebtheorie vermittelte, irrige Auffassung hingewiesen, man könne dem Gewaltproblem mittels einer Aggressionsabfuhr durch institutionalisierte, sozial unschädliche Tätigkeiten wie Sport, durch Kino und Fernsehen vermittelte aggressive Phantasien und dergleichen begegnen: „Doch wie elegant, einfach und überzeugend diese Begriffsbildungen auch sein mögen, sie sind nicht angemessen. Ich bin sicher, daß zumindest in einigen signifikanten und wichtigen Fällen Aggression nicht wie ein Abszeß entleert oder wie der männliche Samen beim Verkehr entladen werden kann – schwere, chronische narzißtische Wut etwa kann in einem Individuum ein Leben lang bestehen, von keiner Abfuhr gemildert, und dasselbe gilt auch für einige der destruktivsten Neigungen im Gruppenleben.“128

Diese Unzulänglichkeit der Zivilisationstheorie hat ihr Fundament in der triebökonomischen Auffassung auch der Emotionen und wie in den letzten Kapiteln bereits gesagt wurde, in der Unterbelichtung der Realisierungsfunktion der Affekte (im Sinne von unwillkürlicher Realitätszuschreibung kraft Affizierung) und entsprechend ihrer Kommunikations-, Orientierungs- und Steuerungsfunktion in der ursprünglichen Zivilisationstheorie. Diese Vernachlässigung und die gleichzeitige Betonung der ‚isolierten Triebe‘ ist selbst Ausdruck des Zivilisationsprozesses. Die habituell bedingte Wahrnehmung der ‚eigenen Natur‘ stellt aber nur die eine Seite des Menschenbildes wissenschaftlichen Denkens dar. Die andere Seite ist die habituell bedingte Wahrnehmung der eigenen Gerichtetheit und Angewiesenheit auf Andere. Während die traditionelle Psychoanalyse die Möglichkeit der Emanzipation vom ‚Objekt‘ durch Wahrheitsfindung einräumte und damit den homo clausus praktizierte, reflektiert Kohut diese Empfindens- und Verhaltensmuster und bietet mit seiner Theorie einen Ansatz zu ihrer Konzeptualisierung, nicht nur der Verhaltenssteuerung kraft der In127 Kohut 1989: S. 298, Herv.v.mir 128 Kohut 1981: S. 118

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terdependenzen, sondern auch der Verhaltenssteuerung kraft der eigentümlichen Erfahrung jener. Im Hinblick auf die Rezeptionsbedingungen seiner Theorie benennt er neben akademistischen Aspekten ähnlich wie Elias, aber einen Schritt weitergehend, die vorherrschenden spezifischen Abhängigkeitsformen: „Mit dem lebenslangen Bedürfnis nach Selbstobjekten konfrontiert zu werden, zu hören, daß Autonomie unmöglich ist, mag durchaus von vielen als narzißtische Kränkung erlebt werden, vor allem auf einem Gebiet, auf dem das Überleben des Selbst vieler Individuen von der Stützung von Selbstobjekten archaischer Ebenen abhängig ist.“129

Im nächsten Kapitel möchte ich diesem von Kohut postulierten Wandel des Selbst aus soziologischer Perspektive näherkommen und den Umgang mit den entsprechenden Tendenzen und deren Konzeptualisierung in der zivilisationstheoretischen Fortsetzung, der Informalisierungstheorie, weiterverfolgen.

129 Kohut 1989: S. 100. Zu den akademistischen Bedingungen heißt es weiter: „Doch es geht auch um Fragen von beruflichem Prestige und Macht. Ebenso, wie die klassische Analyse in den frühen Phasen ihrer Entwicklung von Mitgliedern des neuropsychiatrischen Establishments abgelehnt wurde – von jenen, die sich selbst als ‚Außenseiter‘ wahrnehmen, wurde sie im allgemeinen unterstützt –, wird auch heute die Selbstpsychologie von seiten der etablierten Analyse abgelehnt“ (ebd.).

Kapitel V: Informalisierung. Ideal und Prozeß

„Von einem Triumph des modernen Leitbilds des individuellen, distanzierten Körpers kann kaum die Rede sein. Dieses Leitbild endete in Passivität.“1

Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias macht in gewisser Hinsicht eine ähnliche Entwicklung durch, wie sie die Freudsche Psychoanalyse hinter sich hat, nämlich im Hinblick auf die Integrationsversuche neuer beobachtbarer Prozeßverläufe. Auch hier wird das neue Material nicht fruchtbar gemacht, um grundlegende Annahmen der Muttertheorie und das zugrunde gelegte Menschenbild zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Die Theorie verselbständigt sich und wird dabei auf leisem Wege von zeit- und gesellschaftsspezifischen Wahrnehmungsmustern unterlaufen, wo sie nicht schon durch solche bedingt ist. Im Falle der Zivilisationstheorie eben von jenen Wahrnehmungsmustern, die es zu überwinden galt. In diesem Sinne kann man von einem Schwund an Theorie sprechen, wo eine Weiterentwicklung dieser notwendig wäre. Es folgt im ersten Teil dieses Kapitels eine Diskussion der Informalisierungstheorie, die sich als Fortsetzung und Revision der Zivilisationstheorie versteht – als Repräsentantin einer solchen Tendenz –, und verwandter Ansätze. Es geht dabei um die Ausarbeitung der angewandten Zivilisationskriterien in Zusammenhang mit dem zugrunde gelegten Emotionsbegriff, deren Überprüfung und nicht zuletzt um die Frage nach dem Verbleib der für die Figurationssoziologie einst konstitutiven Beziehungsdimension. Im zweiten Teil möchte ich die Bedingtheit zentraler Annahmen der Zivilisationstheorie sowie ihrer weiteren Entwicklungsrichtung durch stark zeitspezifische und gesellschaftlich gefärbte Wahrnehmungsmuster anhand der Theorie Sennetts aufzeigen.

1

Sennett 1997: S. 461

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a) Die Informalisierungstheorie Ausgangspunkt der Informalisierungsthese des holländischen Soziologen Cas Wouters sind auffällige Veränderungen der westlichen Umgangsformen und der Emotionsregulierung im 20. Jahrhundert, die sich zunächst fassen lassen als fortschreitende „Nuancierung und Flexibilisierung der Umgangsformen und Gefühlsregeln“:2 „Die Menschen gehen lockerer miteinander um und sprechen entspannter über ihre Gefühle.“3 Das theoretische Grundgerüst zur Konzeptualisierung solcher Veränderungen stammt von Elias selbst. Im ersten Zivilisationsband stellt er fest, daß im Vergleich zum 19. Jh. eine Lockerung der Verhaltensmuster zu beobachten sei, was etwa das Sprechen über natürliche Verrichtungen angehe: „Die Freiheit, die Unbefangenheit, mit der man sagt, was zu sagen ist, und zwar ohne Verlegenheit, ohne das gepreßte Lächeln und Gelächter der TabuÜbertretung, ist in der Nachkriegszeit offenbar größer geworden. Aber das ist, ganz ähnlich wie bei den Bade- und Tanzsitten der neueren Zeit, in dieser Form nur möglich, weil der Stand der Gewohnheiten, der technisch-institutionell verfestigten Selbstzwänge, das Maß der Zurückhaltung des eigenen Trieblebens und des Verhaltens selbst entsprechend dem vorgerückten Peinlichkeitsgefühl zunächst im großen und ganzen gesichert ist. Es ist eine Lockerung im Rahmen des einmal erreichten Standards.“4

Die körperliche ‚Freizügigkeit‘, die Lockerung der Sitten, wie sie auch in neuerer Badekleidung und in der Ausbreitung des Sports zum Ausdruck kommen, spiegeln nicht den langfristigen Gesamttrend wider; für Elias handelt es sich dabei vielmehr um ein ‚leichtes Zurückfluten‘, „um eine jener kleineren Bewegungen […], wie sie aus der Vielschichtigkeit der geschichtlichen Bewegungen innerhalb jeder Stufe des umfassenderen Prozesses immer von neuem entstehen.“5 Bestimmte Verhaltensbereiche, in denen ein hohes Maß an Zurückhaltung zur Selbstverständlichkeit geworden ist, sind entproblematisiert, so daß die Lockerung im Rahmen einer automatischen, als Gewohnheit angezüchteten Bindung und Umformung der Affekte sehr hohen Grades stattfindet. Gleichzeitig aber kann man Ansätze neuer Schübe zur Züchtung neuer und strafferer Triebbindungen beobachten.6 Damit ist die Zivilisationsdynamik schlechthin beschrieben: einerseits Auftrieb von unten, Aneignung ‚zivilisierterer‘ Verhaltensmuster seitens der aufsteigenden Schichten, neue Distinktionsversuche seitens der eingeholten Schichten andererseits. Mit der Verringerung der gesellschaftlichen Machtdifferentiale verringern sich zunehmend die Distanzen in den 2 3 4 5 6

Wouters 1999: S. 11 Ebd.: S. 9 Elias 1989b: S. 190 Ebd.: S. 257 Vgl. ebd.: S. 257f

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Verhaltens- und Empfindensmustern, während deren Spielarten zunehmen. Es findet eine Durchmischung von Verhaltensweisen verschiedener sozialer Lagerung statt.7 Die andere Seite dieses Prozesses ist die Entwicklung in Richtung auf immer allseitiger, differenzierter und stabiler werdende Selbstkontrollmuster. Die Tendenz geht ungewollt – so könnte man hier noch sagen – in Richtung Annäherung der schichtspezifischen Verhaltensmuster als Funktion der Verstärkung gegenseitiger Abhängigkeiten. Insofern könnte man die von Wouters hervorgehobene ‚Nuancierung und Flexibilisierung der Umgangsformen und Gefühlsregeln‘ noch ganz im ursprünglichen Zivilisationsmodell betrachten, wäre da nicht noch die ‚Richtungsfrage‘: Wohin entwickeln sich die sich tendenziell annähernden Verhaltensmuster, und wie kann man diese Entwicklung zivilisatorisch interpretieren? Der ‚Aktualitätswert der Richtungsfrage‘, so Wouters, ergab sich durch Beobachtungen, die das Verhältnis von Formalisierungs- und Informalisierungsprozessen betrafen. Letztere schienen im 20. Jahrhundert in den entwickelteren Gesellschaften den Gesamttrend zu bestimmen, während von einem leichten Zurückfluten innerhalb der Gesamtbewegung eher im Hinblick auf Formalisierungsprozesse gesprochen werden konnte. In den 60er und 70er Jahren mußten sich die Zivilisationstheoretiker angesichts des Ausmaßes und des Tempos der Lockerung der Umgangsformen, der veränderten Scham- und Peinlichkeitsschwellen und der damit einhergehenden Tabubrüche mit der Frage auseinandersetzen, ob der Zivilisationsprozeß seine Richtung geändert habe. Anfang der 70er Jahre neigt Elias selbst noch dazu, für die Zeit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Entzivilisierung zu konstatieren, da die Anforderungen an die Selbstbeherrschung von Erwachsenen in dieser Zeit abgenommen hätten.8 Später schwenkt er auf den Interpretationskurs von Wouters ein, der feststellt, daß die lockereren Umgangsformen doch gerade höhere Anforderungen an die Selbstbeherrschung stellen. Schon Ende der 70er Jahre stellt Elias dann fest, es wäre ein Mißverständnis der Zivilisationstheorie, die betreffenden Trends als eine Entzivilisierung aufzufassen; es handle sich dabei vielmehr um eine Zunahme des gesellschaftlichen Drucks zur Selbstregulierung bzw. um einen Individualisierungsschub.9 Während bei Elias in diesem Kontext kaum die Rede von Emotionen und Gefühlen ist, dafür aber um so mehr von Beziehungen, ihrer Regulierung und entsprechenden Problemen, dreht sich die Informalisierungsthese Wouters‘, der dieses Konzept weiter auszuarbeiten versuchte, in erster Linie um den Umgang der Menschen mit ihren Emotionen. Informalisierung stellt für Wouters einen Prozeß der „Emanzipation der Emotionen“10 dar. Was dann demnach Emotionen sind, 7 8 9 10

Vgl. Elias 1989c: S. 342ff Vgl. Wouters 1999: S. 35f Vgl. Elias 1990b: S. 60 Wouters 1999: S. 83

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welche Wandlungskriterien angeboten werden, welche grundlegenden Annahmen hier im Hinblick auf psychogenetische Wandlungen getroffen werden, sind die Fragen, die ich im folgenden erörtern möchte.

Die „Emanzipation der Emotionen“ ‚Informalisierung‘ bedeutet, so Wouters in seinem gleichnamigen Buch, „daß allerhand Gefühle und Verhaltensweisen, die in früheren Jahrhunderten nach und nach durch eine immer straffere Zwangsjacke aus Vorschriften und Etikette blockiert worden waren, im Laufe dieses Jahrhunderts aus ihren drückenden Fesseln gelöst wurden.“11 Dies treffe insbesondere auf die ‚gefährlichen‘ Gefühle zu, im Hinblick auf welche die Offenheit zugenommen habe, und die zunehmend bewußtseinsfähig geworden seien, nämlich: Mordlust, Habsucht, Eifersucht, Geilheit und (Todes-) Angst.12 Was sind aber Emotionen bzw. Gefühle, die gefesselt und gelöst werden können? Wouters’ Versuch, Informalisierung als einen psychischen Prozeß zu beschreiben, endet zunächst in einem Begriffschaos. Da gibt es Gefühle, Impulse, Affekte, Triebe und Emotionen, die in der Regel in der Vergangenheit abgewehrt worden waren, vor allem die ‚primären Impulse und Gefühle‘, also jene aus den Bereichen Sexualität, Besitz, Gewalt und Tod, die nun (wieder) bewußt würden. Diese ‚tieferen Gefühle‘ und die versteckten Ängste, welche sich sowohl auf das Zeigen als auch auf die Kontrolle der Emotionen beziehen, seien eng miteinander verbunden: „So, wie sie einst zusammen aus dem Bewußtsein verbannt worden waren, so kommen sie auch zusammen wieder zutage.“13 Einen Anhaltspunkt, was unter Emotionen zu verstehen sei, geben Wouters’ Verweise auf Freuds Sicht der Emotionen. Eine Einsicht von Freud sei es gewesen, daß Emotionen eine äußerst wichtige Signalfunktion besitzen.14 In einem anderen – mit Artur Bogner zusammen verfaßten – Aufsatz heißt es, ein zentraler Gedanke Freuds sei es gewesen, „daß Emotionen Signale darstellen, mit deren Hilfe Menschen sich über ihre Situation informieren.“15 Nun 11 Ebd.: S. 9 12 Ebd. 13 Ebd.: S. 86. Leider konnte ich aus den Ausführungen Wouters nicht erschließen, ob die gefährlichen Gefühle angeboren sind bzw. menschliche Universalien darstellen, ebenso bleibt der Status der sogenannten ‚primären Impulse und Gefühle‘ unklar. Die im ersten Kapitel angeführten Primäraffekte, die von Emotionstheoretikern als universal angesehen werden, sind damit wohl nicht gemeint. Bei Wouters scheinen vielmehr die primären Impulse und Gefühle, die in den Bereichen Sexualität, Besitz, Gewalt und Tod liegen sollen, eben die gefährlichen bzw. ‚tieferen‘ zu sein. Was aber ist mit primär gemeint? Anscheinend werden in diesem Ansatz Verhaltenstendenzen ‚primär‘, wenn sie gesellschaftlich tabuisiert werden. Bei Mordlust, Habsucht und Geilheit stellt sich weiter die Frage, warum diese überhaupt als Emotionen zu bezeichnen sind. 14 Ebd.: S. 152 15 Bogner/Wouters 1990: S. 263

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findet man bei Freud ebenfalls keine ausdifferenzierte Theorie der Affekte oder Emotionen vor.16 Welche Situation wird also wem, wie signalisiert? Sind Emotionen nun Signale oder haben sie eine Signalfunktion, und wenn letzteres der Fall ist, was sind dann Emotionen? Freud jedenfalls hat sich vor allem mit dem Angstaffekt beschäftigt, und dies ist im Hinblick auf seine triebtheoretische Orientierung auch einleuchtend. Affekte werden von ihm verstanden als die subjektive Äußerung der Quantität an Triebenergie. Die Angst ist eine Reaktion des Subjekts, das einer „Reizanflutung aus inneren oder äußeren Reizen ausgesetzt ist, die es nicht bewältigen kann.“17 Bei einem Angstsignal handelt es sich um eine Vorrichtung zur Vermeidung einer solchen Reizanflutung.18 Wie in den letzten Kapiteln bereits erwähnt, ist das Freudsche Verständnis der Affekte besonders problematisch, was ihre soziale Dimension betrifft. Was die Affekte signalisieren, sind ausschließlich Disregulationen der Triebe, deren Folge sie sind, sie besitzen keine primäre soziale Zeichenfunktion. Über die Signalfunktion der Affekte bei Freud schreibt Krause: „Affektäußerungen (ventilartige Abfuhrbahnen) dienen als Abfuhrmöglichkeiten für Triebdisregulationen. Sie haben keine primäre kommunikative Funktion, sondern gewinnen diese erst sekundär durch die Reaktion des Individuums, welches das Kind pflegt. Offensichtlich nimmt Freud an, daß die Pflegeperson dem ventilartigen Abfuhrvorgang die Information, daß das Kind leidet, entnimmt. Also ist, wenn auch auf sehr primitivem Niveau, eine phylogenetisch erworbene spezifische Information in den Abfuhrvorgang eingebaut. Es sei denn, man postuliere, der Schrei diene nur der Aufmerksamkeitslenkung. Es verwundert kaum, daß Freud sich mit diesem Modell auf den Schmerz und den Schrei spezialisierte und sich an keiner Stelle über das Lächeln und das freudige Glucksen verliert, denn spätestens da wäre es deutlich geworden, daß eine Affektäußerung mit einer spezifischen Information auftritt, die voraussetzt, daß keine Triebdisregulationen vorhanden sind.“19

Es spricht dafür, daß Wouters sich tendenziell in diesem Freudschen Denkmodell bewegt, wenn er hervorhebt, „daß alle Menschen in einer undifferenzierten Art von Erregung geboren werden […]“.20 Was in diesem Verständnis nicht genügend gewürdigt wird, ist die Besonderheit der Af16 „Unter ‚Gefühle‘ findet man im Gesamtregister von Freuds Werken auch Abscheu, Affekte, Angst, Gemütsbewegungen, Schmerz, Stimmung, Trauer; usw. […]. Aus heutiger Sicht würde man zumindest Schmerz und Stimmung nicht unter Gefühl einordnen. Der Begriff Emotion wurde kaum benutzt. […] Die wesentlichen theoretischen und klinischen Überlegungen wurden am Angstaffekt entwickelt, so daß die meisten postfreudianischen Autoren, die sich später zur Affekttheorie Freuds äußerten, eigentlich über dessen Angsttheorie schreiben“ (Krause 2000: S. 30f). 17 Laplanche/Pontalis 1994: S. 64 18 Vgl. ebd.: S. 68 19 Krause 1998: S. 25 20 Wouters 1999: S. 153

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fekte, „daß sie von anderen wahrgenommen oder erspürt werden können und zu identischen oder komplementären Reaktionen führen […]“,21 daß sie in der Außenwelt etwas verändern können. Und in der Tat scheinen im Informalisierungsmodell die Emotionen keine Bedeutung zu haben, sie existieren gewissermaßen außerhalb von Beziehungen, in einem ‚Innen‘, von einem Zivilisationsprozeß überdeckt, vom Informalisierungsprozeß ent-deckt. So stellt der Informalisierungsprozeß nach Wouters im psychische Sinne gewissermaßen eine Umkehrung des von Elias beschriebenen Formalisierungsprozesses dar, in dem der Äußerung von emotionalen und körperlichen Empfindungen in einem viele Jahrhunderte währenden Prozeß immer festere Zügel angelegt und diese aus dem sozialen Verkehr verbannt worden seien.22 Die Bedingungen der Umkehrung der Formalisierung sind im Zivilisationsprozeß selbst angelegt: Im Zuge fortschreitender Zivilisierung findet durch die fortschreitende Funktionsteilung und die alltägliche Verflechtung in längere Menschenketten zunächst eine Gewöhnung an einen bestimmten Standard an Langsicht und ‚Zurückhaltung der Affekte‘ statt, wodurch rigide Verhaltensvorschriften ihre Funktion verlieren. Der Schleier der Leidenschaften lichtet sich in bezug auf Natur und Menschen.23 Diese Entwicklung hat Elias als Rationalisierung und Psychologisierung beschrieben, kurz: das Bewußtsein wird weniger triebdurchlässig und die Triebe weniger bewußtseinsdurchlässig. Die andere Seite dieser psychischen Transformation war bei Elias ein Anstieg der Scham- und Peinlichkeitsschwellen, ein Wandel der Gefühle, welche zunächst Ausdruck der gesellschaftlichen Machtstrukturen sind und mit Verringerung der Machtdifferentiale und der Automatisierung der Ängste und Affektregulierungen einen Bezugsverlust nach außen erleiden und ganz zum ‚inneren Gebot‘ werden.24 Um den postulierten Informalisierungsprozeß auf psychischer Ebene nachzuvollziehen, ist es hilfreich, die vorangegangene Psychogenese kurz aus Wouters eigener Sicht zu betrachten. Neben Rationalisierung und Anstieg der Scham- und Peinlichkeitsschwellen nennt er als einen weiteren Ausdruck der psychischen Wandlungen die Zunahme von ‚homo-clausus‘Erfahrungen, der Erfahrung von sich selbst als von anderen Menschen abgeschlossen und abgesondert.25 Die psychische Transformation selbst jedoch wird in erfahrungsfernen Begriffen wie folgt beschrieben: „Sowohl die wachsende Rationalisierung und Psychologisierung als auch die Verstärkung von Gefühlen der Scham und Peinlichkeit sind Aspekte der – mit Zunahme der Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen – wachsenden

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Krause 2000: S. 31 Vgl. Wouters 1999: S. 90 Vgl. Elias 1989c: S. 373, s.a. Kap. II dieser Arbeit. Vgl. Elias 1989c: S. 403, s.a. Kap. II dieser Arbeit. Vgl. Wouters 1999: S. 25

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Kluft in der Struktur der Persönlichkeit zwischen Triebzentrum und Kontrollapparat, zwischen ‚Es‘ und ‚Ego‘ bzw. ‚Über-Ich‘.“26

Bei Elias selbst – so problematisch sein Ansatz auch sein mag – wächst zumindest keine Kluft in der Persönlichkeitsstruktur, sondern hier ebenfalls die Erfahrung einer Kluft durch eine Persönlichkeitsstruktur, die charakterisiert ist durch „besonders starke Differenzierung und Spannung zwischen den als Selbstzwang angezüchteten gesellschaftlichen Geboten und Verboten und den unbewältigten oder zurückgehaltenen Trieben und Neigungen im Menschen selbst“:27 „Die Kluft und der besonders heftige Widerstreit, die die reich individualisierten Menschen unserer Zivilisationsstufe in sich selbst verspüren, sie werden von ihrem Bewußtsein in die Welt hineinprojiziert; sie erscheinen bei ihnen in ihren theoretischen Überlegungen als existentielle Kluft und als ewiger Widerstreit zwischen Individuum und Gesellschaft.“28

Die Annahme einer Kluft in der Persönlichkeit, wobei die Emotionen dem Bereich des Triebzentrums bzw. des Es zugedacht werden, bildet so die Grundlage, auf der die Informalisierungsthese aufbaut. Die Bedingungen kann man zusammenfassen als nach wie vor zunehmender gesellschaftlicher Zwang zum Selbstzwang durch die Verdichtung und Verlängerung der Interdependenzketten, Verringerung der Machtdifferentiale, einer damit interdependenten Entfunktionalisierung herkömmlicher Verhaltensmuster und -vorschriften aufgrund der veränderten Machtbalancen und der zunehmenden Komplexität und ein entsprechender Wandel der gesellschaftlichen Zwänge zum Selbstzwang: „Diese Vorschriften werden erst nuancierter, persönlicher, flexibler gehandhabt, wenn sich der Zwang der sozialen Kontrolle von Situationen auf die Handlungen und Motive der Individuen verschiebt. In diesem Transformationsprozeß vom ‚gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang‘ können sich die Beteiligten immer weniger auf eine bloße Reproduktion von überlieferten Orientierungen beschränken. Die Beteiligten machen sich dann zum wahren ‚Meister‘ dieses Zwangs und dieser Orientierungen, was in psychoanalytischen Begriffen auf eine Stärkung der ‚Über-Ich‘- und ‚Ich‘-Funktionen auf Kosten der ‚Es‘-Funktionen hinausläuft, und daraufhin auch auf eine Stärkung der Ich-Funktionen auf Kosten der Gewissensfunktionen (nicht allein ‚Wo Es war, soll Ich werden‘, sondern auch: ‚Wo Über-Ich war, soll Ich werden‘ in dem Sinne, daß ‚Es‘ wie ‚Über-Ich‘ stärker vom ‚Ego‘ dominiert werden). Letzteres ist charakteristisch für den Informalisierungsprozeß.“29

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Ebd.: S. 24 Elias 1988: S. 49, Herv.v.mir Ebd.: S. 49f, Herv.v.mir Wouters 1999: S. 166

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Mit der Informalisierung lichtet sich sozusagen der letzte Schleier. Es handle sich dabei um eine „stärkere Bewußtmachung des Unbewußten“,30 wobei die derzeitigen Affektstandards gleichzeitig eine stabilere, differenziertere und umfassendere Affektkontrolle erfordern,31 einen Grad an Affektkontrolle, der überhaupt erst eine solche Entschleierung möglich macht. Die Kursänderung bezieht sich also lediglich darauf, daß eine Ausweitung der erlaubten Verhaltensalternativen stattfindet, ansonsten jedoch weiterhin ein „Fortgang in Richtung eines kräftiger, stabiler, gleichmäßiger und umfassender werdenden dominanten Musters der Selbstkontrolle und Gefühlsregulierung“32 zu konstatieren bleibt. Hier verweist Wouters auf Abram de Swaan, niederländischer Soziologe und Psychoanalytiker, der vor allem diesen Wandel der gesellschaftlichen Zwänge zum Selbstzwang in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt, den er schlagwortartig mit der Formulierung „Vom Befehlsprinzip zum Verhandlungsprinzip“ charakterisiert. Es sei einerseits richtig, so de Swaan, daß die Menschen sich mehr ‚gehen lassen‘ und daß sie dies auf ‚kontrollierte‘ Weise tun, daß sie sich ‚ausleben‘ und sich dabei ‚in der Gewalt haben‘, jedoch betreffe diese Lockerung der Umgangsformen vor allem den Bereich der Sexualität, etwa in Bezug auf Verhütung, Abtreibung, Konkubinat, Promiskuität, Ehescheidungen, Homosexualität, Pornographie und Masturbation, die ‚Angriffslust‘ und Neigungen zu Überheblichkeit und Anmaßung sind hier ausgenommen.33 Beziehungsfragen, die ehemals selbstverständlich zum Vorteil der mächtigeren Partei beantwortet wurden, werden in ausgeglicheneren Machtverhältnissen eher zum Gegenstand von Verhandlungen. Mit der Verringerung der Machtdifferentiale wachsen die zwischenmenschlichen Spannungen und die damit verknüpften Spannungen im ‚Affekthaushalt‘ der Menschen, wodurch die Aufmerksamkeit für Gefühle und deren Regulierung zunehme.34 Für den Einzelnen bedeuten somit solche Informalisierungsprozesse auch „Entdeckungsreisen in die eigene nahe und ferne Vergangenheit, Erkundungszüge zu den Gründen, weshalb und auf welche Weise das eigene Gefühlsleben in die Bahnen, denen man gefolgt ist, gelenkt worden war. […]/Das Aufstöbern und Analysieren der Regulierung der eigenen Triebe, Ängste und andere Emotionen kann ein genauer informiertes und ausgearbeitetes Selbstbild bzw. Bild der autobiographischen Kontinuität erbringen, auch eine größere soziale und psychische Flexibilität.“35 Nicht zu vergessen sind bei solchen Erkundungszügen in das eigene Selbst die ‚gefährlichen Gefühle‘, die mit aufgewühlt werden, das „Aufrühren von weggedrängten Gefühlen wie gewalttätiger Wut, Eifersucht, 30 31 32 33 34 35

Ebd.: S. 21 Vgl. ebd.: S. 83 Ebd.: S. 62 Vgl. de Swaan 1991: S. 181f Vgl. Wouters 1999: S. 59 Ebd.: S. 87f

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Geilheit, Habsucht und Raubgier, Unterlegenheits- und Überlegenheitsgefühl“36, womit das Risiko des Kontrollverlustes erhöht wird. „Dennoch aber wachsen auf diese riskante Weise, bei einem stärkeren und wirklichkeitsgetreueren Bewußtsein von autobiographischer Kontinuität, die Möglichkeiten, tiefere und verstecktere Gefühle nach oben zu holen, einschließlich der damit verbundenen Ängste, und sie umzusetzen in im Hinblick auf Ort und Zeit dosierte Worte und Handlungen.“37

Daß bei dieser letzten Aufzählung das menschliche Gegenüber fehlt, ist kennzeichnend für die gesamte Theorie. Weder werden hier Gefühle als Niederschlag von Beziehungen verstanden, noch werden Emotionen als Reaktionsmuster verstanden, die evtl. eine Antwort auf andere Reaktionsmuster, auf andere Menschen darstellen könnten. Ebenso wenig kann man in dieser Theorie Affekten als spontanen Reaktionsmustern begegnen. Dafür haben wir es um so mehr mit Kontrollen von Trieben, Affekten, Emotionen, Gefühlen und Impulsen zu tun – und mit Kontrollen von Kontrollen.

Die „reflexive Zivilisierung“ Ein weiterer Ansatz, der sich mit der Richtungsfrage beschäftigt, ist das Zivilisationsmodell von Wolfgang Engler, das zwar nicht gänzlich dekkungsgleich ist mit der Informalisierungsthese Wouters’, an diese aber anknüpft und von Wouters auf Umwegen integriert, oder besser assimiliert wird. Englers Konzept des Übergangs von der ‚einfachen‘ bzw. ‚disziplinierenden Zivilisierung‘ zur ‚reflexiven‘ Zivilisierung entspricht in etwa dem, was Wouters als Entwicklung von der Dominanz der Über-IchStrukturen (Selbstzwang) zur Dominanz von Ich-Funktionen (Selbststeuerung) beschreibt.38 Diese Entwicklung „von einem fremdzwang- zu einem 36 Ebd.: S. 88 37 Ebd.: S. 88. Zur (Un-)Möglichkeit wirklichkeitsgetreuen Erinnerns autobiographischer Kontinuität s. Kapitel VI dieser Arbeit: „Das emotionale, kommunikative Gedächtnis“ 38 Vgl. Engler 1995: S. 117. Eine solche Schwerpunktverschiebung sei – so Engler – auch in den Gedankengängen von Elias selbst nachzuvollziehen, wo Elias der Formel ‚Vom Fremdzwang zum Selbstzwang‘ einen Doppelsinn verliehen und damit das zentrale Kriterium für Zivilisationsprozesse präzisiert habe: „Sie bezeichnete fortan nicht nur die Mechanismen, dank deren soziale Zwänge verinnerlicht werden, sondern zugleich den langfristigen Prozeß, in dessen Verlauf Selbstzwänge zunehmend an die Stelle von Fremdzwängen treten, bei der effektiven Organisation des menschlichen Verhaltens gewissermaßen ‚in Führung gehen‘. Danach unterscheiden sich ‚Zivilisationen‘ in dem Maße voneinander, in dem sie der Selbststeuerung, der Initiative und dem Eigensinn der Akteure größeren oder geringeren Spielraum geben. Je mehr sich die Balance zwischen Außen und Innen, Gesellschaft und Individuum, Wir und Ich zugunsten der letztgenannten Glieder

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selbststeuerungsdominierten Zivilisierungsmuster bedeutet die Zivilisierung der zivilisatorischen Mechanismen und Instanzen selbst.“39 Demnach sei die ‚selbstdestruktive Zivilisierung‘ gekennzeichnet durch „rohe Dämpfung der Leidenschaften und gewaltsame Erziehung zur Friedfertigkeit. Man wird zivilisiert, ohne sich zu zivilisieren.“40 Aus dieser Form der Zivilisierung erwächst eine ‚skrupulöse Selbstbeziehung‘, die nach ‚Entladung‘ sucht.41 ‚Reflexive Zivilisierung‘ dagegen bedeute erstens ‚Reflexivität‘ in dem oben genannten Sinne, daß also „Zivilisationsprozesse auf sich selbst angewandt werden, so daß, der Tendenz nach, Form und Inhalt, zivilisatorischer Effekt und zivilisatorische Mechanismen, zur Deckung gelangen.“42 Dieser ‚Autonomie respektierenden und fördernden Zivilisierungsart‘, die das objektive Kennzeichen reflexiver Zivilisierung für Engler ausmacht, entspricht zweitens subjektiv, „daß für die in sie eingeschalteten Menschen der Zusammenhang von Verlust und Gewinn, Selbstzwang und Selbstbestimmung, Dependenz von und Interdependenz mit anderen rekonstruierbar bleibt.“43 Dieser Gedanke sei bei Elias’ Neudefinition der Kriterien für ‚gelungene‘ Zivilisationsprozesse wiederzufinden, wo er von einem ‚Höherfahren der Schamschwellen‘ auf ‚wachsende Selbststeuerungsanforderungen‘ umgeschaltet habe: „Die Aufhebung von Ängsten und Normen, die sich einzig und allein verkrusteten Machtbeziehungen verdankten, stand nun im vollen Einklang mit ‚Zivilisation‘. ‚Dezivilisation‘ meinte hinfort ‚nur‘ noch die Schwächung oder gänzliche Auflösung humaner, das heißt kooperativ und koexistentiell unabdingbarer Konventionen.“44

Im Falle dieser reflexiven Zivilisierung bedarf es keiner ‚Entladung‘ des ‚Affekts gegen die Zähmung der Affekte‘ an dem schwächeren Anderen mehr.45 Hier setzt auch Hans-Peter Waldhoff an, dem es in seinem Buch „Fremde und Zivilisierung“ u.a. um die Verarbeitungsmodi von Fremdheit in Zivilisierungsprozessen bzw. um das ‚Problem einer Zivilisierung der

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verschiebt, um so entwickelter, reifer, ‚zivilisierter‘ das Zivilisationsgeschehen./Bürgte in dem ursprünglichen Modell die angstvolle Verinnerlichung sozialer Zwänge für ‚die Zivilisation‘, so geht diese Bürgerschaft nun in zivilere Hände über; in die Hände der Individuen selbst, in die persönliche Verantwortung der einzelnen für ihr Triebleben. Anders gesagt: Aus einem weithin blinden Prozeß, der Trieb- und Bewußtseinssteuerung voneinander entkoppelt, einer präkognitiven und präsprachlichen Triebsteuerung den Weg bereitet, wird in Teilen eine Option“ (Engler 1995: S. 117f, Herv.i.O). Engler 1992b: S. 43, Herv.i.O. Engler 1992a: S. 97 Vgl. ebd.: S. 97 Ebd.: S. 97 Ebd.: S. 98 Engler 1995: S. 133 Vgl. Engler 1992a: S. 98

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Verarbeitung von Fremdheit‘ geht.46 Bei der selbstdestruktiven und der reflexiven Zivilisierung handle es sich um zwei unterschiedliche Stufen des Zivilisationsprozesses und entsprechende Selbstregulierungsmodi. Im Falle der Disziplinierung gehe es um das Erlernen der ‚Niederwerfung der Triebimpulse‘, darum, ihrer ‚Herr zu werden‘, was nur mittels individueller und gesellschaftlicher Unbewußtmachung aushaltbar zu sein scheint. Alles was an dieser ‚harten Unterdrückung‘ rührt, „wird mit derselben Härte abgewehrt, die der ursprüngliche Verdrängungsvorgang selbst erforderte.“47 Eine solche Gefährdung stellen Menschen mit einer als fremd empfundenen Trieb- und Affektregulierung dar. Bei der reflexiven Zivilisierung müssen Triebe und ebenso Repräsentanten fremder Triebregulierungsmuster weniger hart abgewehrt werden. Hierbei handelt es sich um den ‚Verarbeitungs- oder Sublimierungsmodus‘ der Fremdheit.48 Beim selbstdestruktiven Typus kann man wiederum zwischen zwei Selbstregulierungsmodi unterscheiden: „Der autoritäre Typus der destruktiven Spätphase disziplinierender Zivilisierung weiß nicht, daß er sich selbst, seinen eigenen Gefühlsstrebungen, fremd ist, und projiziert die dadurch aufgestauten Aggressionen auf andere Menschen, auf äußere Fremde. Die überich-zentrierte Zivilisierungsstufe des in sich gefangenen, selbstdestruktiven homo clausus, der seiner Entfremdung ins Auge zu sehen versucht, gestattet auch diese Triebabfuhr nicht mehr. Der disziplinierende Zivilisierungsmodus ist an die äußersten Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gestoßen.“49

Doch wie es die Dynamik will, setzt mit dem Informalisierungsprozeß eine Wende ein, der homo clausus wird befreit. Als eine frühe Repräsentantin eines breiteren gesellschaftlichen Informalisierungsprozesses, die gleichzeitig eine reflexive Zivilisierung bedeute, erweise sich die Psychoanalyse, und dies nicht nur nach der Seite der Gefühle hin, indem sie die aus dem Bewußtsein verschwundenen Regungen wieder dorthin zurückzuholen versuche, also nach der Seite der ‚kontrollierten Emanzipation kolonisierter Gefühle‘, sondern auch nach der Seite der ‚Emanzipation von kolonisierenden verinnerlichten Instanzen‘.50 In diesem Sinne bezieht sich der Prozeß der Informalisierung nicht nur auf die Verhältnisse zwischen sozialen Gruppen, sondern damit einhergehend findet auch eine ‚Informalisierung der Figuration psychischer Instanzen‘ statt.51 Engler selbst allerdings

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Vgl. Waldhoff 1995: S. 296 Ebd.: S. 297 Vgl. ebd.: S. 299 Ebd.: S. 318 Vgl. ebd.: S. 322f Vgl. ebd.: S. 343. Bei Wouters heißt es dann: „Wie die Verhältnisse zwischen sozialen Gruppen werden auch die Verhältnisse zwischen den psychischen Funktionen in jenem Prozeß weniger starr und hierarchisch geschichtet, und in dem Maße, wie dies geschieht, wächst der ‚Spielraum‘ für flie-

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hat die Wandlungen der Beziehungen zur eigenen Natur und zu Anderen im Laufe des Zivilisationsprozesses etwas problematischer gesehen. Bevor ich seinen Gedankengang weiterverfolge, geht es im nächsten Abschnitt zunächst darum, zu schauen, wie Wouters die Ansätze von Engler und Waldhoff integriert.

Die Entstehung der „dritten Natur“ In Anlehnung an die Position Waldhoffs referiert Wouters den Verlauf des Zivilisationsprozesses anhand jeweils dominanter Verhaltensregulierungstypen: Da haben wir zunächst den trieb- und impulsgesteuerten Menschen, dann folgt der fremdzwang-dominierte Typus, nach ihm der Über-IchDominierte, mit zunehmender Individualisierung abgelöst durch den wirlosen, Über-Ich-Gesteuerten, genannt homo clausus, der mehr oder weniger verzweifelt versuche, ‚eine Bresche in das ummauerte Gefühlsleben zu schlagen‘ und schließlich den Ich-dominierten Menschen.52 Im 20. Jahrhundert haben immer mehr Menschen eine Art von Selbstregulierung entwickelt, die dem letzteren Typ entspricht. Der Informalisierungsprozeß, diese „Phase der umfassenden Emanzipation und Integration der ‚unteren‘ sozialen Gruppen in die (westliche) Gesellschaft gestattet die Emanzipation und Integration der ‚unteren‘ Impulse und Gefühle in die Persönlichkeit.“53 Der homo clausus, der soziologisch ein fast ‚wir-loses Ich‘ und psychologisch ein fast ‚Es-loses Ich‘ war,54 stelle eine Art Zwischenstation bei der ‚Wende vom Gewissen zum Bewußtsein‘ dar.55 Zur Erläuterung dieser Wende wird der Begriff ‚dritte Natur‘ eingeführt. Während mit ‚zweiter Natur‘ ein ‚stark automatisch funktionierendes Gewissen und eine entsprechende Selbstregulierung‘ gemeint war, also die Balance zwischen

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ßendere und flexiblere Verbindungen zwischen diesen Funktionen“ (Wouters 1999: S. 166f). Wouters 1999: S. 168 Ebd.: S. 169. Die Herstellung eines solchen Zusammenhangs zwischen gesellschaftlicher Machtstruktur und ‚psychischer Struktur‘, ergibt nur Sinn, wenn man die Soziogenese dieser psychischen Konzeption ebenfalls berücksichtigt. Das, was hier durch die gesellschaftliche Umgestaltung als ‚untere Impulse und Gefühle‘ bzw. als Es vermeintlich befreit wird, ist ein bereits Animalisiertes, Verteufeltes, Herabgesetztes und weder etwas, was per se ‚unten‘ war, noch ein unveränderliches Naturgegebenes. In diese Richtung argumentiert etwa der Historiker Mitzman in Zusammenhang der Entwicklung kollektiver Identitäten: „Stets sah das Endergebnis eines Identitätswandels jedoch so aus, daß die frühere Mentalität, die bei der Ausbildung von Normen und Werten in den individuellen Ichs als kulturelles Über-Ich fungierte, nach ihrer Ablösung und Unterdrückung mit dem assoziiert wurde, was die Psychoanalyse vielleicht als Es-Impulse bezeichnen würde […] Was zuvor für das kulturelle Über-Ich von zentraler Bedeutung war, wurde der diabolischen, verbrecherischen Unterwelt des Es überantwortet“ (Mitzman 1998: S. 410f). Vgl. Waldhoff 1995: S. 305f Vgl. Wouters 1999: S. 169

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Fremdzwängen und Über-Ich-Zwängen betroffen war, weist der Begriff ‚dritte Natur‘ auf eine Balance zwischen ‚zweiter-Natur-Selbstregulierung‘ und einer reflexiveren und flexibleren Selbstregulierung hin. Letztere meint einen Idealtyp, „[…] eine Persönlichkeitsstruktur, in der die Ich-Funktionen insofern dominant geworden sind, als es ‚natürlich‘ geworden ist, die Zug- und Schubkräfte sowohl der ersten wie der zweiten Natur als auch die Gefahren und Chancen – kurz- wie langfristig – jeglicher konkreten Situation wahrzunehmen. Der Begriff [dritte Natur, A.d.V.] meint ein Niveau von Bewußtsein und Kalkulation, in dem alle Formen von Zwängen und Möglichkeiten in Rechnung gestellt werden. Das bedeutet einen Aufstieg zu einem neuen Niveau reflexiver Zivilisierung.“56

Die hier beschriebene Natur, die Naturwerdung eines solchen Bewußtseins und einer solchen Wahrnehmung läßt sich schlecht mit der menschlichen Natur in Einklang bringen, sie ist übermenschlich. Nimmt man diese Beschreibung wörtlich, so muß man z.B. ernsthaft fragen, ob hier bestimmte genetische Wandlungen bezüglich des menschlichen Arbeitsgedächtnisses stattgefunden haben bzw. zu erwarten sind, oder ob diese ungeahnten Ausmaße des menschlichen Arbeitsgedächtnisses zu den unerahnten Folgen des Zivilisationsprozesses gerechnet werden dürfen. In Anbetracht der gewachsenen gesellschaftlichen Komplexität der Beziehungen und Handlungsabläufe müßte doch eher das Gegenteil zutreffen, nämlich eine stärkere Automatisierung der Verhaltenssteuerung im Ganzen. Was will uns also die Informalisierungsthese sagen? Den entscheidenden Hinweis finden wir bei Wouters selbst, wenn er sagt, Informalisierung sei ebenso wie Emanzipation sowohl ein tatsächlicher Vorgang als auch ein Ideal.57 Aber was ist was? Daß sich einerseits die Beziehungen zwischen den Menschen in Richtung zunehmender Interdependenz bei Verringerung der Machtdifferentiale verändert haben, ist nicht in Abrede zu stellen. Die damit einhergehende Lockerung der Umgangsformen soll nun nach der Informalisierungsthese nicht als Entzivilisierung mißverstanden werden. Die Anforderungen an die Selbstregulierung der Menschen haben ja zugenommen. Die Bilderbuch-Zivilisationisten werden nicht müde, dies zu versichern. Kooperation und Koexistenz sind durch die Zivilisationsstandards gesichert. Unnötig gewordene Zwänge, Ängste, Gebote und Verbote werden über Bord geworfen, das ‚Ausleben‘ von Über- und Unterlegenheitsgefühlen und ‚aggressiven Impulsen‘ wird geahndet, notfalls – sollten die Zivilisationsstandards doch nicht ausreichen – kommt es zu ‚Zivilisationsoffensiven‘, etwa antisexistischen oder antinativistischen, die schließlich zur Verinnerlichung der ‚Aggressionshemmung‘ führen.58 Die Menschen kommen einander, auch Fremden, 56 Ebd.: S. 169 57 Vgl. ebd.: S. 88 58 Vgl. Waldhoff 1995: S. 349, s.a. de Swaan 1991: S. 193f

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psychisch und sozial näher, was aufgrund der sensibleren und subtileren Regulierung der Gefühle, die durch eine ausgeglichenere und differenziertere Beherrschung der Affekte bedingt ist, nicht mehr so gefährlich für die Beteiligten ist. Sollten dennoch Probleme auftreten – und damit sind wir wieder beim ‚Preis‘ der Zivilisation –, so wende man sich an einen Experten für die emanzipierten Emotionen, der einem bei der Reflexion dieser helfe (s.u.). Denn mit der Verringerung der Machtdifferentiale kommt der ‚ambivalente Charakter menschlicher Beziehungen‘ deutlicher als psychisches Problem zum Vorschein und in Beziehungen müssen Fragen verhandelt werden, wie: „Wann und auf wieviel muß ich wegen dem anderen verzichten, was ich selbst möchte, und wieweit muß ich den Wünschen des anderen, die meine Wünsche nicht sind, entgegenkommen?“59 Die Entdekkung der eigenen ‚Emotionen‘ läuft scheinbar notwendig darauf hinaus, daß der ‚Andere‘ zum Problem wird, soweit er sich nicht fügt. Dies ist deswegen möglich, weil in dieser Theorie die ‚Emotionen‘ und der ‚Andere‘ zwei unterschiedlichen Sphären angehören. Die Emanzipation der Emotionen war möglich, weil man sich von dem ‚Anderen‘, der für die ‚Fesselung der Emotionen‘ verantwortlich war, ebenfalls ‚emanzipiert‘ hat. Die denkenden Statuen sind zu fühlenden Statuen geworden. Ein Ideal ist Informalisierung, wo ein bestimmter Umgang der Menschen mit den veränderten gesellschaftlichen Anforderungen als Lösung angeboten wird. Die Erkundungszüge in das eigene Selbst sind die von Wouters propagierten Akte reflexiver Zivilisierung. Mit der Feststellung, die gestiegene Nachfrage nach Training und Therapie, „durch die die Menschen lernen, besser Zugang zu ihren eigenen Emotionen zu finden und diese zu äußern“60, sei Anzeichen einer Zunahme der Aufmerksamkeit für Gefühle und deren Regulierung, leistet er einer gesellschaftlichen Tendenz Vorschub, soziale Probleme zu individualisieren, andererseits und damit einhergehend wird die Frage umgangen, warum die Menschen im Zuge der postulierten Emanzipationsprozesse immer weniger imstande sind, ohne Expertenhilfe ihr Leben zu gestalten. Die Problematisierung menschlicher Gefühlsregulierung und die entsprechende Aufmerksamkeitszuwendung zu ‚Gefühlen‘ sind für Wouters natürliche Begleiterscheinungen von Demokratisierungsprozessen, ebenso wie der ambivalente Charakter menschlicher Beziehungen als zeitlos und von Natur aus gegeben hingenommen wird.61 Ganz in diesem Sinne argumentierend heißt es sogar in Bezug auf Achtung und Selbstachtung der Menschen, diese seien nun „stärker direkt abhängig von ihren reflexiven und kalkulierenden Fähigkeiten, und insofern von einem speziellen Muster der Selbstkontrolle […]“.62 Und auch der gesellschaftliche Erfolg – was auch immer damit 59 60 61 62

Wouters 1999: S. 59 Ebd.: S. 59 Vgl. ebd.: S. 58f Ebd.: S. 169

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gemeint sein mag – ist immer stärker von einer reflexiven und flexiblen Selbstregulierung abhängig geworden. Die Relevanz einer solchen reflexiven Zivilisierung – so Wouters – habe der amerikanische Psychologe Daniel Goleman in seinem erfolgreichen Buch „Emotional Intelligence“ einem breiten Publikum zugänglich gemacht.63 Dieses Buch allerdings verdankt sein Entstehen, wie der Autor selbst im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt, der unmittelbaren Erfahrung einer Krise in der amerikanischen Zivilisation und der Beobachtung einer Variante dieser ‚emotionalen‘ Krise in der deutschen Gesellschaft, vor allem unter Kindern und Jugendlichen.64 Kann man ‚emotionales Elend‘ mit der Emanzipation der Emotionen bzw. einer reflexiven Zivilisierung erklären oder gar heilen, oder ist ersteres die ungeplante Folge oder gar der ‚Preis‘ des letzteren? Zur Ideologie wird die Informalisierung(-stheorie), insofern sie mit einer gesellschaftlichen Emanzipationsbewegung zusammenfällt. Für Wouters zeugt die ‚dritte Natur‘ von einem neuen Niveau reflexiver Zivilisierung, die das Erreichen einer höheren Stufe auf der Wendeltreppe des Bewußtseins bedeutet.65 Wenn Elias von der ‚Wendeltreppe des Bewußtseins‘ sprach, so waren damit verschiedene Beobachtungsebenen gemeint, wobei eine jeweils höhere Stufe eine Sicht auf die eigene Verflochtenheit in die funktionalen Abhängigkeiten, aber auch auf die in diesen Abhängigkeiten verstrickten eigenen Muster des Empfindens, Denkens und Wahrnehmens implizierte. Bei Wouters allerdings stellt das Erreichen einer höheren Stufe auf der Wendeltreppe des Bewußtseins einen Emanzipationsprozeß dar von einer bestimmten Natur und von bestimmten Anderen. Die Treppe führt bei ihm vom Körper zu einem kontrollierenden Bewußtsein, als dem ‚Zentrum der Persönlichkeit‘.66 Der Prozeß der Informalisierung stellt so eine neue Phase der Zivilisation dar, von der ab Zivilisation als ein Prozeß der Emanzipierung verstanden wird. Das selbstkontrollierte ‚TabuBrechen‘ wird zum Zivilisationskriterium. Vom Amsterdam der 60er und 70er Jahre als dem ‚selbsterklärten magischen Zentrum der Welt‘, von wo aus die Provo-Bewegung (eine niederländische Protestbewegung) interna63 Vgl. ebd.: S. 170 64 Vgl. Goleman 2002: S. 7f. „Das Buch emotionale Intelligenz verdankt sein Entstehen meiner unmittelbaren Erfahrung einer Krise in der amerikanischen Zivilisation, mit erschreckender Zunahme der Gewaltverbrechen, der Selbstmorde, des Drogenmißbrauchs und anderer Indikatoren für emotionales Elend, besonders unter der amerikanischen Jugend“ (ebd.: S. 7). Die sich insbesondere bei Kindern verschärfende emotionale Krise komme in Deutschland vor allem in der Zunahme somatischer Beschwerden zum Ausdruck. Auch die Zunahme an Depression als Krankheit in allen Industrieländern wird von Goleman angeführt und auch von ihm als ‚Kosten der Moderne‘ klassifiziert. Im Übrigen findet sich auch in diesem Buch keine kohärente Theorie der Emotionen. Bei Golemans ‚emotionaler Intelligenz‘ scheint es sich lediglich um ‚erwünschte‘ Eigenschaften zu handeln. 65 Vgl. Wouters 1999: S. 169f 66 Vgl. ebd.: S. 165f

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tionale Bedeutung gewann, breitete sich diese neue, reflexive Zivilisierungswelle aus.67 Diese Bewegung ist nicht Reflexionsgegenstand einer Zivilisationstheorie, sondern sie ist reflexive Zivilisierung. Nicht die Dynamik von Macht- und Selbstwertbeziehungen wird fokussiert, aus der heraus gesellschaftliche Emanzipationsbewegungen entstehen, die wiederum ihren Beitrag zur Beziehungs- und Psychodynamik der verflochtenen Menschen leisten, sondern die gesellschaftliche Bewegung erscheint als Bewußtseinsakt von Individuen, denn im Zuge dieser Bewegung „wurden immer mehr formale Regeln als nur der Befestigung und Unterstützung der Macht von herrschenden Gruppen entlarvt.“68 Mit dieser Erkenntnis werden nun formelle Verhaltensweisen als ‚äußerliche Symptome‘ von Abhängigkeit selbst schambeladen und vermieden, was für Wouters dann gleichzeitig ein selbstverständliches Anzeichen von ‚Individualisierung‘ ist: 67 Über die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in Holland, als eine der neueren Errungenschaften dieser Zivilisationswelle, wird Wouters in einem Zeitungsartikel wiedergegeben: „‚Man muß unsere Einstellung zu Euthanasie als Fortschritt in der historischen Entwicklung verstehen‘, erklärt der namhafte Soziologe Cas Wouters: ‚Wir wurden bis in die fünfziger Jahre von Regenten regiert, die uns die große Moral vorgeschrieben haben und selbst hinter verschlossenen Türen anderes taten. Von dieser Scheinheiligkeit haben wir uns in der Provo-Bewegung der sechziger Jahre befreit.‘ Die niederländischen Vorläufer der 68er, sagt er, hätten den großen Durchbruch zur Demokratisierung geschafft: ‚erst die sexuelle Befreiung, dann die Neuregelung bei Abtreibung und jetzt das Euthanasiegesetz‘“ (Wehrmann 2001). Man mag zu diesem Gesetz stehen, wie man will, es stellt sich die Frage, ob nicht hinter diesem ‚Tabubruch‘ eine andere Tabuisierung steckt. Ist es nicht so, daß wir angesichts des Alterns, der Endlichkeit und Begrenztheit des Lebens wie angesichts jeglicher Abhängigkeit schamanfälliger werden? Ist es nicht so, daß wir kraft dieser zivilisatorischen Errungenschaft und jener anderen, mit der das Leben künstlich verlängert werden kann, weniger über den Tod sprechen und nachdenken, – daß der Tod einen Bedeutungswandel erfährt? Die Illusion der Steuerbarkeit des Todes, der ‚letzten Grenze‘, wie überhaupt der Gedanke, Bewußtsein und Kontrolle seien proportional zu Tabubrüchen erweiterbar, ist eine markante Stelle dieser Theorie. Über das Verhältnis von Bewußtsein und Grenze schreibt Seidler: „Das Extrem der verdinglichenden Grenzsetzung ist ‚der‘ (weil personifiziert gedachte) ‚Tod‘, wobei die Scham der Sterblichkeit und, um vieles konkreter, die des Alternden wenig untersucht wurden. Es gehört auch in den Zusammenhang einer ‚letzten Grenze‘, wenn von verschiedenen Autoren mitgeteilt wird, daß angesichts der subjektiven Gewißheit des unmittelbar bevorstehenden Lebensendes das ganze ‚Lebenspanorama‘ gedrängt Bewußtseinsinhalt würde […]. Bewußtheit bedarf der Begrenzung durch das Andere oder den Anderen, wobei dessen Anteile des Gleichen und des Fremden unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Im zuletzt diskutierten Falle ist die letzte Grenze übermächtig in ihrer nicht einsehbaren Fremdheit“ (Seidler 2001a: S. 74). Zum Zusammenhang von Scham und Zeitlichkeit u.a. ebd.: S. 7ff u. S. 218. Zum Zusammenhang von Scham und Alter: Hilgers 1999: S. 93-98 u. ders. 1996: S. 120-131. Der Zusammenhang von Scham, Bewußtsein und Grenze ist ein Thema des nächsten Kapitels. 68 Wouters 1999: S. 75, Herv.v.mir

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„Daß die Verhaltensregeln in den 1950er Jahren ‚formeller‘ und ‚äußerlicher‘ waren, bedeutet, daß man sich weniger genierte, sich öffentlich nach anderen zu richten, und also in dieser Hinsicht weniger individualistisch war.“69

Die Schambeladenheit der Abhängigkeit aber ist Kennzeichen eines bestimmten Individualisierungsprozesses, der ein habitusspezifisches Verhältnis zu ‚Macht‘ und eine spezifische Ausgestaltung des Selbst auf psychischer Ebene impliziert. Die Informalisierungstheorie ist Repräsentant eines solchen Prozeßverlaufs, der noch zu spezifizieren bleibt.

Sinnlich-vitale Bezüge versus „dritte Natur“ Von der Bilderbuch-Zivilisation hebt sich Wolfgang Engler insofern ab, als er nicht gänzlich in die Falle der Idealisierung eines autonomen, kontrollierenden Bewußtseins tappt. Auch wenn er sich weiterhin in der triebtheoretischen Gedankenwelt bewegt, so hat er meines Erachtens eine realitätsnähere Sicht der Emotionen, indem er ihnen zumindest ansatzweise eine Realisierungsfunktion zugesteht, und zwar nicht nur in bezug auf eine ‚innere Realität‘, sondern auch auf eine ‚äußere‘. Als Ausgangspunkt seiner diesbezüglichen Überlegungen nimmt auch Engler die Eliassche Formel, die besagt, daß im Laufe des Zivilisationsprozesses das Bewußtsein weniger triebdurchlässig und die Triebe weniger bewußtseinsdurchlässig werden. Mit dieser Formel, so Engler, habe Elias – ohne sich dessen bewußt zu sein – die ganze Dramatik des Zivilisationsgeschehens auf den ‚selbstdestruktiven‘ Nenner gebracht: „[…] Denn was behauptet er?/Zunächst einmal, daß das Bewußtsein sich zunehmend gegen die Triebimpulse abschirmt, daß also die sinnlich-vitalen Gründe unseres Handelns nicht mehr auf seinen Bildschirmen erscheinen. Mit anderen Worten: Die rationale Verhaltenssteuerung koppelt sich von den elementaren Voraussetzungen ihrer eigenen Möglichkeit und Reproduktion, ihrer Welt- und Umweltverträglichkeit, ab. – Ein Szenarium für die Abdrift in die ökologische Katastrophe. Er behauptet weiter, daß die Triebimpulse sich gegen das Bewußtsein panzern, daß einmal in die Persönlichkeit eingebaute, angst- und schambesetzte Steuerungen auch dann in Kraft bleiben, wenn die Voraussetzungen, die ihnen Sinn gaben, längst entfallen sind. Es kommt zu keiner Überprüfung, zu keiner reflexiven Verflüssigung eingelebter, obgleich entfunktionalisierter Verhaltensnormen. Ein Szenarium zur Abdrift in die subjektive Katastrophe der Lernunfähigkeit.“70

Engler unterscheidet also zwischen zwei Pfaden, wobei der eine vom Bewußtsein zu den ‚Trieben‘ führt und der andere von den ‚Trieben‘ zum ‚Bewußtsein‘. Das Begehbarwerden des ersten Pfades bedeutet die Be69 Ebd.: S. 84 70 Engler 1992a: S. 100, Herv.i.O.

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wußtwerdung des Unbewußten, Verdrängten. Aber was hat es mit dem zweiten Pfad auf sich? Wenn die sinnlich-vitalen Bezüge auf dem Bildschirm erscheinen, ist das nicht die Bewußtwerdung des Unbewußten? Zugegebenermaßen ist diese Metapher der zwei Pfade nicht so glücklich gewählt. Unter Triebimpulsen kann man hier offenbar alles verstehen, was irgendwie mit den unbewußten bzw. verdrängten Trieben und Triebsteuerungen, angeborenen Neigungen und somatisch-psychischen Abläufen zu tun hat. Dennoch es ist lohnenswert, weiter zu fragen, was uns Engler eigentlich sagen will. Dies wird in seiner Abgrenzung zur Informalisierungstheorie etwas deutlicher, die er im Unterschied zu Wouters und Waldhoff nicht gleichsetzt mit ‚reflexiver Zivilisierung‘. Die Informalisierung bezieht sich nach Engler lediglich auf die Begehbarwerdung des Weges vom Bewußtsein zu den Trieben: „Wouters’ Korrektur gipfelt in der dem 68er Erfahrungszusammenhang einheimischen Erkenntnis, daß eingelebte und verfestigte Triebsteuerungen sehr wohl einer bewußtseins- und sprachvermittelten Veränderung zugänglich seien. […]/In der einen Richtung, die vom Bewußtsein zu den Trieben führt, scheint das Dilemma überwunden und reflexive Zivilisierung dank des Widereintritts des Rationalen ins Triebhafte, prinzipiell möglich. Sprechen Anzeichen dafür, daß Zivilisationsprozesse auch in der Gegenrichtung beidseitig befahrbar, daß Bewußtseinsvorgänge triebdurchlässig sind oder wieder werden? Können wir ach so zivilisierten Menschenwesen aus Zeugnissen und Schadensmeldungen unserer sinnlichen Urteilskraft noch Nutzen ziehen?“71

Mit dieser Problematisierung des Zivilisationsprozesses setzt sich Engler als einziger Zivilisationstheoretiker ernsthaft mit der Baumanschen Variante der Zivilisationskritik auseinander, mit dem Postulat der ‚natürlichen Affinität‘ von Zivilisation und moderner Grausamkeit. Eine Theorie der Zivilisation, die diese Herausforderung ignoriert, die das ‚Ruhig- und Kaltstellens der Empfindungen‘, ihre Neutralisierung und ihren Bedeutungsverlust als Begleiterscheinungen des Zivilisationsprozesses in ihren Konsequenzen für eben diesen Prozeß ausblendet, sänke, so Engler, tatsächlich auf die Stufe legitimierender Mythenbildung herab.72 Der ‚zweite Weg‘ bezieht sich auf die in dieser Zivilisationskritik angesprochene Problematik, er wäre also einer, auf dem die ‚Empfindungen‘ ihre Bedeutung zurückgewinnen. Aber wie? Die ‚öffentlichen Akte der Bewußtmachung‘ und die ‚Kritik verstaubter Sexualpraktiken‘ reichten dafür nach Engler ebenso wenig aus wie die nachfolgenden Informalisierungsschübe. Wurden institutionalisierte Triebhemmungen im privaten Austausch wirksam ‚aufgebrochen‘, stand man im öffentlichen Austausch vor der Aufgabe, ‚mitmenschlichen Triebregungen‘ institutionelle Geltung erst zu verschaf-

71 Ebd.: S. 102 72 Vgl. Engler 1995: S. 135ff

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fen.73 Und dies sei, was Elias entgangen sei, die ‚amorale Logik spezifischer Institutionen‘, die auch bewahrenswerte Alltagstraditionen neutralisieren, die Lähmung der ‚persönlichen Humanreflexe‘, aber auch deren Soziogenese: Der Prozeß der Verlängerung der Interdependenzen, der für Elias ausschlaggebend für eine ‚zivilisiertere‘ Gewissensbildung ist, zeigt nämlich noch andere Eigentümlichkeiten auf: „Was man deutlicher sehen und aussprechen muß, ist das Faktum der konstitutiven Ambivalenz von Interdependenz. Derselbe Prozeß, der unseren Triebhaushalt, unsere Gefühle und unser Denken auf das Zusammenwirken mit einer stets wachsenden Zahl anderer Menschen abstimmt, entfernt uns gebieterisch von den sinnlich-vitalen Bezügen unserer Existenz.“74

Mit der Verlängerung und Differenzierung der Handlungsketten komme es zu einer ‚Entkoppelung von subjektiven Handlungsplänen und kollektiven Handlungsfolgen‘, deren Unverträglichkeit mit der Reproduktion der natürlichen und sozialen Existenzgrundlagen nicht zu einer Umorientierung führt.75 Die Zwänge, die Abhängigkeiten, in denen die Menschen verstrickt sind, werden psychisch nicht wirksam, kurz: die sich aufdrängende Realität wirkt nicht verhaltenssteuernd: „Wo die Münze der unmittelbaren Erfahrung ihren sozialen Kurswert verliert, verliert sie auch ihren Aufforderungscharakter für das Handeln. Einmal dahin gekommen, mag geschehen, was nur geschehen kann: wir werden es wahrnehmen, sehen, registrieren, aber es wird unserer Praxis nichts mehr ‚bedeuten‘.“76

Mit der Hervorhebung der Relevanz der ‚unmittelbaren Erfahrung‘, der ‚Bedeutsamkeit‘ der Empfindungen bzw. der ‚sinnlichen-vitalen Bezüge‘ sowie ihres tendenziellen Verlustes bewegt sich Engler auf einen von Elias und seinen Nachfolgern stark vernachlässigten Prozeßaspekt der Zivilisation zu, bleibt aber in der Konsequenz mehr oder weniger der traditionellen Theorie verhaftet. Dies kommt etwa in seiner Vorstellung von der experimentellen Praxis einer ‚imaginären Moral‘ zum Ausdruck, die als entscheidendes Bindeglied zwischen Handlung und Resonanz, Aktion und Verantwortung fungieren könnte, deren erster Grundsatz wäre: „Handle unwahrscheinlich, kontrafaktisch; so, als ob du die absehbaren Folgen deines Tuns und Unterlassens selbst gewärtigen müßtest.“77 Kontrafaktisch bedeutet hier wohl, daß Bedingungen für die Möglichkeit einer solchen Handlungsweise schlicht fehlen. Denn einerseits ist – wie Engler selbst in Abgrenzung zu Elias feststellt – ein ‚unabhängiges Gewissen‘ ein Un73 74 75 76 77

Vgl. ebd.: S. 140f Ebd.: S. 136f, Herv.i.O. Vgl. ebd.: S. 138 Ebd.: S. 137f Ebd.: S. 142

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ding,78 andererseits wird die Realität ja eben nicht psychisch wirksam. Das Rezept der ‚imaginären Moral‘ würde hier eine weitere Spiralbewegung nach ‚oben‘ bedeuten, noch mehr Langsicht, noch mehr Selbstkontrolle, noch mehr Reflexion, ungeachtet der gegebenen Bedingungen: Ein SichSelbst-Erschaffen. Dies erinnert stark an die Formel der neueren Ratgeberliteratur, die die Phase des ‚Sei du Selbst!‘ (Informalisierungstheorie) notgedrungenerweise hinter sich gelassen hat – denn das ‚Selbst‘ war nicht aufzufinden – und umgeschwenkt ist auf das ‚Mach dich selbst!‘: „Wir können nicht nur die Reize ändern, denen wir uns aussetzen, sondern auch die Art, wie wir sie wahrnehmen.“79 Ist reflexive Zivilisierung ein solch kognitiver Akt, der ‚Bedeutung‘ umdeutet oder gar erschafft? Engler überwindet die Informalisierungstheorie dort, wo sein Gespür dafür zur Geltung kommt, daß eine solche Umorientierung wie jede Orientierung von Art und Grad der Affizierung – des Affizierens sowie des AffiziertWerdens – abhängt. Dieses Gespür manifestiert sich ansatzweise, wo er seinen Lesern das Geheimnis reflexiver Zivilisierung verrät: „Ob in den Familien oder Nachbarschaften, in sportlichen, religiösen, wirtschaftlichen oder politischen Vereinigungen – das Geheimnis gelungener, weil reflexiver Zivilisierung ist stets dasselbe. Statt passiv, ohne wirklichen Einfluß, in die Zusammenhangsformen hineingestellt zu sein, nehmen wir aktiven Anteil an ihrem Geschick, so daß wir uns mit der umfassenderen Einheit, die uns prägt, ohne Arglist identifizieren können. […] Wir sind, was wir sind, nicht durch schlichte Fügung, sondern aus eigener Anstrengung“80

Die Kategorien Aktivität und Passivität als Zivilisationskriterien sind zumindest ungewöhnlich und neu für die gesamte Zivilisationstheorie. Offen bleibt dennoch die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit solch ‚gelungener, weil reflexiver Zivilisierung‘.

Resümee und Ausblick Der Prozeß der Informalisierung bezieht sich in erster Linie auf Wandlungen der gesellschaftlichen Zwänge, die erhöhten Anforderungen an die 78 Vgl. ebd.: S. 123. Engler bezieht sich hier auf eine Textstelle von Elias, wo dieser von einem starken, unabhängigen persönlichen Gewissen spricht (vgl. Elias 1990b: S. 494). 79 Klein 2002: S. 69. So heißt es in dem Buch ‚Die Glücksformel‘ von Stefan Klein, und weiter: „Denn die Welt, wie wir sie erfahren, entsteht vor allem in unserem Gehirn. Das Gehirn bearbeitet die Rohdaten, die ihm die Sinnesorgane übermitteln, in sehr vielen Schritten“ (Klein 2002: S. 70). Daß das Gehirn eben keine Rohdaten verarbeitet, war eine der Grundaussagen von Damasio, auf den sich Klein ebenfalls bezieht. Mit diesem Buch hat man im übrigen ein gutes Beispiel, wie neue Erkenntnisse publikumsfreundlich verflacht und damit wieder unwirksam gemacht werden. 80 Engler 1995: S. 121f

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Selbstkontrolle des Einzelnen. Das Ideal der Informalisierung besteht darin, daß die Menschen mit diesen veränderten Bedingungen ‚zivilisiert‘, also selbstkontrolliert und emanzipiert, zurechtkommen. Doch wie dieses Ideal konzipiert wird, ist stark vorstrukturiert durch eine spezifische Wahrnehmung der Menschen und ihrer Natur, die letztendlich aus der Zivilisationstheorie eine Überlagerungstheorie macht, die keine Dynamik im Sinne von Ineinandergreifen von psychischen und Beziehungsstrukturen kennt. Die Emotionen sind nicht von vornherein bedingt durch dieses Ineinandergreifen, sondern erscheinen als sich im tiefen Innern Befindliches, das je nach Zivilisationsstufe unkontrolliert ausgelebt, unterdrückt, gezähmt und kontrolliert bzw. – als neuste zivilisatorische Errungenschaft – ‚wieder ausgelebt‘ wird. Nachdem die Es- und die Über-Ich-Phase durchlaufen sind, ist jetzt das Ich an der Reihe. Und darum ging es schließlich bei dem ganzen bisherigen Kampf des homo clausus: in selbstreferentieller Genügsamkeit seine Autonomie zu verkünden, hier durch das Sprachrohr der Informalisierungstheorie. Es wird im folgenden zu zeigen sein, daß dieser Prozeßverlauf zu einer tieferen Verstrickung in der ‚reflexiven Falle‘ geführt hat. Der informalisierte Mensch, wie er bei Wouters gefeiert wird, ist nicht der befreite homo clausus, sondern lediglich eine andere Variante desselben. Bei Engler findet zwar eine Korrektur des Menschenbildes ansatzweise statt, wodurch gewisse ‚Zivilisationsprobleme‘ auch einer Konzeptualisierung zugänglich werden. Hier findet schon eine Schwerpunktverschiebung zentraler Kategorien statt von ‚Kontrolle‘ und ‚Emanzipation‘ zur psychischen Wirksamkeit des Anderen bzw. den realen Abhängigkeiten. Doch das Unternehmen scheitert auch hier an einem Mangel an Reflexion und Explikation der zugrundeliegenden Begrifflichkeit und deren theoretischer Integration. Was sind ‚Triebimpulse‘, ‚sinnlich-vitale Bezüge‘ und ‚Humanreflexe‘ und in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Welche Rolle spielen sie in der menschlichen Verhaltenssteuerung? Und nicht zuletzt: Was bedeutet eigentlich Reflexion in diesem Zusammenhang? Das größte Problem der Zivilisationstheorie besteht meines Erachtens darin, daß die Konsequenzen der von ihr beschriebenen Prozesse auf die Psychogenese im Sinne der Ausgestaltung der Affektivität, des Selbst und der Beziehung ausgeblendet werden. Sogar bei Engler, der so weit geht, die Frage nach den Reproduktionsbedingungen der natürlichen und sozialen Existenzgrundlagen der Menschen im Zuge von Zivilisationsprozessen zu stellen, wird nicht die Frage erörtert, welche Folgen der von ihm postulierte Verlust der ‚Bedeutungen‘ für die konkrete Interaktion als letztendliche Vermittlungsinstanz von Zivilisationsstandards, für die psychischen Existenzgrundlagen haben kann. Die Zivilisation wird gewissermaßen rein symbolisch (als-ob-affizierend) weitergegeben und ebenso reflektiert. Im nächsten Teil dieses Kapitels wird der Zusammenhang von Affektivität

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und konkreter Interaktion anhand der Arbeiten von Richard Sennett erörtert. Sennetts Theorie der Öffentlichkeit ist eine Theorie der Wandlungen von Art und Grad der gegenseitigen und lebensweltlich bedingten Affizierung der Menschen im Zuge von Zivilisationsprozessen. Dies ist wohl jedoch insbesondere all jenen Zivilisationstheoretikern entgangen, die mit Zivilisationsrichtungsfragen und der Rettung der ‚Zivilisationsthese‘ so sehr beschäftigt sind, daß sie den Gehalt von brauchbaren Theorien ausblenden, sofern diese das Gegenteil behaupten. In der neueren Zivilisationstheorie taucht der Name Sennetts oft auf, eine Auseinandersetzung mit einfachen und grundlegenden Aussagen seines Werkes findet jedoch nicht statt. De Swaans Interpretation der Theorie Sennetts z.B. ist bemerkenswert verflachend, da Aussagen über die Genese bestimmter Verhaltensund Empfindensmuster und entsprechende differenzierte Kriterien zu ihrer Qualifizierung einfach nicht auftauchen. So lautet nach de Swaan eine Behauptung Sennetts, die neueren Gefühls- und Verhaltensstrukturen würden den Anschein erwecken, lockerer geworden zu sein, jedoch unterliegen die Menschen mehr als zuvor der Anpassung und Manipulation.81 Dabei führe, so de Swaan, auch gerade der Gebrauch psychoanalytisch-qualifizierender Begriffe zu einer „absoluten und moralisierenden Disqualifizierung aller Lockerungen des Verhaltens und der Affektäußerung“.82 Überhaupt scheinen Kulturkritiker und -pessimisten sich allesamt an den Lockerungen der Verhaltens- und Empfindensmuster zu stoßen. So sei eine Übereinstimmung der Kulturkritiker ‚von Adorno bis Sennett‘, daß sie als ‚echte Moralisten‘ ihrem Publikum versichern, daß die neumodischen Freuden nicht die wahren seien, es handle sich bei deren Beiträgen um ‚pseudowissenschaftliche Moralpredigten‘. Diese Autoren negierten das, was vorhanden ist – wahrscheinlich sind die neuen Freiheiten gemeint, die aber selten als Befreiung erlebt werden83 – und mißbrauchten Freuds Individualpathologie als Sozialpathologie.84 Die ‚Kulturkritik amerikanischen Stils‘ zusam81 82 83 84

Vgl. de Swaan 1991: S. 181 Ebd.: S. 181 Vgl. ebd.: S. 184. Ebd.: S. 191. Ich möchte an dieser Stelle nicht näher auf die Kritik an der Kulturkritik eingehen, aber kurz die Kulturkritiker selbst antworten lassen: „Wir kritisieren die Massenkultur nicht deshalb, weil sie den Menschen zu viel gibt oder ihr Leben zu sicher macht – das überlassen wir der lutherischen Theologie –, sondern weil sie dazu hilft, daß die Menschen zu wenig und zu Schlechtes bekommen, daß ganze Schichten drinnen und draußen in furchtbarem Elend leben, daß die Menschen sich mit der Ungerechtigkeit abfinden, kurz, weil sie die Welt in einem Zustand festhält, bei dem man einerseits gigantische Katastrophen, andererseits die Verschwörung abgefeimter Eliten zu einem höllischen Friedenszustand zu gewärtigen hat“ (Horkheimer 1985: S. 255). Und zum Mißbrauch der Freudschen Theorie: „Die psychoanalytischen Kategorien brauchen nicht auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ‚bezogen‘ zu werden – sie sind selbst gesellschaftliche und politische Kategorien“ (Marcuse 1970: S. 85).

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menfassend äußert sich de Swaan schließlich (und Wouters schließt sich dem an): „Das, was gesellschaftlich erlaubt ist, dient nur dazu, die Menschen besser auszubeuten und zu beherrschen – eine Fortsetzung von Marx –, und das, was gesellschaftlich erlaubt ist, kann nie das Wesentliche sein, dank der Psychoanalyse.“85

Dem ist zunächst entgegenzuhalten, daß Sennetts zentrale Aussagen über Wandlungen der menschlichen Affektivität nicht mit dem Freudschen Gedankengebäude übereinstimmen, vor allem und gerade sein Narzißmusbegriff ist weit ab von dem Freuds.86 Ein anderes Mißverständnis, wenn man es so nennen will, hat sich daraus ergeben, daß hier Kriterien, die für die Zivilisationstheorie zentral sind, Sennetts Sicht aufgestülpt werden. Sennett selbst geht es eben nicht in erster Linie darum, was gesellschaftlich erlaubt und was verboten ist und welches Maß an Kontrolle vorherrscht. Vielmehr werden eben diese Kategorien, diese Sicht auf die Welt, auf sich selbst und die eigene Natur hinterfragt. Sennett versucht u.a. zu zeigen, wie es kam, daß Selbstkontrolle und Affektunterdrückung zu zentralen Kategorien der Selbst- und Fremdwahrnehmung wurden. Wie kam es, daß die Menschen ihre eigene Natur und den Anderen auf psychischer Ebene als gefährlich zu erleben begannen? Und welche Konsequenzen hatte dies für das Zwischenmenschliche, für die Beziehungsgestaltung? Im folgenden werde ich einige wichtige Aussagen Sennetts über Wandlungen der Affektivität ausarbeiten, um den Zusammenhang von Affektivität und Emanzipation, ‚Aktivität‘ und Zivilisation differenzierter und präziser fassen zu können, als es bisher anhand der vorgestellten Informalisierungstheorie möglich war.

b) Eine alternative Informalisierungstheorie Sennetts Beschäftigung mit Wandlungen der Öffentlichkeit weist gewisse Ähnlichkeiten mit der Eliasschen Zivilisationstheorie auf. Auch hier findet anhand langfristig-orientierter Untersuchungen eine Verknüpfung von sozio- und psychogenetischen Wandlungen statt, auch hier stehen gewissermaßen ‚Affektmodellierungen‘ im Mittelpunkt des Interesses. Im Unterschied zur Eliasschen Zivilisationstheorie aber wird im Falle zunehmender gesellschaftlicher Komplexität die Psychogenese nicht in abstrakttheoretischer Form den verlängerten und verdichteten Interdependenzen überantwortet, Wandlungen der Affektivität, Gewissensbildung, Selbst85 de Swaan, zit.n. Wouters 1995: S. 144 86 Allgemeiner läßt sich auch sagen, daß die sogenannten ‚kulturkritischen‘ Autoren ein weitaus kritischeres und differenzierteres Verhältnis zur Psychoanalyse aufweisen als es bei Zivilisationstheoretikern üblich ist.

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und Fremdwahrnehmung werden in jedem Fall an die Wandlungen unmittelbarer Interaktionen gebunden betrachtet. Wo die neueren Zivilisationstheoretiker mit dem Verweis auf Zunahme kooperativer Zwänge und Abnahme der aus den gesellschaftlichen Niveaudifferenzen entstehenden Spannungen und Zwänge Emanzipierungs- bzw. Humanisierungstendenzen ausmachen können, da ja die Selbstkontrolle in jeder Hinsicht allseitiger, differenzierter und stabiler geworden sei, stellt Sennett nach wie vor die Frage nach Wandlungen der Expressivität und deren Wirksamkeit in der Beziehungsdynamik. In diesem Sinne hat man es auch hier mit einer Zivilisationstheorie zu tun, die eventuell als kompatibel mit bzw. ergänzend zu der klassischen betrachtet werden kann, eventuell aber auch korrigierend in die letztere eingreifen kann. Berühmt und Zielscheibe der Kritik ist Sennetts Narzißmustheorie geworden, die er in Anlehnung an Kohut zur Beschreibung von Entwicklungstendenzen in westlichen Gesellschaften entwickelt hat. Mißverständlich bleibt diese Theorie, solange man nicht das ihr zugrundeliegende Verständnis von Emotionen und ihren Wandlungskriterien berücksichtigt. Mit Narzißmus ist bei Sennett nicht eine ausgeprägte Eigenliebe gemeint, die dann aus einer moralischen Haltung heraus zu verurteilen wäre, sondern eine Dynamik, die sich aus einem bestimmten Verhältnis der Menschen zur Welt ergibt. Dieses Verhältnis ist dadurch bestimmt, daß die Wirklichkeit tendenziell in Bildern des eigenen Selbst aufgenommen wird. Die Wirklichkeit fungiert als Spiegel des Selbst. Dies hat Folgen für das Selbst und für die Beziehung. Dieses klinische Bild, das in den zwei vorangegangenen Kapiteln schon ansatzweise dargestellt wurde, läßt sich nach Sennett auf gesamtgesellschaftliche Vorgänge übertragen und zur Beschreibung langfristiger kultureller Entwicklungen verwenden.87 Diese Tendenz findet man auch in der neueren psychoanalytischen Literatur. Dabei handelt es sich nicht, wie de Swaan unterstellt, um eine Übertragung am Individuum entwickelter Begrifflichkeiten auf gesellschaftliche Phänomene. Daß gesellschaftliche Phänomene anhand des narzißmustheoretischen Modells konzeptualisiert werden können, liegt an der Beschaffenheit narzißtischer Strukturen und Konflikte selbst; sie manifestieren sich in Beziehung bzw. werden dort ausgetragen. Im Ergebnis habe ein solches Verhältnis zur Welt, die ‚narzißtische Realitätsdeutung‘ in den gegenwärtigen Gesellschaften zu einer Verkümmerung der expressiven Fähigkeiten bei Erwachsenen geführt, und zu einer Kultur, die von der Intimität als Maßstab für die Bedeutsamkeit der Realität beherrscht wird: der sogenannten Tyrannei der Intimität.88 Sennetts Werk besteht aus dem Aufspüren alternativer Verhaltens-, Empfindens- und Beziehungsmuster in der Geschichte dieser Gesellschaften und der Erarbeitung von Wandlungskriterien, um die Sozio- und Psychogenese dieser ‚Ära radikaler Subjektivität‘ nachzuzeichnen. Ähnlich wie Elias zur Erklärung der 87 Vgl. Sennett 1986: S. 408f 88 Vgl. ebd.: S. 410

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‚Entzivilisierung‘ im Nationalsozialismus die Sozio- und Psychogenese des Zivilisationsprozesses nachkonstruierte, hat Sennett zur Erklärung der heutigen Verhaltens- und Empfindensmuster – die er ebenfalls als ‚unzivilisiert‘ bezeichnet – den Prozeß der Formalisierung untersucht. Im Unterschied zu Elias gilt Sennetts Aufmerksamkeit vor allem dem Beziehungs-, Empfindens- und Verhaltenswandel in der Stadt. Die Stadt definiert er als „eine Siedlungsform, die die Begegnung einander fremder Menschen wahrscheinlich macht.“89 Dabei stehen die Gestaltung des Umgangs und des Austauschs mit dem Fremden und die Strategien, die hierbei entwikkelt werden, im Mittelpunkt seines Zivilisationsbegriffs. Das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit stellt für Sennett ein entscheidendes Kriterium zum Verständnis von Gesellschaft dar. Für die heutigen Verhältnisse diagnostiziert er ein aus dem Gleichgewicht geratenes Privatleben und ein öffentliches Leben, das leer ist,90 als „Ergebnis eines Wandels, der mit dem Niedergang des Ancien régime und mit der Herausbildung einer neuen, kapitalistischen, säkularen, städtischen Kultur einsetzte“.91 Wie ist nach dieser alternativen Sicht das Verhältnis von Emotion und Zivilisation beschaffen?92

Das Immanenzprinzip Was Sennett bei seinen Untersuchungen feststellt, ist u.a. ein Wandel der Anschauungen der Menschen in bezug auf das weltliche Leben, des säkularen Glaubens und entsprechend ihrer Glaubhaftigkeitscodes.93 Eine entscheidende Wende in der Entwicklung dieser weltlichen Anschauungen macht Sennett vom 18. zum 19. Jahrhundert aus. Dies ist der Übergang von einem auf Transzendenz zu einem auf Immanenz gegründeten Wissen. 89 Ebd.: S. 60f 90 Vgl. ebd.: S. 31 91 Ebd.: S. 31. Mit dieser Umschreibung ist auch die Reichweite seiner Theorie der „intimen Gesellschaft" umrissen. Der Prozeß des Verfalls der Öffentlichkeit bezieht sich auf einen tiefgreifenden „Wandel des Kapitalismus und der religiösen Anschauungen, der nicht auf das Terrain einer Nation beschränkt ist“ (ebd.: S. 18). 92 Bei Sennett läßt sich kein theoretischer Entwurf der Zivilisation wie bei Elias finden, ebenso wenig eine explizite Emotionstheorie. Die folgenden Abschnitte stellen für den Zusammenhang dieses Kapitels relevante Aussagen dar, die aus drei verschiedenen Werken entnommen sind. Es handelt sich dabei um „Verfall und Ende der Öffentlichkeit. Die Tyrannei der Intimität“, „Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds“ und „Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation“. In allen drei Arbeiten geht es um Begegnungen und Begegnungsstätten und deren Gestaltung in der städtischen Kultur. 93 Säkularität ist hier nicht als dem Sakralen entgegengesetzt gemeint. „Säkularität ist, vor unserem Tod, das feste Wissen, warum die Dinge sind, wie sie sind. Aber über den Tod hinaus hat dieses Wissen keine Bedeutung“ (Sennett 1986: S. 197, vgl. a. ebd. S. 38).

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Damit ist gemeint, daß im ersten Fall Dinge und Menschen verstehbar waren, insofern sie einen Platz in der Ordnung der Natur erhielten. Ihre Bedeutung erhielten sie somit, indem sie über sich hinaus auf etwas anderes verwiesen. Im zweiten Fall tritt die Einordnung von Erscheinungen, die aus sich heraus verstehbar sind, an die Stelle einer gegebenen Ordnung. „Diese Naturordnung war weder ein greifbares Ding, noch war sie in den weltlichen Dingen enthalten. Eine Pflanze oder eine Leidenschaft nahm einen Platz in der Ordnung der Natur ein, aber sie war kein Abbild dieser Ordnung im kleinen. Der Ordnung der Natur lag also eine Vorstellung von Säkularität zugrunde, die aufs Transzendentale verwies. […] Der Säkularismus, der im 19. Jahrhundert entstand, war von ganz entgegengesetzter Art. Er gründete nicht auf Transzendenz, sondern auf Immanenz. Die unmittelbare Empfindung, die unmittelbare Tatsache, das unmittelbare Gefühl mußten nicht mehr in eine vorab existente Ordnung eingefügt werden, um verstehbar zu sein. Das Immanente, der Augenblick, das Faktum bildeten an sich und aus sich eine Realität. Tatsachen waren glaubwürdiger als Systeme – oder vielmehr: die logische Anordnung der Tatsachen wurde zum System.“94

Dieser Wandel, der eine Umorientierung der Wahrnehmung von (präreflexiver) Synthese zur Analyse darstellt, zeichne sich nicht nur im wissenschaftlichen Positivismus ab, sondern ebenso in Darwins Evolutionstheorie, in psychologischen Betrachtungsweisen und nicht zuletzt in den Alltagserfahrungen der Menschen.95 Es ist vor allem die Übertragung einer solchen objektivistischen Sicht damaliger Wissenschaft auf die Menschen, wie Kohut sie für Freuds Vorgehensweise diagnostiziert hat, die bis heute weitreichende psychodynamische Konsequenzen hat. Dabei sind einige Aspekte hervorzuheben, die im Zusammenhang mit der Problematisierung der ‚Emotionen‘ und einer entsprechenden Aufmerksamkeitszuwendung auf wissenschaftlicher Ebene und in der Alltagserfahrung stehen. Sie machen zusammengenommen die Dynamik dieser Entwicklungstendenz aus. Die Suche nach immanenter Bedeutung menschlicher Phänomene tritt eine endlose Lawine los, die Deutung und ‚Entschlüsselung‘ von Details zum Erkenntnisprinzip erhebt: „Um 1870 erschien es plausibel, eine ‚Emotion‘ auf ihre eigenständige Bedeutung hin zu untersuchen, indem man alle greifbaren Umstände, unter denen sie in Erscheinung trat, und alle greifbaren Anzeichen, durch die sie sich manifestierte, aufsuchte. Kein Umstand und kein Anzeichen ließen sich a priori als irrelevant ausschließen. In einer Welt, in der das säkulare Wissen auf dem Immanenzprinzip gründet, ist alles wichtig, weil es wichtig sein könnte.“96

94 Sennett 1986: S. 38 95 Vgl. ebd.: S. 197 96 Ebd.: S. 38

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Der Glaube, da sei etwas Emotionales oder ein Unbewußtes, das Auskunft über eine Persönlichkeit erteilen kann, hat hier seine Wurzeln. Der Entschlüsselungsvorgang als Erkenntnisprinzip setzt voraus, daß sich Emotionen von Menschen unwillkürlich offenbaren. Diese Idee, so Sennett, habe sich u.a. deutlich in der Phrenologie, der Entzifferung des Charakters aus der Schädelform, und ähnlicher wissenschaftlicher Methoden manifestiert, die damals aktuell waren. Darwin ging einen Schritt weiter, indem er in seinen vergleichenden Untersuchungen über die ‚Ausdrucksbewegungen‘ bei Mensch und Tier die Vorstellung dahingehend weiterentwickelte, daß nicht nur die allgemeine psychische Verfassung, sondern auch vorübergehende Gefühlszustände sich unwillkürlich und also auch physisch offenbaren.97 Und schließlich habe die psychoanalytische Forschung auf dieser Prämisse aufgebaut, indem sie daraus das Prinzip ableitete, „daß sich der Primärprozeß an Erwachsenen untersuchen lasse, weil er der Kontrolle und dem Willen des Individuums entzogen sei.“98 Neben der Suche nach immanenten Bedeutungen und der Vorstellung unwillkürlicher Charakteroffenbarung ist ein weiterer damit zusammenhängender Aspekt die Angst der Menschen vor dieser unwillkürlichen Charakteroffenbarung und die damit einhergehende Hemmung der Spontaneität im Verhalten und Erleben. Diese Denkrichtung ist jedoch nicht das Werk einzelner Autoren, sondern diese Werke sind typisch für ihr Zeitalter, auch Ausdruck einer spezifischen Empfindensrichtung.99 So ist also auch die Vorstellung, es gäbe etwas am Menschen, daß einen Es-Status besitze, und von dem eine Gefahr ausgehe, keine Freud-spezifische Sichtweise, sondern entspringt einem soziogenen spezifischem Selbsterleben der Menschen. Die Personalisierungs- und Psychologisierungstendenzen gegenwärtiger Gesellschaften implizieren ein Menschenbild, welches erst im Zuge dieser Wandlungen im 19. Jahrhundert in dem Begriff der ‚Persönlichkeit‘ Gestalt annahm. Mit der Entmystifizierung der Götter mystifizierte der Mensch seine eigene Existenz, der Bedeutung immanent war, „aber der Mensch war weder Stein noch Fossil, die unbeweglich sind und sich deshalb als Formen untersuchen lassen.“100 Es bedurfte einer Schlüsselkategorie, um diese dem menschlichen Leben immanente Bedeutung erfassen zu können, und so tritt die Persönlichkeit in das System des Glaubens an die Immanenz ein:

97 Ebd.: S. 42f 98 Ebd.: S. 43 99 Als Beispiel für die Verbreitung solcher Vorstellungen nennt Sennett die Ansichten über die Sexualität um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die Masturbation des Mannes führe zu unwillkürlichem Haarwuchs auf der Innenfläche der masturbierenden Hand, im Falle masturbierender Frauen dagegen zum Ausfall der Schamhaare (vgl. ebd.: S. 224). In der hochviktorianischen Zeit seien die Menschen davon überzeugt gewesen, daß sich ihre Persönlichkeit in Kleidung und Sprache offenbarte (vgl. ebd.: S. 43). 100 Ebd.: S. 198

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„So wie man ‚die Familie‘ als feste biologische Formation in der Geschichte zu betrachten pflegte, kann man sich auch heute noch ‚Persönlichkeit‘ als eine menschliche Konstante vorstellen. Stets hat es bei den Menschen Gefühls-, Wahrnehmungs- und Verhaltensunterschiede gegeben. Aber es kommt darauf an, was die einzelnen aus diesen Unterschieden machen. Als die Götter abtraten, gewann die Unmittelbarkeit von Empfindung und Wahrnehmung an Gewicht; an und für sich real erschienen die Phänomene im unmittelbaren Erleben. Die Menschen ihrerseits neigten dazu, die Unterschiede zwischen den unmittelbaren Eindrücken, die sie beieinander weckten, immer wichtiger zu nehmen, ja, sie als Grundlage ihrer gesellschaftlichen Existenz zu verstehen. Der unmittelbare Eindruck, den ein einzelner, von den anderen unterschiedener Mensch hervorrief, galt als Indikator seiner ‚Persönlichkeit‘.“101

Bei der im Zeitalter der Aufklärung gängigen ‚Idee vom natürlichen Charakter‘ waren diese unmittelbaren Eindrücke konstitutives Element des zwischenmenschlichen Austauschs. Diese Idee unterschied sich nach Sennett von der neuen Persönlichkeitsauffassung des 19. Jahrhunderts in drei wesentlichen Punkten. Der natürliche Charakter wurde erstens als gemeinsamer Besitz der gesamten Menschheit angesehen. Die Persönlichkeit aber variiert von Mensch zu Mensch, weil es keine Differenz zwischen dem äußeren Erscheinungsbild der Gefühle und dem inneren Wesen des Menschen, der sie empfindet, gibt; der Zusammenhang wird zwischen dem Wechsel der äußeren Erscheinung und der Instabilität der Persönlichkeit selbst hergestellt.102 Die unmittelbare soziale Realitäts- und Wertzuschreibung ist gerichtet und verweist auf ein ‚Inneres‘ der Person. So wird zweitens gleichzeitig die ‚Kontrolle‘ der Persönlichkeit im Unterschied zu der des natürlichen Charakters eine Sache des Bewußtseins und nicht des Handelns. Hier entsteht eine neue Vorstellung von möglicher Selbstkontrolle beim Individuum: „Die einzige Form der Kontrolle besteht darin, daß es ständig bestrebt ist, die eigenen Empfindungen zu formulieren.“103 Die Bewußtmachung vermittelt die Illusion von ‚Kontrolle‘. Da das Bewußtsein dem emotionalen Ausdruck stets nachgeordnet ist, kommt das Begreifen nach der jeweiligen Situation. So gehört zu dieser Persönlichkeit auch die Fähigkeit, eigene ‚Emotionen‘ zurückzugewinnen: „Sehnsucht, Bedauern und nostalgische Gefühle nehmen in der Psychologie des 19. Jahrhunderts einen besonderen Platz ein. Fortwährend beschäftigt den Bürger des 19. Jahrhunderts die Erinnerung an die eigene Jugend, die ihm zum eigentlichen Leben wird. Sein Bewußtsein bestimmt sich nicht so sehr aus dem Versuch, das eigene Empfinden gegenüber anderen abzugrenzen, als vielmehr daraus, be-

101 Ebd.: S. 198 102 Vgl. ebd.: S. 198 103 Ebd.: S. 199

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kannte, ein für allemal abgeschlossene Empfindungen zu einer Definition seiner selbst zu erheben.“104

Der dritte Prozeßaspekt dieses Wandels von der Idee des ‚natürlichen Charakters‘ zur ‚Persönlichkeitsauffassung‘ ist die zunehmende Spannung zwischen Konvention und Spontaneität, eine Spannung, die nach Sennett um die Mitte des 18. Jahrhunderts unbekannt war. Zu dieser Zeit war Spontaneität nicht mit unwillkürlicher Charakteroffenbarung assoziiert: „Spontaneität ist eine Form des ungefährdeten unwillkürlichen Gefühlsausdrucks, aus dem weder dem Subjekt noch anderen jeweils ein Schaden erwächst. Dagegen gelangten die Psychologen des 19. Jahrhunderts, ebenso wie ihre Patienten, zu der Ansicht, daß die einfachen Leute, die zu unwillkürlichem Gefühlsausdruck neigten, häufig geisteskrank waren; auch hierin zeigt sich die Angst vor spontanem Empfinden als etwas Abnormem. Das gleiche Prinzip wurde aber auch umgekehrt wirksam. Das Bewußtsein von der eigenen Verschiedenheit hemmte die Spontaneität des Ausdrucks.“105

Und hier stößt man auf eine der wesentlichen Divergenzen, die sich aus einem Vergleich zwischen der Eliasschen und der Sennettschen ‚Zivilisationstheorie‘ ergeben. In der Eliasschen Theorie stellt diese Spontaneität den Modellierungsgegenstand des Zivilisationsprozesses in Form der Affekte dar. Daß eben diese im Zuge gesellschaftlicher Integrationsprozesse nur noch in Enklaven wie der Familie auftreten, und vielleicht auch nicht mehr dort, ist Zeichen der Allseitigkeit, Differenziertheit und Stabilität einer automatisierten Selbstkontrolle. Bei Sennett stellt der spontane Ausdruck dagegen ein Werkzeug zivilisierten Verhaltens und zivilisierter Beziehungen dar. Und während Elias die Menschen in die bürgerliche Massengesellschaft entläßt mit einer gewissen Zuversicht, die staatlichen Institutionen, die zunehmenden Zwänge vor allem der beruflichen Sphäre, kurz, die mittelbaren Abhängigkeiten, würden die entsprechende Prägung vollbringen, verweilt Sennett im Bereich des Unmittelbaren, der Affektivität.

