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German Pages 232 [231] Year 2015
Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel
Heiner Keupp (Prof. Dr. phil.) und Joachim Hohl (Dr. phil.) lehren Reflexive Sozialpsychologie an der Universität München.
Heiner Keupp, Joachim Hohl (Hg.)
Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel Zur Theorie des Subjekts in der Spätmoderne
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Inhalt Einleitung HEINER KEUPP, JOACHIM HOHL
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Individuelles Handeln und gesellschaftliche Veränderung – einige Bemerkungen zur Subjektkonzeption der soziologischen Handlungstheorie MICHAEL SCHMID
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Differenzierungen der psychologischen Handlungstheorie – Dezentrierungen des reflexiven, autonomen Subjekts JÜRGEN STRAUB
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Die Realität des Subjekts: Überlegungen zu einer Theorie biographischer Identität MONIKA WOHLRAB-SAHR
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Das unmögliche weibliche Subjekt und die Möglichkeiten feministischer Subjektkritik CORNELIA KLINGER
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Das un-mögliche Subjekt. Ein Blick durch die erkenntnispolitische Brille der Cultural Studies PAUL MECHERIL
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Alltägliche Identitätsarbeit und Kollektivbezug. Das wiederentdeckte Wir in einer individualisierten Gesellschaft WOLFGANG KRAUS
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Die Soziologie der Moderne und die Frage nach dem Subjekt PETER WAGNER
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Zugerichtet, kontrolliert und abhängig. Das Subjekt in der Figurationssoziologie GABRIELE KLEIN
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Das Unbehagen in der Spätmoderne. Zur gegenwärtigen Lage des Subjekts aus der Sicht einer psychoanalytischen Sozialpsychologie HANS-JOACHIM BUSCH
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Autorinnen und Autoren
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Einle itung HEINER KEUPP, JOACHIM HOHL
Kr i s e d e s „ S u b j e k t s “ ? Angesichts der sich gegenwärtig verändernden gesellschaftlichen Bedingungen, wie sie unter den Stichworten „Übergang zur Postmoderne“, „reflexive Modernisierung“ etc. verhandelt werden, steht das „Subjekt“ als eine Basiskategorie sozialwissenschaftlicher Theoriebildung auf dem Prüfstand. Dabei bewegt sich die Auseinandersetzung zwischen zwei Polen: Während die einen den „Tod des Subjekts“ verkünden, der mit dem postmodernen Ende der Großen Erzählungen vom Subjekt eingetreten sei, halten andere unbeirrt am Subjekt fest, da es als Maßstab der Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen unverzichtbar sei. So breit gefächert die Auseinandersetzungen zum Konzept des Subjekts in den Sozialwissenschaften (und nicht nur dort) auch sein mögen, so fragmentiert sind sie zugleich. Die verschiedenen disziplinär akzentuierten Thematisierungen in Philosophie, Soziologie, Psychologie und Anthropologie sind kaum vermittelt; erste Versuche, diese Debatten zusammenfassend darzustellen, liegen vor (Grundmann und Beer 2003). Hier setzt auch der vorliegende Band an: Er zielt darauf ab, die wichtigsten theoretischen Perspektiven zur (Re-)Konzeptionalisierung des Subjekts in den Sozialwissenschaften, und hier vor allem in den gegenwärtigen deutschsprachigen Sozialwissenschaften, übergreifend darzustellen, zu bilanzieren und so einen kritischen Beitrag zur Diskussion um das Subjekt zu leisten. Im Zentrum steht die Frage, ob und wenn ja, wie unterschiedliche sozialwissenschaftliche Subjekttheorien aktuelle gesellschaftliche Strukturveränderungen in ihre Theoriebildung einbeziehen und zum Anlass für Veränderungen ihrer jeweiligen Subjektkonzeptionen nehmen. 7
HEINER KEUPP, JOACHIM HOHL
Unser theoretischer Ausgangspunkt besteht in der Annahme eines massiven gesellschaftlichen Strukturwandels, der die Entwicklungsdynamik der Moderne tief greifend verändert, und der dazu geführt hat, dass diese nicht länger als gleichermaßen lineare wie unendliche Zunahme der Beherrschung von äußerer und innerer Natur beschrieben werden kann. Was sich stattdessen durchsetzt, ist eine „Rückkehr der Unsicherheit“ in die Gesellschaft und eine „Vervielfältigung der Moderne“ – einer Moderne, die offensichtlich nicht mehr, wie von Marx über Weber bis Parsons vermutet, einer in letzter Instanz eindeutigen Entwicklungslogik folgt. Die industrielle Moderne hatte für die Integration der Subjekte in gesellschaftliche Strukturen bestimmte Grundmuster ausgebildet, die eine epochenspezifische Passung von sozialstrukturellen Anforderungen und individuell-biographischen Formen der Lebensführung und der Identitätsentwicklung ermöglichten: Erwerbsbezogene Normalbiographien, geschlechtsspezifische Formen der Arbeitsteilung, soziale Sicherungssysteme etc. haben in der Ersten Moderne dafür gesorgt, dass die normative Erwartung einer dauerhaft gelingenden Subjekt-Struktur-Synchronisation wohl begründet war. Die theoretische Figur der Zweiten Moderne ist dagegen von der Annahme eines durchgängigen Prozesses der reflexiven Individualisierung geprägt, der vor allem hinsichtlich der Subjekt-Struktur-Synchronisation zu nachhaltigen Veränderungen führt. Denn jene zentralen institutionellen Strukturvorgaben der Ersten Moderne, die bislang weithin unhinterfragt galten – Familienformen, Normal-Arbeitsverhältnisse, Karriereverläufe, Geschlechterrollen etc. – unterliegen heute einem zunehmenden gesellschaftlichen Erosionsprozess. Für die Subjekte heißt das: Sie müssen die zu der eigenen Lebensorganisation „passenden“ sozialen Muster in eigener Regie entwickeln, sie müssen zum „Planungsbüro“ ihrer Biographie werden (Beck 1986). Sie haben die Wahl – und damit auch die Qual. Dass die Moderne uneindeutig wird, ist für die Verfechter der Konzeption einer solchen eindeutigen Entwicklungslogik ebenso überraschend wie irritierend. Der empirisch unabweisbare Kern dieser Irritationen lässt sich wie folgt zusammenfassen: Entgegen allen aufklärerischen Grundüberzeugungen können die Kosten der Modernisierung offensichtlich ihren Nutzen übersteigen. Die Strukturmerkmale von Gesellschaften des 21. Jahrhunderts lassen sich mit dem herkömmlichen theoretischen Raster von „modern“ versus „traditional“ nicht mehr hinreichend erfassen. Angemessener erscheint die Idee pluraler und zum Teil auch konkurrierender Modernitäten und Rationalitäten; dies verweist freilich nicht auf eine neue theoretische Beliebigkeit, sondern auf die Restrukturierung einer Moderne, bei der man darüber streiten kann, ob sie „modern“ bleibt oder „postmodern“ wird. 8
EINLEITUNG
Diese Diagnose bedeutet nicht einfach das Ende der „modernen“ Gesellschaft, vielmehr zeichnet sich eine nachhaltige Radikalisierung der seit dem 18. Jahrhundert ablaufenden Modernisierungsprozesse mit zum Teil paradoxen Folgen ab. Denn nun greift die Modernisierung, die von Max Weber als fortlaufende „Entzauberung“ der Welt beschrieben worden war, auf die Grundlagen der Moderne selbst über. Sachverhalte, die lange Zeit als „natürliche“ Basis der Moderne aufgefasst worden waren, werden als soziale Konstrukte erkannt und gerade deshalb fragwürdig. Hierzu gehören nicht nur die Annahmen eines permanenten technischen Fortschritts und einer stetig wachsenden Beherrschung von innerer und äußerer Natur, sondern auch die spezifisch modernen Konstruktionen von „Individuum“ und „Gesellschaft“. Zur Debatte steht allerdings, ob diese Konstruktionen nur vorübergehend erodieren, ob sie in eine dauerhafte Krise geraten, oder ob sie sich nicht jenseits der beobachtbaren Erosionsprozesse wieder restrukturieren. Dies ist eine empirisch offene und daher durch Forschungsarbeit zu klärende Frage. Unsere These dazu lautet: Unter den Bedingungen der modernisierten bzw. reflexiven Moderne ist eine Veränderung nicht nur der institutionellen Strukturen, sondern auch der Handlungs- und Subjektkonzeptionen zu erwarten. Wie diese Veränderungen aussehen, ist umstritten, aber ein Subjektkonzept, in dessen Zentrum das moderne, autonome „Kernsubjekt“ steht, reicht zur Erklärung der Phänomene reflexiver Modernisierung auf der Akteursebene sicher nicht mehr aus. Bei der Erläuterung dieser These ist zunächst festzuhalten, dass das moderne Subjekt von Anfang an keineswegs nur als autonom, integriert und rational kalkulierend gedacht worden war, sondern immer schon als konstitutiv ambivalent: So befreit es sich zwar einerseits aus kosmologischen Einbettungen, setzt die Welt aus sich heraus (Fichte) und macht seine Geschichte selbst (Marx); andererseits ist es abhängig von Gefühlen, Traditionen und sozialen Strukturen, was die Annahme autonomen Handelns fragwürdig erscheinen lässt. Darüber hinaus ist der Emanzipationsprozess des Subjekts immer vom Scheitern bedroht, was in der Philosophie und in der Literatur als „Entfremdung“ oder „Wahnsinn“ thematisiert wird. Die konstitutive Ambivalenz und (Selbst-)Gefährdung des modernen Subjekts kommt in den Subjektkonzeptionen, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausgebildet haben, allerdings immer weniger zur Sprache. Stattdessen wird hier die Ambivalenz gleichsam geglättet und auf verschiedene Lebensphasen verteilt. So wird das Subjekt mit Vorliebe als triebgesteuert, aber bildungsfähig und bildungsbedürftig gedacht. Es tritt als „unvernünftiges“ und „unreifes“, allein durch seine „Leidenschaften“ bestimmtes Wesen in die Welt, kann sich aber als „vernünftiges“ erweisen, wenn es einen bestimmten Bildungsgang durchläuft, in 9
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dessen Verlauf es gleichsam zu sich selbst kommt und Identität erlangt. „Identität“ erscheint hierbei als eine Art Kernstruktur des Subjekts, die im Laufe der Sozialisation schrittweise aufgebaut wird und sich im Fall einer „gelungenen“ Identität stabilisiert und verfestigt – das Individuum wird konsistent, reif und damit zugleich autonom. Gelingt dieser Reifungsprozess nicht, so droht eine Auflösung des Subjekts, die anomische Züge trägt und auf einen Verlust der Mitte, auf eine Zersplitterung des Selbstbildes hinausläuft. Auch wenn durchaus erkannt wurde, dass das autonome Subjekt empirisch gesehen eher die Ausnahme als die Regel darstellt, änderte dies nichts daran, dass diese kern-, autonomie- und entwicklungsorientierte Subjektkonzeption zum Standardmodell in den Sozialwissenschaften avancierte. Die Aussagen zum Subjekt bzw. zur Subjektivität, die wir im Folgenden treffen, oszillieren zwischen zwei Ebenen, die es analytisch zu trennen gilt: Zum einen handelt es sich um materiale Aussagen, das heißt um empirische Aussagen über das Subjekt in seinen historisch variablen, epochenspezifischen Formen: Zahlreiche sozialwissenschaftliche Ansätze haben versucht, die für eine bestimmte Epoche, Gesellschaft oder Klasse „typische“, „durchschnittliche“ oder „erwartbare“ Subjektstruktur zu beschreiben. Hierzu gehören etwa die „Charaktermaske“ (Marx), der „Sozialcharakter“ (Fromm) oder der „soziale Habitus“ (Bourdieu). Neben dieser materialen Ebene gibt es die Ebene des Diskurses über Subjektivität: Hier finden sich Aussagen, die sich auf „Konzeptionen des Subjekts“, auf „Subjektkonstruktionen“ etc. beziehen. Auch wenn man aus erkenntnistheoretischen Gründen nie Aussagen über das Subjekt jenseits eines bestimmten, einbettenden Diskurses über dieses Subjekt treffen kann, halten wir es für problematisch, empirische Fragen in diskursanalytischen aufgehen zu lassen; stattdessen wollen wir an der analytischen Trennung dieser beiden Ebenen – der Ebene der Sache und der Ebene des Sprechens über die Sache – festhalten. Wir gehen also im Folgenden davon aus, dass das „bürgerliche Individuum“ oder das „moderne Subjekt“ nicht nur spezielle semantische Figuren darstellen, sondern dass diese Konzepte ein fundamentum in re haben; es handelt sich somit auch um bestimmte Formen empirischer Subjektivität, die sich aus angebbaren Gründen von anderen Formen, etwa einer „vormodernen“ oder „traditionalen“ Form von Subjektivität unterscheiden lassen. Ohne diese, wenn man so will, objektivistische Voraussetzung wäre die Frage nach der Angemessenheit bestimmter Subjektkonzeptionen gar nicht mehr formulierbar, und alle dekonstruktiven Bemühungen wären a priori sinnlos.
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EINLEITUNG
Zur Geschichte der Subjektkonzeptionen in der Moderne In seinem Aufsatz Was heißt „individuelle Modernität“? (1984) charakterisiert Alex Inkeles das „moderne Subjekt“ folgendermaßen: Es ist „ein informierter Bürger, der am politischen Leben teilnimmt; er weist ein ausgeprägtes Wirksamkeitsgefühl auf; er ist höchst unabhängig und autonom in seinem Verhältnis zur Tradition, insbesondere, wenn er grundlegende Entscheidungen über persönliche Angelegenheiten trifft; und er ist offen für neue Erfahrungen und Ideen, das heißt, er ist relativ aufgeschlossen und kognitiv flexibel. [...] Der moderne Mensch hat außerdem spezifische Auffassungen von Zeit, persönlicher und sozialer Planung, den Rechten abhängiger oder untergebener Personen und vom Gebrauch formaler Regeln als Grundlage für die Organisation seiner Tätigkeit“ (S. 363).
Seit Jacob Burckhardts (1860) Klassiker über Die Kultur der Renaissance in Italien hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass dieses moderne Subjekt mit der beginnenden Neuzeit das Licht der Welt erblickte: „Die Entstehung von Vorstellungen der Individualität im modernen Sinne lässt sich in Beziehung zu dem Bruch mit der mittelalterlichen sozialen, ökonomischen und religiösen Ordnung setzen. Die allgemeine Bewegung gegen den Feudalismus betonte in neuer Weise die persönliche Existenz des Menschen über seinen Ort und seine Funktion in einer streng hierarchischen Gesellschaft hinaus“ (Williams 1976, S. 135).
In neueren Arbeiten wird die Entstehung moderner Subjektkonstruktionen bereits in die mittelalterliche Gesellschaft vorverlegt (vgl. Sonntag 1999). Und folgen wir Horkheimers und Adornos Interpretation der Odyssee in der Dialektik der Aufklärung, so liegt der Ursprung des modernen Subjekts bereits in der griechischen Antike: Da meistert ein Mensch die Versuchungen und Bedrohungen der äußeren und inneren Natur durch die Errichtung einer inneren Kontrollinstanz; die mit Triebverzicht erkaufte Selbst-Beherrschung des Odysseus wird zur Basis seiner Ratio, jener „List“, mit der er die mythischen Naturgewalten überwindet. Und der Prozess der Zivilisation wird danach noch viele Jahrhunderte andauern müssen, bis er diese Form von Subjektivität als die allgemein vorherrschende durchgesetzt hat. Alle Konstruktionen des neuzeitlichen Subjekts sind bestimmt von dem Anspruch der Aufklärung, dass der Mensch sich aus seiner „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) befreie und seinen eigenen authentischen Lebenssinn finde, das „eigene Maß“, wie Herder es nennt. Zur 11
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selben Zeit jedoch wird eine neue, bürgerliche Herrschaftsordnung etabliert, in der das Recht auf Lebenssouveränität zwar für alle Individuen proklamiert wird, in der es jedoch faktisch dem „Vierten Stand“ und dem weiblichen Teil der Gesellschaft vorenthalten wird. Dieser Widerspruch von Emanzipation und fortdauernder Unterdrückung prägt die Moderne in ihrem Wesen, wird aber in den modernen Konstruktionen vom Subjekt weitgehend ausgeklammert, wenn man von notorischen intellektuellen Abweichlern wie den Romantikern oder Friedrich Nietzsche absieht. Mit dem sich durchsetzenden Kapitalismus entwickelte sich ein Konzept von Subjektivität, das Macpherson (1967) als „possessiven Individualismus“ beschreibt: In seinem Zentrum steht die individuelle Akkumulation „innerer Besitzstände“, die durch ein steuerndes, zentralistisch gedachtes Ich zusammengehalten werden. Entsprechend dem Potenzial an Ressourcen, das dem Ich zur Verfügung steht, wird es diese Aufgabe mehr oder weniger effizient bewältigen. In diesem Modell drückt sich das Selbst- und Weltverständnis der bürgerlichen Gesellschaft aus, dessen typische Merkmale sich in scharfer Abgrenzung zu vormodernen, feudalistischen Strukturen herausgebildet haben: „Individuen sind freizusetzen von all den Bezügen und Abhängigkeiten, die sie früher bestimmt haben. Individuen, die sich als sich selbst bestimmende, autonome Souveräne, für sich selbst verantwortliche Verfasser ihrer eigenen Lebenswerke verstanden, wurden die zentralen Akteure auf der sozialen Bühne“ (Sampson 1989, S. 915). Die Freisetzung aus feudalen Abhängigkeiten war Basis und Entsprechung der neuen Besitzordnung: Das Subjekt gilt jetzt als „Eigentümer seiner eigenen Person und seiner eigenen Fähigkeiten, für die es nichts der Gesellschaft schuldet. Das Individuum wurde weder als ein sittliches Ganzes noch als Teil einer größeren gesellschaftlichen Ganzheit aufgefasst, sondern als Eigentümer seiner selbst. Die Beziehung zum Besitzen, die für immer mehr Menschen die fundamental wichtige Beziehung geworden war, welche ihre konkrete Freiheit und ihre konkrete Chance, all ihre Möglichkeiten zu entfalten, bestimmte, wurde in die Natur des Individuums zurückinterpretiert“ (Macpherson 1967, S. 15).
Im Zuge der historischen Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft gewinnt die Vorstellung vom Menschen als autonomes, souveränes Individuum eine solche Selbstverständlichkeit, dass sie schließlich als ontologische Bestimmung des menschlichen Wesens schlechthin erscheint: „Die Vorstellung von einem eigentlichen, unveräußerlichen, in den verschiedenen Lebenslagen sich durchhaltenden ‚Ich‘ ist – obwohl kulturell 12
EINLEITUNG
keineswegs universal und auch in Europa geschichtlich reichlich jung – uns gleichsam ,natürlich‘ geworden“ (Gebhardt 1988, S. 294). Den sich herausbildenden ego-zentrierten Individualismus der bürgerlichen Subjekte charakterisiert MacIntyre folgendermaßen: Sie besitzen „ihre Identität und ihre wesentlichen humanen Eigenschaften getrennt von und vor ihrer Mitgliedschaft in irgendeiner besonderen sozialen und politischen Ordnung“ (1988, S. 210). Und Taylor zeigt am philosophischen Diskurs zur Identität in der Moderne, dass dieser eine „überwiegend monologische Orientierung“ gefördert hat (1993, S. 24): Obwohl doch die Entstehung von Identität nur als kommunikativer, das heißt dialogischer Prozess begriffen werden kann, werde er vom westlichen Denken meist als ich-zentrierter, „monologischer“ Prozess entworfen. Erst die kulturvergleichende Perspektive und die sozialgeschichtliche Analyse können hier zu der notwendigen Dekonstruktion führen. In der Dialektik der Aufklärung haben Horkheimer und Adorno gezeigt, dass der Begriff des Subjekts nicht nur Befreiung impliziert, sondern auch Zwang: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war“ (1969, S. 33). Und die Diskurse, in denen es um das „Wesen des Menschen“ geht, neigten stets dazu, diese Form des Selbst als jenes Wesen mitzuverstehen. Es ist eine der zentralen Leistungen der feministischen Philosophie, dieses als universell menschlich ausgegebene „Selbst“ als patriarchalisch und androzentrisch dekonstruiert zu haben. Sandra Harding bringt das in der Psychologie und in der Gesellschaft vorherrschende Menschenbild in Verbindung mit dem patriarchal geprägten Gesellschaftssystem: „Die europäische und die männliche Weltanschauung entwerfen gleichermaßen ein autonomes, individualistisches und selbstbezogenes Ich, das von anderen Menschen und von der Natur isoliert ist, und das von diesen anderen bedroht wird, sobald es sie nicht mehr beherrscht. Beiden Weltanschauungen gilt die Gemeinschaft als Ansammlung autonomer, isolierter, selbstbezogener Individuen, die durch keinerlei binnenstrukturierende Beziehungen miteinander verbunden sind. Auch ist in beiden Fällen die Natur ein autonomes System, von dem das Ich abgespalten ist, und das beherrscht werden muss, weil sonst das Ich seinerseits von der Kontrolle durch die Natur bedroht ist“ (1990, S. 184).