Wandlungen der Expressivität Sennetts Theorie des öffentlichen Ausdrucks, die gleichzeitig eine Theorie des Verfalls des öffentlichen Lebens ist, liegt implizit ein differenzierter und beziehungsorientierter Emotionsbegriff zugrunde, der vor allem der Relevanz der Emotionen zur zwischenmenschlichen Beziehungssteuerung konsequent Rechnung trägt. Dabei geht Sennett von dem einfachen Problem aus, daß sich an Orten, an denen sich Fremde begegnen, das Problem ergibt, wie Menschen miteinander in Kontakt treten und welche Kraft sie 104 Ebd.: S. 199 105 Ebd., Herv.i.O.

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auf diese Begegnungsgestaltung verwenden. In der Stadt als einer Begegnungsstätte von Fremden ergeben sich immer wieder ‚Inszenierungsprobleme‘. Insofern kann die Stadt einiges mit dem Theater, die Straße mit der Bühne gemeinsam haben. Er nennt vier Momente dieser Verbindung: Da ist zunächst das ‚Publikumsproblem‘, die Frage, wie man bei Fremden Glauben weckt; dafür können sich Regeln ausbilden, die die Reaktionen des ‚Publikums‘ auf die ‚Darbietung‘ prägen; es entsteht so eine ‚öffentliche Geographie‘, die zwei für Sennetts Verständnis der Öffentlichkeit wesentliche Kriterien erfüllt: „[…] die Welt außerhalb der unmittelbaren Umgebung und der persönlichen Loyalitäten wird bewußt definiert, und dank dem gemeinsamen Glaubhaftigkeitscode wird es zum Vergnügen, sich inmitten unterschiedlicher sozialer Verhältnisse und Gruppen von Fremden zu bewegen.“106 Öffentliches Handeln ist demnach bestimmt durch einen gewissen Abstand von der handelnden Person und durch die Erfahrung der Vielfalt.107 Und schließlich wird in dem Maße, wie sich diese öffentliche Geographie ausbildet, „sozialer Ausdruck gegenüber anderen Menschen begriffen als Darstellung (presentation) von Gefühlen, die an sich bedeutsam sind, und nicht als Verkörperung (respiration) von Gefühlen, die nur für das Selbst gegenwärtig und wirklich sind.“108 Und eine solche Verbindung zwischen Kunst und öffentlichem Leben sei nach Sennett charakteristisch für das 18. Jahrhundert gewesen.109 Die Unterscheidung zwischen dem sozialen Ausdruck als Darstellung und Verkörperung des Gefühls bezieht sich auf die jeweilige Selbstdistanz und die psychische Präsenz des Anderen. Die Darstellung von Emotion besteht darin, „vor einem anderen eine Gefühls- oder Stimmungslage manifest zu machen, der eine Bedeutung zukommt, sobald ihr eine Gestalt verliehen ist.“110 Diese Form sozialen Ausdrucks sei unpersönlich, sie drückt nicht die Persönlichkeit aus, sondern diese Form der Kommunikation funktioniert, weil die Emotion selbst unabhängig von der Person und der Lage, in der sie empfunden wird, eine Bedeutung hat, sie ist ein gemeinsam Geteiltes, was sie überhaupt zum Kommunikationsmittel macht. Kraft dieses Gefühlsausdrucks, der eine konventionalisierte Form hat, wird soziale Verbindung, wird ‚sympathetische, lebendige Reaktion‘111 hergestellt. Helmut Kuzmics wundert sich in diesem Zusammenhang über jene Kulturkritiker, denen Selbstverwirklichung, Authentizität und die Sehn-

106 107 108 109

Ebd.: S. 60 Vgl. ebd.: S. 119 Ebd.: S. 60, Herv.i.O. „[…] der Schauspieler und der Fremde wurden im 18. Jahrhundert nach den gleichen Kriterien beurteilt, und was man von dem einen im Reich der Kunst lernen konnte, das konnte man auf dem Feld des gesellschaftlichen Lebens auch von dem anderen lernen bzw. auf ihn anwenden“ (ebd.: S. 63). 110 Ebd.: S. 395, Herv.v.mir 111 Vgl. ebd.: S. 47

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sucht nach Abschaffung von Masken und Zwängen als Indikatoren einer kulturellen Entfremdung und nicht als normative Endpunkte ihrer Überwindung gelten.112 Sennett aber reflektiert eben diese Haltung, die Resultat einer ‚merkwürdigen Wende‘ in der kulturellen Entwicklung in neuerer Zeit sein muß: „Es ist an sich ungewöhnlich, daß eine Gesellschaft dem Ritual und der ritualisierten Geste mißtraut; es ist ungewöhnlich, daß sie geformtes Verhalten als inauthentisch beargwöhnt.“113 Aber eben dies wird in der Informalisierungstheorie zum normativen Ziel der Zivilisation erklärt: Verkörperung von Emotion statt ihrer Darstellung, Selbsterkundung statt Erkundung der Welt, Authentizität statt Selbst-Distanz. Der Begriff Authentizität legt nahe, die Erlebens- und die Verhaltenskomponente der Emotionen könnten ineinanderfallen und so das ‚Selbst‘ offenbaren. Was vorher gefürchtet war, wird jetzt zum Ziel. Warum gönnen die Kulturkritiker den Menschen diese Befreiung nicht? Bei Sennett zumindest lautet die Antwort, daß es sich bei dieser Suche nach Selbstverwirklichung und Authentizität nicht um Emanzipation, sondern um eine Verleugnungshaltung gegenüber der Realität handelt. Dieser Ideologie liege die irrige Annahme zugrunde, ‚individuelle Persönlichkeit‘ sei expressiv: „Wenn ich einem anderen von meinen besonderen Empfindungen, so wie sie mir erscheinen, erzähle, wenn ich also Emotionen verkörpere, brauche ich keine Ausdrucksarbeit zu leisten, ich brauche bloß ‚ich zu sein‘. Keine Formung, keine Gestaltung macht die Szene ausdrucksstärker; im Gegenteil, würde sie in ein allgemeines Erlebnismuster gezwängt, so erschiene sie weniger ‚authentisch‘.“114 In diesem Fall wird die Frage einer wirkungsvollen Darstellung mit dem Problem der Authentizität dieser Darstellung zusammengebracht, die Folge ist eine Störung der Kommunikation im Bereich der Affektivität. In diesem Sinne ist das Prinzip der Verkörperung der Emotion nach Sennett ‚asozial‘, weil die lebenslange Formung der menschlichen Natur durch Erfahrungen mit und in der Welt ersetzt werde durch die fortwährende Suche nach dem eigenen Selbst.115 Und hier steht man immer wieder vor dem ‚narzißtischen Problem‘, daß man nicht mehr imstande ist, klar zu bestimmen, was an den eigenen Gefühlen authentisch ist.116 Gleichzeitig kommt es in dem Maße, in dem die Menschen aufhören, selbst etwas darzustellen, zu einer Verherrlichung der Darsteller, zu einem Aufstieg der Experten und entsprechender Medien für Inszenierung der Emotionen.117 Diese Wandlungen der menschlichen Expressivität sind bei 112 Vgl. Kuzmics 1989: S. 146. An anderer Stelle gibt er den ‚Kulturkritikern‘, die die ‚Oberflächlichkeit‘ des modernen Sozialcharakters beklagen, zu bedenken, „wie hart erkämpft diese ist“, denn „alles kann einen verraten“ (Kuzmics 1991: S. 212). 113 Sennett 1986: S. 396, Herv.v.mir 114 Ebd.: S. 144, Herv.i.O. 115 Vgl. ebd.: S. 396 116 Vgl. ebd.: S. 340 117 Vgl. ebd.: S. 394

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Elias eher implizit mit dem Prozeß der Distanzierung und Rationalisierung beschrieben. Allerdings stehen sie bei Sennett in Zusammenhang mit dem Verlust des Vermögens zur Selbstdistanz und zur Beziehungssteuerung im zwischenmenschlichen Bereich.

Die Informalisierungsdynamik als Entfigurationalisierung auf psychischer Ebene „Indem wir gegen die Sexualunterdrückung rebellierten, haben wir auch gegen den Gedanken rebelliert, daß die Sexualität eine soziale Dimension besitzt.“118

Betrachtet man die Annahme von der Existenz ‚tierischer‘ Anteile der menschlichen Natur und das Verständnis von Zivilisation als ‚Domestizierung‘ dieser Anteile als Ausdruck eines habitusspezifischen Menschenbildes, welches dazu tendiert, einem als problematisch empfundenen ‚Inneren‘ einen ‚Es-Status‘ zu verleihen, so müssen die entsprechenden ‚Befreiungsversuche‘ und Emanzipationsbewegungen bzw. die Entfunktionalisierung bestimmter zivilisatorischer Gebote und Verbote im Zuge von ‚Demokratisierungsprozessen‘ in neuem Licht betrachtet werden. Die Zivilisationstheorie, die auf dem oben problematisierten Menschenbild aufbaut, neigt vorschnell dazu, Verringerung von Machtdifferentialen mit Demokratisierung und Zivilisationsprozesse als deren habituelle Dimension mit Humanisierung und Emanzipation zu identifizierten. Sie verkennt den qualitativen Wandel dadurch, daß ihre Aufmerksamkeit durch das vorherrschende Menschenbild auf jene Wandlungen fokussiert ist, die mit eben diesem Menschenbild und im Laufe seiner Genese problematisiert wurden. Anders gesagt, dieses Menschenbild wird nicht überwunden, sondern reproduziert und als Selbstwahrnehmungsform mit der entsprechenden Dynamik verstärkt. In Sennetts Gedankengebäude muß nicht jeder Tabubruch per se als Zivilisationserrungenschaft gefeiert werden. Die Befreiung des Körpers von den viktorianischen Zwängen etwa stellt für ihn zwar ein großes Ereignis in der modernen Kultur dar; weite Teile der Bevölkerung dieser Gesellschaften hätten gegen die mit sexuellem Handeln verbundenen Ängste und Verdrängungen rebelliert, und das sei auch gut so gewesen. Aber diese ‚Befreiung‘ habe auch eine Verengung der körperlichen Sinnlichkeit auf sexuelle Begierde mit sich gebracht:119 „[…] aufgrund der spezifischen Art, in der sich die Ideale der Intimität in der heutigen Vorstellungswelt niedergeschlagen haben, richtete sich diese Rebellion auch gegen den Gedanken, daß die körperliche Liebe ein Handeln ist, auf das

118 Ebd.: S. 21 119 Vgl. ebd.: S. 20 u. ders. 1997: S. 36

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sich Menschen einlassen, für das es, wie für jedes gesellschaftliche Handeln, Regeln, Grenzen und notwendige Fiktionen gibt, die dem Handeln erst eine spezifische Bedeutung verleihen. Statt dessen ist der Sex zur reinen Selbstoffenbarung geworden. Eine neue Sklaverei ist an die Stelle der alten getreten.“120

Erweitert man die unzulässigerweise auf die sogenannten ‚gefährlichen Gefühle‘ reduzierte Sicht der menschlichen Affektivität durch Berücksichtigung ihrer elementaren Relevanz für das ‚Selbst‘ und für die Beziehung, so gelangt man zu einer alternativen Informalisierungstheorie, die nicht die Befreiung des homo clausus, sondern eine dieser Habitusform inhärente Dynamik offen legt, die bei Sennett mit dem Narzißmuskonzept ansatzweise erfaßt ist. Das wir-lose Ich und der Narziß scheinen zunächst gegensätzliche Typen darzustellen. So wird der homo clausus oft als Höhepunkt des Individualismus dargestellt, der seine Grenzen, die Mauer zu anderen Menschen nicht durchbrechen kann, worunter er sehr leidet. Narziß dagegen kennt keine Grenzen, was ihm schließlich zum Verderbnis wird. Diese zwei Konstrukte sind Zuspitzungen ein und derselben Dynamik, verschiedene Aspekte einer Persönlichkeitsstruktur, die durch die Verkennung des ‚Anderen‘ als solchen auf psychischer Ebene charakterisiert ist. Elias sieht die Konsequenzen der von ihm beschriebenen Prozesse der Distanzierung und Privatisierung der Gefühle und körperlicher Funktionen im individuellen Erleben der Abgeschiedenheit und Getrenntheit. Das Gefühl, ein ‚verschlossenes System‘ zu sein, mit allen dazugehörigen Vorstellungen ist symptomatisch für die ‚Stärke, für das relative Gleichmaß und den allumfassenden Charakter der Selbstzwänge‘.121 Sennett akzentuiert und verfolgt aufgrund seiner Auffassung von Affektivität einen anderen Aspekt dieses Zusammenhangs und seiner Dynamik: „Je mehr die Psyche privatisiert wird, d.h. ins Private gedrängt wird, desto weniger wird sie stimuliert, und desto schwieriger ist es für uns, zu fühlen oder Gefühle auszudrücken.“122

Die Genese dieser ‚Privatisierung‘ ist oben beschrieben mit der spezifischen Problematisierung der Emotionen. Da gibt es einerseits die Angst vor den eigenen Gefühlen als die Angst vor Selbstpreisgabe. Auf der anderen Seite aber gibt es die Suche nach Emotionen als unmittelbare Erfahrung, die nach Sennett zur Grenze dessen wird, was der Mensch glauben kann. Mit der Fluchtbewegung, mit dem Rückzug, wird der „bloße Ausdruck einer Emotion, irgendeiner Emotion, […] umso wichtiger, je mehr Anstrengung darauf verwendet werden muß, die Abwehrschranken des anderen so weit zu durchbrechen, daß er sich bereitfindet, zu interagie-

120 Sennett 1986: S. 20 121 Vgl. Elias 1972: S. 22 122 Sennett 1986: S. 16

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ren.“123 Das Bestreben, das Selbstbild nach außen durch Verstärkung der bewußten Selbstkontrolle zu steuern, geht einher mit der Jagd nach Erregung. Diese beiden Tendenzen bedingen und verstärken sich gegenseitig. Diesen Konflikt hatte Elias als Grunderlebnis des wir-losen Ich beschrieben als einen Konflikt „zwischen dem natürlichen menschlichen Bedürfnis nach einer Gefühlsbejahung der eigenen Person durch andere Menschen und anderer Menschen durch einen selbst und der Furcht vor der Erfüllung dieses Bedürfnisses und dem Widerstand gegen sie auf der anderen Seite.“124 Während die Ignorierung und Unterdrückung der inneren Regungen bei den Menschen des 19. Jahrhunderts noch einen Schutz vor dem Blick des Anderen darstellte, einen Schutz gegen die Psychologisierung des öffentlichen Lebens, wird mit der Rebellion gegen diese Unterdrückung der Andere auf seine Funktion vor allem als Subjekt der Affizierung reduziert. Dies ist Ausdruck der Problematisierung der psychischen Existenz, die Resultat der von Elias beschriebenen Zivilisationsprozesse ist. Für Sennett besteht dieses Resultat im großen und ganzen in Passivität – und Schweigen. Das Schweigen, das heute so selbstverständlich gewordenen ist, ist nach Sennett zum Weg geworden, das Leben zu erfahren, ohne sich überwältigt zu fühlen. Im Alltag der Menschen kommt diese Haltung, die gekennzeichnet ist durch Passivität bei gleichzeitiger Suche nach Intensivierung der Empfindungen, u.a. im ‚Warenfetischismus‘ zum Ausdruck. Die Interaktion zwischen den Tauschenden wird minimiert, das Tauschobjekt selbst wird mit persönlicher Bedeutung ausgestattet.125 In der Wissenschaft kommt diese Haltung in der Grundüberzeugung zum Ausdruck, Passivität sei eine notwendige Bedingung von Erkenntnis. Man beharrt auf der Beobachtung der Erscheinungen, ohne in eine Interaktion mit ihnen einzutreten, denn Einmischung bringt Verzerrungsgefahr mit sich.126 Das Beharren auf dem eigenen Bewußtsein und dem eigenen Empfinden stellt eine Abwehr gesellschaftlicher Beziehungen dar. Sennetts Theorie des Verfalls der Öffentlichkeit beschreibt den Verlust figurativen Erlebens, Verhaltens und Denkens. Es ist ein Prozeß, in dem der Andere als solcher zunehmend als störend empfunden wird, insofern er nicht als Spiegel des Selbst dient. Das Verhältnis zum Anderen ist tendenziell durch einen Grenzverlust bestimmt. Dieser Grenzverlust ist ebenso wenig mit unbegrenzter Kommunikation gleichzusetzen wie Informalisierung mit Emanzipation.

123 124 125 126

Ebd.: S. 195 Elias 1988: S. 268 Vgl. Sennett 1986: S. 37 u. S. 190 Vgl. ebd.: S. 274

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Wandlungen in der Gestaltung von ‚Begegnungen‘ und ‚Begegnungsstätten‘ Grenzüberschreitungen und Tabubrüche, die unbefangenere Betrachtung und ein offeneres Sprechen über körperliche Erfahrungen entsprechen für Sennett lediglich einer scheinbaren Privilegierung der Körperempfindung und Freiheit des körperlichen Lebens in den modernen Zeiten.127 Diese geht einher mit einer Verarmung der Sinne, einer Neutralisierung der Lebenswelt in bezug auf die reale Zeugenschaft. Diese Neutralisierung, die eigentlich der Kontrolle dienen sollte, bedingt eine psychomorphe Wahrnehmungswelt, in der die Bedeutungssuche zu einem existenziellen, aber auch endlosen Akt wird. Der Gleichsetzung dieser Neutralisierung mit Befreiung liegt ein bestimmtes Freiheitsverständnis zugrunde, es handelt sich um eine Freiheit, „die jeden Widerstand überwinden, Hindernisse beseitigen und einen unbelasteten Neuanfang durchsetzen will.“128 Dies ist das gegenwärtig vorherrschende Freiheitsverständnis. Der Trend in der Technologie im Bereich der Bewegungsmittel, der Medien und Kommunikationsmittel sowie die Architektonik der Städte in entwickelteren Gesellschaften zeugen von dem gutgemeinten Bestreben, Widerstandsfreiheit zu schaffen. Die andere Seite dieser Freiheit ist das technologisch und architektonisch befestigte Schweigen. Das Paradoxon von Isolation und Sichtbarkeit, zunehmendes Wissen und Sehen einerseits, abnehmende Interaktion andererseits, ist für Sennett das Strukturierungsprinzip gegenwärtiger Begegnungen und ihrer Stätten, wie des Raumes in der Stadt oder der Medien: „Sowohl der Straßeningenieur als auch der Fernsehprogrammdirektor erzeugen, was man ‚Widerstandsfreiheit‘ nennen könnte. Der Ingenieur entwirft Wege, sich ohne Hindernis, Anstrengung oder Anteilnahme zu bewegen; der Programmdirektor sucht Wege, die es den Menschen ermöglichen, sich alles mögliche anzusehen, ohne sich dabei unwohl zu fühlen.“129

Soziale, örtliche und persönliche Widerstände werden in diesem Erfahrungsmodus als lästig und unberechtigt abgelehnt. Für Sennett bedeutet diese Freiheit eine Ruhigstellung des Körpers, die gleichsam eine Schwächung des Realitätssinns bedeutet. Mit dem entsprechenden Freiheitsbegriff erscheinen ‚Bequemlichkeit‘, ‚Komfort‘ und ‚Verbraucherfreundlichkeit‘ auch in menschlichen Beziehungen als Garantien individueller Handlungsfreiheit.130 Das Streben nach Bequemlichkeit und der weitgehenden Unterdrückung von lästigen Reizen stehen für Sennett in enger Verbindung zu unserer Art, mit den störenden Empfindungen umzugehen, 127 128 129 130

Vgl. Sennett 1997: S. 23ff Ebd.: S. 383 Ebd.: S. 25 Vgl. ebd.: S. 384

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die in zwischenmenschlichen Beziehungen auftauchen,131 sie entspringen derselben psychologischen Haltung. Der Komfort etwa beim Reisen oder Ausruhen, der einst für den von der Arbeit erschöpften Körper gedacht war, entwickelte sich in Richtung individuellen Komforts, welcher über die ursprünglich gedachte Funktion hinaus dazu dient, die Empfänglichkeit für äußere Reize herabzusetzen und sich von anderen zurückzuziehen.132 Im Sozialen wird dieser Komfort ergänzt durch ‚Wahrnehmungsmauern um das Ich‘, die Taktik der Klassifizierung zwecks Affizierungsvermeidung, von Goffman auch ‚defensive Reizunterdrückung‘ genannt: Mit der Klassifizierung aufgrund der vorhandenen Kategorien wird die weitere Wahrnehmung abgebrochen, die Komplexität und Vielfalt der zwischenmenschlichen Erfahrung wird vermindert.133 Die Hinwendung zu Simulationen zwecks Affizierung trägt dabei nicht weniger zur Schwächung des Realitätssinns bei: „Der starke Konsum simulierten Schmerzes betäubt ebenso wie simulierter Sex das körperliche Wahrnehmungsvermögen.“134 Daß die Zivilisationstheoretiker bei der Rede von Desensibilisierung gleich das Aufwallen von Körperenergie assoziieren, liegt an ihrem Emotionsbegriff. Sie kennen nur ‚gefährliche Gefühle‘, nicht aber die Realisierungsfunktion der Affekte. Dieser Widerstandsfreiheit setzt Sennett einen alternativen Begriff von Freiheit entgegen, eine Freiheit, die den Körper erregt, die kein Betäubungsmittel ist, insofern sie Unreinheit, Schwierigkeit und Widerstand als notwendige Teile ihrer Erfahrung akzeptiert:135 „Widerstand ist […] eine grundlegende und notwendige Erfahrung für den menschlichen Körper: durch das Empfinden von Widerstand wird der Körper angeregt, von der Welt, in der er lebt, Notiz zu nehmen.“136

Die Entwicklung des ‚modernen Individualismus‘ verfolgt jedoch das gegenteilige Ziel, die Menschen ‚selbstgenügsam‘, ‚ganz‘ zu machen. Sowohl die Psychologie als auch soziale Bewegungen bedienen sich einer Sprache, in deren Rahmen die Menschen ihr Zentrum finden, Integration und Ganzheit erreichen sollen.137 Interessant in diesem Zusammenhang ist Sennetts Lesart von Freud. Dieser habe, so Sennett, in seiner Schrift „Jenseits des Lustprinzips“ der körperlichen Lust an Ganzheit und Gleichgewicht eine stärker realitätsbezogene Körpererfahrung gegenübergestellt, die diese Lust transzendiert. Die Lust in Freuds Verständnis bedarf der stimulierenden Störung der Sinne nicht, „Lust sucht vielmehr in einen Zu131 132 133 134 135 136 137

Vgl. ebd.: S. 450 Vgl. ebd.: S. 416 Vgl. ebd.: S. 450f Ebd.: S. 23 Vgl. ebd.: S. 383 Ebd.: S. 384 Vgl. ebd.: S. 458

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stand zurückzukehren, den Freud sich letztlich vorstellt als die Geborgenheit eines Fötus im Mutterleib, geschützt und von der Welt nichts wissend. Im Banne des Lustprinzips wollen Menschen sich von ihrer Umgebung lösen.“138 Dem wird das Realitätsprinzip entgegengesetzt, die Bindung und Kontrolle von Energieabfuhr, die durch eine Auseinandersetzung mit der gegebenen Realität ermöglicht wird. Freud habe darauf hingewiesen, daß der Drang nach Geborgenheit für die Menschen ein gefährlicher Impuls ist, da die Schwierigkeiten in der Realität mit der Abkehr von ihr nicht verschwinden. Freud wird hier als ‚Realist‘ herangezogen, der darum weiß, daß das Realitätsprinzip keine starke Macht ist, der weiß, daß der Wunsch nach Geborgenheit im Sinne der Abkehr von der Realität ein ‚tiefes biologisches Bedürfnis‘ ist. Sennett verfällt in das triebtheoretische Denkmuster und gerät in Widerspruch zu seiner Gesamttheorie, wo er versucht, die Anstrengung hervorzuheben, die zur Herstellung sozialen Austausches notwendig ist. Die Frage ist, ob diese Anstrengung ihren Widersacher tatsächlich in einem ‚tiefen biologischen Bedürfnis‘ hat. Der von Freud konzipierte ‚Reizschutz‘ auf den sich Sennett an dieser Stelle bezieht, soll diesem Bedürfnis entgegenkommen. Der Reizschutz ist bei Freud eine angeborene Funktion und ein ihr zugrundeliegender Apparat: „Die Funktion besteht darin, den Organismus gegen die Reize zu schützen, die aus der Außenwelt kommen und die ihn durch ihre Intensität zu zerstören drohen. Der Apparat wird als eine künstliche ‚Membran‘ verstanden, die den Organismus einhüllt und passiv die Reize filtert.“139

Wie aus den letzten Kapiteln bereits hervorgeht, ist diese Vorstellung eines passiven, mauerähnlichen Schildes nicht mehr haltbar: „Viele Kleinkindforscher weisen darauf hin, daß neuronale Gruppen bereits vor dem Beginn der Myelinisierung aktiv werden, so daß schon das Baby sehr gute Differenzierungsmöglichkeiten der Reize hat. Das Neugeborene ist rezeptiv aktiv und versucht, sein Ausgesetztsein nach Möglichkeit zu optimieren. Der junge Organismus ist nicht so sehr programmiert, Reizwirkungen auszuschalten, so also Abwehrmechanismen zu entwickeln, sondern er prüft gewissermaßen im Interaktionsgeschehen, ob die Verbindung zum versorgenden Objekt noch besteht oder nicht.“140 138 Sennett 1997: S. 459 139 Laplanche/Pontalis 1994: S. 439f 140 Hellmann-Brosé 2000: S. 609f. Freuds Konzept des Reizschutzes leidet aus heutiger Sicht unter einer biologisch-psychologischen Mehrdeutigkeit. Wovon man heute ausgehen kann, ist ein „angeborener, selektiver, heranreifender Abschirmmechanismus, der Stimuli bestimmter Arten und intensitätsgrade unter bestimmten Bedingungen zuläßt, andere jedoch auf der Basis quantitativer oder aber qualitativer Gesichtspunkte ausschließt“ (Esman 1991: S. 153). So muß bei der Rede von einem Reizschutz zwischen physischen und psychischen Reizen differenziert werden, aber auch zwi-

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Wenn das ‚Ausgesetztsein‘ eher mit der Vorstellung möglicher Verletzung als mit der möglicher Anregung verbunden wird, dann ist dies selbst fragwürdig, worauf Sennett selbst auch hingewiesen hat.141 Und schließlich handelt sein Werk eben von der Genese dieses Fragwürdigen, der Angst vor der Selbstpreisgabe, der Errichtung der Mauer zwischen Innerlichkeit und Außenwelt und von den ‚historischen Wurzeln‘ der Vorstellung eines Monadenregulationssystems, ausgestattet mit einem Reizschutz, der dem Überleben einerseits dient, andererseits aber vom Realitätsprinzip besiegt werden muß. Die Frage lautet schließlich, wann der Reiz als bedrohlich und überwältigend erlebt wird, denn das ‚Realitätsprinzip‘ liegt nicht per se jenseits des ‚Lustprinzips‘. Wie im ersten Kapitel bereits ausgeführt wurde, birgt das Prinzip der Spontaneität weit mehr als nur Gefahren in sich. Wenn der Bereich der Affektivität, als Niederschlag der Veränderungen des Verhältnisses zur Welt und als Veränderer dieses Verhältnisses, in dieser Form problematisiert wird, so ist dies schon Ausdruck einer spezifischen Ausgestaltung der Affektivität. In diesem Sinne lag Sennett bei der Erklärung von Phänomenen wie Realitätsabkehr, Abwehr von Beziehung, Leere, Depression und Selbstzweifel – kurz: des Eliasschen homo clausus – mit dem Narzißmuskonzept schon ganz richtig. Dieses Konzept bedarf der Ergänzung durch die Annahme der Existenz eines angeborenen Reizschutzes nicht, es erklärt diese. Die narzißtische Variante der Ausgestaltung der Affektivität – als jeweiliges Verhältnis der Affektmodule zueinander und insgesamt zur Welt – wird von Krause aus psychoanalytischer Sicht wie folgt beschrieben: „Die narzißtische Option ist unabhängig von ihrem weiteren Verlauf von dem generalisierten Ausdruckshemmungssyndrom begleitet, weil der elementare Lernprozeß dieser Option darin besteht, daß es sinnlos ist, sich und die Welt affektiv zu beeinflussen. Die Affekte als Interruptsysteme zur Beendigung maligner Prozesse verlieren ihre Funktion. Das Happinesssystem und das Erleben von Freude als Selbst- und Fremdbelohnungssystem verlieren ihre Funktion, eben dies zu tun. Damit ist, gleichgültig was später an kreativen Lösungen kommen mag, einer inneren Leere und Freudlosigkeit die Grundlage gelegt. Leere und Freudlosigkeit sind aber keine Krankheitseinheit, sondern eine mehr oder weniger intensive Färbung des Lebens. Die schwere Reduktion des affektiven Ausdrucks ist kein Korrelat fehlenden Erlebens, sondern stellt eine unbewußte Vorsichtsmaßnahme dar, die von der Voraussetzung ausgeht, daß ein geteilter, symbolischer innerer Raum von Objekten, an die Affekte ‚angeheftet‘ werden können und über die man ohne Gefährdung der Beziehung kommunizieren kann, beim Partner unabhängig von seiner affektiven Befindlichkeit nicht existiert. Alle Probleme und Konflikte werden direkt auf der Beziehungsebene verhandelt, schen Reizmenge bzw. -intensität und der Qualität des Reizes. Beispiele für Reaktionsmuster bei Über-/Unterstimulierungen bei Säuglingen finden sich bei Stern 2000: 273-284. 141 Vgl. Sennett 1991: 12f

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was bedeutet, daß die innere affektive Welt als Puffersystem zur Beziehungsregulierung entfällt. Das Übermaß an Ausgeliefertsein an die Affekte des anderen, die Verweigerung einer eigenen inneren symbolischen Welt, die Unmöglichkeit, sich affektiv zu entäußern, mündet innerlich in die so oft beschriebenen Leerezustände mit Todes- und Versteinerungsphantasien, die sekundär als außerordentlich unangenehm und freudlos und als ein relativ elementares Wissen über die Unmöglichkeit von Begegnungen erlebt werden.“142

Resümee und Ausblick Im einem Vergleich von Wouters und Sennett läßt sich eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung bei der Betrachtung von ‚Informalisierungsprozessen‘ feststellen: die Fokussierung der Verringerung der Machtdifferentiale als funktionaler Aspekt von Demokratisierungsprozessen einerseits und ihrer affektiven Dimension als habitueller Aspekt von Demokratisierungsprozessen andererseits. Bei Elias selbst stellt sich der Informalisierungsprozeß etwas problematischer dar als in der neueren Zivilisationstheorie. Er sieht die nach Emanzipation strebenden Menschen in einer Dynamik verwickelt, die nicht unbedingt zu Emanzipation führt. Die Tendenz dieser Menschen, individuelle Selbsterfüllung und Selbstverwirklichung in egalitären Gruppen zu suchen, münde oft in neue Abhängigkeiten und Hierarchisierungen. Und da jedes Zusammenleben den Zusammenlebenden Zwänge auferlegt, ziehe das Streben nach einem zwangfreien Leben zwangsläufig Enttäuschungen nach sich.143 Dennoch ist die bei Wouters vorhandene Mißbildung des Emanzipationsbegriffs bei Elias schon angelegt. Elias versteht unter Informalisierung die ‚Emanzipation vom Fremdzwang eines vorgeschriebenen gesellschaftlichen Rituals‘, womit Ansprüche an die Selbstzwangapparatur der Beteiligten wachsen, es handelt sich dabei um einen Individualisierungszwang. Formalisiertes Verhalten wird gleichgesetzt mit ritualisiertem Verhalten und reduziert auf seine Funktion als Stütze in Form eines Fremdzwangs, an den sich auch ein mit einer relativ schwachen Selbstzwangapparatur ausgestatteter Mensch halten kann.144 Entsprechend ist das formalisierte Verhalten lediglich Ausdruck der Machtverhältnisse, der Formalisierungsgrad entspricht den Machtdifferentialen, und in dem Maße, in dem sich die Machtdifferentiale verringern, wird formalisiertes Verhalten entfunktionalisiert. Was Sennett unter for142 Krause 2000: S. 36. Diese ‚Störung‘ der Affektivität ist Teil einer Beziehungs- und Psychodynamik, die ich im weiteren Verlauf der Arbeit vertiefen werde. 143 Vgl. Elias 1990b: S. 58 Weiter verweist Elias auf die mit ‚radikalen Informalisierungsprozessen‘ – etwa im Zuge von Kolonisierung und Missionierung einfacherer Völker durch die Europäer – einhergehenden Sinnverlust durch die Entwertung älterer Lebensformen und der Entstehung von ‚Gruppendepression‘ als Reaktion auf diese Entwertung (vgl. ebd.: S. 101ff). 144 Vgl. ebd.: S. 52f

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malisiertem Verhalten versteht, entspricht eher jenem Verhaltens- und Empfindensmuster, das Pierre Bourdieu in seinem Ehrkonzept beschrieben hat. Diese Formalität entspricht keineswegs dem stereotypen Ablauf eines Rituals, ist vielmehr gekennzeichnet durch Erfindungsreichtum und Flexibilität; es bedarf einer ständigen Selbstkontrolle, die in der ‚Negierung des inneren Ich‘ und Selbstverleugnung zwecks Aufrechterhaltung des gesellschaftliches Austausches besteht.145 Die Formgebung entspricht nicht nur der Realitätsbezeugung des Anderen hinsichtlich seiner Machtposition, sondern des Anderen als solchen. Die Abhängigkeit wird nicht verleugnet, sondert formt das Verhalten. Für Sennett besteht zivilisiertes Verhalten nicht in Selbststeuerung im luftleeren Raum, vielmehr geht es beim zivilisierten Bewußtsein und Gewissen um das Bewußtsein von der Gegenwart Anderer, gepaart mit der Bereitschaft, Anteil an ihnen zu nehmen. Die ‚Form‘ dient dazu, der Außenwelt einen spezifischen Eigenwert zu verleihen, sie befreit von ‚obsessiver Innerlichkeit‘.146 Entsprechend diesen zwei Form-Begriffen lassen sich auch zwei unterschiedliche Emotionsbegriffe ausmachen. In seinem Aufsatz ‚Über Menschen und ihre Emotionen‘ hebt Elias hervor, daß Emotionen und die damit zusammenhängenden Bewegungen eine Funktion innerhalb der Beziehungen einer Person zu anderen Personen haben, sie sind ein Anhaltspunkt für die existenzielle Gerichtetheit der Menschen aufeinander.147 Die routinemäßig gebrauchte Redeweise vom ‚Emotionsausdruck‘ sei deshalb problematisch: „Mit dem Terminus ‚Gefühlsausdruck‘ klammert man die Beziehung aus, die entweder eine Emotion oder ihr Ausdruck zu einer spezifischen Situation hätte, und schneidet weitere Fragen über die Funktion der Emotion oder ihres Ausdrucks ab. Ebensowenig Aufmerksamkeit schenkt man in der Regel der Frage, welche Funktion es für einen Organismus hat, seinen Gefühlen Ausdruck zu geben. In diesem engeren Sinne verwendet, ist der Terminus ‚Emotion‘ repräsentativ für ein menschliches Selbstbild, demzufolge das wahre Selbst einer Person tief im Innern verborgen ist; man kann nur nicht ganz sicher sagen, im Innern wovon.“148

Dieser Begriff der Emotion repräsentiere ein beliebtes, aber gänzlich inadäquates Bild des Menschen. Das Gleiche trifft aber meines Erachtens nicht weniger auf die Vorstellung der Möglichkeit eines ‚Auslebens‘ der Emotionen zu, wie sie in der bei seinen Nachfolgern beliebten und richtungs145 146 147 148

Vgl. Bourdieu 1976: S. 27 u. 31 Vgl. Sennett 1991: S. 110f Vgl. Elias 1990c: S. 356f Ebd.: S. 352. Ähnlich äußert sich Elias in einem Zeitungsinterview über die Selbsterkundung als Therapieform: „Menschen leiden daran, daß sie keine echten Gefühle mehr auszudrücken vermögen. Und dann geht man auf die Suche nach dem zurückgehaltenen Selbst. Aber man wird es nie finden“ (Geuter 1987: S. 12f).

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weisenden Formulierung Elias’ von einem „controlled decontrolling of emotional controls“ bereits anklingt. Nach Wouters habe Elias diese Formel zunächst ungefähr in der Bedeutung von ‚Ventilsitten‘ gebraucht und um die Funktion des Sports für Zuschauer zu beschreiben. Später habe er auf Anfrage Wouters hin grünes Licht erteilt zu einer ‚drastischen Vergrößerung‘ der Reichweite dieses Konzepts.149 Es handelt sich dabei um ein Kuckucksei aus dem Eliasschen Erbe im Nest der Zivilisationstheorie, eine entsoziologisierte und psychoanalytisch wie emotionstheoretisch fragwürdige und erklärungsbedürftige Formel, die mittlerweile zu einer Art Zauberformel der Zivilisationstheorie geworden ist. Solange man aber dazu tendiert, menschliche Beziehungen nur in quantitativ orientierten Begriffen von Zwang und Kontrolle zu denken, kann man den Informalisierungsprozeß auch nicht anders erfassen als ein quantitatives Ausbrechen, Unterdrücken oder Ausleben von Emotionen, die wie bedeutungslose, bestenfalls gefährliche Energien und Impulse in der Informalisierungstheorie erscheinen. Es geht dann immer um das Wieviel von Macht, Zwang und 149 Vgl. Wouters 1999: S. 64. Einen Auszug aus seiner Antwort auf Wouters’ Nachfrage, wie er den Ausdruck gemeint habe, und was er zu einem theoretischen Ausbau meine, gibt dieser wieder: „If I remember rightly I first used this expression in my studies of sport events. A football crowd can in fact loosen some emotional controls. The situation is, as it were instituted in such a way that people – the spectators and to some extent also the players themselves are emotionally aroused. The spectators can shout and sing and also in other ways behave with less emotional control than is socially possible outside this particular setting; and this pleasurable loosening of affect controls is one of the attractions as well as one of the social functions of this and other spectator sports. But it is a controlled decontrolling of emotional controls. Of course sometimes spectators as well as players go too far in decontrolling. They do not control the decontrolling of their impulses sufficiently. … Controlled decontrolling of emotions (or emotional controls) refers in this case to something clearly observable. As a theoretical concept it is perfectly testable […] The same can be said with regard to the use of this term in relation to certain aspects of the present stage of the civilizing process” (Elias, zit.n. Wouters, ebd.: S. 64f). Gertrud Pfister hat das sporttheoretische Gedankenmodell Elias’ aus einem anderen Blickwinkel als ‚geschlechterblind‘ charakterisiert. Die zentrale Rolle, die Elias dem Ausagieren bzw. der Disziplinierung der körperlichen Gewalt zuweise, samt der dem Denkmodell zugrundeliegenden Annahme des Strebens nach Spannung und Katharsis als anthropologische Konstante, fokussiere seine ‚Sporttheorie‘ auf Männer: „Seine Erklärungsmuster lassen sich auf die Körper- und Bewegungskultur von Frauen nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres anwenden, da die Geschichte der Frauen weder von triebhafter Angriffs- und Kampflust noch von ungehemmten Ausagieren von Gewalt und daher auch nicht von darauf folgenden Sublimierungs- und Disziplinierungstendenzen geprägt war” (Pfister 1997: S. 209). Sie selbst hat in ihren Überlegungen zum Sport im Zivilisationsprozeß die Bedeutungshaftigkeit von Körper und körperlicher Aktivität und Wandlungen ihrer Erfahrungsdimension in den Mittelpunkt gestellt. Nebenbei bemerkt kommt sie u.a. zu dem Ergebnis, daß die Rationalisierung des Sports das Gewaltniveau von Frauen in diesem Bereich gesteigert habe (vgl. ebd.: S. 244).

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Emotion, und nicht um das Was, Wie und Wozu. Der hier zugrundeliegende Emotionsbegriff ist Ausdruck einer spezifischen Entfigurationalisierung. Man könnte – die klassische Informalisierungsthese abwandelnd – meinen, bei der Informalisierung handle es sich nicht nur um die Entfunktionalisierung bestimmter Verhaltensmuster, sondern gleich um eine seltsame Ent- bzw. Umfunktionalisierung des Anderen auf psychischer Ebene. Dieser Wandel psychischer Repräsentanzen hängt mit einer spezifischen Wandlung der Auffassungen von Macht und der basalen Art der Erfahrung von Macht zusammen, die in der Informalisierungstheorie ungebrochen durchschimmert. Die Reduktion von Beziehung auf Macht und das Verständnis von Macht als etwas Quantitativem ist bestimmend für die gegenwärtige zivilisationstheoretische Sicht der Dinge. Frei nach dem Motto, wenn man nur einen Hammer als Werkzeug besitzt, sieht die ganze Welt wie ein Nagel aus, werden hier sämtliche gesellschaftlichen Phänomene unter Zuhilfenahme der Kategorien des ‚Erlaubten‘ und ‚Verbotenen‘ einerseits und ‚Selbstkontrolle‘ andererseits beschrieben. So versteht Abram de Swaan z.B. die Agoraphobie als eine ‚Verweigerung der Verhandlungsökonomie‘. Es gebe auch noch eine ganze Reihe von anderen Verhaltensschwierigkeiten, „bei denen Menschen aus unerklärlicher Angst oder auch aus Lustlosigkeit auf das verzichten, was früher verboten war und jetzt erlaubt ist.“150 Da wird dann aufgezählt eine Kombination aus „orgastischen Störungen, Lustlosigkeit, Depressivität, ein Unvermögen, sich an jemanden zu binden und damit Untreue und Verlust zu riskieren, und das unbestimmte, aber bittere Gefühl, daß eigentlich nichts der Mühe wert ist […]“.151 Dies alles seien gängige Erscheinungen, die immer wieder in der Beschreibung moderner Störungen auftauchen. Aber diese ‚Angst- und Unlustgefühle‘, die allesamt eine Abkehr von Beziehung beschreiben, betreffen scheinbar nicht die Psychogenese, sie sind weder ein Grund zur Beunruhigung, noch haben sie irgendwelche Konsequenzen für den Zivilisationsprozeß. So argumentiert de Swaan weiter: „Es dürfte deutlich geworden sein, daß diese Unlust- und Angstgefühle nur in einer Gesellschaft sichtbar werden können, in der durchaus erlaubt ist, was solche Menschen dann doch unterlassen oder entbehren. Es dürfte auch nachgewiesen sein, daß die neuen Verhaltensmöglichkeiten ein großes Maß an gegenseitiger Abstimmung erfordern, an Verhandlungsbereitschaft und an Beherrschung der eigenen Neigungen, an Selbstkontrolle und gegenseitiger Kontrolle. Aber gerade dieser Verhandlungszwang bleibt unausgesprochen, und es scheint so, als ob jeder machen könne, was er wolle. Diese unausgesprochenen Anforderungen des Verhandlungsprinzips fallen manchen Menschen schwer und nehmen ihnen die Lust zu allerlei Unternehmungen, die ihnen nunmehr erlaubt sind.“152 150 de Swaan 1991: S. 185 151 Ebd. 152 Ebd.: S. 186

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Wouters treibt diese neue Zivilisationspsychologie auf die Spitze, wo er die sogenannte ‚Risikosucht‘ zu erklären sucht, die in vielen gesellschaftlichen Phänomenen und Tendenzen zum Ausdruck komme. Dabei geht es um die Suche nach Erregung durch das Aufsuchen von Grenzen und das ‚Erschnuppern von Gefahren‘, die hinter der Grenze liegen, was zu einem beliebten Sport geworden sei. Die Entstehung einer ‚lebhaften und ausgebreiteten Pornographie‘ sowohl die sexuellen als auch die gewalttätigen ‚Impulse‘ betreffend, aber auch andere ‚provokative‘ und ‚experimentelle‘ Einstellungen – u.a. zu Drogen – fallen darunter. Bei der Zunahme dieser Risikosucht handele es unter anderem um einen ‚Wetteifer um Selbstkontrolle‘, um die Tendenz, die eigene Selbstregulierung und die der anderen zu provozieren, kennzeichnend für die ‚dritte Natur‘, die vorgegebene Grenzen nicht akzeptiert.153 Das Überstrapazieren des Selbstkontrollkonzepts ist meiner Einschätzung nach Indiz dafür, daß nicht mehr die Zivilisationstheorie die beobachtbaren Wandlungen zu erklären vermag, sondern die beobachtbaren Wandlungen dazu dienen, die Zivilisationstheorie zu konservieren. Im Grunde sehen die Zivilisationstheoretiker in allem einen Anstieg der Selbstkontrollen oder der Anforderungen an diese. Ganz in diesem Sinne geht es nach Wouters die Emotionen betreffend um deren Artikulation und Regulierung, ihnen wird keine ‚regulierende‘ Funktion zuerkannt.154 Versteht man aber Emotionen als Reaktionsmuster auf für ein Selbst bedeutungsvolle aktuelle, erinnerte, antizipierte oder phantasierte Ereignisse im Sinne einer Realitätszuweisung, als ein Geschehen zwischen der Person und der Welt, welches sowohl durch eine spezifische Beziehung des Emovierten zu sich und zu anderen bedingt ist als auch diese bedingt und gestaltet,155 so geht es doch in erster Linie um die Verfügbarkeit dieser Reaktionsmuster im Sinne der Verfügbarkeit eines spezifischen Wissens von sich und der Welt und um dessen verhaltenssteuernde Relevanz. Die verhaltenssteuernde Relevanz der menschlichen Affektivität und die entsprechenden Mechanismen und Dynamiken stellen ein stark vernachlässigtes Feld in der Soziologie dar. Damit wird eine grundlegende Dimension menschlichen Seins ausgeblendet bzw. – wie im Falle der Informalisierungstheorie – ideologisch bewältigt. Im ersten Kapitel dieser Arbeit wurden bereits Ansätze zu einer affekttheoretischen Anthropologie vorgestellt. Im nächsten Kapitel soll diese Sicht erweitert werden zu einer ‚psychoanalytischen Anthropologie‘ durch die Vertiefung des Verhältnisses von ‚Affektivität‘, ‚Subjektivität‘ und ‚Realität des Gegenübers‘. Es geht dabei einerseits um ein vertiefendes Verständnis der Beschaffenheit des Menschen in seiner existenziellen Gerichtetheit auf andere Menschen unter Berücksichtigung seiner psychischen Struktur. Andererseits und damit zusam153 Vgl. Wouters 1999: S. 139 154 Vgl. ebd.: S. 153 155 Vgl. u.a. Frijda 1996

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menhängend geht es um eine Konzeptualisierung der Grenzproblematik, die in diesem Kapitel einmal in der Informalisierungstheorie als ‚Tabubruch‘, und dann als ‚Widerstandsfreiheit‘ bei Sennett zentrales Thema war. Die Integration dieser unterschiedlichen Aspekte liegt bereits in der psychoanalytischen Alteritätstheorie von Günther H. Seidler vor, die ich im nächsten Kapitel vorstellen möchte. In dem darauffolgenden Kapitel geht es dann um eine spezifische Ausgestaltung der Affektivität, die bereits bei Sennett als ‚Narzißmus‘ thematisiert wurde, im Zusammenhang mit dem ‚Gestaltwandel des Anderen‘ im Zuge von Individualisierungsprozessen und dem entsprechenden Wandel in der Erfahrung von ‚Macht‘.

Kapitel VI: Von der ‚Affektunterdrückung‘ zur Ausgestaltung der Affektivität in Interdependenz mit dem Gegenüber

„Zwar gibt es eine äußere Wirklichkeit, doch das, was wir von ihr wissen, erfahren wir […] durch den Körper in Bewegung, durch Repräsentationen seiner Störungen.“1 „Unser Leben ist, endlich das Unendliche zu erfassen.“2

Eine Auseinandersetzung mit ‚objektivierenden‘ Sichtweisen in den Menschenwissenschaften betrifft nicht lediglich den Bereich der angemessenen Methodik, sondern führt damit auch darüber hinaus in die Thematik der menschlichen Beschaffenheit und der zeit- und gesellschaftsspezifischen Ausgestaltung dieser Beschaffenheit. Allen beabsichtigten Interaktionen von Menschen liegen ihre unbeabsichtigten Interdependenzen zugrunde, wie Elias hervorgehoben hat. Und das Wissen-über-Menschen-Schaffen hat immer auch eine interaktive Dimension, der die Figuration, in die der Wissenschaffende eingebettet ist, und seine eigene Valenzfiguration zugrunde liegen.3 In diesem Erkenntnisprozeß begegnen Subjekt der Er1 2 3

Damasio 1997: S. 312 Heller 1980: S. 80 Vgl. zu Objektivierungs- und Monadisierungstendenzen in den Menschenwissenschaften u.a. Elias 1972: S. 39f, ders. 1986b: S. 9ff. Elias assoziiert mit dem Begriff ‚Interaktion’ soziologische Aktionstheorien à la Parsons und betrachtet ihn als symbolischen Repräsentanten eines Menschenbildes, das der Bezogenheit und Gewordenheit des Menschen nicht Rechnung trägt: „Der Prototyp des Menschen, der dem Begriff der Interaktion zugrunde liegt, ist […] das isolierte einzelne Individuum, das gleichsam nur zufällig ir-

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kenntnis und das zu Erkennende einander unumgänglicherweise unter fortgesetzter Wirksamkeit ihrer unaufhebbaren Interdependenz. Eine Leitfrage dieses Kapitels ist, inwieweit diese Erkenntnisdynamik einer wissenschaftlichen und persönlichen Reflexion zugänglich ist. Mit Damasio kann man zunächst einmal festhalten, daß der Prozeß ‚Geist‘ seine Grundlage in einem Körper und seinen beständigen Bezugspunkt in einem Selbst als dem ‚gefühlten Körper‘ hat. Die Realisierungsfunktion der Affekte bezieht sich darauf, daß die Außenwelt durch die Veränderungen repräsentiert wird, die sie im Körper hervorruft, daß also etwas dadurch repräsentiert wird, daß immer, wenn eine Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt stattfindet, die ursprünglichen Repräsentationen des Körpers modifiziert werden.4 Es handelt sich dabei um eine Art nichtsprachlicher Form der Erkenntnis, deren Bedingung darin liegt, daß diese vorübergehende Modifikation des Körperbildes in Beziehung gesetzt wird mit einem Selbstbegriff, der vor der Modifikation aktuell war. Dieser Prozeß, den Damasio als ‚Störprozeß‘ bezeichnet, ist verantwortlich für die ‚Subjektivität‘, die menschliche Erfahrung kennzeichnet. Die Störung betrifft die aktuelle Realisierung des Selbstbegriffs,5 da und während sich dieses Selbst bei der Reaktion des Organismus auf ein Objekt verändert. Die subjektive Perspektive erwächst aus den Vorstellungen, die diesen Prozeß repräsentieren: eines Organismus, der gerade ein Objekt wahrnimmt und darauf reagiert. Mit diesen Gedanken bewegt man sich aber schon auf dem Gebiet einer psychologischen Anthropologie, insofern mit ihnen grundlegende Annahmen hinsichtlich menschlicher Phänomene getroffen sind, die in den Menschenwissenschaften oft als gegeben hingenommen werden und mit denen allzu leichtfertig umgegangen wird, wie etwa in konventionellen Vorstellungen von Selbst, Bewußtsein und Gedächtnis. In diesem Kapitel geht es einerseits um die Bedingung der Möglichkeit solcher Phänomene, um die feineren Mechanismen, die bei Prozessen der ‚Sozialisation‘ oder ‚Zivilisation‘ am Werke sind. Andererseits aber muß bedacht werden, daß bei Damasio lediglich kategoriale Konzepte vorgelegt werden, die jenseits physischer Erkrankungen und Störungen nur wenig über soziogene Ausgestaltungsmodi der genannten

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gendwo in der weiten Welt auf einen anderen Menschen trifft – Adam ohne Eva, ohne Familie und Gott – und dann mit dem Anderen zu interagieren beginnt“ (Elias 1972: S. 39). Hier soll der Begriff zum Ausdruck bringen, daß die interdependenten Menschen kraft ihrer je subjektiven Perspektive und der daraus entstandenen Intentionalität interagieren und eine menschliche Figuration bilden. Ich meine, die Getrenntheit der Interagierenden ist ebenso betonenswert wie ihre Interdependenz, ohne erstere würde letztere keinen Sinn ergeben. Die Begriffssensibilität hängt eben auch damit zusammen, wogegen man sich gerade abgrenzt. Vgl. Damasio 1997: S. 306 „Was uns jetzt zustößt, stößt tatsächlich einem Selbstbegriff zu, der auf der Vergangenheit beruht, auch jener Vergangenheit, die noch einen Augenblick zuvor Aktualität war“ (ebd.: S. 318, Herv.i.O.).

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psychischen Phänomene und entsprechende Kriterien zu ihrer Einschätzung aussagen können. In dieser Hinsicht kann Damasios Beitrag als ein Wegbereiter und als Fundierung einer psychoanalytischen Anthropologie angesehen werden, die erst individuelle und kollektive Ausgestaltungsmöglichkeiten berücksichtigen kann. Anders formuliert: Jeder Mensch hat Selbst, Bewußtsein und Gedächtnis und gleichzeitig ist jeder Mensch auf spezifische Weise geprägt, sozialisiert, zivilisiert. Kann aber das Verständnis der sozialen Ausgestaltung dieser Phänomene ohne ein Verständnis ihrer zugrundeliegenden Mechanismen gelingen? Kann es sein, daß unsere Fragestellungen oft ‚verspätet‘ einsetzen, dadurch daß vieles schon vorausgesetzt wird, ohne expliziert zu werden? Nicht zu vergessen ist, daß ich in meiner Argumentation hier aufgrund des Problems angekommen bin, daß von ‚Selbstkontrolle‘ und ‚Affektkontrolle‘ die Rede war, ohne daß ein angemessener Selbst- bzw. Affektbegriff vorhanden gewesen wäre. Die Beantwortung der Frage, ob ‚Selbstkontrolle‘ ein angemessenes Kriterium ist, um Unterschiede in Zivilisationsmustern zu erfassen, bedarf der Klärung der Frage, was das ‚Selbst‘ ist, das kontrolliert bzw. kontrolliert wird, d.h. also sich selbst kontrollieren kann. Und sie bedarf der Klärung der Frage, wie das Mehr oder Weniger an ‚Kontrolle‘ zustande kommt, wie sich also das Sich-zu-sich-Verhalten verändert. Es geht kurz gesagt um das Verständnis des Selbst als dialogische Struktur und als Prozeß. Und es geht um das Verhältnis von Selbst und Affektivität. Jenseits triebtheoretischer Gedankengänge findet man bei Elias beide angesprochenen Aspekte – die Prozeßhaftigkeit und die dialogische Struktur – als Kennzeichen des Selbst, bei ihm Ich-Identität genannt. Die IchIdentität stellt für ihn einen Entwicklungsprozeß dar, dessen Substrat der gesamte Organismus ist. Seine Elemente sind die Kontinuität des Prozeßablaufs selbst als eine Verzahnung biologischer, psychologischer und sozialer Teilaspekte der Persönlichkeitsentwicklung und die darin verwobene Kontinuität eines Gedächtnisses als ‚eingravierte‘ Lebenserfahrung. Bedingung der Möglichkeit der Ich-Identität der Menschen ist ihre Fähigkeit, sich ihrer selbst bewußt werden zu können, ihr Vermögen des sogenannten ‚Spiegeleffekts‘. Darüber hinaus hat Elias ja unermüdlich auf die existenzielle Bezogenheit der Menschen auf andere Menschen hingewiesen, die er mit seinem Valenzbegriff zu konzeptualisieren versuchte.6 Leider liegen diese Denkansätze tatsächlich wie ‚verstreut im Winde‘ und gehen im zivilisationstheoretischen Triebspektakel mehr oder weniger unter. Ziel dieses Kapitels ist eine integrierende und vertiefende Sicht auf die postulierte

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Vgl. zum Eliasschen Identitätsbegriff u.a.: Elias 1988: S. 245-262, zum Valenzbegriff vgl. Elias 1972. Dies sind Stellen im Eliasschen Werk, wo Elias von dem in den Zivilisationsbänden vorherrschenden triebtheoretischen Menschenbild vehement abweicht, wobei er mit seinem Identitätsbegriff dem Meadschen Selbstkonzept und mit seinem Valenzbegriff dem Kohutschen Selbstobjekt-Konzept sehr nahe kommt.

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Prozeßhaftigkeit des Selbst als innere Beziehung und als lebenslang auf Andere Bezogenes. Im Anschluß an das erste Kapitel möchte ich diesen Zusammenhang in diesem Kapitel aus neurobiologischer und psychoanalytischer Perspektive weiter vertiefen. Wie schon angekündigt, dient zur psychoanalytischen Vertiefung die Alteritätstheorie von G.H. Seidler. ‚Alterität‘ entspricht auf psychoanalytischer Ebene dem, was auf neurobiologischer Ebene von Damasio ‚Störung‘ genannt wird. Damit sind die Qualitäten ‚Widerständigkeit‘, ‚Eigenständigkeit‘, ‚Anderssein‘ oder ‚Fremdheit‘ eines Objektes gemeint, das hier allerdings ein menschliches Gegenüber, also Subjekt und Objekt für sich und das Gegenüber zugleich ist. In der Alteritätstheorie geht es um die Herausbildung der in einem Individuum lokalisierbaren Funktion der ‚Selbstreflexivität‘, also der Fähigkeit sich selbst zum Gegenstand von Wahrnehmung, Beobachtung und Beurteilung zu nehmen, aus interaktiven Akten wechselseitiger Wahrnehmung und um die Bedeutung bislang fremder Wahrnehmungs- und Erlebensinhalte für eine so verstandene Strukturbildung. Die Aufmerksamkeit dieser psychoanalytischen Theorie gilt also primär nicht triebhaften, unbewußten Prozessen, sondern der Entstehung und dem Wandel des Selbstbezugs. Sie impliziert eine Reflexion der herkömmlich zugrunde gelegten Persönlichkeitsmodelle und die Frage nach ihrer Berechtigung. Sie hat ihre theoretischen Vorläufer entsprechend nicht nur im Bereich der Psychoanalyse, sondern maßgeblich auch in philosophischen und sozialpsychologischen Ansätzen. Als ein Wegbereiter für eine Theorie der Selbstbewußtheit wird u.a. George H. Mead herangezogen, der zeigt, daß der Selbstbezug nicht spontan zur Verfügung steht, sondern erst mit der Einnahme einer Außenposition angeeignet wird. Andererseits wird mit dem Neu-Phänomenologen Hermann Schmitz hervorgehoben, daß der Selbstbezug Zuwendung zu sich nach Maßgabe des affektiven Betroffenseins ist, sich also nur durch Affizierung des Leibes Bewußtsein herstellt.7 Dieses ‚affektive Betroffensein‘ ist in Seidlers Verständnis ein Derivat des selbstreflexiven Affekts Scham, um den herum der Prozeß der Strukturbildung organisiert ist. Hier deutet sich schon an, daß der psychoanalytische Strukturbegriff, soweit er im Sinne von ‚Internalisierung‘ verstanden wird, revisionsbedürftig wird. Es sei zunächst vorwegnehmend angemerkt, daß das ‚Verinnerlichte‘ kein Abbild des Äußeren darstellt, sondern einem kreativen Prozeß entspricht, der eher als Symbolisierung beschrieben werden kann, einem Prozeß, in dem Bedeutung erst entsteht, wie im ersten Kapitel mit Mead bereits dargelegt, und der unabdingbar an die leibhaftige, subjektive Perspektive gebunden ist. Dieser konzeptuellen Orientierung folgend bietet schließlich die Alteri7

Vgl. u.a. Seidler 1999: S. 41 u. 26. Einen guten Einblick in die Selbstkonzepte aus den verschiedenen Bereichen liefert Seidler bei der Reflexion und Diskussion der in der Psychotherapie zugrundeliegenden Modelle in ebd.: Kap. 2.

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tätstheorie eine Zusammenschau der ‚Außenschleife‘ (über den ‚Anderen‘) und der ‚Innenschleife‘ (über ‚den Körper‘). Sie versteht sich als einen Beitrag zu einer psychoanalytischen Anthropologie durch Berücksichtigung der Subjektivität, der Affektivität und der Realität des Gegenübers. Die zunächst folgende neurobiologische Sicht, die eine Zusammenfassung der neurobiologischen Ergebnisse zu Prozeßmechanismen des Selbst und der Bewußtheit darstellt, eröffnet, wie ich meine, einen leichteren Zugang zur Alteritätstheorie und fundiert darüber hinaus zentrale Annahmen dieser.

a) Prozeßmechanismen des Selbst Ich werde den Zusammenhang von Selbst, Bewußtsein und Affektivität aus neurobiologischer Sicht noch einmal aufgreifen, um den Rahmen für ein psychoanalytisch höchst relevantes Problem zu umreißen, das ich zunächst so formulieren möchte: Wenn die Außenwelt durch die Veränderungen repräsentiert wird, die sie im Körper hervorruft, warum fallen wir nicht mit dem jeweils wahrgenommenen Objekt zusammen, warum ‚sind‘ wir nicht ständig ein Anderes/Anderer oder eine Entsprechung des aktuellen Objekts? Oder sind wir es womöglich doch manchmal, mehr oder weniger? Welche Variationsmöglichkeiten gibt es hier? Aus neurobiologischer Sicht ist lediglich die erste Frage ansatzweise zu beantworten, insofern hier die biologischen Bedingungen der Möglichkeit einer subjektive Perspektive umrissen werden. Die Variationen der Subjektivität sind eher soziogener Natur und bedürfen einer beziehungsorientierten psychoanalytischen Sicht.

Selbst-Sinn Implizit geht Damasio dem erstgenannten Problem nach, wenn er sich abgrenzend von objektivierender Bewußtseinsforschung – die sich vorrangig mit dem Problem der Entstehung von Vorstellungen beschäftigt – hervorhebt, daß zum Prozeß der Bewußtwerdung eines Objekts sowohl Emotionen als auch das Selbst gehören. Denn wenn auch das Problem der Erzeugung der Vorstellungen, der mentalen Muster eines Objekts in verschiedenen Sinnesmodalitäten, geklärt ist, so bleibt noch zu verstehen, wie das Gefühl erzeugt wird, daß es einen Eigentümer und Beobachter dieser Vorstellungen gibt. Dieses Gefühl der Urheberschaft, der Prozeß der Subjektivität stellt aus Damasios Sicht ein entscheidendes Merkmal des Bewußtseins dar. Man kann zwar zwischen Bewußtheit und Selbstbewußtheit unterscheiden, und diese Unterscheidung wird weiter unten Thema sein, dennoch sind ein Selbst und die Subjektivität, die es hervorbringt, für jegliches Bewußtsein erforderlich. Unter Bewußtsein versteht Damasio das

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vereinheitlichte mentale Muster, durch welches das Objekt und das Selbst zusammengeführt werden. Die Präsenz dieses Selbst gibt es nur in einer bestimmten Beziehung zu einem Objekt, sie ist „das Fühlen dessen, was geschieht, wenn Ihr Sein durch einen Wahrnehmungsakt verändert wird.“8 Dieses Gefühl, das Damasio ‚Selbst-Sinn‘ nennt, ist an den Akt des ‚Erkennens‘ gebunden. Eine weitere in diesem Zusammenhang wichtige Erkenntnis aus neurologischen Beobachtungen und neuropsychologischen Experimenten ist die, daß das Bewußtsein nicht monolithisch ist, vielmehr aus einfacheren und komplexeren Abstufungen besteht, wobei letztere auf den ersteren aufbauen. Normalerweise bezieht man sich mit dem Begriff ‚Bewußtsein‘ in Bezug auf Menschen auf eine komplexere Form, die dem Organismus Identität und Personalität verleiht und eine Verortung in der historischen individuellen Zeit ermöglicht. Es ist dieses ‚erweiterte Bewußtsein‘, das das autobiografisches Selbst ermöglicht, welches wir meinen, wenn wir alltäglich von uns ‚selbst‘ sprechen und denken. Es ist zwar gewissermaßen berechtigt, wenn wir mit diesem Bewußtseinsbegriff höhere kognitive Funktionen assoziieren, wie Denken, Arbeitsgedächtnis und Sprache. Aber wenn es um die Teilmechanismen dieses Bewußtseins und um seine Anfänge geht, wendet sich Damasio dagegen, diese in der Hierarchie der kognitiven Funktionen so hoch und in der Stammesgeschichte und der individuellen Lebensgeschichte so spät anzusiedeln, wie es durch die Verknüpfung unterstellt wäre.9 Zwar findet das Bewußtsein beim Menschen eine Bereicherung durch Sprache, aber die Ursprünge des Bewußtseins gehen auf das Vermögen von Gehirnen zurück, eine Geschichte ohne Worte zu erzählen. Diese Geschichte ist die eines Objekts, das den Zustand des Körpers verändert und die Erzählung findet statt in der „nonverbalen Universalsprache der Körpersignale“.10 Das Selbst ist Begleiterscheinung dieser Erzählung, die ‚Bewußtwerdung‘ ist das Empfinden des Selbst im Akt des Erkennens. Das bedeutet, daß das Selbst nicht als zusätzliche eigenständige Komponente in diesem Prozeß zu denken ist. Während in neuronalen Karten (i.S. von Mustern neuronaler Aktivitäten) die kausale Beziehung zwischen Objekt und Organismus eingefangen wird, also nicht-sprachlich vom Organismus ‚berichtet‘ wird, der im Akt des Repräsentierens die Veränderung einfängt, der er unterliegt, während er etwas anderes repräsentiert, ist die „En-tität des Fängers gerade erst durch die Erzählung des Fangens erzeugt worden.“11 Hier hat man somit eine Bewußtseins- und Selbsttheorie, in der die Wirksamkeit des Objekts in der Affektivität des Subjekts im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Was freilich bei Damasio verloren geht, ist die Subjektivität des Objekts, insofern

8 9 10 11

Damasio 2002: S. 22 Vgl. ebd.: S. 31 Ebd.: S. 46 Ebd.: S. 207

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es ein menschliches ist, einschließlich seiner Affektivität, die später Gegenstand psychoanalytischer Betrachtung sein soll. Man könnte sagen, jedem wahrgenommenen präsenten oder repräsentierten Objekt entspricht ein Affekt, oder besser: Die Wahrnehmung verläuft über Affizierung. Die herkömmlichen Denkmuster in bezug auf Bewußtsein, Selbst und Gedächtnis verschleiern die ursprüngliche Bedingtheit dieser Phänomene durch und ihre ständige Gebundenheit an affektive Prozesse. Diese Bedingtheit und ständige Gebundenheit hat Damasio mit dem Konstrukt des ‚Kern-Bewußtseins‘ und dem jeweils diesem entsprechenden ‚Kern-Selbst‘ konzeptualisiert. Das Kern-Bewußtsein beschreibt er als ein einfaches, immergleiches, biologisches Phänomen, das unabhängig von konventionellem Gedächtnis, Arbeitsgedächtnis, Denken und Sprache ist. Sein Zuständigkeitsbereich ist das Hier und Jetzt. Es ist ein unmittelbares Empfinden unseres individuellen Organismus im Akt des Erkennens, das den Organismus mit einem Selbst-Sinn ausstattet. So entspricht dem Kern-Bewußtsein jeweils ein Kern-Selbst, „eine vorübergehende, aber bewußte Bezugnahme auf den individuellen Organismus, in dem Ereignisse stattfinden.“12 Die Bezugnahme auf den Organismus wird ermöglicht durch das ‚Proto-Selbst‘, eine Sammlung von neuronalen Mustern, die fortlaufend den Zustand des Organismus abbilden. Dieses ist der biologische Vorläufer des Selbst-Sinns, der weder bewußt ist, noch über Wahrnehmungsvermögen und Wissen verfügt. Seine Aufgabe ist es lediglich, einen Bezugspunkt zu liefern, kraft dessen überhaupt Abweichungen bzw. Modifikationen zu solchen werden. Die Kontinuität des Bewußtseins und des Selbst sind also dem Umstand geschuldet, daß das Kernbewußtsein pulsierend für jeden Inhalt erzeugt wird, wobei jeder Pulsschlag durch ein Objekt ausgelöst wird, das erinnert oder mit dem interagiert wird – und Objekte sind ständig vorhanden. Es ist vor allem die Relevanz der Unmittelbarkeit des Empfindens, dieser pulsierende Charakter des Kernbewußtseins, die dazu berechtigt, das Bewußtseinsproblem zunächst von höheren kognitiven Funktionen unabhängig zu untersuchen. Das Empfinden von Selbst und vom Erkennen sei so kurz und intensiv, daß es wirksam wird, ohne etwa im Arbeitsgedächtnis festgehalten werden zu müssen. Neben der Entstehung des Selbst-Sinns durch die Erzeugung des vorgestellten nicht-sprachlichen Berichts über die Objekt-Organismus-Beziehung hebt Damasio einen zweiten Teilmechanismus des Kernbewußtseins hervor, der in der Verstärkung der Vorstellung vom verursachenden Objekt, seiner zeitlichen und räumlichen Hervorhebung besteht. Mit dieser Aufmerksamkeitszuwendung wird das Objekt zu einem ‚Fakt‘ und folgt auf die vorausgehenden Ereignisse, die zu seinem Werden führten, wobei es Teil einer Beziehung mit dem Organismus ist, dem das alles zustößt.13 Das so alterierte Selbst wird zum Ausgangspunkt für neue Objekte. 12 Vgl. ebd.: S. 241, Tab. 7.1. „Formen des Selbst“ 13 Vgl. ebd.: S. 208

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Das Kernbewußtsein als Prozeßmechanismus psychischer Struktur betrifft sowohl deren funktionale als auch deren inhaltliche Dimension. Insofern es zu einer Exponierung von Selbst und Objekt führt, kann man hier von einer scheidenden, trennenden Funktion sprechen, die für das herkömmliche erweiterte Bewußtsein unabdingbar ist. Damasio unterscheidet zwischen der basalen Aufmerksamkeit, die dem Zustand des Wachseins entspricht und der gerichteten Aufmerksamkeit, die auf die Entfaltung des Bewußtseins folgt. Letztere ist gekennzeichnet durch eine längere zeitliche Spanne und der Fokussierung auf angemessene Objekte. Nach seiner Vorstellung treten Aufmerksamkeit und Bewußtsein nach dem beschriebenen ‚Gefühl des Erkennens‘ in abgestuften Ausprägungen auf und beeinflussen einander nach Art einer Aufwärtsspirale und können so zur Optimierung der Reaktionen beitragen.14 So ist das Kernbewußtsein ständige Bedingung der Möglichkeit all der verschiedenen Aspekte der Kognition, die das erweiterte Bewußtsein bilden bzw. diese bereichern, wie Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis, Gedächtnis, Sprache und Intelligenz. Es wirkt sich nachhaltig auf diese anderen kognitiven Prozesse aus, indem es Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis fokussiert und verstärkt, somit die Bildung von Erinnerungen begünstigt, es ist unentbehrlich für die normalen Sprachfunktionen und erweitert den Horizont der intelligenten Manipulation:15 „Alle […] erörterten kognitiven Eigenschaften sind durch das Kernbewußtsein potenziert worden und haben ihrerseits dazu beigetragen, das erweiterte Bewußtsein auf der Grundlage des Kernbewußtseins aufzubauen. Doch die Nabelschnur wird nie durchtrennt. Ständig und immer ist hinter dem erweiterten Bewußtsein der Pulsschlag des Kernbewußtseins spürbar.“16

Insofern das Kernbewußtsein Selbst und Objekt in Beziehung setzt, ist es für die Entstehung von Bedeutung verantwortlich, die das autobiographische Selbst ausmacht. Während das Kern-Selbst für jedes Objekt, das den Mechanismus des Kernbewußtseins auslöst, neu erschaffen wird, beruht das autobiographische Selbst „auf den systematischen Erinnerungen an Situationen, in denen dem Kernselbst grundlegende Ereignisse im Leben des

14 Vgl. ebd.: S. 114f u. S. 220f 15 Vgl. ebd.: S. 153 16 Ebd.: S. 154. Wie im ersten Kapitel bereits dargelegt, ist die Aufmerksamkeitslenkung affektiv gesteuert. Die Affizierung, die Veränderung des Körperzustandes gehört zur homöodynamischen Regulation, die Aufmerksamkeit erfordert, um in angemessene Interaktion mit der Umwelt zu treten und Bewußtsein erfordert, um Reaktionen zu planen, die den Organismus betreffen (vgl. a. ebd.: S. 313). Und es ist der Prozeß des Fühlens dieser Körperzustände, die den Organismus auf das Problem aufmerksam macht, mit dessen Lösung die Veränderung des Körperzustandes begonnen hatte (vgl. a. ebd.: S. 341).

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Organismus zur Kenntnis gelangt sind“,17 und welche im autobiographischen Gedächtnis in Form von dispositionalen Aufzeichnungen über unser körperliches und verhaltensmäßiges (Gewesen-)Sein und Sein-Wollen vorhanden sind. Das autobiographische Selbst lebt von der ständigen Reaktivierung bestimmter biographischer Erinnerungen und der Selbst-Sinn entsteht hier aus der ständig wiederholten Darbietung bestimmter persönlichen Erinnerungen, die ‚Objekte unserer persönlichen Vergangenheit‘ sind. Das Gehirn behandelt diese autobiographischen Erinnerungen als ‚Objekte‘, was bedeutet, daß sie in jene Beziehung zum Organismus treten können, die für das Kernbewußtsein beschrieben wurde, und so ebenfalls einen Pulsschlag des Kernbewußtseins hervorrufen können, ein ‚Empfinden des Selbst-Erkennens‘. In diesem Fall spricht Damasio vom erweiterten Bewußtsein, das im Unterschied zum Kernbewußtsein die Fähigkeit bezeichnet, sich ein weites Panorama von Dingen und Ereignissen zu vergegenwärtigen, ebenfalls begleitet von einem Selbst-Sinn, hier allerdings einem, der nicht aus einem subtilen, flüchtigen Gefühl des Erkennens erwächst, sondern aus einer individuellen Perspektive mit Vergangenheit und Zukunft.18 Der zusätzliche entscheidende Mechanismus, der dies ermöglicht, ist das Arbeitsgedächtnis: „Die anhaltende Darbietung des autobiographischen Selbst ist der Schlüssel zum erweiterten Bewußtsein. Das erweiterte Bewußtsein findet statt, wenn das Arbeitsgedächtnis gleichzeitig ein bestimmtes Objekt und das autobiographische Selbst aktiv hält, mit anderen Worten wenn sowohl ein bestimmtes Objekt als auch die Objekte der eigenen Biografie gleichzeitig Kernbewußtsein erzeugen.“19

Das autobiographische Selbst ist in diesem Sinne eine ‚Verwirklichung‘ des autobiographischen Gedächtnisses, welches nicht nur aus besonderen Interaktionen, die der Organismus zu einer besonderen Umwelt unterhält, erwächst, sondern auch durch diese reaktiviert wird. Es sind diese reaktivierten ‚Erinnerungen‘, die dann als je ‚Zu-Erkennendes‘ ihr eigenes pulsierendes Kernbewußtsein auslösen und so beständig als autobiographisches Selbst zum Leben erweckt werden.20 Die Elemente dieser komplexen Vorgänge sind stets die Repräsentation des Körperzustands und deren Modifikationen durch die bereits beschriebenen Mechanismen der Körperschleife (oder ‚Als-ob-Körperschleifen‘) und die Repräsentation des präsenten oder repräsentierten Objekts. Die Feststellung, daß die Reaktivierung der Erinnerung an die Beziehung beider Elemente als eine Erfahrung nicht spontan, sondern kraft der Beziehung zu einem anderen Objekt erfolgt, kann in ihrer Relevanz und Reichweite für die Menschenwissen17 18 19 20

Ebd.: S. 30 Vgl. ebd.: S. 237ff Ebd.: S. 267f, Herv.i.O. Vgl. ebd.: S. 211 u. S. 268

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schaften nicht überschätzt werden. U.a. die Forderung nach beziehungsorientierter Konzeptualisierung, die zuweilen zur Leerformel zu verkommen droht, findet hier ihre Fundierung. Insofern ‚Selbst‘ bzw. ‚Erinnerung‘ als affizierungsabhängige Rekonstruktionen zu betrachten sind, findet überhaupt erst die Rede von Beziehungs- und Psychodynamik eine fundamentale Berechtigung. Die Konsequenzen einer solch dynamischen Sichtweise auf den Menschen für ein Modell der Gedächtnisentwicklung und eine Theorie des Erinnerns hat Harald Welzer in seinem Buch „Das Kommunikative Gedächtnis“ ausgeführt. Hier wird die neurowissenschaftliche Sicht auf Substanz und Funktionsweise des individuellen Gedächtnisses erweitert um die entsprechenden sozialen Prozesse der Erfahrungs-, Erinnerungs- und Vergangenheitsbildung, womit der Erfahrungsabhängigkeit der Gehirnstrukturierung und insbesondere der Relevanz der zwischenmenschlichen Erfahrung Rechnung getragen wird. Das Gedächtnis besteht demnach aus sozial, durch sprachliche und nicht-sprachliche Kommunikation mit anderen gebildeten bedeutungsvollen Erfahrungen, wobei die Bewertung der Erfahrungen und die Zuweisung von Bedeutung über die Emotionen läuft.21 Insofern die Kriterien für diese körperbasierten Evaluationen (somatische Marker) selbst sozial, in Prozessen des interpersonellen Austauschs geformt sind, und diese wiederum in eine spezifische Figuration eingeflochten ist, spricht Welzer in Analogie zu Damasios ‚somatischen Markern‘ von ‚sozialen Markern‘. Während erstere als eine Art körperlicher Bewertungs- bzw. Tendenzapparat bei bewußten sowie intuitiven Entscheidungsprozessen wirken, wird mit dem Ausdruck ‚soziale Marker‘ betont, daß solche Entscheidungen gleichermaßen an kulturelle, historische und soziale Indizes gebunden sind. Was erinnert wird und die Art, wie erinnert wird, ist auch bestimmt von vergangener und gelebter Beziehung, ist figurationsspezifisch.22 Mit der Fokussierung auf den zwischenmenschlichen Bereich eröffnen sich hier zwei neue Dimensionen: Da ist einerseits die figurationsspezifische Gewordenheit der Kriterien für die Markierung, die eine sozio-somatische ist, eine Dimension, die freilich 21 Vgl. Welzer 2002: S. 11. Hier sind sowohl Erfahrungen bezüglich der menschlichen als auch bezüglich der nicht-menschlichen Objekte gemeint, da die Bedeutung der letzteren ebenfalls durch den sozialen Bezug bedingt ist (vgl. „social referencing“, Krause 1998: S. 52 u. Kap. II dieser Arbeit). 22 Vgl. Welzer 2002: S. 157f u. S. 216. „Jede explizite Erinnerung an ein Ereignis aus der Familienvergangenheit ist untrennbar mit einem Modell über diese Familie verbunden […]. Eine Eigenschaft des individuellen Gedächtnisses wäre vor diesem Hintergrund, daß jede Vergangenheit, die in den generationellen Kommunikationszusammenhang der eigenen Familie hereinragt, von ‚sozialen Markern‘ indexiert ist – das heißt, neben dem Schulwissen und den Informationen aus den Medien existiert ein Bild von der Vergangenheit, das aus der direkten, persönlichen Kommunikation resultiert, und dieses Bild ist vor dem Hintergrund seiner sozialen Entstehungsgeschichte ein emotionales Bild, nicht Wissen, sondern Gewißheit“ (ebd.: S. 157f).

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auch in dieser Arbeit unterbelichtet bleibt. Andererseits ist damit aber die Affektivität und Subjektivität der die Markierungen Initiierenden angesprochen, die bei Damasio lediglich Objekte sind. Was ist also mit dem kommunikativen Gedächtnis gemeint?

Das emotionale kommunikative Gedächtnis Es handelt sich weder bei der Gedächtnisentwicklung um eine additive Speicherung einzelner Erfahrungen, noch bei Erinnerung von Gedächtnisinhalten um eine Reproduktion des Vergangenen. Das Gedächtnis besteht aus neuronalen Verknüpfungen, die größtenteils durch zwischenmenschliche Verknüpfungen geformt werden, also Erfahrungen entsprechen. Sowohl die neuronale Struktur als auch die Funktionsweise des Gedächtnisses sind assoziativ organisiert, und Erinnerung ist die Aktivierung eines Verknüpfungsmusters: „Die Erinnerung einer Erfahrung geht auf die Aktivierung temporaler und räumlicher Muster zurück, die sich über viele Gruppen von Neuronen erstrecken. Jedes Neuron kann zu einer großen Anzahl solcher Gruppen zählen und entsprechend durch eine große Anzahl neuer Erfahrungen aktiviert werden. Jede neue Erfahrung wird auf der Grundlage der bestehenden Erfahrungen eingeschrieben. Das heißt, jede neue Erinnerung kann durch vorangegangene Erinnerungen beeinflußt werden und bestehende Erinnerungen verändern. Das distributive Speicherverfahren des Gedächtnisses sorgt dafür, daß ein- und dieselbe Erfahrung in sehr unterschiedlichen Kombinationen mit anderen Erfahrungen erinnert werden kann und jedes Mal als Ergebnis vieler verschiedener assoziativer Verknüpfungen betrachtet werden kann.“23

Daß das Sich-Erinnern nicht lediglich ein Abrufen ist, sondern selbst auch ein Verändern, ist dadurch bedingt, daß die Abrufsituation immer eine neue Situation ist, „die dem vorhandenen Engramm eine neue Verknüpfung hinzufügt – was nichts anderes heißt, als daß Neuronen bzw. neuronale Verknüpfungen während des Abrufs und Einspeicherns aktiviert bzw. gebildet werden, die bislang noch nicht zu diesem speziellen Engramm gehörten. Sie assoziieren sich dazu.“24 So entstehen immer neue Erinnerungen an frühere Erinnerungen, deren Kontext nicht nur aus den bisherigen Gedächtnisinhalten besteht, sondern auch aus der aktuellen Interaktionssituation. Im Ergebnis läßt sich festhalten, daß das Gedächtnis ein kommunikatives ist, einerseits was seine neuronale Struktur und Funktionsweise selbst angeht, andererseits was seine Entstehung und die Verfügbarkeit und Wirksamkeit seiner Inhalte angeht. Denn viele seiner Aspekte bilden sich nicht nur im Zusammensein mit anderen, sondern werden auch

23 M.M. Mesulam, zit.n. Welzer, ebd.: S. 44 24 Welzer 2002: S. 56

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nur dort lebendig.25 Und dabei ist es gerade die emotionale Einbettung sowohl der erlebten Situation als auch deren Erinnerungssituation, die sowohl für die Einschreibung als auch die Erinnerung ausschlaggebend ist, in höherem Maße als die Fakten selbst.26 Das kommunikative Gedächtnis ist also, so Welzer, mithin ein emotionales. Einerseits ist es, wie oben bereits ausgeführt, die Körper-Selbstbezogenheit der Erfahrungen, die Subjektivität ermöglicht, Erfahrungen, deren Explizierung ein autobiographisches Selbst verfügbar macht. Andererseits hat der interpersonelle Austausch selbst, in dem sich das Gedächtnis entwickelt, immer auch eine affektive Dimension. Zu seiner Entstehung gehört auch das Erspüren von und Reaktionen auf die Emotionen anderer. Und dieser affektive Austausch verläuft größtenteils intuitiv, unbewußt. Das autobiographische Gedächtnis besteht also nicht nur aus dem, was im autobiographischen Selbst dem Subjekt zugänglich wird. Wie bei Damasio schon hervorgehoben, weiß das Gehirn mehr, als das Bewußtsein offenbart. Neben dem Explizierbaren existiert das sogenannte implizite Gedächtnissystem, das nach anderen Einspeicherungs- und Abrufmodalitäten erfolgt. Der Neuropsychologe LeDoux beschreibt diese zwei Gedächtnissysteme als „eines, das Erinnerungen von Erlebtem bildet und diese Erinnerungen für die bewußte Wiedererinnerung bereithält, und ein anderes, das außerhalb des Bewußtseins operiert und das Verhalten steuert, ohne daß der Betreffende sich des vorangegangenen Lernvorgangs bewußt ist.“27 Insofern es sich um selbstbezogene, also emotional bewertete Erinnerungen handelt, spricht LeDoux im Falle expliziter Erinnerungen von ‚Erinnerung an eine Emotion‘, während implizite Erinnerungen ‚emotionale Erinnerungen‘ seien.28 Das explizite Gedächtnis, auch deklaratives genannt, ermöglicht das kognitive Aufrufen von Wissensinhalten, die mehr oder weniger kontextfrei und grundsätzlich verfügbar sind. Weiter beinhaltet es die Grundlage des autobiographischen Selbst, nämlich das ‚episodische Gedächtnis‘. Dieses ist „die Basis dafür, daß einzelne Zusammenhänge aus unserer Vergangenheit und unserem biographischen Erleben als lebensgeschichtliche Episoden, als ‚meine‘ Vergangenheit konturiert werden können“,29 und besteht ebenfalls aus expliziten Akten des Erinnerns, bei denen man sich auch bewußt ist, daß man sich erinnert. Die Bedingung der Möglichkeit des expliziten Gedächtnisses liefert das implizite oder nichtdeklarative Gedächtnis, das automatisierte Aktivierungen von Erinnerungen und Verarbeitung von Reizwahrnehmungen jenseits des erweiterten Bewußtseins beinhaltet, also „die Gesamtheit von Erinnerungen, die einen Menschen in der Gegenwart beeinflussen, ohne daß er sich dieses Einflus-

25 26 27 28 29

Vgl. ebd.: S. 208 Vgl. ebd.: S. 208 u. S. 134ff LeDoux 2001: S. 194 Vgl. ebd.: S. 195 Welzer 2002: S. 24

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ses bewußt wäre.“30 Ein Subsystem des impliziten Gedächtnisses, das prozedurale Gedächtnis genannt, beinhaltet Erinnerungen, die die Grundsemantik unserer Alltagsorientierung bilden, wie das Sprechen einer Sprache oder Tischsitten, aber auch routinisierte körperliche Fähigkeiten wie Radfahren und Schreiben. Die Stärke dieser Erinnerungen liegt gerade in ihrer Unbewußtheit, auch wenn sie teilweise bei Versagen des Automatismus expliziert werden können. Ein anderes Subsystem des impliziten Gedächtnisses, das als Priming bezeichnet wird, besteht in der permanenten Verarbeitung von Reizwahrnehmungen am Rande der Aufmerksamkeit und ist der Reflexion grundsätzlich unzugänglich.31 Diese unbewußte Dimension von Gedächtnis und Erinnerung sei, so Welzer, dem herkömmlichen psychoanalytischen Konzept des Unbewußten geradezu entgegengesetzt, insofern es sich dabei nicht um verdrängte und abgespaltene Inhalte handle, sondern um ein funktional Unbewußtes, das aus operativen Gründen jenseits der Bewußtseinsschwelle angesiedelt ist.32 Diesen Ansatz zur Konzeptualisierung des Unbewußten, das als wesentlicher Bestandteil des kommunikativen Gedächtnisses und somit aus den gleichen Gründen ein kommunikatives Unbewußtes ist, werde ich im nächsten Abschnitt weiterverfolgen. Hier sei zunächst festgehalten, daß es außer dem autobiographischen Selbst, das ein Konstrukt der individuellen Biographie ist, ein Selbst gibt, das als Struktur und Prozeß größtenteils von unbewußten affektiven Prozessen bestimmt ist und ersteres bedingt: „Das Gefühl, über ein identisches und kohärentes Selbst zu verfügen, gründet im wesentlichen auf expliziten, episodischen Erinnerungen an Elementen der eigenen Lebensgeschichte, während die Elemente der Persönlichkeit selbst viel stärker an implizite Erinnerungen gebunden sind.“33

Die implizite Erinnerung sei die am stärksten sozial präformierte Art von Erinnerung, „weil sie nicht-symbolisch operiert, also nicht reflexiv, und deshalb jeder subjektiven Steuerung entzogen ist. Sie ist das Produkt einer Praxis, die unterhalb der Bewußtseinsschwelle verläuft.“34 Welzer schlägt vor, das autobiographische Gedächtnis als ein übergeordnetes System zu betrachten, das sich im Wechselspiel der genannten Gedächtnissysteme herausbildet und erhält, und eine integrative Funktion im Hinblick auf die verschiedenen Aspekte des Selbst, in seiner Bezogenheit auf den Körper und auf Andere ebenso wie in seiner Bezogenheit auf sich selbst als Selbststeuerung und -objektivierung, übernimmt:

30 Ebd.: S. 26 31 Zu den verschiedenen Gedächtnissystemen vgl. ebd.: S. 23ff u. LeDoux 2001: Kapitel 7 32 Vgl. Welzer 2002: S. 29 u. S. 211 33 Ebd.: S. 30 34 Ebd.: S. 29

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„Dieser eigentümliche Zusammenhang zwischen einer relativ individuellen Autonomie und Selbstbewußtheit auf der einen Seite und einer ausgeprägten Sozialitäts- und Körperabhängigkeit auf der anderen Seite bestimmt unsere Existenz, und das autobiographische Gedächtnis übernimmt dabei die Aufgabe, diesen Zusammenhang zu synthetisieren und eine Kontinuität zwischen den beiden Seiten herzustellen, die uns gar nicht bewußt ist […].“35

Damit kommt er mit seinem Konzept des autobiographischen Gedächtnisses dem alternativen psychoanalytischen Selbstbegriff sehr nahe, der in seiner Affektivität, Bezogenheit und Reflexivität aus anderer Perspektive zu erörtern bleibt. Neben der Feststellung der konstitutiven Bezogenheit von Gedächtnis und Erinnerung ist die Relevanz des ‚kommunikativen Unbewußten‘ ein weiterer Sachverhalt, der für dieses Kapitel richtungsweisend ist. In der Konsequenz des bisher Dargestellten werden zudem die Begriffe Beziehung und Struktur zu überdenken sein: Die psychische Struktur, die hier mit dem autobiographischen Gedächtnis tendenziell beschrieben ist, und die herkömmlich als ‚innerlich‘ gedacht wird, weist eine interaktive Dimension auf und die Beziehung, die herkömmlich als äußerlich gedacht wird, hat zwei Seiten, eine innere und eine äußere. Die Beschäftigung mit dem Phänomen des Bewußtsein und im folgenden auch der Reflexivität ist hier nicht im Sinne einer Minderbewertung des Unbewußten aufzufassen, denn wie deutlich wurde, existieren das Bewußte und Unbewußte nicht nebeneinander, als zwei unabhängige Spielarten des ‚Wissens‘, es geht vielmehr um das Verständnis der Bedingtheit des Bewußten durch das Unbewußte und insofern auch um die Beschaffenheit und Wandelbarkeit des unbewußt Wirksamen.