In solchen auf Autonomie und Getrenntheit, auf Beziehungslosigkeit, Selbstbezogenheit und Beherrschung abzielenden Vorstellungen von Subjektivität drücke sich – so die feministische Kritik – die Selbsterfahrung männlicher Subjekte in dieser Gesellschaft aus; dem Selbsterleben 13
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weiblicher Subjekte, das auf Gemeinsamkeit, Beziehung und Verbundenheit gerichtet ist, werden sie keineswegs gerecht. Die Theorie der Zivilisation von Norbert Elias konstruiert das gezähmte bürgerliche Individuum, das „wohltemperierte Selbst“ (Miller 1993). Es ist domestiziert, zum – wie es Vilem Flusser formuliert – „häuslich verkapselten Subjekt“ (1994, S. 63) geworden. Bestimmt wird es von dem Gefühl des In-sich-eingeschlossen-Seins: Aus dem Prozess der Zivilisation ist am Ende der „homo clausus“ hervorgegangen, jenes Subjekt, das sich hinter den „hohen Mauern“ seiner Trieb- und Affektbeherrschung in seinem „Subjektgehäuse“ (Müller-Doohm 1987, S. 71) verschanzt. Von dem selbstbewussten bürgerlichen Individuum, das die Welt nach seinen eigenen Vorstellungen gestaltet und sich als Souverän dieser Welt definiert, klingt hier nichts mehr an. Die „Selbstzwangapparatur“ des Menschen sorgt dafür, dass er seine innere Welt beherrscht. So hat der „homo clausus“ bei Elias wenigstens „in seinen eigenen vier Wänden“ noch die Kontrolle. Mit Freud lässt sich allerdings die provozierende Frage stellen, ob der Mensch wirklich noch „Herr im eigenen Haus“ ist. Und in der Tat wird mit der Einführung des „Unbewussten“ auch diese letzte Bastion einer auf Autonomie zielenden Subjektkonzeption geschleift; denn nun zeigt sich, dass Teile des vorgeblich autonomen Ich diesem als Abgewehrtes und Verdrängtes unbekannt sind, obgleich sie es in seinem Handeln (mit)bestimmen. Auch bei Ernst Bloch ist vom souveränen Subjekt nicht mehr viel übrig, wenn er davon spricht, dass Menschen „sich in der Welt einrichten“ (zit. nach Berger 1994, S. 124). Denn Sich-Einrichten heißt ja wohl, sich mit den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen arrangieren. Peter Berger führt den Gedanken von Bloch weiter, wenn er schreibt: „Der Einzelne richtet sein Leben ein wie sein Haus, und oftmals symbolisiert die Einrichtung im Haus die Einrichtung im Leben“ (ebd.). Wenn in postmodernen Nachrufen vom „Tod des Subjekts“ die Rede ist, dann sind damit all jene Vorstellungen gemeint, die um die Idee eines „sich selbst genügenden“ (Sampson 1988), in seiner Innerlichkeit als „homo clausus“ eingeschlossenen Subjekts mit einer monologisch gedachten Identität zentriert sind, und die eine patriarchalisch geprägte Männlichkeit mit dem Wesen des Menschen gleichsetzen. Demgegenüber kommt die dekonstruktive Analyse zu dem Ergebnis, „dass jede gesicherte oder essenzialistische Konzeption der Identität, die seit der Aufklärung den Kern oder das Wesen unseres Seins zu definieren und zu begründen hatte, der Vergangenheit angehört“ (Hall 1994, S. 181). Bei der Dekonstruktion des Subjektkonzepts der Moderne werden vor allem Vorstellungen von Einheit, Kontinuität, Kohärenz, Entwicklungslogik und Fortschritt infrage gestellt. Dem wird eine Sichtweise 14
EINLEITUNG
entgegengesetzt, die Konzepte wie Kontingenz, Diskontinuität, Fragmentierung, Bruch und Reflexivität betont. Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Die verschiedenen Konzeptionen des Subjekts transportieren Selbstverständnis und Ideologie, Anspruch und Wirklichkeit des neuzeitlichen Individuums. Einerseits setzen sie die Person in Relation zur sozialen Wirklichkeit, sie betrachten sie als aktive Instanz der Erkenntnis und einer Praxis, die zielgerichtet auf die natürliche und soziale Umwelt einwirkt. Hier setzt sich also das Subjekt in ein aktiv gestaltendes Verhältnis zu seiner Welt, es ist nicht bloßes Produkt seiner natürlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen – es ist „Herr im Haus“ von Natur und Gesellschaft. Andererseits drückt der Subjektbegriff schon aufgrund seiner Semantik das Scheitern eines absoluten Souveränitätsanspruchs aus: Das „Subjekt“ ist das „sich Unterwerfende“ (Selb jacere), das sich in eine immer schon gegebene, machtstrukturierte Welt einzugliedern hat und dies notwendigerweise als Einschränkung seiner Autonomie erfährt. Am Ende erweist sich dieses Subjekt als so ohnmächtig, dass es noch nicht einmal „Herr im eigenen Haus“ ist. Aufgrund der Semantik des Begriffs ist das Wissen um die prekäre Souveränität des Subjekts in den Subjektdiskursen als Subtext immer schon enthalten. In aktuellen Gegenwartsdeutungen taucht das Bild des „Spielers“ auf, der einen zentralen postmodernen Menschentypus repräsentieren soll. In einem Buch über postmoderne Lebensformen mit dem Titel Flaneure, Spieler und Touristen heißt es: „Das Merkmal des postmodernen Erwachsenseins ist die Bereitschaft, das Spiel so rückhaltlos zu akzeptieren wie Kinder“ (Bauman 1997, S. 161). In der Sicht von Bauman hatte die Moderne das Leben zu einer Pilgerreise gemacht: Der Mensch in der entstehenden bürgerlich-modernen Gesellschaft war gleichsam ständig unterwegs, dies jedoch mit dem Wissen um ein klares Ziel. Als Pilger bewegte sich der Mensch in der Moderne auf seiner Lebensreise in dem Bewusstsein, „dass er ziemlich früh im Leben seinen Zielpunkt zuversichtlich auswählen konnte/sollte/musste, in der Gewissheit, dass die gerade Linie der Lebens-Zeit vor ihm sich nicht biegen, drehen oder verzerren, zum Stillstand kommen oder sich umkehren würde“ (S. 142). Hindernisse gab es viele, aber ihre Überwindung wurde zu einem „belebende[n] Faktor und Quelle des Eifers“ (S. 143). Das „Vertrauen in die Linearität und Kumulationskraft der Zeit“ (ebd.) wurde allgemein geteilt. Die Suche nach und die Arbeit an der Identität waren beschwerliche Projekte, aber der Glaube an eine unveräußerliche Identität, die wir als „inneres Kapital“ akkumulieren können, war ungebrochen. Bauman geht davon aus, dass dieses Subjektmodell zu verabschieden sei, denn die Metapher vom Pilger passe nicht mehr zu der sozialen Wirklichkeit 15
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der Gegenwart. Das Streben nach einem in der Ferne liegenden, aber durch dauerhafte Anstrengung erreichbaren Ziel sei historisch obsolet geworden. An die Stelle des „Pilgers“ setzt Bauman den „Spaziergänger“, den „Vagabunden“, den „Touristen“ und den „Spieler“; zusammen bilden diese „die Metapher für die postmoderne Strategie mit ihrer Furcht vor Gebundenheit und Festlegung“ (S. 149). Die „Vermeidung jeglicher Festlegung“ wird für Bauman zum „Angelpunkt der postmodernen Lebensstrategie“ (S. 146). Der „neue Kapitalismus“ fordere die absolute Flexibilität der Subjekte (vgl. Sennett 1998), und die Bereitschaft, sich für ihn „fit“ zu halten – was ja so viel heißt wie die Bereitschaft, sich bedingungslos an ihn anzupassen („to fit in“) – ginge einher mit einer „Fixeophobie“, also einer Angst durch das eigene Festgelegtsein nicht mehr offen und flexibel für die sich ständig steigernde Innovationsrate zu sein. Von dem in der Moderne geforderten Ernst in Form einer völligen inneren Verpflichtung zu einer bestimmten Arbeit oder einem bestimmten Beruf sei das weit entfernt. Darin besteht ja gerade der Unterschied zum Spiel, dem in der Bewertung durch Erwachsene der Ernst des Lebens fehlt. Wenn aber die dauerhafte Festlegung auf ein Ziel immer weniger möglich wird, dann werde aus dem Spiel allmählich Ernst bzw. umgekehrt: Der Ernst wird selbst zum Spiel. Dieses liefere dann den Rahmen für Identitätsprojekte, die nicht mehr um das Streben nach festen biographischen und beruflichen Zielen herum organisiert seien, sondern die sich als „playing identity“ (Melucci 1996) entwerfen. „Identität als Spiel“ (Belgrad 1992) – denn im Spiel ist „nichts gänzlich vorhersehbar und kontrollierbar, aber nichts ist auch völlig unabänderlich“ (Bauman 1997, S. 159). Während Bauman noch auf der theoretischen Suche ist, um das qualitativ Neue am globalisierten Kapitalismus begrifflich zu fassen, hat Jeremy Rifkin mit seinem Buch Access (2000) offenbar schon alles gefunden: „Ein neuer menschlicher Archetypus wird gerade geboren“ (S. 250). In Anschluss an Lifton nennt er ihn die „proteische Persönlichkeit“, abgeleitet vom Gott Proteus aus der griechischen Mythologie. Dieser hatte die Fähigkeit, jede beliebige Gestalt anzunehmen – außer seiner eigenen. Von diesem existenziellen Preis, den Proteus für die Gabe seiner grenzenlosen Wandelbarkeit zahlen muss, ist bei Rifkin allerdings nicht mehr die Rede. Stattdessen spricht er von der Notwendigkeit, im „neuen Kapitalismus“ zu einem – verglichen mit vorangegangenen Generationen – „flexibleren Menschen“ zu werden, der sich ständig an neue Gegebenheiten und an sich verändernde soziale Umwelten anpasst. Nicht (mehr) der Besitz von äußerem oder innerem Kapital sei ausschlaggebend, sondern der Zugang („access“) zu Informationen, Märkten, Beziehungsnetzen und „Bühnen“: 16
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„Kennzeichen der Postmoderne ist also Verspieltheit, während die Moderne durch Fleiß geprägt war. In einem System, in dessen Zentrum die Arbeit stand, ist Produktion das operationale Paradigma, und das Eigentum repräsentiert dessen Früchte. In einer Welt, die sich um das Spiel herum ordnet, regiert die Aufführung, und der Zugang zu kulturellen Erfahrungen wird zum Ziel menschlichen Handelns. Im Zeitalter des Zugangs, in dem Szenarien geschrieben, Geschichten erzählt und Fantasien ausagiert werden, ist es nebensächlich, Dinge herzustellen und auszutauschen und Eigentum zu akkumulieren“ (Rifkin 2000, S. 263).
Ein Teil dieser neuen kulturellen Ordnung sei der Informationstechnologie geschuldet, die in der Analyse eines anderen, viel beachteten Gegenwartstheoretikers eine zentrale Rolle spielt. Manuel Castells (2001) hat in einer groß angelegten Analyse die Transformationen der Weltgesellschaft in den Blick genommen. Er rückt die elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten ins Zentrum seiner Globalisierungstheorie. Sie hätten zum Entstehen einer Netzwerkgesellschaft (so der Titel des ersten Bandes der Castells’schen Trilogie) geführt, die nicht nur weltweit gespannte Kapitalverflechtungen und Produktionsprozesse ermöglichte, sondern auch kulturelle Codes und Werte globalisiert. Für Castells bedeutet diese Netzwerkgesellschaft einen qualitativen Wandel in der menschlichen Erfahrung: Die Konsequenzen der Netzwerkgesellschaft „breiten sich über den gesamten Bereich der menschlichen Aktivität aus und transformieren die Art, wie wir produzieren, konsumieren, managen, organisieren, leben und sterben“ (Castells 1991, S. 138). Castells konstatiert hier einen säkularen Epochenbruch, der notwendigerweise auch unsere Vorstellungen vom Subjekt verändern müsse. Diese Beispiele für die Suche nach angemessenen neuen Bildern und Metaphern für die Konstruktion des Subjekts in der reflexiven Moderne, deren Konstruktionsvoraussetzungen durchaus strittig sind, belegen unserer Auffassung nach den verbreiteten Zweifel, ob die Subjektvorstellungen, die der Ersten Moderne die diskursive Basis eines weithin geteilten Selbstverständnisses gegeben haben, noch tragfähig sind.
Zu den folgenden Texten In seinem Beitrag zur Handlungstheorie fragt Michael Schmid nach dem Verhältnis von individuellem Handeln und gesellschaftlichen Strukturveränderungen. Er beginnt mit der These, dass derartige Veränderungen keinen „Umbau“ der Handlungstheorie erforderlich machten, denn diese sei als allgemeine Theorie individuellen Handelns mit allen denkbaren 17
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gesellschaftlichen Strukturbedingungen kompatibel, also auch mit solchen, die von Theorien reflexiver Modernisierung als historisch neu behauptet werden. Gesellschaftliche Strukturbedingungen wirken ja nicht per se, sondern müssen immer erst noch durch das Handeln und Entscheiden von Subjekten „hindurch“, um überhaupt Realität zu gewinnen und Wirkungen haben zu können; indem die soziologische Handlungstheorie genau dies, nämlich die Logik und die Struktur individuellen Handelns, untersucht, sei sie ihrem Anspruch nach eine universelle Theorie, welche die theoretische Grundlage für alle anderen soziologischen Theorien liefert. Anhand der anschließenden ausführlichen Darstellung der Handlungstheorie expliziert der Verfasser seine Auffassung, der zufolge diese in ihrem Kern eine „Theorie des individuellen Entscheidens“ ist. Im abschließenden Teil seines Beitrags setzt er sich mit Kritik an der Handlungstheorie auseinander, wobei er insbesondere den Vorwurf zurückweist, diese arbeite mit der Unterstellung einer „absoluten Rationalität“ der Akteure. In seinem Fazit betont er nochmals, dass die auch von ihm konstatierten gesellschaftlichen Veränderungen keineswegs dazu geführt haben, dass sich die Strukturen des individuellen Akteurshandelns, wie sie von der Handlungstheorie beschrieben werden, geändert haben – geändert hätten sich lediglich die „Anwendungsbedingungen“, unter denen dieses Handeln heute stattfindet. Jürgen Straub setzt sich in seinem Entwurf einer psychologischen Handlungstheorie von der Konstruktion eines „starken Subjekts“ ab, das in völliger Autonomie sein Handeln und seine Entscheidungen zweckrational plant und ausführt. Diese rationalistische „Illusion von Autonomie“, die in einigen Ansätzen der zeitgenössischen Psychologie und Soziologie durchaus vorhanden ist, wird einer kritischen Analyse unterzogen. Das vom Autor entwickelte Alternativmodell stützt sich auf eine phänomenologisch-deskriptive Perspektive und begreift Handeln als sinn- und bedeutungsstrukturierte Aktivität, die keineswegs von einem durch Intentionalität, Rationalität und einem freien Willen ausgezeichneten Subjekt souverän und autonom gesteuert wird. Postuliert wird vielmehr eine von Kontingenz und Heteronomie durchkreuzte Autonomie. Entgegen der Annahme, dass die Dekonstruktion des „starken Subjekts“ der Ersten Moderne die theoretisch begründete Antwort auf aktuelle gesellschaftliche Strukturveränderungen sei, die neue theoretische Anstrengungen zur Formulierung adäquater Handlungs- und Identitätstheorien erfordern, betont Jürgen Straub, dass eine auch heute uneingeschränkt erklärungsfähige Handlungs- und Identitätstheorie existiere, die sich im Wesentlichen auf den amerikanischen Pragmatismus und die Psychoanalyse stützen könne. In deren Rahmen wird ein Subjekt konstruiert, das „zwischen“ heteronomer Abhängigkeit und vollkommener 18
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Eigenständigkeit angesiedelt ist, und für das es zur Alltagsnormalität gehört, mit Ambivalenzen, Kontingenzen und Veränderungen umzugehen. Ein solches handlungstheoretisches Subjektmodell sei ausreichend komplex, um auch die gesellschaftlichen Dynamiken theoretisch zu bewältigen, durch die gegenwärtig die Alltagserfahrungen der Subjekte bestimmt sind. Monika Wohlrab-Sahr wendet sich in ihrem Beitrag gegen die theoretische Verabschiedung des Subjekts bzw. dagegen, das Subjekt nur noch in Kategorien von „Prozess“, „Konstruktion“ und „Kontingenz“ zu denken, denn dabei werde die Frage nach der Konstitution und der Stabilität von Subjektivität vernachlässigt. Entgegen gängigen „postmodernen Fluiditätsvorstellungen“ beharrt sie auf der „Realität“ des Subjekts, mithin auf einer Subjektkonzeption, für welche die Herausbildung von Strukturen nach wie vor zentral ist. Dabei knüpft sie an zwei sehr unterschiedliche Diskursstränge an: zum einen an die moderne Hirnforschung, zum anderen an Ulrich Oevermanns Überlegungen zum Problem der „Bewährung“. Wie die Hirnforschung zeige, liegen allen Erfahrungen des Menschen, also auch allen Prozessen, die mit „Identität“ bzw. „Subjektivität“ zu tun haben, neuronale Veränderungen des Gehirns zugrunde; diese sind zwar in gewissen Grenzen reversibel, doch nimmt die Reversibilität mit steigendem Lebensalter ab. Einen weiteren Beleg für die „Realität“ des Subjekts, d.h. für die legitime Annahme überdauernder subjektiver Strukturen, sieht Wohlrab-Sahr in der anthropologischen These Oevermanns von der „Nicht-Stillstellbarkeit der Bewährungsdynamik“: Die Dichotomie von Zukunftsoffenheit und Endlichkeit des menschlichen Lebens, um die der Mensch im Unterschied zum Tier weiß, konfrontiere jedes Individuum – jenseits aller kulturspezifischer Ausprägungen dieser Thematik – mit dem Problem der persönlichen Bewährung. Diesen beiden Ansätzen stellt die Autorin ihren eigenen Ansatz zur Seite: Sie entwirft ein Modell der Identitätsbildung, das Identität als Produkt von prinzipiell variablen, letztlich aber nicht mehr hintergehbaren Strukturbildungen im Verlauf einer individuellen Biographie versteht. Im Beitrag von Cornelia Klinger geht es zunächst um die Dekonstruktion des Subjektbegriffs: Die Verfasserin zeigt, dass das Subjekt in Philosophie und Wissenschaft seinem Wesen nach keineswegs geschlechtsneutral ist; bei genauerem Hinsehen zeige sich vielmehr, dass dieses scheinbar so neutrale und als allgemeingültig daherkommende Konzept durchaus nach dem Vorbild des männlichen Subjekts in der bürgerlichen Gesellschaft gebildet ist – weibliche Züge sind ihm nicht zu Eigen. Gerade in der hypostasierten Allgemeingültigkeit des Subjektbegriffs stecke damit der „Alleinvertretungsanspruch des partikularen 19
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männlichen Geschlechts“. Im Folgenden resümiert Cornelia Klinger den subjektkritischen Diskurs des Feminismus – von der Konstruktion eines Gegen-Subjekts „Frau“ hin zur Auflösung dieses seinerseits wiederum abstrakt-allgemeinen Konzepts zugunsten einer Vielzahl empirischkonkreter und sehr unterschiedlicher Gruppen von „Frauen“. Für die letzte Phase der Theorieentwicklung konstatiert die Verfasserin eine eigentümliche „Dethematisierung“ der Kategorie „Geschlecht“, ein Schicksal, welches das „Geschlecht“ mit den Kategorien „Klasse“ und „Rasse“ gemeinsam habe: Bei objektiv fortbestehenden, ja sich teilweise noch verschärfenden Ungleichheitsrelationen in den Bereichen Geschlechtszugehörigkeit, ethnische Herkunft und Reichtumsverteilung scheinen die entsprechenden Kategorien zunehmend aus dem öffentlichen Diskurs zu verschwinden. So entstehe ein Zustand, in dem „Herrschaftssubjekte“ verschwinden, Herrschaft selbst jedoch fortbestehe. Trotz der allenthalben zu beobachtenden Tendenzen der Entideologisierung, Entsegregierung und Individualisierung, welche die Kategorien von Klasse, Rasse und Geschlecht „destabilisieren“, bleibe der Anspruch auf Freiheit und Gleichheit, mit dem die Moderne einmal angetreten war, unerfüllt: Die Aufhebung ideologischer und rechtlicher Exklusionen lässt die materialen Ungleichheitsrelationen in den Dimensionen Macht und Reichtum fortbestehen. Auch unter den Bedingungen der Globalisierung sieht Cornelia Klinger wenig Hoffnung dafür, dass das historische Versprechen der Moderne eingelöst werden wird. Paul Mecheril stellt die Subjektkonzeption der „Cultural Studies“ dar. Bei den Cultural Studies handelt es sich nicht um eine Theorie im eigentlichen Sinne, sondern um eine thematisch und methodisch durchaus heterogene Forschungstradition, die in den 60er-Jahren in England entstanden ist. Bei aller Heterogenität teilen die vielen verschiedenen Arbeiten, die in dieser Tradition entstanden sind, doch ein gemeinsames Interesse: die kritische Frage nach dem Schicksal der Individuen in den kapitalistischen Gesellschaften des Westens, die nach wie vor durch Klassenunterschiede, patriarchale Strukturen und ethnische Konflikte gekennzeichnet sind. Insbesondere geht es bei den Cultural Studies um die Untersuchung von alltäglichen kulturellen Praktiken, in denen sich Subjektivität artikuliert, und die Widerstandspotenziale gegen die Macht sozialer Strukturen enthalten. Am Beispiel von Ayse, einer türkischen Schülerin, die vom katholischen Religionsunterricht ausgeschlossen ist, macht Mecheril das Subjektverständnis der Cultural Studies deutlich; dabei kann er zeigen, dass dieser Ansatz – in Anbetracht der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse – immer schon von der Konzeption eines prekären, nämlich „dezentrierten“, „mangelhaften“, „unsouveränen“, ja letztlich „unmöglichen“ Subjekts ausgegangen ist. Die Frage 20
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nach einer Veränderung ihrer Subjektkonzeption angesichts aktueller gesellschaftlicher Wandlungsprozesse stellt sich, so gesehen, für die Cultural Studies gar nicht. Auch in hoch individualisierten Gesellschaften lösen sich kollektive Identitäten nicht einfach auf. Sie ändern vielmehr ihre Form, ihre Qualität und ihre Bedeutung für den Einzelnen. Wolfgang Kraus verfolgt in seinem Beitrag die komplexen Veränderungen im Verhältnis von individueller und kollektiver Identität. Dabei geht es ihm vor allem darum, den aktuellen Identitäts-Diskurs dahingehend zu untersuchen, welche „Theorieangebote“ er zur Analyse dieser Veränderungen offeriert. So stellt er etwa den „Identity-Politics-Ansatz“ dar und greift das Konzept des „Identitäts-Kapitals“ auf. Vor allem zwei Konzepte sind es, die er zur Beschreibung des – wie er mit Norbert Elias sagt – „Wir-Bezuges“ in individualisierten Gesellschaften für weiterführend hält: die „Hybridisierung“ und die „Labilisierung“ des Wir-Bezuges. Er plädiert dafür, die „affektive Dimension“ kollektiver Identitäten stärker als bisher in die Analyse mit einzubeziehen. Peter Wagner fragt in seinem Beitrag nach den historischen Ursprüngen des modernen Subjekts. Dabei unterscheidet er zunächst zwischen der Ebene der Reflexion – unter welchen Bedingungen wurde das soziologische Denken des Subjekts möglich? – und jener der realen gesellschaftlichen Entwicklung – wie ist dieses Subjekt historisch-empirisch in Erscheinung getreten? Zunächst gibt er uns jedoch eine Warnung mit auf den Weg: Wie der Blick in die Geschichte lehrt, sei die Frage nach dem Subjekt keineswegs ein Spezifikum der Moderne – schon im Alten Ägypten lassen sich Vorläufer dessen finden, was dann in der Neuzeit als „Subjektphilosophie“ firmiert. Der Verfasser zeigt nun, wie und wann die spezifisch neuzeitliche Subjektkonzeption mit ihrer Betonung der individuellen Autonomie entstanden ist: im politischen Diskurs der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts. Erst geraume Zeit später, etwa mit Nietzsche und Freud, werde das Subjekt schließlich zum Gegenstand eines im engeren Sinne sozialwissenschaftlichen Diskurses. Im Anschluss wendet sich Peter Wagner der historisch-empirischen Ebene zu; hier benennt er gesellschaftliche Faktoren – Wohlstandswachstum, politische Stabilität, soziale Mobilität etc. –, die seit dem frühen 20. Jahrhundert entweder mit einer Stärkung oder auch mit einer Schwächung der Subjektbildung einhergegangen sind. Abschließend plädiert er in Anbetracht von Prozessen der Globalisierung und De-Institutionalisierung für eine Re-Politisierung des Subjektdiskurses, denn: „Es gibt keine individuelle Moderne ohne politische Moderne, keine individuelle Selbstbestimmung ohne kollektive Selbstbestimmung.“ 21
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Gabriele Klein unternimmt es, den Subjektbegriff bei Norbert Elias zu rekonstruieren und ihn auf seine „Anschlussfähigkeit“ an eine Subjektkonzeption der Theorie der Reflexiven Moderne zu prüfen. Die Darstellung des Elias’schen Subjektbegriffs, den Klein als explizit nichtessenzialistischen versteht, macht den Rekurs auf seine theoretischen Wurzeln bei Marx und Freud notwendig. Mit Marx postuliert Elias die restlose Sozialität des Subjekts, dessen Wesen bei Marx bestimmt wird als das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“. An zwei Stellen jedoch folgt Elias Marx nicht: zum einen bei dessen Insistieren auf der Arbeit als Medium der Konstitution von Subjektivität, zum anderen bei der impliziten Annahme eines emphatischen „Restes“ von Subjektivität, der es den Individuen bei Marx ermöglicht, gesellschaftliche Entfremdungs- und Unterdrückungsverhältnisse zu transzendieren. Von Freud übernimmt Elias die Konzeption eines psychischen Apparates und einer in diesem Apparat herrschenden Psychodynamik, ohne sich freilich dem Biologismus der Freud’schen Theorie anzuschließen. Gerade im Vergleich zum Subjektmodell Freuds werde jedoch, so Klein, eine wesentliche theoretische Verkürzung bei Elias sichtbar: Dessen Subjektbegriff entbehre ein dem Freud’schen Modell vergleichbares „Ich“ als Instanz einer reflexiv handelnden Auseinandersetzung mit der Welt. So bleibe die Elias’sche Subjektkonzeption eigentümlich behavioristisch; da ihr die Möglichkeit fehle, Subjekte auch als reflexiv handelnde oder gar widerständige zu denken, werde das Subjekt in der Theorie von Elias letztlich von den gesellschaftlichen Verhältnissen gleichsam bewusst-los mitgeschleppt, obwohl es doch deren Produzent ist. Abschließend stellt Klein die These auf, dass sich in der Figur des „aktiven Bürgers“ das Subjektverständnis der Theorie der Reflexiven Moderne materialisiere; aus zivilisationstheoretischer Sicht kritisiert sie an dieser Konzeption eine systematische Überschätzung von Freiheits- und Handlungsspielräumen. Statt sich vom Subjektbegriff generell – und damit auch von dem der Zivilisationstheorie – zu verabschieden, plädiert Gabriele Klein dafür, diesen nicht nur beizubehalten, sondern ihn in der theoretischen Auseinandersetzung mit aktuellen sozio-politischen Phänomenen, etwa dem Terrorismus, weiterzuentwickeln. Auch Hans-Joachim Busch konstatiert in seinem Beitrag zum „Unbehagen in der Spätmoderne“ tief greifende gesellschaftliche Strukturveränderungen, welche die Frage nach dem Subjekt erneut auf die Tagesordnung setzen. Statt sich aber der vielfach proklamierten These vom „Tod des Subjekts“ anzuschließen, sieht er gute Gründe dafür, am Subjektbegriff festzuhalten. So zielt er mit seinem Beitrag auf die Konzeption eines zeitgemäßen Konzepts von Subjektivität ab. Hierzu rekonstruiert er zunächst die Entwicklung des Subjektbegriffs der Kritischen 22
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Theorie, wie er im Anschluss an Marx und Freud in unterschiedlichen Varianten durch Adorno, Horkheimer, Marcuse und anderen vorgelegt worden ist, und bei dem es stets darum ging, Subjektivität als Produkt aus Natur und Gesellschaft zu denken und sie in ihrer Widerständigkeit gegen Gesellschaft festzuhalten. In der Theorie der Interaktionsformen von Alfred Lorenzer, die dieser in den 70er Jahren im Rahmen der damaligen kritisch-theoretischen Debatten um das Subjekt entwickelt hat, sieht Busch eine zeitgemäße und theoretisch angemessene Form dieses Subjektbegriffs. Denn die Subjektkonzeption von Lorenzer stelle einen theoretisch überzeugenden Versuch dar, den klassischen Subjektbegriff der Frankfurter Schule zu einer lebensgeschichtlichen Empirie hin zu öffnen, ohne jedoch seine kritischen Implikationen preiszugeben. Wenngleich sich Busch der verbreiteten Zeitdiagnose eines Anwachsens innergesellschaftlicher Destruktivität anschließt, sieht er doch keinen Grund für theoretischen Pessimismus, denn aus dem verbreiteten „Unbehagen in der Spätmoderne“ resultieren seiner Meinung nach auch neue Mentalitäten, kritische soziale Bewegungen und historisch progressive Formen von Subjektivität, die sich den globalen gesellschaftlichen Destruktionstendenzen entgegenstellen. Hinsichtlich der erkenntnisleitenden Fragestellung dieses Bandes geht es dem Verfasser weder darum, den Subjektbegriff zu verabschieden, noch darum, eine gänzlich neue, irgendwie „spätmoderne“ Konzeption von Subjektivität zu entwerfen; vielmehr empfiehlt er, eine mit der Theorie von Lorenzer schon seit langem vorliegende Subjektkonzeption (wieder) aufzugreifen und für die Frage nach dem Subjekt in der Reflexiven Moderne nutzbar zu machen.
Ein Ordnungsversuch Auf unsere Frage, ob und gegebenenfalls wie sich Strukturveränderungen spätmoderner Gesellschaften auf die Subjektkonzeptionen wichtiger sozialwissenschaftlicher Theorieansätze auswirken, erhielten wir höchst unterschiedliche Antworten. Das hatten wir erwartet. Überraschend allerdings war Folgendes: Unsere Ausgangshypothese, der zufolge wir zurzeit einen tief greifenden Wandel sozialer Verhältnisse beobachten können, der für die Subjekte und damit auch für die Subjektkonzeptionen sozialwissenschaftlicher Theorien weit reichende Konsequenzen hat, fand keineswegs ungeteilte Zustimmung. Die Annahme eines gesamtgesellschaftlichen Strukturwandels wird zwar durchgängig akzeptiert, daraus ziehen die verschiedenen Autoren aber durchaus nicht zwangsläufig die Konsequenz, dass ihre Subjektkonzepte zu reflektieren und eventuell zu revidieren seien. 23
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Die in den folgenden Beiträgen vertretenen Positionen lassen sich grob in drei Gruppen unterteilen: Auf dem einen Pol des Antwortspektrums finden sich Positionen, die zwar die Realität gesellschaftlicher Umbrüche konzedieren und diese auch als Herausforderung für sozialwissenschaftliche Theoriebildung begreifen, die jedoch die eigene Theorie davon nicht tangiert sehen. So etwa die Handlungstheorie: Diese zielt auf die Beschreibung individueller Handlungslogiken, denen universelle Gültigkeit zukomme, und die man deshalb weitgehend unabhängig von spezifischen soziokulturellen Kontexten betrachten könne. Damit entfällt die Notwendigkeit einer zeitdiagnostisch begründeten Revision der Theorie. In diesem Punkt sind sich soziologische und psychologische Handlungstheorien einig (vgl. die Beiträge von Michael Schmid und Jürgen Straub). Sehr nahe kommt dieser Position auch eine biographietheoretische Perspektive, die sich auf ein formal-allgemeines Modell der Herstellung biographischer Identität beruft und mit Anleihen bei der Neurobiologie den Universalitäts-Anspruch der eigenen Theorie zu stützen versucht (vgl. den Beitrag von Monika Wohlrab-Sahr). Auf dem entgegengesetzten Pol unseres Antwortspektrums finden sich Positionen, die davon ausgehen, dass Subjektkonzeptionen in hohem Maße epochenspezifisch sind; mithin werden sie auch durch epochale Veränderungen infrage gestellt, d.h. sie müssen immer wieder neu justiert werden, wenn sie ihre theoretische Passung nicht verlieren sollen. So hat die feministische Theorie den Subjektbegriff der Moderne als androzentrisch dekonstruiert und seine Revision vorangetrieben (vgl. dazu den Beitrag von Cornelia Klinger). Andere Theorien stellen die Annahme einer kulturell homogenen kollektiven Identität grundlegend infrage; so haben etwa die Cultural Studies mit dem Konzept der „hybriden Identität“ eine provokante Alternative zum klassischen Subjektbegriff formuliert (vgl. den Beitrag von Paul Mecheril). Alle Beiträge, die sich diesem Pol zuordnen lassen, sind sich darin einig, dass die klassische Subjektkonzeption, die eine Basisselbstverständlichkeit der Moderne war, dekonstruiert werden muss. Und dass Alternativen zu entwickeln sind, die nicht mehr von einer widerspruchsfreien inneren „Kernsubjektivität“ ausgehen; vielmehr müsse es darum gehen, die Spuren von Macht und Herrschaft, aber auch von Protest und Widerstand im Inneren von Subjektivität begrifflich zu verorten. Für Subjektkonzeptionen, die das Subjekt auch in seinen WirBezügen sehen, und die der „Wir-Schicht“ (Norbert Elias) in den Subjekten einen zentralen Stellenwert einräumen, sind gesellschaftliche Strukturveränderungen von hoher Relevanz. Globalisierungsprozesse mit ihren ökonomischen, technologischen und kulturellen Grenzüber24
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schreitungen tangieren kollektive Identitäten in besonderer Weise: Bislang stabile nationale und kulturelle Bedeutungsräume, die den Subjekten verhältnismäßig klare Bezugspunkte für ihre soziale Verortung angeboten hatten, öffnen sich; somit werden Zugehörigkeiten prekär und müssen neu verhandelt werden. Inklusions- und Exklusionsprozesse stehen im Mittelpunkt des hierzu erforderlichen „boundary managements“ (vgl. hierzu den Beitrag von Wolfgang Kraus). Eine historische Analyse der Entstehung verschiedener Subjektbegriffe legt deren implizite politische Bedeutungsdimension frei, indem sie deutlich macht, dass diese Begriffe im Kontext kollektiver sozialer Bewegungen und politischer (Klassen-)Kämpfe entstanden sind (vgl. den Beitrag von Peter Wagner). Eine dritte Gruppe von Antworten liegt gleichsam in der Mitte dieser beiden Extreme. Die hier vertretene Position lässt sich etwa folgendermaßen kennzeichnen: Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen gelte es zwar, die eigene Subjektkonzeption weiter zu entwickeln, in ihren theoretischen Kernannahmen jedoch brauche sie nicht infrage gestellt zu werden. Die hier zuzuordnenden Beiträge stehen in Theorietraditionen, in denen grundlegende zivilisations- bzw. kulturtheoretische Modelle entwickelt worden sind; in diesen sind systematische begriffliche Bezugspunkte für die Balancen und Konflikte vorgesehen, die zwischen Gesellschaft bzw. Kultur einerseits und den darin handelnden und erlebenden Individuen andererseits auf je spezifischem historischem Niveau hergestellt bzw. ausgetragen werden müssen. So hat beispielsweise die Zivilisationstheorie von Norbert Elias mit ihrem figurationssoziologischem Paradigma einen inneren Zusammenhang hergestellt zwischen makrosozialen Prozessen, welche die soziogenetische Ebene konstituieren, und dem Erleben und Verhalten von Individuen, also der psychogenetischen Ebene. Folgt man der Zivilisationstheorie, so ist ein Verständnis des „Innenbereichs“ des Subjekts nur im Wissen um bestimmte historische Wandlungsprozesse möglich, denen die ganze Gesellschaft unterliegt. Dieser unauflösliche Zusammenhang erfordert für moderne – und das heißt: dynamische – Gesellschaften die ständige Weiterentwicklung von Subjektvorstellungen; das zugrunde liegende Subjekt-Modell selbst wird jedoch nicht infrage gestellt (vgl. hierzu den Beitrag von Gabriele Klein). Auch die psychoanalytische Sozialpsychologie sieht sich – als Nachfolgerin der Freud’schen Kulturtheorie – im Besitz eines prinzipiell nach wie vor gültigen Subjektmodells. Sie betrachtet die Innenwelt der Subjekte als qua Sozialisation verinnerlichte, partiell befriedete Resultante der Widerspruchsdynamik von individuellen Triebansprüchen und gesellschaftlichen Normierungen. Kultur und Gesellschaft stehen dem Individuum nicht äußerlich gegenüber, sondern prägen seine Struktur bis ins Innerste. Auch die psychoanalytische Sozi25
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alpsychologie verfügt so über ein Subjektmodell, das durch aktuelle gesellschaftliche Strukturveränderungen nicht prinzipiell infrage gestellt wird; in seinen theoretisch weiterentwickelten Formen – etwa bei Alfred Lorenzer – vermag es auch einer veränderten gesellschaftlichen Realität gerecht zu werden (vgl. den Beitrag von Hans-Joachim Busch). „Habent sua fati libelli“ – dieser Satz gilt nicht nur für die Geschichte bereits existierender Bücher, sondern ebenso für den Prozess ihrer Entstehung. Bevor wir auf den folgenden Seiten unsere Autoren zu Wort kommen lassen, sei die nicht immer einfache Entstehungsgeschichte des vorliegenden Bandes kurz geschildert: Nachdem im Jahr 2002 die Idee zu diesem Buch im Anschluss an ein spannendes Symposium zum Thema „Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel“ geboren war, setzten sich die Herausgeber zusammen, um eine Liste all jener Ansätze und Theorien zu erstellen, von denen wir eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach den Folgen gesellschaftlicher Veränderungen für den Subjektbegriff haben wollten. Dabei ging es uns um einen möglichst repräsentativen Querschnitt durch die deutschsprachige Soziologie bzw. Sozialpsychologie. Für die Auswahl der Ansätze waren also zwei Kriterien ausschlaggebend: Erstens sollte ihnen eine gewisse Relevanz in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Theorielandschaft zukommen, zweitens sollten sie aufgrund ihrer theoretischen Perspektive mit gesellschaftlichen Strukturveränderungen direkt oder indirekt befasst sein, so dass wir von ihnen Antwort auf unsere Ausgangsfrage erwarten durften. So kam eine Liste von 13 (horribile dictu!) sozialwissenschaftlichen Ansätzen zusammen: Systemtheorie, Kritische Theorie, Feministische Theorie, Soziologische und psychologische Handlungstheorie, Symbolischer Interaktionismus, Biographieforschung, Cultural Studies, Poststrukturalismus, Historische Soziologie, Psychoanalytische Sozialpsychologie, Zivilisationstheorie und sozialpsychologische Identitätstheorie. Nun begann der mühsame Prozess der Suche nach kompetenten und kooperationsbereiten Vertretern dieser Fachrichtungen. Schon in dieser Phase hatten wir erste Verluste zu beklagen, denn für einige unserer Ansätze wollte es uns einfach nicht gelingen, passende Autoren zu finden. Weitere Verluste stellten sich in der nächsten Phase ein: Im Handgemenge zwischen Herausgeberwünschen und Autoreninteressen blieben noch einmal einige Ansätze auf der Strecke. Denn im Zielkonflikt zwischen dem Anspruch, die theoretischen Auseinandersetzungen um den Subjektbegriff angemessen abzubilden, und dem pragmatischen Zwang, das Buch endlich fertigzustellen – sein Entstehungsprozess ging mittlerweile ins dritte Jahr –, bevor es von der gesellschaftlichen Entwicklung überholt sein würde, haben wir uns schließlich, notgedrungen, für die Pragmatik entschieden. Und das hieß, schweren Herzens auf einige 26
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Ansätze endgültig zu verzichten, so dass nur noch neun übrig blieben. Nicht vertreten sind die Systemtheorie, die Kritische Theorie, der Symbolische Interaktionismus und der Poststrukturalismus. Die Lücke, die damit in unserem theoretischen Spektrum entsteht, ist schmerzlich – nicht zuletzt deshalb, weil wir nun unseren ursprünglichen Anspruch aufgeben mussten, einen repräsentativen Überblick über den aktuellen sozialwissenschaftlichen Theorie-Diskurs zu liefern. Dennoch, so hoffen wir, können wir auch mit unserem reduzierten Programm dem Leser wenigsten einen ersten Eindruck vermitteln von der Spannbreite und der Komplexität der Debatte, die heute in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften um den Subjektbegriff geführt wird. In den Anfängen dieses Buchprojektes waren noch Felicitas Eßer und Wolfgang Bonß in der Herausgebergruppe. Beide haben mit ihren Ideen und ihrem Engagement wesentliche Impulse zur Entstehung dieses Buches gegeben. Aus unterschiedlichen Gründen sind sie aus dem Herausgeberkreis ausgeschieden. Ihnen sei an dieser Stelle unser besonderer Dank ausgesprochen. Daphne Cisneros hat das gesamte Manuskript noch einmal gründlich lektoriert. Dafür sei auch ihr herzlich gedankt.
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Individu ell es Hand eln und ges ell sch aftlich e V er ände ru ng – einig e Be mer kung en zur Sub jekt konzeption der soziologi sch en H andlun gst heori e MICHAEL SCHMID
Problemstellung Die Herausgeber dieses Bandes wollen die Frage beantwortet wissen, „ob und wenn ja, wie unterschiedliche sozialwissenschaftliche Subjekttheorien aktuelle gesellschaftliche Strukturveränderungen in ihre Theoriebildung einbeziehen und zum Anlass für Veränderungen ihrer Subjektkonzeptionen nehmen“ (s. Einleitung, S. 7). Diese Frage stellt sich, weil die beobachtbaren gesellschaftlichen Veränderungen „nicht länger als ebenso lineare wie unendliche Zunahme der Beherrschung äußerer und innerer Natur beschrieben werden [können]“. Der damit verbundene Glaube an eine „Entwicklungslogik“ und die aus ihm resultierenden Sicherheiten über den weiteren Gang der gesellschaftlichen Dinge scheinen infolgedessen an Kraft zu verlieren und eine „Rückkehr der Unsicherheit“ (Bonß 1995, S. 22) anzukündigen. Die Herausgeber erwarten deshalb in der Konsequenz eine „Veränderung der Handlungs- und Subjektkonzepte“, denn die Auffassung, der „moderne“ Mensch agiere als „autonomes Subjekt“, das die gesellschaftliche Entwicklung bedacht und erfolgreich steuern könne, „[reiche] zur Erklärung der Phänomene reflexiver Modernisierung auf der Akteursebene nicht [länger aus]“ (s. Einleitung, S. 9). Ich glaube allein deshalb nicht, dass gesellschaftliche Strukturveränderungen einen Umbau der soziologischen Handlungstheorie notwendig
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machen, weil wir eine in den unterschiedlichsten Handlungssituationen anwendbare, allgemeine Handlungstheorie zumal dann voraussetzen müssen, wenn wir strukturelle Veränderungen als intendiertes oder nicht-intendiertes Resultat menschlichen Handelns erfassen wollen. Das heißt nicht, dass die Handlungstheorie keine Entwicklung hinter sich habe, wohl aber, dass die Ideen individueller „Handlungsautonomie“ und „strenger Rationalität“, in denen sich die Hoffnungen auf die volle Selbstbestimmung des gesellschaftlichen Entwicklungsgangs durch die sie tragenden Akteure niedergeschlagen hatte, immer nur als Eck- und Partiallösung eines allgemeinen Handlungsmodells verstanden werden können, das insofern keine „Rückkehr der Unsicherheit“ erfordert, als die Bewältigung von Unsicherheit die interdisziplinäre Quelle aller neuzeitlichen Bemühungen um eine allgemeine Handlungstheorie gewesen ist (vgl. Schmid 2004, S. 110ff.). Der These freilich, wonach die rezenten Strukturveränderungen zu neuartigen Problemen geführt haben, denen die Akteure mit z.T. innovativen Regulierungen gerecht werden müssen, werde ich nicht widersprechen. Diese Erweiterung der Anwendungsbedingungen der Handlungstheorie läuft indessen nicht auf die Notwendigkeit hinaus, die Handlungs- und Subjektkonzeption der soziologischen Handlungstheorie zu verändern. Um diese Argumentation zu stützen, werde ich im Folgenden zeigen, welche logischen und inhaltlichen Anforderungen an eine allgemeine Handlungstheorie zu stellen sind, die in der Lage ist, makroskopische, sozialstrukturelle oder gesellschaftliche Umbrüche, Veränderungen und Umgestaltungen zu erklären. Welche Folgerungen sich aus den Erklärungsleistungen einer solchen allgemeinen Handlungstheorie für ihr Verhältnis zur Gesellschaftsanalyse ergeben, behandle ich in einem abschließenden Abschnitt.
Die soziologische Handlungstheorie Es gibt noch immer Zweifel, ob die Soziologie als Handlungstheorie betrieben werden kann und ob sie als eine eigenständige Struktur- bzw. Systemtheorie verstanden werden sollte. Das überkommene Schisma zwischen Makro- und Mikrosoziologie geht auf den Streit darüber zurück, ob es möglich sei, „gesellschaftliche Gesetze“ nachzuweisen, die den gesellschaftlichen Entwicklungsgang ohne theoretischen Rückgriff auf das Handeln der sie tragenden Akteure zu erklären erlauben (vgl. zu dieser Debatte Schmid 1996). Kern der Auseinandersetzung ist, ob es zwischen Makromerkmalen Kausalitätsbeziehungen geben könne. Die Mikrosoziologie stellt dies in meinen Augen zu Recht infrage: Makroer30
SOZIOLOGISCHE HANDLUNGSTHEORIE
eignisse verursachen sich nicht selbst, sondern müssen unter Verweis auf individuelle Handlungsfunktionen bzw. unter Beachtung der aggregierten, kollektiven Folgen individuellen Handelns erklärt werden. Die unmittelbare Konsequenz dieser Auffassung ist die These, dass Makrogeschehnisse wie die Entstehung und Umgestaltungen des Staates, die Veränderung der „modernen“ Industriegesellschaften in globale Dienstleistungsgesellschaften, der damit verbundene Umbau der Industrieproduktion von der Schwerindustrie zur Informationstechnologie etc., völlig unabhängig von ihrer historischen Bedeutsamkeit keiner identifizierbaren „Eigendynamik“ folgen, sondern als Resultat des intentionalen Handelns einer Vielzahl von Akteuren zu erklären sind, die im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten und Fähigkeiten auf eine situative Problemlage reagieren, indem sie sich für einen bestimmten Handlungsvollzug entscheiden; aus der Vielzahl solcher individueller Handlungsentscheidungen entstehen in aller Regel nicht-intendierte oder von ihren Produzenten nie gänzlich durchschaute Handlungsfolgen, die in ihrem undurchsichtigen und höchst nicht-trivialen Verbund als Strukturgegebenheit auf weitere individuelle Entscheidungen zurückwirken. Es gibt durchaus verschiedene Vorstellungen darüber, wie die Ebene der Makroereignisse und -gegebenheiten mit den auf der Mikroebene anzusiedelnden Entscheidungen der Akteure verbunden werden können; wichtig ist in allen Fällen, dass die beobachtbaren Makrogeschehnisse und Verteilungsstrukturen und deren Veränderung nur dann als erklärt gelten, wenn man sie handlungstheoretisch „mikrofundiert“ (vgl. Little 1998). Eine solche mikrofundierende Handlungstheorie verfährt in zwei Schritten: Zunächst thematisiert sie nur das Handeln einzelner Akteure – in diesem Sinne argumentiert sie „methodologisch-individualistisch“. Die eigentlich soziologische Problemstellung ist andererseits dann erreicht, wenn es die Frage zu beantworten gilt, unter welchen strukturellen Beschränkungen, auf welche Weise, zu welchem Zweck und mit welchen kollektiven (oder strukturellen) Folgen für ihre sozialen Beziehungen und Beziehungsformen sich Akteure, deren Handeln durch die angesprochene individualistische Handlungstheorie erklärt werden kann, wechselseitig beeinflussen – in diesem Sinn verfährt sie „strukturalistisch“. Um darzustellen, wie eine derartige erklärende Mikrofundierung makrosozialer Entwicklungen erfolgt, ist demnach erstens zu verdeutlichen, welche logische Form eine Theorie des individuellen Entscheidungshandelns besitzt und – zweitens – in welchen Situationen sie zur Anwendung kommt; in diesem Sinne unterscheide ich die Handlungsannahmen der Entscheidungstheorie und Situationsannahmen, die darüber informieren, welchen situativen Restriktionen, Opportunitäten und Problemen sich individuelle Entscheider gegenüber sehen. 31
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Es gibt verschiedene soziologisch relevante Handlungstheorien (vgl. Schmid 2004, S. 61ff.), die man in zwei Teilmengen zerlegen kann. Eine erste Teilklasse zeichnet sich durch den wiederum höchst vielgestaltigen Vorschlag aus, man könne nur dann vom „Handeln“ eines Akteurs sprechen, wenn dieser Begriff bestimmte soziale oder situative Merkmale berücksichtigt; besonders beliebt ist dabei jene Version, die darauf besteht, dem Handlungsbegriff Eigenheiten zu unterlegen, die eine konfliktfreie, gleichgewichtige Ordnung des Handelns mehrerer Akteure erlaubt. Colin Campbell (1996) lehnt diese Vorgehensweise zu Recht als „Mythos des sozialen Handelns“ ab und besteht darauf, ein Handeln nur mithilfe von Faktoren zu erklären, die einer strengen Theorie individuellen Handelns entnommen werden können, und die Situationsbedingungen als (akteur-externe) Ressourcen oder Restriktionen behandelt. Diese Forderung ist aus zwei Gründen sinnvoll: Entweder läuft die definitorische Berücksichtigung situativer Merkmale auf eine Tautologisierung der Handlungstheorie hinaus, die damit nicht länger verwendet werden kann, um Handeln in einem wissenschaftslogisch angemessenen Sinne zu erklären, oder man schränkt ihre Anwendung auf genau die Fälle ein, in denen „Handeln“ die definitorisch geforderten „sozialen“ Eigenheiten tatsächlich besitzt. Das Scheitern des Handelns, das Auftreten unbedachter Externalitäten und unerwünschter Folgen lassen sich auf diesem Wege nur schwerlich berücksichtigen und der Erfolg sozialen Handelns wird trivialisiert. Ich schlage deshalb in Anerkennung der Campbell’schen Argumente vor, diesen Theorietypus nicht länger zu verfolgen. Ich tue dies auch deshalb, weil die definitorische Aufladung des Handlungsbegriffs mit strukturellen Merkmalen die seit langem beklagte Fehleinschätzung fördert, Handeln sei durch die Merkmale der Situation, in der es stattfindet, verursacht. Eine solche Auffassung übersieht die Tatsache, dass jedes Handeln sein Entstehen der „aktiven Konstruktion“ der Akteure verdankt und damit nicht den situativen Restriktionen und Möglichkeiten an sich, sondern deren durchaus idiosynkratischen und eigenwilligen Interpretationen und Einschätzungen durch die Handelnden, deren Absichten, Kenntnissen und Motivationen. Um diesen voluntaristischen Eigenheiten menschlichen Handelns gerecht zu werden, versucht ein zweiter Zweig von Handlungstheorien deshalb, individuelles Handeln als (subjektives) Entscheidungshandeln zu modellieren. Auch dazu liegen eine ganze Reihe unterscheidbarer Theorien vor. Der gemeinsame Kern aller dieser Konstruktionsbemühungen ist die Vorstellung, dass sich ein Akteur bei der Organisation seines Handelns einem Selektionsproblem gegenüber sieht, das daraus resultiert, dass sein Handeln weder durch Situationsgegebenheiten noch durch innere Zwänge „determiniert“, sondern allenfalls kanalisiert ist, weshalb er sich immer, 32