Das Uneinsehbare Bedingung der Möglichkeit und beständiges Konstituens des Kernselbst und des autobiographischen Selbst ist und bleibt das Proto-Selbst, der Bezugspunkt jeglichen Wandels, der es ermöglicht, sich zu verändern, ‚ohne sich zu verlieren‘. Erfahrungsperspektive und individuelle Singularität wurzeln in der relativen Invarianz körperlicher Strukturen und Operationen und den Grenzen dieses Körpers und deren neuronaler Kartierung, deren Gesamtheit das Proto-Selbst ausmacht: „Wir haben es in dieser Situation mit einer hochinteressanten Asymmetrie zu tun, die sich wie folgt beschreiben läßt: Einige Teile des Gehirns dürfen sich ungehindert in der Welt umtun und jedes Objekt abbilden, das zu kartieren ihnen die Beschaffenheit des Organismus erlaubt. Dagegen besitzen andere Teile des Gehirns, diejenigen, die den eigenen Zustand des Organismus abbilden, keineswegs das Recht auf freie Objektwahl. Ihnen ist nur ein enger Spielraum gewährt. Sie dürfen nur den Körper abbilden, und zwar im Rahmen weitgehend vorgege35 Ebd.: S. 208f

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bener Karten. Sie sind als das aufmerksame Publikum des Körpers angewiesen auf seine dynamische Gleichartigkeit.“36

Die Kartierung des Körpers im Gehirn erfolgt über das sogenannte somatosensorische System, das in der Signalübertragung vom Körper zum Zentralnervensystem besteht. Damasio untergliedert die Signalgebung in drei große Bereiche: das System des inneren Milieus und der Viszera, das System des Bewegungsapparates und das Vestibularsystem und schließlich das System des Feintastsinns. Das erste System ist weitgehend mit der Beschreibung innerer Zustände befaßt und ständig aktiv. Es verwendet neben der Signalgebung über Nervenbahnen chemische Stoffe in der Blutbahn. Das zweite System übermittelt dem Zentralnervensystem den Zustand der Muskeln, die die beweglichen Teile des Skeletts verbinden, und somatosensorische Informationen über die Raumkoordinaten des Körpers. Es ist sowohl zur Beschreibung innerer Zustände als auch der Außenwelt dienlich. Das System des Feintastsinns beschreibt vor allem äußere Objekte anhand von Signalen, die an der Körperoberfläche erzeugt werden.37 Was hier vermittelt wird, ist also einerseits das tendenziell Kontinuierliche und Dauerhafte, andererseits eine Hervorhebung der Begegnung. Das Erleben dieser beiden Pole wurde im ersten Kapitel bereits beschrieben mit den Hintergrundempfindungen einerseits und den Empfindungen von Gefühlen andererseits. Man könnte sagen, die Hintergrundempfindungen vermitteln die Vorstellung von der Kontinuität des Lebens, – Damasio bezeichnet sie auch als das ‚Empfinden des Seins‘ –, während ihre Varianz, die ihnen nichtsdestoweniger eigentümlich ist, sich nicht wie die herkömmlichen Emotionen auf einen Inhalt bzw. ein Objekt bezieht, sondern auf den Modus dieses Lebens. Sie bezeichnen das allgemeine Befinden – oder Stimmungen, wenn ein Befinden längerfristig andauert. Als Hintergrundempfindungen benennt Damasio etwa Ermüdung, Energie, Aufregung, Wohlsein, Krankheit, Spannung und Entspannung, Harmonie und Dissonanz. Und obwohl diese eher nach innen als nach außen gerichtet seien, können sie für andere etwa an der Körperhaltung, am Tonfall oder an der Ausrichtung der Bewegungen ablesbar sein.38 Die Berücksichtigung solcher Emotionen, die unauflöslich mit den elementaren Vorgängen des Lebens verbunden sind, hat auch im psychologischen Bereich große Beachtung gefunden. Der Entwicklungspsychologe Daniel Stern hat sie als ‚Vitalitätsaffekte‘ konzeptualisiert. Es handelt sich dabei um schwerbestimmbare Qualitäten des Erlebens, die sich eher mit dynamischen, kinetischen Begriffen charakterisieren ließen, wie ‚aufwallend‘, ‚verblassend‘, ‚flüchtig‘, explosionsartig‘ usw.. Während die regulären, kategorialen Affekte kommen und gehen, wirken diese unterschiedlichen Arten des Fühlens, die 36 Damasio 2002: S. 35 37 Vgl. zum somatosensorischen System ebd.: S. 182ff 38 Vgl. ebd.: 342ff

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durch lebenswichtige Vorgänge ausgelöst werden, die meiste Zeit auf den Organismus ein, und wir können uns ihnen nicht entziehen, ob sie nun bewußt sind oder nicht.39 Stern hat vor allem die Rolle der Vitalitätsaffekte für interpersonelle Austauschprozesse, insbesondere in bezug auf frühe Mutter-Kind-Interaktionen, hervorgehoben, wo sie als beständige Größe in der Affektabstimmung eingeflochten sind. Als Gegenstand von Abstimmungsakten sei Vitalität besonders geeignet, „weil sie aus amodalen Qualitäten, Intensität und Zeit, besteht, nahezu jedem Verhalten innewohnt und sich somit ununterbrochen (auch wenn sie Veränderungen unterliegt), zur Abstimmung anbietet.“40 Auf das kommunikative Gedächtnis bezogen, sind diese Erfahrungsaspekte im impliziten Gedächtnis gespeichert und wirksam. Diesen Gesichtpunkt der Wirksamkeit des Unbewußten in interpersonellen Austauschprozessen und über diese hinaus hat der Psychoanalytiker Christopher Bollas aus klinischer Perspektive ausgearbeitet und dafür den Ausdruck ‚unthought known‘ geprägt. Dieses ‚ungedacht Bekannte‘ ist eine Art ‚Körper-Gedächtnis‘ und verweist auf das nicht-verdrängte Unbewußte. Von dem Bewußten unterscheidet es sich durch den Symbolisierungsgrad: Nicht die Repräsentanz einer Erfahrung wird gespeichert, sondern die Erfahrung selbst, das Erleben des eigenen Platzes in der jeweiligen Konstellation. So würden Zustände des Selbst ‚konserviert‘, anstatt in Symbole gefaßt und der Reflexion zugänglich zu werden.41 Insofern es 39 Vgl. Stern 2000: S. 83f u. Damasio 2002: S. 344. Das Konzept der Vitalitätsaffekte geht auf die Philosophin Suzanne Langer zurück (vgl. ebd.). 40 Vgl. Stern 2000: S. 224. „Eine wechselseitige Abstimmung, die nur auf die kategorialen Affekte Bezug nähme, könnte sich als kontinuierlicher Prozeß also gar nicht entwickeln. Man kann nicht abwarten, bis eine diskrete, kategoriale Affektäußerung erfolgt, zum Beispiel Überraschung zum Ausdruck gebracht wird, um sich dann erneut aufeinander abzustimmen. Die Abstimmung macht eher den Eindruck eines ununterbrochenen Prozesses. Sie kann nicht darauf warten, bis diskrete Affekte zum Ausbruch gelangen; sie muß im Grunde bei jedem Verhalten funktionieren. Und darin liegt einer der großen Vorteile der Vitalitätsaffekte. Sie manifestieren sich im gesamten Verhalten und bieten sich deshalb fast ununterbrochen zur Abstimmung an. Entscheidend für die Vitalitätsaffekte ist nicht, welche Verhaltensweise gezeigt wird, sondern wie eine Verhaltensweise, wie das gesamte Verhalten überhaupt Ausdruck findet“ (ebd., Herv.i.O.). Von einem ‚Vorteil‘ kann Stern in diesem Zusammenhang deswegen sprechen, weil er das Verlangen, den Anderen zu erkennen und erkannt zu werden, als grundlegend betrachtet (vgl. ebd.: S. 181). In diesem Sinne stellen die Vitalitätsaffekte nach Stern beständige Orientierungsmittel in zwischenmenschlichen Beziehungen dar und liefern die Basis für das wie eine ununterbrochene Linie erscheinende ‚Gefühl der Verbundenheit‘: „Es orientiert sich an der Aktivierungskontur, die sich in jeder Sekunde im gesamten Verhalten abzeichnet, und benutzt diese Kontur, um den Faden des gemeinschaftlichen Erlebens nicht abreißen zu lassen“ (ebd.: S. 224). In diesem Kapitel ist aber auch und besonders der Bruch dieses Erlebens von Interesse. 41 Vgl. Bollas 1997: S. 58 u. S. 122ff. Solche in der Innenwelt gespeicherten Erfahrungs-Erinnerungen nennt Bollas ‚konservierendes Objekt‘. Wie relevant solche emotionalen Erinnerungen für Identitätsempfindungen sind, liest

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sich um prinzipiell nicht-reflexionsfähige Prägungen handelt, fällt das ungedacht Bekannte in den Bereich des oben erwähnten Priming, was bedeutet, daß der Lernvorgang selbst weder bewußt noch bewußtseinsfähig ist. Allerdings umfaßt das Priming dann nicht lediglich Konditionierungsprozesse, die über die kategorialen Affekte laufen, sondern bezieht die Vitalitätsaffekte mit ein. Es sind dann „jene Spuren von Erleben, die das Subjekt in seiner Totalität bestimmen, die gelebt werden, ohne erlebbar zu sein – weshalb sie auch nicht Gegenstand oder Inhalt unbewußter Phantasien werden können“,42 sich allerdings wie gesagt in Stimmungen, als eine Art Grundmelodie des Erlebens äußern können. Wenn auch unter den genannten Autoren Einigkeit herrscht über die identitätsstiftende Wirksamkeit des ‚unthought known‘ – oder eben der Hintergrundemotionen oder Vitalitätsaffekte –, so ist der Alteritätstheoretiker G.H. Seidler in bezug auf seine Beschaffenheit der Ansicht, daß es konzeptuell noch erweiterungsbedürftig sei, und zwar um die Einbeziehung der Wirksamkeit des Gegenübers. Von dem ‚funktionalen Unbewußten‘, das aus operativen Gründen unterhalb der Bewußtseinsschwelle operiert, ist die die Identität des Subjekts fundierende Unerforschlichkeit der Subjektivität des Gegenübers zu unterscheiden. Dies betrifft die zentrale These der Alteritätstheorie, daß die Subjektkonstituierung aus interaktionellen Akten wechselseitiger Wahrnehmung erfolgt, wobei der Hintergrund des Blickes des Wahrnehmenden uneinsehbar, epistemologisch unbewußt ist. In Damasios Worten: Wir werden niemals das Bewußtsein eines anderen erleben. Die Berechtigung dieser Erweiterung findet sich in der biologischen Beschaffenheit des Menschen selbst. Kehren wir also noch mal zu dem Ausgangspunkt zurück, von dem aus Damasio seine Erklärung der Phänomene Selbst, Bewußtsein und Gedächtnis entfaltet: dem Körper. Die Singularität des Selbst und das Gefühl der Subjektivität wurzeln in der Singularität eines Organismus: Ein Körper, eine Person. Der Geist, den ein Körper hervorbringt, dient diesem Körper, jegliche geistigen Funktionen entwickeln sich unter den vorgegeben Präferenzen, die der homöostatischen Regulation des Organismus dienen, und die Emotionen gehören zu diesem Regulierungsapparat des Organismus. Der Begriff Homöostase hat Bollas an der Eigentümlichkeit von Stimmungen ab, in denen sie zum Ausdruck kommen: „Eine Stimmung, die dazu dient, ein konservierendes Objekt freizusetzen und somit dem Erleben zugänglich zu machen, unterscheidet sich vom üblichen Affekterleben insofern, als das wahre Selbst hier einen ungewöhnlich großen Spielraum erhält, um sich zu zeigen. Das liegt genau daran, daß eine Stimmung ein dissoziatives Phänomen ist und daß wir uns gegenseitig das Recht zugestehen, nicht in ihr gestört zu werden. Trotzdem hat ein Mensch, den man in einer Stimmung antrifft, etwas Verletzliches an sich. Es ist, als seien wir Zeuge, wie er in unserem Beisein ein Element seines ‚Kerns‘ […] nach außen kehrt“ (ebd.: S. 124). Ich nehme an, daß Bollas hier mit dem ‚wahren Selbst‘ das nicht zugängliche Selbst jenseits des autobiographischen Selbst meint. 42 Seidler1995b: S. 99

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seine Berechtigung, insofern die körperlichen Vorgänge sich innerhalb eines bestimmten Spektrums abspielen müssen, um das Überleben zu gewährleisten. Dennoch hat der Begriff auch etwas Irreführendes, was das Menschenbild betrifft. Denn, wie Damasio selbst bemerkt, können nicht nur die Sollwerte in einem lebenden Organismus im Laufe seines Lebens Veränderungen unterworfen sein, sondern sie können auch durch den Kontext beeinflußt werden, in dem die Körpersensoren tätig werden.43 Der Biologe Steven Rose hat deswegen vorgeschlagen, statt Homöostase von Homöodynamik zu sprechen, um die Bezogenheit allen Lebens stärker zum Ausdruck zu bringen.44 Vor allem aber die spezifisch menschliche Affektivität, ihre individuums- und figurationsspezifische Ausgestaltung wird erst auf diese Weise zugänglich. Der von Damasio postulierte ‚Primat des Körpers‘ bedarf der Ergänzung durch die ‚Realität des Gegenübers‘. Mag das Gehirn das aufmerksame Publikum des Körpers sein, der das ‚Objekt‘ wahrnimmt, ist es das wahrnehmende ‚Objekt‘, das die ausschlaggebenden Emotionen hervorruft, die zur Entstehung von Selbst und Bewußtsein führen. Innerhalb der nicht-reflexiven Erinnerungen, die nach Welzer die am stärksten sozial präformierten darstellen, da sie der subjektiven Steuerung entzogen sind, bezieht sich das epistemologisch Unbewußte auf jene Erfahrungen, in denen sich das Subjekt aus interaktionellen Akten wechselseitiger Wahrnehmung jenseits des Inhaltlichen ‚formal‘ konstituiert. Das Menschenbild, das hier zugrunde liegt, ist mit dem Prinzip der ‚Bipersonalität‘ in der Intersubjektivitätstheorie treffend beschrieben. Bipersonalität bezieht sich nicht auf die Summe zweier Individuen und ist auch nicht als zusätzliche Qualität zu verstehen, sondern bezeichnet die basale Qualität der Personalität. Der zentrale Gedanke ist, „daß jede konkrete Setzung seitens des Einzelnen […] den Anderen in einem bestimmten Verhältnis zum eigenen Dasein bereits vorweggenommen [hat]. Eine objektive Sinneinheit ergibt sich demnach nur, wenn der Einzelne mit den Gegenakten des andern zusammen betrachtet wird, und dieses ‚Zusammensein‘ ist eine vorgängige bipersonale Bezogenheit, aus der heraus der Einzelne und seine Handlungsweise überhaupt erst verständlich gemacht werden muß.“45 Die Ausgestaltungen des Selbst sind in diesem Sinne Modalitäten dieser Bipersonalität, die ausschlaggebenden Emotionen, die an den Ausgestaltungsprozessen beteiligt sind, hat Seidler als ‚selbstreflexive Affekte‘ konzeptualisiert. Sie sind eng mit dem Konzept des Kernbewußtseins bei Damasio verwandt, beziehen sich allerdings speziell auf den zwischenmenschlichen Bereich. Kernbewußtsein sowie erweitertes Bewußtsein sind nach Damasio keine spezifisch menschlichen Phänomene.46 Auch wenn letzteres seine höheren Formen nur beim Menschen 43 44 45 46

Vgl. Damasio 1997: S. 172 Rose 2000: S. 32f u. S. 171-176 Christian, P./Haas, R., zitiert nach Seidler 1999: S. 57f Vgl. Damasio 2002: S. 29

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durch das besondere Gedächtnisvermögen und Sprache erreicht, kann man mit ‚Bewußtsein‘ allein das spezifisch Menschliche nicht erfassen. Das Bewußtsein sei dafür notwendig, aber nicht hinreichend: „Kurzum, das Bewußtsein ist ein großartiger Passierschein in die Zivilisation, aber nicht diese selbst.“47 Was bleibt, ist die Frage nach dem menschlichen Vermögen des Selbstbezugs und des Bezugs auf Andere, nach einem spezifischen Bewußtsein von sich und von Anderen, ist schließlich die Frage nach Struktur- und Gewissensbildung. Das Konzept der selbstreflexiven bzw. rückbezüglichen Affekte ‚Scham‘ und ‚Schuld‘ fokussiert diese Problematik. Sie umfaßt die Thematik basaler Erlebensweisen, die bei Prozessen der Struktur- und Gewissensbildung von Bedeutung sind und erlaubt die Erfassung unterschiedlicher Erlebens-, Wahrnehmungs-, und Beziehungsmodi sowie die Erarbeitung von Wandlungskriterien von Selbstbezug und äußerer Beziehung. Im Ergebnis werden die unterschiedlichen Modi des Selbstbezugs als Reflexivitätsniveaus gefaßt, die sich jeweils in der Beziehung darstellen. Wenn im folgenden anhand der Alteritätstheorie das Verständnis von Selbstbezug und Reflexivität als Ausgestaltung der Affektivität in Interdependenz mit dem Gegenüber aufgefaßt und erarbeitet wird, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß hier im Vergleich zur traditionellen Psychoanalyse – wie in der Selbstpsychologie Kohuts, die eine wichtige Vorläuferin der Alteritätstheorie darstellt – eine Fokusverschiebung stattgefunden hat von den sogenannten ödipalen zu präödipalen Strukturen, von inhaltlichen zu modalen Aspekten des Selbst. Das Verhältnis der beiden Aspekte läßt sich anhand der bisher unterschiedenen Affekte – kategoriale, selbstreflexive und Vitalitätsaffekte – aufschlüsseln. Jedem Objekt, jedem Inhalt entspricht ein kategorialer Affekt wie etwa Freude, Wut oder Angst. Die Vitalitätsaffekte betreffen den Modus und, um die Realität des Gegenübers erweitert, den konfigurationalen Aspekt des Selbst bzw. die Qualität der Organisation der Inhalte. Bei diesen qualitativ-formalen Aspekten handelt es sich um „Information über die basale ‚De-finition‘, über den 47 Ebd.: S. 372. „Man hat dem Bewußtsein alle Eigenschaften des menschlichen Geistes zugeschrieben, die wir für besonders hoch entwickelt und spezifisch menschlich halten – so die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, die Fähigkeit, die Bedürfnisse und Wünsche unserer Mitmenschen zu erkennen, und unser Empfinden für den Platz, den wir im Universum einnehmen. Diese Attribute haben das Bewußtsein unantastbar gemacht. Doch nach meiner Auffassung ermöglicht das Bewußtsein unserem Geist, all die Eigenschaften zu entwickeln, die wir so bewundern, es ist aber nicht die Essenz dieser Eigenschaften. Bewußtsein ist nicht Gewissen. Es ist nicht dasselbe wie Liebe, Ehre und Barmherzigkeit, wie Großzügigkeit und Altruismus, Poesie und Wissenschaft, Mathematik und technischer Erfindungsgeist. Auch sind moralische Verworfenheit, existenzielle Angst oder Mangel an Kreativität keine eingeschränkten Bewußtseinszustände. Das Bewußtsein der meisten Kriminellen ist nicht beeinträchtigt. Allenfalls ihr Gewissen“ (ebd.: S. 370, Herv.i.O., vgl. a. ebd.: S. 278).

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Rahmen und die Abgrenzung des Subjektes“.48 Beide Aspekte der psychischen Struktur, die qualitativ-formalen und die inhaltlichen, sind Niederschlag von Interaktionserfahrung, wobei Entstehung und Wandel von Struktur durch die selbstreflexiven Affekte vermittelt sind. Was hier also im Vordergrund steht, ist weniger die Be- und Verarbeitung von Inhalten, sondern die Bedingungen ihrer Möglichkeit und weiterhin die wirksamen feineren Prozeßmechanismen. In einer von Seidler angeführten Metapher formuliert: Das Geschehen auf der inneren Bühne selbst, wird nur peripher berührt, zentraler ist demgegenüber „die konfigurationale Entfaltung der Bühne überhaupt […] – im Bild gesprochen, die Herausbildung von Theaterpublikum, Vorhang, Bühnenboden und überhaupt, insgesamt, die Herausbildung der ganzen Bühne, nicht das dann gespielte Stück […]“.49 Das gespielte Stück wäre der zum Leben erweckte Inhalt, das autobiographische Selbst, die Bühne bezeichnet die Prozeßaspekte der Kommunikation, innerhalb derer sich das autobiographische Gedächtnis herausbildet und die Modalitäten des Selbst stellt. Im bisherigen Vokabular dieser Arbeit wurde die Bühne als Selbstebene, das gespielte Stück als Selbstwertebene bezeichnet.

b) Prozeßmechanismen der Selbstreflexivität „Zu sich selbst zurück kehrt der Mensch aber zumeist nicht von ‚Objekten‘, sondern von Subjekten, d.h. von Seinesgleichen.“50

Die Fokusverschiebung vom ‚gespielten Stück‘ auf die ‚Bühne‘ zielt auf eine Explizierung anthropologischer Grundannahmen der Psychoanalyse, welche die psychische Beschaffenheit und Reifung des Menschen betreffen. Die metaphorische Redeweise von ‚Internalisierung‘, die bei der Konzeptualisierung von Sozialisations- und Zivilisationsprozessen eine zentra48 Seidler 2001a: S. 195. Zur Parallele der Unterscheidung in formale und inhaltliche Charakteristika von psychischer Struktur bei Seidler und der Differenzierung in Vitalitätsaffekte und kategoriale Affekte bei Stern vgl. ebd.: S. 196. 49 Seidler 1999: S. 51. Vgl. zur Unterscheidung der präödipalen und ödipalen Strukturen bzw. der formalen und inhaltlichen Aspekte psychischer Struktur s.a. ebd.: S. 82, u. ders. 2001a: S. 195f. Natürlich sind diese beiden Aspekte nicht von einander zu trennen. Dieser Differenzierung komme eher eine logische und weniger eine erfahrungsnahe Bedeutung zu: „Bildet sich nämlich die Konfiguration des Selbstbezugs heraus, entfalten sich für das jeweilige Subjekt auch neue Möglichkeiten des Selbsterlebens – mit dem ‚Rahmen‘ entsteht der ‚Inhalt‘, mit der ‚Bühne‘ das Theaterstück, das auf ihr gespielt wird“ (Seidler 1999: S. 82). So sind Form und Rahmen ausschlaggebend dafür, inwiefern die Inhalte des Selbst verfügbar und Gegenstand der Selbstobjektivierung sein können. 50 K. Löwith, zit.n. Seidler 1999: S. 57

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le Rolle spielt, kann – wie oben schon ausgeführt – nicht tatsächlich als eine ‚Hereinnahme‘ von etwas gemeint sein, insofern es sich ja um die Bildung von Symbolen handelt, die Bezugsgegenstand und ‚Kommunikationsteilhaber‘ innerhalb psychischer Struktur werden. Seidlers Kritik des psychoanalytischen Internalisierungskonzeptes bezieht sich auf die konzeptuelle Vernachlässigung zweier Sachverhalte, nämlich des Bereiches der Beziehung, der dem in symbolisierter Form ablaufenden Geschehen zeitlich wie logisch vorausgeht sowie des Prozesses der Symbolisierung selbst: „Meine Kritik am bisherigen Internalisierungskonzept bezieht sich darauf, daß es reifungs- oder entwicklungspsychologisch ‚zu hoch‘ ansetzt und es kaum möglich erscheint, mit ihm das diskursiv zu erfassen, was Internalisierungsprozessen als Wirkungsgeschehen erstens vorausgeht und zweitens ihnen – in meinem eigenen Verständnis – als das Geschehen, in dem sich auf der Grundlage von prinzipiell unreflektierbarem, aus noch nicht oder nicht mehr reflektiertem Leben und Erleben Bedeutungsträger erst herausbilden, immer zugrunde liegt.“51

Die Entstehung von Symbolen als Bedeutungsträger innerhalb eines Prozeßgeschehens aus einem unreflektierten Vollzug von Leben und Erleben wurde im ersten Kapitel bereits anhand der Selbsttheorie Meads beschrieben. Der dort beschriebene Ablauf dieses Prozesses dient hier als Ausgangspunkt der Entfaltung und Vertiefung seiner Einzelaspekte und lautet aus alteritätstheoretischer Sicht wie folgt: „Wenn das Subjekt wahrnimmt, daß es seinerseits vom Blick des Gegenübers erfaßt und identifiziert wird, wird sein vordem nur gelebter, nicht-reflektierter, insofern bewußt-loser Erlebensvollzug angehalten, das Subjekt wird auf sich selber zurückverwiesen, und in seiner jetzt realisierten Wahrnehmung, wahrgenommen zu werden, entsteht sein Bild von sich selbst.“52

Beziehung Beziehung wird alteritätstheoretisch verstanden als Prozeß wechselseitigen Wahrnehmens. Was das Gegenüber wahrnimmt, ist – schematisch gesprochen – das präreflexive ‚Ich‘,53 womit die Summe von Instrumenten ge51 Seidler 1995b: S. 98, Herv.i.O. 52 Ebd.: S. 98, im Original hervorgehoben 53 Vgl. zum alteritätstheoretischen Ich-Verständnis s. Seidler 2001a: S. 158ff. Das Ich entspricht hier dem Meadschen ‚I‘. Es ist nicht wie im herkömmlichen psychoanalytischen Verständnis selbst Struktur, sondern als Realisationsprozessor der Wünsche des Subjekts strukturschaffend. Die Struktur ist dann das Verhältnis ‚ich-mich‘: „Während das Ich als ungedoppelter Realisationsprozessor die Intentionen des Subjektes in die Welt hinausträgt, ist das Selbst eine gedoppelte Struktur, die sich aus der Interaktion mit dem Anderen herausbildet“ (Seidler 2001a: S. 164).

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meint ist, mit denen das Subjekt intentional auf das Gegenüber zugeht. Während das Gegenüber aus einer Außenperspektive betrachtet, vorgegeben ist, konstituiert es sich subjektiv erst in diesem intentionalen Akt. Daß der Andere vom Subjekt überhaupt als solcher, als personales Gegenüber, identifiziert werden kann, ist nämlich an zwei Bedingungen geknüpft: „Er muß in einer Reihe von Merkmalen mit ihm übereinstimmen und in anderen im wahrsten Sinne des Wortes nicht-identifizierbar, fremd, nicht einholbar sein.“54 Ist der Andere nun ein personales Gegenüber, wird er sich vom Subjekt ein Bild machen, das dieses aus seinen Antworten rückübernimmt und zu dem sich sein Ich ins Verhältnis setzt: „[…] der Andere hat ihm einen Aspekt seiner Außenseite zugänglich gemacht, die ihm selbst verschlossen ist. Dieses ‚Bruchverhältnis‘: unreflektiertes Ich/zurückgeworfenes Bild des Ich durch den Anderen ist das ‚Selbst‘; es ist wahrnehmbar durch das weiterhin bestehende intentionale Ich, das sich dieses Selbst zum Objekt nehmen kann, wobei es sich allerdings, wenn es das tut, seinerseits verändert: Es bricht an einem Widerstand, es geht in ganz charakteristischer Weise mit diesem Selbst um. Dieser Prozeß kann wieder vom Anderen wahrgenommen werden, was erneut Gegenstand der Wahrnehmung durch das Ich des Subjektes sein kann, und es wird nicht versäumen, sich auch dieses Bild zu eigen zu machen.“55 Das vom Anderen zurückgeworfene Bild ist bereichert um assimilierbare Alterität, ist als Selbst Ich und Nicht-Ich in einem.56 Dies ist ein Modell von Beziehung als ein Basalverhältnis, in dem sich beide Teilhaber im Akt der Wahrnehmung wechselseitig ständig konstituieren: „Grundgedanke dieser Überlegungen ist, daß es sich bei den Phänomenen des Ich, des Selbst und ihrem Verhältnis zueinander nicht um statische, unveränderliche Gegebenheiten handelt, sondern realiter um wechselseitige Wahrnehmungsprozesse, wobei die Verschränkung von Ich und Anderem eine ständig neu sich konstituierende ist, ebenso wie die zwischen Ich und Selbst.“57

Die das Selbst konstituierende Wirkung des Anderen hat Seidler als den ‚Blick des Anderen‘ in seinem gleichnamigen Buch konzeptualisiert.58 Die 54 55 56 57 58

Seidler 2001a : S. 55 Ebd.: S. 55, Herv.i.O. Vgl. ebd.: S. 59 Ebd. Dieses Konzept des Blickes stammt von Sartre, das hier allerdings eine Weiterentwicklung erfährt. Der Blick ist schon bei Sartre nicht als Augenausdruck gemeint, sondern als die Summe der Merkmale des Anderen, die ihn als transzendentales, sich den Erfassungsmöglichkeiten des Subjekts entziehendes Bewußtsein ausmachen: „Soweit ich raum-zeitliches Objekt der Welt bin, soweit ich Wesenstruktur einer raum-zeitlichen Situation in der Welt bin, biete ich mich den Beurteilungen Anderer an“ (Sartre, zit. n. Seidler 2001a: S.53). Damit sind vor allem die objektivierenden Qualitäten des Blikkes angesprochen. Bei Seidlers Weiterentwicklung finden die Subjektivität

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Berechtigung dafür, das Verständnis der existenziellen Interdependenz der Menschen auf psychischer Ebene in Wahrnehmungsakten zu suchen, ergibt sich daraus, daß in jeglichen Austauschprozessen ja nicht die Bewußtseine der Menschen miteinander kontaktieren, sondern ihre ‚Bilder von …‘. Der Blick im hier gemeinten Sinne besteht in einem Basalverhältnis, das dadurch gekennzeichnet ist, „daß der Blickende, der das Erblickte als Objekt wahrnimmt, es als begrenztes erblickt und sein Blick insofern umfassender sein muß als das Erblickte […]“.59 Das Merkmal der Transzendenz des Blickes, der Nicht-Identität von Subjekt und Anderem, ist neben dem Merkmal der Übereinstimmung, der Subjekthaftigkeit beider, Bedingung der Möglichkeit der Alterierung.60 Der Wahrnehmungsvorgang ist gleichzeitig ein Bestätigungsvorgang, nicht in bezug auf ein Selbstwertgefühl, sondern kategorial als ein Bestätigungsvorgang im Sinne von ‚Wahrgebung‘.61 Mit der bestätigenden Funktion des Anderen unabdingbar verflochten ist seine begrenzende Funktion. Entsprechend den zwei Polen des Selbst ‚Ich‘ und ‚Anteile des Anderen‘ und den Merkmalen des Anderen ‚bestätigend‘ und ‚begrenzend‘ bewegt sich die ‚Antwort‘ des Anderen ebenfalls zwischen zwei Polen: Sein Blick kann qualitativ eher objektivierend, Nicht-Identität betonend, oder subjektivierend, Übereinstimmung betonend, sein. In der Begegnung mit beiden Extremen, mit der totalen Fremdheit und der totalen Identität, droht Selbstverlust.62 Es sind vor allem solche Grenzphänomene, die einen Zugang zur Bedingtheit des Selbstbezugs des Subjekts in der Wahrnehmung durch den Anderen ermöglichen: „Diese Gründung der Selbstwahrnehmung in der Wahrnehmung des Anderen ist also am ehesten zu erkennen, wenn sie mit dessen Fehlen, Nicht-Übereinstimmung oder Auslöschung durchsichtig wird: Sie schwindet, wenn der Andere schwindet.“63 Bevor ich auf die verschiedenen Beziehungsmodalitäten und die unterschiedlichen Möglichkeiten des Umgangs mit Alterität eingehe, ist die Frage zu klären, aufgrund welcher Eigentümlichkeit der Mensch zu einer Unterscheidung zwischen ‚vertraut‘

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des Objekts und die subjektivierenden Qualitäten eine konzeptuelle Würdigung. Die Verwendung der optischen Metaphern ist hier nicht mit einer prinzipiellen Höherbewertung visueller Wahrnehmung gleichzusetzen, ihnen kommt eher ein veranschaulichender Wert zu (vgl. ebd.: S. 96, Anm. 2). Seidler 2001a: S. 57 „Es geht bei der gemeinsamen Matrix zwischen Ich und Anderen nicht um ein abstraktes Humanum oder eine Partizipation an irgendwelchen Werten. Sondern das Bewußtsein des Subjektes und das Andere-Bewußtsein sind prinzipiell derselben Natur, aber ‚Ich‘ wird ein anderes, wenn es durch den Blick des Anderen zurückgegeben wird“ (ebd.: S. 56f). Der Begriff stammt von Till Bastian. Dieser schreibt diese Leistung allerdings einzig dem Auge zu. Das Auge sei das einzige Sinnesorgan, das passiv und aktiv zugleich sein kann, das wahrnehmen und mit dem Blick wahrgeben kann (vgl. Bastian 1998: S. 21). Vgl. Seidler 2001a: S. 68 ff Ebd.: S. 163

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und ‚fremd‘ in der Lage ist und welche Erlebensform dem Prozeß der Alterierung zugrunde liegt. Nach Seidler ist es durchaus plausibel, die Fähigkeit, ‚fremd‘ und ‚vertraut‘ diagnostisch zu differenzieren, als ein basales anthropologisches Radikal zu betrachten, als eine Unterscheidungsfähigkeit, deren Aktualisierung durch ein äußeres Ereignis, „eine ‚Grenze‘, eine Alterität, die sich jeder illusionären Vereinnahmung entzieht und die schlichtweg anders bleibt“,64 erfolgt, ein Beziehungsgeschehen, das er mit dem ‚Schamaffekt‘ konzeptualisiert hat. Geht mit dieser Annahme eine Überschätzung der angeborenen Fähigkeiten des Säuglings einher? Meines Erachtens liegt eine gewisse Fundierung dieser Annahme bereits in der Selbst- und Bewußtseinstheorie Damasios vor, insofern man diese Unterscheidungsfähigkeit als eine affektive auffaßt, als ein unmittelbares Erleben, das hier allerdings hinsichtlich seiner Qualität im zwischenmenschlichen Bereich präziser gedacht wird. Der Schamaffekt wäre dann ein genetisch angelegter somatischer Marker, der jedoch nicht wie Damasios angeborener Tendenzapparat hinsichtlich des physischen Überlebens ‚gut‘ und ‚böse‘ signalisiert, sondern auf basal psychischer Ebene im zwischenmenschlichen Bereich als Kernbewußtsein operiert oder dieses zumindest in der vertaut-fremdDiagnose bedingt. Soweit ich sehen kann, weisen auch die von dem Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologen Daniel N. Stern konzeptualisierten Ergebnisse aus der Säuglingsforschung über das Erleben des Säuglings in diese Richtung und können ebenfalls als eine Fundierung dieser Annahme gelesen werden. Über die frühen Fähigkeiten des Säuglings schreibt er: „Von Geburt an scheint es ein zentrales Bestreben zur Bildung und Prüfung von Hypothesen über das, was in der Welt geschieht zu geben […]. Säuglinge nehmen fortwährend ‚Einschätzungen‘ vor, indem sie sich fragen: ‚Ist dies anders als jenes, oder ist es dasselbe? Wie sehr weicht das, was mir eben begegnet ist, von dem ab, was mir früher begegnet ist?‘ […] Es ist klar, daß dieses zentrale innerliche Bestreben, wenn es sich fortwährend realisiert, die soziale Welt rasch nach übereinstimmenden und kontrastierenden Mustern, Ereignissen, Zusammenhängen und Erfahrungen kategorisieren wird.“65

Auf das frühe Erleben bezogen verwirft Stern darüber hinaus die Idee einer ‚primären Verschmelzung‘, welche frühe Erfahrungen meint, in denen keine eigenen Grenzen wahrgenommen werden, weil die Fähigkeit, zwischen Selbst und Anderem zu unterscheiden, noch nicht entwickelt ist. Jegliche solcher Erfahrungen, wie etwa ‚Einswerden‘ und Befriedigung von Sicherheitsbedürfnissen versteht er einfach als reales Erleben des Zusammenseins mit ‚das Selbst regulierenden Anderen‘, die die Selbstemp64 Ebd.: S. 42, vgl. a. ebd.: S. 50, Anm. 31 65 Stern 2000: S. 67

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findungen erheblich verändern. Das Selbstempfinden sei so zwar von der Anwesenheit und dem Handeln des Anderen abhängig, gehöre aber dennoch ganz und gar dem Selbst an: „Der Säugling hat die Realität adäquat repräsentiert.“66 Was also zuerst erfolgt, ist die Feststellung der physischen Getrenntheit von Selbst und Anderem als notwendige Vorbedingung dafür, daß subjektive Erlebnisse geteilt werden können. Hinzu kommt die Fähigkeit der intersubjektiven Bezogenheit, die Entdeckung des Säuglings, daß er ein ‚Seelenleben‘ besitzt und dies auch auf andere Personen zutrifft. Sowohl die sogenannten ‚Verschmelzungserfahrungen‘ als auch ‚Separation‘ und ‚Individuation‘ sind nach Stern erst aufgrund einer solchen ‚Theorie der getrennten und berührungsfähigen inneren Befindlichkeiten‘ möglich.67 Was in der Alteritätstheorie im Mittelpunkt steht, ist weniger die Erfahrung des ‚Zusammenseins‘, als vielmehr die Erfahrung des ‚Bruches‘, der beim präreflexiven, aber aktiven Bestreben seiner Herstellung einsetzt. Einen weiteren Beitrag in diesem Zusammenhang können Sterns Ausführungen zum folgenden Problem liefern: Wir postulieren mit der Alteritätstheorie einerseits den Blick als die ‚affizierenden‘ Merkmale des Anderen, andererseits ein unmittelbares affektives Erleben des Subjekts, das durch diese ‚Antwort‘ des Anderen entsteht. Bei der Beschreibung der Merkmale des Anderen bleiben wir recht unspezifisch, wir haben als solche Übereinstimmung und Nicht-Identität genannt, die beide erst aus der jeweiligen Beziehung heraus zu solchen werden. Auch wenn der visuellen Wahrnehmung gewissermaßen ein besonderer Stellenwert zuzukommen scheint, ist der Blick nicht an einen spezifischen Wahrnehmungsmodus gebunden. Überdies scheint die Affizierung in diesem Fall eher im Bereich der Vitalitätsaffekte angesiedelt, für die im Unterschied zu den Grundaffekten keine spezifischen Programme angelegt sind. Dennoch ist die Beschreibung des resultierenden Affekts recht spezifisch: Es ist das Erleben einer selbstbezogenen Grenze, die Manifestation einer Schnittstelle zwischen ‚vertraut‘ und ‚fremd‘. Wie ist der Weg vom einen zum anderen, vom Blick zum Affekt möglich? Einen ersten Anhaltspunkt bieten bestimmte Wahrnehmungsmechanismen, die als ‚amodale Wahrnehmung‘ bezeichnet werden, die angeborene, generelle Fähigkeit, in einer bestimmten Sinnesmodalität aufgenommene Informationen, in eine andere Sinnesmodalität übersetzen zu können. Dieser Transfer könnte über eine Enkodierung in ‚abstrakte‘, an keine Sinnesmodalität gebundene Repräsentationen laufen, bei denen es sich eher um ‚globale‘ Merkmale des Erlebens 66 Ebd.: S. 153. Das Konzept der ‚primären‘ Verschmelzungserfahrungen sei historisch von der Beobachtung der ‚sekundären‘ Verschmelzungserfahrungen inspiriert, in dem Sinne, daß spätere Verschmelzungsgefühle als eine Regression auf eine frühe Phase der Undifferenziertheit mit entsprechendem Verschmelzungserleben gedeutet wurden. So war das Konzept der primären Ungeschiedenheit nach Stern eine pathomorphe, retrospektive und sekundäre Konzeptualisierung (vgl. ebd.: S. 152f, Anm. 1). 67 Vgl. ebd.: 179ff

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handelt wie Intensitätsgrade und Zeitmuster. Solche amodalen Eigenschaften wären dann eine Art gemeinsame ‚Währung‘, die u.a. bei Abstimmungsverhalten im Bereich der Vitalitätsaffekte eine Rolle spielen.68 Ein anderer hilfreicher Hinweis in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß Menschen dazu neigen, Wahrnehmungsqualitäten in Gefühlsqualitäten zu übersetzen, vor allem, wenn diese Qualitäten dem Verhalten eines anderen Menschen angehören. Auch dieser interpersonale Transfer läuft über eine Art gemeinsamer Währung: „Die analoge Übersetzung der Wahrnehmungen, die wir am Verhalten eines anderen Menschen machen, in Gefühle erfordert die über den crossmodalen Transfer erfolgende Umwandlung der Wahrnehmung von Zeitmuster, Intensität und Gestalt in Vitalitätsaffekte, die wir in uns selbst empfinden.“69 Damit sind einige allgemeine menschliche Fähigkeiten und Eigentümlichkeiten beschrieben, die beim Schamaffekt eine Rolle spielen mögen, sein Auftreten und seine Dynamik bleiben allerdings nur über den Ablauf des Beziehungsprozesses nachvollziehbar. Der Schamaffekt ist nun kein Vitalitätsaffekt, oder vielleicht kann man sagen ein spezieller Vitalitätsaffekt. Vitalitätsaffekte betreffen eher das präreflexive Sein und dessen Modus, der Schamaffekt betrifft das selbstreflexive Sein und die Grenzen des Selbst. Und während schließlich Vitalitätsaffekte Modus und Gegenstand der Affektabstimmung darstellen, tritt der Schamaffekt im Akt der Alterierung auf, man könnte sagen dann, wenn die Abstimmung, die intendierte Übereinstimmung nicht funktioniert. Das Beziehungsgeschehen der Scham hat Seidler als ein ‚Triangulierungsgeschehen‘ beschrieben. Ausgangspunkt ist zunächst das Subjekt, dessen Ich in der wunschhaften Ausrichtung auf ein Ziel zum Ausdruck kommt. Insofern das innere Bild des Zieles und Ziel übereinstimmen, spricht Seidler hier von ‚intendierter Übereinstimmung‘ mit dem Gegenüber, die dem Schamerleben vorausgeht. In der Begegnung mit dem realen Ziel, kommt es zu einem Bruch, zu einer Inkongruenz zwischen dem inneren Bild des Zieles und seiner äußeren Realität. Die Realität des Gegenübers veranlaßt das Subjekt zur Rückwendung auf sich selbst ‚wie die Fingerkuppe den Schneckenfühler‘. Dieses Geschehen besteht somit aus zwei entscheidenden Schritten, der Einnahme der Position des Gegenübers und die erneute Einnahme der Ausgangsposition, und drei relevanten Elementen, das Schamsubjekt, das intendierte Ziel und das reale Ziel. Die Scham ist zunächst jenseits aller Wertzuschreibung das affektive Erleben des Bru68 Vgl. ebd.: S. 74ff, S. 87f, S. 217f 69 Vgl. ebd.: S. 225ff. Ein Beispiel für eine solche Übersetzung von Wahrnehmungsqualität in Gefühlsqualität: „Wenn […] jemand eine Armbewegung macht, registrieren wir als Wahrnehmungsqualitäten die rasche Beschleunigung, die Geschwindigkeit und die Breite der Darbietung. Wir werden die Bewegung aber nicht in bezug auf die Qualitäten Zeitmuster, Intensität und Gestalt wahrnehmen; wir erleben sie ganz unmittelbar als ‚heftig‘ – das heißt, als Vitalitätsaffekt“ (ebd.: S. 225).

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ches, sie stellt sozusagen eine ‚Wirklichkeitsdiagnose‘: „Fremdes wird als solches identifiziert, und gleichzeitig erhält der erlebende Subjektpol eine ihn kohärierende Besetzung.“70 In diesem Sinne stellt der Schamaffekt ein Grenzsignal dar, wobei die Konstituierung der Grenze an die Realität des Gegenübers gebunden ist. Das der Scham zugrundeliegende Triangulierungsgeschehen meint, daß das Subjekt im Prozeßverlauf dieses Affekts mit seiner ‚Ich-Haftigkeit‘ unterschiedliche Positionen wechselnd besetzt. Nach der Rückübernahme des Blickes manifestiert sich die vom Anderen konstituierte Grenze innerhalb der Person zwischen Ich und Selbst, wobei der Schamaffekt weiterhin ihr ‚Wächter‘ bleibt. Indem sich das Ich dieses Selbst zum Objekt nimmt, entsteht Selbstreflexivität: Das Subjekt hat ein Wissen darum, wie die eigene Person aus einer Außenperspektive wahrgenommen wird. Insofern dieses Wissen nicht nur ein Wissen von sich ist, sondern auch ein Wissen vom Anderen ist, – es ist ein ‚Wissen-von-sichbeim-Anderen‘ –, kann man von Gewissen sprechen. Das Verhältnis von Scham und Gewissen soll im nächsten Abschnitt anhand der beiden Affekte Scham und Schuld und deren Verhältnis zueinander geklärt werden.

Die selbstreflexiven Affekte Aus der bisherigen Affektforschung bekannt ist die Unterscheidung der sogenannten it-emotions, auch Primäraffekte genannt, und me-emotions, die selbstreferentielle Affekte meinen. So bezeichnen nach Krause erstere diejenigen Emotionen, die durch visuelle eindeutige Signale repräsentiert sind und somit der Beziehungsregulierung dienen können, wobei die selbstreflexiven me-emotions und solche, die der inneren Steuerung des Denkens und Handelns dienen, nicht von ihnen erfaßt werden.71 Eine solche Dichotomisierung ist Ausdruck einer tendenziell monadologischen Denkweise, zumindest zeugt sie aus Seidlers Sicht von der sprachlichen Problematik, wirkliche Beziehungsgestalten auszudrücken, die der gleichzeitigen Subjektivität und Objektivität beider Beziehungspartner Rechnung tragen. Entgegen der oben angeführten Definition betont Seidler gerade die Relevanz selbstreflexiver Affekte auch für die äußere Beziehungsregulierung. Der Unterschied zu den Primäraffekten bestehe vielmehr darin, „daß die selbstreflexiven Emotionen Ausdruck einer weiteren, zusätzlichen Beziehungsschleife sind und sie erst nach deren Durchlaufen der äußeren Beziehungsregulierung dienen, wobei diese innere Schleife Niederschlag einer ursprünglich einem äußeren Gegenüber geltenden Beziehungslinie ist.“72 Aufgrund der Ubiquität und Relevanz einer Fülle von Affekten im Alltag und im klinischen Bereich, die jenseits der postulierten Grundaffekte liegen, beklagt Seidler zudem ihre bisherige Unerforschtheit 70 Seidler 2001a: S. 43, vgl. zum Triangulierungsgeschehen u.a. ebd.: S. 39 71 Vgl. Krause 1998: S. 29 72 Seidler 2001a: S. 149

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und wirft die Frage auf, ob diese als ‚sekundäre‘, abgeleitete oder zusammengesetzte verstanden werden sollten oder nicht „ihrerseits wieder als humanspezifisch, ‚fundamental in their own right‘ zu konzeptualisieren sind […]“.73 Hier jedenfalls gehen wir mit Seidler davon aus, daß Scham und Schuld basale Erlebensformen darstellen, die den Bruch der Übereinstimmung affektiv begleiten, und darüber hinaus trotz ihrer stark figurationsspezifischen Formbarkeit nicht nur als anthropologische Konstanten zu betrachten sind, sondern zugleich diese Formbarkeit ermöglichen. Seidlers Kritik des herkömmlichen Scham-Konzepts, die im übrigen auch weitgehend für den zivilisationstheoretischen Schambegriff geltend gemacht werden kann, betrifft drei Aspekte. Die erste Differenz betrifft das Verhältnis von Scham und seelischer Struktur. Im herkömmlichen Verständnis wird das Über-Ich als Voraussetzung der Scham gedacht. Im alteritätstheoretischen Verständnis aber „sind die seelischen Strukturen nicht Voraussetzung, sondern sich immer wieder aufs neue konfigurierende Konsequenzen des Schamerlebens.“74 Zweitens erscheine die Sichtweise der Scham als negativer Affekt nach zwei Seiten hin als zu eng: „Sie berücksichtigt einerseits nicht das Erleben des Schamaffektes in einer Situation der Belobigung, und macht es andererseits schwer, den Schmerz und das Vernichtende der ‚Pein‘ hinreichend zu plausibilisieren.“75 Und schließlich würde oft vorausgesetzt, was unter Scham zu verstehen sei und auf eine intrinsische Untersuchung der Beziehungsstruktur dieses Affektes verzichtet. Behandelt man den Affekt als eine Entität, die man zu anderen Entitäten in Beziehung setzen kann, entfällt die dem Prozeßgeschehen der Scham inhärente Rückbezüglichkeit und sie wird im Bereich der Selbstentwertung angesiedelt und eben nicht der Selbstreflexivität. Wie kann man aber die ubiquitäre Verknüpfung der Scham mit negativer Beurteilung im Alltäglichen und Theoretischen einerseits und die Schmerzlichkeit der Scham selbst andererseits erfassen? Die Schmerzlichkeit der Scham selbst ist zunächst im alteritätstheoretischen Verständnis „nicht affektive Antwort auf die Wahrnehmung einer Wertzuschreibung oder Ausdruck ihrer Verarbeitung, sondern resultiert aus dem unmittelbaren Beziehungsgeschehen selbst, aus der Begegnung mit einer nicht erwarteten Objektalität, aus dem Rückschlag der unbefangenen Initiative des Subjektes […]“.76 So ist zu verstehen, daß nicht nur in 73 Seidler 2001c: S. 45. „Aus der Fülle derartiger klinisch relevanter Affekte seien nur Empörung, Entrüstung, Verzweiflung, Groll, Häme, Resignation, Hoffnung, Dankbarkeit, Schuld und unerfüllbare Sehnsuchtsverliebtheit genannt sowie […] Scham und Neid“ (ebd.: S. 45). 74 Seidler 1997: S. 132, Herv.i.O.. Seine Kritik an aktuellen Schamtheorien hat Seidler paradigmatisch in Auseinandersetzung mit Wurmsers (1993) Schamkonzept entfaltet (vgl. u.a. Seidler 2001a: S. 41 u. S. 110f). 75 Seidler 1997: S. 132, Herv.i.O. 76 Ebd.: S. 139f, Herv.i.O. Als einziger Autor, der die Scham jenseits von Wertzuschreibungen verortet habe, ist nach Seidler Sartre zu nennen. „Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieser oder jener tadelnswerte Gegenstand

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Situationen der Verachtung oder Degradierung, sondern auch in solchen der Belobigung Schamerleben einsetzt: „Nicht der Inhalt einer Wertung ist konstitutiv für die Scham, sondern der Akt der Wertung selbst als Objektivierung.“77 Diese Situation der Begegnung mit dem Unvertrauten, Fremden, die Seidler als ‚Verworfenheit‘ bezeichnet, ist auch als Genesesituation jenes Erlebens zu betrachten, aus dem sich der Schuldaffekt entwickelt. Der Begriff bezeichnet einerseits objektiv eine nicht mehr bestehende Bruchlosigkeit oder verloren gegangene Übereinstimmung, was der Schamaffekt signalisiert, andererseits auf Seiten des Subjekts ein ‚Gefühl der Verworfenheit‘, das gleichzeitig den Eintritt des ‚Bösen‘ darstellt. Die Grundannahme ist, daß in jeder durch Objektalität gekennzeichneten Beziehung auf Seiten des Subjekts eine solche affektive Grundtönung vorhanden ist, auch wenn sie nicht manifest erlebt wird. Das Böse entsteht sozusagen durch die Verknüpfung der eigenen Intentionalität, die ja Ausgangspunkt des Beziehungsgeschehens war, mit dem entstandenen Bruch: „Während die Schamsituation passiv erfahren wird, ergibt sich das Erleben, etwas ‚Böses‘ angestellt zu haben, als Ergebnis einer Kausalitäts-(selbst-)zuschreibung durch das interpretierende Subjekt. Den entstandenen Bruch einer Übereinstimmung bezieht nämlich das Subjekt auf eine eigene aktive Handlung und verknüpft mit ihr das nachfolgende Erleben: ‚Ich habe etwas gemacht‘ Æ ‚Ich habe etwas kaputt gemacht‘ Æ ‚Ich habe etwas angerichtet‘.“78

zu sein; sondern überhaupt ein Gegenstand zu sein, das heißt, mich in jenem degradierten, abhängigen und starr gewordenen Gegenstand, der ich für andere geworden bin, wiederzuerkennen. Die Scham ist das Gefühl des Sündenfalles, nicht deshalb, weil ich diesen oder jenen Fehler begangen hätte, sondern einfach deshalb, weil ich in die Welt ‚gefallen‘ bin, mitten in die Dinge hinein, und weil ich der Vermittlung des Anderen bedarf, um zu sein, was ich bin“ (Sartre, zit.n. Seidler ebd.: S. 139). Angesichts dieser Beschreibung, stellt sich allerdings die Frage, inwiefern zeit- und gesellschaftsspezifische Empfindensmuster in diese Definition stellenweise stark bestimmend wirken. Die Objektivierung seitens des Anderen ist in dieser Definition zwar wertfrei gedacht, aber die Gleichsetzung von ‚Objektivierung‘ und ‚Degradierung‘ im Fühlen der Objektivierung zeugt doch von einem spezifischen Verhältnis zu und einer spezifischen Erfahrung von Macht und Abhängigkeit, die nicht ohne weiteres als anthropologisch gegeben gedacht werden können. Ein anderer Autor, der aus dem oben beschriebenen Schamverständnis herausfällt ist Max Scheler, der davon ausgeht, daß sich die mit der Rückbeugung einhergehende Scham auf etwas Wertvolles bezöge. Während das bei Sartre zum Ausdruck gebrachte Empfinden der Scham eher einem individualisierteren Habitus entspricht, ist Schelers Schamvorstellung als positiver Wert in weniger individualisierteren Gesellschaften alltäglich: Dort existiert sie ‚neben‘ jener Scham, die aus Schande und Unehre resultiert und negativ ist, durchaus als soziale Tugend. Zum Verhältnis der Schamkonzepte von Scheler, Sartre und Seidler s. nächstes Kapitel. 77 Ebd.: S. 140, Herv.i.O. 78 Seidler 2001a: S. 333

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Streng genommen, meint Seidler, müßte man im Falle des Schuldaffektes eher von einem ‚rückbezüglichen‘ statt selbstreflexiven Affekt sprechen, „weil sich das Merkmal des Bösen auf die Aktivität – und/oder auf eine Tat – und nicht auf das Subjekt als ganzes richtet […]“.79 So gesehen ist jedenfalls weder die Scham Vorläufer der Schuld, im Sinne einer Frühform in der Reifungsfolge, noch sind Schuld und Scham bereits Ausdruck einer ausgereiften Struktur in Form des ‚Über-Ich‘. Sie können als Zwillingsgeschwister angesehen werden, wobei die Scham eher als Voraussetzung der Schuld betrachtet werden kann. Sie werden immer dann angestoßen, „wenn eine auf Übereinstimmung abzielende Intention an einem so nicht erwarteten Gegenüber gebrochen und auf ihren Ursprung zurückverwiesen wird.“80 Mit dieser Situation nimmt die Entwicklungslinie der Scham unmittelbar ihren Ausgangspunkt, während hinsichtlich der Schuld mit dem Gefühl der Verworfenheit lediglich der affektive Kristallisationspunkt entsteht. Dabei ist das Verhältnis so bestimmt, daß es ohne den Schamaffekt nicht zum Schuldaffekt kommen kann.81 Während also jedem Objekt ein korrespondierender Affekt entspricht, kommt der Scham als affektiver Widerschein von Eigenem und NichtEigenem bei der Herausbildung des Wissens vom eigenen Selbst als Selbstbewußtheit und als Gewissen – und somit prinzipiell bei der Aneignung der sozialen Realität und dem Umgang mit dieser – eine zentrale Position zu. Der Schamaffekt ist ständiger Begleiter des Selbstprozesses, in 79 Ebd.: S. 331 80 Ebd.: S. 337 81 Mit dieser Richtungsweisung in der Konzeptualisierung der selbstreflexiven Affekte versucht Seidler den Unzulänglichkeiten der klassischen Position zu diesem Thema Rechnung zu tragen. Denn obwohl die Schuldthematik, ob nun berechtigterweise oder nicht, eine überragende Rolle in der Psychoanalyse gespielt hat, ist dem Schulderleben selbst und den Implikationen des psychoanalytischen Persönlichkeitsmodells wenig Beachtung geschenkt worden. Die Fragen, die zur Umorientierung Anlaß geben, betreffen das Fundament dieses Persönlichkeitsmodells: „Ist es wirklich klinisch zutreffend, nur den Menschen eine Erlebnisfähigkeit für ‚Schuld‘ zuzuschreiben, die psychodynamisch einen ‚inneren Konflikt‘ zwischen Über-Ich und Ich […] ausgestalten können? Ist es wirklich gerechtfertigt, den Schuldaffekt konzeptuell derartig eng an intrapsychische Strukturen zu koppeln und eine mögliche interaktive Dimension von vornherein aus der klinischen Betrachtung, der Theoriebildung und der empirischen Forschung auszuschließen? Liegt hier nicht eine normativ-normierende Verengung der Perspektive vor, die eine bestimmte Ausgestaltungsform des Schuldaffektes als für die Theoriebildung allein gültig erklärt? Und: Wie ist denn eigentlich vorzustellen, daß ein Verbot sexueller und aggressiver Impulse zum Erleben der Schuld führt, wenn man nicht auf ein etwas schlichtes Modell von Verhaltenskonditionierung zurückgreifen will, das im übrigen das ‚Sich-als-Böse-Erleben‘ auch nicht plausibilisieren kann? Und weiter: Kann diese Position die hier relevante Gretchenfrage beantworten, nämlich die: Wo kommt das Böse her?“ (Seidler 2001a: S. 331). Die Berechtigung der Dominanz der Schuldthematik hat Seidler anhand des Mythos ‚Ödipus‘ selbst überprüft (dazu s. ebd.: Kap. 5.3.: „Einsicht, Scham und Schuld im Ödipus-Stoff“).

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dem „beziehungstheoretisch in und mit jedem Augenblick die Konfiguration des Selbst neu zur Disposition steht, jeder wechselseitige ‚Augenblick‘ eine erneute Definition des Selbst geschehen läßt, natürlich auf der Summe aller bisherigen Alteritätserfahrungen.“82 Von der Wirkungsweise des Schamaffekts hängt sowohl der Lernprozeß, die Alterierung ab, als auch die Bewahrung der Kontinuität, nämlich daß (bzw. ob) eine grundsätzliche Infragestellung des Konsolidierten nicht realisiert wird, was in der Regel der Fall ist. In diesem Sinne bezeichnet Seidler die Verfügbarkeit des Schamaffekts als ‚intra- und interpersonelles Regulationskriterium für Beziehungen‘. Daß die Scham trotz der hier postulierten Allgegenwart ihrer Wirkung uns nicht beständig begegnet, liegt u.a. daran, daß sie üblicherweise als still im Verborgenen wirkender ‚Takt‘ fungiert: „‚Takt‘ leitet sich vom lateinischen ‚tangere‘ her, in der Bedeutung: berühren, rühren, erreichen, angrenzen. Gemeint ist die durch Empathie geprüfte Wahrnehmung der Kränkbarkeitsgrenzen des Anderen, wenn sie darüber hinaus respektiert werden können. […] Es geht […] um die Fähigkeit, die Beurteilung für Fremdes, Störendes, Unpassendes mit jemand anderem teilen zu können, also um eine triangulierte Konfiguration der Gemeinsamkeit in Differenz. – ‚Kon-takt‘ gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang: Sind beide Teilhaber einer Beziehung, takt-voll, sind sie ‚zusammen im Takt‘ – und, wie sich noch hinzufügen ließe, als Individuen natürlich auch unterscheidbar und voneinander getrennt.“83

Die ‚triangulierte Gemeinsamkeit in Differenz‘ bedeutet, daß eine symbolisch repräsentierte Grenze unter Vorbehalt des Getrenntseins der Individuen geteilt wird: Durch Interaktionserfahrungen angeeignete Grenzen sind erlebbar und können in Anwesenheit Anderer aufrechterhalten werden. Insofern das noch nicht sicher symbolisch repräsentierte ‚Gelände‘ durch punktuelle Überschreitungen ‚erkundet‘ wird, wirkt die Scham als Signalaffekt: „Das Schamsubjekt hat mehr oder etwas anderes gezeigt, als es der – vermeintlichen – Übereinstimmung der Normen der Teilhaber der Beziehung angemessen gewesen wäre. Die Beurteilung kann dabei entweder allein auf seiten des Schamsubjektes selbst liegen oder auch dem Gegenüber zugeschrieben werden – das Entscheidende ist der Bruch der Übereinstimmung in ihrer subjektiven Wirksamkeit. In solchen Situationen tritt die Scham aus ihrer sonst stillen Wirkungsweise heraus und macht retrospektiv auf eine Grenzverletzung aufmerksam.“84

Steht der Schamaffekt nicht in dieser Weise intra- und interpersonell beziehungsregulierend zur Verfügung, so kann dies nach Seidler damit in Zusammenhang stehen, daß bestimmte Triangulierungsschritte nicht reali82 Ebd.: S. 77, Herv.i.O. 83 Ebd.: S. 263f 84 Ebd.: S. 264

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siert werden konnten. Die Nichtverfügbarkeit dieses Affektes kann sich dann in zwei Grundmustern äußern: Ausfall der Scham und Hypertrophie der Schamreaktionen.85 Die ‚grundsätzliche Infragestellung des Konsolidierten‘ wird hier entweder im Hinblick auf das Subjekt oder sein Gegenüber realisiert. Die Schamdynamiken werden uns in Zusammenhang mit den Reifungskriterien weiter beschäftigen. Hinsichtlich des Schuldaffekts, der hier zunächst die affektiv-kognitive Interpretation der Aktivität des Subjekts ist, bleibt die Kopplung dieses Erlebens, ‚etwas angestellt zu haben‘, an Aktivität erhalten, als ‚Basisschuldgefühl‘ oder höherstufig als Gefühl der Verantwortung für die eigenen Aktionen.86 Durch den Versuch nämlich, durch weitere Aktivität ‚das böse Gefühl‘ aus der Welt zu schaffen, wird paradoxerweise das Gegenteil erreicht: „In interaktionellen Akten, über die Antwort des Gegenübers: ‚Du tust mir weh!‘ manifestiert sich gerade das ‚böse Gefühl‘, was aber nachfolgend die Gelegenheit bietet, es in der Regie des Subjektes zu regulieren. Damit wird ein basales Schulderleben höherstufig und handhabbar.“87 Hier ist der Andere nicht mehr nur in seiner ‚Andersheit‘ wirksam, sondern nimmt personale Gestalt an: Außer der Begegnung mit dem Fremden gibt es das Aufeinanderprallen des Willens des Einen mit dem vom Anderen. Durch die Rückübernahme der kognitiv-affektiven Antworten des Gegenübers entsteht die Ver-antwortung, eine dialogische Struktur und ein Prozeßgeschehen innerer Zwiesprache. Der Niederschlag der gesamten Erfahrungen um die eigenen Spuren beim Anderen ist dann das Gewissen. Dieses ist somit nicht lediglich eine innere psychische Funktion, sondern besitzt eine interaktive Dimension: „‚Gewissen‘ hat etwas zu tun mit Beziehungsfähigkeit, mit dem Wissen um die Spuren der eigenen Person beim Anderen, damit mit Empathiefähigkeit und – insofern auch die aktive Wahrnehmung des Anderen betroffen ist – mit basaler Schamfähigkeit.“88 Zusammenfassend kann man festhalten, daß während die Grundaffekte als Ausdruck einer intendierten Beziehungsveränderung, von Wünschen hinsichtlich des weiteren Beziehungsverlaufs, betrachtet werden können, die selbstreflexiven Affekte, obwohl auch mit ihnen solche ‚Beziehungswünsche‘ einhergehen können – etwa bei der Scham, durch ‚im Boden versinken‘ oder Blickabwendung die aktuelle Beziehung zu beenden bzw. zu bestimmen, oder bei der Schuld, die ‚verlorengegangene Übereinstimmung‘ wiederherzustellen –, in erster Linie der Realität eines vergangenen oder aktuellen Gegenübers Rechnung tragen; sie signalisieren bereits eine Beziehungsveränderung und lassen diese in der weiteren Beziehung wirksam werden. In diesem Sinne kann man weiter festhalten, daß die Regulierung der nichtreflexiven Affekte, die bei Elias als ‚Selbst-‘ bzw. ‚Affektkontrolle‘ bezeichnet wird, grundlegend 85 86 87 88

Ebd.: S. 264ff Vgl. ebd.: S. 333 Ebd.: S. 335 Ebd.: S. 85

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von der jeweiligen Schamdynamik bestimmt ist. Dieser Zusammenhang bleibt im nächsten Teil zu spezifizieren. Im nächsten Abschnitt soll es zunächst darum gehen, wie aus dem Übergang von Intentionalität zur Reflexivität über die äußere Beziehungsschleife die unterschiedlichen Selbstbeziehungsformen entstehen, die gewöhnlich mit ‚Selbst‘, Ich-Ideal‘ und ‚Über-Ich‘ benannt werden.

Selbstbeziehungsformen Die Genese des Selbst als reflexive Struktur ist an das Aufeinanderfolgen zweier Erlebensweisen gebunden: Der Intentionalität als Ausgangspunkt der Alterierung entspricht die Sach-Bewußtheit, die affekttheoretisch den it-emotions zugeordnet werden kann; durch die Unterbrechung dieser präreflexiven Erlebensweise durch eine wahrnehmende Alterität entwickelt das Subjekt eine Wahrnehmung für sein Sach-Bewußtsein. Wird dieses präreflexive Selbst Gegenstand des Bewußtseins, konstituiert es Selbstbewußtheit.89 Diese nun angeeignete, vorher interaktionell außen lokalisierte Selbst-Wahrnehmung bezeichnet Seidler als ‚reale Selbstbeziehung‘. Um es noch einmal hervorzuheben: Es handelt sich dabei nicht um eine einmal erworbene und dann verfügbare Fähigkeit, „sondern um ein fortlaufendes interaktionelles Austauschgeschehen, das prinzipiell jeden zwischenmenschlichen Wahrnehmungsakt kennzeichnet. Der Set, das Ensemble der Informationen über die eigene Person beim Gegenüber wird ständig, in jeder Begegnung mit dem Anderen, dem Fremden, aktiviert, aktualisiert und 89 Vgl. u.a. ebd.: S. 171. Den zwei Erlebnisweisen ‚Sachbewußtheit‘ und ‚Selbstbewußtheit‘ entsprechen zwei Linien des Zeiterlebens: Die ‚Zeit der Wunscherfüllung‘, die als Erleben der Intentionalität zugrunde liegt, und die ‚Zeit der Endlichkeit‘, die durch das Objektiviert-Werden, durch die Begegnung mit Alterität erfahren wird. Diesen Erlebnisweisen entsprechen unterschiedliche Modalitäten des Selbstverhältnisses, die an den psychischen Phänomenen ‚Nach-denken‘ und ‚Sich-Erinnern‘ veranschaulicht werden können. Das Nach-denken ist gekennzeichnet durch eine zeitliche Wiederholungsschleife außerhalb der realen Zeit und dadurch, daß die nach-denkende Suchbewegung nach außen gerichtet ist, auf einen Sachverhalt oder eine Lösung. Das Sich-Erinnern dagegen ist als die Reihe Jetzt-Damals-Jetzt trianguliert und betrifft den Binnenraum des Subjekts. Weiter wird das SichErinnern anhand der Treppenhaus-Metapher charakterisiert: „Das Subjekt bewegt sich innerhalb seiner persönlichen Geschichte, in seinem nur ihm zugänglichen Treppenhaus. Es kann aber auf den einzelnen Etagen haltmachen und feststellen, wo die Nachbarn wohnen und sich so lokalisieren“ (ebd.: S. 13). Im Unterschied zum Nach-denken hat das Sich-Erinnern einen Ursprung und ist vektorartig darstellbar. Der Vektorhaftigkeit der Erinnerung entspricht, daß in der subjektiven, dem Erleben zugänglichen Dimension das Erkennen von Bedeutung unumkehrbar ist: „Jemand, der die zwei Figuren in einem Vexierbild identifiziert hat, sei nicht mehr imstande, an dasselbe Bild naiv heranzugehen. Die einmal erfaßte Bedeutungskonfiguration läßt sich nicht mehr rückgängig machen“ (ebd.). Hier wird die Selbstentwicklung als ein beständiges ‚Erkennen von Bedeutung‘ konzeptualisiert.

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re-internalisiert“,90 wobei jede Erweiterung und Ausdifferenzierung mit einem punktuellen Schamaffekt einhergeht. Die Zersplitterung der ‚primären Ungeschiedenheit‘ führt weiter zur Entstehung der ‚idealen Selbstbeziehung‘, die reparativ-phantastischen Charakter besitzt und durch Phantasiebildungen gekennzeichnet ist. Die ‚primäre Ungeschiedenheit‘ bezeichnet keine entwicklungspsychologische Phase im Sinne eines ‚primären Narzißmus‘ o.ä., vielmehr bezeichnet es selbst ein Phantasma.91 Entsprechend ist der Versuch, die subjektiv schwer erträgliche Beschränkung auf das Faktische erträglicher zu gestalten, nicht gleichzusetzen mit Regression auf eine frühere Entwicklungsphase, sondern nur dynamisch zu verstehen als ein ‚Reparaturanliegen‘, der mit dem Bruch entsteht und sich bereits auf den Verlust von etwas Illusionärem bezieht, nämlich wie es vor dem Bruch wohl gewesen ist. Schließlich ist von diesen beiden die ‚urteilende Selbstbeziehung‘ zu unterscheiden, die insbesondere den vormals außen lokalisierten Blick des Gegenübers beinhaltet. Die Tatsache, daß dem Anderen als Repräsentanten der ‚Dritten Position‘ – neben der Position des Subjekts und dem intendierten Ziel – eine urteilende bzw. verurteilende Potenz zugeschrieben wird, ist nach Seidler ebenfalls dem aus dem Bruch resultierenden Verworfenheitserleben geschuldet. Sowohl das Verständnis der Scham als negativer Affekt als auch die Tendenz des Gewissens zur Negativität finden hier ihre Begründung. Es ist zunächst ein urteilender Blick im Sinne einer scheidenden Funktion, der mit der affektiven Zuschreibung zu einem ver-urteilenden Blick in Sinne der Scheidung in ‚gut‘ und ‚böse‘ wird. Die drei beschriebenen selbstreferentiellen Schleifen versteht Seidler als Auffächerung der objektiven Bewußtheit, als Aspekte eines ganzheitlichen Geschehens. Mit ihnen sind es jeweils unterschiedliche Fähigkeiten und Funktionen, die zur Disposition stehen, die mehr oder weniger angeeignet werden können oder weiterhin dem interaktionellen Gegenüber zugewiesen werden. Präziser formuliert, geht es um Art und Grad der Abhängigkeit und die entsprechende Ausgestaltung der Beziehung. Bei der realen Selbstbeziehung geht es um die Fähigkeit Eigenes vom Fremden zu unterscheiden. Dafür notwendig ist die Trennung in einen erlebenden und einen wahrnehmenden Aspekt des Subjekts durch die Aneignung der trennenden Funktion. Der Andere hat hier eine identifizierende, sprich: be90 Ebd.: S. 172 91 Ebenso wie Stern verwirft auch Seidler die Annahme eines ‚primären Narzißmus‘ und bringt diese in Zusammenhang mit sogenannten sekundären Verschmelzungserlebnissen, von denen aus dann rückwirkend das frühe Paradies konstruiert wird: „Das Phantasma der Ungeschiedenheit ist zunächst Ausdruck einer regressiven Phantasiebildung, die beispielsweise im Zustand des Schlafes, des Rausches und manch anderer Befriedigungen eine subjektive Bestätigung erfährt. Als phantasmatisches Interpretament von Vergangenheit hat sie dann den Stellenwert eines vom Individuum in die je-eigene Vergangenheit zurückprojizierten Ausgangspunktes von Entwicklung“ (ebd.: S. 162).

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grenzende und basal bestätigende Funktion. Normalerweise konfiguriert sich die Identitätsfrage implizit als Prozeßgeschehen der wechselseitigen Wahrnehmung. Manifestiert sie sich explizit, manifestiert sich auch die Scham. In der idealen Selbstbeziehung geht es um die Fähigkeit zwischen Idealität und Realität zu unterscheiden und diese in Beziehung zu setzen, wobei phantasierte Bilder von idealem Kontakt und idealer Beziehung zu anderen Menschen eine Rolle spielen.92 Ist die erste Frage der ‚Identität‘ hinreichend beantwortet, geht es um den Umgang mit Unzulänglichkeiten, Abweichungen von der Idealität. Dabei kann sich die Scham beim Gewahrwerden dieser manifestieren. Ist die Identitätsfrage nicht beantwortet (angeeignet), ist die Wirkung der auf Realisierung drängenden Idealität radikaler. Es geht nicht um das So-Sein, sondern um das Dasein, die Bezogenheit auf andere überhaupt wird als Unzulänglichkeit erlebt. Bei der urteilenden Selbstbeziehung schließlich stehen die Fähigkeit zur Selbstwertregulation und die Urteilsfunktion im Vordergrund. Kann die Urteilsfunk92 Der von van Stolk und Wouters (1987) eingeführte Begriff des ‚Figurationsideals‘ weist in eine ähnliche Richtung, insofern er einen Versuch darstellt, ein beziehungsorientiertes Verständnis von Idealität als verhaltenssteuernde Komponente zu entwickeln. In ihrer Studie „Frauen im Zwiespalt“, gehen die Autoren der Frage nach, warum Frauen, die aus Anlaß einer Krise im Zusammenleben mit ihrem Mann ein Frauenhaus aufsuchten, nach kurzer Zeit die Einrichtung wieder verließen und zu ihrem Mann zurückkehrten, ohne daß sich etwas verändert hätte. Das grundlegende Problem spezifizieren sie als einen Zwiespalt, in dem sich die Frauen befänden, und der Folge neuerer, allgemeiner Entwicklungen im Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern sei. Der Zwiespalt bestehe einerseits in dem Figurationsideal ‚harmonische Ungleichheit‘, das dem Bild der traditionellen Ehe entspricht: „Dieses Idealbild gibt dem Leben verheirateter Frauen Sinn und Wert. Ihm gerecht zu werden, ist eine Quelle der Selbstwertschätzung und Selbstachtung. Der Glaube daran kompensiert nicht nur, sondern verschleiert gleichzeitig auch das vorhandene Machtgefälle gegenüber dem Mann. Die Unterordnung und Ungleichheit wird dadurch weniger – und weniger bewußt – als schmerzhaft erlebt“ (ebd.: S. 145). Andererseits kommen mit der Verringerung der Machtdifferentiale andere ideale Selbstbilder, aber auch andere Handlungsspielräume für Frauen etwa durch wohlfahrtstaatliche Einrichtungen ins Spiel, die die harmonische Ungleichheit ins Wanken bringen. Auch wenn der Ansatz begrüßenswert ist, kommt er über das im vorangehenden Kapitel diskutierte de Swaansche Problem des Übergangs vom ‚Befehlsprinzip zum Verhandlungsprinzip‘ nicht hinaus. So wird schon im obigen Zitat als Prämisse gesetzt, daß Ungleichheit an sich stets schmerzhaft ist. Dabei werden Ungleichheit bzw. Macht weiterhin quantitativ aufgefaßt. Es wird nicht spezifiziert, um bzw. gegen qualitativ welche Ungleichheiten und Abhängigkeiten hier gerungen wird, und ebenso wenig, welches Begehren der Männer und Frauen auf psychischer Ebene in den von den Autoren beschriebenen Beziehungsdynamiken, die von dem bekannten Jojo-Effekt (Pendeln zwischen Annäherung und Abstoßung) gekennzeichnet sind, wirksam wird, und auf welchem Niveau sich das Begehren bewegt. Schließlich ist ja der entscheidende Punkt nicht nur, welches Figurationsideal inhaltlich vorherrscht, sondern auch inwiefern zwischen Idealität und Realität unterschieden werden kann.

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tion durch den Anderen angeeignet werden, entsteht die objektive Selbstbewußtheit als stabile, abgegrenzte Struktur, und der eigene beurteilende/objektivierende Blick kann von dem des jeweiligen Gegenübers unterschieden bzw. ihm entgegengesetzt werden. Hinsichtlich der Entstehung und Verfügbarkeit der genannten selbstreferentiellen Schleifen ist stets die Ambivalenz des Anderen zu berücksichtigen: „Einerseits ist er psychologisch überlebensnotwendig, andererseits bleibt er Repräsentant des ‚Bruches der Ungeschiedenheit‘.“93

Das ‚Es‘ als ‚er‘ oder ‚sie‘ Die Entstehung der objektiven Selbstbewußtheit als stabile, abgegrenzte Struktur bedeutet gleichzeitig die personale Ausgestaltung des Selbst. Wie bereits gesagt wurde, bilden die Modalitäten als Prozeßaspekt von Beziehung den Rahmen für die inhaltliche Ausgestaltung der integrierten Ganzheit des Subjekts. Aufgrund der gesetzten Modalitäten, so Seidler, entspricht das Selbst hinsichtlich seiner Personalität „seinem unbewußten Bild von seinem Gegenüber, vergleichbar der Passung, dem Verhältnis von Frage und Antwort, Schloß und Schlüssel“,94 in Eliasscher Sprache: Es ist auf eine bestimmte Art und Weise auf andere Menschen gerichtet. Das ‚Wissen‘ um die Genese des eigenen Selbst im Anderen ist prinzipiell nicht einsehbar, sowie der Bruch selbst nicht als solcher symbolisiert werden kann. Die Berührung mit ihm tritt aber als Grenze des Selbst in Erscheinung, d.h. trotz der Nicht-Einsehbarkeit ist das Wissen wirksam, nämlich im Erleben der Scham.95 Das epistemologisch Unbewußte ist zunächst die interaktionelle Unbewußtheit des Anderen, was bedeutet, „daß er – ob real präsent oder nicht – Grundlage der Identitätsdefinition des Subjektes ist, ohne in dieser Funktion – aus der Binnenperspektive – abgebildet werden zu können.“96 Bei der Ausgestaltung der Personalität des Selbst kommt über die basale Differenzierung in Vertraut und Fremd hinaus eine weitere Differenz ins Spiel: „Nun ist der Andere kein Neutrum, sondern sexuell different, immer Frau oder Mann.“97 Das Erleben der sexuellen Differenziertheit stellt neue Anforderungen an die Alterierungsfähigkeit: „Das andere Geschlecht bleibt differenzierender Maßstab für das eigene Geschlecht […] So verweist die Realität des Unterschiedes zum anderen Geschlecht auf die je-eigene Ergänzungsbedürftigkeit. Ihr Gewahrwerden ist von Scham begleitet; die Scham ist auch das Genitale.“98 93 Seidler 2001a: S. 183. Vgl. zu den Selbstbeziehungsformen ebd.: S. 169ff , ders. 1997: S. 141f, ders. 1999: S. 104f 94 Seidler 2001a: S. 192 95 Vgl. ebd.: S. 188, 1999: S. 104 96 Ebd.: S. 189 97 Ebd. 98 Ebd.: S. 190. Insofern kommt der Sexualität bzw. der Geschlechtlichkeit eine besondere Relevanz zu, sie bezeichnet eine basale menschliche Differenz

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War das Selbst vorher schon eine triangulierte Struktur, bewegt sich nun die Triangulierung auf ganz-personalem Niveau. Das Subjekt ist jetzt auf der Grundlage der sexuellen Identifizierung in eine Drei-Personen-Konstellation eingebunden, während es selbst aus der ‚Elterndyade‘ ausgeschlossen ist. Die Dritte Position wird bekanntlich herkömmlich dem lebensgeschichtlichen Vater zugewiesen. Hier geht es aber vor allem um die Aneignung einer bestimmten Funktion, der Fähigkeit der Aufrechterhaltung der Grenzen und um den Umgang mit eigener Ergänzungsbedürftigkeit, sprich Angewiesenheit auf Andere. Die objektive Selbstbewußtheit bezieht sich einerseits auf die Objektivierung des Körpers, woraus die Leibes-Scham resultiert. Andererseits geht der vormals nach außen gerichtete Blick nun nach ‚innen‘, es entsteht die Fähigkeit zur ‚Selbsterkenntnis‘. Mit diesem sogenannten ‚ödipalen Entwicklungsschritt‘ als der ‚Einwärtswendung‘ des Blickes erst entsteht der seelische Binnenraum, die Strukturierung lebensgeschichtlicher Inhalte nimmt ihren Lauf und es können sich inhaltliche Konflikte intrapsychisch abspielen, der zentrale Gegenstand herkömmlicher Psychoanalyse. Die andere Seite der Fähigkeit zum ganz-personalen Selbstbezug stellt die Fähigkeit des ganz-personalen Außenbezugs dar: Der Andere wird in seiner Personalität mit einbezogen.

c) Ausgestaltungskriterien des Selbst und der Beziehung Aus dem bisher Gesagten lassen sich folgende Dimensionen, die bei der Beschreibung der Ausgestaltung von Selbst und Beziehung Verwendung fanden, herausfiltern: das Verhältnis von ‚Innen‘ und ‚Außen‘, das Verhältnis von ‚Modalität‘ und ‚Personalität‘, und insofern es um die ambivalente Besetzung des Anderen in seiner Relevanz für das Selbst geht, die Fähigkeit des Subjekts zur Scham- bzw. Alteritätstoleranz. Denn wenn auch das Selbst präödipal Pendant des Gegenübers ist, von dem er getrennt ist, bzw. ödipal Pendant der Beziehung, aus der er ausgeschlossen ist, ist die Dynamik des Selbst und der Beziehung davon bestimmt, inwiefern die Getrenntheit bzw. Ausgeschlossenheit im Erleben ertragen werden können. Mit diesen drei Dimensionen läßt sich das Selbst als ein Entwicklungskontinuum beschreiben, wobei die Entwicklung als eine Schichtung von Reflexivität im Triangulierungsgeschehen über fortlaufende Beziehungsschleifen zu verstehen ist. Diesem Verständnis psychischer Entwicklung entsprechend hat Seidler drei Grundmuster der Beziehung konzeptuaund somit Ergänzungsbedürftigkeit. Die Relevanz, die der Sexualität in einer psychoanalytischen Anthropologie zukommt, kann hier etwas spezifiziert werden: Insofern alle Menschen Mann oder Frau sind, stellt sie eine grundlegende Ergänzungsbedürftigkeit dar. Obwohl sie grundlegend ist, handelt es sich dabei nicht um die einzige, auch nicht notwendigerweise immer und überall zentrale (problematisierte) Ergänzungsbedürftigkeit.

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lisiert, die den drei Positionen im Triangulierungsgeschehen entsprechen: Die unreflektierte Position (Narziß), die außenreflektierte Position (Teiresias) und die selbstreflexive Position (Ödipus). Sie stellen Verhaltens- und Empfindenstendenzen dar, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern einerseits aufeinander aufbauen, andererseits aber abhängig von der jeweiligen Figurationsgestaltung und den Möglichkeiten des Subjekts als ‚Strukturniveau‘ im Vordergrund stehen können. Insofern die Strukturniveaus sich nicht auf die Einschätzung eines Individuums, sondern auf die Beziehungsform, in der es sich darstellt, beziehen, wird anschließend der Begriff der Struktur und ihr vermeintlicher Vermittlungsprozeß ‚Internalisierung‘ aus alteritätstheoretischer Sicht zu erörtern sein. Schließlich bleibt die Frage zu klären, was in dieser psychoanalytischen Theorie aus dem Triebbegriff wird. Die stärkere Berücksichtigung von Affektivität und Beziehung läuft nicht auf Verzicht auf einen Triebbegriff hinaus – denn für die Frage nach psychischer Strukturbildung ist die Frage nach dem Begehren des Subjekts unerläßlich –, sondern auf den Versuch einer Neuformulierung des Triebziels.

Reflexivitätsniveaus Auf der unreflektierten Stufe ist das Gegenüber Substitut der Selbstwahrnehmung, das Anliegen des Subjekts ist die Formulierung einer seine Realität basal konstituierenden Antwort seitens des Gegenübers. Steht dieses Strukturniveau im Vordergrund, so ist das Fehlen der Wechselseitigkeit bestimmend für die Beziehung. Die Intentionalität des Subjekts verliert sich an die sachliche und menschliche Welt, es lebt und erlebt präsentisch unmittelbar. Die Eigenständigkeit des Anderen wird als störend erlebt und affektiv weggeschoben. Die Interdependenz fehlender Abgegrenztheit und der Nichtverfügbarkeit des Schamaffekts bestimmet hier die Psycho- und Beziehungsdynamik. Die zentrale Angst besteht darin, überhaupt wahrgenommen zu werden: „Die Wahrnehmung und damit die Beurteilung durch das Gegenüber fallen ‚augen-blicklich‘ mit der Selbstbeurteilung des Subjektes zusammen, weshalb es so riskant ist, sich dem kritischen Blick auszusetzen: es triggert die Selbstentwertung.“99 Entsprechende subjektive Wahrnehmungen können das Erleben von Wertlosigkeit und Grenzverlust sein. Der gegenseitige Wahrnehmungsprozeß ist hier nicht symbolgebunden, es gilt: ‚Aus den Augen, aus dem Sinn!‘. Die Nichtverfügbarkeit des Schamaffekts, die sich durch Ausfall desselben (Schamlosigkeit) oder Hypertrophie der Schamreaktionen äußert, geht einher mit der Tendenz, Affekte zu agieren, ihnen fehlt die beziehungsregulierende und die Signalfunktion. Während bei der nicht-reflektierten Stufe die Frage drängt ‚Bin ich überhaupt?‘, geht es auf der außenreflektierten Stufe um eine symbolgebundene Definition auf die Frage ‚Wer bin ich?‘. Andere Menschen 99 Seidler 2001b: S. 135

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werden zwar als solche wahrgenommen, stehen aber im Dienste der Selbstdefinition des Subjekts. Das Subjekt eignet sich das Bild an, das das Gegenüber von ihm hat, die Fähigkeit zur Triangulation ist also vorhanden, allerdings bedarf es dazu eines interaktionellen, real präsenten Gegenübers. Aufgrund dieser Gebundenheit werden Meinungen und Standpunkte anderer angeeignet und mit Wechsel des Gegenübers ebenso schnell wieder aufgegeben. Die Realität der Anderen wird nicht affektiv ausgelöscht, vielmehr geht der Kampf gegen die Realität des Anderen einher mit dem Kampf um ihre Alterität. Auf der selbstreflexiven Stufe ist die Fähigkeit zur Selbstobjektivierung intrapsychisch vorhanden, womit erst inhaltlich bestimmte biographische Zusammenhänge zum Gegenstand dieser Wahrnehmung werden können, und das autobiographische Selbst Gestalt annimmt: „Mit der Verfügbarkeit der Reflexivität geht eine Differenzierung des Beziehungserlebens nach Innen und nach Außen einher; es eröffnet sich eine zeitliche Tiefendimension des Erlebens der eigenen Person und eine solche Wahrnehmung anderer Menschen. Die eigene Person und andere Menschen können trotz ihrer Unterschiedlichkeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als mit sich identisch erlebt werden. Eigene Intentionen, Gefühle, Wünsche und Handlungen können eigenverantwortlich vertreten werden.“100 Eine zentrale Angst ist nicht auszumachen, vielmehr steht der Angstaffekt als Gefahrensignal zur Verfügung und die Scham hat jenseits einer vernichtenden Qualität eine beziehungsregulierende Funktion. Die ganz-personale Wahrnehmung ermöglicht erst eine Beziehung, in der der Andere nicht lediglich eine psychische Funktion zu realisiert hat. Konflikte werden nicht im interaktionellen Raum, sondern personal ausgestaltet und intrapsychisch an Repräsentanzen gebunden, erlebt.101 Für das kommunikative Gedächtnis resultiert aus diesem Verständnis ‚psychischer Reifung‘, daß die Prozeßaspekte der Kommunikation, hier Modalitäten genannt, und das im Vordergrund stehende Grundmuster der Wechselseitigkeit von Subjekt und Gegenüber ausschlaggebend dafür sind, inwiefern jemandem überhaupt ein Wissen von sich zur Verfügung steht. Voraussetzung dafür nämlich, daß das Subjekt seine eigene Biographie als Selbstauslegung ausgestalten kann, ist, „daß diese Subjekt-ObjektBeziehung nicht mehr an die auch zufällige Realpräsens eines interaktionellen Gegenübers gebunden ist, sondern als internalisierte Struktur des Selbstbezugs zur Verfügung steht.“102 Hinsichtlich des psychoanalytischen Erkenntnisparadigmas und des zentralen Begriffs ‚Einsicht‘ ist es neben ihrer monadologischen Orientierung und einem entsprechenden physiologienahe gedachten Triebziel, auch ihre Inhaltsbezogenheit, die einer Kon-

100 Seidler 1999: S. 103 101 Vgl. zu den hier zusammengefaßten Reflexivitätsniveaus u.a. Seidler 2001a: S. 256ff, ders. 2001b: S. 135ff, ders. 1999: S. 102ff u. ders. 1997: S. 133ff 102 Seidler 2001b: S. 137

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zeptualisierung ihrer Bedingungen, einer Theorie der Selbstreflexivität, des ‚Sich-zu-sich-Verhaltens‘ im Wege stand. Auch wenn sich die Fähigkeit, zu sich selbst einen Bezug herzustellen, in der Herausbildung von Selbstbildern manifestiert, besteht diese Fähigkeit doch letzten Endes in der Realisierung eines Prozeßgeschehens und die daraus resultierende Verfügbarkeit eines verläßlichen Selbstbildes, „eines ‚Symbols‘ für die eigene Person, das es gestattete, sich als wahrgenommen zu erleben und trotzdem selber ein Wissen um die eigene Person aufrechtzuerhalten.“103 Mit dieser Verfügbarkeit der Selbstbilder sind aber noch weiterreichendere Fragen verbunden: „Kann das Subjekt mit ihnen ‚arbeiten‘, das heißt, in verschiedenen Situationen mit sich eine objektivierte Beziehung aufrechterhalten, kann es sich etwa als biographisch Gewordenes erleben und sich zu seiner Biographie in Beziehung setzen, hat es ein Wissen um seine Möglichkeiten und insbesondere um seine Grenzen? Kann es sich aus momentaner Verhaftung an affektives Erleben herauslösen und zu sich selbst wieder eine beurteilende Distanz einnehmen?“104 Es geht also nicht nur darum, daß herkömmlich biographischen Daten Erklärungswert zugeschrieben wurde, was Seidler als einen der großen Irrtümer der Psychoanalyse betrachtet, da diese selbst schon Selbstauslegungen sind. Vielmehr ist hier ein fundamentaler Wandel im Menschenbild und dem Verständnis psychischer Reifung vollzogen: Nicht die Faktizität der erinnerten biographischen Inhalte wird als ausschlaggebend betrachtet, nicht die Bewußtmachung eines Unbewußten wird als anstrebsam erachtet, vielmehr wird der Alterierungsfähigkeit unter Beibehaltung der subjektiven Perspektive Überlebenswert zugeschrieben. Worin kann ein solcher Überlebenswert bestehen? Aus klinischer Perspektive hat Seidler die inhaltlichen Aspekte der Subjektkonstituierung auf den verschiedenen Stufen der Reflexivität anhand der jeweiligen Darstellung der eigenen Biographie seitens des Subjekts thematisiert. Dabei stellt er niveauabhängige Stile und inhaltliche Muster von Biographie fest: „Wenn es – auf der unreflektierten Position – kein Gegenüber gibt, wird es in der Darstellung der Biographie Lücken geben, Abrisse, und jemand wird sich schwer tun, sich biographisch auf einer Zeitachse zu orientieren. Auf der außenreflektierten Position wird sich jemand etwa über die für ihn wichtigsten Beziehungspartner definieren. Erst wenn jemand selbstreflexiv zu sich selber eine beobachtende Distanz einnehmen kann, wird er sich biographisch ‚auf die Reihe bringen‘ können.“105 Zur Veranschaulichung werden zwei Formen der Biographie unterschieden: die ‚Faktische Ereignisbiographie‘ und die ‚narrativierte Bedeutungsbiographie‘, die den zwei Polen ‚unreflektierter‘ und ‚selbstreflexiver‘ Position entsprechen. Im ersten Fall sei „das Erleben durch inselartig auftauchende Sachverhalte bestimmt, die untereinander nicht recht 103 Seidler 1999: S. 107 104 Ebd.: S. 101, Herv.i.O. 105 Seidler 2001b: S. 138

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verbunden sind und oft keinen ‚sinnhaften‘ Bezug zum Subjekt aufweisen: ‚Es geschah eben alles so.‘ Die Biographie wird ‚sachverhaltlich‘, ‚faktisch‘ dargestellt; emotional ist sie eher durch ‚Stimmungen‘ gefärbt als durch ‚Affekte‘ bestimmt.“106 Auf der selbstreflexiven Ebene würden weitergehend die Sachverhalte der unreflektierten Ebene zur Ausgestaltung einer subjektiven Lebensgeschichte verwendet, mit der das Subjekt sowohl ‚sich die Welt‘ wie auch ‚sich in der Welt‘ plausibel mache: „Dieses Verständnis beinhaltet die scheinbare Paradoxie, daß auf strukturell tieferer Ebene die berichtete Biographie einer faktischen Realität näher ist als auf einer höheren. Hier ist der Bericht Interpretament, wobei die Möglichkeit, sich selbst zu objektivieren, auch die Freiheit einführt, sich zu seiner Biographie ‚ins Verhältnis setzen‘ zu können, sich zu ihr verhalten zu können. Damit ist das Subjekt nicht nur ‚Abbild‘; es ist vor allem Gestalter seiner eigenen (Vorstellungen von seiner) Geschichte./[…] Lebensgeschichtliche Ereignisse haben eine ‚Bedeutung‘; das Subjekt setzt sich zu ihnen, sie relativierend, in Beziehung.“107

Der psychische Überlebenswert besteht in der Möglichkeit, Vergangenheit in der Verhaltenssteuerung wirksam werden zu lassen, ohne von ihr überwältigt zu werden. So ist die so verstandene Freiheit eng an das Vermögen zur Verantwortung gekoppelt, sie kann strukturell unterschiedlich ausgeprägt sein, je nach den Möglichkeiten zur Distanzierung von der eigenen Geschichte.108 Es geht um die Verfügbarkeit einer subjektiv bedeutungshaften Vergangenheit. Die (mehr oder weniger selbstreflexive) kontinuierliche subjektive Perspektive als ein, wie Welzer schreibt, notwendiges und sinnreiches Selbstmißverständnis109 und ihre Aufrechterhaltung stellen aus dieser psychoanalytischen Warte aus betrachtet selbst eine Errungenschaft dar. Deren Notwendigkeit ergibt sich unter Berücksichtigung der menschlichen Beschaffenheit aus ihrem sozialen Realitätswert, der durch den Schamaffekt vermittelt ist, welcher Alterität signalisiert. Deren Sinnreichtum ergibt sich ebenfalls unter Berücksichtigung der menschlichen Beschaffenheit aus dem Übergang von Gelebtem zu Erlebtem durch die Wirksamkeit der Realität des Gegenübers, durch die Bedeutung erst entsteht: „Ohne die einen unreflektierten Ablauf anhaltende, ‚brechende‘ und transformierende Antwort eines Gegenübers gibt es keine Symbolisierung voraussetzende Selbsterkenntnis [….], keine Symbolbildung, damit auch kein Gedächtnis, kein Gewissen und keine Schuldfähigkeit.“110 Ebenso wie Reflexivität kann die Fähigkeit zur Bildung von ‚Symbolen‘ als Bedeutungsträger einerseits als anthropologische Konstante betrachtet werden, andererseits kann auch diese Fähigkeit aus psychoanalytischer Sicht 106 107 108 109 110

Ebd.: S. 138 Ebd.: S. 139 Vgl. ebd.: S. 156, Anm. 4 Vgl. Welzer 2002: S. 209 Seidler 1995b: S. 103, Herv.i.O.

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strukturgebunden unterschiedlich ausgeprägt sein. Genauer gesagt, scheinen beide – Entstehung von Selbstreflexivität und Symbolisierungsfähigkeit – sich auf verschiedene Aspekte desselben Prozesses zu beziehen.