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wenn er intentional oder absichts- und zweckgeleitet handeln möchte, zwischen mindestens zwei Handlungsalternativen entscheiden muss – im einfachsten und extremsten Fall: die betreffende Handlung auszuführen oder sie zu unterlassen; verfolgt er mehrere Ziele, so muss er sich festlegen, welchem Ziel er Vorrang geben möchte. Diese Auffassung impliziert, dass der Akteur über einen Algorithmus verfügen muss, der ihm erlaubt, zwischen denkbaren Handlungsverläufen zu wählen. Zu diesem Zweck hat sich das Bild eines absichtsgeleiteten Akteurs durchgesetzt, dessen Handeln von den folgenden Voraussetzungen abhängig ist: Zum einen wird er sein Handeln danach ausrichten, was er über seine Ziele, aber auch über die Situation weiß, in der er diese realisieren muss, und die ausschlaggebend dafür ist, ob und in welchem Umfang ihm dies gelingt. Er verfügt entsprechend über Wissen, das ihm gestattet, Erwartungen (oder Hypothesen, wie Popper sagen würde) über die Bedingungen seines Handelns zu gewinnen, bzw. er ist darüber informiert, angesichts welcher Restriktionen und Opportunitäten er seinen Erfolg suchen muss; er besitzt demnach – worauf z.B. Schütz (1971, 1972) immer wieder hingewiesen hat – die Fähigkeit, sein Handeln zu „entwerfen“ oder zu planen. Dass die dazu genutzten Erwartungen richtig sind und seine Informationen vollständig, wird nur in einigen Modellen der neo-klassischen Ökonomie vorausgesetzt bzw. von Soziologen, die sich bemühten, dem in der Ökonomie gesetzten Modellierungsideal zu folgen (vgl. Schmid 2004, S. 110ff.). Zum anderen muss er dazu in der Lage sein, diese erwarteten Zustände bzw. Handlungsverläufe und Handlungsfolgen differenziell zu bewerten, wozu auch eine Einschätzung der Kosten gehört, für die ein Akteur aufkommen muss, wenn er seinen Bewertungen Geltung verschaffen möchte. Hinzu tritt endlich die Fähigkeit des Akteurs, diese unterschiedlich deutlichen Erwartungen und unterschiedlichen Bewertungen zu einer so genannten Präferenzordnung zu synthetisieren, die ihm – auf der Basis einer zumindest ordinalen Nutzenskala – sagt, welche Handlung er welchen der von ihm erwogenen Handlungsalternativen vorzieht. Diese Ordnung herzustellen, muss nicht gelingen: Akteure können sich in Widersprüchen verfangen, zirkelhafte Präferenzen verfolgen oder unter Indifferenzen (oder Ambivalenzen) leiden. In diesen Fällen können sie nicht eindeutig entscheiden, welche Handlung sie verfolgen wollen, weil alle Regeln, die sie verwenden könnten, um zwischen ihren Präferenzen zu wählen (z.B. die Maximierungsregel, „Satisfycing“, Imitation; die Regel, Gewohnheiten zu folgen oder immer das zu tun, was die anderen verlangen etc.) keine eindeutigen Ergebnisse haben. Das heißt nicht, dass Akteure sich angesichts solcher Zwiespältigkeiten und Widrigkeiten nicht entscheiden könnten; sie müssen zu diesem Zweck jedoch 33
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Vorgaben akzeptieren, die der Vorstellung einer strengen Rationalität, die auf das Vorhandensein einer konsistenten, d.h. transitiven, reflexiven und asymmetrischen Präferenzordnung Wert legt, nicht entsprechen. Neuere (und weniger neue) Bemühungen, diesen Beschränkungen des streng rationalen Handlungsmodells durch Einführung von Zusatzfaktoren wie Gefühle (vgl. für viele Frank 1988; Elster 1998), Erleben (Luhmann 1984), „Konzepte“ (Thagard 1992), „frames“ (Esser 1991), Dispositionen (Vanberg 1994; Baurmann 1996), Typen (Berger und Luckmann 1969) und Modelle (Holland et al. 1986) usf. zu beheben, können somit als Versuch bewertet werden, genauer zu bestimmen, unter welchen Bedingungen fehlerfreie Erwartungen und eindeutige Bewertungen zustande kommen – oder nicht. Dieses Modell strenger Rationalität kann infolgedessen auch dann als Grenzfall eines komplexeren Handlungsmodells erkannt und in dessen Licht als unvollständig und entsprechend falsch kritisiert werden, wenn dessen exakter Ausbau noch aussteht. Um bei diesem Geschäft den theoretischen Überblick zu bewahren, ist es sinnvoll, die Einflüsse auf Erwartungen und Bewertungen getrennt zu untersuchen. Indem man auf diese doppelte Weise jene Bereiche, die der Akteur mithilfe seiner Entscheidung bearbeitet, von jenen abgrenzt, in denen er keine Entscheidungen fällt, kann man diesen Erweiterungsvorschlägen den Charakter von Ad-hoc-Annahmen nehmen. Sie erfüllen dann die Merkmale so genannter „Anschlusstheorien“. Die Entscheidungstheorie auf diese Anschlusstheorien zu reduzieren, geht indessen nicht an, solange die Reaktionsformen der Akteure auf beliebige Situationen nicht festliegen bzw. solange sie zwischen Flucht oder Abwanderung, Protest oder Beschwerde, Loyalität oder Stillhalten bzw. zwischen der Veränderung ihrer Situation oder schlichter Verweigerung und weiteren Reaktionsformen wählen müssen. Sollte diese Form der individuellen Entscheidungstheorie zutreffen, so impliziert sie eine Ontologie des Akteurs – oder, um die Sprachregelung der Forschergruppe „Reflexive Modernisierung“ zu benutzen: eine „Subjektkonzeption“ –, die sich durch die folgenden Überlegungen charakterisieren lässt: Als Akteur (im Sinne dieser Theorie) kann jemand gelten, der sich Ziele setzen und planvoll verfolgen kann, die er nach der verschiedenartigen Wertigkeit der damit angestrebten Zustände unterscheidet. Zum anderen kann ein solcher Akteur Erwartungen über die Erfolgsaussichten seines Handelns ausbilden und – lernend am Erfolg und Misserfolg seiner Bemühungen, in imitativer Übernahme von Handlungsvorschlägen anderer oder aufgrund eigener Erfindungsgabe – auch wieder verändern. Was er wie bewertet und welche Erwartungen er berücksichtigt bzw. welche Wahrscheinlichkeiten er mit ihnen verbindet, aber auch Nichtwissen und fehlerhafte Informationen bestimmen die 34
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„Perspektive“ des Akteurs, mit der er seine Handlungsbedingungen einer eigenständigen „Definition der Situation“ unterzieht. Ein Akteur sollte dazu in der Lage sein, aus Bewertungen und Erwartungen konsistente Präferenzen über seine Handlungsmöglichkeiten zu bilden und mithilfe einer Auswahlregel jene zu bestimmen, die er angesichts dieser gegebenen Präferenzordnung vorzieht. Auch diese Kalkulationsfähigkeit ist regelmäßig begrenzt und mangelbehaftet, was die Reichweite kontrollierten Entscheidens beeinträchtigt. Aus der Differenz zwischen Zielvorgabe und Ertragserwartung folgert die Theorie zudem, dass sich der Akteur dazu motivieren kann, die gewählte Handlungsalternative tatsächlich zu realisieren, akzeptiert aber jede Korrektur dieser Annahme, die sich aufgrund seiner motivationalen Wankelmütigkeit, seinen Schwierigkeiten, kurzfristige zugunsten langfristiger Zielsetzungen zurückzustellen, seiner Versuchung, die eigenen Präferenzen – sich oder anderen gegenüber – zu verleugnen und dergleichen mehr, ergeben mögen. Überdies unterstellt die Akteursontologie der individuellen Entscheidungstheorie, dass Akteure findig bei der Nutzung von zieldienlichen Ressourcen und Restriktionen sind. Dass solche Fähigkeiten ihrerseits variabel sind und oftmals unausgeleuchtete Vorbedingungen besitzen, ist unstrittig; diese können aber so lange konstant gesetzt werden, bis sich – aufgrund empirischer Prüfungen – herausstellt, dass die Handlungsannahmen der Theorie dann nicht gelten, wenn die in den „Datenkranz“ verwiesenen Faktoren variable Werte annehmen. Die Entscheidungstheorie geht also davon aus, dass sie es mit einem Akteur zu tun bekommt, der seine Zwecke und Interessen (irgendwoher) kennt und die Mittel zu deren Realisierung (irgendwie) beschaffen und zweck- oder folgenorientiert anwenden kann, oder um es mit Max Weber (1968) zu sagen: „Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien ‚Zweck‘ und ‚Mittel‘“ (S. 149).1 Im Rahmen einer dergestalt konzipierten Theorie des individuellen Wahlhandelns unterscheidet man für gewöhnlich zwei mögliche An1
Eine beiläufig geäußerte Kritik am „Zweckbegriff“ (vgl. Beck et al. 2001) scheint mir unhaltbar zu sein. Die Autoren vertreten – wenn ich sie richtig verstehe – die These, dass ein Blick in die neuere Organisationstheorie zeige, dass man nicht länger von gegebenen Zwecken ausgehen könne. Richtig ist sicher, dass die „organisierte Anarchie“ (Cohen et al. 1972) organisatorischer Entscheidungsprozesse bisweilen eine verbindliche Festlegung von Zwecken nicht erlaubt. Jedoch sind erstens organisatorische Zielsetzungen etwas anderes als individuelle, und zweites kann man mit dem Argument, Zwecke bedürften der Festlegung, keine Modelle kritisieren, die davon ausgehen, dass Zwecke festliegen. Ein Widerspruch läge nur vor, wenn Zwecke nie festgelegt werden könnten.
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wendungsfälle, die durch zwei unterschiedliche Mengen von Situationsannahmen gekennzeichnet sind, die aus den Handlungsannahmen allein nicht abgeleitet werden können. Beide sind gleichwohl logisch notwendig, weil sie die Randbedingungen entscheidungstheoretischer Erklärungen benennen, welche die unterschiedlichen situativen Restriktionen, Möglichkeiten und Erfolgswahrscheinlichkeiten des individuellen Handlungserfolgs bestimmen. Im ersten Fall wird unterstellt, dass der Akteur sich in einer Problemsituation befindet, die man als „Spiel gegen die Natur“ bezeichnen kann. Voraussetzungsgemäß verfolgt er eine bestimmte Präferenz, deren Erfolg durch die externen Situationsgegebenheiten determiniert ist, wobei Entscheidungen anderer Akteure keine erfolgsrelevante Rolle spielen. Diese (natürlichen) „Gegebenheiten“ wirken sich in differenzieller Weise auf den individuellen Handlungserfolg des Akteurs aus: Wahres Wissen und realisierbare Zielsetzungen bescheren dem Akteur Handlungserfolge; sind seine Erwartungen indessen falsch und/oder seine mit hohen Bewertungen versehenen Handlungsoptionen de facto nicht realisierbar, so wird er scheitern oder seine Ziele nur partiell erreichen können. Die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns wird demnach dann zunehmen, wenn er sich nicht sicher ist, ob seine Informationen über die Handlungssituation und die Eigenheiten seiner Ziele zutreffen. Dabei gibt es mehrere Problemfälle: Zum einen kann es sein, dass der Akteur zwar über die Menge seiner Handlungsalternativen informiert ist, deren Realisierung aber nur mit relativen Wahrscheinlichkeiten erwartet; in solchen Fällen handelt er unter „Risiko“. Noch immer ist eine eindeutige Präferenzordnung möglich, aber die zugrunde gelegten Erwartungen treffen nicht immer zu, was nur zufällige Erfolge zulässt. Im anderen Fall kennt der Akteur seine Handlungsalternativen, nicht aber deren Auftretenswahrscheinlichkeiten, womit ein Handeln unter „Ungewissheit“ vorliegt. Unter „Unsicherheit“ schließlich muss ein Akteur handeln, wenn die Menge seiner Handlungsalternativen unbestimmt ist und er (deshalb) deren Erwartungswahrscheinlichkeiten nicht kennen kann. In der Beurteilung vieler Theoretiker gelten gerade jene Entscheidungen als besonders bedrängend, die mit den beiden zuletzt genannten Beschwernissen behaftet sind. In diesen Fällen sind die Standardbedingungen strenger Rationalität nicht erfüllbar, weshalb die lebenspraktische Gewichtigkeit einer Entscheidung in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Rationalität zu stehen scheint. Dies kann als Zugeständnis der Tatsache gelten, dass die Theorie des strengen rationalen Handelns keine allgemeine Theorie sein kann. Dieses überkommene Standardmodell strenger Rationalität, das dann am überzeugendsten wirkt, wenn die Akteure angesichts einer parametrisch gesetzten „Natur“ unter Sicherheit oder Risiko handeln, gerät 36
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unter zusätzlichen Druck, wenn Akteure dazu gezwungen sind, unter strategischen Bedingungen zu entscheiden. Dies ist dort der Fall, wo sie auf Mitakteure stoßen, die vor demselben Problem – eine zieldienliche Entscheidung treffen zu müssen – stehen, wie sie selbst. Durch das Auftreten von Mitakteuren ändert sich das Problemfeld, das ein Akteur betreten muss, nachhaltig: Aus einer individuellen, ja anonymen und solitären Entscheidungssituation wird eine „soziale Situation“, die den betreffenden Akteur mit der Einsicht konfrontiert, dass sein Handlungserfolg unter anderem davon abhängen wird, wie sich seine Mitakteure entscheiden, weshalb es nicht immer angeraten sein kann, diese als „Parameter“ zu behandeln. Sofern alle Beteiligten diese Einsicht gewinnen, sind sie, um eventuelle Schädigungen zu mindern, Handlungskosten zu sparen, suboptimale Handlungserträge oder gar Kontrafinalitäten zu vermeiden, die aus der Intervention ihrer Mitakteure resultieren können, darauf angewiesen, ihr Handeln wechselseitig aneinander zu orientieren, was ohne gesonderten Aufwand in der Regel nicht gelingt. Dieses im Kernbereich des soziologischen Denkens stehende Problem besitzt – worüber die Handlungstheorie aufklären kann – zwei getrennt behandelbare Facetten: Zum einen entsteht angesichts der geschilderten Handlungs- und Erfolgsinterdependenzen das in der Soziologie immer wieder angesprochene Problem der „doppelten Kontingenz“. Es taucht dann auf, wenn ein Akteur seine Wahl nur unter der Voraussetzung kontrolliert treffen kann, dass er die Entscheidung seiner Mitakteure kennt, er (aus kontingenten Gründen) jedoch nicht weiß, wie diese ausfällt. Unterliegen alle Entscheidungsinteressenten dieser symmetrischen Ignoranz, ist die Wechselorientierung ihres Handelns selbst dann blockiert, wenn die Bewertungen, die sie mit ihrem Handeln verbinden, als problemlos vorausgesetzt werden können. Zielführend können sich Akteure angesichts dessen nur entscheiden, wenn jeder von ihnen Informationen darüber besitzt, welche Handlungswahl die Mitakteure treffen, und alle Beteiligten voneinander wissen, dass dies der Fall ist. Der Erwerb eines solchen „common knowledge“ ist voraussetzungsreich und störanfällig (vgl. Koons 1992, Biccheri 1993), wenn auch nicht gänzlich unmöglich, wie ein Gutteil der soziologischen Theoriedebatte zeigt, die dem Nachweis gewidmet ist, dass ein „gemeinsames Wissen“ über die erwartbaren Handlungen Anderer handlungssteuernd wirkt und dass Akteure auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen dazu beitragen können, diese Wechselorientierung des Handelns zu gewährleisten. Die andere Facette diskutiert die Soziologie gerne als Problem des „gemeinsamen Wertsystems“, wobei in der Regel unterstellt wird, dass die stabile und Ordnung stiftende Ausrichtung des Handelns verschiedener Akteure davon abhängt, dass sie alle dieselben Werte erstreben. Lei37
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der gilt dies nur, wenn sich die Akteure bei der Realisierung dieser Gemeinsamkeit – was sie nicht immer vermeiden können – nicht wechselseitig im Wege stehen. Zur genaueren Kennzeichnung der Problemsituation, in welche die Akteure im Gefolge der Tatsache geraten, dass sie ihre Handlungsoptionen, situativen Umstände und Handlungsfolgen bewerten müssen, um zu einer Entscheidung zu gelangen, bietet es sich deshalb an, zwischen verschiedenen Ziel- bzw. Wertkonstellationen zu unterscheiden. Zum einen können die Ziele der Akteure miteinander kompatibel sein, d.h. sie verfolgen gemeinsame bzw. kollektive oder unterschiedliche, aber komplementäre Ziele. Verfolgen sie ein gemeinsames Ziel, so stehen sie vor einem Kollektivgutproblem, zu dessen Lösung Beitragssolidarität gefragt ist und die Hoffnung eine handlungsmotivierende Rolle spielt, dass die nachgelagerte Nutzung des betreffenden Kollektivguts keine Konsumrivalitäten aufweist. Liegen komplementäre Ziele vor, bietet sich den Akteuren die Chance, sich bei der Realisierung ihrer Wertvorstellungen durch die Aufnahme von wechselseitig ertragsteigernden Tauschbeziehungen dienlich zu sein. Bedauerlicherweise gibt es aber auch nicht-komplementäre Ziele. In diesem Fall kann keiner der Interessenten sein Ziel realisieren, ohne so zu handeln, dass andere die von ihnen als wertvoll eingestuften Zustände nicht erreichen können. Auch hier existieren zwei Möglichkeiten: Erstreben die Akteure das gleiche Ziel, so geraten sie unabdingbar in ein Konkurrenzverhältnis; die Auseinandersetzung um Positionsgüter ist das bekannteste Beispiel dafür. Im anderen Fall haben sie verschiedene, wenn auch nicht weniger unverträgliche Ziele im Auge, was jeden Ausgleich verbietet, solange jeder sein Ziel nur auf Kosten des oder der anderen erreichen kann; Verteilungskonflikte und die nicht-kooperative Durchsetzung von Ausbeutungsinteressen dürften die wichtigsten und für diesen Fall paradigmatischen Konfliktformen sein. Zu einer weiterführenden Darstellung des gegenwärtigen Standes der Handlungstheorie vgl. Schmid (1998, 2004).
Soziologische Handlungstheorie und Gesellschaftsanalyse Wenn man den entsprechenden Dokumenten glauben darf, die einen Überblick über die makroskopischen Merkmale derzeitiger Gesellschaften geben,2 dann muss in der Tat der viel zitierte Eindruck der „Unüber-
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Vgl. Kneer et al. 1997, 2001; Pongs 1999; Schimank und Volkmann 2000; Volkmann und Schimank 2002.
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sichtlichkeit“ aufkommen. Diese Unübersichtlichkeit scheint nicht zuletzt deshalb so bedrohlich zu wirken, weil man im Gefolge der Gründervätersoziologie glauben durfte, die Industriegesellschaften befänden sich nach anfänglichen Schwierigkeiten, die in der Nachfolge von Marx immer wieder beschrieben wurden, auf dem steinigen, aber wohlausgeschilderten Weg zu kollektiver Sicherheit, Wohlstand und Fortschritt. Nachdem sich immer weniger leugnen lässt, dass auch die neuere Gesellschaftsentwicklung zu zielwidrigen Externalitäten, „paradoxen Folgen“, unerwünschten Nebeneffekten und (vor allem zu neuartigen) kollektiven Gefährdungen führt,3 und nachdem sich immer deutlicher zeigt, dass gesamtgesellschaftliche Planungen ebenso zum Scheitern verurteilt zu sein scheinen wie die Versuche, die Regulierung zwischenmenschlicher Transaktionen den „Gesetzen“ des Marktes zu überlassen, macht sich Unsicherheit über die „Zukunft der Zweiten Moderne“ breit.4 Entsprechend beginnen die Beobachter der Gesellschaft, die sich für deren Entwicklung verantwortlich fühlen und unter deren aktuellem Verlauf leiden, nach einem „neuen Typus von Vergesellschaftung“ (Bonß 1995, S. 16) zu suchen. Allerdings verlaufen diese Suchbewegungen – wenigstens derzeit noch und von „außen“ betrachtet – erratisch und führen zu Ergebnissen, die unentschieden lassen, ob man die zeitgenössische Gesellschaft als „moderne“, „postmoderne“ oder aber als „reflexiv moderne Gesellschaft“ beschreiben soll, ob man ferner die Gesellschaftsentwicklung als Ausbund eines Freiheit sichernden „Abschied(s) vom Prinzipiellen“ auffassen kann, als eine neue Form individualistischer Entfremdung, oder aber als Ausdruck einer kollektiven Selbstthematisierung, die gerade jene Einsichten verhindert, die man bräuchte, um das eigene Treiben analysieren zu können. Ebenso unklar schließlich ist, ob man es angesichts der obwaltenden Gesellschaftsentwicklung dabei bewenden lassen kann, mit besserwisserischer Kritik zu reagieren oder ob man auf die neuen Erfahrungen und Gefahren mit der Aufforderung reagieren muss, die „gesellschaftlichen Strukturveränderungen in die Theoriebildung ein[zu]beziehen“ (s. Einleitung, S. 7). Ich befürchte, dass die soziologische Handlungstheorie zur Klärung dieser Fragen nur wenig beitragen kann. Dafür gibt es mehrere Gründe: Gesellschaftstheorie bemüht sich um die Erklärung globaler, einmaliger Entwicklungen, die entweder auf einem hohen Aggregationsniveau beschrieben werden („Industrialisierung“, „funktionale Differenzierung“, „Multioptionsgesellschaft“, „Zivilgesellschaft“, „Postmoderne“, „Massengesellschaft“, „Nationalgesellschaft“, „Arbeitsgesellschaft“ etc.), 3 4
Deren Analyse steht im Zentrum der Beck’schen Gesellschaftsanalyse, vgl. Beck 1986, 1988, 1993; Bonß 1995. Vgl. zu dieser Begriffswahl Beck et al. 2001.
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oder aber historisch eng umrissene, medienauffällige und zumeist als problembehaftet verstandene Eigenheit betonen (wie die „schamlose Gesellschaft“, die „multikulturelle Gesellschaft“, die „Erlebnisgesellschaft“, die „vaterlose Gesellschaft“ und dergleichen). All diese gesellschaftlichen „Wesensmerkmale“ werden mit Begriffen bezeichnet, die in den Handlungsannahmen der allgemeinen Handlungstheorie nicht vorkommen. Eine direkte Ableitung gesellschaftstheoretischer Aussagen aus dem Entscheidungsmodell ist entsprechend unmöglich. Das bedeutet indessen nicht, dass man die genannten Gesellschaftstheorien nicht handlungstheoretisch fundieren kann. Ein solches Vorhaben ist allerdings davon abhängig, dass es gelingt, die in den Gesellschaftstheorien gekennzeichneten Strukturmerkmale in Situationsbeschreibungen zu überführen, die für das Entscheidungshandeln der Akteure bedeutsam sind, und die dazu dienen, die verteilungsstrukturellen Restriktionen und Voraussetzungen jener Abstimmungsprobleme zu spezifizieren, deren durchweg unsichere Lösungsversuche die Handlungstheorie erklären kann. Gelingt eine solche entscheidungstheoretische Rekonstruktion oder Reformulierung nicht, können gesellschaftstheoretische Behauptungen handlungstheoretisch nicht fundiert werden. Demgegenüber kann man wenigstens bisweilen zeigen, dass entscheidungstheoretisch rekonstruierbare Prozesse und Verhältnisse, auf deren Behandlung die Gesellschaftstheorie Wert legt, nicht aus der soziologischen Handlungstheorie abgeleitet werden können; in solchen Fällen behauptet die Handlungstheorie, dass die im Rahmen einer Gesellschaftstheorie vertretenen Modelle falsch sind und in ihrem Lichte korrigiert zu werden verdienen. Eine handlungstheoretische Mikrofundierung der gesellschaftstheoretischen Analysen heißt indessen nicht, dass die soziologische Handlungstheorie dazu in der Lage wäre, die gesellschaftstheoretisch behaupteten Ereignisabfolgen in ihrer historischen Einmaligkeit zu erklären. Sie muss einen solchen Erklärungsversuch aus zwei Gründen unterlassen: Zum einen deshalb, weil die mit ihrer Hilfe modellierten Abstimmungsmechanismen (vgl. Schmid 2005) keine Informationen darüber enthalten, wann und in welcher Reihenfolge die Vorbedingungen und Folgen der von ihr behandelten Lösungsverfahren auftreten und erfolgreich institutionalisiert werden können (oder nicht). Sie eignen sich deshalb auch dann weder zur Erklärung historisch einmaliger Entwicklungen noch zu deren kontrollierter Prognose, wenn man voraussetzen könnte, dass sich die „Gesellschaftsgeschichte“ auf die Schilderung der historischen Abfolge solcher Abstimmungsmechanismen spezialisieren würde. Insoweit wäre zu überlegen, ob die Gesellschaftstheorie ihren Anspruch darauf, „Theorie“ zu sein, nicht modifizieren bzw. sich statt dessen als „Gesellschaftsanalyse“ verstehen sollte, die dem Erklärungs40
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muster der „analytical narratives“, der komparativ-historischen Analyse oder der Methode der „kausalen Rekonstruktion“ gesellschaftlicher Dynamiken folgt. Diese Kritik erstreckt sich auch auf die gesellschaftstheoretisch sehr beliebten Phasen- oder Stufenmodelle, die einen zwangsläufigen, in einzelne „Gesellschaftsformationen“ – wie sich Marx ausdrückte – unterteilbaren Entwicklungsgang behaupten. Die Annahme einer „zwangsläufigen Entwicklung“ ist mit dem handlungstheoretischen Voluntarismus indessen auch dann nicht vereinbar, wenn die historische Beschreibung einer steigerungsdynamischen „Entwicklungslogik“ – wie es seit Habermas heißt – vordergründig plausibel ist. Tatsächlich sind all diese Stufenmodelle im Rückblick entstanden und haben sich als Prognosegrundlage nie bewährt, was den Schluss erlaubt, dass sie empirisch falsch und handlungstheoretisch nicht fundierbar sind. Handlungstheoretisch fundierte und prognostisch verwertbare Erklärungen und Stufenmodelle solcher gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen sind zum anderen auch deshalb unmöglich, weil der Entscheidungstheorie keine Hinweise darüber entnommen werden können, dass die Akteure immer und zuverlässig wüssten, welche kollektiven Folgen ihre individuellen Handlungen haben werden, und wie sie auf die Akkumulation unbedachter Externalitäten reagieren werden bzw. welche situativen Restriktionen und Möglichkeiten in Zukunft bestehen werden, wenn sie den wiederholten Versuch unternehmen, diesen negativen Kollektivund Nebenfolgen ihres gemeinsamen Handelns zu begegnen. Natürlich kann sich ein Handlungstheoretiker einbilden, diese Möglichkeiten und Restriktionen besser abschätzen zu können als die Akteure selbst – ob er allerdings auch nur ahnen kann, ob die Akteure das Interesse und den Willen aufbringen, seinen Deutungen zu glauben und sein Wissen zu nutzen, scheint weitaus fraglicher. Dies ist selbst dann mit Schwierigkeiten verbunden, wenn sich der Handlungstheoretiker als Aufklärer fühlt und damit beginnt – in der Hoffnung, dass das Theorem von der sich selbst erfüllenden Vorhersage stimmt – seine Zielakteure zu überzeugen, politischen Einfluss zu nehmen oder zur kollektiven Veränderung der Verhältnisse aufzurufen. Er sollte aber wissen können, dass er sich damit in genau die Handlungssituation begibt, deren Unsicherheiten und Unabwägbarkeiten seine Handlungstheorie beschreibt. Handlungsempfehlungen auszusprechen wird angesichts dieses Umstandes auch dann zu einem fragwürdigen Geschäft, wenn die Wahrheit der Handlungstheorie als gesichert gelten könnte. Ich hatte mich bislang darauf konzentriert, den Nachweis zu führen, dass die soziologische Handlungstheorie dazu dient, Gesellschaftstheorien zu fundieren bzw. gelegentlich zu falsifizieren. Drehen wir die Problemstellung um und fragen abschließend, welche Kritik die auf Re41
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flexivität pochende Gesellschaftstheorie gegen die Handlungstheorie geltend macht. Soweit ich sehe, existieren drei allerdings nicht sauber trennbare Einwände. Erstens findet sich der Hinweis, dass die Unterstellung einer a-historischen Rationalitätsauffassung nicht verteidigt werden könne; wohl aber könne die Gesellschaftstheorie die Entstehung eines Modells strenger, kalkulatorischer Rationalität als eine Anpassungsleistung der Entscheider an die Erfordernisse des überregionalen Handels, der kapitalistischen Rechnungslegung oder des Markttausches erklären. Soweit dieser Einwand zulässt, dass die Akteure darüber entscheiden können, welche dieser Verfahren sie wählen, kann man ihn kaum ernst nehmen. Gewichtiger ist deshalb die Version, die behauptet, bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse zwängen die Akteure dazu, bestimmte Entscheidungsverfahren zu akzeptieren. Eine solche Argumentation ist indessen wenig überzeugend. Da die Theorie des Entscheidungshandelns eine allgemeine Theorie darstellt, kann es weder richtig sein, dass sich individuelle Entscheidungsprozesse unter vorkapitalistischen Verhältnissen auf eine andere Weise abspielen als unter nachkapitalistischen, noch dass Entscheidungen im außer-ökonomischen Bereich keiner Nutzenerwägung unterlägen. Dass es Situationen gibt, in denen Irrtümer schmerzhaft sind und deren Beseitigung gesonderte Kosten verursachen, weshalb die Akteure gut beraten wären, wenn ihre Entscheidungen den Kriterien strenger Rationalität folgen könnten, ist natürlich richtig; hingegen dürfte die These, nur im Falle von Überseehandel und Markttausch seien Fehler unverzeihlich und kostenträchtig, ebenso falsch sein wie die Vermutung, dass Nebenfolgen erster und zweiter Ordnung (vgl. Beck et al. 2001) nur in modernen und nachmodernen Gesellschaften eine Rolle spielten. Ein zweites Argument weist darauf hin, dass Modelle strenger Rationalität der Tatsache nicht gerecht werden, dass Akteure regelmäßig unter Unsicherheit handeln müssen und dass eindeutige Präferenzordnungen nur in Extremfällen vorliegen. Damit verbunden ist die Forderung, solche Modellvorstellungen zu modifizieren bzw. zu ergänzen, wenn gesellschaftliche Strukturveränderungen Handeln unter Sicherheit nicht länger zulassen bzw. die Akteure durch Differenzierungs- und Individualisierungsprozesse davon befreien, eine all ihre Handlungsbereiche übergreifende Präferenzordnung auszubilden (vgl. Einleitung). Beide Einwände sind richtig, sie treffen aber weder den derzeitigen inhaltlichen Zustand der Handlungstheorie noch berücksichtigen sie den Tatbestand, dass eine handlungstheoretische Erklärung sowohl Handlungs- als auch Situationsannahmen enthält. Zunächst die Frage der Unsicherheit: Unzweifelbar finden sich (zumal ökonomische) Modelle, die ein Handeln unter Sicherheit unterstel42
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len; keiner ihrer Vertreter nimmt jedoch an, dass diese Prämissen wahr seien, sondern sie hoffen darauf, dass sich auch dann empirisch beobachtbare Effekte deduzieren ließen, wenn die Ausgangsannahmen zugegebenermaßen falsch sind. Diese Hoffnung beruht allerdings auf einer fehlerhaften Methodologie und hat auf Seiten jener, die auf Wahrheit ihrer Handlungsannahmen Wert legen, zu vielgestaltigen Versuchen geführt, die Annahme der vollständigen Information durch realitätsnähere Hypothesen zu ersetzen. Auch sind mittlerweile immer wieder Vorschläge gemacht worden, die wiederholten, auf Frank Knights (1921, S. 232) Rat zurückgehenden Bemühungen aufzugeben, Handeln unter Unsicherheit und Ungewissheit auf Risikohandlungen zurückzuführen, die man mit den vorhandenen Formalismen besser bearbeiten kann, um statt dessen den Eigenheiten von Unsicherheit und Ungewissheit gerecht zu werden. Entsprechend lässt sich die These vertreten, dass die Unterstellung vollständiger Information als Degeneration eines umfassenderen, interdisziplinär angelegten handlungstheoretischen Forschungsprogramms aufzufassen ist, in dessen Mittelpunkt die orientierungsgefährdende Rolle von Unsicherheit stand. Die gesellschaftstheoretische Mahnung, die Handlungstheorie müsse Unsicherheiten behandeln, geht also insoweit am Ziel vorbei, als sie diese selbstverständlich beherzigt; richtig aber bleibt, dass sich die sozialen Interdependenzen der Akteure im Laufe der Zeit verändern können und damit auch die Art der Probleme, vor die sie sich gestellt sehen. So kann es sich für sie lohnen, darüber nachzudenken, ob und in welcher Weise sie die überkommenen, eventuell als unzureichend eingestuften Regulierungsverfahren von Unsicherheiten um- oder neu gestalten können. Zu deren Modellierung müssen allerdings nicht die Handlungsannahmen der Entscheidungstheorie geändert werden, sondern allenfalls die Annahmen über die situativen Rahmenbedingungen, die das Handeln der Akteure kanalisieren, wozu auch ihre kollektiven Überzeugungen darüber zählen mögen, worin ihr Unsicherheitsproblem eigentlich bestehe. Damit ist umso eher zu rechnen, als die Entscheidung darüber, welches das gemeinsame Problem sei, selbst eine (kollektive) Entscheidung unter Unsicherheit darstellt. Sodann die Frage veränderlicher bzw. inkonsistenter Präferenzen: Es ist richtig, dass orthodoxe entscheidungstheoretische Modelle ebenso konstante wie konsistente Bewertungen zugrunde legen. Allerdings ist den Verteidigern einer solchen Unterstellung geläufig, dass auch die Konstanzannahme keine empirisch zutreffende Beschreibung der Bedingungen darstellt, unter denen Akteure entscheiden. In Reaktion auf diese Einsicht hat man immer wieder versucht, endogene, d.h. entscheidungsabhängige Zielverschiebungen und -änderungen zuzulassen; zugleich sehen selbst der Ökonomie nahe stehende Theoretiker zunehmend ein, 43
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dass Zielvorstellungen und Zielsetzungen in sozialen Situationen, also unter dem Einfluss von Mitakteuren gebildet, gelernt und auch wieder verändert werden können. Dass es schwankende und ungeordnete Präferenzen gibt, ist der Entscheidungstheorie mittlerweile ebenso bekannt, so dass man dieses Wissen dazu nutzen kann, die Reichweite eines strengen Rationalmodells korrigierend einzuschränken, ohne es verwerfen zu müssen. Denn noch immer kann es sich für einen Akteur vor allem in „High cost“-Situationen lohnen, den Bedingungen strenger Rationalität auch dann nahe zu kommen, wenn er nicht bereit oder in der Lage ist, für die Beschaffung reibungsfreier Präferenzen jeden Aufwand zu treiben. Wenn ihm dies nicht gelingt, wird man sein Entscheiden in dem Rahmen nachzeichnen müssen, der durch die Bedingungen „begrenzter Rationalität“, d.h. auch von Handlungsunsicherheiten und -ungewissheiten, gezogen ist. Vor ihrem Hintergrund darf auch damit gerechnet werden, dass ein Akteur seinen Entscheidungsproblemen bisweilen „hilflos“ (Bonß 1995, S. 84) ausgesetzt ist. Dass die Vertreter einer Theorie des individuellen Entscheidens seit geraumer Zeit damit beschäftigt sind, die „Grenzen der Rationalität“ (vgl. für viele Cook und Levi 1990) in diesem Sinne auszuleuchten, habe ich mehrfach angedeutet. Ihre Distanz zur Handlungstheorie bringen führende Vertreter des Forschungsprogramms zur reflexiven Moderne endlich auch durch den Vorwurf zum Ausdruck, sie sei nicht dazu in der Lage, Handlungsnebenfolgen erschöpfend zur berücksichtigen (vgl. Beck et al. 2001). Kritische Erwähnung finden dabei zwei Argumente: Zum einen beachte die Handlungstheorie nicht-intendierte Handlungsfolgen nur insoweit, als sie der Bildung spontaner Ordnung dienlich sind, und sie übersehe damit die möglichen zerstörerischen Folgen nicht-intendierten Handelns. Zum anderen sei die Fixierung der Handlungstheorie auf nicht-intendierte Nebenfolgen unverständlich angesichts der Tatsache, dass es selbstverständlich auch erwartete Nebenfolgen gebe. Der erste Einwand ist unrichtig. Neben dem in der Tat altehrwürdigen Versuch, Ordnungsbildung als einen sich selbst stabilisierenden Prozess zu modellieren, der sich „hinter dem Rücken“ der Akteure abspielt (vgl. Beck et al. 2001), gibt es selbstverständlich auch handlungstheoretische Untersuchungen von Systemzusammenbrüchen, „Tragödien der Allmende“ und Destabilisierungsprozessen.5 Dem zweiten Einwand kann man insoweit stattgeben, als es richtig ist, dass die Handlungstheorie in erster Linie das Wirken von „hidden hands“ sowie verdeckte Effekte untersucht; das heißt aber nicht, dass die Theorie logisch gezwungen wäre, erwünschte Handlungs-
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Vgl. Hardin 1968; Tainter 1988; Bates 1989; Ostrom 1990; Ensminger 1992 u.a.
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folgen zu übersehen oder Existenz und Wirkung solcher erwünschter Effekte leugnen müsste. Politische Interventionen sind nicht erst in der „reflexiven Moderne“ zur Mode geworden und könnten sich ohne Verweis auf bewusste und abschätzbare Zielsetzungen kaum rechtfertigen.
Ergebnis und Folgerungen Die soziologische Handlungstheorie schlägt vor, Akteure oder handlungsbegabte Subjekte als lokal orientierte Problemlöser aufzufassen, welche die Fähigkeit besitzen, ihre Ziele auch dort absichtsvoll und wissenskontrolliert zu verfolgen, wo sie auf die Ansprüche anderer Akteure stoßen, indem sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für eine bestimmte Handlung entscheiden. Kern und Grundlage der soziologischen Handlungstheorie ist demnach eine Theorie des individuellen Entscheidens. Der gemeinsame Versuch, Schädigungen und nachteilige Verteilungen zu meiden, ist auf die erfolgreiche Bewältigung sozialer Interdependenzen angewiesen und führt nur unter speziellen situativen Bedingungen zu dauerhaften Lösungen, die sich in Form institutionalisierter Abstimmungsmechanismen theoretisch modellieren lassen. Der Akteur der Handlungstheorie handelt demnach voluntaristisch, was nicht heißt, dass er seine Ziele immer erreicht, seine Präferenzen immer kennt oder zu erkennen gibt oder unter dem Zugriff seiner Mitmenschen nicht zuletzt deshalb leidet, weil ihm keine Exit-Option offen steht, die er zur Verbesserung seiner Lage ergreifen könnte. In allen Fällen sind seine Bemühungen aufwändig bzw. Beschränkungen und Folgekosten unterworfen, was die Handlungstheorie aber nicht seiner Unfähigkeit zuschreibt, Ziele zu formulieren und seine Interessen zu verfolgen, sondern dem „Ärgernis der Gesellschaft“ (Dahrendorf 1964, S. 46), dem prüfenden „Blick des anderen“ (Sartre 1991, S. 457ff.) und dessen Machtintentionen (vgl. Bartlett 1989), auf die er sich einzustellen hat, bzw. der Tatsache, dass er von aversiven Folgen seines Handelns eingeholt wird, die er wohl vermieden hätte, wenn er dies hätte tun wollen oder können. Sofern Gesellschaftstheorien Wert darauf legen, die Existenz und Veränderung der von ihnen analysierten Verteilungsstrukturen, Organisations- und Gesellschaftsformen, Prozesse und Aggregate handlungstheoretisch zu erklären, müssen sie in der Lage sein, diese mit den Randbedingungen individueller, hochgradig uninformierter und damit „rational beschränkter“ Entscheidungshandlungen zu verknüpfen und als Resultat des kollektiven, strategischen, partiell regelgebundenen Handelns einer Vielzahl von eigeninteressiert agierenden Subjekten zu deuten, die ferne Folgen ihres gemeinsamem Handelns keinesfalls überblicken kön45
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nen. Dass die auf diesem Wege erklärten gesellschaftlichen Tatbestände und Prozesse eine pfadabhängige und damit unvorhersehbare Entwicklung nehmen, ist aus der soziologischen Handlungstheorie ableitbar und gerade deshalb nicht zu prognostizieren. Das heißt nicht, dass alle Versuche scheitern müssen, sich den „paradoxen Folgen“ des eigenen Tuns zu entziehen; aber die Gesellschaftsanalyse sollte um die Eigenwilligkeit der Akteure wissen und sich nicht wundern, wenn gegenläufige Zielsetzungen, kuriose Interessenskoalitionen, organisierte Machtinteressen und stabile Suboptimalitäten zu Effekten führen, die auch dann – in überkommener Weise – handlungstheoretisch identifiziert und entschlüsselt werden können, wenn der alteuropäische Fortschrittsglaube mit ihrer Existenz unter keinen Umständen rechnen wollte. Die (historische) These, dass die alteuropäische Sozialtheorie an ihrem Fortschrittsglauben festhielt, weil sie auf die Grenzenlosigkeit der menschlichen Vernunft vertraute, ist sicher richtig; die Behauptung, die derzeitige Entscheidungstheorie sei zu tadeln, weil sie Risiken, Ungewissheiten und Unsicherheiten keinen Raum gebe, ist hingegen unberechtigt. Es gibt eine ausufernde entscheidungstheoretisch geprägte Literatur auch über strategisches und kollektives Handeln, die u.a. zeigt, dass Modelle strenger Rationalität als Grenzfälle einer allgemeinen Entscheidungstheorie behandelt werden müssen, die (auch) angeben kann, wann die Bedingungen strenger Rationalität nicht erfüllbar sind. Dass die Auffassungen darüber variabel sind, welche gesellschaftlichen Veränderungen Unsicherheiten generieren und unter welchen Umständen sich Akteure kollektiv darauf verständigen, welche Lösungen zu deren Bewältigung sie bevorzugen, ist richtig, besagt aber nichts über die Modifikationsnotwendigkeit des Modells strenger Rationalität, sondern nur darüber, dass die Anwendungsbedingungen menschlichen Handelns sich verändern können. Oder anders gesagt: Das Modell strenger Rationalität muss nicht deshalb modifiziert werden, weil ihm die Akteure nicht unter allen sozial-strukturellen Bedingungen folgen können, sondern nur insofern, als es die individuellen Faktoren nicht vollständig benennt, die menschliches Handeln generieren. Dass dem so ist, ist der Entscheidungstheorie bekannt, und sie kann diese Einsicht dazu nutzen, individuelles wie kollektives Handeln in jenen Situationen zu erklären, welche die Akteure nicht vollständig überblicken können. Die allgemeinste Folgerung aus den vorgetragenen Überlegungen würde ich gerne in den Ratschlag münden lassen, dass die Vertreter des Forschungsprogramms zur reflexiven Moderne gut daran täten, ihre verdienstvollen Analysen der neueren Gefährdungslagen und der kollektiven Entscheidungsprozesse, die diese beseitigen sollten, nicht mit einer falschen Frontstellung zu belasten. Die Handlungstheorie verteidigt kei46
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ne „absolute Rationalität“; sie ist deshalb sehr viel unbedenklicher als befürchtet und kann jederzeit als Erklärungsgrundlage für genau die Prozesse und Strukturveränderungen dienen, an deren Bearbeitung das Forschungsprogramm interessiert ist. Und dies ohne einen emphatischen Subjektbegriff zu verteidigen, der vielleicht normativ erwünschte Effekte zu berücksichtigen erlaubt, aber nicht erklären kann, weshalb die modernen Strukturveränderungen problematisch sind und es wahrscheinlich auch bleiben werden. Hinter diesem Urteil steht die Überzeugung, dass kollektive Schädigungen nicht dadurch beseitigt werden können, dass man den Akteuren zusätzliche Einsichten und Fähigkeiten abverlangt, denen sie erfahrungsgemäß nur selten oder höchst unzulänglich gerecht werden; vielmehr sollte es hinreichen, Regeln zu institutionalisieren, deren Beachtung die genannten „public bads“ – wenigstens vorläufig und mit immer unsicherem Ausgang – zu mindern hilft.
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Differenzi erungen der ps ych ologis chen Handlungsth eori e – D ez entri erungen de s refle xi ven, autonom en S ubje kts 1 JÜRGEN STRAUB
Ausgangspunkt und Argumentationsziele Das im terminologisch und theoretisch strengen Sinn handelnde Subjekt wird in der Psychologie gemeinhin als intentional, das heißt (üblicherweise) als bewusst und kontrolliert, jedenfalls absichtsvoll, zielorientiert oder zweckgerichtet und dabei zumindest nach subjektivem Ermessen als rational vorgehender Akteur aufgefasst. Es gilt, mit einem Wort, als „reflexives Subjekt“ (Groeben und Scheele 1977), das Intentionen hegt und auf bedachte Weise verfolgt. Der intentionalistische oder teleologische Handlungsbegriff spielt einem Autonomiebegriff in die Hände, der von idealisierenden, rationalistischen „Illusionen von Autonomie“ zehrt. Diese Kopplung des Handlungsbegriffs an eine „starke“ und zugleich ziemlich spezielle Konzeption der Autonomie ist, wie die folgenden Ausführungen zeigen sollen, keineswegs unumgänglich. Um diese Behauptung zu be1
Der Beitrag entstand im Rahmen einer Fellowship am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (Studiengruppe „Lebensformen im Widerstreit. Identität und Moral unter dem Druck gesellschaftlicher Desintegration“, 19992001). Er wurde auf Einladung des Sonderforschungsbereichs „Reflexive Modernisierung“ (SFB 536 der Deutschen Forschungsgemeinschaft) verfasst und auf der Tagung „Subjektkonzeptionen im Diskurs“ am 19./20. Juli 2001 an der Universität der Bundeswehr in München zur Diskussion gestellt. Für die Genehmigung eines Wiederabdrucks des zuerst im „Journal für Psychologie“ (Jg. 10, Nr. 4, S. 351-279) erschienenen, nur geringfügig modifizierten Aufsatzes danke ich den Herausgebern dieser Zeitschrift sowie dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.
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gründen, erinnere ich zunächst kurz an die Grundzüge des intentionalistischen oder teleologischen Begriffs zweck- oder zielgerichteten Handelns, wie er in der zeitgenössischen Psychologie gang und gäbe ist. Danach komme ich auf Differenzierungen des Handlungsbegriffs zu sprechen, welche die Enge des intentionalistischen Modells überwinden und ihm alternative, komplementäre Begriffsbestimmungen zur Seite stellen. Damit wird der Anspruch erhoben, der Handlungswirklichkeit in phänomenologisch-deskriptiver Perspektive gerechter zu werden und obendrein fruchtbare Perspektiven für die wissenschaftliche Analyse und Erklärung von Handlungen zu eröffnen. Diese erweiterten Perspektiven müssen durch die Absolutsetzung des intentionalistischen Rationalmodells verschlossen bleiben. Im Einzelnen werden ein Modell regelgeleiteten Handelns sowie ein narratives Modell skizziert. Abschließend werden die handlungstheoretischen Differenzierungen mit identitätstheoretischen Überlegungen verknüpft, die ebenfalls mit einer Dezentrierung des reflexiven, autonomen Subjekts einhergehen. Die enge Verwobenheit handlungstheoretischen Denkens mit der Konzeption eines reflexiven, autonomen und in gewissem Sinne „starken“ Subjekts ist, zumal in der Psychologie, zwar gängig, aber durchaus nicht unumgänglich. Handlungstheoretisches Denken spielt keineswegs zwangsläufig einem solchen Subjektbegriff in die Hände. Am Ende der im Folgenden angestellten handlungstheoretischen Reflexionen sollte – wenigstens in Umrissen – deutlich geworden sein, wieso bestimmte „klassische“ handlungstheoretische Ansätze mitnichten einem Subjektbegriff zuarbeiten, der den Akteur und seine Autonomie rationalistisch überzeichnet. Im Gegenteil, bestimmte, in der Psychologie meines Erachtens zu wenig beachtete (oder in ihren Konsequenzen nicht ernst genommene) Handlungstheorien sind beinahe unerschöpfliche Quellen für die kritische Dekonstruktion des im angedeuteten Sinne „starken“ Subjekts und für die terminologisch und theoretisch anspruchsvolle Konstruktion von Alternativen.
Eine betagte Fixi erung handlungstheoretischen Denkens Rationalistische Bestimmungen des Handlungsbegriffs sind in der Psychologie gängig. Akteure haben demnach Gründe für ihr Handeln, sie handeln (zweck-)rational. Selbstverständlich wird die prinzipielle Begrenztheit und Fehlbarkeit des handlungsleitenden, subjektiven Wissens in Rechnung gestellt. Gleichwohl ist der Handlungsbegriff eng mit der Vorstellung eines potenziell alle handlungsrelevanten Sachverhalte be52
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rücksichtigenden, idealiter eben durch und durch rationalen Entscheidungs- und Handlungssubjekts verknüpft. „Kontext“- oder „Situationsaspekte“ gehören ebenso in den Horizont des intentionalen und rationalen Akteurs wie die Folgen und Nebenfolgen der anvisierten Handlung. Psychologische Handlungstheorien imaginieren und modellieren ein Subjekt, dessen Handeln unter dem Regime und Diktat des Vernunftvermögens steht. Im Gegensatz zum bloßen, rein reaktiven Verhalten, aber auch zum „trüben“, durch allerlei äußere und innere Faktoren, die der Mensch als Vernunftsubjekt nicht unter Kontrolle hat, beeinflussten „Tun“ (Groeben 1986) steht der Handlungsbegriff für das Potenzial eines „idealtypischen“ und „idealisierten“ Subjekts, das Herr seiner selbst ist, sein Leben in die Hand nimmt, sich und seine Welt aktiv gestaltet und dabei nach bestem subjektivem Wissen vorgeht. „Handlungen“ fungieren in psychologischen Theorien – ungeachtet der Tatsache, dass es auch in dieser Disziplin bis heute keine konsensfähige Definition gibt (Greve 1994) – als vermeintlich zweckdienliche Mittel eines subjektiv (zumindest zweck-)rational handelnden Akteurs, der bestimmte Ziele oder Zwecke erreichen will und seine Gründe dafür hat, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen.2 Manche Autorinnen und Autoren, beispielsweise Groeben (1986), koppeln den Handlungsbegriff strikt an eine Rationalitätskonzeption, die im wissenschaftlichen Handeln ihre höchste Form besitzt und ihre am weitesten gehende Verwirklichung erfährt. Nicht zuletzt die methodische Rationalität der (neuzeitlichen, empirischen) Wissenschaften wird damit auch zum valorativen und normativen Ideal und Maßstab der alltagsweltlichen Praxis. Die Figur des „Wissenschaftlers“ wird zur „positiv“ besetzten Vorgabe für eine (evolutionäre, soziokulturelle und individuelle) Entwicklung, in die der als „naiver Wissenschaftler“ konzipierte Mensch seit jeher verstrickt ist. Das im skizzierten Sinn selbstständige und selbsttätige Handlungssubjekt, dessen „Autonomie“ primär als eine Art der bewussten und kontrollierten Selbst- und Weltbemächtigung erscheint, mag man als „starkes“ Subjekt bezeichnen, dessen Erfüllung und „Glück“ in entscheidender Weise davon abhängen, in welchem Ausmaß es ihm gelingt, den Lauf der Dinge nach seinen Vorstellungen einzurichten und dadurch nicht zuletzt „sich selbst zu verwirklichen“, und zwar als eine Art sich selbst transparenter „producer of his/her development“ (Lerner und Busch2
Handlungstheorien, die neben dem zweckrationalen Kalkül auch andere Aspekte eines anthropologisch verstandenen Vernunftvermögens berücksichtigen (und dabei an Unterscheidungen z.B. eines Aristoteles, Immanuel Kant, Jürgen Habermas, Paul Lorenzen, Wilhelm Kamlah oder Friedrich Kambartel anknüpfen), sind in der Psychologie die Ausnahme (vgl. z.B. Aschenbach 1984).