Die interaktionelle und die symbolische Dimension psychischer Struktur „Das Leben braucht eine Grenze.“111

Mit der dargestellten Akzentverschiebung vom Inhaltlichen zu Modalitäten des Prozeßgeschehens bei Betrachtung der Wandlungen von Struktur und Beziehung schlägt Seidler vor, das herkömmliche Konzept der ‚Internalisierung‘ weitgehend durch eines der Reflexivität zu ersetzen. Wird die Triangulierung vollzogen, spricht er von ‚Aneignung‘, wobei das Angeeignete ein Symbolisiertes ist. Wo findet in diesem Modell nun die Eliassche Selbst- bzw. Trieb- und Affektkontrolle ihren Platz? Und weitergehend: Welches Kriterium wäre – angesichts des alteritätstheoretischen Menschenbildes – geeigneter, um diese zentrale Rolle bei Beschreibungen des Spektrums des Sich-zu-sich- und Sich-zu-Anderen-Verhaltens, also des Selbst und der Beziehung, zu übernehmen? Schließlich muß, wenn von Kontrolle die Rede ist, spezifiziert werden, was denn genau ‚außer Kontrolle‘ zu geraten droht. Damit ist das ‚Begehren des Subjekts‘ in der Beziehung angesprochen, aber auch und unabdingbar damit verknüpft die Grenze, die das ‚Außer‘ definiert, und die Verfügbarkeit dieser Grenze. Auch wenn das Selbst kraft seines singulären Körpers ein solches ist, heißt das nicht zwangsläufig, daß es durch dessen Hauthülle begrenzt ist. Mit den drei oben beschriebenen Reflexivitätsniveaus wurde schon deutlich, daß hier eine Erweiterung des Strukturbegriffes in den Bereich des Interaktionellen vorliegt. Die im Bereich der äußeren Beziehung realisierten Interaktionsfiguren und Verwendungen des jeweiligen Interaktionsteilhabers müssen nach Seidler entsprechend als Strukturäquivalente aufgefaßt werden. Fehlt die intrapsychische Verfügbarkeit von Selbstbezug, sei dies nicht quantifizierend als Strukturmangel zu beschreiben, sondern als qualitativ anders, eben als interaktionell ausgestaltete Strukturkonfiguration.112 Während so der Strukturbegriff um die interaktive Dimension erweitert wird, erhält der Beziehungsbegriff eine intrapsychische Dimension: „Beziehung hat stets zwei Seiten, eine nach innen und eine nach außen. Hinsichtlich der erstgenannten geht es um Rückbezüglichkeit, um Reflexivität, um das Selbstverhältnis, bei der zweiten geht es um Wechselseitigkeitsbeziehungen zwischen Subjekt und Gegenüber, die sich, über Wahrnehmungsvorgänge ineinander verschränkt, gegenseitig in ihrer Iden-

111 Damasio 2002: S. 168 112 Vgl. Seidler 1999: S. 105

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tität determinieren und definieren.“113 So läßt sich das Selbst als Struktur und als Prozeß nur über Beziehung definieren. Dafür schlägt Seidler neben der quasi-lokalen Sichtweise (psychischer Binnenraum, interaktionelles Außen) eine temporal differenzierende Betrachtung des Selbst vor: Die synchrone Zeitachse bezieht sich querschnittsartig auf das Gesamt der aktuellen Gegenwart und die diachrone Zeitachse bezieht sich auf die jeweilige Biographie des Subjekts. Während die Betrachtung entlang der ersten Zeitachse aufzeigt, daß der Selbstbezug „sich fortwährend in interaktiven Akten wechselseitiger Wahrnehmung manifestiert – die Voraussetzung für die Veränderbarkeit der Struktur des Selbstbezugs – zeigt eine diachrone Betrachtungsweise ‚geronnene‘, […] zeitüberdauernde Niederschläge dieses Prozeßgeschehens, etwa als inhaltlich bestimmte Bilder vom Selbst und von Beziehungen zwischen dem Selbst und dem Anderen“,114 aber auch hinsichtlich der Modalität als Fähigkeit zur Selbstreflexivität. So gesehen, betrifft das Selbst als Struktur die spezifische Art der Ausgerichtetheit auf Andere, die von Elias sogenannte Valenzfiguration, deren Aktualisierung und Veränderung über Interaktion verläuft. Das Verhältnis von Kontinuität und Wandel führt zu einem weiteren Kriterium zur Einschätzung des Selbst, nämlich der Balance von ‚Integrität‘ und ‚Beweglichkeit‘ in der Beziehung. Geht man von der Verfügbarkeit eines Selbstbildes und der Fähigkeit zur ‚Selbstdistanzierung‘ aus, so stellt sich – will man sich aus der Verhaftung an die monadistische Sichtweise herauslösen – die Frage, inwiefern jemand die Fähigkeit zu, in Seidlers Worten, einem ‚derartig dynamischen Prozeß‘ hat; es geht um die Fähigkeit und Bereitschaft, die integrierten Strukturelemente immer wieder im Prozeßgeschehen der Beziehung zu verflüssigen,115 sich der Alterität zu stellen, sozusagen eine Alterierung zu riskieren. Die Verflüssigung geschieht zwangsläufig im Akt der wechselseitigen Wahrnehmung. Insofern ist die wechselseitige Wahrnehmung selbst als ein Vermögen zu betrachten. Denn das Selbst befindet sich im Wahrnehmungsgeschehen ständig zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit der Kontinuität und des Wandels, wobei natürlich die relative Permanenz des Selbst in der Zeit Priorität vor seiner Neuformulierung hat. Findet eine ‚Bereicherung‘ statt, so kann es immer nur eine Bereicherung um assimilierbare Alterität sein. Die Assimilierbarkeit hängt sowohl von der Beschaffenheit der Alterität als auch von der Scham- und Alteritätstoleranz des Subjekts ab, was bedeutet, daß die eigene Ergänzungsbedürftigkeit und komplementär dazu Fremdes und Anderes als solche erlebt werden können. Insgesamt liegt hier dem Verständnis psychischer Struktur eine stärkere Betonung der Relevanz von Symbolisierungsprozessen zugrunde. Symbolisierung meint dabei zunächst die Ersetzung eines unmittelbar wahr113 Seidler 2001a: S.1 114 Seidler 1999: S. 17 115 Vgl. ebd.: S. 101

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nehmungsgebundenen Umgangs mit Objekten durch von ihnen abgehobene ‚Stellvertreter‘. Im alteritätstheoretischen Verständnis erwächst jede Symbolisierung aus einer Objektivierung eines primär unreflektiert ablaufenden Prozesses, wobei zunächst bedeutungsloses, psychisch unmittelbares Erleben qua Reflexion Bedeutung bekommt.116 Eine entsprechende Neuformulierung erfährt in diesem Verständnis das Triebziel. Verläßt man, so Seidler, die objektivierende Wahrnehmungseinstellung der klassischen Triebtheorie, und berücksichtigt man zudem die unaufhebbare Interdependenz von Subjekt und Gegenüber, erweitere sich das physiologienahe gedachte Triebziel ‚Befriedigung‘ um den Aspekt ‚erlebter Sinnhaftigkeit‘. Es gehe dann nicht lediglich um ‚Befriedigung‘, aber auch nicht um die Suche nach einem Objekt – wie in der Objektbeziehungstheorie nahegelegt –, sondern um die wechselseitige identifizierende Wahrnehmung durch ein reflektiertes, leibhaftiges Gegenüber, die wechselseitige Wahrnehmung, die hier als Beziehung definiert wurde, ist selbst auch das Triebziel.117 Mit dem hier erörterten Verständnis von Trieb und Affektivität macht die Rede von Trieb- und Affektkontrolle nur unter Berücksichtigung des Gegenübers einen Sinn: Es geht um die Verfügbarkeit gemeinsam geteilter Grenzen, um die Fähigkeit, diese in Anwesenheit eines Gegenübers aufrechtzuerhalten, also die Verfügbarkeit der ‚Dritten Position‘, was vereinfacht gesagt, voraussetzt, daß die Scham und damit auch die anderen Affekte erlebt werden können.118 Das Erleben ginge dann einer ‚Kontrolle‘ voraus. Bei der psychischen Reifung geht es nicht in erster Linie um mehr oder weniger Kontrolle, sondern um die jeweiligen Erlebensmodalitäten und Beziehungskonfigurationen. Den hier unterstellten Zusammenhang von Wandlungen des Selbstbezugs und Symbolisierungsfähigkeit hat Seidler u.a. in einer Studie ausgearbeitet, die hier kurz zusammengefaßt zur Veranschaulichung dienen kann. In dem Buch ‚Stationäre Psychotherapie auf dem Prüfstand’ werden die Untersuchung der Herausbildung seelischer Struktur bei einer Patientengruppe in der stationären Psychotherapie und deren Ergebnisse beschrieben. Dabei geht es zunächst um den Zusammenhang zwischen strukturellen Veränderungen und gesundheitlichen Besserungen im körperlichen, psychosozialen und seelischen Symptombereich. Es wurde gezeigt, daß im Rahmen einer zwölfwöchigen Therapie die selbstreflexiven Fähigkeiten zunahmen, einhergehend mit einem Rückgang körperlicher und 116 Vgl. Seidler 1995b: S. 99f 117 Vgl. Seidler 2001a: S. 207f 118 Wie schon deutlich gemacht wurde, wird dem Schamaffekt eine umfassendere Bedeutung zugeschrieben als den Grundaffekten, seine Dynamik bestimmt den Umgang mit den Grundaffekten. So wird konstatiert, „daß eine Blockade des Schamaffekts, also seine Nicht-Verfügbarkeit, im Prinzip allen anderen Affekten den Zugang zum Erleben versperren kann, auch wenn ihre Ausgestaltung dem jeweiligen Subjekt strukturell möglich ist“ (Seidler 2001b: S. 147, vgl. a. ders. 2001a: S. 280f).

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psychosozialer Symptomatik, nicht aber verbunden mit einem Rückgang ‚psychischer‘ Symptome. So konnte nachträglich interpretiert werden, daß mit der Überprüfung des Selbstbezug-Konzepts auch oder eigentlich etwas anderes gemessen wurde: was in die Einschätzung jedenfalls mit eingegangen war, war die Fähigkeit zur Symbolisierung als Psychisierung des Körperlichen und Interaktionellen: „Eine bessere Fähigkeit zur Symbolbildung geht mit einem Rückgang unmittelbar körperlich-unreflektierter Ausdrucksformen von ‚Leid‘ einher, ebenfalls mit einem Rückgang sozialer und sozialkommunikativer Verwicklungen und ‚Probleme‘./[…] Die Befunde geben Anlaß zu der Überlegung, daß die Fähigkeit zur Selbstreflexivität für den Patienten nicht zu einer psychischen Entlastung und damit zu einem Rückgang der psychischen Symptomatik aus seiner ‚Binnensicht‘ (!) beiträgt. Aus der Perspektive der zugrunde liegenden theoretischen Orientierung ist dies durchaus einleuchtend, da anzunehmen ist, daß einhergehend mit dem Anstieg der Selbstreflexivität vormals körperlich erlebte und/oder sozial ausagierte Probleme jetzt psychisch darstellbar werden.“119

d) Der ‚Schleier der Erkenntnis‘ Geht man mit Seidler davon aus, daß erstens dem Prozeß der Strukturbildung das Wirkungsgeschehen, in dem sich Bedeutungsträger erst herausbilden, zugrunde liegt, und zweitens, daß einerseits die Herausbildung der Bedeutungsträger das prinzipiell Unreflektierbare zur Grundlage hat, andererseits sich die Bedeutungsträger aus dem noch nicht reflektierten oder nicht mehr reflektierten Leben und Erleben herausbilden, kann man nun hinsichtlich der Grenzen der Erkenntnis zwei Arten unterscheiden: jene, die der menschlichen Beschaffenheit geschuldet sind (prinzipiell unreflektierbares Leben und Erleben) und jene, die zeit- und figurationsspezifisch sind (noch nicht oder nicht mehr reflektiertes Leben und Erleben). Damit sind im Bereich der Menschenwissenschaften zwei interdependente Aspekte angesprochen: die mehr oder weniger implizite Erkenntnismethode und der zivilisatorische Wandel der ‚Erkenntnisdynamik‘. Die dem Immanenzprinzip erlegene Suche nach ‚Ursprüngen‘, nach menschlichen ‚Urmotiven‘ sowie einem ‚echten‘ Selbst, steht der Erforschung immanenter Grenzen selbstreferentieller Erkenntnis, die in der ‚Transzendenz des Blickes‘ begründet liegen, gegenüber. Bekommt erstere Vorrang vor dem letzteren, entsteht eine ‚epistemologische Lücke‘, da der Erkennende die Bedingungen seiner Erkenntnis nicht reflektiert. In Seidlers Worten: Das „Involviertsein wird in der Funktionsweise der Erkenntnis, im Prozeß der Produktion von Erkenntnis, agierend realisiert.“120 Als 119 Seidler 1999: S. 222f, Herv.i.O. 120 Seidler 2001a: S. 203. Aus soziologischer Perspektive bringt Pierre Bourdieu dieses Problem bei seiner Unterscheidung narzißtischer und wissen-

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ein Beispiel nennt er das traditionelle Triebmodell: Das Unbewußte, das Freud entdeckte, schien objektivierend als Triebgeschehen untersuchbar, epistemologisch sei aber aus dem Fokus geraten, daß sich im Prozeß der Untersuchung Subjekt und Objekt begegneten: „[…] das Subjekt, das die Frage nach dem Triebgeschehen stellt, ist als Selbstverhältnis Produkt seines Untersuchungsgegenstandes.“121 Und aus dieser ‚epistemologischen Lücke‘ heraus, sei zu erklären, daß eine angemessene Konzeptualisierung des Schamaffekts nicht erfolgt sei, und dem Schuldaffekt ohne Beachtung seiner Rückbezüglichkeit sehr viel Bedeutung zukam. Das Prozeßgeschehen der Selbstreferentialität ist diesem Konzept nicht zugänglich. Daß überdies dem Schuldkonzept der Vorrang gegeben wurde, hat mit der gesellschaftlich vorherrschenden ‚individualistischen‘ Orientierung und einer Hochbewertung von persönlicher Autonomie zu tun.122 Der Schamaffekt hingegen verweist ja stets auf Abhängigkeiten. Der Erkennende, der hier agierend die Selbsterkenntnis realisiert, weist große Ähnlichkeit mit dem Eliasschen ‚homo clausus‘ auf. Eine andere Variante des Umgangs mit der Begrenztheit der selbstreferentiellen Erkenntnis konstatiert Seidler in dem gegenwärtigen Interesse an der Hirnforschung: „Es wird nicht ein erkenntnistheoretischer Diskurs konsequent an seine immanenten Grenzen gedacht, sondern in der selbstreferentiellen Suchbewegung wird objektivierend auf das Organ dieses Prozesses gesprungen.“123 Damasio gehört allerdings zu den Hirnforschern, die einer solchen ‚epistemologischen Notlösung‘ nicht verfallen sind. Er wird dem Sachverhalt tendenziell gerecht, wenn er betont, daß die Erforschung des menschlichen Bewußtseins sowohl den inneren wie den schaftlicher Reflexivität auf den Punkt, wenn er schreibt, es genüge nicht, die ‚erlebte Erfahrung‘ des wissenden Subjekts zu explizieren, man müsse die sozialen Bedingungen dieser Erfahrungsmöglichkeit bzw. des Aktes der Objektivierung objektivieren (vgl. Bourdieu 1993a: S. 365). Eine solche „Soziologie der Soziologie“, als Erforschung des wissenschaftlichen Unbewußten des Soziologen, würde keineswegs den Wert theoretischer Erkenntnis herabsetzen, im Gegenteil: „[…] das klare Erkennen der Grenzen der theoretischen Erkenntnis erlaubt es, die scholastic fallacy zu vermeiden, die darin besteht, in die Untersuchung eine nicht untersuchte Beziehung zum Objekt der Untersuchung zu projizieren und damit alle Irrtümer, die aus dem Epistemozentrismus entstehen, das heißt aus der Neigung der Wissenschaftler, die von ihnen untersuchten Handlungsakteure nach ihrem eigenen Bild zu denken […] Im Gegensatz zu dem, was die gewöhnliche Vorstellung über die Selbsterkenntnis als Erforschung einzigartiger Tiefen glauben läßt, ist die innigste Wahrheit dessen, was wir sind, das ungedachteste Ungedachte, ebenso in die Objektivität eingeschrieben und insbesondere in die Geschichte der gesellschaftlichen Stellungen, die wir in Vergangenheit eingenommen haben und die wir in der Gegenwart besetzen“ (ebd.: S. 372, Herv.i.O.). 121 Seidler 2001a: S. 203 122 Zum Umgang mit Scham und Schuld in der traditionellen Psychoanalyse s. u.a. ebd.: S. 188f, S. 201ff u. S. 306ff. 123 Ebd.: S. 227, Anm. 28, Herv.i.O.

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äußeren Standpunkt erfordert, und die Angst vor Verzerrungen durch die Berücksichtigung einer subjektiven Perspektive nicht dazu verleiten dürfe, lediglich zu objektivieren. Richtet man die Suchbewegung auf das Organ, kann man anhand fortgeschrittener Techniken nachvollziehen, wie das Gehirn Vorstellungen erzeugt, hat aber noch kein Modell für die Entstehung der subjektiven Perspektive und des Gefühls der Urheberschaft.124 Die Lösung des methodischen Problems, das die Privatheit des Bewußtseins stellt, sieht er in einer natürlichen Fähigkeit der Menschen, die der Herstellung einer Dreifachverbindung entspricht zwischen bestimmten äußeren Manifestationen des Bewußtseins (Wachsein, Aufmerksamkeit u.a.), den entsprechenden inneren Manifestationen, wie sie vom Subjekt berichtet werden und den inneren Manifestationen des Beobachters in vergleichbaren Erfahrungen.125 So entwickeln Menschen beständig Theorien über die Geistesverfassungen anderer. Eine ähnliche Methodik schlägt Seidler im Hinblick auf die Diagnostik von Schamphänomenen vor, allerdings mit einer feinen, aber entscheidenden Erweiterung. Neben den beobachtbaren Schamsignalen als Datenquelle nennt er die Berücksichtigung der inneren Perspektive hinsichtlich geschilderter Außenbeziehungen, also wie sich das Subjekt im Kontakt mit anderen erlebt, und die Berücksichtigung des eigenen inneren Erlebens in der Beziehung zum beobachteten Subjekt.126 Damit wird der Empathiebegriff auf seine basale Ebene heruntergebrochen: Das Verhalten des Einen hat nur eine bestimmte Bedeutung für den Anderen, weil dieser auf eine spezifische Weise auf ihn reagiert. In diesem Sinne sind wir beständig mehr oder weniger empathisch, insofern wir uns beständig in wechselseitigen Wahrnehmungsakten befinden. Reflexionsgegenstand wäre hier die Wahrnehmungsbeziehung selbst. Mit der Beschaffenheit der Wechselseitigkeit bewegen wir uns auf den zweiten Aspekt zu, nämlich den zivilisatorischen Wandel der Erkenntnisdynamik. Die hier explizierte wissenschaftliche Methodik gehört, lassen wir die bewußte Beobachtung und Reflexion weg, zu unserem alltäglichen intuitiven Verhalten und sollte zentraler Gegenstand der Zivilisationstheorie sein. Das Verhältnis von Erkenntnis und Zivilisation zumindest ist eines der zentralen Themen der Eliasschen Zivilisationstheorie. Das Bild, das Elias vom zivilisatorischen Wandel der Erkenntnisdynamik zeichnet, wurde im zweiten Kapitel als Rationalisierungsprozeß nachgezeichnet. Die Psychodynamik, die diesem Prozeß zugrunde liegt, wurde mit dem Satz beschrieben: Das Bewußtsein wird weniger triebdurchlässig, die Triebe weniger bewußtseinsdurchlässig.127 Das Ergebnis ist ein rationaler funktionierendes Bewußtsein, weil es ein trieb- und affektfreieres Bewußtsein ist. Rationalisierung besteht dann in jenem Prozeßverlauf, in dem sich der Schleier, den 124 125 126 127

Vgl. Damasio 2002: S. 20f u. S. 104 Vgl. ebd.: S. 104f Vgl. Seidler 2001a: S. 271 Vgl. Elias 1989c: S. 390

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die Leidenschaften vor das Auge legen, lichtet und andere Menschen und Dinge ‚affektneutraler‘ und differenzierter wahrgenommen werden können. Bedingung dafür sind die fortschreitende gesellschaftliche Funktionsteilung und die alltägliche Verflechtung in längere Menschenketten, die den Einzelnen an eine größere Zurückhaltung der Affekte gewöhnen.128 Auch Damasio spricht in einem ähnlichen Zusammenhag von einem Schleier, der bei ihm allerdings etwas anderes verdeckt. Auch er konstatiert eine Verlagerung der Perspektive von den inneren Zuständen des Organismus, den Gefühlen und Emotionen auf Probleme der Außenwelt und ihrer Lösung. Und auch er berechnet den ‚Preis‘ dieser Verlagerung, wenn er die Vermutung äußert, daß die Menschen in weniger komplexen Gesellschaften „mehr von sich empfanden als wir Ahnungslosen es heute vermögen“.129 „Vielleicht war es früher leichter, eine ausgewogene Perspektive zu bewahren – früher, als es noch keinen Schleier gab, als die Umwelt noch relativ einfach war, als man noch keine elektronischen Medien und Jetreisen hatte, noch kein gedrucktes Wort, noch keine Reiche und keine Stadtstaaten. Da wird es leichter gewesen sein, das innere Leben zu spüren, da wird das Gehirn eine Verzerrung in die umgekehrte Richtung vorgenommen haben und die inneren Zustände des Organismus weit stärker berücksichtigt haben.“130

Hier ist also nur eine andere Akzentsetzung vorgenommen. Während sich zur Außenwelt hin der Schleier lichtet, wird das Innere verschleiert. Darüber wären sich Elias und Damasio wohl einig. Die Frage ist nur, ob das Verhältnis sich auf diese Weise bestimmen läßt, vor allem was den Bereich des Persönlichen und Sozialen angeht. Während bei Elias Triebe und Affekte in erster Linie einer animalischen Natur131 angehören, die durch 128 129 130 131

Vgl. ebd.: S. 373 Damasio 2002: S. 45 Ebd.: S. 44 Auch wenn man von animalischer Natur spricht, sollte man spezifizieren, auf welche man sich damit bezieht, derer gibt es ja viele. Was Elias damit zum Ausdruck bringen will, ist die ‚Ungezähmtheit‘ des Menschenkindes. Jene angeborenen Strukturen der menschlichen Natur, die der Beziehungsregulierung dienen, und die die Menschen durchaus mit einigen anderen Tierarten teilen, wird er damit jedenfalls nicht gemeint haben. Schon im Meadschen Konzept wurde ja ausgeführt, daß Gebärden und Mimik als die sichtbare Komponente von Emotionen der Beziehungsregulierung dienen. Ein Experiment, das Damasio als Beispiel aus dem Tierreich heranzieht, mag die Relevanz der Emotionen auch für die tierische Welt veranschaulichen: Bei einer bestimmten Affenart wird der präfrontale Cortex, der für emotionale Reaktionen und das Sozialverhalten ausschlaggebend ist, beidseitig entfernt. Diese Affen können keine normalen Beziehungen mehr in ihrem Sozialverband unterhalten, obwohl sich ihr physisches Erscheinungsbild nicht verändert hat. Die anderen Tiere zeigen kein Interesse an einer Beziehung zu ihnen: „Wahrscheinlich ist bei ihnen sowohl die ‚soziale Wahrnehmung‘ wie das ‚Sozialverhalten‘ gestört, und die anderen Tiere

AUSGESTALTUNG DER AFFEKTIVITÄT | 281

Andere zivilisiert wird, findet bei Damasio – auch wenn er die Relevanz der Affektivität für Rationalität sehr wohl hervorhebt – die Tatsache zu wenig konzeptuelle Berücksichtigung, daß es eben vor allem die Anderen sind, die sich in den Veränderungen innerer Zustände bemerkbar machen. Legt man das hier vorgestellte Verständnis von Affektivität zugrunde und richtet die Aufmerksamkeit von den ‚affektbesitzenden‘ Bezogenen, den Affizierten, auf ihre Beziehung, so ist die oben gestellte Frage eindeutig zu verneinen: Eine zunehmende Verschleierung der Affekte im Zuge von Zivilisationsprozessen würde nicht notwendig zu einer angemesseneren, sondern zu einer anderen Sicht auf die Außenwelt führen. Was sich verändert ist die Beziehungsdynamik. Und an ihr erst läßt sich eine Erkenntnisbzw. Psychodynamik ablesen. Dabei bleibt das Postulat der ‚Verschleierung der Affekte‘ in Interdependenz mit entsprechenden Wandlungen in der Beziehungsdynamik zu präzisieren. Diesen Zusammenhang möchte ich im nächsten Kapitel anhand der Frage nach Wandlungen des ‚Narzißmus‘ im Zuge von Individualisierungsprozessen erörtern. Diese Frage impliziert schon, daß die hier dargestellte psychische Reifung im Sinne der Schichtung von Reflexivitätsniveaus keineswegs deckungsgleich ist mit dem u.a. von Elias beschriebenen Individualisierungsprozeß, aber auch nicht mit dem Woutersschen Informalisierungsprozeß. Berücksichtigt man die Interdependenz von Beziehungs- und Psychodynamiken, kann man dann die in der Informalisierungstheorie beschriebenen gesellschaftlichen Tendenzen einfach mit noch mehr ‚Selbstkontrolle‘ beschreiben? Oder muß man nicht vielmehr Informalisierung als einen spezifischen Individualisierungsverlauf verstehen, in dem ganz andere Bereiche eine Problematisierung erfahren, wie eben Grenzsetzungen und Abhängigkeiten? Und was die Alteritätstheorie selbst betrifft, inwiefern stellt auch sie eine zeit- und gesellschaftsspezifische Reaktion auf diese gesellschaftlichen Tendenzen mit ihren eigenen problematisierten Verhaltens- und Empfindensbereichen dar?

reagieren entsprechend“ (Damasio 1997: S. 114, Herv.v.mir). Weist ein Tier schwere körperliche Mängel auf, ist das Sozialverhalten nicht beeinträchtigt (vgl. ebd.: S. 113f).

Kapitel VII: Narzißmus im Wandel der Wir-Ich-Balance

Im Ergebnis kann man sich Mead also anschließen, wenn er sagt, wir seien uns unserer Handlungen bewußt und sie würden für uns bedeutungshaft, weil sie für Veränderungen im Verhalten anderer Individuen verantwortlich sind,1 sollte jedoch vorsichtig einschränkend hervorheben: insofern sie für Veränderungen im Verhalten anderer Menschen verantwortlich sind bzw. insofern diese Veränderungen bei uns psychisch wirksam werden. Diese Einschränkungen betreffen Entgleisungsmöglichkeiten in der reflexiven Schleife im Bereich des potentiell Symbolisierbaren, die ich in diesem Kapitel unter dem Begriff Narzißmus als gesellschaftsspezifische Selbst- und Beziehungsdynamik und als grundlegende Erkenntnisdynamik diskutieren werde. Diese zivilisatorische Erkenntnisdynamik wird ebenfalls hinsichtlich des jeweiligen Umgangs mit dem prinzipiell nicht Symbolisierbaren, der Grenze der Erkenntnis zu hinterfragen sein. Immer noch auf dem Weg der Überprüfung und der Suche nach Weiterentwicklungsmöglichkeiten von Zivilisationskriterien, stellt der in diesem Kapitel eingeschlagene Weg einen Versuch dar, von den herkömmlichen Kriterien loszukommen, um – vom Zivilisationsprozeß und u.a. von der Zivilisationstheorie – tendenziell verdeckte Aspekte der Zivilisation zu akzentuieren und konzeptuell zu integrieren. Ziel dieses Kapitels ist es, nachdem der Weg über die Wouterssche Informalisierungstheorie bei Zugrundelegung eines nicht „zum Trieb degradierten Gefühls“2 in eine Sackgasse führte und sich vielmehr selbst als Zivilisationsproblem denn als Zivilisationstheorie erwies, die im zweiten Kapitel problematisierten Aspekte der Eliasschen Theorie mit einer alternativen Informalisierungstheorie ansatzweise zu betrachten. Neben der Frage nach dem zugrunde gelegten Affektverständnis beruhten die problematisierten Aspekte auf der Frage nach dem 1 2

Vgl. Mead 1987: S. 219 Heller 1980: S. 13

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Verhältnis von ‚Über-Ich‘-Entwicklung/Aktualisierung und Affektivität bzw. nach dem Verhältnis von Affektivität und Gegenüber, dem Wandel in der Qualität der affektiven Steuerung und schließlich der Frage nach den Konsequenzen der von Elias beschriebenen Wandlungen der Affektivität (unter Berücksichtigung der genannten Zusammenhänge) für den Zivilisationsprozeß selbst. Die Frage nach Wandlungen des ‚Narzißmus im Wandel der Wir-IchBalance‘ zielt insbesondere auf eine Präzisierung des ‚Gestaltwandels des Anderen‘ im Zuge von Individualisierungsprozessen und dem entsprechenden Wandel der Erfahrung von Macht. Eine ausführliche, klassische Diskussion der gegenwärtigen Individualisierungstheorien werde ich an dieser Stelle aussparen, da sie in ihren Grundkategorien und Fragestellungen im großen und ganzen mit der bereits diskutierten Informalisierungstheorie überein gehen: Sind die Wahlmöglichkeiten des individualisierten Individuums gestiegen, oder ist ‚Wählen‘ an sich durch die Nivellierung der Unterschiede obsolet geworden? Ist im Zuge der Individualisierung die Kontrolle des Individuums gestiegen oder ist eher die Kontrolle durch das Individuum gestiegen? Stellt eher die Gesellschaft eine Gefahr für das Individuum dar oder das Individuum für die Gesellschaft? Oder ist es immer ein Sowohl-als-auch? Letzteres scheint die Debatte größtenteils zu dominieren. Individualisierte Lebensformen werden problematisiert, sogleich werden dann die Probleme relativiert, die bekannten Kosten-NutzenAnalysen. Was aber versteht ‚die Soziologie‘ unter Individualisierung? Auch hier kann man konstatieren sowohl eine Zunahme der Wahlmöglichkeiten an Theorien als auch eine Nivellierung bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust der Unterschiede. Der Soziologe Markus Schroer etwa hat einerseits festgestellt, daß „es sich bei der Herauslösungs- bzw. Freisetzungsdimension um die wahrscheinlich einzige unstrittige Dimension dessen handelt, was unter Individualisierung sinnvoll verstanden werden kann“,3 andererseits hat er den Versuch einer Systematisierung der verschiedenen Theorieansätze unternommen und dabei ‚überraschende Allianzen‘ zwischen den neueren Vertretern dieser Ansätze gefunden. Er unterscheidet zunächst drei Argumentationslinien, die etikettiert werden als „negative Individualisierung: das gefährdete Individuum“ (Weber, Horkheimer/Adorno, Foucault), „positive Individualisierung: das gefährliche Individuum“ (Durkheim, Parsons, Luhmann) und „ambivalente Individualisierung: das Risiko-Individuum“ (Simmel, Elias, Beck).4 Foucault, Luhmann und Beck seien dann schließlich zu einer übereinstimmenden Diagnose gelangt: „Gemeinsamer Fluchtpunkt ihrer Analysen ist das Selbst: Selbstbeziehungen, -erfindung, -beobachtung, -referenz, -reflexion, -kultur. Das Suffix ‚Selbst‘ 3 4

Schroer 2000: S. 27 Vgl. ebd.: S. 15ff, ausführlich: Schroer 2001

NARZISSMUS IM WANDEL DER WIR-ICH-BALANCE | 285

hat Hochkonjunktur: Allenthalben ist von Selbstorganisation, -politik, -steuerung, -verantwortung, -sorge usw. die Rede. Worauf Becks, Luhmanns und Foucaults Diagnosen hinzielen, ist die Behauptung eines verstärkten Selbstbezugs der Einzelnen. Nicht mehr über die Zugehörigkeit zu sozialen Kreisen, sondern durch die Beziehung des Selbst zu sich definiert sich das Individuum.“5

Trotz dieser vermeintlichen Annäherung und im Sinne der Vertreter der einzelnen Positionen, wie Schroer meint, bestehe kein Anlaß, den ‚vielschichtigen Prozeß der Individualisierung‘ auf eine einzige Bedeutungsdimension festlegen zu wollen. Die drei ‚Dimensionen‘ können nebeneinander fortbestehen: Es gibt nach wie vor Überwachungs-, Kontroll- und Disziplinierungszusammenhänge (Foucault), man kann Individualisierung als Gewinn für Individuum und Gesellschaft verbuchen (Luhmann) und man kann die Chancen der Individualisierung betonen, ohne die Gefahren zu verleugnen (Beck). Als Unterscheidungskriterium auch für zukünftige Theorien gilt, ob sie jeweils negative, positive oder ambivalente Folgen der Individualisierung betonen.6 Die Beziehung zwischen diesen sogenannten Dimensionen untereinander ist nicht der Hinterfragung wert, denn sie stellen ja lediglich verschiedene Akzentuierungen desselben Prozesses dar. Die bisherige Kritik an soziologischen Theorien, sie würden keine qualitativen Unterscheidungskriterien für Beziehungen in psychischer Hinsicht anlegen, scheint hier nicht mehr zu greifen, denn zwischenmenschliche Beziehungen werden schlichtweg für irrelevant in Bezug auf Selbst und Individualität erklärt. Was beim individualisierten Menschen zählt, ist seine Beziehung zu sich selbst. Individualisierung ist demnach ‚Verstärkung‘ des Selbstbezugs. Ohne eine spezifische ‚Verstärkung des Selbstbezugs‘ im Zuge bestimmter Individualisierungsverläufe in Abrede stellen zu wollen, ist doch zu fragen, unter welchen Bedingungen dieser Bezug stattfindet, wie er beschaffen ist und was er schließlich (für das – erwachsene bzw. junge – Subjekt, sein Gegenüber, den Soziologen) bedeutet. Im Anschluß an das fünfte Kapitel (alternative Informalisierungstheorie) werde ich mich hier weiter mit der sinnlich-affektiven Dimension der Wandlungen der Lebenswelt und der zwischenmenschlichen Beziehungen beschäftigen, da auch der Bezugspunkt des noch so ‚individualisierten‘ – wie auch immer verstandenen – ‚Selbstbezugs‘ der spürbare Leib bleibt, mögen die Bezie-

5

6

Ebd.: S. 38. Schroer beweist hier großes Talent, was die Nivellierung von grundlegenden Theoriedifferenzen angeht. Nicht genug damit, daß die drei genannten Autoren als „bizarres Trio“ ausgemacht werden, sie teilen nach Schroer ihre Diagnose auch noch mit Zygmunt Bauman, denn dieser habe ja geschrieben: „‚Wir‘, das ist ein lockeres Gemisch von Männern und Frauen, denen aufgetragen ist, sich um sich selbst zu kümmern […]“ (ebd.: S. 38, Herv.i.O.). Vgl. ebd.: S. 39

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hungen noch so vermittelt, die Interdependenzketten noch so lang, die ‚Globalisierung‘ noch so fortgeschritten sein. Zu diesem Zweck werde ich auch hier wieder an verschiedenen Stellen bei Elias ansetzen, um durch Ergänzungen und Revisionen über andere Theorien die ‚verdeckten Aspekte‘ aufzuspüren. Der erste Teil dieses Kapitels dient als Grundlage, um alternative Auffassungen von Individualisierung, Narzißmus und ihrem Verhältnis zueinander klarer von der herkömmlichen Auffassung abheben zu können. Dies kommt einer Differenzierung der Selbstwert- und der Selbstebene der Beziehungsdynamik gleich. Während mit der Selbstwertebene problematische Beziehungen in ihrer Dynamik konzeptualisiert werden können, wird die Selbstebene dort relevant, wo das Problematische an der Beziehung die Beziehung selbst bzw. ihre Abwesenheit ist. Eine Annäherung an die Selbstebene findet im zweiten Teil über den Schambegriff statt. Die Scham als der entscheidende Zivilisationsmechanismus unterliegt im Zuge des Zivilisationsprozesses selbst bestimmten Wandlungen hinsichtlich ihrer Bedeutung und Funktion. Diese Wandlungen gehen einher mit Wandlungen in der Erfahrung der Macht und der Verortung des ‚Erkenntnisschleiers‘. Die Interdependenz von Beziehungs- und Psychodynamik einerseits und der Erkenntnisdynamik andererseits, die bei Elias schon angelegt ist, wird im dritten Teil des Kapitels vertieft. Hinsichtlich der Erkenntnisdynamik bot es sich u.a. aufgrund der Favorisierung der Alteritätstheorie in dieser Arbeit, um deren Zeitspezifität es ja in diesem Kapitel auch gehen wird, an, den Bereich der Sinneswahrnehmungen anhand der Kategorie des Blickes bzw. des Postulats der ‚Dominanz des Visuellen in der Moderne‘, die bisweilen in Zusammenhang mit der Narzißmusthematik diskutiert wurde, anzugehen. Schließlich geht es mir in diesem Kapitel darum, zu begründen, wie und warum die Anwendung des Narzißmuskonzepts auf gesellschaftlicher Ebene sinnvoll sein kann, und zu präzisieren, wie dieses Konzept nicht als Standbild oder im Hinblick auf eine Persönlichkeitsstruktur, aber als zivilisatorische Dynamik so gefaßt werden kann, daß die bisherigen Mißverständnisse bei einiger wohlwollender Anstrengung vermieden werden können. Mit einer solchen Einbeziehung des Narzißmuskonzepts in die Zivilisationstheorie wird es möglich, jenseits der Annahme einer ‚gefährlichen Natur‘ des Menschen das Verhältnis von Zivilisation(-stheorie) und Alterität(-stheorie) ansatzweise zu bestimmen. Das Ergebnis des Kapitels ist eine Revision der Zivilisationskriterien auf dieser Grundlage. Für eine Integration ‚des‘ Narzißmuskonzepts in ‚die‘ soziologische Theorie ließen sich je nach Erkenntnisinteresse und theoretischer Ausrichtung viele Ansatzpunkte und Wege finden. Einige solcher Verknüpfungsmöglichkeiten von Narzißmus und Gesellschaftsentwicklung wurden in dieser Arbeit schon vorgestellt. Ebenso wie beim Affektbegriff findet sich natürlich auch in Bezug auf das Verständnis des Narzißmus ein breites Spektrum schon allein innerhalb der psychoanalytischen Diskussion, so

NARZISSMUS IM WANDEL DER WIR-ICH-BALANCE | 287

daß Heribert Wahl etwa in seinem Narzißmus-Artikel im Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe ganz auf einen Definitionsversuch verzichtet: „Eine einheitliche Begriffsdefinition fehlt. Ungeklärt ist der metapsychologische Stellenwert des Konzepts. Je nach Einstellung zur Existenz eines ‚primären‘ bzw. ‚sekundären‘ Narzißmus streut das Spektrum von ‚normaler‘ bzw. pathologischer Selbstliebe über ein psychosexuelles Entwicklungsstadium mit pathogenen Fixierungsstellen, die libidinöse Besetzung von Ich oder Selbst(-Repräsentanzen) und die affektive Regulation des Selbst(wert)gefühls bis zur triebunabhängigen Selbst-Entwicklung.“7

Das ‚einende Band‘ zwischen der mythologischen Narziß-Figur und dem stark aufgesplitterten Narzißmus-Konzept seit Freud sieht Wahl im jeweils unterschiedlich gefaßten Selbst- und Objektbezug, was die Psychoanalyse immer wieder zu anthropologischer Selbstreflexion gezwungen habe.8 Man kann den Kern dieser Auseinandersetzungen präzisieren als die Frage nach Beschaffenheit und Entwicklungsmuster der Beziehungsfähigkeit und -notwendigkeit des Menschen(-kindes). Als Freud den Begriff Anfang des letzten Jahrhunderts aus der Psychiatrie übernimmt, ist er im Sinne einer autoerotisch-sexuellen Perversion vorgeprägt.9 Was sich vom vorFreudschen Narzißmusbegriff bis zum heutigen alltäglichen Gebrauch im Groben gehalten hat, ist sein Verständnis als irgendeine Art von Selbstliebe und eine negative, mitunter ‚moralische‘ Bewertung, die im Begriff mitschwingt. Letzteres dürfte u.a. dazu geführt haben, auch qualitativdynamischere psychoanalytische, vor allem aber soziologische Konzepte immer wieder abzuweisen und abzuwerten (s. Kap. V). Eine Diskussion der Narzißmustheorien werde ich hier ebenfalls aussparen, das vorangehende Kapitel war ja eine Stellungnahme zu diesem Problem. Ich werde im folgenden lediglich auf markante Stellen der Theorieentwicklung verweisen, wo diese selbst Auskunft über problematisierte Beziehungsaspekte gibt.

7 8

9

Wahl 2000: S. 473. Seidlers Verständnis des Narzißmus als Reflexivitätsniveau bzw. Ausrichtungsmodus ist hier nicht berücksichtigt. Ebd.: S. 474. So entstand z.B. Kohuts Selbstpsychologie, die in einer grundlegenden Infragestellung des Triebmodells mündete, ursprünglich aus seiner Auseinandersetzung mit dem Narzißmus. Zum Überblick über die verschiedenen Theorieansätze vgl. ebd.: S. 474f, ausführlicher dazu Stimmer 1987. Zur der Frage, durch welchen Autor der Narziß überhaupt in diesen Kontext geriet: „Tatsächlich hat wohl Näcke das Wort ‚Narzißmus‘ geprägt, aber um Ansichten von H. Ellis zu kommentieren, der 1898 als erster (Autoerotism, a psychological Study) ein perverses Verhalten in Verbindung mit der Sage von Narcissus beschrieben hat“ (Laplanche/Pontalis 1994: S. 32, vgl. a. Stimmer 1987: S. 59).

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a) Selbstwertbeziehungen im Wandel der Wir-IchBalance. Problematische Beziehungen Sowohl das Individualisierungs- als auch das Selbstwertkonzept von Elias stellen relativ ausgereifte und wertvolle soziologische Gedankenmodelle dar, die es keineswegs über Bord zu werfen gilt. Vielmehr geht ihre Würdigung und das Aufzeigen ihrer Stärken in diesem Teil mit dem Aufzeigen ihrer Grenzen einher. In einem ersten Schritt wird in Zügen die Individualisierungstheorie skizziert, deren verschiedene Aspekte im weiteren Verlauf aus einer alternativen Sicht bearbeitet werden. Im zweiten Schritt geht es darum zu zeigen, wie man Individualisierung und den Wandel des Erlebens (Selbstwahrnehmung) und der Zuschreibung (Fremdwahrnehmung) des Narzißmus darin konzeptualisieren kann, wenn und solange der Beziehungsbegriff in sich nicht problematisiert wird.

Zum herkömmlichen Verständnis von Individualisierung bei Elias Elias’ Konzept der Wandlungen der Wir-Ich-Balance stellt eine Fokussierung des Zivilisationsprozesses unter dem Gesichtspunkt des Wandels des Verhältnisses des Einzelnen zu der Figuration bzw. den Figurationen, die er mit Anderen bildet, dar. Der Individualisierungsprozeß als eine Verschiebung dieser Balance hin zur Ich-Identität im Verhältnis zur WirIdentität des Einzelnen betrifft den schon zivilisationstheoretisch beschriebenen Wandel des Komplexes Art und Grad der Abhängigkeiten, psychische Beschaffenheit, Selbstbild bzw. allgemeiner Menschenbild, existierende Verhaltensunterschiede und -spielarten, Wertewandel und Art und Grad der (Selbst-)Erkenntnis innerhalb der Figuration und läßt sich entsprechend an diesen ablesen. So kann man zunächst einmal jeweils im Zuge der Entstehung neuer Integrationseinheiten die mit ihnen einhergehenden Desintegrationsprozesse jeweils als Individualisierungsschübe relativ zu den älteren Verbänden fassen. Bei der Entstehung des Feudalsystems handelt es sich z.B. um „eine Individualisierung relativ zum Stammesverband und zum Teil auch relativ zum Familienverband, wie es später Schübe von Individualisierung relativ zum Lehnsverband, zum Zunftverband, zum Standesverband und immer wieder von neuem zum Familienverband geben wird.“10 Mit solchen Verschiebungen der Interdependenzen, der Verlängerung/Verdichtung der Interdependenzketten und der damit einhergehenden Verringerung der Machtdifferentiale wandeln sich nun die Anforderungen an die psychische Struktur des Einzelnen, der kraft seiner sozialen Funktion und Position sein Verhalten auf immer mehr Menschen abstimmen muß. Insofern eine entsprechende Umwandlung der psychischen Struktur stattfindet, geht die Psychogenese in Richtung einer mehr 10 Elias 1989c: S. 80, Herv.i.O.

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autonomen und ‚individuellen‘ Gewissensbildung. Wie bereits ausgeführt, ist der markante Punkt dieser Entwicklung für Elias jene Phase fortgeschrittener Funktionsteilung und Verflechtung, die den Einzelnen an die notwendige Langsicht und Zurückhaltung der Affekte gewöhnt, so daß die Anwesenheit eines Anderen und tendenziell auch eine bestimmte Gruppenbindung nicht mehr ausschlaggebend sind, die also mit der Entstehung einer allseitigen Panzerung, des unsichtbaren Walls, dessen Empfinden oft genug mit dem Körper verschmilzt, einhergeht, wie Elias sagt. Und wie beschrieben, sind die von Elias immer wieder problematisierten Selbstbzw. Menschenbilder eines selbstgenügsamen/-referentiellen Selbst bzw. des wir-losen Ich dieser Psychogenese geschuldet. Eine andere Seite der Verringerung der Machtdifferentiale ist die durch die nach wie vor treibende Zivilisationsdynamik bewirkte Vermischung und Verschmelzung der verschiedenen Verhaltens- und Empfindensmuster zu neuen Spielarten. Die Verringerung der Kontraste und Vergrößerung der Schattierungen des zivilisierten Verhaltens im Verein mit der zunehmenden Panzerung mündet schließlich in dem informalisierten Verhalten, in der Tendenz in Richtung „gleiches Verhalten in allen Lebenslagen“11 beim Einzelnen, jedoch nach wie vor begleitet von der Tendenz, sich abzusetzen. Mit der Verringerung der Differenzen nimmt ihre Bedeutung zu, der Trend des Wertewandels geht in Richtung Betonung und Höherbewertung der Individualität und einer Niedrigbewertung des Geteilten.12 Und schließlich wandeln sich die Erkenntnisfähigkeit und das Selbstbewußtsein der Menschen im Zuge des Individualisierungsprozesses. Der Begriff der Erkenntnisdynamik ist bei Elias insofern schon angelegt, als es ihm nicht lediglich um eine Wissensanhäufung in verschiedenen Bereichen geht, sondern um eine qualitative Veränderung der interdependenten Bezugnahmen auf sich und die eigene Natur, andere Menschen und die außermenschliche Natur. Diese Verhältnisse, die er als die „Grundkoordinaten des menschlichen Lebens“ bezeichnet, an anderer Stelle auch „Triade der Grundkontrollen“ genannt, sind interdependent und bilden somit einen Funktionszusammenhang.13 Die von ihm unterschiedenen Stufen des (Selbst-)Bewußtseins sind immer in Zusammenhang mit den Erfahrungen der Menschen auf diesen Grundkoordinaten zu betrachten. Die Entwicklungslinie wird trotz der Betonung des qualitativen Wandels als aufsteigende, in der Metapher der „Wendeltreppe des Bewußtseins“ dargestellt, bei der verschiedene Stufen jeweils sich überlagernde oder im Sinne der Habitusschichten vielleicht verschachtelte Betrachtungsebenen bezeichnen, also beim Aufstieg zu neuen Ebenen nicht ein-

11 Vgl. Elias 1990b: S. 42 12 Vgl. Elias 1988: S. 210 13 Vgl. ebd.: S. 137, Elias 1986b: S. 173. An anderer Stelle unterscheidet er explizit zwischen der Trieb- und der Selbstkontrolle, so daß sich 4 Arten von Zwängen/Kontrollen ergeben (vgl. Elias 1990b: S. 47f).

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fach gelöscht werden.14 Über einfachere Gesellschaften und Kinder aller Gesellschaften schreibt Elias, diese haben zwar sicherlich ein Bewußtsein ihrer selbst und anderer Menschen, dennoch könnte man versucht sein „zu sagen, daß sie bewußt sind, ohne selbstbewußt zu sein“,15 denn: „[…] sie leben und handeln noch unmittelbar im Umgang und Zusammenhang mit anderen. Sie haben noch keinen Zugang zu einer Erfahrungsform und einer Vorstellungswelt, die es Menschen möglich macht, sich ihrer selbst zugleich auch als etwas außerhalb und unabhängig von der eigenen Gruppe, als einer der eigenen Gruppe gewissermaßen gegenüberstehenden Person bewußt zu werden.“16

Als Körper betrachtet seien zwar alle Menschen getrennt voneinander, so daß Sozialisation immer auch Individualisierung bedeutet, insofern gesellschaftliche Verhaltens- und Empfindensmuster vom Einzelnen verkörperlicht/habitualisiert werden, aber was in höher differenzierten Staatsgesellschaften in höherem Maße hervortritt, „ist die Getrenntheit und Absonderung der einzelnen Menschen in ihren Beziehungen zueinander.“17 Für die Entwicklung hin zur letzteren Lebensform betont Elias die Rolle des ‚Übergangs von stark religiös unterbauten zu säkularisierten Vorstellungen der Menschen von sich selbst und ihrer Welt‘. Dieser ‚Übergang von einem noch vorwiegend autoritären zu einem mehr autonomen Denken‘ findet parallel zur Entwicklung des autonomeren Gewissens statt und steht in Zusammenhang mit einem umfassenderen Individualisierungsschub des europäischen 15., 16. und 17. Jahrhunderts, im Zuge dessen eine Lockerung und ein Machtverlust der gesellschaftlichen Verbände und Institute, die Hauptträger des herkömmlichen Wissens und Weltbildes waren, stattfindet. Dieses autonome Denken bezog sich vor allem auf Naturereignisse, ging jedoch mit einem Wandel der Selbstwahrnehmung und des Selbstbezugs einher. Während es auf der vorigen Bewußtseinsstufe dem Grundschema des Welt- und Menschenbildes entsprach, „daß das, was man mit Sinnen wahrnehmen konnte, Sinn und Bedeutung erhielt durch etwas, das sich grundsätzlich weder durch individuelles Nachdenken noch durch individuelle Beobachtung herausfinden und erhärten ließ“, spiegelt sich in der Denkweise auf der neuen Stufe des Selbstbewußtseins – Elias nennt hier Descartes als Repräsentanten dieser Stufe – „die wachsende Erfahrung seiner Zeit, daß Menschen in der Lage sind, ohne Berufung auf kirchliche oder antike Autoritäten allein aufgrund ihrer eigenen Beobachtungen und Denktätigkeiten Naturzusammenhänge zu enträtseln und der Nutzung für menschliche Zwecke zugänglich zu machen.“18 Im Ergebnis dieser gesell14 15 16 17 18

Vgl. u.a. Elias 1988: S. 140f Ebd.: S. 141 Ebd., Herv.v.mir Ebd.: S. 167, Herv.i.O. Ebd.: S. 136

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schaftlichen Veränderungen und vor allem der wachsenden Zurückhaltung der Affekte gestaltet sich im Bewußtsein der einzelnen Menschen eine Akzentuierung ihrer Existenz als Einzelne, von anderen Menschen und Dingen Losgelöste. Insofern es sich andererseits um ein Gewißheit suchendes, erkennendes Subjekt handelt, rückt in ihrem Selbstbild die Denktätigkeit und ihr Wahrnehmungsvermögen in den Vordergrund. Charakteristisch für diese Stufe des Selbstbewußtseins ist, daß die erlebte Distanz zur ‚Vorstellung eines universellen Detachiertseins des Einzelmenschen‘, andererseits die Funktionen Denken und Wahrnehmen verdinglicht, verräumlicht vorgestellt als Verstand und Sinne problematisiert werden:19 „Und die kartesische Fragestellung, die ‚erkenntnistheoretische‘ Fragestellung überhaupt, war nichts anderes als eine Ausdrucksform dieses neuen Bildes der Menschen von sich selbst.“20 Die Überwindung dieses Menschenbildes, der Aufstieg zu einem neuen Niveau des Selbstbewußtseins ist nach Elias nun im Gange. Dies kommt in jenen Fällen zum Ausdruck, wo man „die nun selbstverständlich gewordene Form des Selbstbewußtseins, die nun als ewig und allgültig erscheinende Grundvorstellung der Menschen von sich selbst als etwas in einer bestimmten Abfolge, in Verbindung mit dem weiteren gesellschaftlichen Erfahrungszusammenhang Gewordenes und Werdendes wahrzunehmen vermag […].“21 Dieser Wandel besteht in dem Lernprozeß, „das eigene Bild im Spiegel des Selbstbewußtseins zugleich auch in einem anderen, weiteren und mehr distanzierten Spiegel einzufangen.“22 Stand die vorige Stufe in Interdependenz mit dem Fortschreiten der Naturkontrolle, ist die neue zusätzlich mit Fortschritten im Sozialen verkoppelt: „Wie ehemals der Anstieg der Naturwissenschaften, so ist gegenwärtig deren rapide Weiterentwicklung zusammen mit dem Anstieg der Gesellschafts-, der Menschenwissenschaften zugleich Antrieb und Symptom dieser Wandlung.“23 Als einen Repräsentanten der Aufbewegung auf der Wendeltreppe versteht Elias seinen eigenen Ansatz. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit von Individualisierung sind kurz auf die Formel gebracht: „Je größer im Zuge der Gesellschaftsentwicklung der Spielraum für Verschiedenheiten der im Gedächtnis der Einzelnen eingravierten Lebenserfahrungen wird, um so größer wird die Chance der Individualisierung.“24 Die Vielfalt der ‚Alterierungsmöglichkeiten‘ – die Alterierung wird gesetzt – verdankt sich wiederum der Verringerung der Machtdifferentiale und Verringerung der Kontraste. Die mit diesen Tendenzen sich verschärfende Problematik des (zu) hoch 19 Vgl. zu den Ausführungen über den Wandel des Selbstbewußtseins vor allem: ebd.: S. 130-165 (II.B. „Die denkenden Statuen“) 20 Ebd.: S. 138 21 Ebd.: S. 139 22 Ebd., Herv.v.mir 23 Ebd.: S. 140f 24 Ebd.: S. 250

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individualisierten Menschen, des sogenannten ‚wir-losen‘ Ich wurde bereits im zweiten Kapitel unter dem Stichwort homo clausus ausgeführt. Hier sah Elias durch die steigenden Anforderungen an die Selbstregulierung der Menschen, durch wachsende Individualisierungszwänge, die mit der Erweiterung der Handlungs- und Entscheidungsspielräume zunehmend wirksam werden, die Gefahr einer Überindividualisierung, die das Wohlbefinden der Menschen betrifft, da das Bedürfnis der Menschen nach einer Gefühlsbejahung durch Andere, nach ‚unreflektierter Wärme und Spontaneität‘ ja nicht verschwindet, während die Fähigkeit zum Geben und Nehmen von Gefühlswärme und Bindung ‚erstickt‘ (Elias) wird. Ähnlich wie in Bezug auf die Erkenntnisdynamik ist Elias jedoch auch hier einigermaßen zuversichtlich, daß die allumgreifende Form menschlichen Zusammenlebens (Entwicklung der Menschheit) eine Stufe erreichen kann, auf der eine ‚ausgewogenere Wir-Ich-Balance‘ zur Vorherrschaft kommen kann. Die gegenwärtig vorherrschende Form der Erkenntnis und der Beziehung befindet sich nun jedoch anscheinend auf einer Stufe der Wendeltreppe, deren Höhenluft den Menschen nicht recht zu bekommen scheint. Es fehlt der ‚psychische Sauerstoff‘ (Kohut). Es leidet gleichzeitig der Realitätsbezug, die Wirksamkeit anderer Menschen. Die Gründe für die Sackgasse, in die das dieser Stufe entsprechende Menschenbild führt, sieht Elias im Vergessen und Ausklammern der Kindheit und der Prozeßhaftigkeit des Menschen und im „Vergessen der ständigen Begegnungen des einzelnen Menschen mit anderen Menschen und der ständigen Verzahnung des eigenen Lebens mit dem von anderen Menschen im Laufe dieses Prozesses.“25 Kann das Aufsteigen auf der Wendeltreppe das Wieder-Erinnern ermöglichen? Kann das Bedürfnis nach unreflektierter Wärme und Spontaneität durch eine weitere reflexive Schleife leichter Befriedigung finden? Wenn ja, wie müßte eine solche Reflexion beschaffen sein? Und nicht zuletzt: Ist die problematisierte Stufe des Seienden nicht schon längst in Theorie und Praxis hin zum Werdenden überwunden? Könnten die Rede vom ‚fragmentierten Selbst‘ und dem ‚situationsspezifischen Emotionsmanagement‘, die posthumanistischen Spekulationen, die Auflösung bzw. Prozessualisierung des Identitätsbegriffs, das sich selbst in ‚mehrere Selbsts‘ zerlegende Individuum, der ‚flexible Mensch‘, das ‚kommunikative Gedächtnis‘ und nicht zuletzt unsere Einsicht in die ‚Relativität der Einheit des Individuums‘ und in die ‚Illusion der Kohärenz‘ des Selbst Ausdruck einer solchen Überwindung sein?

Von der Selbstliebe zu Selbstwertbeziehungen Unterläßt man eine Problematisierung des Beziehungsbegriffs und versteht damit Individualisierung im Rahmen des bei Elias gängigen Macht- und 25 Ebd.: S. 268

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Kontrollbegriffs, so kann man den Narzißmusbegriff ganz im Sinne von ‚Selbstliebe‘ beibehalten, wobei die Konstatierung und Bewertung dieser Selbstliebe seitens des Gegenübers relational, standortgebunden, d.h. abhängig von der Machtstruktur, den habitualisierten Individualitätsgrenzen und deren Wandel ist. Zunächst einmal auf das Subjekt bezogen kann man seine ‚Selbstliebe‘ als ein Erleben auf der Lust-Unlust-Spanne fassen, oder wie Elias und Kohut das tun, die Bedeutungsebene mit einbeziehend vom Erleben von ‚Sinn‘ oder vom ‚Selbstwertgefühl‘, welches sich in Elias’ Worten nach einem ‚vorgegebenen Schema von Selbstwerten‘ figuriert,26 sprechen. Die Einstufung eines bestimmten Verhaltens oder einer bestimmten Persönlichkeitsstruktur als ‚narzißtisch‘ jenseits der Befindlichkeit des Subjekts, ist stark vom Standpunkt des Betrachters abhängig. In diesem Sinne ist der Ausdruck ‚narzißtisch‘ genauso relativ und irreführend wie der Ausdruck ‚zivilisiert‘, bzw. er macht soziologisch nur dann Sinn, wenn man ihn als eine Teilobjektivierung27 innerhalb der Gesamtdynamik im Auge behält. Alltagssprachlich und in weiten Teilen der Psychoanalyse ist er als Sprachelement Reproduzent von Machtstruktur und sozialem Habitus und Anzeiger von deren Wandlungen. Man kann hier in Bezug auf solche Einstufungen vielleicht von der Notwendigkeit einer Art ‚Ungleichzeitigkeit‘ oder Differenz hinsichtlich des eingestuften und des einstufenden Verhaltens- und Empfindensmusters sprechen. So gesehen ist die Diagnose ‚narzißtisch‘ in der Tat normativ. Sie ist das Urteil einer bestimmten Wirklichkeit, bei starken Machtdifferentialen das Urteil einer ‚hegemonialen Wirklichkeit‘, deren Normen verletzt, oder (noch) nicht erfüllt werden, deren ‚Takt‘ nicht eingehalten wird. Insofern solche Abwei26 Vgl. Elias/Scotson 1990: S. 308 27 Den Begriff ‚Teilobjektivierung‘ verwende ich hier im Sinne Bourdieus, der darunter eine soziologisch unzulängliche Sicht auf einen Verflechtungszusammenhang versteht, in der die Untersuchung bei den Kriterien der Kategorisierung, deren Teil man implizit ist, haltmacht, deren Befragung aber erst eine ‚Gesamtobjektivierung‘ annähernd ermöglichen würde: „Dem Spiel von Kultur und Bildung entkommt keiner. Und nur dann eröffnet sich eine wie immer geringe Chance, es in seinem Wahrheitsgehalt dingfest zu machen, wenn man so umfassend wie möglich die Verfahrensweisen objektiviert, auf die man im Vollzug dieser Objektivierung selbst zwangsläufig zurückgreift. De te fabula narratur. Paradoxerweise werden die Spiele der Kultur und Bildung vor ihrer Objektivierung ja gerade geschützt durch die vielfachen Teilobjektivierungen, denen sich die Teilnehmer des Spiels wechselseitig unterwerfen: Nur um den Preis, sich seine eigene ‚Wahrheit‘ zu verhehlen, vermag der ‚Gelehrte‘ die des ‚Weltmanns‘ aufzudecken und vice versa“ (Bourdieu 1987: S. 32, Herv.i.O.). Die Aufdeckung, die Explikation bleibe solange partiell, also falsch, „als die Soziologie den Blickpunkt ausblendet, von dem aus sie selbst das Wort ergreift, anders gesagt, solange sie es unterläßt, das Spiel in seinem Gesamtaufbau zu erfassen“ (ebd.: S. 33, Herv.i.O.). Das Etablierten-Außenseiter-Modell von Elias etwa ist ein gelungener Versuch in diese Richtung, die Teilobjektivierungen (Stigmatisierung/ Gegenstigmatisierung) als sich gegenseitig bedingend in einer Dynamik zu fassen.

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chungen, die als Grenzüberschreitungen oder Anmaßungen erlebt werden, eher die Ausnahme darstellen bzw. Fremdes repräsentieren oder einer (zu überwindenden) Phase (der individuellen oder gesellschaftlichen) Entwicklung zugerechnet werden können, kann eine Pathologisierung, Kriminalisierung oder eine Einstufung als ‚rückständig‘, kindlich, unreif erfolgen. Einige gängige Narzißmus-Wahrnehmungen in zugespitzter Form führe ich zur Veranschaulichung an. Sie alle sind mit Individualisierungsnormen verknüpft, die bestimmenden (impliziten) Kriterien der Kategorisierung sind auch hier Macht und Autonomie. Der primäre (kindliche) Narzißmus, der einen frühen Zustand bezeichnet, „in dem das Kind sich selbst mit seiner ganzen Libido besetzt“,28 wird als ‚normal‘ und entwicklungsbedingend betrachtet. Mit der Annahme eines primären Narzißmus sind allerdings zugleich und vor allem die Ansprüche an das Kind mitformuliert: Es soll sich soweit trennen, daß es den gesellschaftlich üblichen Distanzierungsgrad erreicht, es soll autonom werden und seine Ansprüche einschränken, den ‚Glauben an die Allmacht seiner Gedanken‘ aufgeben, selbstgenügsam werden. „Wo Narziß war, soll Ödipus werden“,29 oder eben homo clausus. Als mögliche Verhaltensweise bleibt dieser Narzißmus latent erhalten und ist auch später gesellschaftlich akzeptabel, solange er bestimmte Bereiche und Ausmaße nicht überschreitet (universaler ~), wie z.B. im Zustand des Verliebtseins oder allgemein als ‚gesunder Narzißmus‘. Gesellschaftlich inakzeptabel wird der Narzißmus, sobald diese Verhaltens- und Empfindensmuster bestimmte Bereiche und Grade überschreiten, d.h. in schwächerer Form als taktlos, in stärkerer Form als unverschämt und/oder pathologisch erlebt werden. Hier hat sich der Einzelne der ‚sozialen Kontrolle‘ gewissermaßen entzogen, verhält

28 Laplanche/Pontalis 1994: S. 320. Der sekundäre Narzißmus meint dann „die Rückwendung der von ihren Objektbesetzungen zurückgezogen Libido“ (ebd.: S. 321). Auch diese Autoren verzichten auf eine einheitliche oder genauere Definition. 29 Wahl 2000: S. 475. Tatsächlich hört sich manche Narzißmustheorie danach an, als ginge es darum, wer seine Ansprüche eher durchsetzen kann: das Kind oder die Gesellschaft. Entwicklungsförderung kommt dann einer Überlistung des Kindes gleich. Über Grunbergers Programm ‚Vom Narzißmus zum Objekt‘ schreibt Wahl: „Nach dieser Psycho-Mythologie eines zeitlospränatalen Glücks führt der grandiose Narzißmus nur dann nicht ins fötale Paradies narzißtischer Regression zurück, wenn es in dialektischer Verschränkung mit dem Trieb gelingt, das ‚narzißtische Trauma‘ (Geburt) durch narzißtische Zufuhr zu kompensieren; das ‚verwöhnte Kind‘ muß freilich zur Anerkennung des Objekts ‚gezwungen‘ werden […]“ (ebd.). Krasser noch ist das Menschenbild des Psychotherapeuten und Ratgeber-Autors Wolfgang Schmidbauer, der allen Ernstes schreibt: „Am Beginn des Lebens steht nicht der bescheidene Bürger, sondern der Großtyrann. Das Kind ist einerseits der kleine Wilde, der am liebsten alles beherrschen und jeden, der ihn einschränkt, sogleich vernichten würde. Andererseits muß es, um die Liebe der nährenden Mitmenschen zu behalten, sich diesen anpassen und sich mit ihnen identifizieren“ (Schmidbauer 2004: S. 12).

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sich zu ‚individualisiert‘. Dies ist dann auch der ‚klinisch beobachtbare, sekundäre Narzißmus‘: ‚kulturell-sozial bedingter Schutz vor dem versagenden Objekt durch Selbstliebe‘, der primäre Narzißmus wird pathogen durch sekundären Rückstau.30 Ein anderer veranschaulichender Fall ist eine Art ‚exotischer‘ Narzißmus, der sich auf den ‚weniger entwickelten Typ Mann‘ bezieht, der seinen Clan als Teil von sich behandelt und untergibt. So kann man etwa von dem ‚narzißtischen Ehrgefühl‘ sprechen, dessen Sicherheit der Ehrenmann mitunter durch die Bedeckung der Frauenkörper seiner Familie zu gewährleisten sucht.31 Dieser Narzißmus wird vom Zivilisationszentrum aus bzw. gemäß dessen Individualisierungsnormen diagnostiziert. So wie die Wahrnehmung eines Narzißmus Individualisierungsdifferentiale anzeigt, in den oben angeführten Beispielen meint er immer ein Zuviel oder Zuwenig an Individualisierung, kann sie auch den Wandel der Machtverhältnisse zum Ausdruck bringen, wo diese bei den ehemals Etablierten Empörung auslösen oder sich bei den Aufsteigern habituell niederschlagen (sollen). Ein Beispiel für Ersteres ist die ‚Verringerung der Machtdifferentiale‘ zwischen den Generationen. Stimmer hat darauf hingewiesen, daß es in der Bundesrepublik in den 70er Jahren zunächst Kinder und Jugendliche waren, „die in wissenschaftlichen Arbeiten als ungewöhnlich (passiv) anspruchsvoll und ungeduldig, zugleich aber ängstlich und verletzlich, als egozentrisch und sozial desinteressiert, apolitisch und gelangweilt, kurz als ‚narzißtisch‘ bezeichnet wurden.“32 So wurde über die Reaktionen auf diesen ‚neuen Sozialisationstypus‘ berichtet: „‚Sie wollen am liebsten alles – und das sofort‘, so klagen viele Lehrer und Eltern, viele Arbeitgeber und Politiker. ‚Sie haben hochfliegende Ansprüche und Erwartungen, wollen aber für die Befriedigung dieser Ansprüche immer weniger leisten‘, so wird gesagt.“33 Ein Beispiel für Letzteres ist der ‚Wandel der Machtverhältnisse‘ zwischen den Geschlechtern. Wardetzki unterscheidet etwa in ihrem Buch „Weiblicher Narzißmus. Der Hunger nach Anerkennung“ zwischen ‚männlichen‘ und ‚weiblichen‘ Formen des Narzißmus: „Während Männer um ihre Autonomie kämpfen und immer befürchten, sie zu verlieren, passen sich Frauen in überstarkem Maße an und erhoffen sich dadurch die Anerkennung des anderen zu erhalten. Der männliche Typus lebt und betont die Distanz, die er als Autonomie erlebt, die aber eher eine Pseudounabhängigkeit bedeutet. Man könnte ihn als ‚Beziehungsvermeider‘ bezeichnen, der Beziehungen abwehrt und sich selbst genug zu sein scheint […]. Die weiblichen Typen dagegen reagieren mit Überanpassung und Aufgabe der eigenen Identität und verhalten sich in Beziehungen symbiotisch anklammernd, sie sind aber ebenso wenig zu 30 31 32 33

Vgl. Wahl 2000: S. 474f Vgl. Bakhtiar 1994: S. 128 Stimmer 1987: S. 52, vgl. Ziehe 1975 G. Bott, zit. n. Stimmer, ebd.: S. 53

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wirklicher Anpassung fähig, wie der männliche Narzißt. Sie suchen die Beziehung und meiden das Alleinsein. Sie gehören sozusagen zu der Gruppe der ‚Beziehungsannehmer‘.“34 Der männliche Typ entspricht dem Eliasschen ‚Überindividualisierten‘, während die Frau in Anbetracht der ihr nun zur Verfügung stehenden Handlungsspielräume ‚unterindividualisiert‘ ist, eben der Typ ‚Beziehungsannehmer‘. Als ein weiteres Beispiel könnte man die Thematisierung des Narzißmus im Zuge der ‚Verringerung der Machtdifferentiale‘ zwischen Regierten und Regierenden anführen. In Wirths Buch „Narzißmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik“ – treffender: der Person bestimmter Politiker – werden Politikerpersönlichkeiten, ihre privaten Beziehungen und ihr Leben ungefragt auf ihren Narzißmus hin abgeklopft. Das Buch soll, wie Wirth es formuliert, „durch ein tieferes Verständnis der unbewußten Motive, die in der Politik wirksam sind, dazu beitragen, der Politik etwas von ihrem ängstigenden und ohnmächtig machenden Charakter zu nehmen.“35 Im Anschluß an Freud hat Elias vorgeschlagen, Erkenntnisse über libidinöse Entwicklungen mit solchen über Entwicklungen eines persönlichen Selbst und diese wiederum mit Erkenntnissen über die sozialen Figurationen, in denen sich das Selbst und das Selbstbild eines Menschen gestalten,

34 Wardetzki 1991: S. 46f 35 Vgl. Wirth 2002: S. 10f. „Was manchem als übertriebene Schärfe der Analyse, als unlauteres Eindringen in die private Sphäre des Politikers, als Sensationslust oder als haltlose Spekulation erscheinen mag, stellt nach meiner Absicht den Versuch dar, auf der Basis allgemein zugänglicher Informationen durch ‚dichte Beschreibungen‘ […], vor dem Hintergrund psychoanalytischer und sozialwissenschaftlicher Theorien und meiner klinischen Erfahrungen als Psychoanalytiker und Familientherapeut – und durchaus auch mit einem Schuss Spekulation – Zugang zum psychischen Erleben der Politiker und zu ihrem persönlichen Empfinden zu gewinnen, um damit ein besseres Verständnis ihrer subjektiven Beweggründe zu ermöglichen“ (ebd.: S. 18). Da Menschen sich unter der emotionalen Erschütterung vielleicht einen Augenblick ‚öffnen‘ und einen kurzen Einblick in ihr Seelenleben gewähren, seien die private Sphäre der Politiker und gerade wohl ihre privaten Krisen in die Betrachtung mit einzubeziehen (vgl. ebd.). Abgesehen davon, daß der spekulative Anteil dieses Buches mehr beträgt als einen ‚Schuß‘, ist es nicht nur Anzeiger von Wandlungen von Machtbeziehungen, sondern auch und vielmehr – trotz seines antizipativen Legitimationsversuchs – Ausdruck eines zeitspezifischen Narzißmus, der allerdings etwas ganz anderes meint, als das, was Wirth unter Narzißmus versteht, nämlich des ubiquitären Narzißmus, auf den ich später eingehe. Denn etwa die Ehe einer Person der politischen Öffentlichkeit als ‚narzißtische Kollision‘ nicht nur zu beschreiben, sondern auch noch ‚empathisch‘ phantasievoll auszuschmücken („Auf diesen Angriff könnte X so reagiert haben…“; „Ich stelle mir vor, dass beide in dieser verfahrenen Situation echt verzweifelt sind…“) ist in diesem Fall nicht nur erlaubt, sondern fällt auch nicht weiter auf, es stößt (außer vielleicht beim Betroffenen) an keine Grenzen. Charakteristisch für diese Form des Narzißmus ist etwa, daß die Suche nach subjektiven Beweggründen der Würde des untersuchten Subjekts übergeordnet wird.

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zu verbinden.36 Seine Alternative zum Narzißmuskonzept ist das der Selbstwertbeziehungen, womit er hervorheben will, „wie sehr das Schicksal von Individuen auch noch in heutigen Industriegesellschaften, durch ihre eigene und die Identifizierung anderer, von der Beschaffenheit und Lage einer ihrer Gruppen abhängen kann.“37 Damit werden einerseits die beiden Narzißmusaspekte ‚subjektives Befinden‘ und ‚Fremdzuschreibung‘ in ihrer Verkoppeltheit betrachtet, andererseits werden die gegenseitigen Teilobjektivierungen in der Gesamtdynamik verflochten gesehen. Die entsprechenden Mechanismen und Verläufe dieser Dynamik hat Elias in seinem Etablierten-Außenseitermodell dargelegt. Auf dieser Ebene der Theorie werden die gegenseitigen Wahrnehmungen als inhaltliche Ausgestaltungen der Selbst- und Wir-Bilder fokussiert, die größtenteils der ‚Logik der Emotionen‘ (Elias) folgend – mächtig gleich höherwertig – Wertempfindungen hervorbringen und als solche selbst konstitutives Element der Machtstruktur einer Figuration sind. Das kommunikative Gedächtnis läuft wie geschmiert, problematisiert werden entsprechend die Selbstwertkonflikte der Verflochtenen. Eine hervorragende Veranschaulichung des kommunikativen Gedächtnisses in dieser Hinsicht ist das Kapitel über Klatsch in dem Buch „Etablierte und Außenseiter“ wo anhand eines Fallbeispiels gezeigt wird, wie Menschen sich und andere ‚machen‘ und sich gegenseitig im sozialen Netz verorten. Neben dem Unterhaltungswert des Schimpf- und Lobklatsches benennt Elias die Funktionen selektiver Informationsfluß, Mobilisierung kommunaler Hilfe, soziale Kontrolle, Schmeichelei und Abwertung, Integration und Ausschluß und damit letztendlich Produktion und Reproduktion der Machtstruktur.38 An seinem Fallbeispiel zeigt Elias, wie eine der verflochtenen Gruppen, diejenige, die ‚enger geknüpft‘ war, aufgrund eben dieser Gruppenkohäsion fähig war, einen Regelkreis gegenseitiger Bewunderung im Innern einerseits, wirksame Stigmatisierungen und Ausschlüsse nach Außen andererseits aufrechtzuerhalten,39 während die weniger eng geknüpfte Außenseitergruppe sich durch ihren ‚Rückzug ins Private‘ der Möglichkeit der sozialen Kontrolle beraubte,40 wodurch die ‚Symptome menschlicher Minderwertigkeit‘, die die Etablierten an ihnen am ehesten wahrnahmen und aufgrund derer sie von dieser stigmatisiert wurden, weiterhin durch die bloßen Bedingungen ihrer Gruppenposition erzeugt wurden.41 Welche Form nimmt aber die Selbstwertdynamik des hoch individualisierten Menschen an, der tendenziell nicht mehr in solch eng-geknüpften Gruppen lebt, der sich zwar mit Gruppen identifizieren mag, die er aber vielleicht nie persönlich zu Gesicht bekommt, der den Klatsch hauptsächlich durch Medien konsu36 37 38 39 40 41

Vgl. Elias/Scotson 1990: S. 203 Ebd.: S. 183 Vgl. ebd.: Kapitel VII: „Über den Klatsch“ (S. 166-186) Vgl. ebd.: S. 177 Vgl. ebd.: S. 164 Zu diesem Mechanismus vgl. ebd.: S. 21

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miert, und für den seine Beziehungen, die er von Angesicht zu Angesicht pflegt, tendenziell auswechselbar und irrelevant werden, für den das einzig Permanente in seinem Leben er selbst oder im Extremfall vielmehr sein Körper ist?42 Während Elias die Hoffnung hegte, daß sich mit Zunahme des Wissens in den Menschenwissenschaften auch die Selbstwertkonflikte lösen, der eigene Selbstwert nicht mehr von der Herabsetzung anderer Menschen abhängig ist, daß sich im Zuge der Ausbreitung der Zivilisation auch die Reichweite der Identifizierung mit anderen, fernen, fremden Menschen vergrößert, ist es lohnenswert hier weiter bei der ‚Identifizierung‘ bei geringer Reichweite und der Selbstwertproblematik in diesem Bereich zu bleiben.

b) Von den Selbstwertbeziehungen zu den Selbstbeziehungen im Wandel der Wir-IchBalance – eine Annäherung Die unterschiedlichen Auffassungen über die Selbstwertdynamik des hoch individualisierten Menschen lassen sich an unterschiedlichen Haltungen zum und Begriffen vom Schamgefühl kategorisieren, dem neben dem Narzißmus in den letzten Jahrzehnten ebenfalls starke Aufmerksamkeit zuteil wurde. Eine soziologisch relevante Verknüpfung der Diskurse über Scham und Narzißmus liegt u.a. in jener als Informalisierung bezeichneten Entwicklung begründet, die neben den oben genannten gesellschaftlichen Teilobjektivierungen insofern einen Sonderfall darstellt, als hier die Tendenz vorherrscht, vormals als narzißtisch wahrgenommenes Verhalten nicht mehr als solches wahrzunehmen. Das wäre dann eine Art ubiquitärer Narzißmus, bei dem die zuvor in einer Gesellschaft als narzißtisch im Sinne von taktlos oder anmaßend/unverschämt erlebten Verhaltens- und Empfindensmuster nun den sozialen Habitus dominieren und von den vorherrschenden Empfindensmustern tendenziell nicht mehr als Grenzüberschreitung erlebt werden, keine Scham- und Peinlichkeitsgefühle hervorrufen, 42 So stellt Bauman fest, daß unsere sterbliche Hülle heute vielleicht das Langlebigste ist, was uns umgibt (vgl. Bauman 2003: S. 215). Neben dem Körper sind es auch Mediengestalten, die einen im Leben länger begleiten als mancher reale Mensch. Bemerkenswert ist wie unmerklich und tiefgreifend Mediengestalten und -inszenierungen am kommunikativen Gedächtnis teilhaben können (s. Problem der ‚Quellenamnesie‘, Welzer 2002: S. 42), so daß es in einem psychoanalytischen Aufsatz über Narzißmus wie selbstverständlich heißt: „Diese ganzen Prozesse der Veränderung des Ichs geschehen natürlich nicht nur in der Intimität des Mit-sich-selber-Ausmachens, sondern finden auch in der Öffentlichkeit des Gesehen-Werdens statt, im AngesprochenWerden, im Wirken auf andere, sind begleitet von Selbstsicherheit und Selbstunsicherheit, von der Suche nach einem Selbstverständnis und der Suche nach Identifikationen mit Figuren, welche die Palette von Pippi Langstrumpf bis zu Terminator umspannen können“ (Längle 2002: S. 15f).

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weshalb das ‚Zeitalter des Narzißmus‘ bisweilen mit dem ‚Zeitalter der Schamlosigkeit‘ assoziiert wird. Diese Entwicklung gab ja Elias und Nachfolgern Anlaß zur Prüfung der Frage, ob im 20. Jahrhundert die Scham- und Peinlichkeitsschwellen gesunken seien und was dies an Konsequenzen für den Zivilisationsprozeß hätte. Die Relevanz dieser Frage besteht darin, daß das Schamgefühl für Elias ja der zentrale psychische Mechanismus der Zivilisierung war, kraft dessen sich zivilisatorische Macht einschreibt und aktualisiert. Das Problem, das die Informalisierungstheorie zu lösen hatte, war eine Gleichung zu finden, in der sinkende Schamschwellen mit fortschreitendem Zivilisationsprozeß gleichgesetzt werden konnten, wobei ihr die Kategorie der Selbstkontrolle zur Hilfe kam. Läßt man die Narzißmustheorien einmal außen vor und setzt am Schambegriff an, kann man drei Varianten an Zeitdiagnosen unterscheiden, die jeweils einen unterschiedlichen Schambegriff beinhalten. Eine als konservativ eingestufte Diagnose bzw. Klage ist die vom „Zeitalter der Schamlosigkeit“, in welchem das Schamgefühl den Menschen in westlichen Gesellschaften abhanden gekommen sei.43 Diese Klage würde eher in einen Wertestreit führen, etwa darüber, warum es nicht human sein soll, sich zu exhibitionieren, wo es doch den Beteiligten Vergnügen bereitet und es zudem selbstwertvermittelnd ist. Die zweite, in emanzipatorischer Hinsicht optimistische Variante (die man auch als Antwort auf die erste lesen kann) ist im fünften Kapitel schon mit den Ansätzen von Elias und Wouters beschrieben. Während bei Elias nach der allseitigen Individualisierung eine allseitige Informalisierung einsetzt, bei der davon auszugehen ist, daß das Schamgefühl weiterhin im Stillen als habitualisierter Takt operiert und so einen gewissen Standard an Selbstkontrolle sichert, hatte Wouters am Rande darauf hingewiesen, daß es im Zuge der Informalisierung ‚äußerliche Symptome‘ der Abhängigkeit sind, die nun schambeladen und somit vermieden werden. Da nun das Schamgefühl selbst ‚äußerliche Symptome‘ der Abhängigkeit hervorbringen kann, wie z.B. Erröten, ist es tatsächlich u.a. auch die Scham selbst, die im Zuge dieses spezifischen Individualisierungsprozesses schambeladen wird. Dies ist auch die These von Sighard Neckel, demzufolge – entgegen den ersten beiden Varianten – einerseits Vorkommen und Relevanz des Schamgefühls in individualisierteren Gesellschaften zugenommen haben, andererseits soziale Ungleichheiten über das Schamgefühl reproduziert werden, ohne daß diese Dynamik in einem zivilisatorischen Prozeß im Eliasschen Sinne eingebettet wäre.

43 Vgl. Kaltenbrunner 1984. „Der Augenblick ist gekommen, daran zu erinnern, daß nicht alles gezeigt werden muß. Daß Humanität sich weit eher mit einigen Tabus vereinbaren läßt, nicht aber mit totaler Aufklärung und Emanzipation. […] Daß Freiheit nicht mit Schamlosigkeit wesensgleich ist“ (ebd.: S. 20, Herv.i.O.).

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Im zweiten Kapitel hatte ich bereits zwei Schambegriffe bei Elias unterschieden, wobei der erste eine Funktion der Über-Ich-Bildung, im Sinne der Selbstwertregulation für die Einhaltung gesellschaftlicher Ge- und Verbote und die entsprechende Affektkontrolle verantwortlich war. Die Stabilität dieses Über-Ich wurde jedoch gesichert durch eine „Mauer von Affekten“, die als Funktion gesellschaftlicher Konditionierungsprozesse sich vielmehr auf das spezifische Verhältnis der Menschen zueinander im Hinblick auf Art und Grad der gegenseitigen Affizierung bezog. Hier, nämlich bei der Aufrechterhaltung der Mauer als eines affektiv im Habitus der Menschen verankerten und immer wieder in Beziehung reproduzierten bzw. aktualisierten Musters von Nähe und Distanz, wurde der zweite Schambegriff angesiedelt. Dieser Schambegriff, der sich auf die affektive Signalisierung der soziogenen Grenzen des Selbst bezieht und der ‚ÜberIch-Bildung‘ vorausgeht, wurde im vorangehenden Kapitel präzisiert und in seinem Verhältnis zum ersten, das bei Elias ungeklärt geblieben war, erörtert: Kurz, die Fähigkeit zur Selbstwertregulation und die Urteilsfunktion sind gebunden an die Verfügbarkeit des Schamaffekts. Ist Letzteres der Fall, entsteht objektive Selbstbewußtheit als stabile, abgegrenzte Struktur, und der eigene beurteilende/objektivierende Blick kann tendenziell – und weiterhin abhängig von der gesellschaftlichen Machtstruktur – von dem des jeweiligen Gegenübers unterschieden bzw. dem entgegengesetzt werden. Ist dies einigermaßen der Fall, bewegt man sich tendenziell auf der Ebene der Selbstwertkonflikte, die Elias im EtabliertenAußenseiter-Modell konzeptualisiert hat. Die Aneignung der Urteilsfunktion katapultiert den Einzelnen also nicht jenseits gesellschaftlicher Machtstruktur, sondern diese ist eingeschrieben in den Grenzen, die durch Scham und Ekel signalisiert werden, Konstituens des Selbst. Man könnte also von einer Art ‚psychischer Freiheit‘ zu gesellschaftlicher Unter-/ Überlegenheit und entsprechender Kämpfe sprechen, bei denen es immer auch um Identität, um die inhaltliche Ausgestaltung des Selbst geht.44 Soweit die Erinnerung an Elias’ Schambegriff und dessen Revidierung. Hinsichtlich des ‚Vorrückens‘ bzw. des ‚Anstiegs‘ der Scham- und Peinlichkeitsschwellen als jeweilige Schübe des In-Bewegung-Geratens der Verhaltensstandards wurden weiter drei interdependente Aspekte ausgemacht: die jeweils mit Aufmerksamkeit bedachten und ‚durchgeformten‘ Verhaltensbereiche, das jeweilige Gegenüber, auf das sich das Verhalten richtet und die jeweilige Form der Verhaltensteuerung. Der jeweilige Stand der ‚Schwelle‘ bezeichnete unter Berücksichtigung des zweiten Schambegriffs den Kreis/die Mauer um den Körper des Einzelnen in Abgrenzung zum Gegenüber samt deren psychischer Repräsentation (der Schwelle und des Gegenübers) beim Subjekt. Beim Vorrücken der 44 Damit ist zugleich gesagt, daß mit der problematisierten Selbstebene immer tendenziell starke Selbstwertkonflikte einhergehen, diese jedoch anders gestaltet sind (vgl. Kap VI).

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Schwelle handelt es sich aus Eliasscher Sicht dann um eine zunehmende Distanzierung und Demokratisierung in den Beziehungen und um ein zunehmendes Dominantwerden der Selbststeuerung. Dem Zusammenhang dieser drei Aspekte aus einer qualitativ-dynamischen Sicht werde ich hier anhand des Wandels der Qualität/Bedeutung der Scham und dessen Erleben und der daraus entstehenden Dynamik weiter nachgehen. Sighard Neckel ist u.a. in seiner Arbeit „Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit“ den Ursachen, Bedeutungen und Funktionen des Schamgefühls in der modernen Gesellschaft im Kontext des in der Soziologie als Individualisierung von Klassengesellschaften beschriebenen Prozesses nachgegangen, mit starkem Akzent auf der Tatsache, daß auch in ‚hoch individualisierten‘ Gesellschaften Scham nicht allein individualpsychologisch erklärt werden kann, vielmehr in ihrer Funktion und Bedeutung innerhalb von Machtprozessen betrachtet werden muß. Soziale (statusgebundene) Scham, so Neckel, sei ‚Wahrnehmung sozialer Ungleichheit‘, Beschämung eine Machtausübung, die soziale Ungleichheit (re-)produziert. Eine ‚wachsende Relevanz der Scham‘ – ich würde eher von einer veränderten Relevanz sprechen – in entwickelteren Gesellschaften, so seine These, gehe einher mit der Individualisierung sozialer Unterlegenheit. Diesen Ansatz nehme ich als Ausgangspunkt der Diskussion, um in eine alternative Sicht der Individualisierung überzuleiten, die die Selbstebene stärker berücksichtigt.

Scham im Individualisierungsprozeß I: Machtdimension Mit Neckel kann man schematisch drei historische Schamformen unterscheiden, die in ihren strukturellen Differenzen unterschiedlichen Individualisierungsmustern entsprechen. Die ‚archaische Scham‘ findet sich in stark wir-dominierten face-to-face-Gruppen mit geringer Arbeitsteilung, bei denen die physische und soziale Existenz des Einzelnen alternativlos an die Gruppe gebunden ist. Hier sei die Scham ‚moralisches Gebot‘ und „die Beweggründe, die der einzelne an sich selbst erfährt, sind ausschließlich kollektive und übersteigen den Bereich der individuellen Verantwortung bei weitem.“45 Das Schamgefühl bezieht sich hier nicht nur auf den Status des Einzelnen in der Gruppe, sondern darüber hinaus ebenso auf das Verhältnis der Gruppe zur Welt, so daß ein Vergehen, ein Schicksalsschlag oder ein Mißlingen vor allem die Integrität der Gruppe beschädigen kann, die durch entsprechende Rituale, im Extremfall den ‚altruistischen Selbstmord‘ (Durkheim), wiederherzustellen ist, andernfalls ein Ausschluß aus der Gruppe die Folge ist. Zur Charakterisierung dieser Gruppen führt Neckel Mary Douglas’ Bezeichnung ‚Gesellschaften mit dichten symbolischen Klassifikationsgittern‘ an, „Gesellschaften also, in denen ein einheitliches Normensystem allumfassend und absolut zwingend das Verhalten 45 Neckel 1991: S. 61

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eines jeden in gleicher Weise bestimmt und jede Abweichung dem Verdikt der Gruppe verfällt.“46 Schamgefühle dienten hier einer hohen moralischen Kontrolle von Gruppen mit stark ausgeprägtem Ritualismus, anhand dessen Fehlverhalten eindeutig spezifizierbar sei. Auf einer weiteren Stufe gesellschaftlicher Entwicklung, auf der eine Integration kleinerer Einheiten auf höherer Stufe ansatzweise stattgefunden hat bzw. innerhalb der Gesamtgruppe die Differenzierung sozialer Funktionen und Positionen fortgeschrittener ist, zerfällt die zuvor tendenziell gleiche Lebenswirklichkeit. War die Gruppenstruktur in der Kleingruppe eher homogen und ging es bei den Verhaltensanforderungen vor allem um Konformität der Einzelnen, tritt hier einerseits der Einzelne als Individuum stärker hervor, andererseits nimmt die Dichte der symbolischen Klassifikationen ab. Es verbleiben einige wenige umfassende Kategorien, diese werden aber um so entschiedener verfochten und mit Sanktionen belegt, es wächst die Stärke der symbolischen Klassifikationen. Die soziale Organisation basiert bei diesem Typ „auf einer gestaffelten Hierarchie, die sich innerhalb eines breiten Netzes von Loyalitätsbeziehungen auf die machthabende Führerposition konzentriert.“47 Während dichte Klassifikationen der Kohäsion der Gruppe im Ganzen dienen, so dienen starke der Abgrenzung verschiedener Gruppen innerhalb eines größeren, differenzierteren Sozialverbandes. Hier haben wir also die oben schon aus individualisierterer Sicht als ‚narzißtisch‘ eingestufte Gesellschaft der ‚Ehrenmänner‘ samt ihrer jeweiligen Gefolgschaft. Nach Douglas stellt die Ehre selbst eine starke Klassifikation dar, aber damit zusammenhängend u.a. auch Zahl der Anhänger und die Kontrolle über diese, insbesondere über die Frauen.48 Es sind dann nach Neckel solche Kulturen, in denen Ehre und Scham als ‚zentrale Oppositionen der sozialen Orientierung‘ fungieren, deren gemeinsames Merkmal er im Anschluß an Douglas als die allen Ehrenvorstellungen zugrundeliegende Bestimmung faßt, „ein hierarchisches Muster der Klassifikation, der Einschätzung und Bewertung sozialer Positionen zu sein, das die fundamentalen normativen Prinzipien festhält, nach denen die sozialen Ränge im Verhältnis zueinander abgrenzbar sind.“49 Unter Ehre versteht er den Status, den ein Individuum als Angehöriger einer bestimmten Gruppe innerhalb der größeren Gesellschaft innehat, die Scham entsprechend als den ‚Makel der Macht‘, der dem Unterlegenen innerhalb der ‚Ehrkonkurrenz‘, verstanden als Statuskampf, aufgedrängt werden konnte. Neben dieser Funktion als negative Sanktion, als Modus der sozialen Kontrolle durch ‚Beschämung‘, fungiert die Scham dort als Wert, wo sie als Selbstkontrolle die illegitime Demonstration von Individualität blockiert.50

46 47 48 49 50

Ebd.: S. 61 Ebd.: S. 62 Vgl. Douglas 1986: S. 97, Neckel 1991: S. 62 Neckel 1991: S. 62 Vgl. ebd.: S. 62-65

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Dieses Konzept von Scham und Ehre ist in Gesellschaften vorherrschend, in denen soziale Unterschiede institutionell gesichert sind. Verhalten, Ausdruck und die Art der Beziehungen betonen diese sozialen Unterschiede. Mit fortschreitendem Staatsbildungsprozeß und zunehmender Differenzierung sozialer Funktionen und Positionen, im Zuge derer die institutionelle Sicherung ehrzuweisender sozialer Unterschiede tendenziell entfällt, verbleibt die Ehre abzüglich ihrer vormaligen Funktion der institutionellen Bevorrechtung von Gruppen einerseits als symbolische Dimension noch in der Welt der Klassen, wo sie den Kollektivstatus einzelner Gruppen informell verankert bzw. angreifbar macht. Mit der institutionellen Sicherung der Gleichheit gleichzeitig jedoch in Konkurrenz und Widerspruch zur ‚Ehre‘ tritt das Konzept der Würde, die der Einzelne für sich reklamiert, zugleich mit allen anderen teilt und die darauf beruht, daß der Einzelne politisches Rechtssubjekt ist, das legitime Ansprüche auf die Verwirklichung gleicher Rechte und Chancen stellen kann.51 Während Neckel darauf hinweist, daß im Bereich politischer und rechtlicher Institutionen und der öffentlichen Kommunikation soziale Scham Entlastung finden, aber auch funktionalisiert werden kann, wird von ihm die Rolle der Schamgefühle in den ‚informellen Sphären der Gesellschaft‘ eigens weiterverfolgt, was seine Untersuchung auf jeden Fall auszeichnet. Hier, so schreibt er, sei Scham generell eine ‚heimliche‘, nicht darstellungsfähige Emotion, die gerade deshalb im Kampf um soziale Vorteile nutzbar gemacht werden kann. Dies hängt mit dem Verlust eines ‚Funktionsaspekts‘ der ‚modernen Scham‘ im Zuge der Individualisierung zusammen: „Im Unterschied zu vormodernen Gesellschaften hat Scham ihren Status als ‚Wert‘, der nicht nur die sexuelle Sphäre, sondern das gesamte soziale Leben beherrscht, weitgehend verloren. Die Darstellung von Individualität ist heute geradezu gefordert, sie muß durch das Gebot der Scham nicht mehr blockiert werden. Als ‚Sanktion‘ wirkt Scham mit unverminderter Schärfe – und zwar umso mehr, je weniger sie noch einen ‚Wert‘ bezeichnet. Im Zuge der Entwicklung moderner Individualitätsmuster hat sich die Scham selbst disqualifiziert.“52

Die Macht der Scham nimmt in modernen Gesellschaften nicht ab, sondern findet ein anderes Ziel als früher und tritt in veränderten Formen auf. Wo vorher der Verlust der Zugehörigkeit zum Kollektiv oder dessen Anerkennung als Niedergang der Selbstachtung erlebt werden konnte, sei es heute das sich seiner Individualität bewußte Subjekt, das realiter zwar hochgradig sozial bedingt ist, als Persönlichkeitsnormen aber die Werte der Selbständigkeit, des Erfolgs und des persönlichen Strebens vorfindet: Scham steige jetzt als ‚scheiternder Selbstbezug‘ in den Individuen auf, als ‚Störung der Selbstidentifizierung‘.53 Dies ist eine Scham, der keine ge51 Vgl. ebd.: S. 71 52 Ebd.: S. 77, Herv.i.O. 53 Ebd.: S. 77

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sellschaftlichen Entlastungsrituale zur Verfügung stehen. Die von der konservativen Kulturkritik diagnostizierte ‚Schamlosigkeit‘ sei eben als Konsequenz, als eine individuelle Strategie zur Bewältigung der ‚modernen Scham‘ zu betrachten, denn sie resultiert aus der Schamangst, die das soziale Leben durchherrscht: „In der ‚Schamlosigkeit‘ wird negativ demonstriert, wovor man sich positiv am meisten fürchtet: beschämbar zu sein […]“.54 Auch Elias’ Theorie sozialer Ungleichheit wird bei Neckel Gegenstand der Kritik. Denn in Elias’ Theorie der Individualisierung „verliert sich mit der modernen Gesellschaft der Machtaspekt der Scham in den Niederungen der menschlichen Psyche, die als Spur vergangener Machtanwendung Selbstzwänge internalisiert hat. Mit Ausnahme der Erziehung taucht Scham in den Interaktionen als Machtphänomen nicht mehr auf.“55 Wie ich in dieser Arbeit versucht habe zu zeigen, sind Schicksal und Verbleib der Affekte in zwischenmenschlichen Beziehungen ein grundlegendes Problem der Eliasschen Zivilisationstheorie, dem ich hier auf der Spur bin. Neckels Frage nach dem Verbleib der Scham in gesellschaftlichen Machtprozessen und Selbstwertbeziehungen ‚demokratisierter‘ Gesellschaften stellt nur einen Aspekt dieses Problems dar. Aufschlußreicher und wegweisend ist seine Kritik an Wouters’ Theorie ‚emotionaler Informalisierung‘, wo er die Besonderheit der Scham im Vergleich zu anderen Emotionen hervorhebt: „Der Charakter der Scham, einen Instinktrest in sich zu tragen“, so heißt es, „begrenzt auch unser Vermögen, Schamgefühle zu ‚steuern‘, sie dem Bewußtsein verfügbar zu machen […] Scham stellt sich ein, ist nicht verhandelbar, ‚Gefühlskontrolle‘ […] meist nutzlos.“56 Begreift man die zunehmende ‚Schamlosigkeit‘ bzw. Informalisierung als 54 Ebd.: S. 180 55 Ebd.: S. 142, Herv.i.O. Die Kritik, die Neckel insgesamt an Elias’ Schamkonzept übt, ist nicht ganz berechtigt. So behauptet Neckel, die Scham, von der Elias spreche, sei wesentlich Körperscham, was nicht zutrifft. Dies wird besonders in seinem Buch „Etablierte und Außenseiter“, aber auch schon in früheren Arbeiten deutlich. Wo Neckels Kritik auf jeden Fall zutrifft, ist die Vernachlässigung der Selbstwertdynamik des hoch individualisierten Menschen, des homo clausus bei Elias. Diese Lücke füllt Neckel mit seiner These, daß in der modernen Gesellschaft die Entstehung von Scham und Beschämung mehr und mehr in die Horizontale der Sozialstruktur verlagert werde (vgl. ebd.: S. 79, zu Neckels Auseinandersetzung mit Elias’ Theorie ebd.: Kap. VII). 56 Neckel 2000: S. 94. Mit dem Verweis auf die ontologische Unentrinnbarkeit der Scham im Zusammenhang mit dem ‚Instinktrest‘ in ihr nähert sich Nekkel stark dem im vorangehenden Kapitel ausgeführten Konzept des Schamaffekts an, verbleibt aber in seinen weiteren machttheoretischen Überlegungen beim Schamgefühl bzw. vermischt beides. In Seidlers Worten besagt das oben Zitierte: „Es gibt keine reflektierende Distanz zur Reflexionsbewegung, die sich als Schamaffekt manifestiert“ (Seidler 2001a: S. 31). Der Instinktrest bestünde dann in der diagnostischen Fähigkeit zur Unterscheidung von ‚fremd‘ und vertraut‘, bei gleichzeitiger Unausweichlichkeit der Diagnose. Die Diagnose besteht in der Affizierung, dem Wirksamwerden der Scham als Grenzsignal.