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Rossnagel 1981). Folgt man Axel Honneths (1993) instruktiven Ausführungen, lassen sich solche Vorstellungen als Bestandteile der „klassischen“, vielfach kritisierten und längst als überholt geltenden Konzeption individueller Autonomie auffassen (die der Autor vom Begriff „dezentrierter Autonomie“ unterscheidet; ich komme darauf zurück). Viele Aspekte des handlungstheoretischen Menschenbildes eines reflexiven, aktiven Subjekts können sich – das sollte gerade in der Psychologie nicht vergessen werden – zumindest teilweise auf „gute Gründe“ stützen. Sie spielten eine wesentliche Rolle bei der Kritik einer psychologischen Anthropologie, die im Menschen – wie der Behaviorismus und seine Abkömmlinge propagierten – kaum mehr als einen passiven ReizReaktions-Mechanismus sehen wollten, und sei es nur aus methodologischen Gründen. Zahlreiche kreative Innovationen in der Psychologie verdanken sich nicht zuletzt handlungstheoretischen Umstellungen des wissenschaftlichen Vokabulars und damit einhergehender Horizont- und Perspektivenerweiterungen. Allerdings schlich sich in diese Erneuerungen schnell eine rationalistische Überzeichnung unserer Praxis und eine (oft unterschwellige) Idealisierung „egologisch“ und „kognitivistisch“ konzipierter „rationaler Handlungssubjekte“ ein, welche die handlungspsychologische Forschung unnötig verengt und sie obendrein an fragwürdige valorative und normative Grundlagen bindet. Die beklagenswerte Verengung einer handlungstheoretisch konzeptualisierten Praxis nimmt in aller Regel eine vertraute Form an. Sie begegnet uns in der Reduktion menschlichen Handelns auf einen speziellen, nämlich den bereits erwähnten Typus. In psychologischen Handlungstheorien geraten Handlungen häufig ausschließlich im Sinne des teleologischen oder intentionalistischen Modells ins Blickfeld. Dieses Modell gilt, insbesondere seit Georg H. von Wrights (1974) einflussreichem Versuch, Aristoteles’ Schema des praktischen Syllogismus als formales Erklärungsschema für die Handlungswissenschaften fruchtbar zu machen, nicht nur dort als verbindlich, wo es um hermeneutische und (uno actu) explanative Aufgaben geht. Das teleologische oder intentionalistische Modell gibt nicht allein die formale Struktur von (methodisch-rationalen) Handlungserklärungen an. Es impliziert vielmehr auch und zunächst einmal einen spezifischen Handlungsbegriff, der vorgibt, wie eine Handlung grundsätzlich aufzufassen und zu beschreiben ist. Eine Handlung ist im Rahmen des erwähnten Modells prinzipiell als eine Verhaltensweise darstellbar, deren innere Struktur zwei konstitutive Elemente aufweist, die gemeinhin als „motivational-kognitiver“ oder „volitional-kognitiver“ Komplex zusammengefasst werden. Das bedeutet: Zum einen verfolgt jeder Akteur in und mit seinem Handeln gewisse Intentionen oder Absichten, Ziele oder Zwecke, will dieses oder jenes erreichen. Zum zweiten tut er dies auf der Grundlage eines subjektiven 54
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Wissens-, Glaubens- oder Meinungssystems, das die betreffende Handlung als (vermeintlich) angemessenes, rationales Mittel für das Erlangen des jeweils verfolgten Zwecks ausweist. Handlungen sind demnach intentionale Akte, die instrumentell oder strategisch auf ein Telos gerichtet sind und vom Akteur als rationale Mittel für die Erreichung gesetzter Ziele angesehen werden. Sie haben Entwurfscharakter; sie werden von zweckrational denkenden Akteuren geplant und vollzogen, um schließlich etwas Bestimmtes zu erlangen. Daran halten so gut wie alle gängigen Bestimmungen des Handlungsbegriffs fest, und in der Psychologie bescheidet man sich im Grunde genommen just damit, indem man das Handeln definitorisch auf dieses schematische Muster reduziert. Handeln ist „zielgerichtetes, planvolles Verhalten“, schreibt Groeben (1986, S. 71). So gut wie immer gilt „die Zielantizipation als das wichtigste Kriterium der Handlung“, heißt es bei Boesch (1980, S. 107). Eine Handlung beginnt demnach „mit einer Selbstaufforderung“, eine gehegte Intention oder Absicht aktiv und planvoll zu verfolgen (Werbik 1978, S. 50; weitere Beispiele etwa in von Cranach und Harré 1982). Insofern andere Kriterien in Erwägung gezogen werden, werden diese als ergänzende Bestimmungsmöglichkeiten aufgefasst, die jedoch als zweitrangig oder sogar, wie etwa Groeben sagt, als Implikate des zentralen und entscheidenden „Intentionalitätskriteriums“ angesehen werden können. Nun, mit dieser teleologischen Grundstruktur, die eine (dem Akteur in der Regel bewusste, jedenfalls bewusstseinsfähige) Intention, Absicht, Ziel- oder Zweckorientierung zum definitorischen Kern des Handlungsbegriffs macht, erhalten Handlungen offenkundig eine gewisse innere Zeitstruktur. Handlungen des besagten Typs werden in einer Wirklichkeit entworfen und vollzogen, die vom Akteur von der Zukunft her gedacht wird. Seine Antizipationen und imaginativ vorausentworfenen Retrospektiven werden zu entscheidenden „Instanzen“ für die Motivation, Planung, Regulation und Gestaltung des Handelns in der Gegenwart. Wer handelt, tut dies, um zu bewirken, was sein könnte oder sollte, oder um zu verhindern, was nicht geschehen und sein darf. Mit produktiven oder präventiven Handlungen wird, erfolgreich oder nicht, in der Gegenwart Einfluss zu nehmen versucht auf das, was nach dem Dafürhalten des Akteurs der Fall ist, was kommen und vielleicht sein wird. In diesem schlichten Sinne sind Handlungen in der einen oder anderen Weise Bestandteile und Gestaltungskräfte jenes Geschehens, welches wir, antizipatorisch oder retrospektiv, als Geschichte vergegenwärtigen und artikulieren können – und in das wir, als (partiell) selbstständige und selbsttätige, instrumentell und strategisch handelnde Subjekte, gestaltend eingreifen können, und sei diese Geschichte die Geschichte nicht der äußeren, materiellen und sozialen Welt, sondern diejenige des je eigenen Selbst des Akteurs, der in diesem oder je55
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nem Fall sich gerade dadurch als unabhängiges, „autonomes“ Subjekt konstituiert und bewährt, dass er im skizzierten Sinne handelt. Das Handeln derartig „autonomer“ Subjekte zielt vornehmlich auf die instrumentelle und strategische Beherrschung der äußeren (materiellen, sozialen) und der inneren Welt. Es ist mit einem (wie auch immer unvollkommenen) Verfügungswissen und Verfügungswillen aktiver Subjekte verbunden, die sich „ihre“ Welt und sich selbst in ihr einzurichten bemüht sind. Man sieht leicht, dass die psychologische Handlungstheorie sich nicht das normative Gewicht etwa des Kantischen Autonomiebegriffs auflädt, der den aktiv betriebenen Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit bekanntlich an die Möglichkeit einer Selbstgesetzgebung koppelt, die mit den Direktiven einer universalistischen praktischen Vernunft verschwistert ist. Theorien, die das Handeln bloß als einen verwirklichenden Vollzug der dem Handeln vorausgehenden Intention oder Absicht zweckrational kalkulierender Akteure denken, werfen einen äußerst reduktiven Blick auf unsere Praxis. Dagegen wenden sich Differenzierungen des Handlungsbegriffs, die letztlich in die begriffliche Konstruktion von Handlungstypen bzw. in die typisierende Unterscheidung verschiedener Facetten oder Aspekte menschlichen Handelns münden. Unter diesen findet sich selbstverständlich der skizzierte Typus. Darüber hinaus jedoch geht es um die theoretische Konzeptualisierung von Handlungen, die sich im Rahmen des teleologischen oder intentionalistischen Modells eben nicht angemessen identifizieren, beschreiben, verstehen und erklären lassen.
Ergänzende Typisierungen: das Modell regelgeleiteten Handelns und das narrative Modell Gegen die einheitliche und eindimensionale Bestimmung des Handlungsbegriffs lassen sich mehrere stichhaltige Einwände erheben. Zuerst einmal liegt es auf der Hand, dass die reduktive intentionalistische Bestimmung der Vielfalt unserer alltagsweltlichen Handlungsverständnisse nicht gerecht wird und zu einer Reduktion von Komplexität führt, die bereits der wissenschaftlichen Zielsetzung einer möglichst differenzierten Auffassung und Beschreibung unserer Handlungspraxis zuwiderläuft. Sodann limitiert diese Einseitigkeit unser Verständnis der Aufgabe, Handlungen zu erklären und uns zu diesem Zweck auf jeweils angemessene Erklärungsmodelle zu stützen. Ich knüpfe im Folgenden, jedenfalls im Prinzip, an traditionelle, begrifflich-theoretische Unterscheidungen von Handlungstypen an, wie sie vor allem in der Soziologie seit jeher 56
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gängig sind. Die wohl berühmteste Typologie stammt von Max Weber, der seine Differenzierungen jedoch in eine auf wachsende Rationalität „abhebende“ Theorie der gesellschaftlichen Modernisierung einband und, wie Wolfgang Schluchter (1979) gezeigt hat, entsprechend hierarchisch strukturierte, so dass das zweckrationale Handeln nicht zufällig als eine Art „höchste“ Form des Handelns erscheint (der gegenüber das wertrationale, affektuelle und schließlich das traditionale Handeln als zunehmend defizitäre Varianten abfallen). Die Soziologie kennt eine ganze Reihe solcher Typologien. Dies hat in besonders anregender Weise Hans Joas (1992) in einer kritischen Bestandsaufnahme, die in eine innovative Theorie der „Kreativität des Handelns“ mündet, vor Augen geführt. In der Psychologie haben etwa Günter Aschenbach (1984) oder Mario von Cranach (1994) Vorschläge für die Unterscheidung von Handlungstypen unterbreitet (zu deren Analyse und Kritik vgl. Straub 1999, S. 77ff. bzw. S. 85ff.; in dieser Arbeit, auf die ich mich hier des öfteren beziehe, findet sich ebenfalls ein Vorschlag für eine typologisch differenzierte Handlungstheorie und, darauf aufbauend, eine differenzielle Theorie der Handlungserklärung). Beide Autoren platzieren ihre typologischen Unterscheidungen in einem Feld menschlichen Handelns, das sie von vorneherein nicht so eng begrenzen wie fast alle sonstigen Autorinnen und Autoren in der Psychologie. So heißt es etwa – in scharfem Kontrast z.B. zu Groebens Auffassung – in einer Abhandlung von Mario von Cranach und Franziska Tschan (1997, S. 125), dass „das meiste, was wir im Wachzustand tun, […] sich als Handlung oder zu Handlungen gehörig kennzeichnen [lässt]; es bleibt ein Rest von Reflexbewegungen, Husten, Niesen und dergleichen“. Die folgenden, neben dem intentionalistischen Modell angesiedelten Unterscheidungen von Handlungstypen orientieren sich an der Frage nach den konstitutiven oder (zumindest implizit) leitenden Gesichtspunkten jener Verhaltensweisen, die wir Handlungen nennen. Ich spreche diesbezüglich pauschal von „Bestimmungsgründen“ des Handelns und gehe davon aus, dass solche Bestimmungsgründe gewisse Verhaltensweisen erst zu Handlungen mit einer spezifischen Sinn- bzw. Bedeutungsstruktur „machen“, ihnen also ihre jeweilige, nur in Deutungs- oder Interpretationsakten zu erschließende und zu explizierende Qualität als acts of meaning (Bruner 1990) verleihen. In einer Erwiderung auf seine Kritiker gestand von Wright zu, es stimme „ganz sicher, dass ich in EV [Erklären und Verstehen, J.S.] und in anderen früheren Veröffentlichungen die Relevanz, die dieses spezielle [das intentionalistische, J.S.] Erklärungsmodell für die Humanwissenschaften hat, deutlich überschätzt habe“ (von Wright 1978, S. 266). Demgegenüber heißt es nun, dass „es mehrere wichtige Muster bzw. Schemata für Handlungserklärungen [gibt], die nicht als dispositio57
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nell bezeichnet werden sollten – und zwar u.a. schon aus dem Grund, dass sie sich von Erklärungstypen, die vorbehaltlos mit diesem Ausdruck belegt werden können, scharf unterscheiden“ (S. 301). Der Begriff des regelgeleiteten Handelns sprengt den Rahmen subjektivistischer, „egologischer“ Ansätze, die in der Psychologie noch immer verbreitet sind. Er transzendiert die Handlungspsychologie in Richtung einer sozial- und kulturtheoretisch orientierten Wissenschaft. Man kann das Modell regelgeleiteten Handelns, wie es Winch (1966) im Anschluss an Ludwig Wittgensteins Analyse des Regelfolgens zumindest in Grundzügen entwickelte und den Sozialwissenschaften zur Übernahme empfahl (dazu ausführlich: Straub 1999, S. 113ff.), als eigenständig und nicht auf ein anderes Modell reduzierbar ansehen. Nicht jede Handlung muss mit subjektiven Intentionen, Absichten, Zielen, Zwecken oder gar Plänen verbunden werden. Nicht jede Handlung muss mit „teleologischen Hintergründen“ in Beziehung gesetzt werden, um als Handlung angemessen identifiziert, beschrieben oder erklärt werden zu können. Auch der „spätere“ von Wright spricht von der möglichen handlungskonstituierenden und handlungsleitenden Funktion von Regeln. Eine Handlung wie etwa das Grüßen (oder der formale Akt einer Eheschließung) wird dadurch identifiziert und auch in spezifischer Weise verstanden und erklärt, dass sie unter eine „gesellschaftliche Institution“, eben eine soziale Regel oder Norm, subsumiert wird. Der Regelbezug ist hier nicht ein (zusätzlicher) Aspekt zielorientierten, zweckgerichteten Handelns. Er ist konstitutiv, maßgeblich und bestimmend für das, was wir als diese oder jene konkrete Handlung identifizieren, beschreiben und analysieren können. Zahlreiche Handlungen lassen sich nur beschreiben, verstehen oder erklären, „indem man sie als Handlungen einer bestimmten Gattung auffasst, wobei man die Konventionen, Regeln und Institutionen, die diese Gattung erst konstituieren, kennen muss“ (von Wright 1978, S. 301). Wie schon im Falle des intentionalistischen Modells beschränke ich mich auch im Hinblick auf das regelgeleitete Handeln mit wenigen Hinweisen auf das Gröbste. „Sinn“ oder „Bedeutung“ von Handlungen werden im Falle des regelgeleiteten Handelns nicht, wie bei Max Weber, „definiert mithilfe von Intentionen der Akteure, sondern – wie bei Wittgenstein – unter Bezugnahme auf öffentliche Regeln“ (Waldenfels 1985b, S. 79). Die hier zitierten Worte sind auf Winchs mit Mitteln der Begriffs- und Sprachanalyse operierenden Ansatz bezogen. Ohne an dieser Stelle auf Winchs Begründung dafür, dass Analysen von Handlungen und Lebensformen als Sprach- und Bedeutungsanalysen anzulegen sind, eingehen zu können, sei dessen Grundthese, dass nämlich das sprachliche und das nicht-sprachliche Handeln des Menschen durch soziale Regeln geleitet sei, kurz kommentiert. 58
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Handeln besteht nach Winch darin, dass die Akteure Regeln folgen. Regeln gelten dabei als konstitutiv für das Handeln; sie definieren gesellschaftliche Institutionen, Konventionen und soziales Handeln. Das ist die Bedeutung zumindest von Winchs favorisiertem Regelkonzept; von konstitutiven Regeln ließen sich mit John Searle die regulativen Regeln abgrenzen (dazu Straub 1999, S. 127). Die hermeneutische und explanative Analyse bzw. das Erklären von Handlungen ist in vielen Fällen als rationale Rekonstruktion handlungskonstituierender, -definierender bzw. handlungsregulierender Regeln anzulegen. Nicht kontingente empirische, statistisch erfassbare Regelmäßigkeiten oder Regelhaftigkeiten im Sichverhalten, sondern regelgemäßes Handeln von Akteuren, die ihr Tun und Lassen eben (häufig implizit, empraktisch) an bestimmten Regeln orientieren, bilden den Gegenstand der sozial- und kulturtheoretisch fundierten Handlungswissenschaften. Die Akteure folgen Regeln, die in ihr Handeln bzw. in ihre Sprache gleichsam eingelassen sind. Die wissenschaftliche Analyse sozialen Handelns hat demzufolge an die Sprache der Akteure unmittelbar anzuschließen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die empirische Forschung das den Akteuren selbst verfügbare Wissen über die Regeln, denen diese handelnd folgen, bloß reproduzieren sollte. Dass Akteure Regeln folgen (können), heißt nämlich keineswegs, dass sie diese in jedem Fall selbst anzugeben, also zu explizieren vermögen. „Einer Regel folgen“ bedarf eines habitualisierten Könnens, das empraktisch erworben wird, nicht eines expliziten Wissens (Renn 1999; Schneider 2000). Wittgenstein spricht bezüglich des Erwerbs dieses habitualisierten praktischen Wissens, das nur partiell „diskursivierbar“ ist (Giddens 1988, S. 36), in einer bisweilen missverstandenen Weise davon, dass Menschen dazu abgerichtet werden, dieses oder jenes so und so zu tun. Mit einer Legitimation autoritärer Verhältnisse hat diese Formulierung nichts zu tun. Angemessene Beschreibungen, Verständnisse oder Erklärungen von Handlungen setzen, so Winch (mit Wittgenstein), die Fähigkeit des Sozialwissenschaftlers voraus, an einem Sprachspiel teilzunehmen, zumindest virtuell an der Lebensform der Handelnden zu partizipieren. Sprachliche, leibliche und praxische Äußerungen verstehen heißt letztlich: in bestimmter Weise, das heißt angebbaren Regeln gemäß handeln bzw. Handlungen der betreffenden Regel gemäß fortsetzen, auf sie „antworten“ zu können (Waldenfels 1999). Genauere Bestimmungen des Regelbegriffs müssen hier unterbleiben. Unterscheidungsmöglichkeiten böten sich etwa im Hinblick auf Regeln in verschiedenen Handlungs- und Lebensbereichen sowie auf diverse formale Merkmale von Regeln aller Art (vgl. dazu Straub 1999, insb. 125ff.). Besondere Bedeutung für die handlungswissenschaftliche Psychologie haben
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zweifellos soziale Normen, die ihrerseits in Aufforderungs- und Bewertungsnormen differenziert und sodann genauer bestimmt werden können. Der hier wesentliche Punkt ist: Mit der handlungstheoretischen Applikation des Regelbegriffs (und näherhin Wittgensteins Konzept des Regelfolgens) werden die Konturen eines Handlungsbegriffs deutlich, der alle egologischen oder subjektivistischen Vorstellungen weit hinter sich lässt und den Rahmen des intentionalistischen Modells sprengt. Wer, wenn er handelt, Regeln folgt, wird als Subjekt in seiner unhintergehbaren Prägung durch andere und in seiner Abhängigkeit von anderen, nicht zuletzt von mehr oder weniger verfestigten sozialen (einschließlich sprachlichen) Strukturen und Institutionen, erkennbar. Demgemäß wird man allenfalls noch von einer limitierten, partiellen Autonomie des Subjekts sprechen können. In der Perspektive einer mit dem Regelbegriff operierenden Handlungstheorie ist die Autonomie des Subjekts stets von Heteronomie durchkreuzt (Meyer-Drawe 1990). Überhaupt erscheint das Handeln von den Zielorientierungen und Zwecksetzungen des Akteurs losgelöst und im Rekurs auf diese weder angemessen zu beschreiben, noch zu verstehen oder zu erklären. Regelgeleitetes Handeln ist wegen der spezifischen Eigenart der es konstituierenden oder regulierenden Bestimmungsgründe ein Handeln eigener Art. Im Übrigen ist es evident, dass eine theoretische Perspektive, die menschliches Handeln als Befolgen von (häufig impliziten) Regeln begreift, ein Einfallstor für (sozialpsychologische) Machtanalysen darstellt. Geht man davon aus – und alles andere wäre schlicht unrealistisch –, dass niemand alle Regeln, insbesondere die sozialen Normen, denen er handelnd folgt, selbst und aus freien Stücken aufstellt und anerkennt, ist offenkundig, dass die sozial- und kulturwissenschaftliche Analyse konstitutiver und regulativer Handlungsregeln Hand in Hand mit der Analyse soziokultureller Machtstrukturen und -praktiken gehen kann. Bei genauerem Hinsehen erweist sich auch noch die Alternative zwischen dem intentionalistischen Modell und dem Konzept regelgeleiteten Handelns als unzureichend. Zwei Aspekte bleiben in diesen Perspektiven notwendigerweise unterbelichtet. Zum einen bleibt außerhalb des Gesichtsfeldes, dass eine Handlung als Bestandteil einer temporalen Ordnung und in ihrer eigenen Temporalstruktur aufgefasst werden kann. Zum anderen verkennt eine Handlungspsychologie, die Handlungen am Leitfaden des intentionalistischen oder regelbezogenen Modells immer nur in Ordnungen situiert und dadurch qualifiziert – sei es in deskriptiver, sei es in explanativer Absicht –, dass Handlungen Ordnungen schöpferisch und innovativ ändern können. Wie sich zeigen lässt, sind beide diese Aspekte, also die (zweifach verstandene) Temporalität und die Kreativität des Handelns (Joas 1992; Waldenfels 1990, 1999), gleichermaßen gut im narrativen Handlungsmodell aufgehoben (vgl. Straub 1999, S. 141ff.). Dies hat 60
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nicht zuletzt damit zu tun, dass sowohl zeittheoretische als auch kreativitätstheoretische Überlegungen um den Begriff der Kontingenz kreisen und für die Dynamik des Handelns sensibel sind. Das intentionalistische und das Modell des regelgeleiteten Handelns sehen genau davon ab. Sie kennen lediglich ein Handeln, das entweder als Verfolgen vorab bestehender Intentionen oder als Befolgen vorgängiger Regeln aufgefasst wird. Wie Intentionen und Regeln im Vollzug des zeitlich strukturierten, dynamischen und kreativen Handelns entstehen oder modifiziert werden, kann im Rahmen dieser Modelle nicht thematisiert werden. Zu diesem Zweck ist auch die Handlungspsychologie auf das narrative Modell und damit auf den Sprechakt des Erzählens angewiesen, mithin als narrative Psychologie anzulegen (vgl. Britton und Pellegrini 1990; Bruner 1990; Echterhoff und Straub 2005; Polkinghorne 1988, 1998; Sarbin 1986; Straub 1998). Nur die spezifische Sprachform des Erzählens bewahrt Kontingenz als solche und macht sie, wie vor allem Paul Ricœur (1988) überzeugend dargelegt hat, durch die Integration in einen erzählerisch konstituierten Sinnzusammenhang doch auch intelligibel. Das Erzählen von Geschichten erfüllt eine deskriptive und autoexplanative Funktion, ohne Kontingenz zu eliminieren: Erzählungen liefern mitunter Beschreibungen und Erklärungen (auch) von Handlungen, die auf keine andere Beschreibungs- und Erklärungsform reduzierbar und durch solche ersetzbar sind. Nicht allein die Geschichtswissenschaften, sondern alle Wissenschaften, die es – wie eben auch die handlungswissenschaftliche Psychologie – mit temporal komplexen Phänomenen sowie mit der Kreativität des Handelns zu tun haben, sind auf Erzählungen angewiesen (Danto 1980; Straub 1999, S. 141ff.). Die Vergegenwärtigung zeitlich strukurierter Sinnzusammenhänge, die wegen der einzigartigen Temporalstruktur narrativer Satzsysteme die Form einer erzählten Geschichte annehmen muss, ermöglicht es zunächst einmal, „geschichtliche“, also biographische oder historische Bestimmungsgründe von Handlungen zur Sprache zu bringen. Schon diese Blickund Analyserichtung stellt erneut auf Abhängigkeiten menschlichen Handelns und auf Grenzen der Autonomie des Subjekts ab. Werden Handlungen als (vorläufige) Endpunkte einer erzählbaren Geschichte aufgefasst, so gilt für diese, was für jedes mögliche Ende einer Erzählung zutrifft: Das Ende einer Geschichte wird mit deren Anfang so verknüpft, dass klar wird, dass das fragliche Handeln ein Bestandteil einer Geschichte ist, die nicht in der Verfügungsgewalt der in diese Geschichte verwickelten Personen steht. Selbst als etwas Eigenes, vom Akteur Gewolltes und Intendiertes, erscheint das in den Horizont einer im ganzen unverfügbaren Geschichte gestellte Handeln auch als etwas partiell Zufälliges, Kontingentes, was meint: als etwas, was auch anders hätte kommen können, „was nicht auf ein einziges So-Sein festgelegt ist“ (Makropoulos 1989, 61
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S. 26; vgl. auch Brugger und Hoering 1976). Die Unverfügbarkeit alles geschichtlich Konstituierten kennzeichnet auch das Handeln. Kontingenz ist ein Charakteristikum sowohl der kollektiven Geschichte als auch der Lebensgeschichte von Individuen. Koselleck (1985) bezeichnet den Zufall treffend als Motivationsrest der Geschichtsschreibung. Diese Einsicht können sich alle an temporal komplexen Wirklichkeiten interessierten Handlungswissenschaften zu Eigen machen. Der Begriff des Zufalls bewahrt jede „Geschichte“ vor dem Ansinnen ihrer totalen Planund Herstellbarkeit. Historie und Biographie und das in diese eingebettete Handeln, kollektive und personale Identitäten sind unweigerlich von Zufällen durchzogen (Sommer 1988, S. 162ff.). Mit dem Zufall leben ist eine Notwendigkeit. Handlungen, die als Bestandteil geschichtlicher Sinnzusammenhänge aufgefasst werden, sind infiziert von Kontingenz. „Geschichte“ im modernen Sinn steht für eine veränderlich gewordene, sich wandelnde und letztlich unverfügbare Welt. Das Handeln gerade in einer – wie Makropoulos im Geiste Walter Benjamins sagt – deontologisierten Welt ist niemals frei von Kontingenz. Spuren von Kontingenz haften an Handlungen allerdings in jeder Welt, in der Menschen handeln. Handlungskontingenz im engeren, nun noch zu erläuternden Sinn, gehört bereits zum aristotelischen Handlungsbegriff. Wenn für Aristoteles zwar die Welt, in der gehandelt wird, in hohem Maße eine beständige, im Wesentlichen unveränderliche Welt war, so galt dies für das menschliche Handeln keineswegs: „Kontingenz war in der Antike reine Handlungskontingenz in einer Welt, die selbst nicht kontingent war: Man konnte zwischen verschiedenen Möglichkeiten in der Welt entscheiden, aber die Welt, in der so gehandelt wurde, hätte nicht anders sein können“ (Makropoulos 1989, S. 25). Nicht zuletzt an diese allgemeine, also von der historisch-kulturellen Ordnung, in der menschliches Handeln jeweils situiert ist, unabhängige Handlungskontingenz erinnert Rüdiger Bubner (1982), wenn er die aristotelische Handlungsphilosophie gegen die rationalistische Vorstellung, der Akteur sei Herr über sein Handeln und also über die Welt, in die er eingreift, anführt. Handlungskontingenz ist ein universales Attribut des Handelns selbst. Unter dem Aspekt seiner Kreativität erscheint das Handeln erneut, jedoch auf andere Weise als unter dem Aspekt seiner Geschichtlichkeit und inneren Temporalstruktur, als partiell kontingent, als etwas, das sich der lückenlosen Verfügungsgewalt reflexiver, rationaler Akteure entzieht. Wie im Falle des geschichtlich bestimmten Handelns lassen sich auch in der Perspektive einer Theorie der Kreativität des Handelns Handlungen nur im Rahmen des narrativen Modells angemessen identifizieren, beschreiben und erklären. Nur Erzählungen bewahren Kontin62
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genzerfahrungen als solche, indem sie davon sprechen, was Akteuren auch dann noch gleichsam zufällt und widerfährt, wenn sie handelnd zur Welt Stellung nehmen. In allen Fällen missachtet, wer „kreativ handelt“, die eine oder andere althergebrachte Regel, und immer erfolgt dieses Handeln ohne exakte Absicht und vollkommene Voraussicht der Folgen. Ein gewisses Maß an Spontaneität ist konstitutiv für Kreativität. Im kreativen Handeln, das „stets etwas von einem Aushandeln“ hat (Waldenfels 1985c, S. 132), werden die womöglich befolgten Regeln und verfolgten Ziele erst im Verlauf des Handelns gebildet, bestehende Regeln und Ziele auf unvorhersehbare Weise modifiziert. Kreatives Handeln folgt nicht nur einem Logos, es schafft auch „seinen eigenen Logos“ (Waldenfels 1980, S. 265; 1990d, S. 84). Waldenfels spricht diesbezüglich von einer poietischen Funktion der Praxis. Auch unter dem Aspekt seiner Kreativität betrachtet erscheint das Handeln der bestimmenden Kontrolle des intentionalen, reflexiven, rationalen, autonomen Subjekts teilweise entzogen. Die menschliche Praxis und die einzelnen Handlungen individueller Akteure besitzen, unter dem Gesichtspunkt ihrer Kreativität betrachtet, einen eigentümlich anonymen Zug. Kreativität ist zwar einerseits ein wichtiger Aspekt der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Menschen, da gerade die kreativen Handlungen nicht nur Veränderungen in der Welt, sondern Veränderungen der Welt erzeugen können. Gerade kreative Handlungen ermöglichen praktische Beziehungen des Menschen zur Welt, die ihm das Gefühl geben, in einer Welt zu leben, die, wenigstens in gewissem Maße, auch seine Welt ist. Andererseits sind kreative Prozesse der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung keine Vorgänge, welche die Subjekte vollkommen beherrschen und kontrollieren. Auch intersubjektivitätstheoretisch lassen sich diese Vorgänge nicht vollständig erfassen. Unter dem Aspekt der Kreativität analysiert, bekommt das Handeln eine unpersönliche Note. Wie die Geschichte, in die es eingebettet ist und die es fortsetzt, erscheint es als etwas, an dem der Akteur beteiligt ist, ohne es intentional hervorgebracht zu haben und kontrollieren zu können. Die Grenzen zwischen Subjekt und Welt sind in dieser theoretischen Sicht nicht mehr vollkommen scharf. Das Handeln erhält ein „ereignishaftes“ Moment, die eingespielten Trennungslinien zwischen Innen und Außen, Aktivität und Passivität, zwischen Aktion und Passion, zwischen Agent und Patient werden fraglich, sobald es mit dem Begriff des kreativen Handelns um einen Zwischenbereich geht, in dem die soeben unterschiedenen Wirkzentren nicht mehr vollständig auseinandergehalten werden können. Die Theorie der Kreativität des Handelns verabschiedet, wie bereits der erzähltheoretische Zugang zu einem zeitlich vermittelten 63
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und seinerseits temporal strukturierten Handeln, die Vorstellung vom intentionalen, reflexiven und rationalen Subjekt als einem ungestörten Zentrum einer ungebrochenen Autonomie und Autopraxis.
Wo bleibt das Subjekt und was für ein Subjekt? Dieses heute so präsente, vor allem mit den Schriften Friedrich Nietzsches und Martin Heideggers in Zusammenhang gebrachte (und insbesondere von Vertretern des Neostrukturalismus oder der Postmoderne weitergeführte) Thema einer Schwächung des autonomen Vernunft- und Handlungs-Subjekts (die bei manchen Autoren bekanntlich bis zu seiner Liquidierung führt), durchzieht auch einen guten Teil der Arbeiten von Waldenfels (z.B. 1987, S. 46ff., 155ff.). Allerdings ist dieser Autor von einem bloßen Abgesang auf das Subjekt weit entfernt. Waldenfels geht es mit seinen Schwächungen des Subjekts um ein Verständnis der prinzipiell beschränkten Möglichkeiten des „vernünftigen Bewusstseins“, die Praxis und sogar das je eigene Handeln zu kontrollieren. Im Unterschied zur rationalistischen Vision einer totalen Kontrolle des Handelns betont er, gut phänomenologisch, dessen Leiblichkeit, die Beträchtliches zur „Unberechenbarkeit“ des vernunftbegabten Handlungssubjekts beiträgt, aber auch eine Art Mitspracherecht der Situation, in der gehandelt wird. Dieses Mitspracherecht ist so radikal gedacht, dass die Situation nicht bloß als etwas erscheint, das der Akteur (vernünftigerweise) in Rechnung zu stellen hat. Die Situation gerät in Waldenfels’ Denken vielmehr zu einem nicht vollständig kontrollierbaren und gleichwohl in das Handeln hineinspielenden Wirkzentrum (vgl. auch Joas 1992, S. 236). Kreatives Handeln wird damit zu einem produktiven Vorgang (Waldenfels 1987, S. 150), der, an provokative Schlüsselereignisse anknüpfend, auch selbst in die Anonymität eines mehr oder weniger herrenlosen Ereignisses herabsinken kann. Zusammengefasst: Seine Leiblichkeit, das „innere Ausland“ (Sigmund Freud), die Stimmen der sozialen Anderen, sprachliche und soziokulturelle Strukturen, Institutionen und Praktiken, kurz: „die Vielfalt der Bezüge und Zusammenhänge, in die es [das Handeln, J.S.] eingeht“ (Waldenfels 1990c, S. 74; vgl. auch 1999), rauben dem Subjekt den Status eines unangreifbaren, gänzlich autarken Aktzentrums. Alle diese Aspekte werden nicht zuletzt – im Hinblick auf sprachliche Modi der Selbstthematisierung wohl vornehmlich – in (Selbst-)Geschichten, die eine Person erzählt, thematisch und für wissenschaftliche Analysen zugänglich. Bleibt unter den dargelegten Voraussetzungen der Handlungs- und Subjektbegriff noch sinnvoll? Ein narratives Modell der Handlungsbe64
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schreibung und Handlungserklärung, das offen ist für die Thematisierung von Kontingenz und die mannigfaltigen Bezüge, die in das symbolische, situierte Handeln eines leiblichen Subjekts eingehen und es mit-bestimmen, scheint die Handlungstheorie unversehens in eine Theorie anonymer Strukturen und Prozesse zu verwandeln, die das intentionale, reflexive, rationale und autonome Subjekt aus seiner einst so komfortablen Position verbannt und am Ende vollständig verabschiedet. Die Gefahr, mit Formulierungen wie den obenstehenden das Kind mit dem Bad auszuschütten, ist unübersehbar. Diese Gefahr ist nicht aus der Welt zu schaffen. Allerdings kann ihr auf subtile, nicht bloß abwehrende Weise begegnet werden, auch und gerade wenn unmissverständlich klargestellt ist: „von einem allem Zugrundeliegenden und einer zentralen Instanz bleibt nach dem Gesagten nichts übrig, und Handlungen und Äußerungen lassen sich auch nicht mehr einem eindeutig umgrenzten Täter und Sprecher zuschreiben, diesem schlichten Autor, den Nietzsche wohl nicht zu Unrecht zum Aberglauben der Grammatiker und der Moralisten zählt. Dem völligen Abgleiten in ein ,es spricht‘ oder ,es handelt‘ ließe sich auch anders begegnen, indem man etwa Handlungen und Äußerungen als dosierte Mischungen von Tun, Geschehen und Widerfahrnis, von Eigenem und Fremdem betrachtet. Dieser Mischung könnte man nicht mehr mit disjunktiven, wohl aber mit akzentuierenden Begriffsbildungen beikommen“ (Waldenfels 1990b, S. 55).
Wie mit solchen akzentuierenden Begriffen gearbeitet werden kann, zeigt die bereits erwähnte Bestimmung des Verhältnisses von Situation und Handlung. Waldenfels schreibt Situationen ein Mitspracherecht und einen Aufforderungscharakter zu, die das Handeln teilweise zu etwas Abhängigem machen. Die Ansprüche einer Situation provozieren Handlungen, und diese können als Antworten der angesprochenen leiblichen Personen begriffen werden (Waldenfels 1985c, S. 133; 1999). Für diese Antworten gibt es einen Spielraum. Anspruch und Antwort bleiben durch einen Unterschied voneinander getrennt, durch eine Diskrepanz, in der nicht zuletzt die unverwechselbare Individualität des Akteurs zum Ausdruck kommen kann. Die besagten Ansprüche, Anforderungen oder Aufforderungen und ihre Erwiderungen können in ihrem Verhältnis zueinander nur angemessen verstanden werden, wenn der disjunkte Gegensatz von Autonomie und Heteronomie, Autarkie und Dependenz aufgegeben wird. Wie im Dialog ein Wort das andere ergeben kann, so gilt für Handlungen aller Art, dass diese aneinander anschließen, ohne dass sich dieses Wechselspiel spiegelbildlich „aus zentrifugalen Aktionen und zentripetalen Reaktionen“ aufbauen ließe. Wie die Vielstimmigkeit des Dia65
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logs keine Äußerungen kennt, die ganz und gar einem einzelnen Sprecher zugeschrieben werden können, so verbietet es die vielfältige Bestimmtheit der Praxis, Handlungen als ausschließliche Erzeugnisse eines souveränen Akteurs aufzufassen. Dominanten lassen sich jedoch hier wie dort ausfindig machen (Waldenfels 1990c, S. 76). Die Theorie der Kreativität des Handelns muss klar gegen die theoretisch und empirisch haltlose, normativ prekäre Position und Projektion eines „es spricht“ oder „es handelt“ abgegrenzt werden. Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Der von manchen begrüßte „Tod des Subjekts“ geht bisweilen mit einer Ignoranz gegenüber sozialer Verantwortung einher, mit ästhetizistisch nur schlecht verkleideten regressiven Wünschen, bisweilen mit ontologisch oder kryptotheologisch verkleidetem Autoritarismus und einer Bagatellisierung von Gewalt, häufig mit einer Verwechslung des aufklärerischen sapere aude mit einer lediglich illusionären und fruchtlosen Zumutung (dagegen wendet sich auch Joas 1992, S. 358ff.). Die skizzierte Theorie der Kreativität ist kein getarnter Abschied vom Subjekt und dessen Handeln. Es ist zwar so, dass Ordnungen, die „Bestimmtes zu sagen, zu denken und zu tun erlauben und anderes nicht, [...] das Subjekt in Positionen [zwingen], die es zu einem bestimmten Loquenten und Agenten machen, dem das Attribut eines zentralen oder gar totalen Redeund Handlungs-Subjekts versagt bleibt. Die Raster und Filter, die sich seiner Rede, seinem Tun und Fühlen auferlegen, spotten einer autonomen Gesetzgebung, doch um als pure Heteronomie gelten zu können, rücken sie den betroffenen ‚Subjekten‘ zu nah auf den Leib. Alles das, was Reden und Tun ermöglicht, indem es sie einschränkt, und sie einschränkt, indem es sie ermöglicht, entzieht sich der Alternative einer Selbst- oder Fremdgesetzgebung“ (Waldenfels 1990c, S. 78; vgl. auch Meyer-Drawe 1990).
Ein Resümee und ein Seitenblick auf die Identitätstheorie: Totalität, Identität, Fragmentalität Ich ziehe eine Art Resümee: Handlungen sind sinn- und bedeutungsstrukturierte Verhaltensweisen, die sich zu einem guten Teil erst ex post facto qualitativ identifizieren lassen – und dies nie in definitiver, unveränderlicher Weise. Die skizzierte Handlungstypologie lässt sich an mehreren Stellen als Theorie lesen, die sich gegen die Vorstellung eines kraft Intentionalität, Reflexivität, Rationalität und eigenem Willen „starken“ Subjekts wendet und zu diesem Zweck das Konzept einer stets eingeschränkten, limitierten, von Kontingenz und Heteronomie durchkreuzten Autonomie ins Spiel bringt (Meyer-Drawe 1990). Mit Honneth (1993) kann man diese 66
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Autonomie als dezentriert bezeichnen und damit eine Form von Subjektivität und Identität unterstellen, die so strukturiert ist, dass „subjektübergreifende“ Mächte (entwicklungs-)psychologisch als Konstitutionsbedingungen der Subjektbildung und Autonomieentwicklung fungieren: „Die persönliche Freiheit oder Selbstbestimmung von Individuen wird hier in der Weise verstanden, dass sie nicht als Gegensatz zu, sondern als bestimmte Organisationsform der kontingenten, jeder individuellen Kontrolle entzogenen Kräfte erscheint“ (S. 151). Im Einzelnen plädiert Honneth für eine theoretische Dezentrierung der Autonomie, welche die drei „Dimensionen des individuellen Verhältnisses zur inneren Natur, zum eigenen Leben im ganzen und schließlich zur sozialen Welt umfasst; eine zwanglose und freie Selbstbestimmung [...] verlangt dann also besondere Fähigkeiten im Hinblick auf den Umgang mit der Triebnatur, mit der Organisation des eigenen Lebens und den moralischen Ansprüchen der Umwelt“ (S. 157f.).
Das bedeutet, dass die Kriterien der „klassischen“ Konzeption eines „starken“ Subjekts durch Kriterien einer dezentrierten Autonomie ersetzt bzw. ergänzt werden. Dabei handelt es sich bei Honneth um dreierlei: • „Das klassische Ziel der Bedürfnistransparenz muss […] durch die Vorstellung der sprachlichen Artikulationsfähigkeit ersetzt werden“ (S. 158), was soviel bedeutet, dass die „kreative, aber stets unvollendbare Erschließung des Unbewussten“ (ebd.) ebenso wichtig ist wie ein möglichst angstfreies Verhältnis zu nicht kontrollierbaren, allenfalls im Nachhinein symbolisierbaren und reflektierbaren Handlungsimpulsen. • „An die Stelle der Idee der biographischen Konsistenz sollte die Vorstellung einer narrativen Kohärenz des Lebens treten, was heißt, dass man darauf verzichtet, das eigene Leben einem ,einzigen Sinnbezug‘ unterzuordnen“ (S. 159), sondern es vielmehr im Zuge einer narrativen Synthesis des Heterogenen (Paul Ricœur) repräsentiert und reflektiert. • Die „Idee der Prinziporientierunng [sollte] schließlich durch das Kriterium der moralischen Kontextsensibilität ergänzt werden“ (S. 158), womit die dezentrierte Autonomie die Fähigkeit von Personen einschließt, „sich in reflektierter Weise auf die moralischen Ansprüche der Umwelt zu beziehen“, ohne sich starr an universalisierbaren Prinzipien der Moral zu orientieren, sondern „diese Prinzipien mit affektiver Anteilnahme und Sensibilität für die konkreten Umstände des Einzelfalls verantwortungsvoll anzuwenden“ (S. 161).
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Alle drei Punkte markieren deutliche Verschiebungen der Bedeutung von „Autonomie“. Egal, wie man das Konzept der dezentrierten Autonomie im Einzelnen bestimmt, so lässt sich nach den vorgetragenen handlungstheoretischen Argumenten Folgendes festhalten: In der skizzierten Perspektive bewegt sich das handelnde Subjekt so gut wie immer jenseits von vollständiger Autonomie und überwältigender Heteronomie. Das handelnde Subjekt ist zwischen totaler Abhängigkeit und vollkommener Eigenständigkeit platziert. Es ist geschwächt, noch bevor wir den Begriff des Widerfahrnisses als einen kontrastiven Gegenbegriff des Handlungsbegriffs ins Spiel bringen, einen Begriff, ohne den die handlungstheoretische Analyse menschlicher Praxis, die ja auch die an Widerfahrnisse gekoppelten, leidvollen Schattenseiten unseres Lebens umfasst, freilich nicht auskommt (Straub 1999, S. 41ff.). Im Übrigen sollte, so hoffe ich, deutlich geworden sein, dass sich sogar der Handlungsbegriff selbst, recht besehen, nicht ohne Rücksicht auf den widerfahrnisartigen Charakter mancher Momente im Handeln bestimmen lässt. Insbesondere eine Theorie der Geschichtlichkeit, Situativität und Kreativität des Handelns, aber auch die hier kaum beachtete Dimension der Leiblichkeit des Handelns, macht mit Nachdruck auf diese Komplexität aufmerksam. Im Hinblick auf derartig verstandene „Handlungen“ – also nicht bloß im Hinblick auf Widerfahrnisse im engeren, den Handlungen gegenübergestellten Sinn – wird Autonomie zu einem idealtypischen und akzentuierenden Grenzbegriff. Als praktisch fein und säuberlich isolierbares Gegenteil heteronomer Widerfahrnisse taugt dieser Autonomiebegriff, wie immer er im Einzelnen bestimmt werden mag, nicht mehr. Nach der hier vertretenen Auffassung haben das die ernst zu nehmenden modernen Identitätstheorien der Psychologie (und Soziologie) allesamt gewusst und in höchst vielfältiger Weise artikuliert. Die Handlungstheorien, auch die psychologischen, hätten es wissen können und müssen. Die skizzierte, differenzielle Handlungstheorie passt meines Erachtens nahtlos zu den Grundzügen moderner Theorien personaler Identität. Dies ließe sich nicht zuletzt an jenen aktuellen Konzeptionen zeigen, die das Konzept der „narrativen Identität“ in den Mittelpunkt rücken (z.B. Bruner 1990; McAdams 1993; Ricœur 1996; Straub z.B. 1996). Vergegenwärtigt man sich die Konturen des „modernen“, in seinen Grundzügen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem im amerikanischen Pragmatismus und in der Psychoanalyse entwickelten und im 20. Jahrhundert im Rahmen dieser und anderer Theorieströmungen differenzierten Identitätsbegriffs, macht man mit einem Konzept Bekanntschaft, das weder substanzialistisch bestimmt ist, noch der Kritik Nahrung bietet, „Identität“ sei zwangsläufig an irreversible Festlegungen „stabiler“ Orientierungen und Praktiken sowie an strukturelle Verfestigungen ge68
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koppelt, welche die für moderne Subjekte konstitutive Differenz, Ambivalenz, Ambiguität, Alterität, Alienität, Temporalität, Geschichtlichkeit, Kontingenz und Dynamik unterschlage, marginalisiere oder „glätte“ (vgl. Renn und Straub 2002). Ebensowenig kann die Rede davon sein, der Begriff personaler Identität fördere obendrein ein tendenziell gewaltförmiges Selbst- und Weltverhältnis. Demzufolge muss man es meines Erachtens mit Vorsicht genießen, wenn verkündet wird, „der“ moderne Identitätsbegriff sei sowohl im Hinblick auf die empirischen Lebensbedingungen in den heutigen, funktional differenzierten, pluralisierten, individualisierten, temporalisierten und dynamisierten Gesellschaften als auch in normativer Hinsicht unhaltbar geworden. Das harmonistische Bild von „in sich ruhenden und deshalb entscheidungsmächtigen Persönlichkeiten, die wissen, was sie wollen und können und gerade deshalb Handlungsautonomie erlangen“,3 passt, soweit ich sehe, nicht besonders gut zu jenem Denken, dem sich die wichtigen Konzeptionen personaler Identität in den modernen Sozial- und Kulturwissenschaften verdanken (hierzu Straub und Zielke 2005). Man wird dem Identitätsbegriff, wie er hier (und seit langer Zeit von zahlreichen Autoren unterschiedlicher theoretischer Provenienz) vertreten wird, am ehesten gerecht, wenn man ihn bzw. seine kulturelle Semantik und Pragmatik auf einem begrifflichen Kontinuum verortet, dessen Extreme die (psychologisch verstandene) Totalität einerseits, die Fragmentalität andererseits bilden. Dieser terminologische Vorschlag lehnt sich an Eriksons (1973) in diesem Punkt nach wie vor überzeugende Idee an, den Identitätsbegriff in einer triadischen Konstellation zu verankern, mithin gegen zwei Seiten abzugrenzen, von denen her die als „Identität“ bezeichnete psychische (bzw. psychosoziale) Struktur stets bedroht ist. Der Psychoanalytiker unterschied nämlich die identity bereits in den 1940er Jahren und im nachfolgenden Jahrzehnt – was leider oft vergessen wird – ausdrücklich von der unweigerlich mit äußerem und innerem Zwang liierten totality (einem psychologischen Analogon der seinerzeit grassierenden Totalitarismen in Politik und Gesellschaft!), und zugleich grenzte er die Identität als eine zerbrechliche ganzheitliche Gestalt, als inner sense of wholeness, von jenem in jedem Leben möglichen inneren Zerfall einer Person ab, den Erikson als progressive Identitätsdiffusion bis hin zur pathogenen Paralyse des Selbst in dissoziierte Fragmente konzeptualisierte. Die partielle, begrenzte, prinzipiell von Heteronomie durchkreuzte Autonomie des Subjekts hat ihren Ort demgemäß in der dynamischen Mitte zwischen 3
Die Formulierung entnehme ich der Projektbeschreibung des SFB 536 der DFG, „Reflexive Modernisierung“, namentlich den „Vorbereitende[n] Bemerkungen zur Tagung des SFB Reflexive Modernisierung, B-Bereich“.