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Emanzipation von Emotionen, glaube man schlicht den Phänomenen, was diese von sich behaupten: „Die Informalisierung des Gefühlslebens findet am intimsten Selbstgefühl des Individuums, seiner Scham, ihre Grenze: weder ist – wie dies für andere Sektoren des Gefühlslebens konstatiert wurde – ihr ‚Ausleben‘ selbstverständlicher, noch ist ‚Emotionskontrolle‘ in dieser Sphäre seltener oder Scham ‚diskursfähiger‘ geworden. Die Expressivität des Gefühlslebens mag im allgemeinen zugenommen haben. Scham jedoch ist davon ausgenommen, weil ihre Darstellung dem herrschenden Ideal einer überlegenen Individualität direkt entgegensteht.“57

Alteritätstheoretisch gesehen muß man in dieser Stellungnahme zwei Aussagen differenzieren. Zunächst wird mit dem Verweis auf die Besonderheit der Scham hervorgehoben, daß Alterität nicht kontrollierbar ist, letztlich, daß der Einzelne sich nicht selbst ‚machen‘ kann. Der andere Punkt ist der, wie das Zustoßen der Alterität erlebt wird, wie die Alterität wirkt und wie damit umgegangen wird. Aus der Konstellation ‚Realität des Anderen‘ versus ‚Ideal der Autonomie‘ setzt sich Neckels Theorie sozialer Ungleichheit fort, wobei die Realität des Anderen vor allem in seiner ‚Macht‘ fokussiert wird, zu beschämen. Die Dynamik der Reproduktion sozialer Ungleichheit ist davon bestimmt, daß gerade das Ideal der Autonomie und damit einhergehend die Tabuisierung der Scham als Gegenindiz dieser Autonomie die Person angreifbarer macht für Beschämungen und somit zum Autonomieverlust führt. „Mit der Individualisierung der kulturellen Persönlichkeitsmuster, der sozialen Lagen und der subjektiven Wahrnehmungsformen wachsen in der modernen Gesellschaft auch die Möglichkeiten der Beschämung wieder an. Insofern Scham von der Person her zum Tabu des Individualitätsbewußtseins wird, eignen sich Beschämungen in besonderer Weise dazu, als soziale Waffe in den alltäglichen Situationen zwischen den Individuen zu fungieren.“58

Der wesentliche Zug der Scham besteht bei Neckel im Machtverlust als ihrer Folge bzw. in der Machthemmung: „Insofern Scham mit der Unterwerfung unter die Gewalt einer fremden Bewertung verbunden ist, ist sie Resultat wie Ausgangspunkt der Anwendung der Macht […] Da Scham mit einer Unterlegenheit verbunden ist, für deren Verursachung man sich selbst verantwortlich macht, ermöglicht sie die Macht des anderen auch dort noch, wo eine Auflehnung gegen sie gerechtfertigt wäre.“59 Wo aber eine ‚Auflehnung gegen Macht‘ gerechtfertigt ist, entscheidet die jeweilige normative Perspektive des Betrachters, die bei Neckel auch expliziert wird: „Eine kritische Theorie der Scham ist nur möglich als Kritik von 57 Neckel 1991: S. 181f 58 Ebd.: S. 182 59 Ebd.: S. 183

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Herrschaft. Soziale Scham endet da, wo ungleiche soziale Chancen wechselseitiger Anerkennung nicht gegeben sind.“60 Doch was ist die ‚Macht des Anderen‘, gegen die sich aufzulehnen gerechtfertigt oder gar gefordert ist? Wie sähe eine ‚Gleichverteilung sozialer Anerkennung‘ aus? Was wäre soziale Anerkennung, wenn sie zu verteilen wäre? Für Neckel entspricht der ungleichen Verteilung sozialer Anerkennung, deren Ausdruck die Scham der Unterlegenheit ist, eine machtgestütze Ungleichverteilung von Lebenschancen in der kapitalistischen Gesellschaft, die ihren kulturellen Widerspruch in den verallgemeinerten sozialen Ansprüchen einer autonomen Individualität findet.61 Der entscheidende Punkt dabei ist ein qualitativer Wandel der Reproduktion sozialer Ungleichheit, die Entstehung einer neuen Dimension des gesellschaftlichen Lebens durch die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Realität und individualisiertem Anspruch, eine Dimension, deren Charakteristikum in persönliches Versagen abgewandelte ‚Systemprobleme‘ darstellen. Wo vorher die ‚soziale Konstruktion der Unterlegenheit‘ am kollektiven Status ansetzte und an ‚moralischen Werten‘ wie Würde und Solidarität, deren Sanktionsform die Scham darstellte, orientiert war, ist es heute die ‚defizitäre Individualität‘, die zu Scham Anlaß gibt bzw. durch Scham festgestellt wird. Was durch sie sanktioniert wird, sei das Scheitern strategischer Interessen wie Erfolg und Souveränität. Hier konstatiert Neckel mit A. Heller eine ‚moralische Entleerung‘ des Schamgefühls, die durch eben diese Art der Verflochtenheit der Menschen in Selbstwertkonflikte bedingt ist: „Die moderne Gesellschaft entschlägt sich mit der sozialen Konkurrenz, die sie kennzeichnet, selbst der Mittel, um die universalistische Moral, über die sie verfügt, zum alltagspraktischen Wertinhalt von Schamgefühlen werden zu lassen, die dadurch eine zivilisierende Kraft in der Gesellschaft bekämen.“62

Stattdessen mündet diese Selbstwertdynamik in den Kulturwandel, der sich in den westlichen Gesellschaften im Laufe der 80er Jahre eingestellt habe, der sich konzentriert um eine „folgenreiche Verwandlung des Bildes von Subjektivität, in der die Suche nach dem ‚wahren, authentischen‘ Ich vom Training des funktionalen Ich abgelöst wurde, das nichts so sehr fürchtet, wie anderen unterlegen zu sein“.63 Als zwei Aspekte dieser Entwicklung benennt er: „[…] die gesteigerte Relevanz und die veränderte Art der persönlichen Selbstdarstellung, die 60 Ebd.: S. 191 61 Ebd.: S. 193. Zur Funktionalität von Scham und Beschämung und den feineren Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit s. ebd.: Kap. X. 62 Ebd.: S. 78 63 Ebd.: S. 174, Herv.i.O.. Neckel sieht durchaus auch andere Aspekte der postmodernen Entwicklung, hier ist nur wie er sagt, ihre ‚dunkle Seite‘ dargestellt (vgl. ebd.: S. 271, Anm. 77).

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sich auf die Präsentation von Souveränität konzentriert; sowie die Ausbreitung und der Wandel der populären Therapieformen, des inneren Reparaturbetriebes dessen, was nach außen gezeigt werden muß.“64 Die Tendenz in der Veränderung der kulturellen Präferenzen geht von der „Analyse und der subjektiven Befreiung dessen, was verborgen ist, hin zur Effektivierung dessen, was vorhanden ist.“65 Den Hintergrund dieser Entwicklung sieht er in einer gestiegenen ‚Erwartung an die innere Machbarkeit einer adäquaten Persönlichkeit in der postmodernen Kultur‘, die Methoden der Effektivierung sind Autosuggestion und Symptomverbot bei gleichzeitiger Individualisierung von Krankheit und Gesundheit, Erfolg und Scheitern.66 Im Zuge einer so verlaufenden Individualisierung werde das Potential einer ‚reflexiven Individualität‘, die der Bedingungen ihrer Möglichkeit bewußt wäre, und versuchte, Selbstentfaltung und Solidarität in der eigenen Handlungsorientierung zu verbinden, unter dem Druck sozialer und ökonomischer Konkurrenz in zwei Pole gerissen: einen ‚expressiven‘ Individualismus und einen ‚utilitaristischen‘, deren Gemeinsamkeit es sei, außerhalb der Belange der eigenen Person kaum noch andere Handlungskriterien zu kennen: „Egozentrisches Nutzenkalkül und der unaufhörliche narzißtische Wunsch nach psychischer Befriedigung gehören zusammen.“67 Aus dieser Sicht stellt Individualisierung dann nicht einfach einen zunehmenden Selbstbezug dar, sondern eine zunehmende Problematisierung des Selbstbezugs. Die Beschäftigung mit eigenen ‚Emotionen‘ und die Suche nach dem ‚wahren Selbst‘ wird erweitert um die Bastelei und Perfektionierung der eigenen Biographie und Fähigkeiten, die ja eigentlich die Grundlage und Bedingung jeglichen Selbstbezugs bilden. Haben wir es in Seidlers Selbstmodell mit einem Prozeß zu tun, in dem die Alterität – ‚wie die Fingerkuppe den Schneckenfühler‘ – das Subjekt zur Rückwendung auf sich selbst veranlaßt,68 wodurch diesem eine Außenperspektive von sich zugänglich wird, handelt es sich bei dieser Individualisierung anscheinend um einen Prozeß, in dem ganze Scharen von ‚Experten‘ und Massen an Ratgeber- und Lebenshilfe-Literatur aufgeboten werden, um das Subjekt auf sich selbst zu verweisen – daher auch das Suffix ‚Selbst-‘, das also soviel meint wie mach es/dich selbst –, dessen Ergebnis ein ‚Selbstbezug‘ ist, der den Charakter eines ‚Leerlaufs‘ hat. In Neckels Worten: „Heute kommt es auf die Subjektivität der Person an, welche zugleich ihr größtes Problem ist.“69 Die zunehmende Expertenabhängigkeit und die Professionalisierung der Alterität stellen nur einen Aspekt der hier darzustellenden Dynamik dar. Aber sie deuten schon an, in welchem Maße die 64 65 66 67 68 69

Ebd.: S. 174 Ebd., Herv.i.O. Vgl. ebd.: S. 174f Ebd.: S. 175 Vgl. Seidler 2001a: S. 40 Neckel 2000: S. 31

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Selbstwertproblematik des so individualisierten Menschen auf die Selbstproblematik verweist. Auffallend an Neckels Ausführungen über die Scham ist weiter eine Tendenz zur Quantifizierung selbst da, wo von Qualität die Rede ist. Die Reduktion des Anderen auf seine Funktion der Beschämung, die Reduktion der Scham auf einen ‚Makel der Macht‘, sowie die Rede von der Verteilung und Ungleichverteilung der Anerkennung legen den Verdacht nahe, daß auch bei dieser Konzeption tendenziell das Ideal der Autonomie am Werke ist, in ihr die ‚Macht des Anderen‘ per se etwas Negatives darstellt. Einerseits wird von Neckel die Relevanz der habituellen Ebene hervorgehoben, andererseits jedoch die damit angesprochene Psychodynamik verkürzt als ‚Machtproblem‘ dargestellt und somit in der Konsequenz wieder aufgegeben, wenn er etwa im Sinne eines Ausblicks auf Überwindung der von ihm dargestellten Selbstwertproblematik schreibt: „Differenz muß nicht zwangsläufig mit dem Urteil der Minderwertigkeit verbunden sein, das sie in unserer Gesellschaft zugeordnet bekommt; dann würde auch Scham nicht zur sozialen Diskriminierung mißbraucht.“70 Auch in dieser Theorie hängt die Realisierung des Potentials ‚reflexiver Individualität‘ von einem Bewußtseinsakt ab, der allerdings bei Neckel im Gegensatz zu Wouters gerade durch die gesellschaftlichen Bedingungen konterkariert wird. Ist soziale Ungleichheit an sich etwas, was aus der Welt geschafft werden muß? Diese Frage führt uns weiter zu einigen verdeckten Aspekten des Narzißmus, die im folgenden anhand von Sennetts Theorie der ‚Autorität‘ beleuchtet werden.

Scham im Individualisierungsprozeß II: Das Gegenüber der Scham Ein weiterführender Weg eröffnet sich über die – wenn sie denn zuträfe, vernichtende – Kritik Neckels an Sennett. Dieser wird von ihm eingestuft als ein Theoretiker, „der Inferioritätsempfindungen in der kapitalistischen Gesellschaft zunächst sensibel erforschte, und sie später dann gegen die Subjekte selbst wandte.“71 So wie Neckel untersuche auch Sennett Scham 70 Neckel 1991: S. 251 71 Ebd.: S. 182. Ersteres hätte Sennett in dem Buch „The Hidden Injuries of Class“ (Sennett/Cobb, New York 1973) geleistet, letzteres sich in seinem Buch „Autorität“ (Sennett 1990). Von der ersten Analyse sozialer Scham, die mit Neckels Standpunkt wohl übereingeht, zur ‚zweiten‘ stellt Neckel eine Veränderung der normativen Perspektive und eine Veränderung der Ursachenbeschreibung sozialer Scham fest: „Resultierte sie in ‚The Hidden Injuries of Class‘ noch aus der ungleichen Verteilung sozialer Anerkennung, der eine machtgestützte Ungleichverteilung von Lebenschancen in der kapitalistischen Gesellschaft entsprach, sollen jetzt die Subjekte an ihrer Scham letztlich doch wieder selbst schuld sein: sie glauben an etwas Falsches, und müssen daher, wollen sie ihre Scham verlieren, dem Ideal der Autonomie und ‚Selbstentfaltung‘ entsagen, das die bürgerliche Gesellschaft zwar als

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und Beschämung als Mechanismen moderner Herrschaft, doch um das zu tun, steige er „in die seelischen Abgründe der Menschen hinab. Bei diesem riskanten Unternehmen läuft er schließlich Gefahr, selbst in den Abgründen zu versinken.“72 Der ‚Abgrund‘ tut sich da auf, wo es Sennett nicht um einen ‚gleichberechtigten Umgang‘, dessen Bedingungen und somit um eine Perspektive der gesellschaftlichen Veränderung dahin geht. Aus dem Tatbestand ‚Es gibt keine Freiheit von anderen‘, mache Sennett: ‚Es gibt keine Freiheit von Autorität‘, woraus Neckel unterstellt: ‚Es gibt keine Freiheit vom Gehorsam‘. Sennett plädiere, so Neckel, für eine kulturell ‚regressive‘ Lösung, die die ungleichen sozialen Bedingungen von Anerkennung nicht antastet, aber das normative Anspruchsniveau der Subjekte absenken will: Verzicht auf das falsche Ideal der Autonomie als Therapie bei gleichzeitiger Beibehaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Ungleichheit und Abhängigkeit immer wieder neu reproduzieren. Der ‚Kulturpessimist Sennett‘ entlarvt sich bei Neckel als ‚hinterhältiger Konservativist‘ da sein ‚Plädoyer für die Unmündigkeit‘ eben mit dem kritischen Anspruch auftritt, die Befehlsketten unterbrechen zu wollen.73 Diese Reaktion Neckels mag damit zusammenhängen, daß Sennett in seinem Buch ‚Autorität‘ dem Empfinden eines bestimmten sozialen Habitus nach tatsächlich einen Tabubruch begeht: „Mein Buch handelt von einem Paradoxon: solange man das Bedürfnis nach wirklichen Autoritätsgestalten nicht als eine positive, dem Erwachsenen gemäße Haltung akzeptiert, bleiben die verschleierten Autoritätsgestalten unangefochten. Das Tabu muß gebrochen werden, damit die Manipulation aufhört. Eine ‚wirkliche Autorität‘ ist in meinen Augen kein repressiver oder tyrannischer Herrscher; diese Erwartung selbst ist noch ein Indiz dafür, wie schwer es uns fällt, über das Phänomen der Autorität nachzudenken.“74

Das Bedürfnis nach Autorität sei elementar und lehnen wir diese auch ab, bleibt der Wunsch nach Orientierung, Geborgenheit und Stabilität, er zergeht nicht, auch nicht beim Erwachsenen, sondern nimmt eine eigene Dynamik an. Daß Autorität im modernen Bewußtsein als aus sich heraus gefährlich betrachtet wird und den Status eines Tabus erlangt hat, vergleichbar dem Sexualtabu des 19. Jahrhunderts, führe zu verzerrten AutoritätserAnspruch ihrer Epoche postuliert, ohne damit jedoch alle gemeint zu haben“ (Neckel 1991: S. 188). Bei Sennett jedoch geht es nicht darum, irgendwelche Scham zu verlieren, sondern weiterhin um die Bedingung der Möglichkeit solcher Scham und der historischen Genese bestimmter Machttechniken. Daher geht diese Interpretation und entsprechend die Kritik mal wieder gänzlich an Sennetts Anliegen vorbei. Das Verständnis der Bedingungen dieses ‚Mißverständnisses‘ bringen uns Sennetts Anliegen jedoch etwas näher. 72 Neckel 1991: S. 184 73 Vgl. ebd.: S. 188f 74 Sennett 1990: S. 15f

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fahrungen und einer erhöhten Anfälligkeit für Manipulationen durch Autoritäten. In seinem Buch wird also untersucht, was es mit dieser modernen Angst vor Autorität auf sich hat, welche Autoritäten sie einflößen und welche Bilder einer besseren Autorität vorstellbar sind, ja er spricht sogar von den ‚Tugenden der Autorität‘ und plädiert dafür, diese, die wir aus der Privatsphäre kennen mögen, auch in der öffentlichen Sphäre wirksam werden zu lassen.75 Unter Autorität versteht Sennett einen Prozeß der Deutung der Macht, eine Interpretation der Beziehung zwischen Machtstärkeren und -schwächeren, die im sozialen Austausch konstruiert wird.76 Während in vormodernen Autoritätsvorstellungen noch Macht und Legitimität tendenziell Hand in Hand gehen, insofern die Stärke einer Person als auch nützlich für andere geglaubt wird, sind im Zuge gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse Macht und Legitimität zunehmend gespalten, was das wesentliche Merkmal moderner Autorität ausmache.77 Und hier haben wir einen entscheidenden Unterschied zu Neckels Theorie sozialer Ungleichheit: Wo die Infragestellung der Legitimität der Stärke und ihre Ablehnung gewachsen wäre, wären wir bei Neckel auf dem Weg in die ‚Gleichheit‘ und somit ‚Freiheit‘. Bei Sennett ist jedoch die Ablehnung der Autorität bzw. der Legitimität der Macht selbst noch eine Abwehr der Scham der Unterlegenheit. Daß Gleichheit und Freiheit auch unter diesen individualisierten Bedingungen nicht eintreten, liegt nach Sennett daran, daß die Stärke, die wir an einem anderen wahrnehmen, auf uns zurückwirkt, gleichgültig, wie ungerechtfertigt sie uns erscheinen mag.78 Dadurch entsteht eine bestimmte Schamdynamik, die Sennett als ‚Ablehnungsbindung‘ bezeichnet: „Die Ablehnung des anderen und das Verlangen nach ihm sind untrennbar.“79 Diese Dynamik der Bindung durch Ablehnung aber ist auch in Neckels Interpretation der ‚Schamlosigkeit als Zeitdiagnose‘ (s.o.) schon angelegt, wenn auch nicht ausgeschöpft. Hier könnte man einen Punkt setzen und sagen, daß der Streitpunkt wirklich in der normativen Perspektive der Autoren und entsprechenden Akzentsetzungen liegt: Aufgabe der Illusion der Autonomie versus Beibehaltung des Ideals der Autonomie; regressiver Konservatismus versus fortschrittlicher Emanzipationismus. Man könnte dies tun in der beruhigenden Annahme, die Soziologen wären sich einig darüber, was unter Macht, Autonomie und Gleichheit zu verstehen ist. Ich meine allerdings, daß wir es bei Sennetts Theorie der Autorität nicht nur mit einem Beitrag zur Theorie sozialer Ungleichheit zu tun haben. Wie in fast all seinen Werken werden auch hier implizit zivilisatori75 76 77 78 79

Vgl. ebd.: S. 13-16 Vgl. ebd.: S. 25 u. S. 32 Vgl. ebd.: S. 55f Vgl. ebd.: S. 56 Ebd.: S. 60. Er unterscheidet drei Arten der Ablehnungsbindung: die ungehorsame Abhängigkeit von der Autorität, die idealisierte Ersetzung der Autorität und Phantasien des Verschwindens der Autorität (vgl. u.a. ebd.: S. 35ff).

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sche Aspekte bearbeitet, die durch eine machttheoretische Fokussierung leicht aus dem Blickfeld geraten. Der Wandel der Autorität im Wandel der Wir-Ich-Balance betrifft schließlich das Gegenüber der Scham. Einige Züge dieses Wandels, wie er von Sennett beschrieben ist, werde ich hier wiedergeben, wobei sie als zivilisatorische Aspekte noch ausarbeitungsbedürftig sind. Die Geschichte der Autorität liest sich bei Sennett als die Verwandlung einer Beziehungsform in eine Metapher und eine anschließende Tilgung dieser Metapher samt der Beziehung. Die Entwicklungslinie der Autoritätsbilder zieht sich vom Patriarchat bzw. dem Patrimonialismus über den Paternalismus hin zur Autonomie. Die ersten beiden Autoritätsbilder haben ihre Grundlage im Bewußtsein der Menschen von ihren Abhängigkeiten voneinander, die Vertragscharakter hatten und durch die männliche Vererbungslinie bestimmt waren.80 Im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung hin zur Trennung der Arbeitswelt vom Haushalt, zum Wachstum der Städte und freien Arbeitsmarkt ist dem Patrimonialismus die materielle Grundlage entzogen: „Wo es nichts Festes zu erben gibt – keinen Status, kein festes Vermögen, keine Mitgiften –, da gerät der Patrimonialismus ins Wanken.“81 Die weitere Basis der Herrschaft der Männer war tendenziell nunmehr eine symbolische, sie beruhte jetzt auf ihren ‚Vaterrollen‘ als ‚die Beschützer‘, ‚die Richter‘ und ‚die Starken‘. Diese symbolische Basis findet seinen Ausdruck im Paternalismus, der im Zeitalter des Hochkapitalismus einerseits aus dem Versuch entstand, die Kluft zwischen dem ökonomischen Individualismus und dem Wunsch nach Gemeinschaft zu überbrücken, andererseits aber die Funktion übernahm, die Macht im außerfamilialen Bereich zu legitimieren: „Während im 17. und 18. Jahrhundert die meisten Väter tatsächlich die ‚Chefs‘ ihrer Kinder waren […], war der Satz ‚Der Chef ist ein Vater‘ unter den brüchigen, unbeständigen Familienverhältnissen des 19. Jahrhunderts nur noch eine Metapher.“82 80 Der Unterschied zwischen der patriarchalen und der patrimonialen Gesellschaft liegt in der Reichweite der Zugehörigkeit, die im ersten Fall auf die Familie beschränkt, im zweiten Fall auf eine nächsthöhere Integrationsstufe ausgedehnt ist: „Ein Patriarchat ist eine Gesellschaft, in der alle Menschen in dem Bewußtsein leben, durch Blutsbande miteinander verwandt zu sein. Jeder bestimmt seine Beziehung zu jedem anderen Angehörigen der Gesellschaft über Abstammungsverhältnisse […]/Der Patrimonialismus unterscheidet sich vom Patriarchalismus […] insofern, als die Menschen ihre sozialen Beziehungen nicht ausschließlich als Familienbeziehungen auffassen […]. Die männliche Abstammungslinie ist zu einem Modell für die Vererbung von Vermögen und sozialer Stellung innerhalb einer Gesellschaft geworden, die bewußt wahrnimmt, daß die Menschen auch durch außerfamiliale Bindungen zusammengehalten werden“ (ebd.: S. 65f, Herv.i.O.). 81 Ebd.: S. 67 82 Ebd.: S. 64. Die ersten Versuche, soziale Gemeinschaften auf der Grundlage paternalistischer Prinzipien zu errichten, konzentrierten sich im 19. Jh. zu-

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Diese Art der Metaphernbildung funktioniere, indem aus einer kleinen Szene ausgewählte Elemente verwendet werden, die durch ‚Vergrößerung‘ wirksam werden. In diesem Fall wird eine direkte menschliche Beziehung, die zwischen Kind und Elterngestalt, zum Material für ein machtvolles, einschüchterndes Autoritätsbild, gleichsam ‚überlebensgroß‘. Was hier vergrößert wird, ist die Reichweite und die Macht des Begriffs ‚Vater‘, das Element der elterlichen Kontrolle über sein ‚natürliches Maß‘ hinaus. Neben der Vergrößerung verblassen andere Elemente der ursprünglichen Beziehung, was beides auch rückwirkend unsere Vorstellung vom Vater selbst verändert.83 Diese Transformationsregel kennzeichnet Sennett als ein gebräuchliches Verfahren, um in Gesellschaften mit langen Interdependenzketten die Familie in eine assoziative Verbindung mit der Arbeitswelt, der Politik oder dem Kriegshandwerk zu bringen: „[…] es setzt bei den konkreten, unmittelbaren Erfahrungen des einzelnen an und baut sie buchstäblich bis zu dem Punkt auf, wo sie entfernten, distanzierten Personen eine Bedeutung zu verleihen erlauben. So gewinnen diese Personen Unmittelbarkeit – man kann sie sich vorstellen –, zugleich aber etwas Ehrfurchtgebietendes – sie sind Überväter.“84

So sind auch die Symbolik und die Metapher auf die konkrete Beziehung, auf Affizierung angewiesen, auch wenn es sich hier eher um Als-obSchleifen im Sinne Damasios handelt. Hier findet ein Bedeutungswandel, eine Veränderung der Ausgerichtetheit des Autoritätsbedürfnisses statt unter fortgesetzter Erzeugung des Glaubens und der Möglichkeit der Identifizierung seitens der Schwächeren. Es handelt sich, wie Sennett sagt, um eine ‚verzerrte Umsetzung aus der ursprünglichen, kleinen Dimension‘, die zu einer Verzerrung der Wahrnehmung der Machtverhältnisse führt. Die Verzerrung hat aber noch weitreichendere Konsequenzen, als man es mit der Formel Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit erfassen kann. Es sind zivilisatorische Konsequenzen. nächst auf Arbeitshäuser, Irrenanstalten und Gefängnisse, wodurch diese den Charakter von Besserungsanstalten annahmen. Der Unternehmenspaternalismus zielte zunächst nicht auf rigorose Kontrolle oder moralische Besserung, sondern auf die Bewahrung der wohltätigen Wirkung familialer Werte. Als sich diese Ideen als profitabel erwiesen, wurde die Kontrolle über das Leben der Arbeiter zwecks Erhöhung der Produktivitätsraten, allerdings nun moralisch begründet, weiter ausgedehnt (vgl. ebd.: S. 72-77). 83 Vgl. ebd.: S. 85f. Die Praxis dieser Vergrößerung und Ausblendung innerhalb einer paternalistischen Beziehung macht er an einem Bsp. anschaulich: „In Benthams Panopticon erhalten die Wächter im Zentralturm eine außerordentliche Macht über ihre Schützlinge, um sie zu bessern, um ihnen Gutes zu tun; aber diese wohltätige Macht ist ganz und gar egoistisch. Die Schützlinge können mit ihren Herren nicht sprechen, sie können sie nicht einmal sehen. Isoliert, ohne daß sie unterbrochen oder in Zweifel gezogen werden können, tun die Herren Gutes“ (ebd.: S. 86). 84 Ebd.: S. 87, Herv.v.mir

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Mit der Verzerrung habe die Spaltung zwischen Macht und Legitimität der Autorität begonnen, denn stets verband sich mit diesen starken Gestalten, die Furcht und Ehrfurcht einflößten, der Eindruck, ‚daß hier etwas nicht stimmte‘.85 Sennett nennt den Paternalismus ‚eine Autorität der falschen Liebe‘. Die paternalistische Metapher sei so konstruiert, daß sie zur Negation herausfordert. Sie erzeugt in den Schwächeren eine Ablehnungsbindung. Keineswegs hält Sennett hier eine ‚Anlehnungsbindung‘ für richtiger oder dergleichen. Diejenigen, die diese Autorität ablehnen, haben recht, denn der Vorgesetzte sorgt nur in dem Maße für seine Untergebenen, wie es seinen eigenen Interessen entgegenkommt. Wenn er Geschenke macht, befindet er über die Bedingungen, die an dieses Geschenk geknüpft sind. Seine Liebe ist falsch, weil sie nicht fördernd ist. Anders als der ‚Vater‘ blockiert er Wachstum und Emanzipation, denn er fühlt sich durch jeden Widerstand bedroht. Die meisten ‚demokratisierten‘ Menschen bringen daher Verständnis auf für den Impuls, die paternale Autorität zu erschüttern. Dennoch, an der Bruchstelle, wo dieser Impuls auftritt, geht etwas ‚Wertvolles‘ verloren: „Wenn wir beobachten, wie schwer es den der Macht Unterworfenen fällt, jene zu verstoßen, die für sie zu sorgen behaupten, und wenn wir die Enttäuschung beobachten, die der Zurückweisung folgt, dann haben wir Menschen vor Augen, denen der Sinn für eine bestimmte menschliche Dimension von Macht abhanden gekommen ist.“86

Welcher Sinn und welche Dimension sind damit gemeint? Was ist das Wertvolle, das verlorengeht? Sennett versucht dies u.a. an der ‚Tragödie des modernen Industrialismus‘ zu verdeutlichen. Die Tragik hätte weder in der Unterdrückung der Schwachen noch in ihrer mangelnden Ausrüstung zur Gegenwehr bestanden, dies sind ja Züge jeder Herrschaft. Tragisch sei hier vielmehr gewesen, daß die Unterdrückten nie in der Lage waren, die Art, wie die Herrschenden ihre Macht einsetzten, zu transzendieren:87 „Die Negation der Autorität transzendiert nicht das Ethos des Kapitalismus: ‚Besitz‘ bleibt der Leitbegriff. Die Vision einer besseren Gesellschaftsordnung, einer besseren Autorität, die auf die ihr Untergebenen eingeht und ihnen Förderung und Obhut zuteil werden läßt, erwächst aus diesem Widerstand nicht.“88 85 Vgl. ebd.: S. 55 86 Ebd.: S. 101 87 Vgl. ebd.: S. 88f. Diesen Gedanken übernimmt Sennett aus Guido de Ruggieros ‚Geschichte des Liberalismus in Europa‘. Sennett ist hier sehr auf die ‚Tragödie des modernen Industrialismus‘ fixiert. Ich belasse es dabei, wenn auch das ‚nie‘ sowie der Modus der Transzendierung der Überprüfung und einer differenzierteren Sicht bedürften. Im Kern ist Sennetts These zuzustimmen, interessanter wäre die Frage nach dem ‚Warum‘. Der Sog, der von diesem ‚Ethos des Kapitalismus‘ ausgeht, ist erklärungsbedürftig. 88 Ebd.: S. 90, Herv.i.O.

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Zwischenmenschliche Beziehungen sind mit Machtkategorien nicht ausreichend charakterisiert: „Jemandem entgegentreten bedeutet, etwas über ihn und zugleich etwas über den eigenen Platz in der Welt erfahren.“89 Und dieser Platz ist ebensowenig ausreichend mit Machtkategorien beschrieben. Indem aber die auf solche Art in Ablehnungsbindungen verflochtenen Menschen den Wert des Stärkeren übernehmen, verwandelt sich die persönliche Konfrontation in einen Kampf um Eigenständigkeit: „Der Inhalt von Autorität, das, was Autorität sein könnte, wird beiseite geschoben.“90 Die Dominanz der Funktion über den Inhalt bzw. die Personalität des Gegenübers sei hier zunächst als ein von Sennett angesprochener zivilisatorischer Zug des Wandels der Autorität festgehalten. Des weiteren weist dieser Wandel einen anderen Aspekt auf, der mit dem ersten eng zusammenhängt und die Beziehung im Kern trifft. In der Ablehnung der Autorität wird die Metapher zerstört, aber die Zerstörung mündet in die Überzeugung, Freiheit beweise sich in der ‚Aufkündigung des Glaubens‘. Dies ist damit gemeint, wenn Sennett sagt, der Sinn für eine bestimmte Dimension des Zwischenmenschlichen gehe verloren, denn es ist nicht die selektive Aufkündigung des Glaubens an diesen oder solchen: „Die Wahrheit liegt in der Negation – aber die Anklage richtet sich nicht dagegen, daß man seinen Glauben dem Falschen geschenkt hat, sie richtet sich gegen den Glauben überhaupt.“91 Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen für die weitere Psycho- und Beziehungsdynamik, die sich in der nächsten Autoritätsgestalt ‚Autonomie‘ manifestiert. Aber bleiben wir noch bei diesem letzten Punkt: Wie kann man ‚Sinn‘ und ‚Glauben‘ in diesem Zusammenhang präzisieren? Die wahre Emotion sei von Glauben begleitet,92 heißt es bei Sartre. Nach Stern beruhen Metaphern auf Entsprechungen in Gefühlsqualitäten, durch die Abstimmungen in interpersonellen Austauschprozessen möglich werden, wobei die Abstimmung eine Umgestaltung eines subjektiven Zustands darstellt. In der Metapher wird dieser Zustand vermittelt, wobei aus dieser Sicht das expressive Modul schon den Charakter von Metapher trägt. Den eigentlichen Bezug der Entsprechung jedoch stellt nicht das äußere Verhaltensgeschehen dar, sondern der ‚vermutete oder unmittelbar wahrgenommene Gefühlszustand‘ in diesem. Den Gegenstand der Abstimmungen macht Stern u.a. in den Vitalitätsaffekten aus, insofern diese eine ‚gemeinsame Währung‘ darstellen, die das Erleben und die Praxis von Intersubjektivität erst ermöglicht. Metaphern bauen also auf solchen ‚Währungen‘ auf. Sie und ihre Praxis in Interaktion sind die Grundlage dessen, was wir glauben können. Auf einer anderen Ebene kann der Begriff Vater ebenfalls als solch eine Währung

89 Ebd.: S. 100 90 Ebd.: S. 91, Herv.v.mir 91 Ebd.: S. 101, s.a. Abschnitt „Das Glaubensbekenntnis des negativen Geistes“ (ebd.: S. 50-61) 92 Vgl. Sartre 1997: S. 304

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fungieren, im Falle der von Sennett beschriebenen Herrschaftsmetapher ist er nur eine scheinbar gemeinsame Währung. Während man von Metaphern im Sinne Sterns allgemein sagen kann, daß sie Gefühlsqualitäten vermitteln und Beziehung ermöglichen, verzerrt Sennetts Herrschaftsmetapher Gefühlsqualitäten und sie kann die tendenziell einseitige Ausgestaltung der Beziehung bestimmen.93 Zum Verständnis der nächstfolgenden Autoritätsgestalt ist es nötig, sich die sich an dieser Stelle schon ankündigende problemträchtige Vermengung der Selbstwert- mit der Selbstebene vor Augen zu führen. Der von Stern so beschriebene ‚vermutete oder unmittelbar wahrgenommene Gefühlszustand‘, dem in der Beziehung entsprochen wird, setzt einerseits den grundlegenden Glauben voraus, daß Kommunikation möglich ist. Doch erinnern wir uns an Seidlers Erweiterung des Konzepts der Vitalitätsaffekte, in dem hervorgehoben wird, daß bereits auf dieser impliziten Ebene der Andere Initiator der Modifizierung der wahrgenommenen und vermuteten Zustände ist, so wird deutlich, daß der von Sennett beschriebene Wandel der Autorität an einem empfindlichen Nerv menschlichen Seins ansetzt: Es geht auch basal um die Beziehung, um interaktionelle Akte wechselseitiger Wahrnehmung und somit um Subjektkonstituierung. Die gleichen gesellschaftlichen Tendenzen, die das Bedürfnis nach Gemeinschaft und als Folge den Paternalismus im 19. Jh. hervorgebracht haben, haben nach Sennett eine entgegensetzte Tendenz gestärkt, die er im Sinne Alexis de Tocquevilles als ‚Individualismus‘ bezeichnet, deren Folge ‚Autonomie‘ sei. Diese bildet als Autoritätsgestalt den entgegengesetzten Extrempunkt zum Paternalismus, insofern hier eine Anteilnahme nicht einmal vorgetäuscht wird, es handele sich dabei um eine ‚Autorität ohne Liebe‘: „Diese Autoritätsbilder sind weniger greifbar, weil sie auf den ersten Blick mit der Kontrolle über andere nichts zu tun haben. Es sind Bilder einer Person, die autonom ist.“94 Aus der metaphorischen Verschmelzung von Macht und Obhut/Liebe entfällt hier einerseits der Anspruch, Obhut zu bieten – andererseits wird die Macht unsichtbar. Die beiden Autoritätsgestalten werden von Sennett zunächst nicht in einem Nacheinander, sondern als gleichzeitige Extrempunkte der Entwicklung gezeichnet. Die einfache Form dieser autonomen Gestalt findet sich beim Experten: Der Arzt, der Ingenieur oder der Naturwissenschaftler, seine Autonomie besteht im Besitz von Fertigkeiten, die er sich selbst verdankt, und die von anderen gebraucht werden. Die komplexere Form von Autonomie erwächst weniger aus fachlichem Können und vielmehr aus einer bestimmten Charakterstruktur, dessen Prototyp der Manager ist, der Mensch, der Menschen managt. Dieser muß „über ein Repertoire von Haltungen verfügen, die es ihm ermöglichen, seine Unabhängigkeit und seine Selbständig93 Vgl. Sterns Ausführungen zur Metapher und Affektabstimmung: Stern 2000: S. 89, S. 202f, S. 229f 94 Sennett 1990: S. 103

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keit und zugleich die Initiative zu behalten, statt nur zu reagieren.“95 Überlegenheit erwächst hier aus Teilnahmslosigkeit: „Etwas gerät aus der Balance: Die anderen zeigen ihr Bedürfnis nach dir deutlicher, als du dein Bedürfnis nach ihnen zeigst. Das macht dich zum Herren der Situation.“96 Mit der Teilnahmslosigkeit wird die Macht verhüllt: Sie scheint aus dem Nirgendwo zu kommen, sie wirkt ‚unpersönlich‘. Wenn ‚die Macht‘ aber apersonal wird, bedeutet das nicht, daß sie in den Strukturen verschwindet, es bedeutet, daß die (Macht-)Beziehungen ihren personalen Charakter verlieren. Sennett kritisiert die Tendenz, diese ‚Unpersönlichkeit‘ etwa in der Bürokratie durch Kategorien wie ‚Größe‘ oder Komplexität der Institutionen erklären zu wollen. Diese Kategorien sind selbst unpersönlich. Schlägt man diese Richtung ein, entgeht einem die Dynamik der Beziehung, die nach wie vor zwischen den beteiligten Personen fortbesteht. Einerseits fehlt dabei der Bezug auf Charakter und Verhalten der Mächtigen, andererseits das Subjekt, das auf diese Kälte reagiert: „Dieses Subjekt ist ebenfalls Teil der Bürokratie; es reagiert auf die Ausdruckslosigkeit in den Gesichtern derer, die ‚das Sagen haben‘.“97 Und seine Reaktion ist alles andere als unpersönlich: „Jemand, der sich teilnahmslos zeigt, weckt in uns den Wunsch, von ihm anerkannt zu werden; wir wollen, daß dieser Mensch merkt, daß wir seine Beachtung verdient haben. Selbst wenn wir ihn provozieren oder angreifen, geht es uns vor allem darum, ihm eine Reaktion zu entlocken. Wir fürchten seine Gleichgültigkeit, begreifen nicht, woher seine Reserviertheit rührt, und werden dadurch emotional abhängig von ihm.“98

Aber haben wir seine Beachtung auch wirklich verdient? Wenn Autonomie im Sinne einer Charakterstruktur zum Ideal wird, dann ist es schließlich und letztlich die bei sich und anderen wahrgenommene Kohärenz des Selbst, die Gegenstand und Instrument von Scham und Beschämung wird. „Es klingt seltsam“, schreibt Sennett, „daß die Entfaltung eines kohärenten Selbst andere stigmatisiert; doch genau dies ist die soziale Begleiterscheinung von Autonomie.“99 Dieser seltsame Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung des Selbst und der Affektivität und der Erfahrung der Macht bzw. des Anderen, der das Werk Sennetts durchzieht, der darüber hinaus einen entscheidenden Punkt der Sozio- und Psychogenese dessen darstellt, was als Individualisierung bezeichnet wird, läßt sich vielleicht etwas verdeutlichen, wenn man noch mal zu den wir-habenden Menschen zurückkehrt und danach Ausschau hält, was hier verlorengegangen sein 95 96 97 98 99

Ebd.: S. 105, Herv.v.mir Ebd. Ebd.: S. 107 Ebd.: S. 105f Ebd.: S. 112. Anstelle von ‚kohärentem Selbst‘ müßte hier besser von einem als kohärent erscheidenden/wahrgenommenen Selbst die Rede sein.

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mag. Naturgemäß eignen sich jene Autoren dafür am besten, die entweder für das Verlorengangene Partei ergreifen, oder zumindest ein Verständnis für die entsprechenden Lebensformen vermitteln wollen, ohne sogleich in die Feierlichkeiten des vermeintlichen Freiheitsgewinns durch Individualisierung zu verfallen. Dies sind jene Autoren, die die Machtkategorie nicht von vornherein ins Zentrum ihrer Untersuchung gestellt haben. In den folgenden zwei Abschnitten geht es um eine Kontrastierung eines bestimmten Formalismus versus Individualismus aus Sicht solcher Autoren.

Scham im Individualisierungsprozeß III: Die Bedeutungsdimension „Ich habe schließlich auch einen Schnurrbart.“ (kabylisches Sprichwort)

„Die Struktur des Nicht-Wissens von Menschen in den Worten von Menschen zu bestimmen, die bereits wissen, ist keine leichte Aufgabe.“100 So umschreibt Elias ein für ihn hervorstechendes wissenssoziologisches Problem, das aus dem Aufstieg auf der Wendeltreppe resultiert: Unsere Worte verkörpern ein Niveau von Synthese, das für eine spätere Stufe im Wissensprozeß repräsentativ sei. Wie soll man mit diesen hochentwickelten Denkkategorien, die ‚unschuldige Selbstbezogenheit‘, das höhere ‚Niveau der Affektivität aller Erfahrungen, aller Begriffe und Denkoperationen‘ der Nicht-Wissenden nachvollziehen? In der Tat gibt es hier ein Problem, das mit der Wendeltreppe zusammenhängt. Das Wertesystem der Ehre etwa, darauf weist Bourdieu in seiner ethnologischen Studie über die Kabylen hin, beruht auf implizitem Wissen, es wird eher praktiziert als gedacht. Die Grammatik der Ehre kann den Handlungen Form geben, ohne selbst formuliert zu werden.101 Wenn wir Neckel folgend die Ehre, verstanden als anerkannte Machtposition, und die Scham, verstanden als Makel der Macht, als zentrale Oppositionen der sozialen Orientierung explizieren, so liegt dem ein spezifisches Verkennen im Erkennen zugrunde, das schwerlich auf einer ‚höheren Syntheseebene‘ verortet werden kann. Dieses Verkennen beruht ebenso auf einem spezifischen Nicht-Wissen, das wahrscheinlich auch dort selektierend wirksam geworden ist, wo Neckel Bourdieus Ehrkonzept heranzieht. Bei Bourdieus Beschreibung der ‚Dialektik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung‘, des ‚Spiels‘ von Gabe und Gegengabe – in Form von Geschenken, Verbalitäten oder Körperlichkeiten –, in dem 100 Elias 1987: S. 91 101 Bourdieu 1976: S. 43. „Wenn die Kabylen z.B. spontan diese oder jene Verhaltensform als entehrend oder lächerlich erfassen, sind sie in der gleichen Situation wie jemand, der einen Sprachfehler verbessert, ohne aber das syntaktische System, das dabei mißachtet wurde, zu beherrschen“ (ebd.).

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der jeweilige Ehrenkodex zur Regelung von Konflikten und zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Ehre dient, geht es zwar darum, daß es sich hier um einen Statuskampf handelt – in Bourdieus Worten: um einen Wettstreit um symbolisches Kapital –, gleichermaßen aber liegt der Akzent auch darauf, daß das Ehrgefühl zum Austausch antreibt. Es ist die augenfällige Bezugnahme innerhalb bestimmter Regeln auf den Anderen, die dieses ‚Spiel‘ zwischen den als ebenbürtig anerkannten Ehrenmännern ausmacht. Die Herausforderung oder Beleidigung von seiten des Einen gewinnt ihren Sinn und sogar ihre Eigenschaft als Herausforderung oder Beleidigung, im Gegensatz zur bloßen Aggression, durch die Natur der Erwiderung seitens des Anderen.102 Die Regeln des Spiels sind hauptsächlich gerichtet auf Widerstand gegen Entgrenzung und Vermischung von Unterschieden. So setzt die Logik der Ehre die Anerkennung einer idealen Gleichheit voraus, die mit dem Bewußtsein faktischer Ungleichheiten einhergehen kann. Es ist das Gefühl der Ebenbürtigkeit, das das Spiel einerseits möglich macht, andererseits sich im Widerstand gegen ‚Angebertum‘ manifestiert.103 Der Widerstand gegen ‚Individualität‘ kommt im Gebot zum Ausdruck, die innerste Persönlichkeit in ihrer Einmaligkeit und Besonderheit unter dem ‚Schleier des Schamgefühls‘ und der Zurückhaltung verschwinden zu lassen und dem Gebot der Selbstverleugnung als Voraussetzung für Solidarität und gegenseitige Hilfe.104 Das Ehrgefühl, das den 102 Vgl. ebd.: S. 18. Die Unterscheidung von Herausforderung und Beleidigung soll zum Ausdruck bringen, daß nicht alles Gegenstand des Spiels werden kann, daß nicht alles ‚verhandelbar‘ ist: „Während die Herausforderung nur das Ehrgefühl angreift, ist die Beleidigung eine Übertretung der Gebote, ein Frevel“ (ebd.: S. 33). Die Übertretung der Gebote betrifft den Bereich des Sakralen, die Ordnung des mythisch-rituellen Systems, und schließt jegliches Arrangement oder Ausweichen aus. „Existiert das Sakrale […] nur durch das Ehrgefühl […], von dem es verteidigt wird, so findet das Gefühl für Ehre seine Daseinsberechtigung erst in dem Gefühl für das Sakrale“ (ebd.: S. 35). Ich meine, Neckels Nebeneinanderstellung der Scham als Wert und als Sanktion ebenso wie sein Verständnis von Scham und Ehre als ‚zentrale Oppositionen der Orientierung‘ resultieren daraus, daß eben diese fundamentale Beziehung von Ehrgefühl und Gefühl für das Sakrale, für die ‚letzte Grenze‘ nicht mitgedacht ist. Die Ehre ist somit nicht Opposition von Scham, sondern verweist auf die Scham als Grenzsignal, ist erst durch diese konstituiert. Anders gesagt: Gibt es keine Grenzen, die signalisiert werden können, gibt es auch keine Ehre, die es zu verteidigen gilt. 103 Vgl. ebd.: S. 16 u. S. 23. ‚Ich habe schließlich auch einen Schnurrbart‘, pflegt man zu sagen, um den Angeber zur Ordnung zu rufen. Ein anderes Sprichwort besagt: ‚Nur der Müllhaufen bläht sich auf.‘ Das Bewußtsein der faktischen Ungleichheit kommt etwa in der Erwiderung auf das erste Sprichwort zum Ausdruck: ‚Die Barthaare des Hasen sind nicht so lang, wie die des Löwen‘ (vgl. ebd.). Natürlich sind Bart und Schnurrbart als Symbol der Männlichkeit eine grundlegende Komponente der Ehre. ‚Er hat mir den Bart (oder den Schnurrbart) abrasiert‘, bringt eine schwere Kränkung zum Ausdruck (vgl. ebd.: S. 390, Anm. 4). 104 Vgl. ebd.: S. 27

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Einzelnen erst für das Spiel eignet, ist somit keine innerliche Angelegenheit, sie bildet vielmehr „das Fundament einer Moral, in der der Einzelne sich immer unter dem Blick der anderen begreift, wo der Einzelne die anderen braucht, um zu existieren, weil das Bild, das er von sich macht, ununterscheidbar ist von dem Bild, das ihm von den anderen zurückgeworfen wird.“105 Das zurückgeworfene Bild hat jedoch tendenziell – im Negativen wie im Positiven – eher Aufforderungscharakter, als daß es endgültiges Urteil wäre. „Das Gefühl der Ehre wird vor anderen gelebt.“106 Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß für Bourdieu diese Formalisiertheit in Gestalt der Ehrenhandlung keineswegs gleichzusetzen ist mit dem rigiden Ablauf eines Rituals: Selbstdistanziertheit (Selbstverleugnung) und Erfindungsreichtum sind hier gefragt. Die Ehrenhandlung kann zwar als ein Ritual beschrieben werden, doch sei jedes ihrer Momente, deren Notwendigkeit sich post festum enthüllt, in objektivem Sinne Resultat einer Wahl und Ausdruck einer Strategie. Man kann wohl zwischen ritualisierteren und weniger ritualisierten Handlungen unterscheiden, aber „sogar in den am stärksten ritualisierten Austauschbeziehungen, wo alle Handlungsmomente und deren Ablauf völlig im voraus festgelegt sind, kann eine Konfrontation zwischen verschiedenen Strategien durchaus zulässig sein, und zwar in dem Maße, wie die Individuen über das Intervall zwischen den obligaten Momenten selbst verfügen, also auf den Gegner einwirken können, indem sie gegebenenfalls das Tempo des Austauschs zu ihren Gunsten modulieren.“107 Das Ehrgefühl ist die kultivierte Disposition, der Habitus, der die Individuen in die Lage versetzt, die Verhaltensformen aus den implizit vorhandenen Prinzipien zu erzeugen, die der Logik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung entsprechen.108 Wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, ist es die Aktualität der Handlung, seine Bezogenheit auf das Gegenüber, was die Ehrenhandlung ausmacht. Der Erfindungsreichtum bezieht sich auf die Fähigkeit, der Gegenwart eine Bedeutung zu verleihen, die Geschichte ehrenhaft weiterzuspinnen. Zu den impliziten Prinzipien, die das Spiel bestimmen, gehört weiter die Aufrechterhaltung der Grenzen zwischen den Sphären, die die Situation definieren. Das Handeln ist bestimmt von dem, was in einer Situation als angemessen gilt und die Situation wiederum von Ort, Zeit und Position der Anwesenden.109 Die Kunst besteht in der Situationsdeutung. 105 106 107 108 109

Ebd.: S. 27f Ebd.: S. 26 Ebd.: S. 31, Herv.i.O. Vgl. ebd. Vgl. Schiffauer 1983: S. 89. Diese Grenzen teilen die Lebenswelt in verschiedene Sphären ein, die jeweils verschiedene Verhaltensweisen erfordern. Schiffauer hat in seiner Studie über ein türkisches Dorf drei Fälle unterschieden, die besonders prädestiniert für Scham sind. Sie sind alle dadurch gekennzeichnet, daß verschiedene Sphären vermengt, Grenzen ver-

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Allzu leichtfertig polarisieren wir also Verhaltensweisen in eher formalisierte, fremdzwangdominierte, rigide einerseits und eher informalisierte, selbstkontrollierte und flexible andererseits. Wir brauchen alternative Kriterien. Einen weiteren, vor allem was das Problembewußtsein betrifft, ausgezeichneten Beitrag zu diesem Thema hat Mary Douglas mit ihrer oben bereits zitierten sozialanthropologischen Studie „Ritual, Tabu und Körpersymbolik“ geliefert, in der sie sich explizit mit diesem Problem auseinandersetzt. Die Fragestellung mag, soweit sie noch relativ entkoppelt von der Machtdimension bearbeitet wird, vielleicht nicht gerade als illegitim gelten, aber dennoch befremdend wirken: Woher kommt der verbreitete Abscheu und Widerwille gegen das Ritual in unserer Zeit? „‚Ritual‘“, so schreibt sie, „ist ein anstößiges Wort geworden, ein Ausdruck für leeren Konformismus; wir sind Zeugen einer allgemeinen Revolte gegen jede Art von Formalismus, ja gegen ‚Form‘ überhaupt.“110 Dieser Zeitgeist findet sich entsprechend auch innerhalb der Menschenwissenschaften eher bei den Soziologen wieder, die sich mit ‚entwickelteren‘ Gesellschaften beschäftigen. Bei den Anthropologen dagegen, die sich mit Stammeskulturen beschäftigen, wird das Wort Ritual noch verhältnismäßig wertneutral verwendet, nämlich wenn es um bestimmte Arten von Handlungen und den Ausdruck des Glaubens an bestimmte symbolische Ordnungen geht, ohne weiter zu fragen, ob der Handelnde sich dem, was er tut, auch innerlich verpflichtet fühlt. Diese Sichtweise sei hier praktisch und vernünftig, weil sich in den untersuchten face-to-face-Gesellschaften eine Kluft zwischen ‚persönlichem‘ und ‚öffentlichem‘ Sinn gar nicht erst entwickeln kann und die Rituale nicht ein für allemal, etwa in geschriebenen Gesetzen, festgelegt sind: Jede Diskrepanz zwischen der Handlungssituation und ihrem symbolischen Ausdruck wird durch Abänderung des letzteren sofort aufgehoben.111 Die Merkwürdigkeit der Verwendung des Begriffs bei den Soziologen besteht darin, daß die Frage nach dem Verhältnis von ‚Äußerlichkeit‘ der Handlung und ihrer ‚inneren Verbindlichkeit‘ zwar auch nicht wischt werden: Erstens wenn in einer Situation Handeln gezeigt wird, das einer anderen entsprechen würde (z.B. Austausch von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit); zweitens, wenn man sich nicht entsprechend seiner lebensgeschichtlichen Situation verhält, wenn man sich ein Recht anmaßt, das einem (noch) nicht zusteht (z.B. lautes Auftreten einer Schwiegertochter); drittens bei lebensgeschichtlichen Übergängen (z.B. Hochzeit) (vgl. ebd.: S. 92). Neckel schreibt dazu: „Die Vermischung der Sphären, falsches Verhalten am falschen Ort, Intimität, wo Distanz verlangt ist, Verehrung, wo Verachtung erwartet wird, Freundschaft, wo Feindschaft geboten ist: all dies nimmt dann den Charakter eines Ehrenverlustes an, für den man sich zu schämen hat“ (Neckel 1991: S. 61). 110 Douglas 1986: S. 11 111 Vgl. ebd.: S. 13. „Die Anthropologen mögen vielleicht überzeugt sein, daß die Formen bestimmter Kulthandlungen sich seit den Anfängen der Stammesgeschichte nicht verändert haben; aber bei Licht besehen, haben sie nicht den mindesten Grund zu dieser – nur für die Teilnehmer der Kulthandlungen natürlichen – Annahme“ (ebd.).

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gestellt, aber schon entschieden ist: „Viele Soziologen verwenden […] den Ausdruck ‚Ritualist‘ für jemanden, der gewisse äußerliche Gesten vollzieht, ohne sich den in ihnen zum Ausdruck kommenden Idealen und Werten innerlich verbunden zu fühlen.“112 Das Ritual meint dann einen ‚leeren‘ Konformismus, im Sinne Douglas’ eigentlich kein Ritual, sondern ein in diesem soziologischen Sinne ‚ritualisiertes‘ Ritual, in dem der Bezug zum Gegenüber und zur Situation verlorengegangen ist. Während also die ritualistischen Stammeskulturen augrund ihrer prozeduralen Praxis in der glücklichen Lage seien, die tote Last der im soziologischen Sinne ‚ritualisierten‘ Rituale nicht mitschleppen zu müssen, und für die Anthropologen sich daher gar nicht die Notwendigkeit ergeben habe, zwischen der ‚Äußerlichkeit‘ der symbolischen Gesten und ihrer ‚inneren Verbindlichkeit‘ zu unterscheiden, haben die Soziologen ein Problem: „[…] man kann nicht bestreiten, daß man […] keinen passenden Terminus für die Art von Handlungen zur Verfügung hat, die reale innere Bindungen zum Ausdruck bringen.“113 Hinter dieser terminologischen Schwierigkeit aber liegt ein anderes Problem, um dessen Erfassung und Tragweite es in diesem Kapitel geht. Sennett bezeichnet es als die ‚moderne Malaise‘, die in unserer Unfähigkeit besteht, uns soziale Beziehungen (im öffentlichen Bereich) vorzustellen, die starke Gefühle zu wecken vermögen.114 Wir haben keinen Begriff dafür und wir können es uns nicht vorstellen, weil wir es nicht glauben. Ist das ein echtes Problem oder zeugt es lediglich von einem aufgeklärten Habitus? Oder beides? Den Ritualismus definiert Douglas als „den geschärften Sinn für symbolisches Handeln und Verhalten […], der sich auf zweierlei Weise manifestiert: durch den Glauben an die Wirksamkeit institutionalisierter Zeichen und durch die Aufnahmefähigkeit für verdichtete Symbole.“115 Unter verdichteten Symbolen, die uns oben schon begegnet sind, versteht sie Formen, die im Kleinen das Ganze berühren, sie umfassen einen ungeheuren Bedeutungsbereich. Am anderen Ende des so gedachten Spektrums befinden sich die diffusen Symbole, deren Bedeutungsbereich hinreichend umfassend ist und die eine standardisierte emotionale Reaktion hervorru-

112 113 114 115

Ebd.: S. 12 Ebd.: S. 13 Sennett 1986: S. 57 Douglas 1986: S. 20. Mit dieser Definition versucht sie eine Vergleichbarkeit, aber auch alternative Vergleichskriterien als die bisher gängigen für Stammeskulturen und modernen Gesellschaften einzuführen. Hinsichtlich der Analysen in Religionsgeschichte heißt es: „Sakramente sind für unser Denken immer noch etwas radikal anderes als magische Rituale und Tabus etwas radikal anderes als Sünden. Deshalb müssen wir als erstes die verbalen Dornenhecken durchbrechen, die eine Klasse menschlicher Erfahrungen (nämlich unsere) von einer anderen (nämlich der der Angehörigen von Stammeskulturen) willkürlich trennen“ (ebd.: S. 20).

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fen.116 Was sie mit dieser Unterscheidung und der sozial bedingten Aufnahmefähigkeit für erstere meint, wird etwas deutlicher, indem sie sich veranschaulichend auf Bernsteins Unterscheidung zweier Typen von Sprachcodes, die zwei Sozialisationstypen entsprechen, bezieht. Zunächst einmal wird mit Bernstein der notwendige Zusammenhang von Sprache und sozialem Kontext unterstrichen: „Der Prozeß des Sprachaustauschs mit seinen mannigfaltigen Konsequenzen ist im wesentlichen das, was die vorliegende Sozialstruktur zum Substrat sämtlicher Erfahrungen des Kindes werden läßt. So gesehen, wird jedesmal, wenn das Kind spricht oder zuhört, die ihm eingeprägte Sozialstruktur verstärkt und eine soziale Identität geformt.“117 Dennoch kann das Verhältnis von Sprache und sozialem Kontext unterschiedlich ausfallen, was dann die beiden verschiedenen Sprachcodes bedingt: einerseits den elaborierten Code, dem der Sozialisationstyp der ‚personalen Familie‘ entspricht, andererseits der restringierte Code im Kontext der ‚positionalen Familie‘: „Der restringierte Code ist aufs engste mit der ihm zugehörigen Sozialstruktur verflochten, jede Äußerung in ihm erfüllt einen doppelten Zweck: Einmal dient sie – wie sich von selbst versteht – dazu, gewisse Informationen zu übermitteln, daneben aber ist sie in jedem Fall auch ein Ausdruck, eine Ausschmückung und eine Verstärkung der Sozialstruktur. Diese zweite Funktion ist die eigentlich dominierende, während es sich beim elaborierten Code um eine Sprachform handelt, die sich im Laufe ihrer Entwicklung mehr und mehr von dieser Funktion befreit, so daß ihre Primärfunktion schließlich im Organisieren von Denkprozessen, im Unterscheiden und Kombinieren von Ideen besteht.“ 118

Man kann den Unterschied der Familientypen, die den beiden Codes zugehören, u.a. darin ausmachen, worauf das Neugierverhalten des Kindes gelenkt wird. Während beim restringierten Code (positionale Familie) die soziale Umwelt des Kindes und die ihm inhärente Statushierarchie im Vordergrund steht, liegt beim elaborierten Code (personale Familie) das Gewicht nicht auf feststehenden Rollenmustern, sondern auf Autonomie und Einmaligkeit des Individuums: „Die Neugier des Kindes wird benutzt, um seine Sprachkontrolle zu verbessern, ihm Kausalbeziehungen vor Au116 Vgl. ebd.: S. 24. Als Beispiel für verdichtete Symbole nennt sie das Abendmahlssakrament, als Bsp. für diffuse Symbole etwa die Wendung von den ‚menschlichen Werten‘. 117 Bernstein, zit.n. Douglas 1986: S. 40 118 Ebd.: S. 41, Herv.v.mir. „Im Extremfall kann sich der elaborierte Code so weit von der sozialen Grundstruktur ablösen, daß er zum dominierenden Faktor bestimmter sozialer Situationen wird und die Struktur der Gruppe sich ihm anpassen muß statt umgekehrt […]“ (ebd.). Diesen Extremfall hatte Engler zivilisationstheoretisch mit der Frage problematisiert, ob denn die Streckung der emotionalen Bande mit Verlängerung der Interdependenzketten so weit geht, daß sie zu ihrem Reißen führt (vgl. Engler 1989: S. 750).

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gen zu führen und in ihm die Fähigkeit zu wecken, die Konsequenzen seines Verhaltens richtig einzuschätzen. Sein Verhalten wird vor allem dadurch kontrolliert, daß man es für die Gefühle anderer empfänglich macht und es zur introspektiven Betrachtung seiner Gefühle anregt […].“119 Die Kontrolle vollzieht sich hier auf dem Wege über die verbale Manipulation von Gefühlen oder durch das Erläutern von Gründen, die das Kind zu seinen Handlungen in Beziehung setzen, während das Kind in der positionalen Familie in ein System unhinterfragbarer Kategorien hineinwächst, für die der Ausdruck durch nichtverbale Symbole ebenso wesentlich ist wie der verbale Ausdruck.120 Beim letzteren Code handelt es sich nach Bernstein um einen, „der den Übergang von der Emotion zur Handlung erleichtert und in dem Bedeutungsverschiedenheiten häufiger averbal signalisiert als durch Veränderungen der Wortwahl artikuliert werden“.121 Während hier die Erhaltung der Gruppensolidarität (aus Sicht eines bestimmten sozialen Habitus) auf Kosten der individuellen Ausdrucksfähigkeit und Unterschiedlichkeit/Individualität der Gruppenmitglieder geht, bringt die Tendenz zur personalen Erziehung im Medium des elaborierten Codes ei119 Ebd.: S. 45 120 Vgl. ebd.: S. 45 u. S. 53. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich, wo Bernstein den Bereich der ästhetischen Erfahrung beschreibt, der den den elaborierten Code Praktizierenden verschlossen bleibt: „Man muß sich darüber im klaren sein, daß auch der restringierte Code eine eigene Ästhetik hat. Wir finden in ihm Metaphern von bemerkenswerter Einprägsamkeit, Einfachheit und Direktheit, Vitalität und Rhythmus, alles Eigenschaften, die nicht gering zu schätzen sind. Darüber hinaus hat er die psychologische Funktion, den Sprecher, seine Familienangehörigen und die Lokalgruppe, in der er lebt, zu einer Einheit zu verbinden“ (Bernstein, zit.n. Douglas ebd.: S. 65). 121 Bernstein, zit.n. Douglas ebd.: S. 42f. Daß der elaborierte Code sich in entwickelteren Gesellschaften durchgesetzt hat, wird nicht zuletzt in ihren Entwicklungspsychologien und Psychoanalysen deutlich. So schreibt Stern über eine sehr zeit- und gesellschaftsspezifische Sozialisation, wenn es heißt: „Tatsächlich ist ein Großteil der als ‚sozialisierend‘ bezeichneten Erfahrungen darauf abgestellt, die Aufmerksamkeit auf einen einzigen Bereich, meist den verbalen, zu lenken und das Erleben in diesem Bereich zur offiziellen Version zu erklären, während das Erleben in den anderen Bereichen (die ‚inoffizielle‘ Version) verleugnet wird. Dennoch wechselt die Aufmerksamkeit, sie kann mit einiger Geläufigkeit vom Erleben in einem Bereich zum Erleben in einem anderen übergehen“ (Stern 2000: S. 53f). An anderer Stelle heißt es weiter: „Und in dem Maße, in dem das Geschehen im verbalen Bereich als wirkliches Geschehen betrachtet wird, unterliegt das Erleben in den anderen Bereichen einer Entfremdung. (Sie können zu ‚niederen‘ Erlebensbereichen herabsinken.) Die Sprache bewirkt also eine Spaltung im Selbsterleben. Überdies verlagert sie die Bezogenheit von der persönlichen, unmittelbaren Ebene dieser Bereiche auf die ihr selbst inhärente, unpersönliche, abstrakte Ebene“ (ebd.: S. 231f). Alfred Lorenzers Psychoanalyse handelt ja u.a. von der Zeitspezifität solcher Spaltung des Selbsterlebens. Ich kann seine Theorie hier jedoch nicht weiter berücksichtigen, da sie eine eigene Grundlagendiskussion erfordern würde.

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ne Prädisposition zur ‚ethischen Einstellung‘ mit sich. Die Begründung, die Douglas hierfür anbringt, ist bezeichnend: Der Übergang vom ‚Ritual‘ zur ‚Ethik‘ findet statt, weil der elaborierte Code „einerseits das Vokabular des Gefühls aufschließt, andererseits aber den Sinn für die Formen und Strukturen des sozialen Lebens abtötet.“122 Hier wird deutlich, was mit dem Ritual verlorengeht. Rituale sind markante Interaktionen, insofern sie jeden Teilnehmer zum Gegenüber machen. Sie sind die Praxis sozialer Grenzen. Um habituell vorprogrammierte Mißverständnisse auszuschließen: Es handelt sich für Douglas dabei nicht in erster Linie um Grenzen sozialer Mobilität oder einer ‚Freiheit‘, sondern um basal bedeutungsstiftende Grenzen, wie wir sie in Zusammenhang mit dem Schamaffekt als deren Signal kennengelernt haben: „Symbolische Schranken und Grenzziehungen sind das, was die Erfahrungen des Menschen ordnet. Es sind diese nicht-verbalen Symbole, die die Basis von Bedeutungsstrukturen bilden, durch die der einzelne in die Lage versetzt wird, zu anderen in feste Beziehungen zu treten und die für sein Leben fundamentalen Zwecksetzungen zu finden.“123 Die Zivilisationsdynamik mit seinen Formalisierungs- und Informalisierungsschüben stellt sich aus dieser Perspektive als ein Prozeß dar, der im Groben als eine Beschränkung sozialer Erfahrung spezifiziert werden kann. Aus dieser Sicht handelt es sich dann um Ritualisierungs- und Antiritualisierungsschübe, wobei letztere eben nicht bloß im Über-BordWerfen der im Zuge des Wandels der Machtdifferentiale entfunktionalisierten Ausdrucksformen bestehen: „Man verwirft nicht nur irrelevante Rituale, sondern das Ritual als solches, sieht den höchsten Wert in der Innerlichkeit des Erlebens und lehnt dessen normierte Ausdrucksform ab, bevorzugt die intuitiven und spontan zugänglichen Formen der Erkenntnis und revoltiert gegen die Vermittlerrolle der Institutionen […]“.124 Zum Ende des Proteststadiums zeigt sich wieder die Notwendigkeit eines kohärenten Ausdruckssystems und die Wiedereinsetzung des Ritualismus beginnt. Doch der Pendelschlag ist auch hier von einer qualitativen Veränderung begleitet: „Jedesmal jedoch, wenn die Welle der Revolte und des Antiritualismus abebbt und das Bedürfnis nach rituellem Ausdruck sich wieder durchsetzt, hat das erneuerte Symbolsystem etwas vom kosmisch-umfassenden Charakter des ursprünglichen verloren. Daß wir am Ende der Bewegung, nach der Säuberung der alten Rituale, einfacher und ärmer dastehen, gleichsam als rituelle Bettler, entspricht der Absicht. Aber auch andere Dinge gehen bei diesem Reinigungsprozeß verloren, nicht zuletzt das Gefühl für die historische Artikulation, die Breite und Tiefe der Vergangenheit.“125 122 123 124 125

Ebd.: S. 57, Herv.v.mir Ebd.: S. 75 Ebd.: S. 36 Ebd.: S. 37

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Der langfristige Trend, dies wäre die alternative Perspektive auf die Psychogenese, geht in Richtung einer immer geringeren Aufnahmefähigkeit für verdichtete Symbole und einer allgemeinen Beschäftigung mit dem Problem der Sinnentleerung. Und die Abwendung vom Ritual wird von einer immer stärkeren Hinwendung zur ethischen Empfindsamkeit begleitet.126 So haben wir es einerseits mit diffusen Symbolen zu tun, die Douglas im Bereich der Ethik, man könnte sagen, der langen Interdependenzketten ansiedelt, andererseits, was die konkreten Begegnungen angeht, die ‚leeren Symbole‘, die nicht mehr zu gebrauchen sind, sie sind leer von ‚Beziehung‘ (als Prozeß gegenseitiger Wahrnehmung und entsprechender ‚Markierung‘). Damit sind auch schon die drei Phasen der ‚Abwendung vom Ritual‘ bei Douglas angesprochen: Ablehnung der ‚bloß äußerlichen‘ Formen, Privatisierung im Sinne der Hochschätzung des ‚inneren Erlebens‘ und eine Zuwendung zur humanitären Betätigung, die eher der persönlichen Befriedigung dient bzw. Rechtfertigungscharakter hat, als daß sie die symbolischen Formen in ihrer sozialen Funktion ersetzen könnte.127 Denn worin schließlich der entscheidende Unterschied zwischen den ritualistischen Stammeskulturen und unserer modernen Industriegesellschaft besteht, ist, daß in letzteren der ‚Feedback-Prozeß‘128 fehlt. Um es in den Worten der Kabylen zu sagen: Es ist ziemlich egal, ob du einen Schnurrbart hast und wie lang der ist. Der Einzelne macht die Erfahrung, daß er durch sein eigenes Verhalten, nicht zuletzt durch seine Expressivität, die Zwänge nicht modifizieren kann; aber auch das Diskursive läuft ins Leere: „Mit der Industriegesellschaft läßt sich ebenso wenig debattieren wie mit dem Wetter; und die stärksten sozialen Zwänge werden auf uns nicht im Modus der Personalität ausgeübt.“129 Der Antiritualismus ist für Douglas kein Spezifikum moderner Gesellschaften, weshalb im Übrigen auch die Praxis von Ritualen und von restringierten Codes nicht gleichzusetzen ist. Man findet den Antiritualismus sowohl als Reaktion auf moderne Lebensbedingungen bei Stammeskulturen als auch als eigenständige Lebensform von Stammeskulturen, die einen niedrigen Grad an Gruppenkohäsion bzw. zeitlich verkürzte Loyalitätsbindungen aufweisen (ohne einen elaborierten Code zu benutzen).130 126 Vgl. ebd.: S. 37 127 Vgl. ebd.: S. 19. „[…] soziales Verantwortungsbewußtsein ist jedenfalls kein Ersatz für die symbolischen Formen – sondern in seiner Funktionsfähigkeit sogar von ihnen abhängig. Wo jede Form von Ritual im Keim erstickt wird, besteht die Gefahr, daß die philanthropischen Impulse ins Leere stoßen […]“ (ebd.: S. 74). 128 Vgl. ebd.: S. 150 129 Ebd.: S. 151 130 Als Modellfall für Abwendung vom Ritual und der Wendung in die Innerlichkeit führt Douglas die amerikanischen Navaho an (s. ebd.: S. 25ff), für den Fall einer jenseits der Begegnung mit modernen Kulturen antiritualistischen Stammeskultur nennt sie die Ituri-Wald-Pygmäen in Afrika (s. ebd.: S. 29f). Aus dieser Sicht weisen die Pygmäen und der durchschnittliche

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Ihre Studie ist – in Anbetracht der eingestandenen terminologischen Schwierigkeiten131 lediglich – ein sehr guter Ansatz, die Kategorien von Londoner gewisse Ähnlichkeiten auf: „Je tiefer der durchschnittliche Londoner in den Bannkreis der industriellen Gesellschaft hineingezogen wird, desto mehr beginnen seine religiösen Vorstellungen denen des von uns zitierten Pygmäenstammes zu gleichen. Man glaubt an das Spontane, die Freundschaft, die Freiheit und das gute Herz; man lehnt ab, was steif und formal ist, magisch wirkt, nach kleinkarierter doktrinärer Logik aussieht – und nicht zuletzt ist man dagegen, seine Mitmenschen wegen irgendwelcher Vergehen zu verurteilen“ (ebd.: S. 56). Das gleiche Unverständnis gegenüber Ritualen, wie wir es bei den Informalisierungstheoretikern kennenlernten und vielleicht von uns selbst kennen, findet sich auch bei diesen Pygmäen. Douglas gibt einen Ethnologen wieder, der schildert, „wie die Pygmäen pietätlos spotten, wenn sie in ein Bantu-Ritual hineingeraten, den Fruchtbarkeitsriten und dem Jagdzauber der Bantu verständnislos gegenüberstehen und sich vor Lachen nicht halten können, wenn die Bantu mit feierlichem Ernst böswillige Zauberer aufzuspüren suchen, ohne im mindesten zu fürchten, daß sie durch diese nachlässige Einstellung ‚unrein‘ werden könnten oder daß ihr Leben in Gefahr wäre. […] Ihre Religion konzentriert sich auf die Innerlichkeit des Fühlens und nicht auf äußere Zeichen“ (ebd.: S. 29). Die Bantu hielten diese Pygmäen natürlich für unwissend und irreligiös. 131 Die terminologischen Schwierigkeiten, sowie die Problemstellung überhaupt lassen sich etwas besser in den Griff bekommen, wenn man die Kategorien Douglas’ zu der ebenfalls ausbaubedürftigen Symboltheorie Susanne K. Langers in Beziehung setzt, was hier nur andeutungsweise geschehen kann. Die bei Douglas etwas unklare Kategorie der ‚dichten Symbole‘ entspricht dem ‚präsentativen Symbolismus‘ bei Langer, zu dem sie u.a. Bilder, Gesten und Riten, mit Einschränkung auch die Musik zählt: „Der präsentative Symbolismus zeichnet sich dadurch aus, daß eine Vielzahl von Begriffen [oder Elementen] in einen einzigen totalen Ausdruck zusammengezogen werden kann, ohne daß diesen einzelnen Begriffen durch die den Gesamtausdruck konstituierenden Teile jeweils entsprochen wird. Die Psychoanalyse bezeichnet diese in der Traumsymbolik zuerst entdeckte Eigentümlichkeit als ‚Verdichtung‘“ (Langer 1965: S. 191, vgl. u.a. ebd.: S. 99ff, S. 229ff). Diese nicht-diskursiven Symbole sind im Unterschied zu den diskursiven, deren paradigmatische Form die verbale Sprache ist, unübersetzbar, lassen keine Definitionen innerhalb des eigenen Systems zu und können das Abstrakte nicht direkt vermitteln. Die Bedeutung der einzelnen symbolischen Elemente wird durch die Bedeutung des Ganzen verstanden, durch ihre Beziehungen innerhalb der ganzheitlichen Struktur, sie gehören zu einer simultanen, integralen Präsentation, im Unterschied zum Nacheinander der Sprachelemente (vgl. ebd.: S. 103). Der elaborierte Code bei Douglas bzw. Bernstein stellt eine Extremform des diskursiven Symbolismus dar, in der die diskursiven Symbole immer mehr aufeinander verweisen, präsentative Symbole jedoch immer weniger eine Rolle spielen. Das Ergebnis dieser ‚Extremform‘ sind bei Douglas die ‚diffusen Symbole‘. Nun geht es Langer mit ihrer Symboltheorie um eine erkenntnistheoretische Korrektur, wenn sie die Funktion und Relevanz der präsentativen Symbole – nicht zuletzt für die diskursiven (vgl. ebd.: S. 201) – hervorhebt. Daß der ‚restringierte Code‘ sowie die ‚diffusen Symbole‘ in ihrer Symboltheorie nicht erfaßt werden, ist ihrer philosophischen Perspektive geschuldet. Denn präsentative und diskursive Symbole sind

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‚aufgeklärt‘ versus ‚nicht-aufgeklärt‘ und deren Bewertung als ‚fortschrittlich‘ versus ‚primitiv‘ als noch zu Entwickelndes ins Wanken zu bringen. Es sei nicht zuletzt unsere Illusion, schreibt sie, daß alle Primitiven fromm, leichtgläubig und den Lehren von Priestern und Magiern hörig seien, die ein tieferes Verständnis unserer eigenen Zivilisation verhindert habe: „Wenn wir unter Säkularismus Diesseitsgerichtetheit verstehen, die Gewohnheit, nicht hinter die Sinngegebenheiten des Alltagslebens zurückzufragen, die Gleichgültigkeit gegenüber religiösen Institutionen, dann gibt es Stammeskulturen, die im vollen Sinne des Wortes säkularistisch sind.“132 Bei den Phänomenen Säkularismus und Antiritualismus stellt sich daher nach wie vor die Frage nach der Qualität der sozialen Erfahrung, deren Produkt sie sind, die mit herkömmlichen Hinweisen auf Entwicklung des Stadtlebens oder der modernen Wissenschaft nicht genügend beantwortet werden kann. Das, was uns etwa in der Informalisierungstheorie Wouters’ als der Sieg von Liberalität und Toleranz über Bigotterie und Intoleranz, über Heuchelei und Unterdrückung verkauft wird, was als fortschrittlich und aufgeklärt gilt, entpuppt sich bei Douglas als Ausdruck einer herabgeminderten Differenzierung der sozialen Erfahrung. Und es ist letztlich diese ‚geistliche Armut‘, die ich im fünften Kapitel als psychische Entfigurationalisierung bezeichnet habe, die – nicht zuletzt in der Eliasschen Wendeltreppe – als ‚Quelle der Kraft und der Selbsterkenntnis‘ herhalten muß, was auch für Douglas sehr bedenklich anmutet, denn erstens werde der Umfang der Selbsterkenntnis durch die reduzierten Zugangsmöglichkeiten zum Selbst der anderen vermindert; zweitens setze eine vollständige Selbsterkenntnis die Einsicht in die sozialen Verhältnisse voraus, unter denen sich das Selbst entwickelt hat; und drittens gebe es keinen Grund für die Annahme, daß die idealen Voraussetzungen für die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit dort anzutreffen ist, wo Symbolsystem und Gruppe ein Minimum an Druck ausüben.133 Es ging hier keineswegs darum, die Macht- und die Bedeutungsdimension von Beziehung als polare Gegensätze oder getrennte Gegebenheiten darzustellen. Es ging hier u.a. darum, ansatzweise die Dynamik aufzeigen, deren Ergebnis der heutige Machtbegriff ist. Während bei Douglas’ ritualistischen Stammeskulturen diese Trennung von Macht und Bedeutung nicht problematisiert ist, treten diese beiden Dimensionen bei Bourdieus anthropologische Universalien. Hier bleibt lediglich von Erkenntnisepochen des ‚Fortschritts des Denkens‘ zu sprechen, in denen jeweils der eine oder andere Symbolmodus dominiert (vgl. ebd.: S. 200). Der ‚restringierte Code‘ sowie die ‚diffusen Symbole‘ sind jedoch gesellschaftsspezifische Phänomene, die aus der Qualität der sozialen Erfahrung heraus erklärt werden müssen. Ein Gegenstand dieses Kapitels ist der Prozeßverlauf, in dem die ‚Überwindung‘ des restringierten Codes zur Entstehung diffuser Symbole führt. 132 Douglas 1986.: S. 34 133 Vgl. ebd.: S. 171. Douglas entwickelt ihre Argumentation in Auseinandersetzung mit Jung.

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Konzept der Ehre schon klarer hervor. Er erkennt und benennt sie mit der ‚strukturellen Ambiguität jeder Austauschbeziehung‘ innerhalb dieser Gesellschaften, wenn er schreibt: „Wollte man Phänomene wie die Dialektik von Herausforderung und Erwiderung der Herausforderung und allgemeiner, den Austausch von Geschenken, Worten oder Frauen auf ihre Kommunikationsfunktion reduzieren […], so würde man damit die strukturelle Ambivalenz ignorieren, die sie dazu geeignet macht, eine politische Herrschaftsfunktion zu erfüllen, und zwar, indem sie und dadurch sie ihre Kommunikationsfunktion erfüllen.“134

Doch auch auf Seiten der Ehrenmänner scheint ein vages Bewußtsein von diesen beiden Sphären schon (und noch) vorhanden zu sein; es scheint jedoch weiter, als würde etwas Schamhaftes an ihnen dagegen Widerstand leisten, die Sphäre der Macht ‚nackt‘, entkleidet jeglicher Personalität, als solche sichtbar werden zu lassen. „Es ist“, so schreibt Bourdieu, „als ob diese Gesellschaft sich weigerte, sich der ökonomischen Realität zu stellen, sie als eine Realität zu erfassen, die anderen Gesetzen unterliegt als denen, die für die Familienbeziehungen gelten. Daher erklärt sich auch die strukturelle Ambiguität jeder Austauschbeziehung: Man spielt immer auf zwei Ebenen zugleich, der des Interesses, die uneingestanden bleibt, und der der Ehre, die proklamiert wird.“135 Der heutige Machtbegriff scheint mir schließlich Produkt jenes Prozesses zu sein, indem die Ambiguität des Austauschs zu einer Seite hin durchstoßen wird. Die Macht kann unenthüllt erscheinen, wenn „die vom Interesse diktierte Transaktion, die nicht wagt, sich in dem Augenblick des Austauschs als solche zu enthüllen“,136 die von symbolischen Akten begleitet und verschleiert wird, irgendwann es doch ‚schafft‘, sich eben diesen symbolischen Akten zu entledigen. Die Quantifizierung der Macht geht mit einer Quantifizierung des Austauschs einher. Je mehr sich der Geldverkehr und korrelativ dazu, ein gewisser kalkulierender Geist durchsetzt, so heißt es sinngemäß bei Bourdieu, ist es 134 Bourdieu 1976: S. 394, Anm. 18 135 Ebd.: S. 46. „Ein jeder weiß, daß ‚die Art zu geben mehr wert ist als das, was man gibt‘: was die Gabe, das Geschenk vom einfachen ‚Gibst du mir, geb’ ich dir‘ unterscheidet, ist die notwendige Arbeit, um Formen zu erstellen, um aus der Art und Weise des Handelns und der dem Handeln äußerlichen Formen die praktische Verneinung des Inhalts der Handlung zu machen und den interessegebundenen Austausch oder das einfache Kräfteverhältnis derart symbolisch in eine, wie es heißt, der Form wegen und in gehöriger Form, d.h. aus reinem und interesselosen Respekt für die von der Gruppe anerkannten Sitten und Konventionen vollendete Beziehung zu verwandeln“ (ebd.: S. 374, Herv.i.O.). Über die Herrschenden in diesen Gesellschaften schreibt Bourdieu: „Politische Macht können sie nur akkumulieren, wenn sie mit ihrer ganzen Person zahlen, und nicht nur, indem sie ihr Geld und ihre Güter verteilen; sie müssen die ‚Tugenden‘ der Macht besitzen, da ihre Macht nur in der ‚Tugend‘ ihre Stütze hat“ (ebd.: S. 373). 136 Ebd.: S. 46

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auch zunehmend der symbolische Akt selbst, der Schleier der Symbole, der schambeladen wird und peinlich wirkt, „da man den Austausch, der ja von materiellen Interessen bestimmt wird, nun auch als solchen konstituiert, wobei man die strukturelle Ambiguität des traditionellen Austauschs zerstört.“137 Unter aufgeklärten Menschen gibt es kein Geheimnis zu hüten und nichts zu verschleiern. Und dennoch bedeutet Aufklärung in diesem Sinne nicht mehr Erkenntnis und Selbsterkenntnis, da die Versachlichung der Beziehung zwangsläufig in die Innerlichkeit führt. Die unsteuerbaren sachlichen, von ökonomischen Zwängen diktierten Beziehungen einerseits, der Weg in die nun hochgeschätzte Innerlichkeit, die es ebenfalls zu ‚enthüllen‘ gilt, sind Aspekte der Dynamik, in die sich der so aufgeklärte Mensch begeben muß.

Der Individualismus „Sie wollten frei sein, um sich gleich machen zu können, und in dem Maße, wie sich die Gleichheit mit Hilfe der Freiheit verfestigt, wird die Freiheit selbst in Frage gestellt.“138

Der Franzose Alexis de Tocqueville, adliger Abstammung, machte sich 1831 in die Vereinigten Staaten auf, um besser zu begreifen, was in seinem eigenen Land in jenen turbulenten Zeiten vor sich ging. ‚Amerika‘ war für ihn ein Land, das die Ergebnisse der Französischen Revolution genoß, ohne sie selbst erlebt zu haben. Was er auf dieser Reise suchte, war ein Bild der ‚reinen Demokratie‘, um „wenigstens zu erfahren, was wir von ihr zu erhoffen oder zu befürchten haben.“139 Trotz seines bewundernswert unparteiischen Blicks ist er hier als Repräsentant eines bestimmten Habitus unterwegs, der intuitiv die Gefahren dessen erfaßte, was er gleichzeitig fasziniert beschrieb: die Gleichheit – als gesellschaftliche Tendenz und als Leidenschaft.140 Die Demokratisierung war für ihn ein 137 138 139 140

Ebd.: S. 397, Anm. 36 de Tocqueville, zit.n. Mayer 1954: S. 59 de Tocqueville, zit.n. Pisa 1986: S. 102 „Die Vorliebe, welche die Menschen für die Freiheit hegen, und die, welche sie für die Gleichheit empfinden, sind in der Tat zwei verschiedene Dinge, und ich scheue mich nicht hinzuzufügen, daß sie bei den demokratischen Völkern zwei ungleiche Dinge sind./Wenn man darauf achten will, wird man sehen, daß jedes Jahrhundert etwas Eigentümliches und Vorherrschendes aufweist, auf das alles andere sich bezieht; aus diesem einen entsteht fast immer ein Hauptgedanke oder eine Hauptleidenschaft, die schließlich alle Gefühle und alle Gedanken an sich zieht und sie alle mit sich reißt. Es ist wie der große Strom, dem alle Bäche der Umgebung zuzueilen scheinen./Die Freiheit offenbarte sich den Menschen zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Formen; sie war nicht ausschließlich mit einer bestimmten Gesellschaftsform verbunden, und man trifft sie auch anderswo als in Demokratien. Sie kann also nicht das Kennzeichen der

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unaufhaltsamer Prozeß, es ging nur noch darum, was man daraus machen konnte. Denn weder gehen Freiheit und Gleichheit notwendig Hand in Hand, noch schließen sie sich notwendig aus: „Es hängt von ihnen ab, ob die Gleichheit sie zur Knechtschaft führt oder zur Freiheit, zur Kultur oder zur Barbarei, zum Segen oder zum Elend.“141 Das Erfrischende an Tocquevilles Bänden ‚Über die Demokratie in Amerika‘ liegt darin, daß er sozusagen als Noch-Wissender unterwegs war, und somit Dinge sah und benannte, die später in der Modernisierungs- und Zivilisationskritik eher diffus oder doch vage von den tendenziell ‚Nicht-mehr-Wissenden‘ immer wieder angeführt und theoretisch überfrachtet dargelegt werden mußten (müssen), um von den ‚Nicht-mehr-wissen-Wollenden‘ wieder verworfen zu werden. In gewisser Hinsicht kann er als ein Begründer kritischer Theorie gelten, allerdings einer, der nicht dem Ideal des autonomen Subjekts nacheifert, sondern schon und noch dieses Ideal selbst problematisiert. Über seine ersten Eindrücke bei der Ankunft in der Demokratie schreibt sein Biograph Pisa: „Gleich zu Beginn notiert er, daß sich die ganze Gesellschaft in eine einzige Mittelklasse verwandelt zu haben scheint. In einem der ersten Briefe, den er […] schreibt, glaubt er auch schon zu wissen, was aus dieser ‚Gesellschaft ohne Wurzeln, ohne Erinnerungen, ohne Nationalcharakter‘ ein ‚Volk‘ macht: ‚das Interesse‘. Die ‚Leidenschaft des Geldmachens beherrscht alle anderen Leidenschaften‘. Die ersten Worte, die er noch auf dem Schiff aus dem Mund eines Amerikaners hörte – ‚How is business?‘ –, klingen in seinen Ohren nach.“142 Jahre später schreibt er: „Ich glaube fest an die Notwendigkeit der Formen […]“.143 demokratischen Zeitalter sein./Die besondere und vorherrschende Erscheinung, die diese Zeitalter auszeichnet, ist die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen; die Hauptleidenschaft, die in solchen Zeiten die Menschen bewegt, ist die Liebe zu dieser Gleichheit“ (de Tocqueville 1959b: S. 110). 141 de Tocqueville, zit.n. Pisa 1986: S. 102 142 Pisa 1986: S. 71. Einige, nach heutigem Sprachgebrauch ‚kulturpessimistische‘, Gedanken finden sich in seinem ersten Band ‚Über die Demokratie‘, das 1835 erschien: „Vergeblich suche ich in meinen Erinnerungen, ich finde dort nichts, das schmerzlicher und bedauerlicher wäre, als was sich vor unseren Augen abspielt; es scheint, als sei heute das natürliche Band zerrissen, das Meinung und Neigung, Tun und Glauben verbindet; die Beziehung, die zu allen Zeiten zwischen dem Fühlen und Denken der Menschen bestand, scheint unterbrochen, man könnte meinen, alle Gesetze, die den Einklang mit dem Sittlichen herstellen, seien abgeschafft“ (de Tocqueville 1959a: S. 14). „Waren denn alle Jahrhunderte dem unsrigen ähnlich? Hat der Mensch immer, wie heute, eine Welt vor Augen gehabt, wo sich nichts zueinander fügte, wo die Tugend ohne Geist, der Geist ohne Ehre ist; wo die Liebe zur Ordnung sich mit der Neigung zur Tyrannei verbündet, der geheiligte Kult der Freiheit sich dem Mißachten der Gesetze gesellt; wo das Gewissen nur zwielichtigen Schein auf das menschliche Tun wirft; wo etwas weder verboten noch erlaubt, weder ehrenhaft noch schimpflich, weder wahr noch falsch erscheint?“ (ebd.: S. 15). 143 de Tocqueville 1959b: S. 37

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Dieses Bekenntnis resultiert aus der Beobachtung der für seine Zeit spezifischen Form der Informalisierung bzw. des Antiritualismus, als dessen treibende Kraft er das Gefühl des Individualismus ausmacht. Unter dem damals noch jungen Ausdruck ‚Individualismus‘ versteht Tocqueville nicht ‚Selbstsucht‘ im Sinne einer leidenschaftlichen und übersteigerten Liebe zu sich selbst: „Der Individualismus ist ein überlegendes und friedfertiges Gefühl, das jeden Bürger drängt, sich von der Masse der Mitmenschen fernzuhalten und sich mit seiner Familie und seinen Freunden abzusondern; nachdem er eine kleine Gesellschaft für seinen Bedarf geschaffen hat, überläßt er die große Gesellschaft gern sich selbst.“144 Man kümmert sich um die Nächststehenden, der ‚Quell der öffentlichen Tugenden‘ wird trockengelegt, vorerst. Nach und nach greift der Individualismus alle anderen Tugenden an, zerstört sie und versinkt schließlich in Selbstsucht. Was ist dies nun für ein Gefühl? Mit Sennett kann man dieses Gefühl als Bedürfnis nach ‚Ruhe‘ spezifizieren. Tocqueville zeige uns Männer und Frauen, deren Wunsch es ist, in Ruhe gelassen zu werden, um ihre Interessen, ihre Vorlieben, ihre Innerlichkeit entfalten zu können. Die Gleichheitsliebe resultiert aus diesem Bedürfnis, denn „deren Träume von individueller Entfaltung gehen zu Bruch, wenn ein Stärkerer in den geheiligten Bezirk des Selbst eindringt, so wie ein lautes Geräusch auf der Straße einen daran hindern kann, den Gedanken fortzuspinnen, dem man gerade nachhing. Deshalb wird dieses Individuum von einem heftigen Wunsch erfaßt. Er richtet sich vor allem darauf, die Macht innerhalb der Gesellschaft gleichmäßig zu verteilen, so daß niemand stark genug ist, bei anderen einzudringen.“145 Gleichheit als Grundprinzip des demokratischen Individualismus wäre dann das Recht auf Ruhe. Wenn alle gleich sind, kann jeder seine eigenen Wege gehen. Hier wird Demokratie gleichsam als eine Psychodynamik gefaßt, die erst erklären kann, wie Autonomie im Sinne von ‚Teilnahmslosigkeit‘ zum Freiheitsideal werden kann. Da der Andere qua Anderer seine Stärke, uns zu affizieren nie verlieren wird, muß das Bedürfnis nach Ruhe anders gestillt werden. Hier sieht Sennett die zweite Verteidigungslinie: „Gleichgültigkeit, Abkehr von den Anderen, bewußte Teilnahmslosigkeit. Wer sich so verhält, den können die anderen emotional nicht erreichen. In der Außenwelt ein Gefangener, kann er doch im Innern seinen eigenen Weg gehen.“146 Insofern versteht Sennett die ‚Autonomie‘ als Freiheitsideal, als Fähigkeit, den Anderen als solchen zu neutralisieren, als Nachfolge des von Tocqueville beschriebenen Individualismus. Die ‚Demokratisierung‘ dieses Freiheitsideals im Sinne seiner Ausbreitung als Persönlichkeitsnorm ist zugleich der

144 Ebd.: S. 113 145 Sennett 1990: S. 144 146 Ebd.: S. 145

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Prozeß, in dem – in Tocquevilles Worten – ‚Gleichgültigkeit‘ zur ‚öffentlichen Tugend‘ wird.147 Komplementär dazu sind die Personalisierungs- und Enthüllungstendenzen zu sehen, die die Form, die ausbleibende Interaktion zu ersetzen suchen. Die Professionalisierung der Reaktion auf solche Tendenzen durch Therapie, Umorientierungen in der Pädagogik und in Unternehmen durch Managerschulungen, aber auch in den Medien wiederum ist auch selbst Ausdruck der hier nachgezeichneten Dynamik. Die Tendenz geht in all diesen Bereichen in Richtung Stimulation und Beeinflussung, wobei das Gegenüber, das beeinflußt, oder besser nur noch: die Macht/der Einfluß, immer unsichtbarer wird.148 Was uns als Humanisierung erscheinen mag, so Sennett, verdeckt bloß eine Befehlsstruktur und führt zur Entpolitisierung.149 Der Widerstand nimmt Formen an, die mit organisiertem Protest wenig zu tun haben. Und darum – und nicht um Gehorsam gegenüber Autoritäten geht es Sennett, wenn er Tocquevilles Sicht der Gefahren der Gleichheit auf die heutigen Autoritätsprobleme moderner Gesellschaften überträgt: die Forderung einer sichtbaren, lesbaren Autorität, die heute am Schwinden ist: „Aus einer klar umrissenen Gestalt, die über Macht verfügt, verwandelt sich die Autorität in eine ungreifbare Tendenz, die Einfluß ausübt, ohne Verantwortung zu übernehmen und ohne denen, die sie beeinflußt, direkt gegenüberzutreten. Ein Richter, dessen Urteile ebenso intensiv, wie willkürlich sind: Ansichtssachen. Und auch das macht ihn frei.“150

Entpolitisierungs-, Intimisierungs- bzw. Privatisierungs- und Personalisierungstendenzen sind wiederum lediglich Aspekte jener von Tocqueville 147 de Tocqueville 1959b: S. 118 148 „Die Fähigkeit, einen Menschen dazu zu bringen, daß er ein gemeinsames Unternehmen mitträgt“, so schreibt etwa Schmidbauer in seinem Ratgeber ‚Persönlichkeit und Menschenführung‘, „ist für den Lebenserfolg von zentralem Wert. […] Grundkompetenzen, einen Mitmenschen anzusprechen und ihn ‚zu bewegen‘, sind in jeder Form wirtschaftlicher Interaktion – vom Tauschhandel bis zum Bankgeschäft –, in jeder Spielart von Erziehung, Erwachsenenbildung, Training und Therapie unerläßlich“ (Schmidbauer 2004: S. 7). Das Entscheidende an Führung sei eine ‚aktivierende Qualität‘ und nicht Macht, heißt es an anderer Stelle. Der Schwerpunkt der Führung richte sich auf die Stimulierung der Fähigkeiten von Individuen, zusammenzuarbeiten und etwas zustande zu bringen (vgl. ebd.: S. 16). 149 Ein Zitat von Tocqueville dazu, das – wenn es nicht so milde wäre – von Adorno stammen könnte: „Nicht das werfe ich der Gleichheit vor, daß sie die Menschen zur Jagd nach verbotenen Genüssen treibt; sondern daß sie sie mit dem Begehren erlaubter Genüsse ganz und gar ausfüllt./Auf diese Weise könnte sich in der Welt sehr wohl eine Art ehrbarer Materialismus einnisten, der die Seelen nicht verdirbt, der sie aber verweichlicht und sie schließlich unmerklich all ihrer Spannkraft beraubt“ (de Tocqueville 1959b: S. 150). 150 Sennett 1990: S. 147

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und Sennett beschriebenen Beziehungsdynamik, die es noch zu vertiefen gilt. Die Dynamik läßt sich mit Sennett vorläufig so zusammenfassen: „Je mehr die Psyche privatisiert, d.h. ins Private gedrängt wird, desto weniger wird sie stimuliert, und desto schwieriger ist es für uns, zu fühlen oder Gefühle auszudrücken.“151 Die Formgebung als Fähigkeit leidet. Da damit das Bedürfnis nach ‚Gefühlsbejahung‘ (Elias) durch Andere nicht verschwindet, ist die andere Seite dieser Unfähigkeit, der Versuch, Reaktionen hervorzulocken. Wieder mit Sennett auf den Punkt gebracht: Es entsteht der Wunsch nach Beachtung, der Versuch „etwas zu erlangen, woran in der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft Mangel herrscht: das Gefühl, von anderen respektiert und erkannt zu werden.“152 Narzißmustheoretisch bewegen wir uns damit von der Selbstwert auf die Selbstebene: Von der Achtung und Anerkennung zu Beachtung und Erkennung. Von der Frage „Wie bin ich?“/„Bin ich nicht toll?“ zu der Frage: „Bin ich?“. Einerseits entsteht Autonomie nicht aus Selbstverleugnung, sondern aus ‚Selbstausdruck‘, doch dieses Selbst muß andererseits in Anbetracht der Umstände selbst gemacht werden: „Disziplin bedeutet für uns, die Vielfalt der uns innewohnenden Vermögen so zu orchestrieren, daß sie ein zusammenhängendes Ganzes bilden. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, einen Teil unserer Psyche zu zügeln, sondern darin, dem Ganzen eine Form zu geben.“153 Die Rede vom Kampf der Lebensstile bezieht sich auf diese Formgebungsversuche, aus denen natürlich die Selbstwertdimension nicht wegzudenken ist. Insofern hat Neckel Recht und Unrecht, wenn er der Entpolitisierungs- und Personalisierungsthese entgegensetzt: „Nicht Lebensstil statt Politik, sondern: Politik der Lebensstile.“154 Doch was, wenn 151 152 153 154

Sennett 1986: S. 16 Sennett 1990: S. 119, Herv.v.mir Ebd.: S. 110, Herv.i.O. Neckel 2000: S. 16. Seine Kritik an Sennett in diesem Zusammenhang lautet: „Wenn man […] wie Richard Sennett in seiner mokanten These von der ‚Tyrannei der Intimität‘ – die Übertragung alltagspraktischer Deutungsmuster umstandslos als illegitime Projektion persönlicher Bedürfnisse auf Politik und Gesellschaft begreift, als privatistische Destruktion des Politischen überhaupt, verstellt man sich von vornherein eine analytische Perspektive, in der die politischen Qualitäten eines auf das Politische hochgerechneten Privatismus noch deutlich werden könnten. Übrig bleibt dann letztlich nur die Trauer über den Zerfall bürgerlicher Konventionen – eine Zeitdiagnose, die sich überdies ihrer normativen Geltungsansprüche nicht mehr versichert“ (ebd.: S. 17). Dies ist ein gängiges Mißverständnis der Sennettschen These von der ‚Tyrannei der Intimität‘. Von einer ‚illegitimen Projektion persönlicher Bedürfnisse auf Politik und Gesellschaft‘ ist nicht die Rede gewesen. Vielmehr geht es um die Konzeptualisierung einer Psychodynamik, die Bedürfnisbefriedigung u.a. durch Personalisierungsund Intimisierungstendenzen im politischen Bereich verhindert. Das ist nicht identisch mit einer Entpolitisierung der Gesamtdebatte über diese Phänomene. Immer wieder sollte man daran erinnern, daß der englische Originaltitel ‚The Fall of Public Man‘ ist und das Stichwort ‚Tyrannei der Intimität‘ die Gesamtargumentation nicht wiedergibt. Zudem wird Sennetts

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die Machtkämpfe von der Psychodynamik bestimmt werden, die der Selbstebene entspringt? Wenn die ‚neuen‘ Abhängigkeiten, nicht zuletzt die zunehmende Expertenabhängigkeit, aber ebenso die zunehmende Relevanz der Medien eben nicht allein dem Bedürfnis nach Anerkennung geschuldet sind und damit ganz anderen Mechanismen unterliegen? Die Bereitschaft, immer größere Bereiche unseres Lebens einer förmlichen Schulung zu unterwerfen, Sex-Handbücher, Anleitungen zu selbstbewußtem Auftreten oder zu einer effektiven Freizeitgestaltung und populäre Therapieformen dienen schließlich nicht dazu, irgendwelche zivilisatorischen, distinktiven Fertigkeiten zu entfalten, sondern uns überhaupt zu entfalten, oder wie Sennett schreibt: Eine Person zu werden, die anderen auffällt.155 Im weiteren Teil dieses Kapitels möchte ich die Aufmerksamkeit auf die dieser Beziehungsdynamik zugrundeliegende Erkenntnisdynamik lenken, ohne deren Verständnis die erstere verschwommen bleibt. Der Grundstein dafür ist bei Tocqueville in seiner Auseinandersetzung mit der ‚Geringschätzung der Formen‘ in der demokratischen Gesellschaft angelegt. Die vom Gleichheitsprinzip und von der Gleichheitsliebe geleiteten Menschen sind, so Tocqueville, geleitet von dem Wunsch, alles selber zu beurteilen, was sie mit einer Geringschätzung für die Überlieferung und die Formen und mit der Vorliebe für das Greifbare und Wirkliche erfülle:156 „Die Menschen, die in solchen Zeiten leben, ertragen Bilder schlecht; die Sinnbilder erscheinen ihnen als kindische Kunstgriffe, deren man sich bedient, um ihnen Wahrheiten zu verschleiern, oder auszuschmücken, die man ihnen besser ganz nackt und in vollem Lichte zeigen sollte; Zeremonien lassen sie kalt […].“157

Der Amerikaner verlasse sich so in fast allem seinem geistigen Tun nur auf seine eigene Vernunft. Amerika sei „eines der Länder der Welt, in dem man die Lehren von Descartes am wenigsten kennt und am besten befolgt.“158 Diese Menschen mußten diese Denkweise nicht den Büchern

155 156 157 158

‚Intimität‘ oft mit Privatheit und Egoismus (illegitime Projektion) assoziiert, was einfach an der Theorie vorbeizielt. Wie Ch. Lasch für den Bereich politischen Austauschs formuliert hat, gilt auch für den wissenschaftlichen: „Ideen zirkulieren in Form von Schlagwörtern und werden in Form von konditionierten Reflexen rezipiert“ (Lasch 1995: S. 91). Vgl. Sennett 1990: S. 110 Vgl. de Tocqueville 1959b: S. 53 Ebd.: S. 37, Herv.v.mir Ebd.: S. 15. „Sich freihalten vom Systemgeist, vom Joch der Gewohnheit, von Familienmaximen, von Klassenanschauungen und bis zu einem gewissen Grade von nationalen Vorurteilen; die Überlieferung lediglich als Hinweis, die gegenwärtigen Verhältnisse nur als nützliche Lehre zum Anders- und Bessermachen betrachten; den Grund der Dinge in sich selber suchen, ohne Bindung an die Mittel auf das Ziel losgehen und durch die Form hindurch auf den Kern zielen: das sind die Grundzüge dessen, was

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entnehmen, sie fanden sie in sich selbst, sie entsprang ihren Lebensbedingungen. Gleiches gilt für Europa. Descartes, der in der Philosophie die überkommenen Formeln aufhebt, die Herrschaft der Überlieferung zerstört und die Autorität des Lehrers stürzt, ist lediglich ein Repräsentant auf der Entwicklungslinie dieser Bedingungen. Nach und nach wurde der Grundsatz der individuellen Vernunft verallgemeinert und dem Einzelnen wurde der Inhalt all seiner Glaubenslehren zur Prüfung unterworfen. Diese philosophische Denkweise konnte in einer Zeit entdeckt werden, da die ‚Gleichheit‘ unter den Menschen begann und sie sich ähnlicher wurden. Zur allgemeinen Richtlinie konnte sie erst werden, als die Lebensbedingungen sich ausglichen und die Menschen nahezu – natürlich relativ, aus Tocquevilles damaliger Sicht – gleichgestellt waren: „Die philosophische Denkweise des 18. Jahrhunderts ist somit nicht einfach französisch, sondern demokratisch“,159 weshalb sie auch so mühelos in Europa angenommen worden sei. Es ist dies also ein geistiges Verhalten, in dessen Kontext die Formen (die formalisierten Verhaltensweisen) den Schleier bilden, der sich zwischen die Menschen und die Wahrheit schiebt. Sowohl die spezifische Beschaffenheit dieser Menschen als auch die ihrer Wahrheit resultiert aus dem spezifischen Umgang mit dem Nicht-Symbolisierbaren: Mit der Lichtung dieses Schleiers ist es die Erkenntnisgrenze selbst, die durchstoßen wird. Hier haben wir es nicht mit mehr Erkenntnis zu tun, sondern mit einer anderen ‚Erkenntnis‘. Und noch einmal: Was ist hier geschehen? Es ist an dieser Stelle lohnenswert, bei einem jener Autoren, die die Scham als Tugend betrachten, genauer nachzufragen, warum er dies eigentlich tut und welcher Emotionsbegriff hier zugrunde gelegt wird. Ein westlicher Vertreter solch positiven Schambegriffs ist Max Scheler (18741928). Scheler ist in der Linie von Douglas und Sennett einzuordnen, wenn er den Menschen im Zuge der Entwicklung moderner Gesellschaften „eine allgemeine Schlamperei in Dingen des Gefühls“160 attestiert: Der moderne Mensch meine, es gebe da überhaupt nichts Festes, Bestimmtes, Bindendes, wo er sich nur die Mühe und den Ernst nicht nimmt, ein solches zu suchen, im Kontrast dazu haben wir den lächerlichen Überernst und die komische Geschäftigkeit bei denjenigen Dingen, die sich durch unseren Witz beherrschen lassen. Es gibt eine strenge, absolute, objektive und unverbrüchliche ‚Logik des Herzens‘, doch uns ist die Fähigkeit abhanden gekommen, ihr Vertrauen und Ernst entgegenzubringen:161 „Man erfaßt das Ganze des emotionalen Lebens nicht mehr als eine sinnvolle Zeichensprache, in der sich gegenständliche Zusammenhänge entschleiern, die in ihrem wechselnden Verhältnis zu uns Sinn und Bedeutung unseres Lebens regieich als philosophische Denkweise der Amerikaner bezeichnen möchte“ (ebd.). 159 Ebd.: S. 17 160 Scheler 2000: S. 93 161 Vgl. ebd.: S. 93-95

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ren, sondern als völlig blinde Geschehnisse, die an uns ablaufen wie beliebige Naturvorgänge; die man eventuell technisch lenken muß, damit Nutzen erzielt und Schaden vermieden werde – die man aber nicht zu erhorchen hat, indem man auf das bedacht ist, was sie ‚meinen‘, was sie uns sagen wollen, was sie uns raten und abraten, wohin sie zielen, auf was sie deuten!“162

Aus diesem Verständnis der Emotionen heraus und seiner Weigerung, diese auf ihre subjektive Dimension, auf die Innerlichkeit zu reduzieren, ist auch sein Schambegriff zu verstehen. Zunächst einmal liegt der Scham hier im Unterschied zu Seidlers Verständnis explizit ein positiver Wert zugrunde, den sie schützt, und der beschützenswert ist. Als Selbstschutzgefühl steht sie der Zeigelust und dem Beachtungswunsch entgegen: „Allen diesen seelischen Mächten gegenüber, die für sich allein dahin drängen würden, daß der Mensch sich mehr oder weniger an die Welt verliere und jedes Hinblicken wie jede Sorge für sein intimes Selbst aufgebe, vertritt die Scham das Sein und das Recht jenes intimen Selbst und seiner Unberührtheit durch das öffentliche Urteil.“163 Aber weiter kennt Scheler aus phänomenologischer Perspektive auch ein ‚objektives Schamphänomen‘: „Sehen wir […] die Dinge phänomenologisch scharf und richtig, so müssen wir die Scham geradezu einer feinen Aura von als objektive Schranke empfundener Unverletzlichkeit und Unberührbarkeit vergleichen, die den Menschenleib sphärenhaft umfließt.“164 Beim objektiven Schamphänomen sind beide Interaktionsteilhaber mitgedacht, es handelt sich um gemeinsam geteilte Grenzen zwischen den beiden, allerdings solche, die nicht anerzogen sind, es ist die natürliche Scham als objektive Gegebenheit. Was die objektive Scham beschützt, ist in Schelers Konzept die ‚Beseeltheit des Körpers und des Fleisches‘. Es ist nicht erst der Körper und später im Zuge eines Zivilisationsprozesses/Psychologisierungsprozesses seine Beseelung, sondern umgekehrt: „[…] eine Verminderung, eine Beraubung ist es, wenn in einer späteren gleichen Wahrnehmung jener Schleier fehlt und die Materie des Fleisches sichtbar wird, wie dies häufig die Folge eines steigenden Ausfalls der Schamfunktion aufgrund eines üblen Lebenswandels ist.“165 Was unter einem üblen Lebenswandel zu verstehen ist, sei dahinge162 163 164 165

Ebd.: S. 95f, Herv.i.O. Scheler 1957: S. 83 Ebd.: S. 87 Ebd.: S. 87. „Wer die Scham für etwas Anerzogenes hält, muß natürlich meinen, daß der Eindruck jener Verschämtheit, jener Züchtigkeit und Reinheit, die in der Leibeserscheinung einer unbekleideten schamhaften Frau – auch ohne jede Kenntnis ihres seelischen Erlebens – gelegen sind, auf einer ‚Einfühlung‘, d.h. auf einer Übertragung eigener Gefühlserlebnisse in einen Inhalt der Wahrnehmung beruhe, der uns ‚zunächst‘ nur die rein körperliche, anatomische Erscheinung der Frau darbiete. Aber die Sache verhält sich umgekehrt. Nicht eine Zutat und ein Plus, sondern eine Wegnahme und ein Minus führt zur Erscheinung des bloßen Körpers der Frau und besonders ihrer Geschlechtsorgane. In der natürlichen Wahrneh-

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stellt. Was der Philosoph uns hier bietet, ist eine konzeptuelle Zusammenführung von Scham, Macht und Erkenntnis. Eben der Zusammenhang von Scham und Ehrfurcht, als nicht zum Negativen tendierende Machterfahrung, bzw. deren Fehlen sei es, was uns die unterschiedlichen Weltanschauungen der Menschen verstehen läßt: „Eben jene Scheu und Ehrfurcht sind es […], die sowohl der Welt als der Seele eine geheimnisvolle Tiefe und das Gefühl einer über unsere Horizonte hinausfließenden Weite und Fülle geben, vor welcher der Verstand zermalmt und sich seiner Enge und Begrenztheit bewußt wird. Im Ahnen ist hier überall noch an jedem Ding eine geheimnisvolle Fülle seines Seins gegenwärtig, die seinen wißbaren überragt und diesen […] umfließt. Andererseits ist gar kein Zweifel, daß eben diese Emotionen die wissenschaftliche Eroberung der Welt […] gehemmt haben. Solange den Sternenhimmel jener Charakter geheimnisvoller Göttlichkeit umkleidete und umwob, solange die Scheu vor dem menschlichen Leichnam einen bestimmten Grad hatte, war eine Astronomie, die den Himmel berechnete, eine Anatomie, die den Leichnam zerlegt, ausgeschlossen. […] Mehr als alles andere aber ist für die psychologische Zergliederung des eigenen Selbst diese Art von Scham eine Schranke gewesen.“166

Die Folge des Fehlens dieser Schranke ist die ‚schuldhafte Entseelung des ursprünglichen Gesamtphänomens‘. Die ‚Entseelung‘ des Menschen (als Gegenstand der Wissenschaften) und entsprechende Gegenbewegungen, deren Vertreter hier einige vorgestellt wurden, können somit aus dieser Perspektive als die Kräfte in menschenwissenschaftlichen Kämpfen und – vielleicht nicht nur dort – angesehen werden. Der Begriff der ‚Entseelung‘ bleibt freilich immer noch zu spezifizieren.

Resümee und Ausblick Neckel hat bei seiner Scham-Untersuchung so wie Seidler bei Sartres Kategorie des Blickes167 angesetzt. Ganz anders als Seidler aber ‚übernimmt‘ mung ist jenes Kleid auch da noch mitgegeben, wo ihm eine Gefühlskomponente im Weibe selbst fehlt, z.B. bei der Wahrnehmung einer nackten Dirne durch einen normalen Knaben“ (ebd., Herv.i.O.). 166 Ebd.: S. 89f, Herv.v.mir 167 Hier noch einmal Sartres Verständnis der Scham, an dem beide Autoren unterschiedlich ansetzen: „Die reine Scham ist nicht das Gefühl, dieser oder jener tadelnswerte Gegenstand zu sein; sondern überhaupt ein Gegenstand zu sein, das heißt, mich in jenem degradierten, abhängigen und starr gewordenen Gegenstand, der ich für andere geworden bin, wiederzuerkennen. Die Scham ist das Gefühl des Sündenfalles, nicht deshalb, weil ich diesen oder jenen Fehler begangen hätte, sondern einfach deshalb, weil ich in die Welt ‚gefallen‘ bin, mitten in die Dinge hinein, und weil ich der Vermittlung des Anderen bedarf, um zu sein, was ich bin“ (Sartre, zit.n. Seidler 1997: S. 139; Vgl. Neckel 1991: S. 29; s.a. in anderer Übersetzung: Sartre 1993: S. 516).

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er von Sartre den negativen Aspekt des Schambegriffs (degradiertes Objekt) und verwirft den ontologischen als irrelevant. Dies begründet er durch zweierlei: Erstens mangle es bei Sartre am Bezug auf einen normativen Kontext, auf innere Repräsentationen kultureller Muster. Zweitens bedarf der ‚beschämende Blick‘ der Deutung. Sartre aber stelle soziale Interaktionen als interpretationsfreie Räume dar, bzw. sie werden durch den ontologischen Sachverhalt der Objektivierung vor Wertung/Interpretation wirksam. Mit der Übernahme des Elements ‚degradiertes Bewußtsein‘168 und dem Verwerfen der ‚reinen‘ Scham wendet er sich explizit von der Ebene der Modalität des Selbst ab und läßt für eine Theorie sozialer Ungleichheit nur die Inhaltsebene gelten: „ […] wenn auch nicht im Ausgang, so doch im Ergebnis von sozialen Beziehungen können sich objektivierende Effekte zwischenmenschlicher Kommunikationen gerade durch solche Akte der Beschämung einstellen, die zwar nicht die unstrukturierte Offenheit von Subjekten zum Ausgangspunkt nehmen, wohl aber gerade ihre Identitätskonstruktionen.“169 Unter dem Begriff sozialer Scham versteht er dann eine ‚negative emotionale Selbstbewertung‘ und verwendet ihn, „wenn nicht die Scham als Wert gemeint ist, und sie sich mit sozialen Normen aufgeladen hat, die der Spezifik einer gesellschaftlichen Ordnung geschuldet sind.“170 Daß Sartre gerade den Machtaspekt des Blickes hervorgehoben hat, bringt Neckel mit seiner Erfahrung der deutschen Internierung und später der deutschen Besatzung in Zusammenhang. Dagegen hat Neckel auch nichts weiter. Wogegen er sich wendet, ist, daß hier Scham und Macht scheinbar sozial amorph sind, als wenn die Machtressourcen bei jedem gleich verteilt wären: „Sartre generalisiert sein biographisches Erleben allerdings schließlich zur Vorstellung jenes tragischen Leitbildes einer vergeblich zum An-sich-strebenden Identität, die sich ihrer selbst verdanken möchte und daher jeden Anderen als Begrenzung ihrer substantiellen Freiheit erfahren muß […].“171 Der Erfahrungshintergrund seiner Phänomenologie des Blickes seien ‚Ausnahmezustände‘, wodurch sich eine ontologische Phänomenologie der Scham für eine soziologische Theorie sozialer Ungleichheit im Alltag erübrigt. Soziale Scham ist der Makel der Macht, bedingt durch die Erfahrung der Subjekte, durch eine fremde Bemächtigung ihrer selbst in einen Objektstatus versetzt worden zu sein, dessen inferiore Position ihr Autonomiebedürfnis verletzt.172 Abgesehen von der Frage nach der Sozio- und Psychogenese der von Neckel sogenannten ‚Ausnahmezustände‘, die hier ausgespart werden muß, gab es aufgrund des oben Gesagten einige Einwände gegen diese Vorgehensweise, die ich kurz zusammenfasse. Folgt man zunächst der Ar-

168 169 170 171 172

Vgl. Neckel 1991: S. 29 Ebd.: S. 34, Herv.i.O. Ebd.: S. 19 Ebd.: S. 35 Vgl. ebd.: S. 40

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gumentation von Bourdieu, Sennett, Douglas und Scheler, muß man erstens von einer Demokratisierung des ‚entindividualisierenden‘, wie Scheler sagt ‚entseelenden‘ und wie es in der Psychoanalyse heißt ‚seelenblinden‘ Blickes im Zuge des von Neckel und den anderen Autoren beschriebenen Individualisierungsprozesses ausgehen, was zur Folge hat, daß die ontologische Ebene, bei Seidler mit der Modalität des Selbst beschrieben, hier kurz Selbstebene genannt, sehr wohl eine Relevanz für eine Theorie sozialer Ungleichheit, aber darüber hinaus für die gesamte Zivilisationsdynamik haben kann, jenseits der Tatsache daß sie als Bedingung der Möglichkeit jeglicher inhaltlicher Ausgestaltung immer schon Teil dieser Dynamik ist, wenn auch nur unter bestimmten Umständen (praktisch und theoretisch) expliziert. Diese Explikation findet bei Neckel selbst ansatzweise statt, nur daß er gleichzeitig das Explizierte als Gegenstand seiner Studie verwirft. Was Neckel eigentlich darstellt, ist die Demokratisierung der Illusion der Autonomie, durch die die Machtkämpfe impliziter, psychologisierter ablaufen. Es sind Kämpfe gleichzeitig um und gegen den Anderen. Die Demokratisierung des Freiheitsideals der Autonomie ist ebenfalls ein Aspekt dieses Individualisierungsprozesses.173 Dadurch aber, daß Neckel bei seiner Schamanalyse die Machtkategorie unhinterfragt übernimmt, und die Scham auf einen Makel der Macht reduziert, und neben die Scham als Tugend stellt, wird zweitens sein Erklärungsversuch ungewollt Teil der Dynamik, eine Art Ablehnungsbindung im Sennettschen Sinne. Während Neckel also mit Agnes Heller darauf verweist, daß im Zuge dieses Individualisierungsprozesses der Wertinhalt der Scham sich einseitig an strategischen Interessen ausrichtet, deren Verfolgung durch die Sozialstruktur erzwungen ist174 – eine These, der wir auch bei Bourdieu und Sennett begegnet sind –, entgeht ihm, daß er mit der Forderung nach ‚Gleichverteilung‘ der Mittel zur Befriedigung der gesellschaftlich produzierten Bedürfnisse und Interessen die entsprechenden Wertinhalte akzeptiert hat. Wie Bourdieu es formuliert hat, durch die bloße Teilnahme am Rennen bzw. hier der Forderung nach Änderung der Spielregeln wird die Legitimität der Ziele der Verfolgten anerkannt.175 Die Macht schließlich, die darin besteht, andere zu beschämen, ist eine spezifische Macht, wie wir bei Sennett gesehen haben, so daß Neckels Verallgemeinerung dieses Machtbegriffs zu einer reduktionistischen Sicht auf Scham führt. Der ‚ontologische Schock‘, wie Neckel Sartres Schamerfahrung nennt, sowie die ‚Negativität des Urteils‘ als Anhängsel der Scham sind Nachdichtungen, sie ergeben sich aus zugefügten oder erfahrenen Teilobjektivierungen. Scham, Macht und Erkenntnis bezeichnen Beziehungsprozesse, 173 Der homo clausus ist bei Elias durch beide Aspekte gekennzeichnet: durch grundlegende Beeinträchtigung der affektiven Kommunikation und dadurch, daß der Verweis auf die Bedingtheit der eigenen Individualität durch andere Menschen als Entwertung erlebt wird. 174 Vgl. Neckel 1991: S. 78f u. S. 194 175 Vgl. Bourdieu 1987: S. 273

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aber wir neigen dazu, sie teilobjektivierend zu fassen. Narzißmus bezeichnet eine spezifische Ausgestaltung dieser Beziehungsaspekte. Es dürfte kein Zufall sein, daß es gerade die beiden soziologischen Narzißmustheoretiker Sennett und Ch. Lasch waren, die sich ebenfalls explizit mit dem Problem von Gewissen und Verantwortung der ‚Macht‘ beschäftigt haben.176 Die ‚nackte‘, ‚unsichtbare‘ Macht, so könnte man sagen, ist das Gegenüber des ‚Narziß‘. Der Verarmung sozialer Erfahrung hat Tocqueville pragmatisch die gesellige Idee der Freiheit entgegengesetzt: „Nur durch die gegenseitige Wirkung der Menschen aufeinander erneuern sich die Gefühle und die Gedanken, weitet sich das Herz und entfaltet sich der Geist des Menschen.“177 Da diese Wirkung bei den gleichheitsliebenden und individualistischen Menschen ausbleibt, muß sie nun künstlich geschaffen werden. Die ‚Kunst der Vereinigung‘ wird um so notwendiger, je mehr sich die gesellschaftlichen Bedingungen ausgleichen. Diese Idee war uns in ihrer neueren, individualisierteren Version etwa bei Engler begegnet, wo er das Geheimnis gelungener, weil reflexiver Zivilisierung in der ‚Aktivität‘ als neues Zivilisationskriterium ausmacht. Aktive Teilnahme am Geschick der umfassenderen Einheiten, Identifizierung mit ihnen ohne Arglist, kurz: „Wir sind, was wir sind, nicht durch schlichte Fügung, sondern aus eigener Anstrengung.“178 Eine schöne Idee, die, da sie auf der Machbarkeitsidelogie aufbaut, nicht machbar ist. Daher weiter die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten einer solchen Geselligkeit und deren Wandlungen. Diese Frage werde ich anhand der Wandlungen des ‚Blickes‘ als Wandlungen der Erkenntnisdynamik vertiefen, die die sinnliche und übersinnliche Sphäre als Zivilisierungsgegenstand und Zivilisierungsmittel betrifft. Diese Frage nach Wandlungen des Blickes, das darf man nicht vergessen, ist zugleich die Frage nach den gesellschaftlichen ‚Ausgestaltungen menschlicher Expressivität‘ und entsprechender ‚sympathetischer, lebendiger Reaktion‘ (Sennett).

176 Vgl. Sennett (1991): „Autorität“ und Lasch (1995): „Die blinde Elite. Macht ohne Verantwortung“ 177 de Tocqueville 1959b: S. 125, Herv.v.mir 178 Engler 1995: S. 122

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c) Selbstbeziehungen im Wandel der Wir-IchBalance. Problematisierte Beziehungen „Sein Gott war ihm selber auf bemerkenswerte Weise ähnlich geworden, ein Wesen, das nicht mehr unter dem Zwang mächtiger Symbole der wechselseitigen Verbundenheit stand, ein Gott, der die Fähigkeiten und Absichten des einzelnen beurteilt, der nicht mehr ein für allemal feststehende Regeln mechanisch anwendet, sondern den Schleier der Symbole durchdringt, um das Herz des Menschen zu prüfen – kurz, ein Gott, der vom Ritual nichts mehr wissen will.“179

Was erkennen der Gott, der Mensch und sein Gegenüber, wenn sie den Schleier der Symbole derart durchdringen? Und welche Konsequenzen hat dieses Erkennen für das Zwischenmenschliche? Diese letzte Frage ist ein bemerkenswert stark vernachlässigtes Thema der Menschenwissenschaften, zumal diese selbst ein Zwischenmenschliches sind. Dieses Erkennen ist eher ihre Methode als ihr expliziter Gegenstand gewesen. Doch gibt es neben der Narzißmusdebatte einen weiteren Diskussionsstrang, über den man sich an diese Problematik annähern kann. Wenn auch nicht die Erkenntnisdynamik selbst, so sind doch die ‚Erkenntnismittel‘, die ‚Sinne‘, deren Wandlungen sowie Wandlungen in deren Hierarchie im Zuge von Modernisierungs- und Zivilisationsprozessen durchaus Thema gewesen. Die Tendenz, neben dem ‚Verstand‘ die ‚Sinne‘ verstärkt zu inspizieren, hat ja u.a. Elias als Ausdruck des Individualisierungsprozesses selbst betrachtet. Elias selbst wiederum hat die Sinne und ihren Wandel unter verschiedenen Gesichtspunkten am Rande erörtert. Da wird zunächst die eben genannte Tendenz zur Verdinglichung der Sinne in Zusammenhang mit der homo-clausus-Erfahrung im Kontext der philosophischen Erkenntnistheorie genannt, in der die Sinneseindrücke die Brücke zwischen Innen und Außen und die Sinnesorgane quasi die Fenster des körperlichen Gehäuses bilden, durch die das Innere Mitteilung darüber erhält, was im Äußeren seiner Mauern vor sich geht.180 Zu diesem Grundschema des Menschenbildes gehört dann auch der aufkommende Zweifel darüber, was an dem Wahrgenommenen Wirklichkeit und was Illusion ist, denn das, was außerhalb des erlebenden Menschen vor sich geht, könnte durch das Denken und die Sinne desselben so verändert und verkleidet sein, daß es der 179 Douglas 1986: S. 28. Diese Textstelle bezieht sich auf die amerikanischen Navaho, deren Religion zunächst magisch geprägt war, bis sich ein Teil ihrer Angehörigen als Reaktion auf moderne Lebensformen einer dem Protestantismus verwandten Reform des Rituals und der Gewissensbildung anschloß. Douglas bezeichnet ihren Fall als ein ‚verkleinertes Modell der europäischen Reformation‘. 180 Vgl. u.a. Elias 1988: S. 149f

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äußeren ‚Wirklichkeit‘ nicht mehr entspricht.181 Trotz dieser Kritik am monadistischen Menschenbild solcher Philosophie, gibt es einen Mangel in der Betrachtung der Sinne, den die westliche Philosophie tendenziell u.a. mit der Eliasschen Soziologie gemeinsam hat. Die Thematisierung der ‚Sinne‘ geschieht vornehmlich im Kontext der Erkenntnistheorie, wohlgemerkt einer Erkenntnistheorie, die sich nicht in erster Linie mit dem Erkennen eines menschlichen Gegenübers beschäftigt, und der Ästhetik. Nicht zuletzt Elias’ Zivilisationstheorie scheint wie dafür gemacht, den Bedingungen der Möglichkeit, des Wahren und des Schönen teilhaftig zu werden, auf die Spur zu kommen. Diese Kriterien bestimmen den Diskurs, in dem die sensorischen Vermögen der Menschen nach ihren diesbezüglichen Leistungen bewertet und hierarchisiert werden.182 Woran es mangelt, ist die Thematisierung der Sinne in Zusammenhang mit dem Wandel der Beziehungen und Begegnungen und der entsprechenden Psychodynamik. Die Postulierung einer ‚zunehmenden Relevanz des Visuellen‘ in entwikkelteren Gesellschaften, die ich hier aus dem Sinnlichkeitsdiskurs herauspicken und weiter vertiefen werde, findet sich auch bei Elias. Die ‚zunehmende Relevanz des Auges‘ im Zivilisationsprozeß steht bei ihm in Interdependenz mit der Entstehung der ‚Panzerung‘ und der damit einhergehenden Reduktion des Körperverhaltens, dem fortschreitenden Erkenntnisprozeß im naturwissenschaftlichen Bereich, der gleichzeitigen Entstehung einer bestimmten Ungewißheit in Bezug auf die Wirklichkeit und der Ästhetisierung der Wahrnehmung. Im Zuge der Zivilisierung „verlagern sich mehr und mehr Tätigkeiten, die ursprünglich den ganzen Menschen mit allen seinen Gliedmaßen in Anspruch nahmen, auf die Augen – wenn auch gewiß das Übermaß dieser Beschränkung immer von neuem, zum Beispiel durch Tanz und Sport, korrigiert werden kann.“183 Mit der zunehmenden – bekanntlich kompensationsfähigen – ‚Dämpfung‘ der ‚Affekte‘ sowie allgemein der Körperbewegungen, steigt in diesem Denkmodell die Bedeutung des Auges als ‚Vermittler von Lust‘. Abgesehen davon, daß Elias selbst sich hier nicht weit von der Fenster-Metaphorik bewegt, 181 Vgl. u.a. Elias 1990a: S. 373ff 182 Vgl. Loenhoff 2001: S. 11 183 Elias 1988: S. 162. „Mit der stärkeren Dämpfung der Körperbewegungen wächst die Bedeutung des Sehens: ‚Du kannst dir das ansehen, aber faß es nicht an‘, ‚Eine schöne Figur‘, ‚Bitte nicht zu nahe‘. Oder allenfalls noch des Sprechens: ‚Schimpfen darf man doch, nur nicht zuhauen‘, ‚Harte Worte zerschlagen keine Töpfe‘, ‚Aber bitte nicht handgreiflich werden‘. Augenfreuden, und Ohrenfreuden, werden intensiver, reicher, subtiler und auch allgemeiner. Gliederfreuden werden mehr und mehr durch Gebote und Verbote eingehegt und auf wenige Bezirke des Lebens beschränkt. Man nimmt vieles wahr, ohne sich zu bewegen. Man denkt und beobachtet, ohne sich zu rühren. Die Parabel von den denkenden Statuen übertreibt; aber sie leistet, was sie leisten soll: Die Statuen sehen die Welt und bilden sich Vorstellungen von der Welt. Aber es ist ihnen versagt, ihre Glieder zu rühren“ (ebd.).

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ist es interessant, auf welchen Bereich des Äußeren sich diese Lust bezieht: Der Gegenstand der Augenlust ist die Natur, die mit ihrer zunehmenden Kontrolle und Pazifizierung dem Stadtmenschen als ‚Erholungsraum‘ dienend nun ihre Schönheit offenbart, während sie andererseits durch friedliche Tätigkeiten und durch die Erzeugung von Gütern, Handel und Verkehr ebenfalls modelliert wird – und die Dinge, Produkte der Modellierung.184 Während die so befriedete Natur den befriedeten Menschen in einer neuen Weise sichtbar wird, steigt in bezug auf andere Menschen zunächst ebenfalls die Beobachtung. Die Entwicklung der Kunst der Menschenbeobachtung samt einer spezifischen Form der Selbstbeobachtung hat Elias ja als einen Aspekt der höfischen Phase als ‚Psychologisierung‘ beschrieben. Damit ist gemeint „nicht Psychologie im wissenschaftlichen Sinne, sondern jene aus der Lebensnotwendigkeit des Hofes selbst hervorwachsende Fähigkeit, sich über Aufbau, Motive, Fähigkeiten und Grenzen anderer Menschen Rechenschaft zu geben.“185 Diese Kunst ist noch auf die Gesten und den Ausdruck des Gegenübers angewiesen, doch Geste und Ausdruck stehen nicht mehr oder weniger für sich selbst, sondern müssen erst bedacht und entschlüsselt werden, die Äußerungen der Mitmenschen müssen sorgsam auf Sinn, Absicht und Bedeutung hin geprüft werden. Man könnte sagen, der Schleier der Symbole ist noch nicht ganz durchdrungen, doch das ‚Innere‘, das ‚Herz‘ des Menschen, beginnt sich bereits zu exponieren. Den Unterschied dieses ‚Formalismus‘ zur bürgerlichen Phase sieht Elias in der Aufmerksamkeitsverschiebung von der Person zur Sache: Das, was uns als ‚Äußerlichkeit‘ erscheine, enthülle sich „als Gegenbildung zu der Versachlichung der berufsbürgerlichen Gesittung, bei der das ‚Was‘ den Primat vor dem ‚Wie‘ hat, bei der – oft genug angeblich – die ‚Sache‘ alles, die ‚Person‘ und damit die auf die Person gerichtete ‚Form‘ des Verhaltens wenig bedeutet.“186 In dieser letzteren Phase, wo sich der Schleier, den die Leidenschaften vor das Auge legen, im Zuge der Pazifizierung und zunehmend allseitigen Panzerung lichtet, wird auch der Blick auf andere Menschen zunehmend affektneutraler. Aber was das Auge hier vermittelt, ist nicht Lust, sondern Angst: „Die unmittelbare Angst, die der Mensch dem Menschen bereitet, hat abgenommen und im Verhältnis zu ihr steigt nun die durch Auge und Über-Ich vermittelte, die innere Angst.“187 Der gesellschaftlich-gesellige Verkehr wird dadurch zu einer Gefahrenzone, „daß der Einzelne sich nicht genug zurückhält, daß er an die empfindlichen Stellen, an die eigene Schamgrenze oder an die Peinlichkeitsschwelle der Anderen rührt.“188 Die Entwicklungslinie der menschlichen Expressivität würde sich grob gesagt dann

184 185 186 187 188

Vgl. Elias 1989c: S. 405f Elias 1990a: S. 159 Ebd.: S. 166 Elias 1989c: S. 407 Ebd.: S. 406f

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von einem unproblematischen Bereich zunächst zu einer in der höfischen Welt akzentuierten und im Hinblick auf ein ‚dahinter‘ verborgenes Inneres zu hinterfragenden Welt der Gesten und Ausdrücke hin entwickeln – um in der bürgerlichen Welt und schließlich in unserer heutigen welche Gestalt anzunehmen? Was bei Elias verdeckt ist, ist das Schicksal des Gegenübers des ‚affektneutralisierten Blickes‘, das gleichzeitig das Subjekt dieses Blickes ist. Es ist ein Subjekt/Gegenüber, auf dessen Expressivität tendenziell nicht mehr Bezug genommen wird, womit sie sich erübrigt, bei ihrem Auftreten als ‚äußerlich‘, nicht-authentisch oder peinlich erlebt wird. Was sucht und was sieht das in diesem Sinne ‚zunehmend relevant gewordene Auge‘? Was bietet sich ihm dar? Die Frage nach Wandlungen der Wahrnehmung/-gebung, des Wahrgenommenwerdens und des Wahrnehmenlassens ist die Frage nach der Subjektkonstituierung kraft, wenn möglich, interaktionellen Akten wechselseitiger Wahrnehmung, nach Wandlungen der ‚Beziehung‘ als Fähigkeit und als Begehren. Bei der Postulierung der ‚Dominanz des Visuellen‘ in entwickelteren Gesellschaften mag es verwunderlich erscheinen, daß der Andere, bzw. seine Abwesenheit in den Erörterungen so wenig bedacht wird. Die Verwunderung läßt vielleicht nach, wenn man bedenkt, daß das ‚Auge‘ im Kontext des soziologischen Diskurses eine tendenziell bereits entsinnlichte und entkörperlichte Kategorie darstellt, es ist ein historisch gewachsenes ‚Auge‘. Dergleichen gilt für die Rede von der ‚Entsinnlichung‘ unserer Lebenswelt bzw. dem ‚Schwund‘ der Sinne. Daher bedarf das diesen Erörterungen zugrundeliegende Modell der Sinne einer Überprüfung, bevor, wenn überhaupt, soziologische Aussagen über Wandlungen der Sinne oder eines Sinnes gemacht werden können. Dabei wird sich zeigen, daß unsere Vorstellung über die ‚Sinne‘ ähnlich wie im Falle der ‚Triebe‘ und damit zusammenhängend Soziales bereits in sich trägt. Was kann die Postulierung einer ‚Dominanz des Visuellen‘ in bestimmten Gesellschaften also bedeuten?

Zur Zeitspezifität der ‚Sinne‘ Dem Habitus in ‚visuell dominierten Gesellschaften‘ scheint ebenfalls die Tendenz zur Postulierung einer Art ‚Adels des Sehens‘ (Hans Jonas) eigen zu sein, ein Empfinden, nach dem das Auge den vorzüglichsten Sinn des Menschen im Hinblick auf Erkenntnisleistung darstellt. Nur das Konzept des Tastsinns ist wohl immer mal wieder zeitweise mit dem Sehen als Evidenzideal in Konkurrenz getreten, abgesehen von jenen Gegenbewegungen, in denen ganzheitliche Wahrnehmungskonzepte angestrebt wurden. Der Kommunikationswissenschaftler Jens Loenhoff ist u.a. in seinem Aufsatz zur ‚Genese des Modells der fünf Sinne‘ (1999) der Frage nach der Berechtigung dieses Modells nachgegangen. Da unsere organspezifizierende, fünfgeteilte und damit zugleich isolationistische Betrachtungs-

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weise des Wahrnehmungsgeschehens nicht aus anatomisch-physiologischen Sachverhalten abgeleitet werden könne, bedarf es neben der Rekonstruktion der biologischen Evolution sensorischer Systeme der Untersuchung ihrer sozialen Genese. Ein Modell der Sinne ist dabei nicht gleich einer Theorie der Wahrnehmung, sondern ein implizites, jeder Wahrnehmungstheorie zugrundeliegendes Wissen, sozusagen ein konstitutives Element des Menschenbildes, das aus der Theorie erschlossen werden kann. In ihm ist in der Regel eine bestimmte Anzahl anhand jeweiliger Bewertungskriterien hierarchisch geordneter Sinne festgelegt. Als implizites Wissen ist das Modell immer auch Bestandteil individueller Körperschemata wie gesellschaftlich geteilter Körpertheorien, somit nicht nur Modell von Wahrnehmungen, sondern ebenso Modell für Wahrnehmungen. Sowohl die Sinne als auch die Sinnesorgane sind demnach als Konstrukte zu hinterfragen. Die Unzulänglichkeit der organspezifizierendidentifikatorischen Betrachtungsweise der Sinneswahrnehmungen weist Loenhoff an den folgenden Problemen auf: Unser Sinnesmodell ist dadurch charakterisiert, daß völlig unklar bleibt, was ein Sinnesorgan ist; daß lediglich exterozeptive Wahrnehmungen einbezogen sind, jene Wahrnehmungen, denen keine Organe korrespondieren, etwa Propriozeptionen (Bewegungswahrnehmung) und Interozeptionen (Wahrnehmung der Signale aus dem inneren Milieu) bleiben unberücksichtigt; daß das Zusammenspiel der einzelnen Sinne in sensomotorischen Kreisprozessen unberücksichtigt bleibt; und daß schließlich keine Aussagen über die Inanspruchnahme der sensomotorischen Infrastruktur in einer interaktivsymbolischen Praxis gemacht werden.189 Unsere spezifische, isolierende Wahrnehmung des Wahrnehmungsgeschehens resultiere aus ubiquitären Handlungsproblemen der menschlichen Welt: Innerhalb des zuvor ungeschiedenen Ganzen kommt es zu einer Isolation bzw. Akzentuierung, „wenn die Wahrnehmung unter ein bestimmtes, mit Abstraktionsschritten verbundenes, handlungsentlastendes Erkenntnisinteresse gestellt wird.“190 Das unreflektierte Ganze der Wahrnehmungserfahrung muß, so Loenhoff weiter, in einzelne Aspekte und Bestandteile des sensomotorischen Kreisprozesses zerlegt werden, und zwar schon allein aus Gründen der Problembewältigung: „Insofern kann man davon sprechen, daß die organspezifizierende Betrachtungsweise des Wahrnehmungsgeschehens Ergebnis einer Bearbeitung von Problemen mit dem pragmatischen Motiv ihrer Beseitigung ist.“191 Seine offensichtlichen Vorzüge habe dieses fünfgeteilte Modell in der Vereinfachung der Vergemeinschaftung von Wahrnehmungserlebnissen.192 Es gehe dabei um die 189 Vgl. Loenhoff 1999: S. 228 190 Vgl. ebd.: S. 228. Erste Anhaltspunkte für die Untersuchung der Genese der Sinne finden sich nach Loenhoff bei Dewey, Scheler und Cassirer, an deren Überlegungen er hier anknüpft. 191 Loenhoff 1999: S. 233f 192 Loenhoff 2000: S. 261

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permanente Vergewisserung einer gemeinsamen Außenwelt, was die spezifische Beschaffenheit der Gegenstandsbereiche der so konstruierten Sinne erklärt: Die Privilegierung der exterozeptiven Wahrnehmung ist begründet in der Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit durch Erfordernisse der Situationsbewältigung. Dies sei ein Grund dafür, warum der Erfahrungsbereich, der in der Alltagssprache mit ‚fühlen‘ und ‚spüren‘ benannt wird, die Wahrnehmung des eigenen Körpers, seiner Lage und seiner Beanspruchung im vorherrschenden Modell keinen Platz hat: „Propriozeptionen und Interozeptionen beanspruchen in routinisierten Handlungszusammenhängen […] kaum attentionale Ressourcen, weshalb die Anwesenheit des eigenen Körpers eher beiläufig bleiben kann, solange die Aufmerksamkeit nicht aufgrund von auffälligen Regungen aus Organismus oder Irritationen aus der Umwelt absorbiert wird.“193 Ein weiterer Grund für die Vernachlässigung der Körperwahrnehmung im Sinnesmodell und seine exterozeptive Ausrichtung liegt darin, daß die Konstruktion und Exponierung einzelner Sinne immer nur aus der Fremdbeobachtung gewonnen werden kann, da das eigene Wahrnehmen immer unsichtbar bleibt, wie Loenhoff mit Bezug auf Sartre hervorhebt: „Ein ‚Sinn‘ ist in der Selbstbeobachtung zunächst etwas Unfaßbares, weil man sein Sehen nicht sieht, sein Hören nicht hört etc. Selbst wenn man die eigenen Sinnesorgane beobachtet, beobachtet man, wie Sartre sagt, Objekte der Welt, niemals aber deren entdeckende oder konstruierende Tätigkeit […]. Aufgrund der Unmöglichkeit der Explikation der Sinne durch Bewußtseinsereignisse oder erlebte Zustände erfolgt die Bestimmung dessen, was ein Sinn ist, durch deren Objekte, zu denen unter der Klasse der wahrnehmbaren Gegenstände auch die Sinnesorgane des anderen gehören. Die Möglichkeit des gleichzeitigen Verweisens auf etwas in der Umwelt und auf die manipulierbaren Körperpartien (Organe) ist für den Zusammenfall des Organologischen mit dem Exterozeptiven verantwortlich.“194

Auf Orte innerer Wahrnehmungen dagegen kann man weder zeigen noch durch Manipulation des eigenen Körpers solche Orte lokalisieren. Da es 193 Loenhoff 1999: S. 236 194 Ebd.: S. 230f. Über physiologistische Verzerrungen in der Wahrnehmungslehre schreibt der Phänomenologe Schmitz, „[…] schon der gesunde Menschenverstand ist Physiologist, weil ihm über Wahrnehmung nichts so deutlich ist, wie die physiologische Erkenntnis, daß sich das Wahrgenommene ändert, wenn man die Augen schließt oder sich die Ohren zuhält. Von dieser vollkommen richtigen Einsicht und ihresgleichen verführt, nimmt er das Wahrnehmen von vorn herein nur als Sehen, Hören pp., also in physiologischer Perspektive, zur Kenntnis […]“ (Schmitz 1978: S. IXf). Mag dies auch zutreffen, so ist damit nicht ausgeschlossen, daß die Beschränkung der Wahrnehmung und des Wahrgenommenen auf das (vermeintlich) Manipulierbare eine zeitspezifisch bedingte Ausgestaltung erfahren kann und damit Konsequenzen für das Nicht-Manipulierbare haben kann (s.u.).

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trotz der kulturellen Codierung der Sinne und des Wahrnehmens, trotz erheblicher Differenzen in Hierarchie und sozialer Relevanz sensorischer Systeme keine Gesellschaft zu geben scheint, die nicht ein exterozeptiv fundiertes Modell etabliert habe, sei es angebracht, die Begründung des Modells in der vorreflexiven Erfahrung statt in einer spezifischen, etwa der westlichen philosophischen Form der Reflexion zu suchen.195 In der Sphäre des Alltäglichen diene dieses Modell von und für Wahrnehmung der koordinierten Selektivität im Kommunikationsprozeß durch interaktive Handhabbarkeit und wechselseitige Steuerbarkeit sensomotorischer Teilsysteme und der Aufrechterhaltung und Tradierung einer stabilen Wirklichkeitskonstruktion durch kommunikative Vergemeinschaftung von Sinneserfahrungen. Weder möglich noch nötig für dieses Funktionieren sei eine kommunikative Bezugnahme auf das Ganze der Körpererfahrung, sprachliche Ausdrücke für amodale und intermodale Wahrnehmungen seien keine hinreichenden Instrumente für die kommunikative Steuerung der Wahrnehmung des Interaktionspartners. Während die Zerlegung der Sinne auf Alltagsebene im Interesse der Problembewältigung als durchaus sinnvoll anzusehen ist, gilt es auf wissenschaftlicher Ebene lediglich eine ‚defizitäre Explikationslage‘ auszugleichen, indem die Interdependenz von Wahrnehmung und Interaktion/Kommunikation, die ‚kommunikative Funktion der Sinne‘ (so ein Buchtitel Loenhoffs) und die Sinne als Funktion der Kommunikation hervorgehoben werden. Aus dieser kommunikationswissenschaftlichen Sicht gibt es weder eine gesellschafts- und zeitspezifische Problematisierung von Sinneskonstruktionen noch von Kommunikation und Interaktion selbst. Gemäß der funktionalistischen Betrachtungsweise bleibt es hier bei der dem Gesellschaftsspezifischen immanenten Frage nach Bedingungen und Wahrscheinlichkeiten der Erhöhung und Steuerung von Kommunikation.196 Es gibt einige gute – weil die Zivilisationspraxis betreffende – Gründe, es nicht bei einer anthropologischen Problematisierung des Sinnesmodells bewenden zu lassen. Durchaus begrüßenswert ist das Unternehmen von Loenhoff, die ‚auferlegte Relevanz‘ des Körpers und dessen Wahrnehmung im Kontext jeglicher Interaktion und Kommunikation und die soziale Dimension des ‚Sinnlichen‘ gleichzeitig hervorzuheben. Die auferlegte Relevanz des Körpers impliziert schon die Relevanz des Sozialen: „Die Einheit des Körpers ist sozial, nicht physiologisch oder anatomisch garantiert, ist sie doch Ergebnis eines kollektiv vermittelten Selbstverhältnis-

195 Vgl. Loenhoff 1999: S. 231f 196 Vgl. ebd. u. ders. 2001. Daß die Fragestellung dieser Kommunikationswissenschaft, wie überhaupt die Notwendigkeit einer Kommunikationswissenschaft, die dann etwa den Bedingungen der ‚Steigerung der Erkennbarkeit von Kommunikationsofferten‘ und der ‚Erreichung von Kommunikationszielen und deren Evaluation durch die Beteiligten‘ (vgl. Loenhoff 2001: S. 16) nachgeht, höchst zeitspezifisch ist, bleibt ebenfalls unberücksichtigt.

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ses.“197 Doch muß in einem weiteren Schritt eingeräumt werden, daß die Vermittlung der Einheit der Körpererfahrung sowie des Selbstverhältnisses zwar sozial, aber keineswegs garantiert ist. Weiter und damit zusammenhängend ist auffällig, daß trotz des Insistierens auf den Zusammenhang von Wahrnehmung und Interaktion/Kommunikation, die personale Realitätszuschreibung durch Wahrnehmung/-gebung nicht Thema wird. Neben der Sichtbarkeit, bzw. allgemeiner der Möglichkeit von äußeren Verweismöglichkeiten, scheint es gerade das verbal Kommunizierbare und Manipulierbare zu sein, was bei der Genese des Sinnesmodells als Problembewältigungsprozeß ausschlaggebend gewesen ist. Daher stellt sich die Frage, welcher Art von Problemstellungen das spezifische Sinnesmodell samt seiner inhärenten Hierarchien Herr zu werden sucht und somit geschuldet ist. Allzu flüssig und zielgerichtet erscheint bei Loenhoff der Prozeß, in dem Störungen verarbeitet werden, indem sie als weitere Eigenschaft in das Konzept aufgenommen werden.198 Und schließlich bleibt die – wiederum mit den beiden erstgenannten Punkten zusammenhängende – Frage nach dem Schicksal dessen, was jenseits des verbal nicht Kommunizierbaren/Kommunizierten und Manipulierbaren/Manipulierten ja dennoch weiter existent ist, etwa nach Wandlungen der Körper-/Selbstkonstituierung und -erfahrung oder der Fähigkeit zu globaler Wahrnehmung im Zuge der im Sinne des reduktionistischen und isolationistischen Sinnesmodells geprägten und prägenden Kommunikations- und Interaktionsprozesse. Dies bedeutet dann eben jene Aspekte, die Loenhoff auf anthropologischer Ebene am Sinnesmodell problematisiert, in ihrer zivilisatorischen Modifizierung weiterzuverfolgen: Wandlungen der Körper- und Selbsterfahrung, das Verhältnis der einzelnen Sinne zueinander und zum Gegenstand, Wandlungen im Verhältnis von einzelnen ‚Sinnen‘ und globaler Wahrnehmung und die symbolisch-interaktive Dimension, allerdings nicht aus einer funktionalistischen Sicht auf Interaktion, sondern nach wie vor im Hinblick auf Interaktion als Bedingung der Möglichkeit der Subjektkonstituierung, der Beziehungsfähigkeit und nicht zuletzt im Hinblick auf das Schicksal des Beziehungswunsches. Wenn wir davon ausgehen, daß das Sinnesmodell im Groben den äußeren wahrnehmbaren Gegenständen der menschlichen Welt entspricht, also was ein Sinn ist, durch die Bewußtseinsobjekte bestimmt ist, das Hören durch das Hörbare, das Sehen durch das Sichtbare usw., so gilt andererseits auch, daß das, was ein Bewußtseinsobjekt ist, durch die Beschaffenheit des Sinnlichen bestimmt ist.199 Das Sichtbare, verbal Kommuni-

197 Loenhoff 2001: S. 283 198 Vgl. Loenhoff 1999: S. 233 199 Wie Loenhoff schreibt, ist das Wissen, was es überhaupt wahrzunehmen gibt, das Ergebnis eines vorgängigen symbolischen Umgangs und einer kommunikativ-gesellschaftlichen Vergewisserung dessen, was als Weltsachverhalt behandelt werden kann (vgl. Loenhoff 2000: S. 3).

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zierbare und Manipulierbare stellen dann Ausschnitte der Welt dar, die komplementär zum Sinnesmodell ihre eigene Genese haben. Entsprechend diesem Zusammenhang versteht Henning Klauß unter ‚Erkenntnis‘ ein sinnlich-rationales prozessuales Subjekt-Objekt-Verhältnis, wobei die Sinnesmodalitäten Variationen des Grundthemas Ich-und-das-Andere darstellen.200 Das Spektrum der Variationen reiche vom Sichtbaren zum Schmerz, wobei sich die Sinne u.a. in bezug auf Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Richtung, Grenze, Distanz, Bewegung, Kontakt, Gegenständlichkeit, Zählbarkeit, Teilbarkeit, Meßbarkeit, Möglichkeit der Abstraktion, der Erinnerung und der Mitteilbarkeit unterscheiden. So herrsche im Sichtbaren das Beharrende vor, im Hörbaren das Aktuelle und in der Tastsphäre das Wechselseitige. Unter diesen Gesichtspunkten lassen sich dann die bekannten fünf Sinnesmodalitäten in ihrer Verwertbarkeit für die Wissenschaft, die ihre eigenen Kriterien hat, untersuchen, was denn Klauß auch in seinem Buch ‚Zur Konstruktion der Sinnlichkeit in der Wissenschaft‘ macht, um zu prüfen, wie berechtigt eigentlich die Favorisierung des Gesichtssinns als Erkenntnisinstrument ist. Bei dieser Prüfung kommt er zu dem Schluß, daß einerseits das Subjekt-Objekt-Verhältnis der Wissenschaft höchst selektiv, distanziert und fast ausschließlich durch den Gesichtssinn konstituiert ist,201 andererseits scheint diese Wissenschaft ge200 Vgl. Klauß 1990: S. 11 u. S. 58. „Am einen Ende der Skala findet sich das gemeinsam Mitteilbare und die Mitteilung im geformten Wortlaut und in der Schrift, am anderen Ende die Einsamkeit des Schmerzes, der sich zuletzt nur noch im ungeformten Klagelaut und Schrei äußern kann. Jeder Sinn dient oder versagt sich der geistigen Existenz des Menschen auf seine Weise“ (Erwin Straus, zit.n. Klauß, ebd.: S. 58). 201 Vgl. ebd.: S. 20f. „Auch dort, wo Daten des Erkenntnisprozesses zunächst einmal nicht menschlichen Sinnen entsprechen (Meßoperationen) oder durch andere Sinnesmodalitäten vermittelt sind (z.B. Gehörsinn, wenn sozialwissenschaftliche Daten per Interview erhoben werden), werden sie im weiteren Gang der Verarbeitung i.d.R. möglichst rasch visualisiert […]“ (ebd.: S. 21). Die Selektivität, Distanziertheit und Tendenzen zur Visualisierung verdeutlicht Klauß anhand von Beispielen aus der Chemie, der Biologe, der Medizin und den Sozialwissenschaften. Vergleicht man etwa das von ihm angeführte Beispiel der ‚Bildschirmdiagnose‘, das heute eine dominante Diagnoseform in der Medizin darstellt, bei der der Patient nur noch ein unter selektiven Fragestellungen belauschtes und durchblicktes Wesen ist, das ganz hinter Mauern und in Geräten zu verschwinden droht, mit den Ausführungen Corbins über die Zeiten (Ende des 18./19. Jh.), wo noch die Nase des Arztes den Sieg über das Meßgerät der Gelehrten davon trug, hat man einen ungefähren Eindruck davon, welche Tendenzen mit der Dominanz des Visuellen praktisch bezeichnet werden können: „Für seine Besuche am Krankenbett muß er auch gelernt haben, ‚mit Überlegung zu riechen‘. Zunächst einmal stellt er ein schwieriges Geruchskalkül an, mit dem Ziel, herauszufinden, wie der Patient angesichts seines Alters, seines Temperaments, seiner Haarfarbe, seines Berufs und – wenn möglich – seines individuellen Geruchs, der vernommen wurde, als er sich bei guter Gesundheit befand, eigentlich riechen müßte. Anschließend vergleicht er das, was er tatsächlich riecht, mit den charakteristischen Geruchsabsonderun-

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rade wie für den Gesichtssinn gemacht: „Der Gesichtssinn entspricht den Kriterien in einer Weise, die den Verdacht aufkommen lassen könnte, daß die Kriterien erst am Gesichtssinn entwickelt sind.“202 Daß der Gesichtssinn von der Wissenschaft ‚geadelt‘ wurde, hängt nicht nur mit seiner ‚Evidenzhaftigkeit‘ bei der Wahrheitssuche zusammen, sondern ebenso mit seiner spezifischen Beschaffenheit, die einer Ökonomisierung dieser Wahrheitssuche entgegenkommt. Schauen wir uns einmal mit Klauß Jonas’ Begründung des ‚Adels des Sehens‘ an, eine Studie, in der sich nach Klauß ein ‚kritikwürdiges Stück ideologischen Zeitgeistes‘ ausdrückt. Was kann dieser Sinn, was die anderen nicht können? Die Einzigartigkeit des Sehens leite Jonas aus der Bild-Leistung ab: „‚Bild‘ hat für ihn drei Merkmale: ‚1. Simultaneität der Darstellung eines Mannigfachen, 2. Neutralisierung der Kausalität der Sinnes-Affektion, 3. Distanz im räumlichen und geistigen Sinne‘ […]“.203 Nun sind die einzelnen, aufgezählten Eigenschaften keineswegs dem Sehen allein vorbehalten: Etwa das Hören ermögliche ebenfalls simultane Wahrnehmung, bei allen Sinnen kann die Kausalverbindung neutralisiert sein und schließlich kann man auf eine gewisse Distanz noch hören und riechen. Was ‚das Sehen‘ besonders auszeichnet, ist, daß es diese Eigenschaften in besonderer Weise in sich vereinigen kann. Und wenn es dies tut, ist es nicht mehr einfach ein Sehen, sondern ein bestimmtes Sehen: Eine gewisse Distanz im räumlichen und/oder geistigen Sinne (3.) ist Bedingung der Möglichkeit der Simultaneität (1.) sowie der Neutralisierung (2.). Daher gilt es, hinter dem ‚Sehen‘ als Evidenzideal nach einem anderen Ideal Ausschau zu halten. Ein Stück Zeitgeist drücke sich, so Klauß, in Jonas’ Studie in „seinem Behagen am Säuberungsprozeß im Sehakt, an dem, was er ‚Neutralisierung des dynamischen Gehalts im visuellen Objekt, die Ausscheidung jeder Spur kausaler Aktivität‘ nennt“204 aus. Die Neutralisierung ist notwendig, weil alles, was Zeit und Affekt in sich trägt, was der Verknüpfung, Synthese und des Gedächtnisses bedarf, falsch, fehlerhaft und unvollendet ist. Obwohl Jonas selbst darstellt, wie Wissenschaft Objektivität zu konstruieren versucht, indem sie Subjektivität ausgrenzt, entgehe ihm die geschichtliche Konstitution des Modells, das er dann als zeitlos gültig begreift. Mit diesem Sehen wird eben auch etwas ausgeblendet, nämlich die eigenen Affekte und die Dynamik des Objekts, und vielleicht eben deshalb ist Jonas, wie Klauß schreibt, „diesem eigenen Konzept so aufgesessen,

gen der einzelnen Krankheitsarten. So erlaubt ihm der Geruch des Kranken Diagnosen und Prognosen zu stellen. Es liegt auf der Hand, daß die ‚Endungen‘ bei der Geruchsanalyse eine herausragende Rolle spiele; das Hauptgewicht wird auf den Atem, den Stuhl und vor allem den erstaunlich aufschlußreichen Eiter gelegt“ (Corbin 1992: S. 59, Herv.i.O.). 202 Klauß 1990: S. 60 203 Ebd.: S. 44 204 Ebd.: S. 45

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daß er nicht mehr dessen Genesis sieht.“205 Wie Jonas selbst formuliert: „Alles, was ich beim Sehen zu tun habe, ist die Augen zu öffnen, und die Welt ist da, wie sie es fortwährend war.“206 Die Distanz ist die aus der Norm der Objektivität abgeleitete Anforderung an die Sinnesmodalität: „Durch die Objektivität wird der Wissenschaftler zu seinem Objekt in ein bestimmtes Verhältnis gesetzt, das (ironisch) auch als Nichtverhältnis bezeichnet werden kann, denn es zehrt von der Distanz. Diese Distanz wird in zwei Richtungen entfaltet. Zum einen vom Subjekt zum Objekt, d.h. daß das Objekt im Erkenntnisprozeß in sich beschlossen, unberührt bleiben soll und durch den Erkenntnisprozeß selbst nicht verändert werden soll. Zum anderen soll sich die Distanz vom Objekt zum Subjekt entfalten, d.h. daß das Subjekt nicht ungebührlich affiziert werden soll […].“207

Das Verhältnis in traditioneller Wissenschaft sei so in der Haupttendenz nicht dialektisch, in der Menschenwissenschaft nicht dialogisch, kommunikativ, sondern rigide getrennt, d.h. herrschaftlich organisiert. Das Ideal, das dem so charakterisierten Sehen zugrunde liegt, ist, wie Klauß treffend sagt, das der Wechselwirkungslosigkeit. So wie die Entemotionalisierung der Wissenschaft eher Programm als Fakt ist, sei die Kalkulierbarkeit des Objekts vergegenständlichter Wunsch der Wissenschaftler. Der Schleier besteht hier selbst aus wissenschaftlichen ‚Fakten‘, die das nicht Manipulierbare, nicht Kalkulierbare verdecken: „Es resultiert eine widersprüchliche Bewegung, in der der systematische, wissenschaftliche Blick immer zwingender und exakter erfaßt, was ihm gewissermaßen über seinen vergegenständlichten Weg läuft – und in der zugleich die Sichtbarkeit dessen, was sich diesem Raster nicht erschließt, durch einen immer dichteren Schleier verstellt wird […].“208

Welchen Sinn macht hier die Rede von der Dominanz des Visuellen oder seiner zunehmenden Relevanz, wenn es um einen Prozeß der Ausgestaltung des Sichtbaren, Wahrnehmbaren geht? Kann man sagen, daß wir immer mehr sehen und immer weniger riechen, schmecken, hören und tasten? Und wenn dem so wäre, wäre damit was gesagt? Ähnlich problematisch ist die Rede von der Entsinnlichung, die seltsamerweise oft in Zusammenhang mit der Dominanz des visuellen Sinns erwähnt wird. Das in der Wissenschaft idealisierte Modell verweist auf, wie Klauß es nennt, Außerwissenschaftliches, auf die Subjekte und ihre Sinnlichkeit (und umgekehrt), so daß man das Modell als Repräsentanten bestimmter Habitusund Beziehungsformen auffassen muß. Und so wie es in der Wissenschaft 205 206 207 208

Ebd.: S. 47 Jonas, zit.n. Klauß 1990: S. 45 Klauß 1990: S. 30 Ebd.: S. 186

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reflexive Gegenbewegungen gegeben hat und gibt, findet man ‚Gegenbewegungen‘ ebenfalls auf eher präreflexiver Ebene im Bereich des Alltäglichen. Diese ‚Gegenbewegungen‘ sind Teil dessen, was man mit den Begriffen Beziehungs- und Psychodynamik zu erfassen versucht. Versteht man etwa unter Entsinnlichung mit Klauß den ‚Verlust von Unmittelbarkeit‘ und den ‚Wahrnehmungsverlust von Besonderheiten und von Lebendigkeit‘,209 so wäre die These von der zunehmenden Entsinnlichung gleich der These einer zunehmenden Verringerung unserer Entfernung vom Tod allein aufgrund des Verlusts von Reiz und Bedeutung. Doch weder verschwinden die Subjekte oder ihre Gesellschaft, noch löst sich ihr Selbst in Nichts oder in seine Einzelteile auf. Die Gegenbewegungen sind psychische Überlebensversuche. Die ‚Versinnlichung des Unsinnlichen‘, der Versuch etwa, den ‚Verlust der Qualität durch ein mehr an Quantität wettzumachen‘210 stellt als Psychodynamik eine Form der Gegenbewegung zur ‚Entsinnlichung‘ dar, ist als Überlebensstrategie ernstzunehmen und als Dynamik zu präzisieren. Betrachtet man die Entsinnlichung und als Reaktion die Versinnlichung zusammen, haben wir es mit einer bestimmten Ausgestaltung des Sinnlichen zu tun und nicht mit einem ‚zunehmenden‘ Prozeß. Die Rede von ‚zunehmenden‘ Prozessen, wie z.B. zunehmende Entsinnlichung, ist, so sehr sie uns auch von den Möglichkeiten und Zwängen der Sprache auferlegt sein mag und vielleicht gerade deshalb, eine rückwirkend homogenisierende, die Qualität des Prozesses, die gerade in seinen Gegenbewegungen und Widerständen wahrnehmbar wird, ausbügelnde Rede. Thomas Kleinspehn hat in zwei Arbeiten (‚Warum sind wir so unersättlich?‘ und ‚Der flüchtige Blick‘) versucht, diese schwer faßbare Dynamik innerhalb des Zivilisationsprozesses qualitativ anhand des historischen Bedeutungswandels des Essens und des Sehens zu konzeptualisieren. Ausgangspunkt seiner komplexen und mit historischem Material bereicherten Argumentation ist die These, daß mit der zunehmenden Beherrschung der affektiven Impulse des Körpers dessen Zergliederung in Funktionsträger einhergeht, er erscheint dann „getrennt von Geist und Phantasma – zergliedert in einzelne Teilbereiche, die alle ihre bestimmten zugeschriebenen Funktionen haben. Damit werden auch die einzelnen Sinne meist auf einen Teilbereich reduziert: der Mund auf das Essen, die Nase auf die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Gerüchen, das Auge auf die Kontrolle und Beherrschung der Welt usw.“211 Ein Begleitprozeß der Entwicklung des Auges zum kontrollierenden Organ und dessen Exponierung sei andererseits die ‚Entgrenzung des Körpers und die Hervorhebung des oralsadistischen Partialtriebs‘: „So gesehen wäre der fressende, verschlingende Körper Teil eines Gesamtprozesses der Partialisie209 Vgl. ebd.: S. 233, Anm. 72 210 Vgl. ebd.: S. 110 211 Kleinspehn 1987: S. 24, Herv.i.O.

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rung des Körpers, bei dessen Untersuchung es auf die je unterschiedliche Fetischisierung einzelner Teilbereiche in den verschiedenen Entwicklungsphasen ankäme.“212 Den Zusammenhang zwischen der Dominanz des Visuellen und dem Bedeutungszuwachs der ‚Oralität‘ stellt er wie folgt dar: „Geht man mit Theorien der Moderne davon aus, daß diese durch den Sinnverlust der materiellen Welt und die Dominanz des Imaginären und des Visuellen gekennzeichnet ist, wodurch sowohl Beziehungen zur äußeren Welt als auch zu anderen Menschen wesentlich imaginär erscheinen, dann könnte man den Bedeutungszuwachs von Oralität als zentralen Aspekt dieses Prozesses begreifen: Oralität wäre auch der materiale Rest, der nicht vollständig im Prozeß der Vergesellschaftung aufgeht und in dem Momente der Lebendigkeit, von lebendigen Bezug zur Welt zum Ausdruck kommen und erfahrbar werden.“213

Mit dem ‚materialen Rest‘ will er in Ergänzung zu Elias das ‚Schicksal des Wunsches‘ im Zuge des Zivilisationsprozesses mit ins Blickfeld rücken. Die Oralität wäre das Moment, „sich der Realität – der eigenen und der fremden – zu vergewissern, die materiale Welt gegen die unbewußt erlebte Flüchtigkeit der Moderne festzuhalten oder – im Rückgriff auf die orale Phase – zu verschlingen: symbolisch im Essen.“214 Die Oralität bezieht sich demnach aber nicht nur auf den Bereich des Essens, sondern charakterisiert alles, was mit Einverleibung, Festhalten zwecks Selbst- und Fremdvergewisserung zu tun hat, so daß auch das Visuelle einen oralen Charakter bekommen kann. Zum Schluß seiner Studie über den Bedeutungswandel des Essens schreibt er dann auch folgerichtig: „Nun am Ende angekommen, könnte man eher konstatieren, daß sich Momente eines Bedeutungswandels des Hungers herauskristallisiert haben: von der Angst vor dem todbringenden Mangel zum verinnerlichten und verformten, aber keineswegs weniger existentiellen Hunger nach Lebendigkeit“,215 vom physischen zum psychischen Hunger also. Angesichts der Beliebigkeit der Mittel zur ‚Erfahrung von Momenten der Lebendigkeit‘, erweist sich der Rückgriff auf die psychosexuellen Phasen in Theorie und Praxis als fragwürdig. Was bedeutet Lebendigkeit, worin besteht das Begehren des Subjekts? Bei Kleinspehn stehen etwas unentschieden ‚Oralität als Regression oder Übergangsstadium‘ und ‚Oralität als existentieller Bezug zur Welt‘ nebeneinander.216 Diese Unentschiedenheit ist für seine ganze theoretische Ausrichtung kennzeichnend. Man könnte von einer Art Zwei-FaktorenTheorie sprechen. Leider arbeitet Kleinspehn mit den Begriffen, die Ergebnis der von ihm beschriebenen Zergliederungsprozesse sind, teilweise 212 213 214 215 216

Ebd.: S. 25 Ebd.: S. 18, Herv.i.O. Ebd.: S. 423 Kleinspehn 1987: S. 416, Herv.i.O. Vgl. ebd.: S. 401

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so, als wären diese selbstverständliche Arbeitsinstrumente des Soziologen. Solange die Begriffe Visualität bzw. das Modell der Sinne und Oralität bzw. das Modell der psychosexuellen Phasen nicht im Rahmen eines integrativen Konzept des Selbst und der Beziehung gedacht werden, als deren Desintegrationsprodukt sie im Kohutschen Sinne dann zu verstehen sind, wird der Prozeß bei der Rekonstruktion reproduziert: Wenn die konstatierte Unersättlichkeit nach Reizen und immer neuen Reizen mit dem ‚Hunger nach Lebendigkeit‘ erklärt wird, ist die Argumentation immer noch unzulänglich, weil prozeßimmanent, insofern die Unersättlichkeit tendenziell mit der Imaginarität der Bilder und die Lebendigkeit mit der Unmittelbarkeit bzw. ‚Materialität‘ in Verbindung gebracht wird. Ähnliche, genauso zeitspezifische Assoziationen gibt es etwa zu ‚Lebendigkeit‘ und Tastsinn. Während bei Kleinspehn die Oralität den letzten lebendigen Bezug zur Welt darstellt, die Visualität die Möglichkeit, „sinnliche Präsenz zu erreichen, ohne dabei der gefürchteten körperlichen Nähe zu bedürfen“,217 weist Loenhoff wieder einmal auf die Evidenzleistung des – trotz, wie er schreibt, seiner konstitutiven Rolle für soziale Beziehungen in der deutschsprachigen Sozialwissenschaft stark vernachlässigten und dem Feld der Therapeuten überantworteten – Tastsinns hin: „Zunächst verschafft wohl kein anderer ‚Sinn‘ so evident die Gewißheit, selbst beim Wahrnehmen eines anderen wahrgenommen zu werden, wie die taktile Wahrnehmung.“218 Der hohe Realitätswert, den man der taktilen Wahrnehmung zugesprochen habe, liege an ihrer ‚Dinghaftigkeit‘ und ihres ‚materiellen Widerstands‘.219 Diese Tendenz, dem Materiellen, Greifbaren, Berührbaren, ‚Einverleibbaren‘ nun hohen Realitätswert zuzuschreiben, einzelne Sinne oder Körperbereiche zur Selbst- und Fremdvergewisserung oder allgemeiner zu einer ‚Erfahrung von Lebendigkeit‘ zu funktionalisieren oder in der Theorie zu bevorzugen, ist Teil der Dynamik, ist Gegenzug zur Dominanz eines spezifischen Visuellen, und sollte somit nicht unreflektierte Annahme einer Theorie des Sinnlichen sein, denn schließlich

217 Ebd.: S. 421 218 Loenhoff 2000: S. 267 „Von der Wiederentdeckung bzw. Aufwertung des Tastsinns im 20. Jahrhundert zeugt nicht zuletzt das in den letzten Jahrzehnten stark gestiegene Interesse an Körpertherapien, in denen die therapeutische Berührung des eigenen oder fremden Körpers im Mittelpunkt steht. Es gibt inzwischen auf dem Gesundheitsmarkt ein großes, kaum noch überschaubares Angebot, das von funktionalen Körpermethoden (Sensory-Awareness-Training, Alexandertechnik, verschiedene Massageverfahren wie z.B. Rolfing) bis hin zu konfliktorientierten Körperverfahren (z.B. Feeling-Therapy) reicht“ (Jütte 2000: S. 257). Bei der letztgenannten Methode handelt es sich etwa um Tast- und Berührungsübungen, durch die eine ‚interaktionale Gefühlswirklichkeit‘ wiederhergestellt werden soll (vgl. ebd.: S. 259f). 219 Loenhoff 2000: S. 265

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können auch Blicke berühren (in der einen oder anderen Weise) – und sie tun dies trotz der ganzen ‚Entsinnlichungsprozesse‘ nach wie vor.220 Zivilisationstheoretisch ist die ‚Geschichte der Wahrnehmung(-stheorie)‘ deshalb interessant, weil sich in ihr der Zivilisationsprozeß verdichtet ablesen läßt, u.a. etwa erst Genese und Wandel des psychoanalytischen Menschenbildes verständlicher werden. Dies bedeutet nichts anderes, als daß es keine eigenständige Geschichte des Wahrnehmens und Sehens gibt, wie der Kunsthistoriker Jonathan Crary schreibt, statt dessen immer nur Betrachter, deren Möglichkeiten der Wahrnehmung aus einem jeweiligen gesellschaftlichen Kräftegefüge heraus erwachsen. Crarys in der Soziologie unübertroffenen Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und der Wahrnehmungstheorie zeichnen sich durch zweierlei aus: Die Betrachtung der Wandlungen in Kunst und in Techniken des Betrachtens geschieht nicht selbstgenügsam, sondern eingebettet in jeweiligen zeitgenössischen philosophischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Diskursen und deren gesellschaftlichen Bedingungen. Damit werden Wandlungen optischer Erfahrungen untrennbar von Umformungen der Subjektivität und den zugrundeliegenden gesellschaftlichen Prozessen betrachtet. Der in seinem Buch ‚Techniken des Betrachters‘ ausführlich dargestellte im 19. Jahrhundert vollzogene Bruch mit den klassischen Sehmodellen und der Übergang zu einem Modell subjektiven Sehens ist für ihn „untrennbar mit einer umfassenden und gewaltigen Umstrukturierung von Wissen und Erkenntnis und von sozialen Praktiken verbunden, die die produktiven und kognitiven Vermögen des Menschen wie seine Bedürfnisstruktur auf unendlich vielfältige Weise neu strukturierten.“221 Damit zusammenhängend wird andererseits Sehen nicht als eine ‚Schicht‘ im Körper verstanden und dargestellt, sondern es wird ein Wahrnehmungsbegriff zugrunde gelegt, der es ermöglicht, „auf ein Subjekt hinzuweisen, das nicht bloß einsinnig durch die Modalität des Sehens, sondern auch durch Gehör und Tastsinn und vor allem auch die unentwirrbar gemischten Modalitäten definierbar ist, die den ‚Visual Studies‘ zwangsläufig ganz oder weitgehend aus dem Blick geraten.“222 Gerade aufgrund dieser Herangehensweise stellen seine Arbeiten einen wertvollen Beitrag zum Verständnis dieser Psychogenese dar.

220 Vgl. a. Klauß 1990: S. 103 221 Crary 1996: S. 13f 222 Crary 2002: S. 15, Herv.i.O.

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Wandlungen des Betrachters „Wie man periodisiert und wo man Brüche erkennt oder leugnet, das sind politische Entscheidungen, die von großem Einfluß auf die Gestaltung unserer Gegenwart sind. Ob man bestimmte Geschehnisse gegenüber anderen ausschließt oder in den Vordergrund rückt, hat Einfluß auf die Verständlichkeit der gegenwärtigen Machtstrukturen, in die wir uns selbst eingebunden finden. Solche Entscheidungen bestimmen darüber, ob die Gestalt der Gegenwart ‚natürlich‘ erscheint oder ob ihre historisch entstandenen und mit vielen Ablagerungen versehenen Strukturen ersichtlich werden.“223

Die Betonung der Kontinuität westlicher Sehgewohnheiten, die Annahme einer ungebrochenen Tradition dominanter theoretischer und empirischer Umgangsweisen mit dem Visuellen und entsprechende Modelle stellen aus Crarys Sicht monolithische Konstruktionen dar, die den Blick auf bedeutende Brüche innerhalb dieser Entwicklung verstellen.224 Dabei könne das Sehen zu verschiedenen Zeiten der Geschichte als privilegiert angesehen werden, ohne daß diese Weisen sich in irgendeiner Hinsicht kontinuierlich zueinander verhielten.225 Die Brüche verweisen auf Wandlungen des Menschenbildes und des zugrundeliegenden Sinnesmodells, als deren Ausdruck und Wegbereiter. Bei Elias, der eher die Kontinuität betont, vermischen sich zwei Modelle des Sehens und Erkennens im Modell des homo clausus, so daß auch dieser wie eine monolithische Konstruktion erscheint, der alle Kosten und Probleme des Zivilisationsprozesses in seinem Innern 223 Crary 1996: S. 19 224 Vgl. ebd.: S. 37f. Kontinuitätsmodelle haben unterschiedlichen Thesen über das Sehen und den Sehtechniken in der modernen Gesellschaft zugrunde gelegen, so etwa der Konstatierung eines Prozesses fortschreitender Annäherung an die Repräsentation der Wirklichkeit oder hingegen in Zusammenhang mit Subjektkonstituierung als Einschreibung von Macht in Körpern. Crary bezieht sich damit u.a. auf jene Vorstellungen, die die Entwicklung von Film und Fotografie im 19. Jh. als die Vollendung einer langwierigen technischen oder ideologischen Entwicklung in der westlichen Kultur betrachten, in deren Verlauf sich die Camera obscura zur Fotokamera entwickelt. „Ein solches Modell setzt voraus, daß auf jeder einzelnen Stufe dieser Entwicklung im wesentlichen die gleichen Voraussetzungen für das Verhältnis des Betrachters zur Welt gelten. Mühelos ließen sich gleich mehrere Dutzend Bücher über die Geschichte des Films und der Fotografie anführen, die im ersten Kapitel den obligaten Kupferstich einer Camera obscura aus dem 17. Jahrhundert als eine Art Urform oder als ersten Schritt auf einer langen Stufenleiter der Entwicklung abbilden“ (ebd.: S. 38). 225 Vgl. ebd.: S. 65

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aufbewahrt. Betrachtet man mit Crary die Wandlungen der Vorstellungen von Sehen und Erkennen, bietet sich eine differenziertere Sicht auf qualitative Wandlungen des homo clausus, mit dem Ergebnis, daß das ‚Zivilisationsproblem‘ nicht mehr als eine bloße Überindividualisierung erscheint. Den ‚klassischen‘ homo clausus finden wir bei Crary im Betrachter des 17./18. Jahrhunderts, der noch einem einheitlichen, geordneten Raum gegenübersteht, „der durch seinen physiologischen und sensorischen Apparat nicht verändert wird und auf dem der Inhalt der Welt untersucht, verglichen und in vielfältigen Beziehungen zueinander erkannt werden kann.“226 Autonom und isoliert ist hier nicht das Sehen, sondern zunächst das erkennende Subjekt, das sich zwecks Erkenntnis aus der Welt zurückzieht. Die Trennung zwischen dem Subjekt im Innern und der äußeren Welt ist eine vorgegebene Bedingung des Wissens über die Welt. Erkenntnisfördernd ist weiter, den Akt des Sehens vom Körper des Betrachters zu lösen, die Entkörperlichung des Sehens. Die Sinne stehen im Dienste der Vernunft, sind eher Attribute eines denkenden Geistes als Körperorgane. Die Fenstermetaphorik ist hier zu verorten.227 Allerdings, und das ist ein entscheidender Unterschied zum nächsten Modell, bilden die Sinne hier noch tendenziell eine Einheit, auch wenn die unmittelbare subjektive Evidenz des Körpers zurückgedrängt wird. Das Sehen wird in Analogie zum Tastsinn verstanden, es gibt keine ‚reine Sichtbarkeit‘, die Gewißheit der Erkenntnis hängt nicht ausschließlich vom Auge ab, auch wenn dieses ein privilegierter Vermittler ist.228 226 Ebd.: S. 64, Herv.v.mir 227 Vgl. ebd.: S. 49-68. Paradigmatisch veranschaulicht Crary diesen Betrachter an der Popularität der Camera obscura als tonangebendes Modell zu jener Zeit: „Nach Descartes kennen wir die Welt allein durch geistige Wahrnehmungen, und die sichere Positionierung des Subjekts in einem leeren Interieur ist eine Voraussetzung dafür, die Außenwelt zu erkennen. Der Raum der Camera oscura, ihre Abgeschlossenheit, die in ihr herrschende Dunkelheit, die Trennung von der Außenwelt, all diese Aspekte sind eine Inkarnation des cartesianischen: ‚Ich will jetzt meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen und all meine Sinne ablenken.‘ Das geordnete und berechenbare Eindringen von Lichtstrahlen durch eine einzige Öffnung in der Camera obscura entspricht somit dem Durchdrungensein des Geistes vom Licht der Vernunft und nicht der potentiell gefährlichen Sinnestäuschung und -verwirrung durch das Sonnenlicht“(ebd.: S. 53). Die Camera obscura dient ihm hier als Indikator für das Entstehen eines neuen, eigentümlichen Modells der Subjektivität und nicht als Vorläufer der Fotografie: „Im 17. und 18. Jahrhundert wurden das menschliche Sehen und das Verhältnis des Betrachters bzw. die Stellung des denkenden Subjekts zur Außenwelt an keinem Modell häufiger veranschaulicht als an der Camera obscura. Dieses zutiefst problematische Objekt war mehr als nur ein optisches Gerät. Über zwei Jahrhunderte hinweg diente die Camera als philosophische Metapher, als Modell für die optische Physik und zugleich als technischer Apparat, der in einem weiten Feld kultureller Aktivitäten Verwendung fand“ (ebd.: S. 41, Herv.i.O.). 228 Vgl. ebd.: S. 67f

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Der Bruch, den die vorherrschenden Diskurse und Praktiken des Sehens mit dem klassischen Regime der Visualität vollzogen, fand mit der Emergenz von Modellen des ‚subjektiven Sehens‘ zwischen 1810 und 1840 statt. Die Idee des subjektiven Sehens bezieht sich auf die Vorstellung, „daß unsere perzeptuelle und sensorische Erfahrung weniger von der Natur eines externen Reizes als von der Zusammensetzung und dem Funktionieren unseres sensorischen Apparates abhängig ist […]“.229 War im klassischen Modell der Sehapparat ein neutrales Mittel, das nur zur Übertragung diente, galten nun sowohl die Sinnesorgane als auch deren Aktivität als untrennbar mit ihren wahrgenommenen Objekten verbunden: „Der betrachtende Körper und die betrachteten Gegenstände beginnen ein einziges Feld zu bilden, auf dem Innen und Außen nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.“230 Nun werden der Betrachter und das Betrachtete gleichermaßen zum Gegenstand empirischer Forschung, und diese Rückwendung auf das erkennende Subjekt ist ein spezifischer Selbstbezug, wie Crary aufzeigt, der an den Entwicklungen der Sinnesphysiologie der damaligen Zeit ablesbar ist. Die Physiologie wurde „zu einem Schauplatz für neue Formen der erkenntnistheoretischen Reflexion […], die vom Wissen über das Auge und die Sehprozesse bestimmt war.“231 ‚Das Sehen‘ wandelt sich von privilegierter Form der Erkenntnis zum Objekt der Wissenschaft. Mit der Frage, wie die physischen und anatomischen Funktionen des menschlichen Körpers die Form unserer Erkenntnis bedingen, nimmt die ‚Parzellierung und Aufteilung des Körpers‘ in getrennte, spezifische Systeme ihren Anfang: „Um 1840 hatte sich dann (1) ein allmählicher Übergang von der holistischen Untersuchung der subjektiven Erfahrung und des geistigen Lebens auf eine empirische, quantitative Ebene vollzogen und (2) war das physische Subjekt in immer spezifischere organische und mechanische Systeme aufgeteilt und fragmentiert worden.“232

Eine der wichtigsten Theorien dieser Zeit war die ‚Lehre von den spezifischen Sinnesenergien‘, die auf der Entdeckung beruhte, daß die Nerven verschiedener Sinnesorgane physiologisch verschieden sind, und somit sozusagen transmodale Wahrnehmungen nicht möglich sind. Die Lehre ging davon aus, „daß eine einzige Ursache (beispielsweise ein elektrischer Strom), je nachdem auf welchen Nerv sie trifft, grundsätzlich verschiedene Empfindungen auslöst. Wenn Elektrizität auf den Sehnerv trifft, produziert sie die Wahrnehmung von Licht. Trifft sie auf die Haut, so löst sie die Empfindung aus, man werde berührt.“233 Umgekehrt aber können ver229 230 231 232 233

Crary 2002: S. 22. Crary 1996: S. 81 Ebd.: S. 87 Ebd.: S. 88 Ebd.: S. 96

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schiedene Ursachen, die auf den gleichen Nerv treffen, die gleiche Empfindung hervorrufen. Neben der Trennung der Sinne kommt hier also die Beliebigkeit der Reize, ihr Bedeutungsverlust, wie sie sich im psychoanalytischen Energie-Modell lediglich in anderer Form fortschreibt, zum Vorschein: „Die Theorie der spezifischen Sinnesenergien schildert bereits die groben Züge einer visuellen Moderne, in der die ‚referentielle Illusion‘ unerbittlich freigelegt wird. Der Verlust der Referentialität ist die erste Grundlage, auf der neue instrumentelle Techniken für den Betrachter eine neue ‚wirkliche‘ Welt bilden werden. In den frühen dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts geht es um einen Betrachter, dessen empirische Natur keine festen und unbeweglichen Identitäten zuläßt und für den Empfindungen austauschbar sind. Letztlich wird das Sehen neu definiert als die Fähigkeit, von Sinneswahrnehmungen affiziert sein zu können, die nicht notwendigerweise einen Bezugspunkt in der äußeren Welt haben, wodurch jedes kohärente Bedeutungssystem gefährdet ist.“234

Die folgende Quantifizierung des Subjekts ist also nur verständlich, wenn die bereits stattgefundene ‚Homogenisierung‘ in diesem Sinne ins Auge gefaßt wird. Der Übergang von spezifischen Sinnesenergien zur Energie überhaupt ist eine weitere Schleife in der ‚Vernichtung des Qualitativen‘, die Crary als spezifisch für die Moderne ansieht, wenn etwa davon ausgegangen wird, daß dem Körper die Quellen seiner Empfindungen völlig gleichgültig seien.235 Bereits 1885 ist dann durch die experimentelle physiologische Forschungsarbeit ein Modell des menschlichen Organismus mit thermodynamischen Zügen entstanden: „Was sich hier insgesamt durchsetzte, war eine ökonomische Auffassung, welche nicht zuletzt den späteren, dynamischen psychologischen und neurologischen Theorien den Weg Bahnen sollte.“236 Sucht man im fragmentierten und beziehungslosen Körper nach der Wahrheit, kann man nichts anderes finden als Beliebigkeit. Die ‚Beziehungslosigkeit‘ des Körpers jedoch steht für eine bestimmte Qualität von Beziehungen:

234 Ebd.: S. 97 235 Vgl. ebd.: S. 150 u. S. 99. Bei dem Physiologen Helmholtz heißt es: „Man hat die Nerven vielfach nicht unpassend mit Telegraphendrähten verglichen. Ein solcher Draht leitet immer nur dieselbe Art elektrischen Stromes, der bald stärker, bald schwächer oder auch entgegengesetzt gerichtet sein kann, aber sonst keine qualitativen Unterschiede zeigt. Dennoch kann man, je nachdem man seine Enden mit verschiedenen Apparaten in Verbindung setzt, telegraphische Depeschen geben, Glocken läuten, Minen entzünden, Wasser zersetzen, Magnete bewegen […]. Ähnlich in den Nerven. Der Zustand der Reizung, der in ihnen hervorgerufen werden kann und von ihnen fortgeleitet wird, ist […] überall derselbe […]“ (Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, 1863, zit.n. Crary 1996: S. 99). 236 Crary 2002: S. 138

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„Der Betrachter wird nun zu einem neutralen Leiter, einem Sender unter anderen, mit optimalen Zirkulations- und Austauschmöglichkeiten, ob es um Waren, um Energie, um Kapital, Bilder oder Informationen geht.“237

Die Physiologie jener Zeit signalisiert nicht lediglich, daß der Körper zum Schauplatz von Wahrheit und Macht wurde, wie Crary formuliert, denn zumindest Letzteres ist er immer, sondern er wurde zum Schauplatz einer bestimmten Wahrheit und einer bestimmten Macht. Der Akzent liegt darauf, daß der Körper zum Schauplatz wurde, und zwar in seinen Einzelteilen exponiert und in diesen Gegenstand nicht nur der Beobachtung, sondern auch der Regulierung und Kontrolle, aber auch zum Mittel der Beobachtung und Kontrolle. Die Deterritorialisierung des nun autonom gewordenen (von anderen Sinnen und äußeren Bezügen getrennten) Sehens im Rahmen der Trennung der Sinne und der industriellen Neuerfassung des Körpers einerseits, die Decodierung der Zeichen andererseits als umfassender Verlust der Referentialität bestimmen die weitere Beziehungsdynamik, der Crary in seinem Buch ‚Aufmerksamkeit‘ auf der Spur ist. Der Verlust der Referentialität bezieht sich auf die räumliche und die soziale Dimension, Zeitlichkeit und Sehen rücken dagegen enger beieinander. Der homo clausus und sein Gegenüber sind hier schon keine Seienden mehr, vielmehr Werdende/Suchende und ständig Vergehende. „Das sich in der Zeit als veränderlich erfahrende Subjekt“, so schreibt Crary, „wird synonym mit dem Akt des Sehens und löst das cartesianische Ideal eines Betrachters ab, der vollständig und ausschließlich auf ein Objekt konzentriert ist.“238 Es sind die lebensweltlichen Wandlungen, die eine Unterordnung des Taktilen unter das Optische bedingen. Die Vorstellung, das Sehen sei eine Art Tasten, habe zu einem Erkenntnisfeld gepaßt, dessen Inhalte fest innerhalb eines ausgedehnten Terrains angeordnet und strukturiert waren und das im 19. Jahrhundert nicht mehr gegeben war. Eine derartige Vorstellung wurde „mit einem um Wechsel und Bewegung herum aufgebauten Erkenntnisfeld inkompatibel, denn eine an den Tastsinn gebundene Erkenntnis wäre unvereinbar mit der zentralen Bedeutung beweglicher Zeichen und Waren gewesen, deren Identität ausschließlich optisch ist.“239 Doch der Wandel in der Beziehungsdimension ist damit noch nicht hinreichend erfaßt. Der qualitative Wandel der Zeichen im Zuge des so verlaufenden Individualisierungsprozesses entspricht dem, was Mary Douglas als den Wandel von ‚dichten‘ zu den ‚diffusen‘ Symbolen beschrieben hat. Crary zitiert dazu Baudrillard:

237 Crary 1996: S. 99 238 Ebd.: S. 104 239 Ebd.: S. 68

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„In feudalen oder archaischen Kastengesellschaften, in grausamen Gesellschaften, gibt es nur eine beschränkte Anzahl von Zeichen, die außerdem nicht weit verbreitet sind, und jedes funktioniert mit seinem vollen Wert als Verbot, jedes ist eine wechselseitige Verpflichtung zwischen Kasten, Clans oder Personen. Die Zeichen sind daher alles andere als arbiträr. Das arbiträre Zeichen beginnt erst, wenn das Bezeichnende, statt zwei Personen in untrennbarer Wechselseitigkeit zu verbinden, sich wieder zurück auf die entzauberte Welt des Bezeichneten zu beziehen beginnt, ein allgemeiner Nenner für die reale Welt wird, der gegenüber niemandem verpflichtet ist.“240

Die Gegenbewegungen richten sich entsprechend auf beide Verlustdimensionen, es sind dies die Suche nach dem ‚Greifbaren‘, sei es auch in Form ‚visuellen Besitzes‘ und die ‚Versinnlichung des Unsinnlichen‘ (Klauß). Diese Dynamik hat Crary als eine Art Aufmerksamkeitsdynamik beschrieben, eine Bemühung des Subjekts und um das Subjekt bezüglich seiner Wahrnehmung, nun problematisiert als Aufmerken bzw. Aufmerkenlassen auf Empfindung.

Das Problem der Aufmerksamkeit als Aufzubringendes „Die Gewöhnung an Unachtsamkeit ist als das größte Laster des demokratischen Geistes zu betrachten.“241

Meines Erachtens außergewöhnlich treffsicher hat Crary sich bei der Prüfung der Konsequenzen des oben dargestellten Bruches in Vorstellung und Praxis der Visualität und der davon untrennbaren Umformung der Subjektivität die Kategorie der ‚Aufmerksamkeit‘ als Rahmen der Untersuchung gewählt. Dieser Begriff ermögliche es, so eine Begründung, nicht nur, das Wahrnehmungsproblem aus einer allzu leichten Gleichsetzung mit Fragen der Visualität herauszulösen und damit der Gefahr zu entgehen, gerade mit der Privilegierung der Kategorie der Visualität die Kräfte der Spezialisierung und Separierung zu übersehen, durch die das Konzept der Visualität, wie es uns heute zugänglich ist, überhaupt zu einem autonomen und sich selbst begründenden Problem hat werden können, denn: „Ein Großteil dessen, was ein Bereich des Visuellen zu sein scheint, ist lediglich der Effekt von andersartigen Kräften und Machtverhältnissen.“242 Darüber hinaus und damit zusammenhängend wird mit dieser Perspektivenverschiebung das Problem der Wahrnehmung als ein zivilisatorisches, wie es für mich an dieser Stelle von Relevanz ist, auf eine neue Ebene gehoben, auf der die Interdependenz von Sozio- und Psychogenese erst erfaßt werden kann, weil gerade Aufmerksamkeit als historisches Konstrukt und Aufmerksam240 Jean Baudrillard, zit.n. Crary, ebd.: S. 23 241 de Tocqueville 1959b: S. 243 242 Crary 2002: S. 14, Herv.i.O.

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keitsrichtung als zivilisatorisches Produkt Hinweise auf die zivilisationsspezifische Psychodynamik geben, die es hier auszuarbeiten gilt. Darauf verweist seine zweite Begründung seiner Entscheidung für Aufmerksamkeit und gegen Visualität: „Zugleich droht der Begriff der ‚Visualität‘ im Sinne eines Wahrnehmungs- und Subjektmodells verstanden zu werden, das von dem inhaltsreicheren und historischeren Begriff der ‚Verkörperung‘, in dem ein leibliches Subjekt den Ort für die Operationen der Macht und zugleich das Potential des Widerstands bildet, abgeschnitten ist. Die Zentralität oder ‚Hegemonie‘ des Sehens in der Moderne des zwanzigsten Jahrhunderts zu betonen, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt sinnund inhaltslos.“243

Denn schließlich, so die These, sei die heutige Kultur „nicht auf der Notwendigkeit aufgebaut, ein Subjekt sehen zu machen, sondern auf Strategien, die Individuen isolieren und separieren und sie Zeit in einem Zustand der Ohnmacht erleben lassen.“244 Die Vertiefung dieser These ist die Beantwortung der oben im Anschluß an Loenhoff formulierten Frage, nach welchen Problembewältigungssituationen zeitspezifische Sinnes-/Subjektmodelle gestaltet sind, welche Bereiche ausgeblendet sind, und nach der darin enthaltenen Dynamik, um schließlich die im Anschluß an Kleinspehn formulierte Frage vielleicht ansatzweise beantworten zu können: Was bedeutet ‚Hunger nach Lebendigkeit‘ und was ist der ‚materiale Rest‘ des Zivilisationsprozesses? Für die Jahre 1880/90 konstatiert Crary eine Krise der Wahrnehmung, die sich in einer Problematisierung und kontroversen Diskussion des Begriffs der Aufmerksamkeit auf verschiedenen Gebieten ausdrückt, eine Tendenz, die auch für bestimmte Entwicklungen des letzten Jahrhunderts von Bedeutung sei. Die Krise resultierte aus dem Aufstieg der subjektiven Modelle des Sehens in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, so daß schon 1860 die Konturen einer epistemologischen Unsicherheit sichtbar geworden waren, in der die Wahrnehmungserfahrung jene Garantien, die einst ihre privilegierte Beziehung zu Fundamenten des Wissens begründet hatten, verloren hatte.245 Die Aufmerksamkeit wird in der Folge zum „Modell für die Weise, wie ein Subjekt eine praktische und kohärente Vorstellung von der Welt aufrechterhält, zu einem Modell, das nicht primär optisch oder auch nur wirklichkeitsgetreu ist. Die normativen Erklärungen der Aufmerksamkeit waren ein direktes Produkt der Einsicht, daß ein voller Zugriff auf eine mit sich selbst identische Wirklichkeit nicht möglich war und daß die von physikalischen und psychologischen Temporalitäten konditionierte menschliche Wahrnehmung allenfalls eine provisorische, glei-

243 Ebd.: S. 14f 244 Ebd., Herv.i.O. 245 Vgl. ebd.: S. 21.

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tende Annäherung an ihre Gegenstände erlaubte.“246 Während der Begriff um die Mitte des Jahrhunderts eher beiläufig erwähnt wurde, wurde er nun zum Paradigma sowohl der Autonomie des Subjekts, zum Mittel, sich der eigenen Wahrnehmung zu bemächtigen, als auch zum Paradigma der Lenkung/Erziehung des Subjekts, zu einem Verhalten, durch das sich der Wahrnehmende der Kontrolle und Vereinnahmung durch externe Instanzen aussetzt. Das Aufkommen der Psychometrie (ein Begriff, der in der heutigen Psychologie noch unproblematisiert im Umlauf ist), der Bestrebung, mentale Prozesse zu quantifizieren und zu messen, diente beiden Tendenzen. Einerseits machte man in Foucaults Worten „den Menschen zum Objekt des Wissens, damit er zum Subjekt seiner eigenen Freiheit werden könne.“247 Andererseits handelte es sich bei dem Problem der Aufmerksamkeit um ein Verhalten, das in sozial determinierten Normen artikuliert war und der Herausbildung eines modernen technologischen Milieus angehörte. Aber sowohl auf der Diskurs- als auch auf der Praxisebene erwies sich die Aufmerksamkeit immer mehr als Problem denn als Lösung, was nicht daran hinderte (und hindert), weiter an ihr herumzubasteln: „Je mehr man forschte, desto mehr zeigte sich […], daß die Aufmerksamkeit in sich die Bedingungen für ihre eigene Auslöschung enthielt – sie erwies sich als kontinuierlich übergehend in Zustände der Zerstreuung, des Wachtraums, der Bewußtseinsspaltung und der Trance. Sie koinzidierte mitnichten mit dem modernen Traum von Autonomie.“248 Dieses notwendig reziproke Verhältnis von Aufmerksamkeit und Zerstreuung wurde forciert durch Versuche, die Aufmerksamkeit kontrolliert zu lenken: „Entwickelt und formuliert wurde dieses Problem [der Aufmerksamkeit] innerhalb eines sich herausbildenden ökonomischen Systems, das seinen Angehörigen innerhalb und außerhalb der Produktion zahlreiche neuartige, mit Aufmerksamkeit verbundene Aufgaben abverlangte, dessen interne Bewegung jedoch die Grundlage einer jeden disziplinarischen Aufmerksamkeit ununterbrochen zersetzte. Es gehört zur kulturellen Logik des Kapitalismus, daß wir die schnelle

246 Ebd.: S. 16 247 Michel Foucault, zit. n. Crary ebd.: S. 44. Als eine Wegmarke in dieser Entwicklung wird die Einrichtung des weltweit ersten psychologischen Laboratoriums 1879 durch Wilhelm Wundt genannt: „Unabhängig von den spezifischen Zwecken, die Wundt verfolgte, wurde dieses Labor mit seinen neu kodifizierten Forschungsverfahren und seinen sorgfältig kalibrierten Apparaten zum Vorbild für die gesamte soziale Organisation einer modernen Experimentiertätigkeit, die zentriert war um einen Beobachter, der einer umfangreichen Skala künstlicher Reize ausgesetzt wurde. Wundts Laboratorium ist, um Foucault zu paraphrasieren, einer jener praktischen und diskursiven Räume in der Moderne gewesen, ‚in denen das Menschenwesen das, was es tut, und die Welt, in der es lebt, >problematisiert< [Herv.i.O.]‘“ (ebd.: S. 32). 248 Ebd.: S. 45

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Verschiebung unserer Aufmerksamkeit von einem Ding aufs andere als nützlich akzeptieren.“249

Damit wendet sich Crary gegen jene Auffassungen, die etwa ältere Weisen des Wahrnehmens als reicher, tiefer, und wertvoller einschätzen, und die ‚Zerstreuung‘ als Ergebnis eines Verfalls oder einer Verkümmerung der Wahrnehmung begreifen. Aus dieser Sicht stelle die Moderne einen Prozeß der Zerstörung und Fragmentierung dar, in dem die vormodernen Formen von Ganzheit und Vollständigkeit durch technologische, urbane und ökonomische Neuorganisation unwiederbringlich zerbrochen und depraviert werden.250 Nach Crarys Auffassung hängt jedoch die ‚moderne Zerstreuung‘ untrennbar zusammen mit dem Aufkommen bestimmter Normen und Praktiken der Aufmerksamkeit, und zwar sowohl eines Imperativs konzentrierter Aufmerksamkeit im Bereich von Arbeit, Erziehung und Massenkonsum als auch des Aufmerksamkeitsideals als konstitutives Element der kreativen und freien Subjektivität. Die moderne Zerstreuung sei ein Effekt und konstituierender Bestandteil der zahlreichen Versuche, bei menschlichen Subjekten Aufmerksamkeit zu produzieren, der Konstruktion eines aufmerksamen Beobachters.251 Wenn die spezifisch modernen Formen der Subjektivität nicht aus einem allgemeinen Verfall der Wahrnehmung und Erfahrung heraus zu verstehen sind, dann bedarf es eines weiteren Schrittes, um ihrer spezifischen Ausgestaltung näher zu kommen. Nach einer anderen Seite hin wendet sich Crary gegen eine bestimmte transhistorische Annahme über das Sehen in modernen Reflexionen, nämlich gegen das ‚Insistieren auf einer fundamentalen Absenz im Herzen des Sehens, auf der Unmöglichkeit einer Perzeption der Präsenz oder eines unvermittelten visuellen Zugangs zu einer Fülle des Seins‘. Die Aufmerksamkeit werde zu einem spezifisch modernen Problem erst aufgrund der ‚Tilgung der Möglichkeit, die Idee der Präsenz in der Wahrnehmung zu denken‘, und um zum markanten Kern seiner Argumentation zu kommen: Erst im Gefolge dieser Tilgung werde die Aufmerksamkeit zu einer Simulation und zugleich zu einem Notbehelf, zu einem pragmatischen Ersatz angesichts von deren Unmöglichkeit.252 Die Idee der Präsenz 249 Ebd.: S. 33, Herv.i.O. „Aufmerksamkeit war also das, was unsere Wahrnehmung daran hinderte, nur ein inkohärenter Strom von Empfindungen zu sein, sich aber im Licht der Forschung als unzuverlässige Waffe gegen diese Unordnung erwies. Die Aufmerksamkeit, die in der Industriegesellschaft des späten neunzehnten Jahrhunderts ein unentbehrlicher Bestandteil des ‚normalen‘ und ‚vernünftigen‘ Subjekts war, zeigte eine beunruhigende Nähe zu ‚pathologischen‘ und ‚irrationalen‘ Zuständen“ (ebd.: S. 58). 250 Vgl. ebd.: S. 46f. „Adorno z.B. beschreibt die Zerstreuung als ‚Regression‘, als die ästhetische Wahrnehmung ‚Regredierter, auf infantiler Stufe Festgehaltener‘, die zu keiner echten Konzentration mehr fähig seien“ (ebd.: S. 47). 251 Vgl. ebd.: S. 13 u. S. 47 252 Vgl. ebd.: S. 16

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in der Wahrnehmung betrifft die Gewißheit der Gegenwart eines Anderen und die Erfahrung von mentaler Einheit und Kohärenz. Letztere, so Crary, war als permanente und bedingungslos garantierte Erfahrung mit dem Unhaltbarwerden apriorischer Lösungen epistemologischer Fragen ebenfalls verlorengegangen. Davon zeugt die Verschiebung in den Diskursen des späten 19. Jahrhunderts, die etwa der Schwerpunktverschiebung von der ödipalen zur präödipalen Phase in der Psychoanalyse entspricht, wo es weniger um die seelischen Vermögen eines seienden Subjekts geht, sondern eher um die provisorische Konstruktion eines immer werdenden Subjekts. Insofern ist die Aufmerksamkeit, wie sie problematisiert und als Beschreibungs- und Erklärungsmodell des wahrnehmenden Subjekts herangezogen wurde, Anzeichen der epistemologischen Krise, die die Menschen(wissenschaften) seitdem anscheinend immer wieder zu bewältigen suchen. Mit der Aufmerksamkeit als zentrale Kategorie sei aus einem dyadischen System von Subjekt und Objekt ein triadisches geworden, dessen drittes Element eine ‚Interpretationsgemeinschaft‘ bildete: „[…] ein wechselnder Raum von sozial artikulierten physiologischen Funktionen, institutionellen Imperativen und einer langen Reihe von Techniken, Praktiken und Diskursen, die sich auf die Wahrnehmungserfahrung des Subjekts in der Zeit beziehen. Eine solche Aufmerksamkeit ist nicht mehr auf die Aufmerksamkeit für etwas reduzierbar. Mithin ist die Aufmerksamkeit in der Moderne durch diese Formen der Äußerlichkeit konstituiert, nicht durch die Intentionalität eines autonomen Subjekts. Sie ist nicht das Vermögen eines bereits geformten Subjekts, sondern ein Zeichen – nicht so sehr für das Verschwinden des Subjekts als für seine Unsicherheit, Kontingenz und Substanzlosigkeit.“253

Hier weist Crary auf die interaktionelle Struktur des Sinnlichen und dessen Störungen hin: Das, was im 19. Jahrhundert oft als regressive oder pathologische Auflösung der Wahrnehmung etikettiert wurde, etwa das oft als Bewußtseinsspaltung beschriebene Versagen der Fähigkeit zur Synthesis, sei in Wirklichkeit nur der Ausdruck einer fundamentalen Verschiebung gewesen, die im Verhältnis eines Subjekts zu einem visuellen Feld stattfand. Daß die Aufmerksamkeit zu einer ungenauen Bezeichnung wurde für die relative Fähigkeit eines Subjekts, gewisse Inhalte eines sensorischen Felds auf Kosten anderer im Interesse des Festhaltens an einer geordneten und produktiven Welt selektiv zu organisieren – ob nun akzentuiert als Organisation, Selektion oder Isolation –, sie implizierte die unvermeidliche Fragmentierung eines visuellen Felds, in dem die einheitliche und homogene Kohärenz der klassischen Modelle des Sehens nicht möglich war.254

253 Ebd.: S. 44 254 Vgl. ebd.: S. 24f u. S. 30

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Die ‚Erschöpfung von Bedeutung‘, ein ‚Verfall der Zeichen‘ durch das Einführen eines immer wieder Neuen, Aufmerkenlassenden zwecks Aufrechterhaltung und Steigerung der Aufmerksamkeit und die Qualität dieser Aufmerksamkeit als Mittel zur ‚Rettung oder Simulation von Einzigartigkeits- und Identitätserfahrungen‘ angesichts der auftretenden Austauschbarkeit und Äquivalenz bedingen sich gegenseitig.255 Dieser Dynamik liegt nicht einfach ein zunehmender Selbstbezug zugrunde, sondern ein spezifischer Selbstbezug, eine Abkehr bzw. Funktionalisierung von Beziehung und eine Funktionalisierung des fragmentierten Körpers, der – zunächst noch Programm – im Laufe der weiteren Entwicklung habitualisiert und automatisch reproduziert wird. Während in den späten 1870er Jahren der Fetischismus exemplarisch für alle Perversionen geworden ist, findet etwas später der Autoerotismus seine konzeptuelle Ausformulierung, der dann den Rahmen für das Narzißmuskonzept abgibt. In diesen von der Psychoanalyse übernommenen Begriffen, wie den von Crary diskutierten philosophischen, physiologischen und psychologischen Standpunkten kommen Aspekte der lange Zeit vorangegangenen qualitativen Beziehungswandlungen zum Ausdruck, die uns heute in verdichteter und verdinglichter Form etwa im Konzept der Aufmerksamkeit und dem des Triebes begegnen. Während Havelock Ellis Ende des Jahrhunderts den Narzißmus als eine Extremform des Autoerotismus als eine Tendenz umschreibt, in welcher die sexuellen Regungen in Selbstbewunderung aufgehen, sexuelle Befriedigung etwa durch Liebkosung und Betrachtung des eigenen Körpers vor dem Spiegel als eine Art der Perversion betrachtet wird,256 definiert Freud den Autoerotismus durch die Beziehung des Triebes zu seinem Objekt: der ‚Trieb‘ befriedigt ‚sich‘ am eigenen Körper. Während bei Ellis der Aufmerksamkeitsentzug vom Anderen noch spürbar ist, ist die Abwesenheit des Anderen bei Freud mit dem Trieb schon verdinglicht gesetzt.257 Es ist diese spezifische Form der Selbst-Bezogenheit, 255 Vgl. ebd.: S. 105f 256 Näcke schrieb 1899 mit Bezug auf Ellis: „Hier ist die Grenze gegen blosse Eitelkeit zu ziehen und nur dort, wo das Betrachten des eigenen Ich’s oder seiner Theile von deutlichen Zeichen des Orgasmus begleitet ist, kann mit Fug und Recht von Narcismus gesprochen werden. Das wäre dann der klassischste Fall von ‚auto-erotism‘ im Sinne von H. Ellis. Nach ihm soll Narcismus besonders bei Frauen sich finden, vielleicht weil der normale Keim dazu ‚is symbolized by the mirror‘“ (Näcke 1899: S. 375). 257 Vgl. Laplanche/Pontalis 1994: S. 80, Stimmer 1987: S. 59. Es bedarf einiger Anstrengung, diesen qualitativen Bruch in der Beziehung, die spezifische Zuwendung zum Selbst und zu eigenen Körperteilen aus dem heutigen Stand der Sozio- und Psychogenese nachzuvollziehen. Was hier allein in den letzten 200 Jahren vor sich gegangen sein mag, wird durch eine Randbemerkung Corbins in seiner historischen Untersuchung des Geruchssinns lediglich angedeutet, wenn er über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts schreibt, daß das Badezimmer bei seiner Einführung im Rahmen der hygienischen Maßnahmen als ‚verdächtiger Ort‘ galt: „Bis zur Einführung der Dusche, die den Vorgang der Toilette beschleunigt und der sich ent-

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die zu einer Erstarrung der gestischen Möglichkeiten als Konsequenz einer ‚Kluft‘ führt, die sich zwischen verschiedenen perzeptuellen Systemen auftut, eines ‚Nachlassens der wechselseitigen Kenntnisnahme der Sinne voneinander‘:258 „Der Geste als Form des Austauschs und des Selbstausdrucks widerfährt […] ihre Unwirksamkeit in dem historischen Moment, da die Zeichen pathologischen Versagens und des Defizits mit dem Erstarren des Körpers zu einer gepanzerten, ästhetisierenden Fassade zusammenfallen.“259

Die Unmöglichkeit globaler Wahrnehmung durch bestimme Aufmerksamkeitszuwendung entspricht in etwa dem, was Hermann Schmitz als Ausfall der ‚leiblichen Kommunikation‘ samt der entsprechenden Entstellung oder Verkümmerung der Wahrnehmung beim Entfremdungserleben beschrieben hat, „indem sich so etwas wie eine Wand oder ein Nebel zwischen den Menschen und seine Umgebung zu legen scheint – eine ihn von dieser absperrenden Atmosphäre –, […] zumal alles Fühlen im Sinn affektiven Betroffenseins von Gefühlen – und damit der emotional-atmosphärische Kontakt – leibliches Betroffensein ist und somit alle für Entfremdungserleben charakteristischen Kontaktstörungen im Grunde Störungen der Fähigkeit zu leiblichem Betroffensein, der Resonanzfunktion des leiblichen Befindens, sind.“260 Der eigene Leib eines Menschen sei das, „was er in der Gegend seines Körpers von sich spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) und des perzeptiven Körperschemas (d.h. des aus Erfahrungen des Sehens und Tastens abgeleiteten habituellen Vorstellungsbildes vom eigenen Körper) zu stützen.“261 Der Leib ist hier ein ‚absoluter Ort‘, d.h. unabhängig von Lage- und Abstandsbeziehungen bestimmt. Mit dieser Bestimmung der Wahrnehmung als leiblicher Kommunikation wird der subjektiven Perspektive Nachdruck verliehen, ohne das Erlebte auf einen ‚inneren Zustand‘ zu verkürzen, vielmehr wird das Fühlen als leibliches Betroffensein in und aus der Gerichtetheit auf eine Situation als Objektives, als Atmosphäre, die den Einen überkommt, nichtsdestoweniger aber den Anderen zugänglich ist, verstanden. Daraus erkläre sich die eigentümliche ‚Gebärdensicherheit des Ergriffenen‘: „Der Freudige weiß zu hüpfen, der Kummervolle schlaff und gebrochen dazusitzen und zu stöhnen, der Beschämte

258 259 260 261

wickelnden Selbstgefälligkeit Grenzen setzt, gilt das Bad als ein äußerst verdächtiger Ort. Die auf der Nacktheit lastenden Verbote stehen einer allgemeinen Verbreitung des Badezimmers entgegen. Ein besonderes Problem ist das Abtrocknen der Geschlechtsorgane. ‚Schließt die Augen, bis ihr den Vorgang beendet habt‘, empfiehlt Madame Celnart ihren Leserinnen“ (Corbin 1992: S. 236). Vgl. Crary 2002: S. 93 Ebd.: S. 94 Schmitz 1978: S. 32 Schmitz 1998: S. 12

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den Blick zu senken, der Verzweifelte gellend aufzulachen usw.; niemand, der so ergriffen ist, muß verlegen fragen, wie man so etwas macht und den angemessenen Ausdruck des Gefühls findet.“262 Von diesem ‚leiblichen Raum‘ unterscheidet Schmitz den örtlichen Raum, der aus einem beliebig zentrierbaren Koordinatensystem besteht, eine Raumvorstellung, die der neutralisierenden Objektivierung und Verfügbarkeit des Begegnenden, des Ordnungmachens dient. Für die von Crary beschriebene Erstarrung und Unwirksamwerdung der Geste scheint eine Art Übergang vom Richtungsraum zum Ortsraum charakteristisch zu sein. Während es im leiblichen Richtungsraum unumkehrbare Entfernungen, aber keine über umkehrbare Verbindungslinien nach zwei Seiten ablesbare Abstände und Lagebeziehungen gibt, wodurch eine ‚glatte Motorik‘ überhaupt möglich wird, wird diese blockiert, wenn die eigene Geste als Teil des Ortsraums wahrgenommen wird.263 Genauso gibt es diese zwei Möglichkeiten im ‚Blick‘ auf ein menschliches Gegenüber: „Was im normalen Umgang bei sozialadäquater Aufmerksamkeit unwillkürlich am Partner bemerkt wird, ist […] von anderer Art als die Sinnesdaten, die man zum Aufstellen eines Steckbriefes braucht.“264 Was sich einprägt, seien weniger feste Formen, sondern vielmehr ‚Bewegungssuggestionen‘ (Haltung, Mimik, Blick, Gebärde) und synästhetische Charaktere (z.B. rauhe, schmierige Stimme oder Bewegungsweise). Es ist eine Wahrnehmung, die auf jenem impliziten 262 Ebd.: S. 26. „Dagegen muß der Mitleidige, der bloß an fremdem Leid Anteil nimmt, ohne davon unmittelbar betroffen zu sein, sehr oft verlegen fragen, wie er sein Mitleid dem Unglücklichen in passender Weise ausdrükken soll, und sucht dann nach Worten oder Gesten, weil ihm kein Gefühl als leiblich ergreifende Macht unmittelbar eine Haltung oder Bewegung eingibt. Wenn aber das Mitleid einmal so spontan und stürmisch ist wie eigenes Leid, dann bricht es sich ganz von selbst Bahn zu einer unproblematischen Äußerung“ (ebd.: S. 26f). 263 Vgl. ebd.: S. 55. Ein Bsp. zur Veranschaulichung entnimmt Schmitz einer Schilderung Kleists: „Heinrich v. Kleist schildert in seinem Aufsatz Über das Marionettentheater den Verlust der Grazie eines Jünglings als Ergebnis von dessen Wechsel aus dem Richtungsraum zum Ortsraum bei der Orientierung am eigenen Körper. Die Gunst der Frauen, geweckt durch seine ungewöhnliche Anmut, erregte bei dem Jüngling eine Eitelkeit, die ihn, als er im Bade nackt zufällig die Stellung der antiken Statue des Dornausziehers einnahm, zu der Frage an seinen Freund veranlaßte, ob dieser die Übereinstimmung mit dem berühmten schönen Vorbild bemerkt habe; der Freund, der der Eitelkeit keine Nahrung geben wollte, verneinte wahrheitswidrig, worauf der Jüngling vergebliche Versuche unternahm, die Imitation überzeugend wiederherzustellen, und nach Verlassen des Bades vor dem Spiegel alle möglichen Posen einübte, mit dem Ergebnis, daß die bis dahin bezaubernde Anmut seiner Bewegung binnen weniger Wochen verschwand. Der Fehler des Jünglings bestand darin, daß er von richtungsräumlichen Orientierung im motorischen Körperschema zur ortsräumlichen Orientierung am perzeptiven, nach dem Spiegelbild und dem Vorbild der antiken Statue formbaren Körperschema überging und damit die Laufbahn flüssiger Motorik verpaßte“ (ebd.: S. 55f). 264 Ebd.: S. 41

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Wissen beruht, dem wir bei Stern schon mit den Abstimmungen im Bereich der Vitalitätsaffekte begegnet sind. Wenn Crary mit Debord darauf insistiert, daß ein essentielles Charakteristikum der ‚Gesellschaft des Spektakels‘ nicht so sehr die Wirkung der Massenmedien und ihrer Bildwelt ist, sondern die Entwicklung einer ‚Technologie der Trennung‘, der Unterbindung von Kommunkiationsmöglichkeiten, der Produktion fügsamer Subjekte durch ‚Zurückdrängung des Körpers als politische Kraft‘, dann ist ein Aufmerksamkeitsentzug gemeint, dessen psychische Auswirkungen in der Soziologie noch recht unfaßbar sind.265 Hier ist das ‚Management der Aufmerksamkeit‘, wie Crary es nennt, der Soziologie um einiges voraus. Auch hier ist das von Sennett thematisierte Tabu, Macht und Kontrolle zu thematisieren, soweit es sich um die Subjekte demokratischer Gesellschaften handelt, nicht ganz unschuldig an dieser ‚Unschuld‘ der Soziologie. In Zusammenhang mit heutigen Subjekten von Passivität und Beeinflussung zu sprechen, sei immer noch – ähnlich wie im Fall des Narzißmus – gleichbedeutend mit Anathema: „Insbesondere das Fernsehen hat sich in zahlreichen Formen als allgegenwärtiges und höchst effizientes System für das Management von Aufmerksamkeit erwiesen und ist zugleich derartig zum festen Bestandteil des subjektiven und sozialen Lebens geworden, daß bestimmte Arten von Aussagen darüber (z.B. hinsichtlich Suchtverhalten, Gewöhnung, Beeinflussung und Kontrolle) in gewisser Weise einfach nicht möglich und aus dem öffentlichen Diskurs verbannt sind. Gewöhnlich geht man von der stillschweigenden Annahme aus, daß die Fernsehzuschauer eine hypothetische Gemeinschaft rationaler und freier Subjekte bilden. Es ist jedoch genau die gegenteilige Position – nämlich daß die Menschen gewisse psychophysiologische Fähigkeiten und Funktionen haben, die dem technologischen Management unterworfen werden können –, die seit mehr als hundert Jahren den institutionellen Praktiken und Strategien (von der Frage von deren relativer Effizienz ganz abgesehen) als Grundlage dient, selbst wenn die sogenannten Kritiker dieser Institutionen es nicht wahrhaben wollen.“266

265 Vgl. Crary 2002: S. 65f u. S. 313, Anm. 182 266 Crary 2002: S. 63. Bereits um 1910 lagen in Europa und den USA eine Menge Studien zur Aufmerksamkeit in Zusammenhang mit Produktivitätssteigerung am Arbeitsplatz und dem Management der Verbrauchs vor. „Ganz abgesehen davon, ob die Aufmerksamkeit wirklich kontrolliert und gesteuert werden kann, ist bemerkenswert, welch gewaltiges Material und welche intellektuellen Ressourcen ausgehend von der Annahme, sie könne für spezifische Zwecke kontrolliert werden, eingesetzt wurden. […] Diese Forschungen werden nach wie vor in großem Maße fortgeführt, wobei beispielsweise die elektrische Aktivität des Gehirns im Verhältnis zur Aufmerksamkeit überwacht wird. […] Auch der Einsatz von chemischen Mitteln zur Steigerung der Aufmerksamkeit wird auf viele Weisen untersucht“ (ebd.: S. 312f, Anm. 179, Herv.i.O.). Zur Aktualität der Aufmerksamkeitsforschung s. ebd.: S. 36f.

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Diese psychophysiologischen Fähigkeiten und deren ‚Manipulationsversuche‘ bzw. Ausgestaltung betreffen den Kern des blinden Zivilisationsprozesses. Es sei, so Crary, nicht von ungefähr, wenn zum Ende des 20. Jahrhunderts – nach den langen Prozessen der Definition und Formung des Vermögens Aufmerksamkeit und dessen tendenzieller Richtung auf eine begrenzte Anzahl isolierter Reize und der damit einhergehenden Umformungen der menschlichen Subjektivität – eine ‚gewaltige soziale Krise der subjektiven Desintegration‘ u.a. metaphorisch als ‚Versagen der Aufmerksamkeit‘ diagnostiziert werde. Die dubiose Etikettierung einer bestimmten Störung, von der schwierige Schulkinder und andere betroffen sein sollen, als ‚Attention deficit disorder‘ (ADD) ist für Crary Anzeiger dafür, daß Aufmerksamkeit nach wie vor eine normative Kategorie der institutionalisierten Macht ist. In der Literatur über ADD treffe man, insbesondere bei der Aufzählung der Symptome, regelmäßig auf Ausdrucksweisen und Bewertungen aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Von der Frage der sozialen Konstruktion von Krankheit überhaupt ganz abgesehen, falle hier auf, wie die Aufmerksamkeit nach wie vor als eine normative und implizit natürliche Funktion angenommen wird, deren Verminderung eine Anzahl von Symptomen und Verhaltensweisen hervorruft, die auf verschiedene Weise den sozialen Zusammenhalt zerreißen. Hier haben wir es mit einer Kultur zu tun, die einerseits schonungslos auf kurzfristige Aufmerksamkeit, auf der Logik des Zusammenhangslosen, auf perzeptuelle Überbeanspruchung, auf der verallgemeinerten Ethik des ‚Vorwärtskommens‘ und dem Kult der Aggressivität beruhe, andererseits gerade diese Verhaltensformen pathologisiert werden oder in der Neurochemie, der Anatomie des Gehirns und der genetischen Veranlagung nach den Ursachen für diese imaginäre Erkrankung gesucht werde.267 Zwar sei die Produktion ‚gelehriger Körper‘ 267 Vgl. ebd.: S. 36ff, S. 13. ADD, im Deutschen u.a. auch als ADS bzw. ADHS (ADS+Hyperaktivität) bekannt, ist ein immer noch höchst beachtenswertes wissenschaftliches und soziales Phänomen. Zur Fragwürdigkeit der Diagnose der medikamentösen Behandlung dieser ‚Störung‘ und deren Zusammenhang sei auf die Studie von Richard DeGrandpre (2002) „Die Ritalin-Gesellschaft“ verwiesen. Das Phänomen wird in der ‚Fachwelt‘ sowie in den Medien nach wie vor äußerst kontrovers diskutiert, aber ich meine, daß DeGrandpre, der die Krankheit mit dem Etikett ADS als sozial konstruiert und die Symptome als sozial bedingt ausmacht, einen guten Einblick in die Problematik bietet, zumal seine Ergebnisse nicht widerlegt sind. Der Psychologe Piero Rossi etwa, der sich am Rande gegen die Argumentation von DeGrandpre wendet, bestätigt größtenteils dessen Ergebnisse. So heißt es, daß die Erforschung der ADHS im Gehirn von betroffenen Menschen eine Reihe von neurobiologischen Besonderheiten aufgezeigt hätte, sich die molekularbiologischen und bildgebenden Forschungsbefunde aber leider als ‚nicht kennzeichnend genug‘ erwiesen haben, um als diagnostisches Kriterium Verwendung zu finden. (Vgl. Rossi 2003: S. 6f; vgl. a. Barkley 2002: Entwicklungsanomalien des Gehirns bei ADHS, S. 113f). Die neurobiologischen Besonderheiten werden zum Kernproblem der ADHS, das dann in einer ‚neurochemisch bedingten Schwäche der

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erfolgreich, aber die Maßnahmen, die zwecks eines wirksamen Aufmerksamkeits-Managements eingesetzt werden, erweisen sich als unzureichend: „Zwar garantiert die Verbreitung von elektronischen und kommunikationstechnischen Produkten, daß diese Fügsamkeit stets mit verstärkter Konsumtion verbunden ist, aber der soziale Zerfall, der (etwa in Gestalt der lernunwilligen Kinder) dieses neue Regime begleitet, hat Formen angenommen, die für das herrschende System unerträglich werden. Und wie der Aufmerksamkeits-Diskurs in den Institutionen zeigt, sehen wir uns heute – in Form der zunehmend im Sinne einer Strategie des Verhaltensmanagements eingesetzten neurochemischen Medikamente – einem weiteren dramatischen Expansionsschub disziplinärer Technologie gegenüber.“268 Hemmfunktion unseres Zentralcomputers, dem Gehirn‘ liegt. Um mit DeGrandpre zu antworten: „Medizinisch gesprochen unterscheidet diese Denkweise nicht zwischen physiologischen Phänomenen als Korrelaten des Verhaltens und als Ursachen des Verhaltens. Der hirnpsychologische Prozeß, der einem, sagen wir, hyperaktiven Verhalten korrespondiert, kann von den gleichen Erfahrungen verursacht sein, die zur Hyperaktivität selbst geführt haben“ (DeGrandpre 2002: S. 56, Herv.i.O.). Anders gesagt, auch die Neurochemie des Gehirns ist erfahrungsabhängig. Trotz dieses ‚Forschungsstandes‘ stimmen die ‚Mitglieder der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft‘ stark darin überein, daß es sich bei ADHS um eine in ‚hohem Maße vererbbare biologische Störung des Gehirns‘ handelt (vgl. World Federation for Mental Health 2003: Internationale Richtlinien für die Medienberichterstattung). Ein Großteil dieser Gemeinschaft beklagt, daß ADHS zu selten und zu spät von den Ärzten diagnostiziert wird, was lediglich bedeutet, später und seltener als in den USA, was u.a. Rossi am zu niedrigen Verbrauch entsprechender Medikamente auf diesem ‚zu psychologisch orientierten‘ Kontinent, dem europäischen, ausmacht (vgl. Rossi 2002: S. 2 u. S. 5f). Die Tendenz geht allerdings dahin, nicht nur Schulkindern, sondern auch Erwachsenen und demnächst wohl auch Vorschulkindern die entsprechenden Medikamente zu verabreichen (vgl. Ärzte Zeitung Online 02.09.2004). Diese Fachleute gehen davon aus, daß 3 bis 7 Prozent der Schulkinder an ADHS leiden, davon nach Experteneinschätzung über die Hälfte auch noch später im Erwachsenenalter. Die Argumentation bleibt fadenscheinig, dagegen helfen weder die mit ärztlicher Autorität vorgetragenen Überzeugungen und ‚Übereinstimmungen‘ noch von Pharmakonzernen finanzierte Erhebungen. Zu einer alternativen Sicht empfehlenswert Bergmann 2003. 268 Crary 2002: S. 38. Auf einer ADHS-Website, die u.a. betroffenen Eltern als Forum dienen soll, wird aus dem Vortag einer Kinder- und JugendPsychiaterin berichtet: „Für eine adäquate moralische Entwicklung und Über-Ich-/Gewissensbildung ist es notwendig, komplexe soziale Situationen kognitiv und gefühlsmäßig erfassen und bewerten zu können. Durch den Mangel an Neurotransmittern im Frontalhirn ist das für Kinder mit ADHS nicht in ausreichendem Maße möglich, selbst wenn ihnen richtiges Verhalten als gutes Beispiel vorgelebt wird. Auch unter diesem Gesichtspunkt gelte es eine medikamentöse Behandlung zu bewerten“ (Dietz 2001). Bei diesen Überredungsversuchen, die eventuelle Scheu der Eltern vor Psychopharmaka zu überwinden, handelt es sich um einen Grundtenor der ‚biologistisch‘ orientierten Fachleute. Dabei geht es auch immer um den expliziten und ‚entlastenden‘ Versuch, die Eltern, die Gesellschaft, die

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Innerhalb des ‚Krankheitsbildes‘ der Aufmerksamkeitsstörung werden u.a. Vergeßlichkeit, Lernunfähigkeit, soziale Erfahrungsirrelevanz und Gedächtnislosigkeit als zu behandelnde Symptome ausgemacht, andererseits werden aber Aufmerksamkeit und Wahrnehmung selbst als erfahrungsund gedächtnisunabhängige Phänomene konstruiert, so daß deren Fehlen bzw. Sozialinadäquatheit ja nicht mit spezifischer Sozialisation in Verbindung zu bringen sei. Während alle genannten Symptome dieser ‚biologisch bedingten Störung‘ mit der Beschreibung des Narziß bzw. des postmodernen Menschen tendenziell übereinstimmen,269 gibt es ein Symptom, welches vollkommen aus dem Rahmen fällt: die Tagträumerei!270 Dieses Symptom, das eher mit einer ‚blühenden Phantasie‘ als mit Hyperaktivität einhergehe und manchmal eher wie eine Depression wirke, komme eher bei Mädchen vor und wird noch von Eltern und Ärzten oft nicht als ADS diagnostiziert. Dabei brauchen auch solche Menschenkinder Medikamente und ‚Strukturhilfen für den Alltag‘. Was hier zur Verhandlung steht, ist der Wachtraum als eine, wie Crary es ausdrückt, ‚Domäne des Widerstands‘, vielleicht als illegitimer Rückzug von vorgegebenen Reizen und deren Bedeutungslosigkeit, vielleicht als Arbeit an der Selbstkohärenz. Als legitime Kinder von jeglicher ‚Schuld‘ an den Problemen freizusprechen. Schuldig macht man sich hier als Elternteil dagegen, wenn man eine medikamentöse Behandlung des Kindes ablehnt und so seine ‚moralische Entwicklung‘ verhindert. 269 Es werden u.a. genannt: Signifikante Impulsivität; heftige, schnell wechselnde Gefühlsreaktionen; Vergeßlichkeit und Unzuverlässigkeit (z.B. von Terminabsprachen); Ruhelosigkeit und Unaufmerksamkeit/Ablenkbarkeit; Störendes Verhalten, sich nicht an Regeln halten; nur sehr geringe Introspektionsfähigkeit/Selbstbeobachtung; wirkt ‚unkooperativ‘, scheint Dinge auf seine Art machen zu wollen; scheint Schriftliches nur oberflächlich zu lesen; besondere Unruhe/Ungeduld; schuldigt eher andere Menschen für Probleme an; Schwierigkeiten, Aufgaben durchzuhalten; unvorhersehbare, sehr rapide Stimmungswechsel usw. Kinder mit ADHS schämen sich weniger und haben Probleme mit der Über-Ich-Entwicklung. Rossi (o.J.) spricht von der Annahme, daß die genetisch bedingte neurobiologische Stoffwechselstörung im Bereich derjenigen Hirnabschnitte verortet ist, welche übergeordnete Steuerungs- und Koordinationsaufgaben in der Informationsverarbeitung ‚des Gehirns‘ vornehmen, was bewirkt, daß ‚das Gehirn‘ unwichtige innere und äußere Reize nicht ausfiltern kann, wodurch es zu den bekannten Symptomen komme. Barkley meint, dass es sich bei diesem Syndrom nicht um eine Störung der Aufmerksamkeit, sondern der Fähigkeit zur Selbststeuerung und zur Berücksichtigung von Zeitund Zukunftsaspekten handelt (vgl. Barkley 2002: S. 13). 270 Das Tagträumen wurde von Näcke 1899 mit dem Narzißmus in einem Atemzug zusammen genannt als zwei noch recht wenig bekannte eigentümliche sexuelle Betätigungen, die sich beide eher bei Frauen bzw. Mädchen und jungen Frauen fänden. Während beim Narzißmus der Gebrauch des Spiegels als möglicher Grund für die geschlechtsspezifische Ausbreitung dafür genannt wird, wird beim Tagträumen darauf hingewiesen, daß bei Frauen die Phantasie überhaupt ‚üppiger ihre Fittige schwingt‘ und die Frau keuscher bleiben muß als der Mann (vgl. Näcke 1899: S. 374f).

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Formen der ‚Zerstreuung‘ gelten vielmehr etwa Film und Fernsehen, die nach Crary im 20. Jahrhundert in Konkurrenz mit dem Wachtraum getreten sind. Wachtraum und etwa Fernsehkonsum stellen beide zunächst nur Formen der (Un)Aufmerksamkeit dar, aber ihr qualitativer Unterschied gibt Auskunft über die psychogenetischen Aspekte. Ein Zug, den viele zeitgenössische technologische Arrangements nach Crary gemein haben, sei die Durchsetzung einer dauernden Aufmerksamkeit auf niedrigem Niveau. Durch die Rezeption von Reizen und die Standardisierung der Reaktion entstehe eine ‚präzedenzlose Mischung von diffuser Aufmerksamkeit und einem Quasi-Automatismus‘, die bemerkenswert lange aufrechterhalten werden kann. So findet das, was einst Träumerei geheißen haben mag, heute „zumeist in Übereinstimmung mit vorgefertigten Rhythmen, Bildern, Geschwindigkeiten und Kreisläufen statt, die die Irrelevanz und Vernachlässigung all dessen, was nicht mit ihren Formaten vereinbar ist, noch steigern.“271 Die Frage des Automatischen sei innerhalb des spezifisch modernen Problems der Aufmerksamkeit deshalb entscheidend, weil dieser Begriff die Vorstellung des absorbierten Zustands nicht mehr im Zusammenhang einer Verinnerlichung des Subjekts, will sagen einer ‚Intensivierung eines bestimmten Gefühls von Selbstheit‘, bestimmt: „[…] als tiefenlose Schnittstelle simuliert und verschiebt die Aufmerksamkeit, was vielleicht einmal ein autonomer Status der Selbstreflexion oder ein sens intime gewesen ist. Was die Logik des Spektakels vorschreibt, ist die Produktion von separierten und isolierten, aber nicht von introspektiven Individuen.“272

Das Problem der Aufmerksamkeit als zu Empfangendes Ganz in der Logik der von Crary beschriebenen Entwicklung erschien Ende des letzten Jahrhunderts das Buch von Georg Franck „Ökonomie der Aufmerksamkeit“. Die Hervorhebung der zwischenmenschlichen Relevanz der Aufmerksamkeit in sozialer und psychischer Hinsicht ist ein Anliegen des Buches. Franck beklagt das Fehlen einer systematischen Betrachtung des ‚Tausches‘ an Beachtung und der ‚Einnahmen‘ an Aufmerksamkeit in theoretischer Ökonomie und den Sozialwissenschaften. Ähnlich wie bei Neckels Idee der (Gleich-)Verteilung gesellschaftlicher Anerkennung ist hier von der ‚Verteilung der mitmenschlichen Gefühle in der Gesellschaft‘ die Rede, obwohl diese ja in jener Sphäre angesiedelt seien, in der das Äquivalenzdenken nicht mehr allein das Sagen habe.273 Und der Wert der Aufmerksamkeit, durch die diese Gefühle ‚übertragen‘ werden, beschränke sich auch nicht auf ihren Tauschwert, das aufmerksame Dasein stelle ja gerade denjenigen Zug am leiblichen Dasein dar, der sich dem 271 Crary 2002: S. 68 272 Ebd.: S. 68f 273 Vgl. Franck: 1998: S. 93

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Messen und Wiegen entziehe.274 Woher also die Notwendigkeit einer Ökonomie der Aufmerksamkeit? Francks Begründung bezieht sich auf die vorangegangenen gesellschaftlichen Prozesse, in denen die Aufmerksamkeit eine neue Bedeutung gewonnen habe dadurch, daß sie in den hochtechnisierten Zivilisationen als produktive Ressource und als Form des Einkommens ins Zentrum rückt, wobei symptomatisch für diesen Wandel ihre Ökonomisierung sei.275 Mit Aufmerksamkeit als Produktionsfaktor meint Franck die verwendete Aufmerksamkeit, die geistige Arbeit, während sie als Einkommen die zwischenmenschlich zugewendete ist. Als Produktionsfaktor stelle sie eine knappe Ressource dar und als Einkommen ist sie begehrt, was ihre Ökonomisierung erklärt: „Je knapper eine Ressource, desto wichtiger werden Gesichtspunkte des Haushaltens; je begehrter ein Einkommen, desto systematischer werden die Anstrengungen seiner Einnahme.“276 Während die Sicht auf Aufmerksamkeit als knappe Ressource schon in den von Crary untersuchten Theorien des 19. Jahrhunderts aufgehoben ist, ist die zweite, gerade in der dramatischen Akzentuierung, wie sie bei Franck erscheint, dort nicht zu finden. Diese Akzentsetzung und weniger seine Untersuchung der Währungsfunktion der Aufmerksamkeit ist in diesem Zusammenhang von Interesse. Als Grund nämlich, warum die Aufmerksamkeit ein begehrtes Einkommen darstellt, gibt Franck an, daß sie ‚Zugang zu anderen Erlebnissphären‘ verschaffe. Das Begehren richtet sich auf die ‚Einwohnerschaft im anderen Bewußtsein‘, dessen Effekt überwältigend sei. Durch die Wechselseitigkeit dieser Einwohnerschaft werde die monadische Einsamkeit unseres bewußten Daseins ‚aufgebrochen‘ und relativiert.277 Im Unterschied zu Neckels Theorie sozialer Ungleichheit, in dem die Verteilung sozialer Anerkennung problematisiert wird, geht es hier nicht um Selbstwert, sondern um die basale Beziehung, um Wahrgenommenwerden als Sein, um Aufmerksamkeit als Beachtung. Bedenklich an diesem Begehren sei entsprechend die Wahllosigkeit, zu der das Verlangen hinreißt. In scharfem Kontrast zu der auch von Franck getroffenen Feststellung, daß der tägliche Umgang der Menschen miteinander immer auch ein fortlaufender Tausch von Beachtung ist, steht die Wirkung, die der Beachtung in beliebiger Form zugeschrieben wird: „Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen. Ihr Bezug sticht jedes andere Einkommen aus.“278

Mit seinem Ansatz der Ökonomie der Aufmerksamkeit hat Franck den Begriff eines mentalen, immateriellen Kapitalismus geprägt, der den alten zwar nicht ersetze, aber im Vergleich zu diesem an Bedeutung gewinne. 274 275 276 277 278

Vgl. ebd.: S. 93 u. S.21 Vgl. ebd.: S. 21 Ebd.: S. 21, vgl. a. ebd.: S. 12f Vgl. ebd.: S. 13 u. S. 93 Ebd.: S. 10

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Der mentale Kapitalismus bezeichnet diejenige Entwicklungsstufe des Geschäfts mit der Beachtung, auf der sich der Reichtum an eingenommener Aufmerksamkeit selbst verstärkt und eigene Gesetzmäßigkeit entfaltet. Das knappe Gut ist die geleistete Aufmerksamkeit.279 Ausgebeutet werden die Menschen, indem sie Informationen und Reizen Beachtung schenken, aber keine zurückbekommen: „Die Anbieter streuen Information durch technische Reproduktion, die Abnehmer entrichten für jede Kopie lebendige Aufmerksamkeit.“280 Wieder ist die Rede von etwas Lebendigem, aber keine Spur von den konkreten, realen Beziehungen im Leben der Menschen. Auch wenn der durchschnittliche Mitteleuropäer bei Zugrundelegung der durchschnittlichen Lebenserwartung als Mann 17,5 Jahre und als Frau 19,5 Jahre mit der Rezeption von Massenmedien beschäftigt sein mag,281 und man von diesen natürlich keine lebendige Aufmerksamkeit erwarten kann, stellt sich immer noch die Frage nach dem ‚Rest‘. Franck erklärt nicht, wie Aufmerksamkeit zur ‚unwiderstehlichen Droge‘ und zum ‚begehrten Einkommen‘ wird. Der materielle und der immaterielle Kapitalismus existieren in Francks Welt nebeneinander, was offensichtlich damit einhergeht, das seine Sicht auf den immateriellen Kapitalismus – sowie seine ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit‘ – dem materiellen inhärent ist.

Resümee und Ausblick Die interdependenten Wandlungen von Beziehung, Selbst und Zeichen, deren Niederschlag im überlieferten Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsdiskurs Cary nachgezeichnet hat, sind von den verschiedenen oben referierten Autoren unterschiedlich konzeptualisiert worden. Kleinspehn etwa spricht hier von einer ‚Distanzierung des Zeichens vom Sinn‘ innerhalb eines Prozesses der ‚Desymbolisierung‘,282 Douglas von der Durchdringung des symbolischen Schleiers (s.o.), während Sennett scheinbar entgegengesetzt von der Verwandlung des Zeichens ins Symbol spricht.283 Daß es sich dabei nicht um eine gegensätzliche Argumentation handelt, wird deutlich, wenn man den qualitativ-dynamischen Charakter dieses Wandels ins Auge faßt. Die Durchdringung des symbolischen Schleiers steht bereits für einen Bedeutungsschwund der Zeichen, die vorher für sich selbst Bestand hatten. Mit der Annahme, hinter dem Zeichen würde eine verborgene Welt liegen, auf die die Geste, die Konvention nur verweist und der die ‚eigentliche‘ Bedeutung zukommt, exponiert sich erst das ‚Symbol‘, das dann entschlüsselt, durchdrungen werden muß, um zum ‚Kern‘, zum ‚Her279 280 281 282

Vgl. Hilpold 2003 Franck 1998: S. 155 Vgl. Hantel-Quitman 2002: S. 47 Vgl. Kleinspehn 1989: S. 150ff. Den Begriff Desymbolisierung gebraucht er hier in Anlehnung an Alfred Lorenzer. 283 Vgl. Sennett 1986: S. 110

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zen‘, zur Wahrheit vorzudringen bzw. versteckt oder kontrolliert werden muß, um nichts oder nur Bestimmtes preiszugeben.284 Der Übergang von der ‚Darstellung der Emotion‘, die leibliches Betroffensein bewirkt, als Mittel des Glaubens und Glaubenmachens zur ‚Verkörperung der Emotion‘, die etwas, was tief im Innern ist, erst auszudrücken versucht einerseits, die Flucht- und Intimisierungsbewegungen bzw. der Rhythmus von Enthüllung, Enttäuschung und Isolation andererseits285 sind Aspekte dieser Dynamik, in denen der sogenannte ‚materiale Rest‘ und der ‚Hunger nach Lebendigkeit‘ am Werke sind. So wäre der ‚materiale Rest‘ dann jener Rest, den die so vollzogene Reflexion und Analyse der menschlichen Welt im Zuge dieses Individualisierungsprozesses übriggelassen hat. „Was die institutionelle Macht seit dem Ende des 19. Jh. interessiert“, schreibt Crary, „ist einfach ein Funktionieren der Wahrnehmung in dem Sinn, daß das Subjekt produktiv, lenkbar, kalkulierbar und darüber hinaus sozial integriert und anpassungsfähig wird.“286 Dieser zunehmend unsichtbar werdenden ‚Macht‘ entspricht ein sozialer Habitus, für dessen Empfinden ‚Autonomie‘ und ‚Kontrolle‘ ausschlaggebende Orientierungsschemata darstellen. Das (ab)lenkbare und (nicht-)kalkulierbare Subjekt, das der Mensch ist, ist daher Teil einer blinden Dynamik dieses ‚Aufmerksamkeitsregimes‘ und den Grenzen der ‚Machbarkeit‘ seiner Bestrebungen. Die mehr oder weniger dominanten Strömungen des psychologischen Diskurses in Form von Bewegung und Gegenbewegung einschließlich ihrer ‚Gegenstände‘ sind in dieser Dynamik verflochten. Nachdem also die Außenwelt nach Abzug aller ‚Innenwelten‘ bis auf wenige Klassen besonders leicht identifizierbarer, manipulierbarer und quantifizierender Merkmale abgeschliffen wurde und die Atmosphären, die den Menschen leiblich spürbar ergreifen, in ‚private Gefühle‘ umgedeutet wurden, entstanden in der Ahnung oder gar Gewißheit, daß da noch etwas ist oder sein müßte, Konstruktionen wie das ‚Es‘ oder der ‚Rest‘ des Zivilisationsprozesses.287 Der ‚Hunger nach Lebendigkeit‘ wäre schließlich zu präzisieren als das Bedürfnis nach dem Erleben der Wirkung eines aktuellen oder erinner284 Vgl. ebd.: S. 102ff u. S. 120. Aus der philosophischen Perspektive Langers wird dies so formuliert: „[…] solange symbolische Formen nicht bewußt abstrahiert werden, werden sie regelmäßig mit dem, was sie symbolisieren, verwechselt. […] Dieses Prinzip bezeichnet die Grenze zwischen dem ‚mythischen Bewußtsein‘ und dem ‚wissenschaftlichen Bewußtsein‘ oder zwischen einem impliziten und einem expliziten Begreifen der Wirklichkeit“ (Langer 1965: S. 240). Was hier ‚Verwechslung‘ heißt, wurde in diesem Kapitel unter ‚Glauben‘ abgehandelt. 285 Vgl. Sennett 1986: S. 60ff, S. 144, S. 379 u. S. 395 286 Crary 2002: S. 16 287 Aus dieser Sicht wäre die Freudsche Lehre, die Konstruktion des Es, zumal ‚Es‘ gegen das Gesellschaftliche gerichtet ist, eine Gegenbewegung, die jedoch eben nicht die Genese des ‚Abgeschliffenen‘ konzeptualisiert, sondern das Abgeschliffene naturalisiert, ihm dadurch immerhin eine gewisse Wirkung zuschreibt (vgl. Bruder 1993: S. 76ff. Zur historischen Konstruktion des Gegenstands der Psychologie s. ebd.: S. 12ff).

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ten Gegenübers, die von einer bereits durchlaufenen Alterierung stammen (als innere Schleife, angeeigneter Selbstbezug) oder durch aktuelle Affizierung jeweils hergestellt werden kann. Der suchtartige Charakter dieses Bedürfnisses entsteht, wenn die Reize, die zur Befriedigung dienen sollen, tendenziell keine emotionalen, sondern nichtssagende Reize sind,288 was einfach bedeutet, daß sie nicht in einen menschlichen Kontext eingebunden sind, daß sie nicht bedeutungshaft sind. Das, was wir als Rest oder Es bezeichnen, wäre der Andere, der uns leibhaftig affizieren kann, statt einzelne Teile unseres Körpers zu stimulieren oder kurzzeitig Aufmerksamkeit zu erzeugen. Im Hinblick auf den Prozeß der Individualisierung ist zu betonen, daß es nicht reicht zu sagen, daß die Beziehungen zum Gegenüber irrelevant werden. Das Subjekt des verstärkten Selbstbezugs ist gleichzeitig das in bestimmter Hinsicht irrelevant gewordene Gegenüber und umgekehrt. Die andere Seite der ‚Präsenz als Produkt von Simulation‘ mittels Aufmerksamkeit ist der ‚Sog in die Monade‘.

d) Fazit: Zum Verhältnis von Alterität(-stheorie) und Zivilisation(-stheorie) Der zivilisatorische Wandel der Erkenntnisdynamik: Der reine Blick „ […] Barbarei ist […] die Frage nach dem Interesse am Interesselosen aufzuwerfen.“289

Die von Elias als ein Aspekt des Zivilisationsprozesses konstatierte und zudem als ‚Selbstdistanzierung‘ favorisierte (Affekt-)Neutralisierung der Wahrnehmung stellt als Prozeß und Ideal nichts anderes dar, als den beschriebenen Bedeutungsverlust der Zeichen. Der in dieser Form zivilisierte Blick bzw. ein entsprechendes Empfindensmuster scheint auch Elias’ Sicht selbst eigen zu sein. In Zusammenhang mit dem Aufkommen der Perspektivmalerei im 15. Jahrhundert und der Verwendung des Spiegels als Hilfsmittel als Indikator einer neuen Stufe der Selbstdistanzierung heißt es: „Ein Spiegel zeigt einem einen selbst in einer Weise, die man ohne ein solches technisches Hilfsmittel niemals erreichen könnte. Er zeigt Menschen sich selbst in der Weise, in der sie normalerweise nur von anderen gesehen werden.“290 Die Annahme, die dieser Aussage zugrunde liegt, ist die der Möglichkeit einer ‚reinen Wahrnehmung‘. Die Fähigkeit, sich 288 Vgl. zur Unterscheidung von nichtssagenden und emotionalen Reizen: LeDoux 2001: S. 311f. 289 Bourdieu 1987: S. 390, Herv.i.O. 290 Elias 2003: S. 69. Hier wird deutlich, wie radikal anders stellenweise die Selbstkonstituierung, die Aneignung der Außenperspektive bei Elias im Vergleich zu Mead gedacht ist.

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selbst ‚durch die Augen‘ anderer Menschen zu sehen, und auch das Ziel, dies zu tun, zeugten von einem recht hohen Distanzierungsniveau. Man muß sich dazu von sich entfernen, um aus einer Entfernung sich selbst anzuschauen, doch durch welche ‚Augen‘ man dies tut, scheint beliebig zu sein. Vielleicht ist sogar der von Affektivität, Leib, Gedächtnis und subjektiver Perspektive, von Andershaftigkeit reine Spiegel das beste Hilfsmittel dazu. Etwas deutlicher wird das Ideal reiner Wahrnehmung bei Elias’ Auseinandersetzung mit einem Selbstportrait Rembrandts, bei dem sich ihm folgendes Problem stellt: „[…] warum sollte aus einem Gesicht, das ein wenig abstoßend wirken könnte, wenn man seinem Besitzer im wirklichen Leben begegnet, ein großes Gemälde werden, wenn es ohne jeden Versuch, den Verfall zu verbergen, porträtiert und auf der Leinwand in zwei Dimensionen gezeigt wird?“291 Einen Grund dafür sieht er in der unterschiedlichen Fokussierung der Aufmerksamkeit durch Begegnung mit der wirklichen Person und durch das Gemälde. Die wirkliche Person spreche uns an, wohl oder übel würden wir involviert, das gemalte Gesicht aber spreche stumm zu uns, und wohl gerade deshalb „spricht es zu uns mit größerer Intensität von der Conditio humana, als das Gesicht eines Menschen dies könnte, wenn wir seinem Besitzer leibhaftig begegnen würden.“292 Die größere Intensität bezieht sich auf ‚sekundäre Formen des Engagements‘, die mit der gesteigerten Distanzierung ermöglicht werden. Das menschliche Gesicht, daß immer der visuelle Ausdruck eines Geheimnisses sei, werde erst in seiner menschengeschaffenen Nachbildung, man könnte allgemeiner sagen durch die (vermeintliche) Freisetzung des Blickes vom ‚primären‘ Involviertsein und wohl auch vom primären Involvieren, zu einer Herausforderung an die Imagination.293 Es spricht nicht für sich, sondern muß im Hinblick auf dahinter Verborgenes entschlüsselt werden. Das Ideal der reinen Wahrnehmung, das Crary als den ‚Traum von inhumaner Unmittelbarkeit‘ bezeichnet hat, bedarf eines entleibtes Auges und eines ganz in der Gegenwart befangenen Bewußtseins.294 Dieser ‚zivi291 Elias 2003: S. 82 292 Ebd.: S. 82f, Herv.v.mir. „Die wirkliche Person spricht uns an, wie kurz die Begegnung auch sein mag und wie sehr wir auch unsere Gefühle auf den verfallenden alten Mann richten mögen, entweder selbstlos mit Sympathie und Mitleid oder eigensüchtig mit Abscheu und dem Wunsch, sich der unangenehmen Begegnung zu entziehen; wortlos fleht das wirkliche Gesicht uns um Hilfe an“ (ebd.: S. 82). 293 Vgl. ebd.: S. 62f u. S. 85f 294 Vgl. Crary 2002: S. 253. Vgl. Crary zu Vorstellungen reiner Wahrnehmung in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts: Crary 1996: S. 99ff; ders. 2002: S. 45, S. 252f. Diese Vorstellung als Ideal der Wahrnehmung findet Crary auch bei Karl Marx: „Selbst für Marx waren die historische Trennung und die zunehmende Spezialisierung der Sinne […] Bedingungen für eine Moderne, in der die Anlagen der Menschen voll verwirklicht werden könnten. Marx betrachtete nicht die Trennung der Sinne unter den Bedingungen des Kapitalismus als Problem, sondern deren

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lisierte Blick‘, der aufgrund seiner Reinheit Kontrolle und Genuß gleichermaßen ermöglicht, steht bei Elias zwar in Interdependenz mit der Verringerung der Machtdifferentiale in Beziehung zur außermenschlichen Natur und zu anderen Menschen. Der fehlende Verweis in diesem Gedankengebäude aber ist der, daß der so beschaffene Blick als besonderer Distinktionsmechanismus selbst Produzent und Reproduzent der Machtstrukturen und Beziehungsqualitäten ist, insofern er eben nicht nur auf Natur und Gegenstände, sondern auch auf Menschen fällt, nicht zuletzt auf den nicht oder weniger zivilisierten – heißt hier: neutralisierten – Blick, ja diesen erst konstituiert bzw. entsprechende Widerstände und Gegenbewegungen bedingt. Diesen Zusammenhang hat Pierre Bourdieu als die Interdependenz des ‚reinen‘ und des ‚naiven‘ Blickes bzw. der ästhetischen und der populären Kultur untersucht. Einerseits gehe es dem ästhetischen – man könnte verallgemeinert sagen: dem zivilisatorischen – Diskurs bei seinem Versuch der Durchsetzung einer Bestimmung des eigentlich Menschlichen letzten Endes um das ‚Monopol auf Menschlichkeit‘, andererseits beinhalte der ‚reine Blick‘ einen Bruch mit der alltäglichen Einstellung zur Welt, und bezeichne darin auch gerade einen Bruch mit der Gesellschaft, eine ‚systematische Ablehnung des Menschlichen‘.295 Die Ablehnung jeder Art von Involviertsein, die Distanziertheit, Interesselosigkeit und Gleichgültigkeit sind tendenzielle Kennzeichen des zivilisierten im Sinne des gereinigten Blickes. Natürlich wird weder der Leib unwirksam, noch verschwindet das Interesse, vielmehr verweist dieser Zivilisationsprozeß jenseits der von Elias selbst und von Bourdieu vornehmlich untersuchten Selbstwertdynamik auf eine Selbst-Beziehungs-Dynamik, die es als zivilisatorische Beziehungsdynamik noch zu umreißen gilt. Vorab soll jedoch in einem kleinen Zwischenschritt die Problematisierung des Selbst in Zusammenhang mit dem reinen Blick anhand von Sartres Kategorie des Blickes als Vorstufe zur Alteritätstheorie betrachtet werden.

Entfremdung durch Besitzverhältnisse. In einer Art Neuformulierung von Müllers Theorie der spezifischen Sinnesenergien sagte Marx 1844 eine emanzipierte gesellschaftliche Welt voraus, in der die Differenzierung und Autonomie der Sinne sogar noch verstärkt wird: ‚Dem Auge wird ein Gegenstand anders als dem Ohr, und der Gegenstand des Auges ist ein andrer als der des Ohres. Die Eigentümlichkeit jeder Wesenskraft ist gerade ihr eigentümliches Wesen, also auch die eigentümliche Weise ihrer Vergegenständlichung, ihres gegenständlich-wirklichen, lebendigen Seins.‘ Marx klingt hier wie ein Modernist, der die Utopie einer interesselosen Wahrnehmung postuliert, einer Welt ohne Tauschwert, in der das Sehen sich selbst genügt“ (Crary 2002: S. 99f, Herv.i.O.). 295 Vgl. Bourdieu 1987: S. 766 u. S. 62

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Der Blick bei Sartre „Was will ich sagen, wenn ich von diesem Gegenstand behaupte, daß es ein Mensch ist?“296

Die Kategorie des Blickes bei Sartre, die der Alteritätstheorie als Ausgangspunkt dient, ist zivilisationsspezifisch insofern, als sie als Reaktion auf den zivilisierten Blick sowohl zivilisierte Züge in sich trägt als auch auf eine Entzivilisierung des Blickes hinarbeitet. Die zivilisatorischen Züge finden sich in einem negativen Machtbegriff, der einer negativen Erfahrung einer bestimmten Macht entspricht sowie komplementär dazu einer tendenziell einseitigen Konzeptualisierung des Blickes. Die Gegentendenz besteht darin, dem Auge die Leiblichkeit wiederzugeben. Beim selbstkonstituierenden Wahrgenommenwerden ist das Auge als Sinnesorgan des Sehens für Sartre recht uninteressant, es ist lediglich ‚Träger des Blicks‘. Der Blick sei weder eine unter anderen Qualitäten des Objekts, das als Auge fungiert, noch die totale Gestalt dieses Objekts, noch ein ‚weltlicher Bezug‘, der zwischen diesem Objekt und mir entsteht: „Ganz im Gegenteil, statt den Blick an den Objekten, die ihn manifestieren, wahrzunehmen, erscheint mein Erfassen eines auf mich gerichteten Blicks auf dem Hintergrund der Zerstörung der Augen, die ‚mich ansehen‘: wenn ich den Blick erfasse, höre ich auf, die Augen wahrzunehmen […].“297 Der Blick steht für die Andershaftigkeit, die sich eben der isolierten Betrachtung und Untersuchung entzieht: „Wahrnehmen ist anblicken, und einen Blick erfassen, ist nicht ein Blick-Objekt in der Welt erfassen (außer, wenn dieser Blick nicht auf uns gerichtet ist), sondern Bewußtsein davon erlangen, angeblickt zu werden.“298 Hier findet wie bei Schmitz eine Hervorhebung der ‚menschlichen‘ Sphäre statt, die sich einer bestimmten Form des Sehens entzieht, wenn Sartre etwa schreibt, das Sein wird nicht durch seinen Bezug zu den Orten, durch seinen Längen- und Breitengrad situiert, sondern in einem menschlichen Raum, für dessen Beschreibung allerdings nach den ganzen ‚Entzauberungsprozessen‘ scheinbar nur noch der Begriff der ‚Magie‘ übrigbleibt. Es sei die Kategorie ‚magisch‘, die die zwischenmenschlichen Beziehungen und unsere Wahrnehmung Anderer beherrsche: „Es gibt eine existentielle Struktur der Welt, die magisch ist. […] Das Magische ist […] eine irrationale Synthese aus Spontaneität und Passivität. […] So ist der Mensch für den Menschen immer ein Zauberer, und die soziale Welt ist zunächst magisch.“299

296 297 298 299

Sartre 1993: S. 459 Ebd.: S. 466 Ebd.: S. 467, Herv.i.O. Sartre 1997: S. 311

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Das als magisch Bezeichnete ist eine Realität der leiblichen Kommunikation, der Affektivität. Der Körper, so Sartre, sei das psychische Objekt par excellence, das einzige psychische Objekt. Seine Wahrnehmung ist von Anfang an von einer besonderen Struktur, und daher „bedarf es keines Rückgriffs auf die Gewohnheit oder auf den Analogieschluß, wenn wir erklären wollen, daß wir das Ausdrucksverhalten verstehen: dieses Verhalten bietet sich der Wahrnehmung von Anfang an als verstehbar dar; sein Sinn gehört zu dessen Sein wie die Farbe des Papiers zum Sein des Papiers.“300 Die Spontaneität und Passivität kennzeichnen den Affekt der Scham, der sich einstellt, wenn das Subjekt sich als ‚beurteilt‘, ‚angeblickt‘ weiß, wodurch das Wort ‚Affekt‘, so Seidler, seine eigentliche Bedeutung gewinne: „Das entsprechende Erleben widerfährt einem, wird von außen ‚affiziert‘.“301 Entsprechend ist es meine Gewißheit von der Existenz der Anderen, die zwischenmenschliche Erfahrungen möglich macht. Die Antwort auf die Frage, warum es andere Menschen gibt, ist: Es ist so!302 Wenn ich aber von einem Gegenstand sage, daß es ein Mensch ist, dann spreche ich von einem Gegenstand, der mit seiner eigenen Perspektive in meiner Welt auftaucht. Das Erscheinen des Anderen lasse einen Aspekt in der Situation erscheinen, den ich nicht gewollt habe, dessen ich nicht Herr bin und der mir grundsätzlich entgeht, weil er ‚für den Anderen‘ ist:303 „Erscheint also unter den Gegenständen meines Universums ein Element der Desintegration eben dieses Universums, so nenne ich das das Erscheinen eines Menschen in meinem Universum. Der Andere, das ist zunächst die permanente Flucht der Dinge auf ein Ziel hin, das ich gleichzeitig in einer gewissen Distanz von mir als Gegenstand erfasse und das mir entgeht, insofern es um sich herum seine eigenen Distanzen entfaltet.“304

Das entsprechende Erleben dieser unfaßbaren Subjektivität, die mich erst objektivieren kann, ist die Scham, die vor der Wertung angesiedelt ist, als Realitätswertung: „Die reine Scham ist nicht das Gefühl dieses oder jenes tadelnswerte Objekt zu sein, sondern überhaupt ein Objekt zu sein, das heißt, mich in diesem verminderten, abhängigen und erstarrten Objekt, das ich für den Anderen bin, wiederzuerkennen.“305 300 301 302 303 304 305

Sartre 1993: S. 612, Herv.i.O. Seidler 2001a: S. 36 Vgl. Sartre 1993: S. 502 u. 536f Vgl. ebd.: S. 459ff u. S. 478f Ebd.: S. 461, Herv.i.O. Ebd.: S. 516. Es wäre im Übrigen ein fataler Fehler Sartres ‚Blick des Anderen‘ vermeintlich figurationssoziologisch auf den Blick der Anderen zu erweitern. Sartre hat zwar sehr wohl einen figurationsorientierten Ansatz, dennoch betont er, daß der im Blick bei mir anwesende Subjekt-Andere sich nicht in Pluralitätsgestalt darbietet, die Pluralität gehört den Objekten

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Obwohl Sartre sich hier auf die basale Wahrnehmung jenseits von Erfahrung und Wertung zu beziehen meint, ist der Blick ein spezifischer, nämlich ein objektivierender, mein Wahrgenommensein hat den Status eines Verminderten, Abhängigen, Erstarrten. Der Blick ist bei Sartre auch die auf meine wehrlose Objektheit gerichtete Waffe, die mich den Tod meiner Möglichkeiten erfassen läßt.306 Das reine Objekt-Sein entspricht dem reinen Blick bzw. der reinen oder nackten Macht. Diese beiden Aspekte entstehen durch die tendenzielle Einseitigkeit der ‚Beziehung‘ bei Sartre. Dies wird etwa an einem Beispiel deutlich, das er zur Veranschaulichung seiner Kategorie des Blicks anbringt: „Wenn dieser dicke und häßliche Passant, der sich hüpfend auf mich zubewegt, mich plötzlich ansieht, ist es mit seiner Häßlichkeit, seiner Dicke und seinem Gehüpfe vorbei […].“307

In dem Moment, in dem er mich anblickt, wird er in seiner Subjekthaftigkeit wirksam. Doch wer weiß, wie und ob er blickt, wenn er den vorangegangen Blick erblickt, das Wahrgenommenwerden als Dickes, Häßliches und Hüpfendes wahrgenommen hat? Man könnte sagen, was bei Sartre fehlt, ist eine Vorstellung von eigener Schuldhaftigkeit, von Intentionalität, vielleicht die zeitspezifische mangelnde Erfahrung, mit eigener Expressivität etwas in der Welt ausrichten zu können, was zu dieser Akzentuierung der Wehrlosigkeit und des Ausgeliefertseins führt.308 an. Die im Blick erfahrene Realität ist die ‚pränumerische Anwesenheit der Anderen‘ (vgl. ebd.: S. 504). 306 Vgl. ebd.: S. 476 307 Ebd.: S. 496 308 Daß der Erfahrungshintergrund der Phänomenologie Sartres und seiner Beziehung zur Macht nicht ‚Ausnahmezustände‘ gewesen sind, sondern zeitspezifische Beziehungsstrukturen, wird bei Mary Douglas mit Verweis auf Sartres Biographie vertreten: „Wer als Kind im positionalen System aufgewachsen ist und ‚weiß, wohin er gehört‘, wird kaum die Angst nachvollziehen können, die Sartre mit so brennender Eindringlichkeit in Les Mots, der Biographie seiner ersten zehn Lebensjahre, geschildert hat. Sartre und seine verwitwete Mutter waren damals kaum mehr als Anhängsel im Haushalt eines tyrannischen und theatralischen Großvaters, Objekte der emotionalen Selbstbestätigung der Großeltern. Von Kindesbeinen an wurde Sartre von dem Bewußtsein gequält, daß seine Existenz durch nichts gerechtfertigt sei. Es gab um ihn herum keine nach allgemeinen Alters- und Geschlechtskategorien gestufte Gesellschaft, die ihm das Gefühl hätte vermitteln können, in eine zur Vollständigkeit des Gesamtmusters unentbehrliche Position hineinzuwachsen. Nur daß er ‚vielversprechend‘ war und die ersten Anzeichen künftigen Genies entwickelte, konnte seine Existenz in der ihn umgebenden amorphen Erwachsenenwelt rechtfertigen, in der man auf sehr wenig überzeugende Weise vorgab, ihn wegen seines liebenswerten Wesens gern zu haben. Der Zusammenhang dieser seine ganze Kindheit beherrschenden Angst mit seiner späteren Philosophie ist unübersehbar. Nach Bernstein ist das Problem der Selbstrechtfertigung typisch für die personale Familie […]“ (Douglas 1986: S. 51f).

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Daß die Basis für das, was Menschen als ‚wirklich‘ gilt, eine affektive Basis ist, daß das Affizierende als mächtig erlebt wird, und dieses Element der Macht ein entscheidender Faktor in dem bleibt, was Menschen als ‚wirklich‘ bewerten, das kann man mit Sartre Elias309 entgegensetzen, gilt im Bereich des Zwischenmenschlichen nicht nur für einfache Völker, sondern für Menschen überhaupt, auch für hoch zivilisierte Menschen. Zeitspezifische Ausgestaltung erfährt jeweils die Erfahrung dieser Macht/Affizierung durch ein Gegenüber und entsprechend der Umgang damit. Das Empfindensmuster, das bei Sartre (re-)präsentiert ist, stellt tendenziell die Beziehungsdynamik auf der nicht-reflektierten Position dar, gegen die er durch seine Bearbeitung des Themas gleichzeitig angeht. Diese Konzeptualisierung der Scham mit den Komponenten reines Objekt, reiner Blick/reine Macht und die tendenziell einseitige Beziehung konnte nur durch Revision aller Komponenten überwunden werden, so daß diese Konzeptualisierung selbst wiederum konzeptualisiert werden konnte. Seidler ging diesen Weg, als er die Leiblichkeit des Blickes übernahm, jedoch Qualitäten des Blickes in subjektivierend und objektivierend differenzierte, die Prozeßhaftigkeit der Scham hervorhob, wobei die basale Realitätszuschreibung dem Unbehagen vorgeschaltet wurde, welches erst sekundär hinzutrat. Dadurch schließlich, daß so die Wechselseitigkeit der Beziehung (wieder)hergestellt wird, wird dem Subjekt seine eigene Schuldhaftigkeit zugänglich. Letzteres wird erst möglich, wenn der Andere nicht einfach auftaucht und mich anblickt, sondern meine Intentionalität seinem Blick vorangegangen ist, und hier setzte Seidlers Konzeptualisierung der ‚Scham‘ wie des ‚Selbst‘ bemerkenswerterweise an.

309 Vgl. Elias 1990a: S. 371f

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Der zivilisatorische Wandel der Beziehungsdynamik: Der Sog in die Monade Als Narziß starb, da wandelte sich der Teich seiner Freude aus einem Becher süßen Wassers in einen Becher salziger Tränen, und die Oreaden kamen weinend den Wald daher, um dem Teiche zu singen und ihn zu trösten. Und als sie sahen, daß sich der Teich aus einem Becher süßen Wassers in einen Becher salziger Tränen verwandelt hatte, da lösten sie die grünen Flechten ihres Haares, schrien weinend auf und sagten: „Wir sind nicht verwundert, daß du in solcher Weise über Narziß trauerst, so schön war er.“ „War denn Narziß schön?“, sagte der Teich. „Wer wüßte das besser als du?“, antworteten die Oreaden. „An uns ging er immer vorüber, aber dich suchte er auf, um an deinem Ufer zu liegen, auf dich hinabzuschauen und in dem Spiegel deines Wassers seine eigene Schönheit zu spiegeln.“ Und der Teich antwortete: „Ich aber liebte den Narziß, wenn er an meinem Ufer lag und auf mich niederschaute, denn in dem Spiegel seiner Augen sah ich immer meine eigene Schönheit.“310

Der gemeinsame Nenner aller in diesem Kapitel aus der Sicht verschiedener Autoren umrissenen Aspekte der ‚Individualisierung‘ – Verlust väterlicher Autorität (im Sinne Sennetts), Egalisierungstendenzen, Desymbolisierungstendenzen, Dominanz der Funktion über den Inhalt und Isolierungstendenzen im Zwischenmenschlichen – findet sich im Konzept der destruktiven narzißtischen Dynamik von Seidler wieder.311 Berücksichtigt man die Genese des sogenannten hoch individualisierten sozialen Habitus aus verschiedenen Perspektiven, so erweist sich doch, daß es sich weder bei dieser Übereinstimmung um einen Zufall noch bei der Rede von narzißtischen gesellschaftlichen Tendenzen um eine unzulässige Übertragung eines klinischen Bildes auf ‚Gesellschaft‘ und somit um deren kulturpessimistisch motivierte Pathologisierung handelt. Im Grunde handelt es sich um die grundlegende zivilisationstheoretische These von der Interdependenz von Sozio- und Psychogenese, die hier in spezifischer Weise offen zutage tritt. Seidler charakterisiert einerseits das klinische Bild des destruktiven Narzißmus durch die scheinbare Widersprüchlichkeit, die darin 310 Wilde 1973 311 Vgl. Seidler 1994. In diesem Sammelband „Das Ich und das Fremde“ werden von verschiedenen Autoren u.a. gesellschaftliche Phänomene aus psychoanalytischer Perspektive beleuchtet.

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zum Ausdruck kommt, daß eine individuelle Psychodynamik, die häufig genug vom Symptombild her mit der Auflösung von Bindungen und einem Rückzug aus sozialen Zusammenhängen einhergeht, so rasch zur Notwendigkeit führt, gesellschaftliche Dimensionen mit einzubeziehen; daß sich die spezifische Dynamik offenbar eher im ‚Außen‘, in der äußeren sozialen Realität als im ‚Innen‘, einem virtuellen seelischen Binnenraum, abspielt und sich dort als psychopathologisch faßbares Symptom darstellt.312 Andererseits konstatiert er einen allgegenwärtigen Verlust väterlicher Autorität in der Gesellschaft, der darüber hinaus als nur eine Erscheinungsform des Verlustes der ‚dritten Position‘ als verdichtender Bezeichnung für Transzendenz, für Alternative, für Maßstab, Grenze und ‚Vater‘ gelten könne.313 Nach meinem Wissen findet sich bisher in der soziologischen Diskussion kaum eine hinreichende Problematisierung solcher Tendenzen, geschweige denn annähernde Erklärungsversuche. Ausgenommen davon ist der Strang der Narzißmustheorie, die jedoch neben den Problemen mit den aus der Psychoanalyse übernommenen Elementen auch stark belastet ist durch die Beliebigkeit der Phänomene, die als narzißtisch beschrieben wurden, so daß oft alles zu verschwimmen droht, sobald von Narzißmus die Rede ist. Doch die tendenzielle inhaltliche Beliebigkeit der ‚Symptome‘ hängt selbst mit dem beschriebenen Bedeutungsverlust, der Desymbolisierungs- und Egalisierungstendenz zusammen. Die Plastizität der Symptome könnte der Außengerichtetheit der Dynamik entsprechen, so daß gesellschaftliche, sogenannte ‚lizenzierte‘ Angebote jeweils individuell umgesetzt werden. Auf jeden Fall entspricht sie aber der Austauschbarkeit und Beliebigkeit, die das Leben des hoch individualisierten Menschen bestimmt. So formulieren Greß u.a. zur Plastizität der Symptome: „Gesellschaftlich wäre daran zu denken, daß es gleichgültig ist, auf welchem Wege Profit maximiert wird, daß es gegenüber der abstrakten Größe Kapital gleichgültig und beliebig ist, auf welchem Wege und über welche Verhaltensweisen sie erworben wird.“314 Gerade diese Beliebigkeit verweist aber auf die Notwendigkeit, die zugrundeliegende Dynamik, die sich eher auf der modalen Ebene abspielt, zu präzisieren. Seidler unterscheidet u.a. das ‚lärmende‘ und das ‚stille‘ Erscheinungsbild. Der zentrale psychodynamische Wirkungsablauf beim ‚lärmenden‘ Erscheinungsbild betrifft die Ausstoßung von als fremd identifizierten Erlebnisinhalten in einer noch oder nicht mehr symbolhaft dargestellten Gestalt. Die Symbolisierungsfähigkeit für affektives Erleben ist hier eingeschränkt. Während bei dieser nach außen orientierten Destruktivität das Gegenüber noch als Anderer erfahren wird, ist die ‚stumme‘ Form bereits Ausdruck einer stattgehabten Zerstörung der ‚dritten Position‘:

312 Vgl. Seidler 1994a: S. 15 313 Seidler 1994: S. 8 314 Greß u.a. 1994: S. 110

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„Sie leben zunehmend zurückgezogen, unterhalten kaum noch manifeste Kontakte zu anderen Menschen und haben sich häufig einer Privatwelt aus Computertechnik und Kopfhörer-Musik zugewandt. Ein wechselseitiger affektiver Kontakt ist zu ihnen nur schwer herzustellen. […] Auf der Grundlage einer nicht verfügbaren Phantasie von Ungeschiedenheit wird beim Gesprächspartner ein Wissen darum vorausgesetzt, was selber gedacht und gefühlt wird und was deshalb nicht mehr expressis verbis mitgeteilt werden muß.“315

Als eine weitere Variante (nicht-)interaktioneller Ausgestaltung wird die narzißtische Kollision in der Paarbeziehung genannt, bei der die Zerstörung des jeweiligen Gegenübers kurz vor der Vollendung sistiert, die Destruktion in der Schwebe gehalten wird. Diese Nähe-Distanz-Regulierung wird als Jo-Jo-Beziehung bezeichnet. Während bei diesen interaktionsorientierten Erscheinungsbildern die Funktionalisierung der Beziehung auf die eine oder andere Weise der Psychisierung im Wege steht, ist schließlich noch das psychosomatische Erscheinungsbild zu nennen, bei dem die Verkörperlichung des Leidens als Alternative zur Symbolisierung besteht.316 Der gemeinsame Zug dieser Phänomene wird in einer ‚Tendenz von triebhafter Qualität zur Elimination von Störendem, Fremden‘, der ‚dritten Position‘ gesehen, eine Intoleranz gegenüber den Begrenzungen der Realität,317 zu der die Personalität des Anderen vor allem gehört. Wie im vorangehenden Kapitel ausgeführt, versteht Seidler unter ‚Verfügbarkeit der dritten Position‘ die Fähigkeit, mit der die eigene Person in Anwesenheit von jemand anderem Gegenstand der eigenen Aufmerksamkeit werden kann und so der passiven Wahrnehmung durch andere eine Objektivierung der eigenen Person entgegengesetzt werden kann. Ist diese nicht verfügbar, tendiert jede Dyade zur Monade. Auf der Position Narziß wird das Gegenüber bekämpft, wenn es in seiner Abgegrenztheit spürbar wird. Da die Funktion des Gegenübers als Substitut der Selbstwahrnehmung seine Personalität überragt, ist seine Elimination einerseits überlebensbedrohlich, andererseits kann es beim Verlust schnell ersetzt werden. Diese Austauschbarkeit ist möglich, weil der Schamaffekt als ‚Grenzwächter‘, man könnte hier auch sagen als Bedeutungsgarant, nicht zur Verfügung steht.318 Der Bedeutungsverlust bei Nichtverfügbarkeit des Schamaffekts, der bei Seidler als Desymbolisierung bezeichnet ist, geht einher mit dem Verlust von Urheber-Erleben, Täterschaft und Verantwortung,319 des Wissens um die eigenen Spuren beim Gegenüber. Woran es hier mangelt, ist die Existenz bzw. Wirksamkeit einer ‚assimilierbaren Alterität‘, einer „interaktio-

315 316 317 318 319

Seidler 1994a: S. 13, Herv.i.O. Vgl. zu den verschiedenen Erscheinungsbildern ebd.: S. 10-14 Vgl. ebd.: S. 10f Vgl. Seidler 2001a: S. 206, S. 213 u. S. 319 Vgl. Seidler 1994a: S. 21

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nellen“ Antwort, die nun zum therapeutischen Prinzip erhoben wird.320 In Seidlers Verständnis geht es auf der Ebene des Narziß um die Arbeit an einer ‚Wahrnehmungsbeziehung‘, man könnte sagen um die Realisierung von Beziehung im basalen Sinne, und damit einhergehend um die Objektivierbar-, Teilbar- und Symbolisierbarwerdung von Befindlichkeiten, um den Übergang von Gelebtem zu Erlebtem, um Kreation von Bedeutung in interaktionellen Akten.321 Ich hoffe, es ist deutlich geworden, warum das Ergebnis dieses Zivilisationsprozesses weder ein neutralisierter Leib, noch die Entstehung einer dritten Natur, geschweige denn ein brodelnder, nach Abfuhrventilen suchender Dampfkessel sein kann. Jede Tendenz zum Bedeutungsschwund führt zu Bedeutungsgewinnungsversuchen. Sowohl der individuelle als auch der gesellschaftliche Zivilisationsprozeß, letzterer nicht zuletzt in seinem intergenerationellen Moment, sind von dieser Dynamik betroffen. Mary Douglas hat diesen Sachverhalt implizit in dem erklärungsbedürftigen Paradox erfaßt, daß gerade diejenigen, die sich mit Abscheu von allen Arten des Rituals abwenden (bzw. ihr jeweiliges Gegenüber), ein ausgesprochenes Bedürfnis nach nicht-verbaler Kommunikation haben, jene Antiritualisten, die sie treffend als ‚rituelle Bettler‘ bezeichnet.322 Der Wandel der nicht-verbalen Kommunikation betrifft den Kern des Zivilisationsprozesses. Paradigmatisch für Douglas’ rituelle Bettler in ihrer hoch zivilisierten/individualisierten Phase sei etwa die von Hinz als zivilisatorisch integrative Maßnahmen in Aussicht gestellten ‚Inszenierungen der Emotionen‘ genannt oder ähnlich die von Wouters favorisierte ‚Befreiung der Emotionen‘ und deren ‚Ausleben‘. Die Psychoanalytikerin Diebel-Braune schreibt in einem Aufsatz mit dem Untertitel „Die psychisch entleerte Welt der schönen Dinge“ über die ständig mit ihrem eigenen und anderen Körpern beschäftigten Menschen, daß sie sich auf eine äußere Schicht 320 Vgl. Heigl-Evers/Heigl 1988. „Der Psychoanalytiker stellt sich emotionalauthentisch als ein ‚Therapeut zum Anfassen‘, wie eine Patientin es einmal nannte, zur Internalisierung und Strukturierung zur Verfügung“ (ebd.: S. 96). Die Erarbeitung dieser gegenüber dem klassischen Interventionsinstrument der ‚Deutung‘ stärker beziehungsorientierten Interventionsform ist nach Seidler Ausdruck des beschriebenen Paradigmenwechsels in der Psychoanalyse (vgl. Seidler 1999: S. 46). Während bei der klassischen Form der Therapeut mit seinem eigenen Erleben für den Patienten nicht erlebbar wird, „intendiert die ‚Antwort‘ eine erhöhte Aufmerksamkeitszuwendung des Subjektes auf dessen eigenes Erleben gerade über die – selektiv-authentische […] – Mitteilung des Erlebens auf Seiten des therapeutischen Gegenübers. […] Dieses Erleben ist für den Patienten zunächst fremd. Deshalb muß der Therapeut sowohl die Qualität des Affektes, den er als eigenen äußert, wie auch dessen Intensität ‚selektiv‘ im Hinblick auf die ‚Alteritätstoleranz‘ des Patienten – seine Fähigkeit, Fremdes in einer Wechselseitigkeitsbeziehung zu tolerieren – dosieren […]“ (ebd.: S. 65, Herv.i.O.). 321 Vgl. Seidler 1995: S. 100 u. S. 110 322 Vgl. Douglas 1986: S. 37 u. S. 77

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konzentrierten, die nicht ins individuelle Erleben führt und: „Unsere Gesellschaft bietet massenhaft Stereotype, die zu erfüllen oder zu erkaufen der ‚Gefahr‘ individuellen Erlebens entgegenwirken.“323 Auch hier könne eine Überbesetzung des Ästhetischen, die Orientierung an Dingen und ‚Körpern‘ die symbolische Repräsentation ‚ersetzen‘. Und schließlich sei zur gesellschaftlichen Dimension des destruktiven Narzißmus noch der Beitrag der Psychoanalytikerin und Erziehungswissenschaftlerin Annegret Overbeck „‚Der Vater stinkt‘. Von der kulturellen Entwertung der Vaterrolle und dem Verlust der väterlichen Dimension in der Erziehung“ erwähnt, der das intergenerationelle Moment der Zivilisation betrifft. Die Entwicklung des Generationenverhältnisses, die bekanntlich vom ‚Gleichheitsideal‘ nicht unberührt geblieben sei, und die, wie Overbeck schreibt, von einer ‚mimetischen Angleichung von Erwachsenen und Kind bei gleichzeitiger Verwerfung von Differenz und Autorität‘ bestimmt sei, welche das Erziehungsverhältnis in Elternhaus und Schule durchdrungen habe, wird hier aus psychodynamischer Perspektive beleuchtet. Die Schule wird von ihr als ein Milieu beschrieben, dessen strukturelles Kennzeichen die Abwesenheit des Anderen und die Abwesenheit konkreter Gegenseitigkeit sei. Was in jeder Begegnung von Erwachsenen und Jugendlichen notwendig sei, sei ein Rahmen, ein Katalog von Regeln, Grenzsetzungen. „Die Regeln“, so heißt es, „geben der zwischenmenschlichen Situation den Charakter der Verbindlichkeit, sie bemühen sich im Voraus um strukturierenden Halt, um Klarheit, Eindeutigkeit und Angemessenheit des Umgangs in konkreter Interaktion.“324 Ein solcher Rahmen diene als Beweis der Existenz anderer Subjekte. Ob ein Katalog von Regeln dergleichen zu vollbringen vermag, sei dahingestellt. Das hier ansatzweise skizzierte Verständnis von ‚Individualisierung‘ ist bisher vornehmlich unter der Frage diskutiert worden, ob eine Verschiebung von ödipalen zu präödipalen Störungen in entwickelteren Gesellschaften stattgefunden hat. Dazu wurden verschiedene Standpunkte über den Prozeßverlauf und dessen Bewertung diskutiert (s. Kap. IV). Bei Elias, dessen homo clausus weiter im Ödipalen verbleibt, haben wir eine mehr oder weniger positive Bewertung des (affekt)neutralisierten im Sinne des selbstregulierten Subjekts. Unter jenen Autoren, die von einer Tendenz zum Präödipalen ausgehen und diese mit gesellschaftlichen Tendenzen in Zusammenhang setzen, gab es grob gesprochen solche, die eine Neutralisierung negativ im Sinne zunehmender Manipulierbarkeit des Subjekts und dessen Ausgeliefertheit an Herrschaftsverhältnisse konstatieren und jene, die von einem relativ unproblematischen ‚integrativen Narzißmus‘ ausgehen, ob nun in Form gesellschaftlich lizenzierter Verhaltensweisen oder selbstkontrollierter Dekontrollierung bei passender, extra inszenierter Gelegenheit, was dem ungestörten Gesamtablauf zweckdienlich sein soll. 323 Diebel-Braune 1994: S. 165 324 Overbeck 1994: S. 50

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Ich habe versucht, zu zeigen, daß alle drei Bewertungen sich auf den Prozeß des Bedeutungsverlusts, der Desymbolisierung bzw. psychischen Entfigurationalisierung und der daraus entstehenden Dynamik beziehen. Hinsichtlich der Frage, ob überhaupt ein solcher Prozeß stattgefunden habe und wie dieser zu erfassen sei, wovon wir eigentlich sprechen, wenn wir von narzißtischen gesellschaftlichen Tendenzen sprechen, besteht die Hauptschwierigkeit im Selbstverständnis der zuständigen Wissenschaften und deren Verständnis von Interdisziplinarität. Was hier immer wieder zur Diskussion steht, ist der Stellenwert des Habituellen im Prozeß Gesellschaft und das Verhältnis von ‚Habitus‘ und ‚Gesellschaft‘. Der Soziologe und Psychoanalytiker Reimut Reiche, der sich entschieden gegen die These einer Zunahme ‚früher Störungen‘ wendet, bietet etwa folgende Argumentation: Was auf den ersten Blick wie eine bedrohliche Zunahme einer psychischen Störung aussehe, sei quantitativer Ausdruck eines qualitativen gesellschaftlichen ‚Freisetzungs-Syndroms‘, also kein Strukturwandel der Psyche, sondern lediglich ein Symptomwandel. Mit zunehmender Rationalisierung und Dynamisierung der Gesellschaft komme es zu einer zunehmenden ‚Selbstreflexivität‘ auf allen Ebenen, und zwar auf der Ebene der Persönlichkeit und auf der Ebene der Kultur. Störungen treten nun in ‚ihrem eigenen Namen‘ auf und melden sich als Psychopathologien zu Wort. Dem entspreche eine zunehmende Selbstreflexivität in den Wissenschaften vom Menschen. Der umstrittenen These liege also einerseits ein Artefakt zugrunde, das er als den ‚Ursprungsmythos von der intakten Neurose in einer intakten Familie in einer intakten Kultur‘ bezeichnet, eine Art Ideal der ‚späten Störung‘. Andererseits werde die durch zunehmende Reflexivität gewonnene neue Erkenntnis in dieser These in den Vordergrund gerückt und als zeitspezifische psychische Struktur ausgegeben.325 Auch dieses Artefakt gelte es aufzulösen: „Indem wir mehr über uns erkennen und wissen […] erkennen wir mehr über die frühen (sogenannten primitiven) Konstitutionsmechanismen der psychischen Persönlichkeit und erkennen, daß diese Mechanismen auch dort die Psychodynamik bestimmen, wo früher deren Entmachtung und Überwindung durch die sogenannten reifen Abwehrmechanismen […] postuliert worden war.“326 Statt von einer Zunahme früher Störungen solle man besser von den Risiken des Scheiterns von Lebensentwürfen bei erhöhtem gesellschaftlichem Zwang zur Individualisierung sprechen: „Es ist demnach nicht so, daß die klassischen Neurosen bzw. neurotischen Konflikte ab und frühe bzw. narzißtische und Identitätsstörungen zunehmen, sondern daß ‚etwas‘ – ein Unglück, ein Leiden, eine Überforderung usw. – das bisher ohne Sprache und unbenennbar in der Tradition festgefügter Lebensordnungen eingebunden war, sich als Wunsch und als Zwang nach individueller Selbstverwirk325 Vgl. Reiche 1991: S. 1050ff 326 Ebd.: S. 1053

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lichung artikuliert. Die hierbei auftretenden diffusen Störungen, Beziehungskonflikte usw. sind ebenso Teil von neuartigen kulturellen Freisetzungsphänomenen wie die expandierenden Zuwachsraten in Breitensport, im Sextourismus, in der Literaturproduktion und in den Ehescheidungen.“327

Hier haben wir es mit einem Theorieschwund zu tun, insofern die habituelle und die gesellschaftliche Ebene radikal auseinandergebrochen werden.328 Ich stimme Reiche insofern zu, daß Reflexivität und Exponierung 327 Ebd.: S. 1064 328 Dieser Eindruck bestätigt sich in einer unter dem Titel „Triebschicksal der Gesellschaft. Über den Strukturwandel der Psyche“ vom Institut für Sozialforschung veröffentlichen Sammlung von Aufsätzen Reiches. In der Einleitung heißt es etwa: „Das Subjekt in der Analyse ist ein anderes als das Subjekt in der Welt, über das wir zeitdiagnostisch sprechen“ (Reiche 2004: S. 5). Der irreführende Titel, in dem seine These von der Kluft zwischen Triebschicksal und Gesellschaft unterschlagen wird, mag auf die von ihm selbst beschriebene Unentschlossenheit deuten: „Immer wieder gelobe ich zeitdiagnostische Abstinenz und immer wieder werde ich rückfällig“ (ebd.: S. 4). Bemerkenswert ist das Vorwort des ‚Intersubjektivitäts‘- und ‚Anerkennungs‘-Spezialisten Axel Honneth, der den Standpunkt Reiches ohne Einspruch wie folgt referiert: „Wenn die menschliche Sozialisation aber in einer solchen, wohl nur anthropologisch zu nennenden Weise vorgestellt wird, ist es nur folgerichtig, jede Beobachtung eines psychischen Strukturwandels für ein Befassen mit bloßen Oberflächenerscheinungen zu halten; denn ob die Diagnose nun auf autoritärer Charakter, Narzissmus oder Borderline-Symptom lautet, immer ist mit derartigen Begriffen nur der soziale Vordergrund bestimmt, hinter dem sich in der Tiefe stets dasselbe atavistische Schauspiel der frühkindlichen Triebsozialisierung vollzieht. Reiche ist daher der Überzeugung, daß die psychoanalytisch informierten Zeitdiagnosen allesamt nur vordergründige Befunde geliefert haben, die uns über den gleichbleibenden Kern des Schicksals unserer Triebe hinwegtäuschen; der Wandel in ihren jeweiligen Behauptungen ergibt sich seiner Vermutung nach allein aus der stetig wachsenden Differenzierung der Klassifikationssysteme, mit deren Hilfe wir psychische Abweichungen registrieren. Es sind, so ließe sich dieses Ergebnis kurz zusammenfassen, nur unsere Beschreibungsweisen der sozialisatorischen Ursachen von Persönlichkeitsstörungen, die sich historisch verändern, während der tatsächliche Verlauf von solchen theoretischen Aufmerksamkeitsverschiebungen unberührt bleibt“ (Honneth, ebd.: S. IX, Herv.v.mir). Daß neben dieser abstinenten Haltung des ‚orthodoxen Psychoanalytikers Reiche‘ die Rückfälligkeiten des ‚kritischen Soziologen Reiche‘ stehen, in denen dann doch diagnostiziert wird, dieses verwirrende, sinnlose Nebeneinander und die theoretische Beliebigkeit stellen für Honneth einen spannungsreichen Zusammenhang dar, und es sei eben „die darin demonstrierte und ausgehaltene Ambivalenz, die die Aufsatzsammlung zu dem macht, was sie ist: ein exemplarisches Lehrstück über die Schwierigkeiten, die sich heute bei der Vermittlung von Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie stellen“ (Honneth, ebd.: S. XI). Einen ähnlich spannungsreichen ‚Zusammenhang‘ findet man im Übrigen auch bei Honneth selbst, wenn in seiner Aufsatzsammlung „Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität“ die affekttheoretischen Arbeiten Sterns im ersten Aufsatz herangezogen werden, um dem Begriff Anerkennung auf die Spur zu kommen, im letzten dann

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basaler Konstitutionsmechanismen des Selbst miteinander einhergehen. Doch ich habe versucht zu zeigen, daß die hier gemeinte Reflexivität qualitativ präzisiert werden kann und als solche selbst eigentümlich für einen bestimmten Ziviliationsverlauf ist, andererseits der entsprechende Individualisierungsprozeß eine spezifische Psychodynamik aufweist. Indem Reiche sich gegen solche Qualifizierung verwehrt und auf den Individualisierungsprozeß verweist, spielt er den Ball der Soziologie zu. Was macht diese damit? Wenn wir komplementär dazu mit Schroer davon ausgehen, die Soziologie verstehe unter Individualisierung einen zunehmenden Selbstbezug, dann haben sich bei diesem Verständnis von Interdisziplinarität Soziologie und Psychoanalyse gegenseitig aufgehoben: Wenn zunehmende Reflexivität auf den Individualisierungsprozeß verweist und Individualisierung ein Prozeß zunehmenden Selbstbezugs ist, dann wissen wir nur noch so viel: Es handelt sich auf jeden Fall um einen Prozeß. Die Frage, wie die Reflexivität beschaffen ist und in welchem Verhältnis sie zur Prozeßdynamik steht, ist damit vom Tisch, damit die habituelle Ebene und somit überhaupt die Möglichkeit einer Zivilisationstheorie. Denn, wenn nicht die tiefgreifenden Wandlungen der Beziehung und der sinnlichen Lebenswelt der letzten Jahrhunderte die psychische Beschaffenheit berührt haben, was würde dies überhaupt noch vermögen? Die Narziß-Metapher selbst ist zur Erfassung der Problematik entbehrlich, vielleicht mittlerweile eher hinderlich. Die Ergebnisse aus Psychoanalyse und Affektforschung sind für die Soziologie unentbehrlich, was allerdings auch umgekehrt gilt. Mit der Alteritätstheorie bietet sich die Möglichkeit, Beziehung und Reflexivität qualitativ zu differenzieren. Die narzißtische Dynamik wäre dann als ein Prozeß der Destruktion von Wechselseitigkeit in der Wahrnehmungsbeziehung zu verstehen. Aus dieser Sicht ergibt sich für die Zivilisationstheorie die Notwendigkeit, die Phänomene, die bisher als Vitalitätsaffekte, Affektabstimmung und globale Wahrnehmung konzeptualisiert wurden, mit als Gegenstand und ‚Mittel‘ des Zivilisationsprozesses einzubeziehen. Damit stellt sich etwa die Frage, die Reiche umgeht, nämlich welche Konsequenzen der sogenannte ‚Symptomwandel‘ für das Gegenüber und die Beziehungsdynamik und somit für das Subjekt hätte. Dieses Kapitel bietet lediglich einen Ansatz zu einer derart verstandenen alternativen Zivilisations- und Individualisierungstheorie.

gefordert wird, viel Mühe darauf zu verwenden, die empirischen Einwände u.a. Sterns zu widerlegen, die gegen die Annahme eines ursprünglichen Zustands der Symbiose erhoben werden. Neben der Annahme des primären Narzißmus werden dann auch die triebtheoretischen Hypothesen als großes Erbstück der Psychoanalyse wieder eingeführt (vgl. Honneth 2003: S. 16ff, S. 150 u. 154ff).

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Zur Zeitspezifität der Alteritätstheorie „Der Fortschritt der Erkenntnis setzt bei den Sozialwissenschaften einen Fortschritt im Erkennen der Bedingungen der Erkenntnis voraus.“329

Aus der hier eingenommenen Perspektive muß die explizite Anerkennung der Erkenntnisgrenze als konstitutiv für die Alteritätstheorie angesehen werden. Erst mit der Berücksichtigung des potentiell NichtSymbolisierbaren und dennoch maßgeblich Wirkenden ist eine annähernde Erfassung der Entgleisungen, des zeitspezifisch Ungedachten möglich: „Hierher gehören unter erkenntnistheoretischer Perspektive das epistemologisch Unbewußte, also der Hintergrund des Blickes des Gegenübers in seiner das Subjekt determinierenden und konstituierenden Funktion; in inhaltsorientierter Redeweise: das, was nicht objektiviert werden kann, also bestimmte Körperprozesse, der Prozeß der Intentionalität in seinem Vollzug und die basale Schicht präreflexiven Erlebens.“330 Die Zeitspezifität eines solchen Unternehmens ist am deutlichsten ablesbar an der Anstrengung, die die Etablierung der Grenze bedarf (oder bedürfen würde) angesichts des dominanten Prozesses auf gesellschaftlicher und menschenwissenschaftlicher Ebene, gegen den ‚erkannt‘ werden soll. Diese Außenseiterposition kennzeichnet die Richtung des Prozesses. Qualitativ kennzeichnend für die Alteritätstheorie ist eine starke Exponierung, Explizierung des Basalen des menschlichen Seins, das, wie ich darzustellen versucht habe, das gleichzeitig im Zuge des Zivilisationsprozesses zunehmend Problematisierte darstellt. Eine Entwicklungslinie läßt sich hier im Scham-Diskurs über SchelerSartre-Seidler ausmachen. Ein Kritikpunkt Seidlers an Schelers Schamkonzept lautet, daß dieser das Triangulierungsgeschehen, die reflexive Schleife, nicht als Beziehungsgeschehen konzeptualisiere. Weiter habe Scheler mit seiner radikalen Bewertung der Scham als positiven Affekt nach Seidler nur insofern Recht, „als daß ‚natürlich‘ ganz basal eine Wertzuschreibung dann gegeben sein muß, wenn ‚etwas‘ für Wert gehalten wird, überhaupt beurteilt zu werden.“331 Ich meine, daß ein enger Zusammenhang zwischen diesen beiden Kennzeichen des Schelerschen Schamkonzepts darin besteht, daß ein Ins-Wanken-Kommen der Realitätszuschreibung Bedingung der Konzeptualisierung des Beziehungsgeschehens ist. Mit seinem Konzept des objektiven Schamphänomens hält Scheler alle Komponenten beieinander und entgeht ihrer Exponierung. Das Konzept des objektiven Schamphänomens ist Ausdruck dafür, daß Scheler nicht wie Seidler schreibt, konzeptuell am Individuum orientiert ist, sondern die 329 Bourdieu 1993b: S. 7 330 Seidler 1995b: S. 109 331 Seidler 2001a: S. 34

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Beziehung als ein noch nicht ‚Auseinandergefallenes‘ ganz konzeptualisiert. Es besteht ‚noch nicht‘ die genügende Notwendigkeit einer solchen Konzeptualisierung einerseits, ‚schon‘ ein Widerstand gegen eine ‚Entseelung‘ des Gegenstands andererseits, als welche Scheler ein solches Vordringen hätte empfinden können. Die Konzeptualisierung der Beziehung wird notwendig und möglich, wenn die ‚Aura‘ im Sinne Schelers bereits zerstört ist. Zum ‚Vorteil‘ der Theorie und zum ‚Nachteil‘ Sartres ist dies bei ihm der Fall. Die Erfahrung des ‚Zuviel‘, das Empfinden des ‚Überzählig-Seins‘, die ganze Thematik der Daseinsberechtigung und Selbstrechtfertigung, die sein Werk kennzeichnen,332 liegen dem Kampf gegen dieses bestimmte Daseinsgefühl und der, wie Susanne Möbuß es formuliert, unausgesprochenen Suche nach einer Technik der ‚Überwindung einer einseitigen Bindung an die kontingente Realität‘ zugrunde.333 Die ‚empfundene Nicht-Valorisierung‘334 nicht im Sinne des ‚Gut‘ oder ‚Schlecht‘, sondern im Sinne des ‚Überhaupt‘, diese charakteristische Erfahrung innerhalb dieses spezifischen Zivilisationsverlaufs ist es, die die ontologische Ebene in solcher Weise berührt, daß Sartres Theorie zur geeigneten Grundlage der Alteritätstheorie werden ließ bzw. diese auf die geschehene Art bedingte, auch wenn – und gerade weil – die einseitige Bindung nicht überwunden werden konnte und die Analyse, wie Seidler meint, ‚steckengeblieben‘ ist. Was der Begriff ‚ritueller Bettler‘ zum Ausdruck bringt, ist ja nicht nur das ausgesprochene Bedürfnis nach nichtverbaler Kommunikation, sondern ein Bettler ist auch jemand, der selbst nichts zu geben hat oder zumindest meint, nichts zu haben. In diesem Zusammenhang ist es die Wirkung seines eigenen Antlitzes, die ihm nicht verfügbar ist. So kommt Seidler, der Sartres Position zur Wertung in der Scham übernimmt, zum Ergebnis, daß die Ausarbeitung der Wechselseitigkeit, die Beschreibung dieses ganzen Prozesses auch aus der Perspektive des Anderen fehle,335 oder wie Schmitz es auf den Punkt bringt: Zu kurz kommt die Begegnung der Blicke.336 Erst mit solcher Gesamtobjektivierung wird es auch möglich, den bei Sartre implizierten einseitigen und 332 333 334 335

Vgl. Möbuß (o. J.) Vgl. ebd.: S. 33 Sartre, zit. n. Möbuß, ebd.: S. 142 „Eine Einbeziehung seines autobiographischen Buches ‚Die Wörter‘ erlaubt es, das Gemeinte zu verdeutlichen. Er beschreibt dort die Situation des Kindes – seine eigene – in der Familie der Großeltern. Die Mutter, früh verwitwet, war nahezu eine Sklavin in diesem Hause, und er selbst hätte gelernt, sich mit den Augen der Erwachsenen zu sehen. Selbst wenn diese nicht im Hause gewesen seien, sei ihr Blick zurückgeblieben und wirksam gewesen. Nur, wo bleibt der Blick des kleinen Sartre auf seine Großeltern, und wo wird dessen Wirkung diskutiert und später konzeptualisiert? Und diese Konstellation nicht als jeweilige Einbahnstraße verstanden, sondern als wechselseitiges Geschehen, mit der wechselseitigen Verschränkung von Subjekt und Objekt“ (Seidler 2001a: S. 36, Herv.i.O.). 336 Vgl. Schmitz 2004: S. 154

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‚reinen‘ Machtbegriff zu überwinden, so daß der Blick sich zwischen dem subjektivierenden und objektivierenden Pol bewegend konzeptualisiert wird: Wo bei Sartre der Andere als prinzipiell unbegreiflich konzeptualisiert ist, ist bei Seidler die Übereinstimmung Bedingung der Wahrnehmung des Anderen in seiner Nicht-Identifizierbarkeit, Fremdheit, NichtEinholbarkeit.337 Die Übereinstimmung ist möglich, wenn sie eben nicht als die Identität zweier Subjekte oder ihres Bewußtseins gedacht ist, sondern immer jeweils im Hinblick auf das ‚wahrgenommene Sein‘, den Bereich, dem die affektive Kommunikation zugrunde liegt. Betrachten wir also noch einmal die alteritätstheoretischen Korrekturen und deren (theoretische) Konsequenzen: Durch die Wiedereinführung der ‚menschlichen Sphäre‘ (Der Blick ist nicht nur objektivierend) wird die Fähigkeit zur Feststellung von Nicht-Identität, von Grenze möglich, die im letzten Kapitel als Verfügbarkeit des Schamaffekts besprochen wurde. Durch die Hervorhebung des eigenen Antlitzes im Gegenzug zu Sartres Überbetonung des Anderen, wird das Wissen um eigene Wirkmächtigkeit hergestellt, die im vorangehenden Kapitel als Gewissen und Fähigkeit zum Erleben eigener Schuldhaftigkeit besprochen wurde. Die Frage ist nun, wie diese Korrekturen zu bewerten sind. Sind sie Anzeichen von Fortschritt der Theorie, die wir über ‚den Menschen‘ haben? Oder Ausdruck des Zivilisationsprozesses, den einige Teile der Welt durchlaufen haben? Daß solche Gedanken- und Erlebnisgänge, die uns – aus einer bestimmten Perspektive – als Phänomene der ‚Auflösung‘, des Zerfalls psychischen Geschehens oder Verfalls bestimmter Beziehungsformen erscheinen, Bedingung der Möglichkeit der Erfassung psychischer Mechanismen und Geschehensabläufe sein können, dürfte unbestritten sein.338 Kann man aber die Explizierung ‚basaler und immer objektiv gegebener Illusion von Selbstverständlichkeit‘ als Illusion und die wissenschaftlich immer stärker wahrgenommene ‚Relativität der Einheit des Individuums‘ als progressiven Entwicklungsschritt in Kultur und Wissenschaft interpretieren, wie dies von Seidler an einer Stelle nahegelegt wird?339 Dies führt zu der einfachen und grundlegenden Frage, was wir denn als Fortschritt bewerten. Versteht man herkömmlich unter Fortschritt eine Erweiterung von Handlungsspielräumen und Zunahme von ‚Kontroll-‘‚ und ‚Steuerungs-

337 Vgl. Seidler 2001a: S. 55. Die Scham dient dann als Grenzsignal in beide Richtungen: von Übereinstimmung zu Nicht-Identität und umgekehrt. 338 Die Begriffe ‚Auflösung‘, ‚Zerfall‘, ‚Verfall‘ ebenso wie etwa ‚Zersetzung‘ und ‚Entsinnlichung‘ stellen für die Anti-Kulturkritiker Reizwörter dar, sobald sie auf gesellschaftliche Prozesse und Phänomene übertragen werden. Ich benutze sie hier dennoch erstens mangels besserer Begrifflichkeiten, zweitens, um ihre Perspektivgebundenheit zum Ausdruck zu bringen. So mag das, was einem Kulturkritiker heute als im Verfall begriffen erscheint, für die nächsten Generationen gar nicht mehr existieren. 339 Vgl. Seidler 1995b: S. 100f

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möglichkeiten‘, so stellt sich im Falle der Erkenntnis die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die sie hervorgebracht haben einerseits, nach den gesellschaftlichen Bedingungen, diese nutzbar zu machen andererseits. Unterlegt ist beiden Fragen das Verständnis des Handlungsspielraums einerseits als Möglichkeit der objektivierenden Distanz, die faktisch mit einer sozialen Distanz zusammenhängt, deren Grundlage wie Bourdieu formuliert die ‚unterschiedliche Distanz zur Notwendigkeit‘340 ist, darüber hinaus aber die (soziale und psychische) Disposition, zur ‚Notwendigkeit‘ zurückzufinden, was u.a. bedeutet, die soziale Bedingtheit der Erkenntnis ebenfalls zu erkennen. Nur so gesehen, gelten die Äußerungen Kohuts zur Zeitspezifität der Selbstpsychologie, und so gelten sie auch weiterhin für die Alteritätstheorie: Es handelt sich im Verhältnis zu ihren Vorläufern um eine angemessenere Erfassung der anthropologischen Ebene, gleichzeitig handelt es sich um die Konzeptualisierung einer erst durch den spezifischen Habituswandel in dieser Form erst ‚zugänglich‘ gewordenen Erfahrungsdimension. Mag also ein Erkenntnisfortschritt auf anthropologischer Ebene erzielt sein, die Handlungsspielräume einiger Spezialistengruppen in Therapie, Beratung und Betreuung erweitert, so gilt doch festzuhalten, daß wir nicht so frei sind, uns diese Erkenntnis zu ersparen. Der Erkenntnisbereich, der sich zum Basalen hin verschiebt, ist determiniert durch eine Beziehungsdynamik, die durch tendenzielle Abwesenheit von Wechselseitigkeit und reflexivem Selbstbezug gekennzeichnet ist. Die ‚fortgeschrittene‘ Erkenntnismethode, die sich durch ihre Beziehungsorientiertheit auszeichnet, wird gebraucht, um tendenziell nicht stattgehabte Beziehung und fehlenden Selbstbezug zu symbolisieren. Die Postulierung der ‚Relativität der Einheit des Individuums‘ oder der ‚Illusion der Kohärenz des Selbst‘, die in dieser Arbeit anhand der Arbeiten verschiedener Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven untermauert wurde, bedarf gleichzeitig der zivilisatorischen Verortung, eine zentrale Aufgabe der Soziologie, die, wie Bourdieu schreibt, das vielleicht einzige Mittel bietet, „und sei es auch nur über das Bewußtsein der Determiniertheiten, dazu beizutragen, etwas wie ein Subjekt zu konstituieren, eine Aufgabe, die sonst den Kräften der Welt anheimfällt.“341 Denn es ist nicht nur eine ‚unfreundliche Wissenschaft‘,342 die die Illusion als solche markiert, vielmehr steht hinter der Postulierung der Illusion ihre gesellschaftliche Gefährdung. Und diese Gefährdung oder gar Wegfall der Illusion umschreibt die Not einer Unfreiheit, weshalb wir auch nicht umhin können, mit der Offenlegung der Illusion zugleich ihre Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit zu betonen, sie gar als psychische Kompetenz zu definieren. 340 Vgl. Bourdieu 1993b: S. 32f 341 Ebd.: S. 45, Herv.v.mir. 342 Vgl. van den Berg 1960: S. 218. In diesem wunderbaren Buch von van den Berg „Metabletica. Über die Wandlung des Menschen“ sind einige Kerngedanken dieser Arbeit in verdichteter und anschaulicherer Form dargelegt.

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Die betreffende ‚Erkenntnis‘ wäre demnach aus soziologischer Perspektive Resultat einer gesellschaftlichen Dynamik, in der die Handlungsspielräume der Menschen zur Bedürfnisbefriedigung geringer werden. Die Verstärkung der Abhängigkeit von ‚Experten‘-Wissen in Form von Therapie und Lebenshilfe und die durch sie mit(re-)produzierte Individualisierung sozialer Probleme zeugen von einem Entdemokratisierungsprozeß, dessen Besprechbarkeit allerdings der Anerkennung des Psychischen als einer Dimension gesellschaftlicher Entwicklung bedarf. Es sei denn, man will sich, etwas überspitzt formuliert, damit abfinden, daß Psychotherapie und Ratgebung in Zukunft die bessere Hälfte des Subjekts spielen, ein Leerlaufspiel nicht zuletzt angesichts der Tatsache, daß die Ideologie des Mainstreams in diesem Bereich die nicht-reflektierte bzw. die außenreflektierte Position reproduziert und legitimiert.343 Besprechbar gemacht werden sollte auch die Tatsache, daß die Herstellung irgendeiner Illusion der Kohärenz und irgendeiner Form von Beziehung auch im psychologischen Bereich einen boomenden Markt darstellt. Weiter wäre die grundlegende Frage zu klären, worauf wir uns mit dem Begriff ‚Wirklichkeit‘ beziehen wollen, wenn wir in Zusammenhang mit der Kohärenz des Selbst von ‚Illusion‘, in Zusammenhang mit Emotionen von ‚Magie‘ und in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Prozessen von ‚Entzauberung‘ sprechen (müssen). Den mit Scheler oben eingeführten Begriff der ‚Entseelung‘ (bzw. Beseeltheit) können wir (noch) nicht wissenschaftlich begründen. Dazu bedürfte es einer Klärung des Zusammenhangs von der ‚Transzendenz des Blickes‘, der sich immer noch etwas zauberhaft anhört, und den noch nicht erforschten Phänomenen der globalen Wahrnehmung und der Vitalitätsaffekte, die trotz ihrer ausbleibenden Klärung das Fundament der hier favorisierten Theorien darstellen. Der posthumanistische bzw. transhumanistische Diskurs und die darin enthaltenen Phantasien lassen eine Ahnung davon aufkommen, was alles passieren müßte/könnte, damit wir mehr über globale Wahrnehmung und Vitalitätsaffekte ‚wissen‘. 343 Ein extremes, schon absurd anmutendes Beispiel für den ersten Fall findet sich auf einer Website mit dem Anspruch Familien-Lebenshilfe zu leisten, dem ‚Online-Familienhandbuch‘. Ich zitiere aus einem Artikel der Soziologin Ina Grau „Machtverhältnisse in Partnerschaften“: „Etwas vereinfacht kann man sagen, dass jeder Mensch danach strebt, möglichst zahlreiche Belohnungen und möglichst wenige Bestrafungen zu erhalten. Dies ist auch in Partnerschaften so: Man möchte in einer Beziehung viele positive und wenige negative Erfahrungen machen./Der Begriff Macht kommt nun ins Spiel, sobald man sich überlegt, durch wen man diese Belohnungen und Bestrafungen erhält. Wenn z.B. ein Mann seiner Frau Blumen schenkt und diese sich darüber freut, hat sein Verhalten positive Konsequenzen für die Frau. Kritisiert der Mann dagegen seine Frau, hat das negative Auswirkungen auf sie. Würde sich jedoch die Frau ihre Blumen selbst kaufen oder sich selbst kritisieren, erzielte sie zwar ein genauso gutes oder schlechtes ‚Ergebnis‘, wäre jedoch vom Verhalten des Mannes völlig unabhängig“ (Grau 2004, Herv.v.mir).

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Alterität in Prozeß und Theorie der Zivilisation „Das Unbewußte […] ist in Wirklichkeit […] immer nur das Vergessen der Geschichte, von der Geschichte selbst erzeugt, indem sie die objektiven Strukturen realisiert, die sie in den Habitusformen herausbildet, diesen Scheinformen der Selbstverständlichkeit.“ 344

Welche Konsequenzen ergeben sich für die Eliassche Zivilisationstheorie, wenn die von ihm für einen bestimmten Verlauf des Zivilisationsprozesses konstatierte ‚Anästhesierung‘, die Unfähigkeit zum Erleben sich nicht auf irgendwelche ‚tiefen Emotionen‘ oder ‚gefährlichen Affekte‘ bezieht, sondern auf die Repräsentanz des Anderen, was, wenn das Es der Andere ist? Grundlegend für eine Revision der Zivilisationstheorie müßte die Berücksichtigung der Tatsache sein, daß die von ihr untersuchte ‚Affektmodellierung‘ in Interdependenz mit Wandlungen der Beziehungsstruktur immer nur mittels der Affektivität selbst geschieht, so daß auch die Anästhesierung nicht entkoppelt von diesen Zivilisierungsmitteln gedacht werden kann. Das bedeutet etwa für das von Elias beschriebene ‚Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwellen‘ (Scham im Sinne der Selbstwertregulation), daß es mit einer tendenziellen Nicht-Verfügbarkeit des Schamaffekts (Scham als Grenzsignal) einhergehen kann. Die Geschichte der Formalisierung wäre demnach bereits die Geschichte einer psychischen Entfigurationalisierung und einer Gefährdung der Kohärenz des Selbst. Die Informalisierung als Ideologie und Praxis wäre als der Versuch der Wiederherstellung der Kohärenz zu deuten, der allerdings, da er die Ideologie (des autonomen, selbstgenügsamen Subjekts) reproduziert nur im Leerlauf ablaufen kann. Was im Zuge des Zivilisationsprozesses zur Disposition steht, sind die basalen Fähigkeiten zur globalen Wahrnehmung und die Abstimmung im Bereich der Vitalitätsaffekte, die von Stern als angeborene Fähigkeiten dem Säugling zugesprochen werden und die affektive Kommunikation bedingen. Die von Kohut im Hinblick auf die Selbstobjekte konzipierten menschlichen Bedürfnisse sind zu ihrer Befriedigung unabdingbar an diese Fähigkeiten beim Selbst und Gegenüber gebunden. In diesem Kapitel wurden diese grundlegenden Formen der Gerichtetheit auf das Gegenüber im Wandel der Wir-Ich-Balance erörtert: das Bedürfnis nach (Erfahrung von) Bestätigung/Billigung, das Bedürfnis nach Stärke und das Bedürfnis nach der Erfahrung essentieller Ähnlichkeit. Es sind diese ‚Wegzeichen der menschlichen Welt‘, von denen wir nicht wissen, daß wir sie brauchen, solange sie uns zur Verfügung stehen.345 344 Bourdieu 1993b: S. 105 345 Vgl. Kohut 1989: S. 275 u. S. 286

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Als verdichtetes, zentrales Zivilisationskriterium gilt die Wechselseitigkeit der Wahrnehmung, womit die Beziehungsexistenz und Beziehungsfähigkeit im alteritätstheoretischen Sinne gemeint ist. Die Berechtigung, dieses Kriterium allen anderen zugrunde zu legen, ergibt sich daraus, daß der Wandel der Beziehungsstrukturen im Zuge des Zivilisationsprozesses eben diese basale Dimension berührt und daraus, daß diese Berührung den weiteren Verlauf des Prozesses auch in seiner ‚Ausbreitung‘ bestimmt. Im Hinblick auf die zu untersuchenden Gesellschaften, lautet die Frage, inwiefern die gesellschaftlichen Bedingungen diese Fähigkeit des Einzelnen, anderen Menschen ein Gegenüber zu sein, begünstigen bzw. unterminieren. Im Hinblick auf die Theorie, was ihre Grundbegriffe sowie ihre bisher zugrunde gelegten Kriterien angeht, lautet die Frage, inwiefern sie ihren Gegenstand, in diesem Fall die soziale Realität und ihre Verflechtungen in sich trägt, d.h. durch diese ‚alteriert‘ ist. Bei solcher Revision der Zivilisationskriterien ist die Anerkennung der psychischen Dimension, hier bestimmt als der Wunsch, wahrzunehmen und wahrgenommen zu werden, in den jeweiligen Ausgestaltungsmöglichkeiten ausschlaggebend. Wie ich versucht habe zu zeigen, sind Zivilisationskriterien wie ‚Selbstkontrolle‘, ‚Langsicht‘ und ‚Distanzierung‘ zunächst nicht notwendig Anzeiger einer Auseinandersetzung mit der Realität, sie können vielmehr genau eine Abkehr von der sozialen Realität repräsentieren und begünstigen. Schlimmer noch, sie tragen bereits als theoretische Konstrukte eine Ausblendung der Beziehung in sich, sie sind Verdinglichungen der Abwesenheit von Beziehung. Demnach ist ‚soziale Verantwortung‘ nicht nur eine moralphilosophische Kategorie, sondern eine wesentlich soziologische, indem sie thematisiert, inwiefern und in welcher Form die psychische Disposition und das Verhalten der Menschen bzw. ihre Theorien ihren sozialen Verflechtungen gerecht bzw. von diesen geleitet werden. Diese Gedanken sind nicht neu. Sie charakterisieren die oft als sozialphilosophisch abgetanen Arbeiten von Zygmunt Bauman und insbesondere seine alternative Sicht auf den Prozeß der Zivilisation in westlichen Gesellschaften. So kann die Revision des Eliasschen Menschenbildes in dieser Arbeit auch als eine Fundierung des Baumanschen Ansatzes gelesen werden. Seine These, daß ‚starke, moralische Impulse‘ vorgesellschaftlich existieren, daß es eine ‚ursprüngliche menschliche Fähigkeit‘ gibt, wechselseitige Beziehungen auf moralische Regulationsmechanismen zu gründen‘,346 wurde mit dem hier anhand psychoanalytischer Ansätze ausgearbeiteten Menschenbild bestätigt. Der ‚moralische Impuls‘ als basale Fähigkeit zur Realitätszuschreibung bezeichnet im psychoanalytischen Vokabular die Fähigkeit zur Affektabstimmung und damit zusammenhängend die Schamfähigkeit (zunächst als Grenzsignal): Es geht um die Fähigkeit zur gegenseitigen Wahrgebung und der gleichzeitigen gegenseitigen Begrenzung in diesem Wahrnehmungsgeschehen. 346 Vgl. u.a. Bauman 2002: S. 213

Schluß: Zur Ausgestaltung der Affektivität als Kriterium gesellschaftlicher Entwicklung

„Wenn Fragen, die notwendig gestellt werden müssen, um den Gegenstand zu konstituieren, vorab schon im Gegenstand selbst als barbarisch abqualifiziert sind, ist es nicht leicht, den rechten Ton zu treffen, der Alternative von Beweihräucherung und Provokation, die nur deren Umkehrung ist, zu entgehen.“1

Eine Anerkennung der habituellen Dimension gesellschaftlicher Entwicklung als deren Konstituens, so verstanden, wie es in dieser Arbeit dargelegt wurde – als Ausgestaltung der Affektivität, welche die Psycho- und Beziehungsdynamik gleichermaßen impliziert –, steht einer Konzeptualisierung der Eigendynamik gesellschaftlicher Prozesse keineswegs entgegen, wohl aber all jenen Konzeptualisierungsversuchen, die soziale Prozesse als quasi-natürliche erscheinen lassen, als Geschehnisse, die jenseits der Subjekte, unabhängig von ihren Selbst- und Selbstwertbeziehungen, unabhängig von den Verstrickungen ihres Begehrens, ihrer Bedürfnisstrukturen, ablaufen. Diesem Verständnis von Entwicklung liegt die Einsicht zugrunde, daß die Konditionierungsprozesse, die die Habitusformen hervorbringen, mit den jeweiligen Existenzbedingungen – dazu gehören auch andere Menschen in ihrer jeweiligen Ausgestaltung –, verknüpft sind, die Habitusformen also in diesem Sinne sowohl strukturierte wie strukturierende Strukturen darstellen; und die entsprechenden ‚Reize‘ wirken nur, wenn sie auf Handelnde treffen, die darauf konditioniert sind, sie zu erkennen, was im Umkehr-

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Bourdieu 1987: S. 797

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schluß auch bedeutet, daß Reize dort nicht wirken, wo sie auf Handelnde treffen, die nicht darauf konditioniert sind, sie zu erkennen, bzw. die darauf konditioniert sind, sie nicht zu erkennen.2 Und wie dargelegt wurde, muß angesichts der Tatsache, daß Reiz selbst Bedürfnisinhalt ist, nicht nur einer konzeptuellen Entkoppelung des ‚Sozialen‘ vom ‚Psychischen‘ entgegengedacht werden, sondern ebenso einer auf quantifizierende Beschreibungen der Entwicklung beschränkten Sicht. Über letztere hinausgehend kann erst eine Qualifizierung der Dynamiken angestrebt werden, die sich auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene ergeben, wenn Subjekte unter den gegebenen physischen und psychosozialen Bedingungen zwecks Lebens und Überlebens kraft ihrer Intentionalitäten Figurationen auf je spezifische Weise ver- und entflechten. Qualitativ-dynamisch gesehen, haben wir es zivilisationstheoretisch nicht mit der Einschätzung von Innerlichkeiten/Verinnerlichungen/inneren Strukturen zu tun, vielmehr beziehen sich die Kriterien fortan auf die Beziehungsformen, in denen sich die Subjekte darstellen und die als Sequenzen im Selbstprozeß zu verstehen sind, also mitunter mehr oder weniger zur Grundlage folgender Beziehungsausgestaltungen werden können. Als zentrales Kriterium dieser Einschätzung von Beziehungsformen, die unterschiedlichen Reifegradierungen entsprechen, dient die ‚Wechselseitigkeit der Wahrnehmung‘, die die Kriterien Scham-/Alteritätstoleranz und die Schuldfähigkeit, im Sinne von Verfügbarkeit von Urheberschaft, verdichtet zum Ausdruck bringt. Die Beziehung bewegt sich zwischen den Dynamiken ‚Destruktion der Wechselseitigkeit‘, die aus Nichtverfügbarkeit der Scham resultiert, und ‚Lernen‘, welches eine Verfügbarwerdung des Gefühls der Urheberschaft kraft Alterierung bedeutet, so daß die Alterierung infolge dieser Urheberschaft zur Grundlage weiteren Handelns werden kann. Bei der gesellschaftlichen Tendenz zur erstgenannten Dynamik, die einen spezifischen Individualisierungsverlauf darstellt, findet eine Verschiebung von der Selbstwert- zur Selbstebene als dominanter ‚Integrationsstufe‘ der Gesellschaft statt. Damit ist nicht gemeint, daß das Selbst nun in seiner Integriertheit andere Gesellschaftsbereiche ‚beherrscht‘, sondern folgendes: Das Selbst in seiner Modalität befindet sich in ständiger Pro2

Vgl. Bourdieu 1993b: S. 98ff. „Reize existieren für die Praxis nicht in ihrer objektiven Wahrheit als bedingte und konventionelle Auslöser, da sie nur wirken, wenn sie auf Handelnde treffen, die darauf konditioniert sind, sie zu erkennen. […] In der Wirklichkeit, und weil die durch Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, Freiheiten und Notwendigkeiten Erleichterungen und Verbote dauerhaft eingeprägten Dispositionen, die in den objektiven Bedingungen enthalten […] sind, mit diesen Bedingungen objektiv vereinbare und ihren Erfordernissen sozusagen vorangepaßte Dispositionen erzeugen, werden die unwahrscheinlichsten Praktiken vor jeder näheren Prüfung durch eine Sofortunterwerfung unter die Ordnung, die aus der Not gerne eine Tugend macht, also Abgelehntes verwirft und Unvermeidliches will, als undenkbare ausgeschieden” (ebd.: S. 99f, Herv.i.O.).

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blematisierung, so daß diese Probleme und ihre ‚Bewältigung‘ andere Konflikte und Konfliktaustragungen bestimmen. Was in Rechnung gestellt werden muß, ist eine Verstrickung verschiedener Ebenen mit der Selbstebene: Wirtschaftliches, politisches, kriegerisches, wissenschaftliches Handeln usw. sowie ihre Interdependenzen können mit der Problemhaftigkeit der Modalität des Selbst unterlegt sein. Dieser Zusammenhang wird im folgenden knapp erläutert: Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser alternativen Sicht der Zivilisation für das Verständnis von ‚Entwicklung‘?

Zur Revision des Entwicklungsbegriffs Neben dem Grad der technologischen Entwicklung (bzw. dem Ausmaß der Kontrollchancen über die außermenschliche Natur) und der gesellschaftlichen Organisation (bzw. dem Ausmaß der Kontrollchancen über zwischenmenschliche Zusammenhänge), hat Norbert Elias, und dies ist bezeichnenderweise die tendenziell nicht-rezipierte, aber zentrale Aussage seiner Soziologie, den Zivilisationsprozeß (bzw. das Ausmaß der Kontrolle der Menschen über sich selbst) als Aspekt gesellschaftlicher Entwicklung hervorgehoben und ausdrücklich vor der mechanischen Vorstellung gewarnt, die Interdependenz dieser Grundkontrollen als eine parallele Zunahme aller drei Kontrolltypen zu verstehen,3 auch wenn der langfristige abendländische Zivilisationsprozeß, im umfassenden Sinne der abendländischen Kultur, aus seiner Sicht in seiner Dynamik im Großen und Ganzen in diese Richtung (einer Zunahme des Ausmaßes an Kontrollen in den drei Hinsichten) verlaufen zu sein scheint. Über diesen schreibt er: „Was den Zivilisationsprozeß des Abendlandes zu einer besonderen und einzigartigen Erscheinung macht, ist die Tatsache, daß sich hier eine Funktionsteilung so hohen Ausmaßes, Gewalt- und Steuermonopole von solcher Stabilität, Interdependenzen und Konkurrenzen über so weite Räume und so große Menschenmassen hin hergestellt haben, wie noch nie in der Erdgeschichte.“4

Die Interdependenz von Sozio- und Psychogenese führt in diesem Fall zur Entstehung der Möglichkeit und der Notwendigkeit einer nie zuvor da gewesenen Abstimmung des Verhaltens von Menschen über immer weitere Räume hin und einer Voraussicht über lange Handlungsketten. Was der abendländischen Entwicklung nach Elias ihr besonderes Gepräge gibt, das wurde im zweiten und siebten Kapitel dargelegt, ist die Tatsache, daß in ihrem Verlauf die Abhängigkeit aller von allen gleichmäßiger wird. Von dieser Möglichkeit und Notwendigkeit der Wandlungen der Affektivität wurden zunächst Oberschichten, dann immer breitere Schichten der abend3 4

Vgl. Elias 1986b: S. 173f Elias 1989c: S. 336

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ländischen Gesellschaft erfaßt. Darüber hinaus, so schrieb Elias in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, tendiert zugleich das ganze Abendland, Unterschichten und Oberschichten zusammen, dahin, eine Art von Oberschicht und Zentrum eines Verflechtungsnetzes zu werden, von dem aus sich Zivilisationsstrukturen über immer weitere Teile des Erdballs hin wellenartig ausbreiten.5 Dem Einwand des Historikers Robert Muchembled ist in diesem Kontext durchaus zuzustimmen, wenn er im Gegenzug zu Elias’ Untersuchungen auf die Wechselwirkungen, Kontraste, Widerstände und Gegenbewegungen dieses komplexen Prozesses verweist, die bei Elias stark unterbelichtet sind.6 Nichtsdestotrotz findet sich bei Elias bereits in den frühen Untersuchungen zum Prozeß der Zivilisation das Modell des entscheidenden Mechanismus dieses dominanten Prozesses, den er später auf allgemeinerer Ebene als Etablierten-AußenseiterModell, als spezifische Beziehungs- und Psychodynamik konzeptualisierte. Mir geht es hier zunächst um die Charakterisierung des dominanten Prozesses selbst. Allzu oft vergessen Elias-Rezipienten, daß es sich bei dem Zivilisationsprozeß im wesentlichen um eine Etablierten-AußenseiterDynamik handelt und nicht lediglich um die Produktion zweckdienlicher, den Figurationserfordernissen entsprechender Verhaltens- und Empfindensmuster. Elias unterscheidet Kooperationszwänge, solche, die zu einer ‚gleichmäßigen Ausbalancierung des Verlangens Vieler und zur Instandhaltung der gesellschaftlichen Zusammenarbeit‘ notwendig sind, von solchen, die durch die gesellschaftlichen Niveaudifferenzen und die gewaltigen Spannungen, die es durchziehen, bestimmt sind.7 So ist ‚Zivilisation‘ bzw. die ‚strenge Verhaltensregelung‘ Prestigeinstrument, in einer bestimmten Phase auch, so schreibt er, Herrschaftsmittel: „Es ist nicht wenig bezeichnend für den Aufbau der abendländischen Gesellschaft, daß die Parole ihrer Kolonisationsbewegungen ‚Zivilisation‘ heißt.“8 Für Menschen mit starker Funktionsteilung genüge es nicht, einfach mit der Waffe in der Hand über unterjochte Völker und Länder zu herrschen, man braucht vielleicht den Boden, aber man braucht auch die Menschen: „[…] man wünscht die Einbeziehung der anderen Völker in das arbeitsteilige Geflecht des eigenen, des Oberschichtlandes, sei es als Arbeitskräfte, sei es als Verbraucher; das aber zwingt zu einer gewissen Hebung des Lebensstandards, wie zu einer Züchtung von Selbstzwang- oder Über-Ich-Apparaturen bei den Un-

5 6

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Vgl. ebd.: S. 341 Vgl. Muchembled 1990: S. 12. Muchembled geht es um ergänzende Untersuchungen zu Elias’ Studien zur Höfischen Gesellschaft, also den Prozeß der ‚Zivilisierung‘ der Mehrheit der Bevölkerung, der städtischen und ländlichen Massen, die die Entwicklung nachvollziehen und auf sie reagieren. Vgl. Elias 1989c: S. 448 Ebd.: S. 427

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terlegenen nach dem Muster der abendländischen Menschen selbst; es erfordert wirklich eine Zivilisation der unterworfenen Völker.“9

Daraus ergibt sich das, was Elias als den ‚Doppelcharakter der Zivilisationsbewegung‘ bezeichnet und was bei den klassischen Modernisierungstheoretikern noch starke Besorgnis erregt hat: „Diese Zivilisation ist das unterscheidende und Überlegenheit gebende Kennzeichen der Okzidentalen. Aber zugleich erzeugen und erzwingen die Menschen des Abendlandes unter dem Druck ihres eigenen Konkurrenzkampfes in weiten Teilen der Erde eine Veränderung der menschlichen Beziehungen und Funktionen zu ihrem eigenen Standard hin.“10

In den Ausbreitungswellen, der Tendenz zur Angleichung der Lebens- und Verhaltensstandards und der Nivellierung der großen Kontraste unterscheidet Elias zwei Phasen: Eine Kolonisations- und Assimilationsphase, in der die untere und breitere Schicht zwar im Aufsteigen, aber doch noch der oberen deutlich unterlegen, in der sie spürbar am Vorbild der oberen orientiert sei und in der diese obere Gruppe sie, gewollt oder ungewollt, mit ihren Verhaltensweisen durchsetze. Das Phänomen solcher Scheinzivilisierung als ‚spezifische Verkümmerungen des Bewußtseins und der Haltung‘ im Zuge der Ausbreitung der Zivilisation beschreibt Elias wie folgt: „[…] man begegnet ihnen […] als ‚Halbbildung‘, als Anspruch etwas zu sein, was man nicht ist, als Unsicherheit des Verhaltens und des Geschmacks, als ‚Verkitschung‘ nicht nur der Möbel und Kleider, sondern auch der Seelen: Alles das bringt eine soziale Lage zum Ausdruck, die zur Imitation von Modellen einer anderen, gesellschaftlich höher rangierenden Gruppe drängt. Sie gelingt nicht; sie bleibt als Imitation fremder Modelle erkennbar.“11

9 Ebd. 10 Ebd.: S. 347. Vgl. zum ‚Doppelcharakter der Zivilisation‘ u.a. auch Elias 1989b: S. 135. Dieser Mechanismus stelle insofern einen Antrieb dauernder Bewegung der Verhaltensweisen in der Oberschicht dar, als durch die Ausbreitung nach unten und der leichten sozialen Deformation das entsprechende Verhalten als Unterscheidungsmerkmal entwertet wird. 11 Elias 1989c: S. 425f. In diese Phase gehört die vom iranischen Intellektuellen Al-e Ahmad beschriebene ‚Verwestlichung‘ (vgl. Al-e Ahmad 1962/1341). Angesichts der damaligen Entwicklungen in seinem Land schrieb er Anfang der 60er Jahre: „Die Rede ist davon, daß wir es nicht geschafft haben, gegenüber diesem Monstrum der neuen Zeiten eine überlegte und berechnete Position einzunehmen […]. Die Rede ist davon, daß wir, solange wir das Wesen, die Grundlage und die Philosophie der westlichen Zivilisation nicht begriffen haben, und nur zum Schein den Westen imitieren, genau wie jener Esel sind, der in die Haut des Löwen schlüpfte […]. Zweihundert Jahre sind es, daß wir wie ein Rabe sind, der ein Rebhuhn nachmacht. (Wenn denn entschieden sein sollte, wer der Rabe und wer das Rebhuhn ist“ (ebd.: S. 9, eig. Übers.; vgl. a. Gholamasad 1985: S. 567)

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Im Unterschied zu den unteren Schichten, in deren Bewußtsein sie selbst und die anderen Schichten im Guten wie im Bösen ihre wohlunterschiedene Stellung haben, und ihren Empfindungen, sind die Unterlegenheitsgefühle und -gesten dieser Aufsteiger eher durch Scham charakterisiert, da sie die Ge- und Verbote der oberen Schicht bis zu einem gewissen Maße als verbindlich für sich anerkennen, ohne sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit daran halten zu können. Dem folgt eine zweite Phase der Abstoßung, Differenzierung oder Emanzipation, in der die aufsteigende Gruppe spürbar an gesellschaftlicher Stärke gewinne, wodurch sich die Kontraste und Spannungen verstärken und die Mauern höher werden:12 „Je kleiner die Machtdifferentiale werden, desto deutlicher treten andere, nicht-ökonomische Aspekte der Spannungen und Konflikte ans Licht.“13 Damit ist die Ebene der Selbstwertbeziehungen im Prozeß der Ausbreitung des Zivilisationsprozesses im Groben umrissen. Um aber die Perspektive der von diesem einzigartigen Prozeß Betroffenen, deren Lage bei der Begegnung gewissermaßen ja auch einzigartig ist, zu verstehen, ist die Eliassche Korrektur, wie im vorangehenden Kapitel dargelegt, nicht ausreichend. Der tatsächliche Gang der Ereignisse erhält für die Menschen nicht nur Bedeutung und Sinn durch seine Funktion der Erhöhung oder Erniedrigung in einem vorgegebenen Schema von Selbstwerten, wie Elias betont,14 wenn auch die Berücksichtigung allein dieses Sachverhalts schon einen großen Gewinn für die Menschen und die Menschenwissenschaften brächte. Vielleicht ist sogar die Formulierung ‚nicht nur‘ irreführend, weil zum Schema von Selbstwerten auch die Qualität der sozialen Erfahrung von Erhöhung und Erniedrigung als Disposition gehört, so daß gerade jene, die noch nicht in diesen Zivilisationsprozeß verstrickt sind oder waren, die puren Kategorien von ‚mächtig‘ gleich ‚besser‘ und umgekehrt, diese Logik der Emotionen in dieser Form schlicht nicht haben dürften. Wie dem aber auch sei, der Gang der Ereignisse erhält auch Bedeutung und Sinn durch das vom Schema von Selbstwerten untrennbare, implizierte Schema des Selbst. Die Bewertung ist ja nichts anderes als die Inbeziehungsetzung des Selbst zum ‚Objekt‘, ist somit nicht nur Bewertung, sondern zugleich Selbstkonstituierung. Es war nicht zuletzt dieser Zusammenhang, der die langen Ausführungen über Affektivität und Selbst in dieser Arbeit notwendig machte. Die fehlende Verbindung im Eliasschen Gedankengebäude wurde im vorangehenden Kapitel in der Beziehung des tendenziell Affektneutralisierten zum Gegenüber ausgemacht, wo also der tendenziell affektneutralisierte Blick als besonderer Distinktionsmechanismus selbst Produzent und Reproduzent nicht nur der Machtstrukturen, sondern auch der Beziehungsqualitäten ist, insofern er eben nicht nur auf Natur und Gegenstände, sondern auch auf Menschen 12 Vgl. Elias 1989c: S. 424-427 13 Elias/Scotson 1990: S. 29 14 Vgl. ebd.: S. 308

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fällt, nicht zuletzt auf den nicht oder weniger zivilisierten, – heißt hier: neutralisierten – Blick, ja diesen erst konstituiert bzw. entsprechende Widerstände und Gegenbewegungen bedingt. Neben dem intergenerationellen Moment der beschriebenen Psychodynamik, die als tendenzielle LeerlaufDynamik (destruktiver Narzißmus) mit Ritualisierungsschleifen in Richtung diffuser Symbole charakterisiert wurde, verdient auch das interkulturelle Moment besondere Aufmerksamkeit, weil die Assimilierten/zu Assimilierenden keine Säuglinge oder wie es auch bei Elias im Bild der freilaufenden Affekte immer wieder erscheint, Rohlinge sind, sondern Menschen mit unterschiedlichen Kulturen, die sich aber von dieser einen dominierenden Kultur grundlegend unterscheiden. Aber wie? Serge Latouche, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, der sich vor allem mit den wirtschaftlichen und sozialen Nord-Süd-Beziehungen (mit Schwerpunkt Afrika) und entsprechend auch dem Entwicklungsbegriff beschäftigt hat, sieht die Singularität der Verwestlichung im Vergleich zu früheren Formen kultureller Beherrschung durch die Spezifik des Westens als Kultur/Antikultur bedingt15: Weder sei der westliche Imperialismus der einzige noch der brutalste Imperialismus der Geschichte gewesen, und die ‚kulturelle‘ Invasion des Westens sei nicht der einzige Fall einer asymmetrischen interkulturellen Beeinflussung. Allein in allen vorausgegangenen Fällen sei der Dekulturation eine gelungene Akkulturation gefolgt, zu keinem Zeitpunkt habe ein Verlust der kulturellen Identität stattgefunden. Das entstehende Vakuum, dieser Sinnverlust, aus dem das einzige wirkliche Elend resultiere, sei dieser antikulturellen Kultur eigen: „Paradoxerweise ist der Westen zugleich die einzige ‚Kultur‘, die sich mit einer beispiellosen Dynamik, Intensität und Geschwindigkeit ausgebreitet hat, und die einzige dominierende ‚Kultur‘, der es nicht nur nicht gelingt, die anderen Völker wirklich zu assimilieren, sondern nicht einmal ihre eigenen Mitglieder. Der Grund dieses Paradoxons ist uns jetzt bekannt. Die Universalität des Westens ist negativ. Sein überwältigender Erfolg liegt in der mimetischen Entfesselung dekulturierender Lebensformen und Praktiken. Er sorgt dafür, daß Sinnverlust und Leere zu einem universellen Phänomen werden.“16

Die ‚Kultur‘ definiert er als Antwort, die die Menschen auf das Problem ihrer gesellschaftlichen Existenz geben. Sie umfaßt alle Aspekte der menschlichen Aktivität. Das zivilisatorische Projekt sei in diesem Sinne antikulturell, „und zwar nicht nur, weil es rein negativ und vereinheitlichend ist (damit man von einer Kultur sprechen kann, muß es mindestens zwei geben …), sondern vor allem, weil es keine Antwort auf das Problem der sozialen Existenz der ‚Verlierer‘ gibt. Indem es die ganze Welt abstrakten Maßstäben unterwirft, eliminiert es konkret die ‚Schwachen‘ und 15 Vgl. Latouche 1994: S. 89f 16 Ebd.: S. 90

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verleiht nur den Leistungsfähigsten Lebens- und Stadtrecht; unter diesem Gesichtspunkt ist es das Gegenteil einer Kultur, die eine holistische Dimension enthält; die Kultur bietet allen Mitgliedern der Gesellschaft eine Lösung für die Herausforderungen des Daseins an.“17 Dieses zivilisatorische Projekt, das im territorialen Westen gereift sei, habe sich entterritorialisiert, und seine vorherrschende Form sei nichts anderes als ‚Entwicklung‘ gewesen, wie sie den Anderen auf die eine oder andere Weise nahegelegt wurde. So gesehen, ist Kultur nicht eine Dimension von Entwicklung, die für diese als funktional oder dysfunktional eingeschätzt werden könnte, sondern die Entwicklung (im Sinne von Modernisierung) wäre eine Dimension allein der ‚westlichen Kultur‘.18 Die Grenzenlosigkeit dieses Projekts führt Latouche darauf zurück, daß sich diese ‚Gesellschaft‘, die ‚Weltgesellschaft‘ allein auf das Individuum gründet, es habe weder ein richtiges Subjekt, noch eine umrissene territoriale Basis. Das Eigentümliche seines Universalismus liege darin, daß dieser auf Konkurrenz der Individuen und ihrem Streben nach Leistung beruhe: „Jeder kann teilnehmen und mitmachen; und selbst wenn die Chancen äußerst ungleich sind, ist es nicht ausgeschlossen, daß man gewinnt.“19 Indem mit der Durchsetzung des westlichen Individualismus das Funktionieren gesellschaftlichen Lebens immer stärker ‚Automatismen‘ anvertraut wird, so schreibt Latouche, findet eine Enthumanisierung des gesellschaftlichen Lebens statt.20 Was

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Ebd.: S. 59 Vgl. ebd.: S. 53 u. S. 56 Ebd.: S. 57 „Viele Autoren verwenden die Metapher von der Maschine mit ihrem Getriebe und ihrem Motor, um den Westen zu kennzeichnen. Der Westen hat ein ‚System‘ hervorgebracht, das die Eigenart besitzt, daß es sich von seiner historischen und geographischen Basis lösen kann, und das viele kulturverneinende Merkmale hat. In diesem Sinne ist es reproduzierbar, und es wurde tatsächlich reproduziert. Aber da ein solches System trotz seines territorial und geographisch ‚freischwebenden‘ Charakters auf dem Handeln der Menschen beruht, funktioniert es nur im metaphorischen Sinne wie eine Maschine. Das Verhältnis der Menschen zu den Dingen wird so dominierend, daß es das Verhältnis der Menschen zueinander bestimmt und sie zwingt, sich wie das Räderwerk einer riesigen Maschine zu verhalten, auch wenn sie es widerwillig tun. Eine gewisse Angst, in den zwischenmenschlichen Beziehungen ihresgleichen begegnen zu müssen, hat die Europäer veranlaßt, das Funktionieren des gesellschaftlichen Lebens immer stärker Automatismen anzuvertrauen. Die Herrschaft der ‚unsichtbaren Hand‘ kommt nicht nur im ökonomischen Bereich zum Ausdruck, sie hat auch die Tendenz, durch den Nachahmungseffekt, die Technik und die bürokratischen ‚Apparate‘ das gesamte gesellschaftliche Leben zu bestimmen. Die menschliche Neutralität der Automatismen verhindert zwar im Idealfall die Willkür, die Korruption und alle mit der menschlichen Schwäche verbundenen Mißbräuche, aber die Kehrseite ist eine immer stärkere Enthumanisierung des gesellschaftlichen Lebens“ (ebd.: S. 57f, Herv.i.O.). Auch Zygmunt Bauman spricht in diesem Zusammenhang vom tendenziellen Verlust der Fähigkeit der Menschen, wechselseitige Beziehungen auf moralische Regulationsmechanismen zu

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genau aber wird durch die Automatismen ‚ersetzt‘, dessen Ersetzung zur Rede von einer Enthumanisierung berechtigt? In einem Vergleich der herkömmlichen, d.h. westlichen Ökonomie, mit der ‚Ökonomie des Gefühls‘, wie die informellen Praktiken nichtwestlicher Menschen (er bezieht sich u.a. etwa auf die Handwerker in den Armenvorstädten Afrikas) genannt werden, die im eigentlichen Sinne gar keine Ökonomie sei, schreibt Latouche über letztere: „Die symbolischen Güter, wie Macht, Prestige, Vertrauen, Freundschaft etc., die in ihr eine so große Rolle spielen, sind nicht quantifizierbar. Die intensiven Abwägungen, zu denen sie Anlaß geben, sind ein Kalkül nur im metaphorischen Sinn. Eine in Ziffern ausdrückbare Bewertung ist bei ihnen gar nicht denkbar. Was dagegen in die Überlebensstrategie eingeht, ist ein Grundelement, das im Okzident praktisch verschwunden ist: das Gedächtnis.“21

Das symbolische Kapital ist hier die Fähigkeit zum figurationalen Verhalten und Empfinden, zur Vergegenwärtigung der Beziehungen und des Kontextes. Die Entfigurationalisierung und Entkontextualisierung im Zuge der Ökonomisierung der Beziehungen bringt die Welt ins Wanken, weil damit nicht nur die eigene Position, sondern jener pulsierende Takt aus den Fugen gerät, der das Selbst und die Beziehung generiert: Berührt und beeinträchtigt sind von diesem Prozeß die globale Wahrnehmung, die Ausgestaltung und Abstimmung der Affektivität auch im Bereich der Vitalitätsaffekte und hier vor allem der Schamaffekt.22 Eine andere Seite dieses Zivilisationsverlaufs ist dementsprechend die hohe Aufmerksamkeit, die dem (physisch) relativ gering bedrohten Körper zuteil wird. Zygmunt Bauman erklärt den Körperwahn und die Besorgnis um den Körper damit, daß in diesen Gesellschaften der Körper gleichsam zum letzten Rückzugsgebiet von Kontinuität und Langlebigkeit geworden ist: „Lebensdauer ist ein relativer Begriff, und unsere sterbliche Hülle ist heute möglicherweise das Langlebigste, was uns umgibt (genaugenommen das einzige, dessen durchschnittliche Lebenserwartung im Lauf der Zeit zunimmt).“23 Dieser psychischen Funktionalisierung der physischen Existenz der Einen steht die Aufgabe der physischen Existenz zwecks psychischen und sozialen Überlebens der Anderen gegenüber. Der Umgang mit dem Tod verweist aber darauf, welches Leben für einen selbst als lebensgründen, in dem Maße, in dem diese Praxis durch Zwangs- und Regulationsmechanismen ersetzt wird (vgl. Bauman 2002: S. 213). 21 Latouche 2004: S. 31 22 Die Metapher vom Westen als der ‚maschinengleichen Gesellschaft ohne menschliche Seele‘, die Buruma und Margalit in ihrem Buch „Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde“ als okzidentalistisch/ entmenschlichend ausgemacht haben (vgl. Buruma/Margalit 2005: S. 16 u. S. 26), könnte aus der Erfahrung der Seelenblindheit, aus der Erfahrung der ausbleibenden Antwort resultieren, die zur Diagnose ‚seelenlos‘ führt. 23 Bauman 2003: S. 215

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wert empfunden wird, die Auffassung vom Tod gibt dem Leben Bedeutung. Das westliche Projekt ‚Tod dem Tod‘, so Latouche, sei radikal und ausschließlich24 (zumindest was den Tod von Manchen betrifft, muß man hinzufügen). Doch was den Einen selbstverständlich geworden ist, war es nicht überall und für jeden: „Das Projekt der bürgerlichen Ethik, den Tod in all seinen Formen zu eliminieren und das Leben als Wert an sich durchzusetzen, konnte nur dort Wurzeln schlagen, wo der biologische Tod als unerwünscht betrachtet wird. Die traditionellen Gesellschaften geben dem Tod, der Armut, der Krankheit eine sehr große Bedeutung, während die Erhebung des biologischen Lebens in den Rang eines höchsten Wertes inhuman ist und die Bedeutung der Existenz in ihrer qualitativen Dichte zerstört.“25

Den Prozeß der Entfigurationalisierung bzw. des Bedeutungsschwundes hat Zygmunt Bauman als einen Prozeß der Adiaphorisierung des sozialen Handelns in verschiedenen Zusammenhängen beschrieben. Solches Handeln sei weder gut noch böse und könne daher zwar funktionalzielgerichteten, nicht aber moralischen Bewertungsmaßstäben unterzogen werden: „Die moralische Verantwortung für den Anderen verliert damit ihre ursprüngliche Bedeutung als Begrenzung des Ringens um Existenz.“26 Adiaphorisierung bezeichnet somit „jene Tendenz, moralischer Bewertung zugängliche Handlungskategorien zu beschneiden und zurechtzustutzen, die ethische Relevanz bestimmter Kategorien zu verschleiern oder zu leugnen und die ethischen Vorrechte bestimmter Handlungsziele zu bestreiten.“27 Doch dieser Prozeß muß in der Beziehungs- und Psychodynamik eingebettet betrachtet werden. Der Verleugnung der Urheberschaft 24 Vgl. Latouche 1994: S. 72. Und gleichzeitig gilt: „Niemand weiß, warum das das menschliche Leben ein gesundes und ein langes Leben sein soll“ (van den Berg 1960: S. 94). 25 Latouche 1994: S. 71, Herv.i.O. 26 Bauman 2002: S. 241 27 Bauman 2000: S. 213, vgl. a. ders. 1997: S. 162. Bauman unterscheidet noch eine zweite, spätmoderne Version der Adiaphorisierung, in der das Erfordernis, Distanz zu halten mit dem Verweis auf den entstehenden wechselseitigen Schaden durch Übernahme von Verantwortung begründet wird. Während die erste von Bauman beschriebene Variante durch institutionelle Bindung und Kontrolle, man könnte sagen, einer Enteignung der Affektivität bzw. des ‚moralischen Impulses‘ wirkte, „wirkt die neuere Form auf dem Weg der Entbindung, Freisetzung und Distanzierung, in scharfer Abgrenzung zu der früheren, bürokratischen Form, die von stark verpflichtender Einbindung als Bedingung allgegenwärtiger Überwachung, von normativer Regulierung, ständiger Kontrolle und routinemäßiger Ausübung von Druck ausging. Die Resultate sind jedoch nahezu die gleichen“ (Bauman 2000: S. 217). Der zu entrichtende ‚Preis‘ für diesen Etappensieg auf dem Weg zur Freiheit bestehe im weiteren Zerfall der weiteren Bindungen (vgl. ebd.). Diese neue ‚Freiheit‘ hat Richard Sennett (2005) in seinem Buch „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ in verschiedenen Facetten untersucht.

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geht die Nicht-Verfügbarkeit der Scham/der Alterität voraus. Das Resultat des bedeutungslosen Handelns, das gewissermaßen urheberlos erfolgt, ist, daß das verursachte Leiden nicht alterieren kann, so daß ein entsprechendes Schulderleben ausbleibt, das erst einen Lernprozeß bedingen könnte. Das Schulderleben wäre die Voraussetzung für eine Vergegenwärtigungsmöglichkeit des Vergangenen, wäre Gewissen, Wissen um die eigenen Spuren beim Anderen, die ein verantwortungsvolles Handeln erst ermöglichte, das es ermöglichte, die gleichen Fehler nicht stets zu wiederholen. Es geht mit diesem Begriff von Schuld nicht in erster Linie um eine, die vergeben oder eingeklagt werden könnte, sondern um eine Repräsentanz der kraft der eigenen Intentionalität stattgehabten sozialen Realität. Die psychische Voraussetzung dieses Lernens wäre, daß die Antwort des Gegenübers als solche erkannt wird. Den Prozeß der Entkontextualisierung hat Latouche als die Unvernunft der ökonomischen Vernunft ausgemacht. Sie entspricht gewissermaßen der systemtheoretischen These von der sogenannten ‚Offenheit‘, Unlimitiertheit der Funktionssysteme, muß jedoch in Zusammenhang mit der Entfigurationalisierung als Teil jener Psychodynamik angesehen werden, die ihren Leerlauf, ihre Unbegrenztheit, die Unfähigkeit zur Selbstbeschränkung dem Bedeutungsschwund verdankt. Diese ‚Unvernunft der ökonomischen Vernunft‘ begründet Latouche in einigen Sachverhalten, die ich hier wiedergeben möchte, da sie das Problem ‚des Westens‘ auf den Punkt bringen und die Notwendigkeit einer qualitativ-dynamischen Sicht des Entwicklungsprozesses veranschaulichen: „- Sie beruht auf einer Verwechslung von Zweck und Mittel, oder vielmehr unterdrückt sie jeden Zweck. - Die Ziele, die sie sich setzt, sind gleichfalls ohne Zweck und mithin leer. - Sie erfordert eine Homogenisierung der Welt, die nicht möglich ist. - Als Träger der Vernunft postuliert sie ein Subjekt, dessen Existenz durch und durch problematisch ist. - Schließlich setzt sie eine Leidenschaft für sich voraus, die durch sie selbst 28 nicht begründbar ist.“

Gegenstand einer Soziologie gesellschaftlicher Entwicklung ist nicht die Ent-Wicklung eines universalistischen, rationalistischen, individualistischen Kerns oder ein Prozeß zunehmender Aneignung von Fähigkeiten und Kontrollmöglichkeiten, dessen Produkt schließlich das ‚autonome Individuum‘ wäre, sondern die Entwicklung als Verwicklungen. Bei dem von Elias als ‚Ausbreitung des Zivilisationsprozesses‘ beschriebenen Entwicklung handelt es sich um Verwicklungen, die sich aus Intentionalitäten eines hegemonialen Blicks mit universalistischem Anspruch, der im spezi28 Latouche 2004: S. 83. Zum Themenkomplex Entwicklung aus alternativer Sicht empfehlenswert sind die Arbeiten von Wolfgang Sachs (1993 u. 2002).

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fizierten Sinne ‚rational‘ und ‚individualistisch‘ qualifiziert ist, aus den Reaktionen auf diesen Blick, und die Aufhebung dieser Reaktionen im mächtigen Blick ergeben. Die Ausbreitung der Zivilisationsbewegung, die allen anderen Aspekten der Verflechtung, der wirtschaftlichen und politischen unterliegt, ist beim Entwicklungsbegriff nicht zu unterschlagen. Vielmehr besteht die Aufgabe darin, die Zivilisationsbewegung als Selbstund Selbstwertdynamik zu spezifizieren.29 Die habituelle Entwicklung der Menschen im Westen, die nicht zuletzt aufgrund eben dieser Psychogenese mit einer höchst ‚ressourcenaufwendigen‘ Lebensweise einhergeht, hat ihre Auswirkungen auf den Rest und verflicht sich mit der Selbstwertdynamik des Prozesses auf zwischenstaatlicher Ebene. Auch wenn in der letzten Zeit weniger von der ‚Zivilisierung‘ des Restes, im Sinne der ‚Ausbreitung‘ der Zivilisation, und mehr von der Notwendigkeit der ‚Verteidigung‘ der Zivilisation die Rede ist – in beiden Fällen war und ist die westliche Zivilisation gemeint –, besteht nach wie vor die Forschungsaufgabe darin, zu präzisieren, worin das zu Transferierende/Verteidigende besteht, in seinen Verwicklungen mit den Anderen, oder besser als Teil dieser Verwicklung, eine Gesamtdynamik zu erfassen, in der all das gewachsen ist, was heute mit Vorliebe als getrennt voneinander und als geschichtslos hingestellt wird. Die Gesamtdynamik ergibt sich erst aus der Verstrickung dieses Zivilisationsverlaufs der Einen mit Verläufen der Anderen. Diese Verwicklungen weisen eine Struktur auf. Wie Bourdieu es sagt: „Ein Wissen, das von der einäugigen Hellsichtigkeit der Protagonisten und dem souveränen Blick des unparteiischen Beobachters gleichermaßen unterschieden wäre, ist nur durch die unerläßliche Arbeit an der Konstruktion des Kampfplatzes zu erringen, innerhalb dessen die partiellen Standpunkte und antagonistischen Strategien ihre Bestimmung gewinnen.“30

Für die Theorien gesellschaftlicher Entwicklung sind aber größtenteils und anhaltend sowohl die Haltung ‚einäugiger Hellsichtigkeit‘ als auch des vermeintlich unparteiischen Beobachters charakteristisch, die Verschiebung von der ersten zur zweiten Haltung sehr aufschlußreich, will man diese Theorien als Momente ihrer Gesellschaft verstehen. Hatte man in der 29 Charakteristisch für diese weltweite Verstrickung der Selbst- und Selbstwertebene ist gegenwärtig das Ausmaß, in dem der Leib des muslimischen Mannes, ob nun etwa in Form der Abu-Ghraib-Bilder, oder in pseudowissenschaftlichen Abhandlungen in den letzten Jahren zum Medienobjekt geworden ist. 30 Bourdieu 1987: S. 797f. Zu dieser Arbeit an der ‚Konstruktion des Kampfplatzes‘ gehören mitunter die Arbeiten von Dawud Gholamasad (u.a. 1997, 2002), in denen etwa der Prozeß der Globalisierung als Entstehungs- und Wirkungszusammenhang einer globalen Beziehungsfalle von kulturell unterschiedlich geprägten Menschen als Etablierte und Außenseiter in ihren Aufund Abstiegsprozessen untersucht wird.

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klassischen Modernisierungstheorie den fast unbeirrten hegemonialen Blick auf den Rest der zu Modernisierenden, deren Modernisierung noch eine große Anstrengung für die Modernen bedeutete, geben ihre prominenten Kritiker in der Systemtheorie und der Theorie ‚Zweiter Moderne‘ vor, den parteiischen Blick abzulegen, indem sie räumliche/leibliche Kategorien in der Soziologie angesichts der Entwicklung als lächerlich brandmarken, statt dessen große Striche und Linien in eine imaginierte Weltlandschaft und ‚reflexive Schleifen‘ in die Luft ziehen. Daß neben dem Raum der Gesellschaft der Leib des Subjekts und dieses gleich mit für irrelevant erklärt werden, ist dem Umstand geschuldet, daß die gesellschaftliche Tendenz zur Aufdeckung, Explizierung und Exponierung der Kohärenz des Selbst als Illusion auch an solchen Gesellschaftstheorien nicht spurlos vorbeigegangen ist. Die beiden genannten Theorierichtungen stellen je auf ihre Weise eine Verarbeitung solcher ‚Erkenntnisse‘ bzw. ‚Widerfährnisse‘ dar: Sie agieren in der Theorie die im vorangehenden Kapitel skizzierte Beziehungs- und Psychodynamik. Die Frage, die sich für die Soziologie stellt, ist, inwiefern die Notwendigkeit besteht, dem ‚Sog‘ zu folgen, mit einem Teil des Gegenstandes zu verschmelzen, ‚zu exekutieren, wovon sie kündigt‘,31 um einen anderen Teil auszublenden. Damit hätte sie, gleichgültig, ob sie jenen Subjektivierungs- und Ästhetisierungstendenzen bei der Konzipierung gesellschaftlicher Prozesse folgt, die durch die Modernisierungstheorie Ulrich Becks vorgegeben sind, die Quasi-Subjekte konstruiert, welche von Grenzauflösungen zu leben gehalten sind, oder das Erleben schlicht für irrelevant erklärt, wie in der Systemtheorie von Niklas Luhmann geschehen; damit hat sie das Erleben der Einen über das der Anderen gestellt. Damit entgeht ihr gerade ihr eigentlicher Gegenstand, die Verflochtenheit der Perspektiven, die fortbesteht und die nicht erst begonnen hat, seit die Einen begonnen haben, die Weltgesellschaft in den Kategorien ‚Risiko‘ bzw. ‚Kontingenz‘ wahrzunehmen. Es entgeht ihr die heute vorherrschende weltweite (im räumlichen Sinne) Verflechtung (im leiblichen Sinne) der Selbst- und Selbstwertdynamiken, die den Prozeßverlauf bestimmen. Sie befindet sich nach wie vor mitten auf dem Kampffeld. Die Vorstellung von ‚Systemen‘, deren Bedingtheit durch menschliches Handeln, die trotz ihres territorial und geographisch ‚freischwebenden‘ Charakters weiterhin besteht, ausgeblendet wird, ist selbst dem zivilisatorischen Prozeß geschuldet. Das systemtheoretische Modell der ‚Ausdifferenzierung der Funktionssysteme‘ sowie das systemtheoretische Konstrukt der ‚höheren Amoralität der Funktionscodes‘ beschreiben zwar in gewisser Weise den hier skizzierten Prozeß der Entfigurationalisierung und Entkontextualisierung. Das gravierende Versäumnis besteht jedoch darin, diese Entwicklungen nicht im Zusammenhang mit der habituellen Ebene zu verorten.

31 Vgl. Nassehi 2003: S. 65

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Es muß nochmals hervorgehoben werden, daß der Verweis auf die Relevanz der Affektivität (auf Selbstwert- und Selbstebene) hier nicht als eine Reduzierung auf innerpsychische Angelegenheiten mißverstanden werden darf. Ebensowenig geht es um die Konstatierung mangelnder emotionaler Befriedigung als eine folgenlose oder zu kompensierende Nebenfolge von Modernisierungsprozessen. Die Erfahrungsdimension und die ihr zugrundeliegende affektive Dimension sind Konstituenten sozialer Prozesse und in der Soziologie gesellschaftlicher Entwicklung zu berücksichtigen. Prozesse der Entfigurationalisierung und Entkontextualisierung berühren die Generierung von Bedeutung auf existentieller Ebene, die Auseinandersetzung mit Realität und die Fähigkeit dazu, sowie die Fähigkeit, aus der Realität zu lernen. Subjektlosigkeiten32 in der Soziologie sowie Subjektivierungen gesellschaftlicher Prozesse stehen nicht nur für die Abwesenheit des soziologischen Gegenstands, sondern sind ebenso konsequenzreich für die Schaffung sozialer Realität; sie sind, wenn auch nur in Form von Nahelegungen und Affirmationen der üblichen Praxis und Geisteshaltung, Sequenzen der Beziehung zu sich selbst und zu Anderen. Kennzeichnend für Praxis und Haltung sind nicht nur die Nivellierung von Bedeutung und die Abstraktion der Zerstörung, sondern auch eine Verleugnung von Urheberschaft und eine Abwesenheit der Verantwortung. Luhmann sagt: „Das System tut, was es tut.“33 Hier, in solch einem ‚fatalistischen Diskurs‘, wie Bourdieu schreibt, werden gesellschaftliche Tendenzen in Schicksal verwandelt, mit den entsprechenden Konsequenzen der Schicksalsergebenheit, Demoralisierung und Passivität. „Nun können jedoch die gesellschaftlichen und ökonomischen Gesetze usw. nur dann wirksam werden, wenn man sie gewähren läßt.“34 Und ‚man‘ heißt hier Menschen, nicht System. Die Frage nach der Urheberschaft und Intentionalität von Menschen, die kraft einer spezifischen Ausgestaltung/gesellschaftlichen Prägung handeln, ist nicht ausspielbar gegen die Entweder-Oder-Frage von Gesellschaft/System versus Individuum, mächtiger Prozeß gegen autonomes Subjekt. „Die Subjekte sind in Wirklichkeit handelnde und erkennende Akteure, die über Praxissinn verfügen […], über ein erworbenes Präferenzsystem, ein System von Wahrnehmungsund Gliederungsprinzipien (das, was man gewöhnlich den Geschmack nennt), von dauerhaften kognitiven Strukturen (die im wesentlichen das Produkt der Inkorporierung der objektiven Strukturen sind) und von Handlungsschemata, von denen sich die Wahrnehmung der Situation und die darauf abgestimmte Reaktion leiten läßt.“35

32 33 34 35

Vgl. Weber 2005 Luhmann 1998: S. 88 Bourdieu 1998a: S. 77 Bourdieu 1998b: S. 41, Herv.i.O.

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Kontrolldynamiken Der Grund für die Idealisierung des Westens seitens der ‚Westler‘ und des ‚Restes‘ sowie überhaupt dafür, daß die westlichen Gesellschaften als entwickelter und besser angesehen werden, scheint in ihrer Mächtigkeit, in der durch sie erreichten Kontrolle, bei Elias, in den drei oben genannten Bereichen zu liegen. Und die Hoffnung jener, die die Probleme der westlichen Gesellschaften ‚anerkennen‘, besteht darin, daß diese eben durch ein Mehr an Steuerung und Kontrolle in den Griff zu bekommen seien.36 Ein zentraler Ansatz zur Revision des Entwicklungsbegriffs besteht in einer Revision eben dieses Kontrollbegriffs. Bei Elias wurde hinsichtlich der Kontrollen, die alle Menschengruppen mehr oder weniger entwickeln, vor allem das Ausmaß dieser Kontrollen als Kriterium von Entwicklung genannt, aber auch auf die Relevanz des Zusammenhangs dieser Kontrollen hingewiesen. Wollte man bei einem quantitativen Kontrollbegriff verbleiben, käme man mit einem Machtbegriff aus, der im vorangehenden Kapitel als ‚nackte Macht‘ spezifiziert wurde. Zu diesem Begriff bin ich durch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Autoren gelangt, die sich mit Wandlungen der Qualität von Beziehungen im Zuge von Zivilisationsprozessen beschäftigen. Der Begriff ‚nackt‘ sollte metaphorisch sowohl eine gewisse Ungeschütztheit (des zu Kontrollierenden) auf der einen Seite als auch eine bestimmte Aufgeklärtheit bzw. Sachlichkeit (des Kontrollierenden) auf der anderen Seite zum Ausdruck bringen. Wenn die Macht als solche in Erscheinung tritt, ist sie nackt, sie ist nackt von Beziehungsqualitäten, bzw. charakterisiert durch die nichtreflektierte Position des Machenden. Daß sie entkleidet wird, ist einer Beziehungs- und Psychodynamik geschuldet (manche würden sagen gedankt), die zu einer hohen Relevanz von ‚Machbarkeit‘, Steuerbarkeit, Manipulierbarkeit, Berechenbarkeit in Empfindens- und Verhaltensmustern führt – einerseits. Die andere Seite war eine Unduldsamkeit, eine Empfindlichkeit und Abneigung gegenüber Kontingentem, Unsteuerbarem, Nicht-Manipulierbarem. Das Ideal der Autonomie, der SelbstGenügsamkeit und der Selbstreferentialität gehören hierher. Auf den Punkt gebracht: Das Unerträgliche ist das/der Andere, der mich ‚macht‘: das Dilemma des homo clausus bzw. des Narziß. Daß Menschen nun steuern und kontrollieren müssen, um zu überleben, ist bekannt. Daß Überlebenschancen höher oder niedriger sein können, ist bekannt. Daß Menschen um Überlebensmittel, mit mehr oder weniger Machtchancen ausgestattet, kämpfen, ist bekannt. Bis hierhin mag der quantifizierende Gebrauch des Machtbegriffs sinnvoll sein. Es ist jedoch gerade aufgrund der Unvernunft der diese Macht ermöglichenden Rationalität(en) notwendig, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß Steuerung, Manipulation und Kontrolle unterschiedliche Verläufe anneh36 Vgl. u.a. Berger 1993: S. 354

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men können: Die Kontrolle kann dazu führen, daß das zu Kontrollierende in seiner Andersheit tendenziell aufgehoben wird, ob nun durch Einverleibung oder Zerstörung. Die Kontrolle kann aber auch unter Beibehaltung des zu Kontrollierenden, des Anderen stattfinden, das wäre im zwischenmenschlichen Bereich Steuerung durch Kommunikation bei Aufrechterhaltung der Beziehung, nicht zuletzt durch affektive Kommunikation. Im letzteren Fall gibt es eine anerkannte Grenze des Steuerungs-/ Kontrollstrebens. Diese Grenze wiederum ist konstitutiv für Sinn bzw. Bedeutung, in dessen Kontext eine Machthandlung stattfindet. Sie ist das Kleid der Macht. Mit dem Durchstoßen der Grenze, mit der Zerstörung des Anderen bzw. mit dem ‚Ab-erkennen‘ des Anderen als solchen wird die Qualität vernichtet und wir können getrost mit einem rein quantitativen Machtbegriff hantieren bzw. das Ausmaß der Kontrolle erhöhen. Die Kontrolle jedoch, die durch diese Macht ermöglicht wird, beruht auf einer vorangegangenen Neutralisierung gegenüber dem sachlichen und zwischenmenschlichen Kontext des zu Kontrollierenden. Der Versuch der Kontrolle durch Neutralisierung setzt zwangsläufig Dynamiken in Gang, die von dieser Kontrolle weder intendiert noch einholbar, sondern unaufhebbar mit ihr verwoben sind: im Kontext des zu Kontrollierenden, wodurch sich zwangsläufig das zu Kontrollierende verändert, und in der Beziehung des Kontrollierenden zum Kontrollierten, wodurch sich nicht zuletzt der Kontrollierende selbst verändert. Diese Dynamiken liegen im blinden Fleck der auf das vermeintlich zu Kontrollierende fokussierten Aufmerksamkeit. Sie gehören jenseits der hegemonialen zur ‚unterschlagenen‘ Wirklichkeit, die nichtsdestotrotz den Kontrollierenden und seine Aufmerksamkeitslenkung bestimmt. Aus dieser Betrachtung des Kontrollbegriffs folgt, daß Kriterium von Entwicklung nicht nur Ausmaß, sondern auch Qualität der Kontrolle, bzw. die Begrenzung der Macht zu sein hat: Inwiefern kann das, was machbar ist oder zumindest als machbar erscheint, unterlassen werden? Die Fähigkeit zur Unterlassung der Manipulation, die auf Einseitigkeit beruht, und die Aktivität in Beziehung, die auf gegenseitiger Beschränkung durch Wahrnehmung beruht, sind vom Prozeß der Zivilisation tiefgehend berührt. Die von Elias beschriebene zivilisatorische Entwicklung, samt der in ihr gewachsenen Sensibilität gegenüber ‚Macht‘ und dem Ideal der Autonomie, veranlaßte ihn, zu unterstreichen, daß man zwischen dem Tatbestand der Macht und der Bewertung der Macht unterscheiden müsse: Macht sei eine Struktureigentümlichkeit jeglicher Beziehung.37 Angesichts der ‚unberührbaren‘ Macher ergibt sich demgegenüber die Notwendigkeit zu unterstreichen, daß Beziehung der Kontext jeglicher Macht ist. Damit schließe ich mich zwar dem Plädoyer für eine Selbstbeschränkung der modernen und sich modernisierenden Gesellschaften in ihrem Mach-Eifer 37 Vgl. Elias 1986b: S. 76f

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in allen Bereichen an. Aber die vorliegende Arbeit handelte eher davon, daß und warum eine solche vernünftige Selbstbeschränkung unwahrscheinlich ist.

Remoralisierung als Neutralisierung der Neutralisierung "Die Wissenschaft von der Gesellschaft läßt sich nur dann voranbringen und verbreiten, wenn die Wiederkehr des Verdrängten durch Neutralisierung der Neutralisierung, durch Negation der Verleugnung in allen ihren Formen […] erzwungen wird.“ 38

Es gibt gegenwärtig u.a. in der Soziologie eine Tendenz, gewisse Denkansätze und Modelle herablassend, spöttisch als naiv und überflüssig zu disqualifizieren. Es handelt sich bei diesen Ansätzen um solche, die ehemals als ‚kritische Soziologie‘ eingestuft werden konnten. Dabei hat sich im Gegenzug zu dieser ‚Zensur‘, die nicht neu ist, bereits eine Selbstzensur entwickelt, die dazu geführt hat, Kritik, wenn überhaupt, nur noch in bester Laune, auf eine Art vorzutragen, die den Spaß nicht verdirbt, wozu auch gehört, jeden Verdacht auf einen Anspruch auf Verbindlichkeit von sich zu weisen. Lauteten die Stigmata früher ‚kulturpessimistisch‘ und ‚kulturkritisch‘, so kommt heute die Rede von ‚aufgeregter‘, empörter‘ Theorie hinzu. Damit ist aber zunächst nichts über die Qualität der einen und der anderen gesagt. Die Trennlinie scheint eher an der Moralisierungsverdachtsgrenze zu verlaufen. Man könnte in systemtheoretischer Manier diese Grenze dort verorten, wo funktionssinnig Beschäftigte mit etwas belästigt werden, was nicht zu ihrem Funktionsbereich gehört, wo Systeme mit einem Code konfrontiert werden, mit dem sie partout nichts anfangen können. Man könnte mit Armin Nassehi Moral als ‚Personalisierung von Problemen‘ verstehen,39 die ‚Darstellung der Gesellschaft in vereinfachter Form‘, und meinen, diese Vereinfachung sei einer Soziologie nicht würdig oder möglich. Der abwertende Begriff ‚Moralisierung‘ unterstellt ein Es-GeschehenIst, in dessen Nachhinein Beobachter, die das System nicht begriffen haben, dem Geschehenen eine Beziehung nachdichten, eine Beziehung, die es niemals gegeben hat. So passiert es bisweilen, daß bevor überhaupt Beziehungsdynamiken nachvollzogen werden können, aus denen ja soziale Prozesse bestehen, bereits beim Ansatz einer Erörterung der Beziehung die Stigmatisierung einsetzt. Und genau hier verläuft die Linie: Was die Soziologie spaltet, ist die Ausblendung der Beziehung durch die Einen und die Beziehungsorientiertheit der Anderen. Die Thematisierung von Bezie38 Bourdieu 1987: S. 796, Herv.i.O. 39 Vgl. Nassehi 2003: S. 274

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hung, die Herausstellung einer Verbindung zwischen (Nicht-)Handeln und Leiden, die Thematisierung der Dynamik aufgrund der qualitativen Ausgestaltung der Beziehung, steht dem entmenschlichten Vokabular derjenigen gegenüber, die Globalisierung, Zwänge und Anpassungserfordernisse zu einem Verweisungszusammenhang basteln oder tatsächlich so wahrnehmen, in dem Menschen, wenn überhaupt noch bestenfalls dann thematisiert werden, wenn es darum geht, von ihnen ‚Selbstverantwortung‘ zu fordern – zwecks Anpassung. Die vom hegemonialen Diskurs verdeckten Zusammenhänge besprechbar zu machen, ist Aufgabe der Soziologie. Gerade weil die Soziologie zunehmend in die Lage gedrängt ist, tendenzielle NichtBeziehung zu thematisieren, besteht die Notwendigkeit, die Dynamik, die aus dieser Destruktion der Wechselseitigkeit entsteht, zu konzeptualisieren, was wiederum erfordert, daß man der ‚Erkenntnis‘ einer tatsächlichen Beziehungslosigkeit der Geschehnisse widersteht, einer Erkenntnis, die sich kraft solcher psychischen Beschaffenheit dem Erkennenden aufdrängt bzw. ihm widerfährt. Wenn die Neutralisierung des ‚moralischen Impulses‘ (Bauman) Grundzug des zu erfassenden gesellschaftlichen Prozesses (im Baumanschen Sinne: des Zivilisationsprozesses) ist, dann gilt für die Soziologie, den Prozeß eben sehr wohl als einen ihr gegenüberstehenden Gegenstand zu betrachten, anstatt mit dem Gegenstand zu verschmelzen: „Jede Neuformulierung der Theorie des Zivilisationsprozesses in diese Richtung erfordert notwendig eine Neubesinnung der Soziologie selbst. Art und Stil der Soziologie haben sich der modernen Gesellschaft analysierend angepaßt. Seit ihrer Entstehung unterhält die Soziologie eine mimetische Beziehung mit ihrem Gegenstand – oder, zutreffender vielleicht, mit der Vorstellung von diesem Gegenstand, als Bezugspunkt für den eigenen Diskurs konstruiert und akzeptiert. Derart bekennt sich die Soziologie zu eben den Prinzipien rationalen Handelns, die sie für ihren Gegenstand als konstitutiv ansieht. Die Unzulässigkeit ethischer Problemstellungen ist verbindlich für den eigenen Diskurs, da diese begrenzt gültigen Ideologien zugeschrieben werden und soziologischer, d.h. rationalwissenschaftlicher Beschäftigung nicht angemessen scheinen. Begriffe wie die ‚Unverletzlichkeit menschlichen Lebens‘ oder ‚moralische Pflicht‘ klingen daher in einem Soziologieseminar ähnlich fremdartig wie in den desinfizierten sterilen Büros des Verwaltungsapparates.“40

Die Aufgabe der Soziologie besteht darin, ein Modell zu liefern, das einer Zivilisierung der Macht und erstarkender Gegenmacht zuträglich ist: Dies wäre ein Hinarbeiten auf Verantwortung (im Sinne von Wahrnehmung) der Verantwortung (im Sinne der eigenen Urheberschaft). Die Rede von Systemen und der ‚Riskanz von Unterscheidungen‘41 ebenso wie die von

40 Bauman 2002: S. 43, Herv.i.O. 41 Vgl. Luhmann 1998: S. 62 u. S. 226

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‚Quasi-Subjekten‘42 steht einer Beziehungs- und Zukunftsgestaltung entgegen. Wie van den Berg so schön sagt, der Wissende macht Zukunft, weil er spricht. Und Wählen heißt nicht, sich zwischen durch Untersuchung bekannten, also ungefährlich gemachten Dingen einen sicheren Weg suchen. Das wäre höchstens ein Sich-weiter-Schieben oder selbst nur ein Sichweiter-schieben-Lassen. Wählen heißt: einen Weg ins Ungewisse entwerfen, einen Weg durch Gefahr.43 Sinnstiftung und Moralität gehören zur Soziologie wie zu jeder menschlichen Handlung, es ist nur eine Frage, wie man mit diesem symbolischen Potential umgeht: „Nichts ist weniger unschuldig als das Laisser-faire, wie Bourdieu feststellt. Wer gleichgültig menschliches Leid betrachtet und sein Gewissen mit der rituellen Wiederholung der TINA-Phrasen (There Is No Alternative) beruhigt, macht sich schuldig. Wer immer sich bewußt oder aus Versehen an der Verschleierung oder, schlimmer noch, an der Verleugnung der Tatsache beteiligt, daß die soziale Ordnung von Menschen gemacht, daß sie so, wie sie ist, nicht unvermeidlich, daß sie kontingent und veränderbar ist, der handelt unmoralisch – der erfüllt den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Soziologie zu betreiben und soziologische Texte zu verfassen, zielt immer auf das Freilegen von Möglichkeiten eines anderen Zusammenlebens ohne oder mit weniger Leid: auf Möglichkeiten, die uns alltäglich vorenthalten werden, die man übersieht oder für unglaubwürdig hält. Nicht sehen, nicht suchen wollen, und damit diese Möglichkeiten zu unterdrücken, ist Teil des Leids und trägt zu seiner Fortdauer bei. Einsicht und Handeln folgen nicht automatisch aufeinander, man traut den Möglichkeiten nicht, will sie nicht in der Realität überprüfen. Aber Aufdecken und Einsicht sind der Anfang, nicht das Ende im Krieg gegen das menschliche Leid. Doch läßt sich dieser Krieg nicht ernsthaft führen, geschweige denn mit der Hoffnung auf einen Teilsieg, wenn nicht das Ausmaß der menschlichen Freiheit entdeckt und erkannt wird, so daß diese Freiheit im Kampf gegen die sozialen Ursachen allen Unglücks, auch des individuellen und privaten, eingesetzt werden kann. Man hat keine Wahl zwischen einer ‚neutralen‘ und einer ‚engagierten‘ Art, Soziologie zu betreiben. Eine Soziologie, die sich nicht einläßt, ist unmöglich. […] Soziologien mögen die Effekte ihrer eigenen Arbeit auf die ‚Weltsicht‘ verleugnen oder vergessen, ebenso wie die Wirkungen dieser ‚Sicht‘ auf individuelles oder kollektives Handeln, aber damit verwirken sie die Möglichkeit verantwortlicher Entscheidungen, vor denen jeder Mensch täglich steht.“44

In diesem Sinne möchte ich schließlich auch mit Zygmunt Baumans unter den gegebenen und beschriebenen Umständen freilich problematischem Vorschlag und in Übereinstimmung mit seiner Beharrlichkeit zum Ende kommen:

42 Vgl. Beck/Bonß/Lau 2001: S. 42ff 43 Vgl. van den Berg: S. 16 u. S. 47 44 Bauman 2003: S. 252, Herv.v.mir

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„Wenn irgend etwas zählt, ist es das Wiedererlangen der moralischen Befähigung und, letztlich, die Remoralisierung des menschlichen Raumes. Auf eine wahrscheinliche Entgegnung des Tenors: ‚Dieser Vorschlag ist unrealistisch‘, lautet die angemessene Antwort: ‚Er sollte besser realistisch sein.‘“45

45 Bauman 1995: S. 357, Herv.i.O.

Literatur

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Beate Fietze Historische Generationen Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität September 2008, ca. 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-942-8

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Dirk Baecker, Matthias Kettner, Dirk Rustemeyer (Hg.) Zwischen Identität und Kontingenz Theorie und Praxis der Kulturreflexion September 2008, ca. 260 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-965-7

Andreas Reckwitz Unscharfe Grenzen Perspektiven der Kultursoziologie August 2008, ca. 320 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-917-6

Claudio Altenhain, Anja Danilina, Erik Hildebrandt, Stefan Kausch, Annekathrin Müller, Tobias Roscher (Hg.) Von »Neuer Unterschicht« und Prekariat Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten August 2008, ca. 192 Seiten, kart., ca. 21,80 €, ISBN: 978-3-8376-1000-0

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Janine Böckelmann, Claas Morgenroth (Hg.) Politik der Gemeinschaft Zur Konstitution des Politischen in der Gegenwart

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Sozialtheorie Jens Warburg Das Militär und seine Subjekte Zur Soziologie des Krieges Februar 2008, 378 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-852-0

Franz Kasper Krönig Die Ökonomisierung der Gesellschaft Systemtheoretische Perspektiven 2007, 164 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-841-4

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Sandra Petermann Rituale machen Räume Zum kollektiven Gedenken der Schlacht von Verdun und der Landung in der Normandie 2007, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-750-9

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Sozialtheorie Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen

Nina Oelkers Aktivierung von Elternverantwortung Zur Aufgabenwahrnehmung in Jugendämtern nach dem neuen Kindschaftsrecht

2007, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-477-5

2007, 466 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-632-8

Benjamin Jörissen Beobachtungen der Realität Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien

Thomas Jung Die Seinsgebundenheit des Denkens Karl Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie

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Susanne Krasmann, Michael Volkmer (Hg.) Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften Internationale Beiträge 2007, 314 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-488-1

Hans-Joachim Lincke Doing Time Die zeitliche Ästhetik von Essen, Trinken und Lebensstilen 2007, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-685-4

Anne Peters Politikverlust? Eine Fahndung mit Peirce und Žižek 2007, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-655-7

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Ingrid Jungwirth Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman 2007, 410 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-571-0

Christine Matter »New World Horizon« Religion, Moderne und amerikanische Individualität 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-625-0

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