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JÜRGEN STRAUB
zweierlei Gefährdungen des Orientierungsvermögens und Handlungspotenzials einer Identität aspirierenden Person. Diese Gefährdungen können durch die psychologischen Begriffe der Totalität und der Fragmentalität markiert werden. Der Identitätsbegriff ist graduell oder akzentuierend gegen diese abgesetzt und bezeichnet dennoch keine bloß quantitative Differenz, sondern eine eigene psychische bzw. psychosoziale Qualität personalen Seins. Mit Metaphern, die (heute wieder) nachdrücklich auf die „Offenheit“ oder „Verflüssigung von Identität“ verweisen, oder mit Hinweisen auf bisher angeblich verdrängte „Abhängigkeiten“ oder die unhintergehbare „Relationalität“ des Subjekts kann man meines Erachtens heute nichts mehr wirklich Neues, jedenfalls kaum etwas sagen, was im identitätstheoretischen Diskurs seit gut einem Jahrhundert nicht schon bedacht worden wäre – und was im Rahmen der modernen Theorie personaler Identität etwa in handlungstheoretischer Perspektive präzisiert werden kann. Reflexionen über den Handlungsbegriff einerseits und den Identitätsbegriff andererseits verbindet nicht zuletzt das Folgende: Wenn wir einigermaßen elaborierte theoretische Konzepte vor Augen haben, werden wir zwar noch immer einiges verfeinern und verbessern wollen. Begründete Anlässe dafür, die zur Verfügung stehenden, reichlich komplexen Begriffe des Handelns und der Identität kurzerhand über Bord zu werfen, sehe ich allerdings ebenso wenig wie völlig Neues am Horizont einer aufscheinenden Zukunft. Das ist freilich nicht weiter tragisch, solange wir in Erinnerung behalten, was wir seit längerem wissen können: dass es nämlich keine Handlung und keine Identität gibt, die nicht mehr oder weniger deutliche Spuren von Kontingenz und Heteronomie aufweisen. Wir sind nie ganz und gar bei uns, noch nicht einmal dann, wenn wir unabhängig, selbstständig und selbstbestimmt zu handeln meinen.
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D ie R e alit ät d e s Sub je kt s: Ü berl egungen zu ein er Th eori e biogr aphis c her Id ent it ät 1 MONIKA WOHLRAB-SAHR
Die Diskussion um Subjekt und Identität: Flexibilitätsgewinne und Strukturdefizite Die sozialwissenschaftliche Debatte um Konzeptionen wie „Subjekt“ oder „Identität“ kreiste lange um den Versuch, Einheitsbegriffe, substanzialistische Vorstellungen eines Identitätskerns und „ontologische“ Fundierungen der Person zu hinterfragen und stattdessen Konzepte zu entwickeln, die – so gleichermaßen Prämisse wie Absicht der Theorieproduktion – einer zunehmend unsicheren und weniger kalkulierbaren Umwelt Rechnung tragen. Die hierzu entworfenen Vorschläge zielten darauf ab, Subjekt- und Identitätskonzepte in der Zeitdimension zu entlinearisieren und dabei von Reifungs-, Entwicklungs- und Planungssemantiken auf solche der Kontingenzbewältigung umzustellen, sie ferner in der Sachdimension zu differenzieren und dabei der Vielfalt rollenförmiger Einbindung der Person in einer funktional differenzierten Umwelt Rechnung zu tragen, sowie schließlich in der Sozialdimension Reflexivität in die Konzepte zu integrieren. Die Theoriearbeit wurde begleitet von einer Reihe von Metaphern wie der des „mutable self“ (Zurcher 1985), des „biographischen Inkrementalismus“ (Schimank 1988) oder der „Patchwork-Identität“ (Keupp 1989), welche die veränderten Konstitutionsbedingungen des „Selbst“ zum Ausdruck bringen sollten.
1
In diesen Beitrag sind frühere Überlegungen zum Thema Identität eingegangen. Vgl. Wohlrab-Sahr 2001, 2003a und 2003b. Ich danke Uwe Schimank für seine weiterführenden Anmerkungen, die an verschiedenen Stellen in diesen Text Eingang gefunden haben.
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Man mag in dieser Theorieentwicklung eine längst notwendige Einstellung auf die veränderten Umweltbedingungen personaler Identität erkennen, auch wenn die neuen Ansätze bisweilen dazu tendierten, das „Alte“ allzu sehr zu vereinfachen, um das „Neue“ davon schillernd absetzen zu können. Allerdings drohte mit der Verabschiedung älterer Konzepte auch Theoriepotenzial verloren zu gehen, das bei den Klassikern der Identitätstheorie durchaus vorhanden war (vgl. Straub 2000). Über der verständlichen Absicht, zeitgebundene (und in der Ausblendung dieser Zeitgebundenheit: ideologische) Modelle von Person und Identität über Bord zu werfen, drohte das aus dem Blick zu geraten, was die Klassiker zu einer Strukturtheorie der Identität beizutragen hatten. Nicht zuletzt aus diesem Grunde reproduziert sich in der neuen Debatte das Dilemma interaktionistischer Identitätskonzepte, wie es bereits anhand des Entwurfs einer „balancierenden Identität“ (Krappmann 1969) diskutiert worden war: dass nämlich über dem Versuch, Prozesse und Konstruktionen zu erfassen, die Bedingungen der Konstitution und Stabilisierung von Identität vernachlässigt wurden. Weitgehend außen vor bleibt diese Perspektive in radikal konstruktivistischen Arbeiten, in denen aus theoriepolitischen Gründen immer nur die aktuelle Version der jeweiligen Identitätskonstruktion oder Biographiepräsentation (inklusive deren Bilder von der Vergangenheit) in den Blick genommen wird, deren lebensgeschichtliche Entstehungsbedingungen aber explizit ausgeschlossen bleiben (Nassehi 1994). Biographien kommen hier zwar als „Selbstfestlegungsgeschichten psychischer Systeme“ (S. 51) in den Blick, die allerdings „in der Kontingenz ihrer Möglichkeiten sowie in der selektiven Vergegenwärtigung von Vergangenem“ als „relativ frei“ angesehen werden (S. 53). Die Biographieanalyse hätte sich dementsprechend allein auf die Analyse solcher Selbstfestlegungsgeschichten und deren situativer Kontexte zu konzentrieren. In neuerer Zeit artikulieren sich jedoch Gegenentwürfe, in denen die Frage nach der „Realität“ des Subjekts neu aufgeworfen wird. Drei davon sollen im Folgenden diskutiert werden. Der erste Ansatz stammt von Günter Dux (2000) und stellt sich explizit nicht nur der Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus, sondern auch mit den Gegenspielern geistes- und gesellschaftswissenschaftlicher Konzepte von Subjekt und Identität: der Soziobiologie und der Hirnforschung. Letztere setzt vor allem gegen das philosophische Modell eines mit freiem Willen begabten Subjekts, damit implizit aber auch gegen die Fluiditätsunterstellungen postmoderner Theorien, ihre eigenen – auf genetische oder neuronale Determinierung abstellenden – Annahmen. Sie integriert jedoch gleichzeitig konstruktivistische Theorien der Selbstorganisation, hier bezogen auf die Selbstorganisation des Gehirns. Im Anschluss an solche Überlegungen geht Dux (2000) in seiner „historisch76
BIOGRAPHIEFORSCHUNG
genetischen Theorie der Kultur“ explizit von der Konzeption eines „realen Subjekts“ aus und meint damit ein Subjekt, das neuronale Entsprechungen hat. Der zweite Entwurf stammt von Ulrich Oevermann (1995, 2003), der gegenüber konstruktivistischen Konzepten auf der Vorstellung eines Subjekts beharrt, das seine Identität in der Auseinandersetzung mit einem unhintergehbaren „realen“ Problem – dem Problem der Bewährung – konstituiert. Die „Realität“ des Subjekts wird hier über die Notwendigkeit der Bearbeitung anthropologisch vorgegebener Probleme verankert, wobei im Begriff der Bewährung die Vorstellung gelungener – autonomer – Problemlösung mitschwingt. Der dritte Vorschlag, den ich im Anschluss daran unterbreiten werde, löst sich von der Vorstellung einer für Identitätsbildung spezifischen Problemstellung, wie sie mit dem Problem der Bewährung vorausgesetzt wird, beharrt aber gegenüber postmodernen Fluiditätsvorstellungen und dem Gegenwartsbezug konstruktivistischer Ansätze auf einem Strukturmodell von Identität, das sowohl die biographische Repräsentation in der Gegenwart als auch die Herausbildung einer biographischen Struktur im Laufe der Zeit integriert. Identitätsbildung wird in diesem Modell als Vorgang einer auf verstehensbasierten Selektionsprozessen aufbauenden Selbstorganisation gefasst, bei der die vorangegangenen Selektionen „reale“ Voraussetzungen für nachfolgende konstituieren, woraus im Laufe der Zeit eine zwar im Prinzip noch variable, aber nicht mehr hintergehbare Struktur entsteht.2 Genau darin manifestiert sich diesem Ansatz zufolge die „Realität des Subjekts“.
Ablösung des „metaphysischen“ durch ein „reales Subjekt“ – Strukturgewinne durch neurobiologische Anleihen? Bei seinem bisher letzten Vorschlag, die Kulturtheorie in der biologischen Anthropologie zu verankern, hat Dux (2000) auch einen Ansatz unternommen, eine Grundlage für das Konzept eines „realen“ Subjekts zu legen. Die alte kulturtheoretische Spannung zwischen „Subjektivismus“ und „Objektivismus“ (vgl. Bourdieu 1979) taucht hier mit den Antipoden des radikalen Konstruktivismus (Luhmannscher Prägung) und der Soziobiologie in neuer Form auf. Relevanter noch als Letztere scheint mir für Dux’ Entwurf freilich seine – wenn auch wenig ausgebaute – Bezugnah-
2
Bei Schimank (2000, S. 221ff.) wird dies mit dem Gedanken der „Pfadabhängigkeit“ gefasst.
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me auf die Hirnforschung, die sehr weitgehend seine Vorstellung einer „Realität“ des Subjekts beeinflusst hat. Dem Weltverständnis der Neuzeit, so die Annahme, liegt das Verständnis der menschlichen Daseinsform als Anschlussorganisation an eine evolutive Naturgeschichte zugrunde (Dux 2000, S. 25). Entsprechend sei Geschichte als Fortsetzung der Naturgeschichte in einem geistigen, soziokulturellen Medium zu verstehen. Die Frage, die es demnach zu beantworten gilt, ist die nach der Bedingung der Möglichkeit einer konstruktiv geschaffenen Welt, nach dem Verfahren dieser Konstruktivität sowie nach den Organisationsformen, die sich dabei bilden. Als wesentliche historische Voraussetzungen nennt Dux zum einen die naturwissenschaftliche Revolution, welche die subjektivische Logik im Naturverständnis eliminiert und durch eine funktional-relationale oder systemische Logik ersetzt habe; ferner nennt er den Prozess der Säkularisierung, im Zuge dessen das, was in der Welt geschieht, einem innersystemischen Bedingungszusammenhang zugerechnet und damit der Eingriffskausalität subjektivischer Mächte entzogen worden sei; sowie schließlich eine Platzierung des Menschen in der Natur derart, dass seine geistigen, soziokulturellen Lebensformen ohne Vorgabe einer in der Natur selbst gelegenen Geistigkeit verständlich würden. Die Begriffe der Säkularisierung und der Entzauberung sind für alle drei Ebenen, die gleichermaßen ihrer transzendentalen Grundlagen beraubt wurden, zentral. Dux gibt eine Reihe von Bedingungen für die Evolution von einer genetisch präfixierten zu einer konstruktiven Autonomie an (S. 56). Neben (1) der Entwicklung der symbolisch-medialen Organisation von Denken und Sprache, (2) der Ontogenese der Gattungsmitglieder als take-off des Enkulturationsprozesses und (3) der Entwicklung von Reflexivität als innerer Organisation des Subjekts ist hier vor allem der Hinweis auf (4) die autogene Produktivität des Gehirns von Relevanz. Es ist insbesondere dieser Punkt, an dem der Wechsel von der philosophischen zur biologischen Anthropologie als Grundlagenwissenschaft der Soziologie verankert ist. Im Unterschied zu Gehlen (1986), der von einer produktiven Disbalance von konstitutioneller Ausstattung und Umweltverhältnissen ausging, fokussiert Dux auf die Organisation des Gehirns als intermediärem Organ zwischen Genom und Außenwelt. Diese Perspektive trennt ihn gleichzeitig von der Soziobiologie und ihrer Konzentration auf die Gene. Als letzte Voraussetzung nennt er (5) die Schaffung der kulturellen Organisation der Welt in Gestalt dreier Welten durch das nachwachsende Gattungsmitglied, das dafür zwar die naturale Ausstattung mitbringt, die kulturellen Formen aber erst selbst erzeugen muss. Es handelt sich dabei um eine handlungsrelevant organisierte Natur, eine Sozialwelt, sowie eine Innenwelt oder „innere Natur“, in der sich die kulturell entwickelten Struk78
BIOGRAPHIEFORSCHUNG
turen der Lebensführung organisch fixieren (Dux 2002, S. 75). Letztere setzt Dux mit dem Begriff des Subjekts gleich. Im Gegensatz zu einem transzendental begründeten geht es ihm freilich um ein „reales Subjekt“, das in der Verfassung seiner Innenwelt in jedem einzelnen Menschen vor uns stehe. Der Realitätsstatus des Subjekts ist also an die Verfassung der Innenwelt gebunden, die dreifach „objektiv“ verankert ist: Sie bildet sich in der Auseinandersetzung mit einer äußeren Realität aus, basiert auf einer organischen Voraussetzung und stellt schließlich „die dem Organismus kulturell eingeprägte Organisationsform seiner Lebensführung dar, die kulturelle Organisation eines naturalen Substrats“ (S. 95). Diese von Dux für die Innenwelt verwendeten Formulierungen schließen an eine ganze Reihe von Vorläufern aus dem soziologischen und psychologischen Bereich an. Zu erinnern ist etwa an Freuds Vorstellung vom „Niederschlag“ von Erfahrungen, der sich in der Symptombildung gegenüber seinen Ursprüngen verselbstständigt (vgl. hierzu auch Parsons 1980, S. 83) oder an Bourdieus Überlegungen zur Inkorporierung des Habitus. Die von Dux eröffnete Perspektive ist überdies anschließbar an aktuelle Debatten in der Neurobiologie (vgl. Roth 1997, 2001; Singer 2002), mit der Soziologen die Auseinandersetzung bisher weitgehend scheuten. Wenn man diesen Zusammenhang allerdings weiterdenkt, tun sich eine ganze Reihe von Problemen auf, die sich auch in der aktuellen Debatte um neuere Ergebnisse der Hirnforschung und deren Konsequenzen für menschliches Handeln wiederfinden.3 Zur Diskussion steht hier der Zusammenhang von Natur und Kultur in der inneren Natur, die Verbindung zwischen „kultureller Organisation“ und Organismus: Wie hat man es sich vorzustellen, dass dem Organismus eine Organisationsform kulturell eingeprägt, ein naturales Substrat kulturell organisiert sein soll? Und wie stabil wäre eine solche „Einprägung“ zu denken? Neurobiologen wie Wolf Singer (2002, S. 92) gehen davon aus, dass ab der Pubertät die Architektur des Nervensystems auskristallisiere und starr werde. Von da ab müsse demnach von der weitgehenden Irreversibilität neuronaler Verschaltungen ausgegangen werden. Gerhard Roth (2001) hat vor diesem Hintergrund neuerdings Freuds These von der entscheidenden Rolle des Unbewussten für menschliches Handeln aus neurobiologischer Sicht bestätigt: „Das unbewusste, limbische Erfahrungsgedächtnis lenkt unser Handeln stärker als unser bewusstes Ich“ (S. 9). Da subcorticale limbische Netzwerke als Sitz des Erfahrungsgedächtnisses nur eine beschränkte Informationsverarbeitungskapazität besäßen, vollzö3
Vgl. hierzu die Debatte um die Hirnforschung in der FAZ mit Beiträgen von Klaus Lüderssen, Hans-Ludwig Kröber, Eberhard Schockenhoff und Gerhard Roth (FAZ vom 4.11., 11.11., 17.11. und 1.12.2003).
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gen sich spätere Umlernvorgänge sehr langsam. Entsprechend hoch müsse „die emotionale Aktivierung (z.B. Lebenskrisen oder eine fordernde neue Partnerschaft) sein, um diese Prägungen wieder aufzuheben, damit sich an unserer Persönlichkeit überhaupt noch etwas ändert“ (S. 12). Soziale Einflüsse sind in diesen Ansätzen also keinesfalls ausgeschlossen: Sie wirken (insbesondere durch Eltern und Erzieher) höchst einflussreich an der Entstehung neuronaler Verschaltungen mit. Sind diese aber erst einmal eingerichtet, so die Neurobiologen, determinieren sie bestimmte Verhaltensweisen und lassen damit – so die Kontrastfolie – die Vorstellung eines autonomen, mit freiem Willen begabten Subjekts zur bloßen Konstruktion werden, der auf der Handlungsebene wenig entspricht. Für die soziologische Debatte um Identität sind diese Befunde insofern relevant, als sie – gegen beliebte Annahmen jederzeit möglicher Neukonstruktion und rationaler Entscheidungen – nachdrücklich auf die Beharrlichkeit einmal aufgebauter Strukturen und personaler Identitäten verweisen. Umweltreize, so Roth, sind zwar nicht irrelevant, müssen aber, „um echte Handlungsantriebe zu werden, auf eine interne Motivationslage treffen“ (Roth 2001, S. 9). Gleichzeitig suggeriert aber die dem Technischen entlehnte Semantik die Vorstellung einer (durch frühe Erfahrungen aufgebauten) Mechanik, die entsprechend nur durch massive oder dauerhafte Einwirkung nach Art eines kräftigen Hammerschlags oder (weniger aussichtsreich) beständigen, leichten Hämmerns zu verändern ist. Es fehlt die Vorstellung verstehensbasierter Prozesse gradueller oder rapider Veränderung, aber auch einer verstehensbasierten Persistenz. So bemerkt Roth zur Verschiedenheit menschlicher Gehirne: „Es gibt genetisch bedingte Unterschiede [...] in all dem, was zumindest teilweise unseren Charakter ausmacht, und diese Unterschiede ererben wir als eine individuelle Kombination des Erbguts von unseren Eltern. Besonders wichtig sind frühkindliche Einflüsse und Erlebnisse, die prägend auf unseren Charakter wirken und den Rahmen bilden, in dem spätere Erfahrungen verarbeitet werden. Dabei gilt: Je später die Einflüsse, desto stärker müssen sie wirken, um noch eine nachhaltige Wirkung zu erlangen. Dieser Prozess ist selbststabilisierend: Es wird vornehmlich dasjenige aufgenommen und angeeignet, was hineinpasst, und dasjenige verdrängt, was stört. Das heißt aber nicht, dass nicht auch in späteren Lebensjahren Erlebnisse noch unseren Charakter ändern können; diese müssen dann aber entweder krisenartige Zustände hervorrufen oder jahrelang einwirken“ (Roth 1997, S. 334).
Will man über diese Vorstellung eines eingefahrenen Mechanismus hinauskommen (ohne die Sache zu bestreiten, auf die das Bild zielt), stellt sich die Frage nach einem soziologischen Verständnis der „inneren Natur“. Zweifellos ist Identität – wie jede komplexe Lebensäußerung – in 80
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neuronalen Prozessen verankert. Ob dieser Zusammenhang aber mit dem Hinweis auf die Fixierung durch neuronale Verschaltungen, durch die die Person in ihrem Verhalten letztlich determiniert ist, hinreichend bestimmt ist, oder ob – gegen eine solche Vorstellung von Determination – bei der handelnden Person immer der Filter eines (mehr oder minder stark habitualisierten) Verstehens vorauszusetzen ist, der stets auch andere, nicht gewählte Möglichkeiten als Verweisungshorizont mitführt, ist eine Frage, mit deren Beantwortung weit reichende Konsequenzen verbunden sind. Im Prinzip halten die neurobiologischen Zugänge durchaus Anschlussstellen für sozialwissenschaftliche Identitätstheorien bereit, wenn etwa – wie in dem oben angeführten Zitat – Vorstellungen der Vererbung mit solchen der Prägung, der Rahmung und der Selbstorganisation verknüpft werden, oder wenn der Hinweis auf Veränderungen in NeuronenNetzwerken bei psychischen Erkrankungen von der Einschränkung begleitet wird, dies sage über die Ursachen dieser Erkrankung nichts aus (Roth 2001, S. 11). Was von den Neurobiologen im Hinblick auf die Verschaltungen des Gehirns gesagt wird, ließe sich auch – weniger eng geführt – auf einen Strukturbildungsprozess von Identität oder Habitus beziehen. Dieser wäre dann freilich nicht in erster Linie als Prägung oder krisenbedingte Destabilisierung und Neuprägung aufzufassen, sondern als eine auf Verstehens- und Interpretationsleistungen basierende Strukturbildung, die auf der Grundlage vorangehender Selektionen allerdings gleichwohl zu Festlegungen führt. Der „Rahmen“, den in Roths Konzept frühkindliche Prägungen hervorbringen, lässt sich auch als Verstehensrahmen fassen, für den in der frühen Kindheit bereits wichtige Grundlagen gelegt werden, vor deren Hintergrund Neues (etwa die Konfrontation mit sozialen Rahmen im Goffman’schen Sinne) interpretiert wird und sich – in einem Prozess sich selbst verstärkender Selektivität – relativ stabile Deutungs- und Orientierungsmuster herausbilden. In systemtheoretischer Terminologie hat Uwe Schimank (1988) in diesem Sinne von der „Autopoiesis der Biographie“ gesprochen. Über Rekonstruktionen autobiographischer Erzählungen und die Analyse der „objektiven Daten“ biographischer Verläufe lässt sich die Entstehung solcher biographischer „Pfadabhängigkeiten“ (Schimank 2000, S. 221ff.) gut herausarbeiten. Dazu gehört etwa das Verlorengehen oder Unwahrscheinlichwerden von Entwicklungsalternativen aufgrund des „Zu-spät-Kommens“ angesichts sozialer und biologischer Timing-Strukturen, oder aufgrund der Länge der bereits „durchschrittenen“ Strecke und der mit ihr einhergehenden sozialen Bindungen,4 mit
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H.S. Becker (1960) spricht in diesem Zusammenhang von den „side-bets“, die Commitment miterzeugen.
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denen andere Optionen nicht mehr erfolgreich konkurrieren können; dazu gehört das „Vergessen“ von Alternativen im Zuge von Habitualisierungen, die familiär, subkulturell oder kulturell gestützt sind und zu denen es kaum bewusste Gegenentwürfe oder konkurrierende Chancenstrukturen gibt; und dazu gehört schließlich eine interpretatorische Alternativlosigkeit im Zuge der normativen Sanktionierung oder evaluativen5 Stützung bestimmter Optionen innerhalb eines bestimmten sozialen Umfeldes. Nicht zuletzt im Hinblick auf Gewaltkarrieren ist dieser Mechanismus betont worden (Sutterlüty 2002). Die Analyse von Konversionsbiographien, die natürlich immer nur einen gefilterten Blick auf die Verhältnisse „vor“ dem Wandel freigibt, zeigt, in welchem Maße sich biographische Entwicklungen vor der Konversion oft zugespitzt haben und wie vielfältiger Absicherungen – bis hin zur „symbolischen Emigration“ (Wohlrab-Sahr 2001) – die gewandelte Person bedarf, um ihre Neuorientierung zu stabilisieren. Aber auch dann wird im „neuen Gewand“ oft allzu deutlich die alte Struktur erkennbar. Aus soziologischer Perspektive kann die Entsprechung zwischen Subjekt bzw. Identität und neuronalen Verschaltungen sicherlich nicht widerlegt, sondern lediglich deren Verhältnisbestimmung hinterfragt werden. Und es wäre umgekehrt blinder Konstruktivismus, die Gehirntätigkeit nur für das freie „Konstruieren“, nicht aber für die beharrenden Kräfte der „Identität“ in Anspruch nehmen zu wollen. Mit den Begriffen Identität oder Habitus liegen soziologische Konzepte bereit, die auf ähnliche Beharrungstendenzen zielen wie Dux sie im Auge hat, und auf die auch die Neurobiologen abstellen – ohne dabei jedoch organische Determiniertheit zu unterstellen. Gerade die soziologische Biographieforschung kann zeigen, in welch hohem Maße einmal ausgeprägte biographische Handlungsmuster reproduziert werden, und wie stabil Habitusformen auch unter wechselnden äußeren Umständen bisweilen über mehrere Familiengenerationen hinweg sozial „vererbt“ werden können. Eine solche Verfestigung von Identitätsmustern, deren besonders rigide Spielart Erikson mit dem Begriff „totality“ (Erikson 1974) belegte, mag bisweilen so weit gehen, dass eine Transformation hochgradig unwahrscheinlich erscheint. Dux hat allerdings ein Thema in die Soziologie zurückgeholt, das etwa bei Luhmann weitgehend im Dunkeln geblieben ist: die Frage nach den Konstitutionsbedingungen des psychischen Systems.6 Der klassische soziologische Begriff hierfür ist der der Identität. Talcott Parsons (1980) – 5 6
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Zu dieser Unterscheidung vgl. Schimank 1996, S. 247. Der Sache nach scheint mir diese Ausklammerung im Rahmen der Luhmann’schen Theorie nicht zwingend. Ebenso, wie Luhmann Systembildung im Bereich sozialer Systeme betrachtet, wäre dies auch auf der Seite des psychischen Systems zu konzeptualisieren.
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weniger berührungsscheu gegenüber psychologischen Theorien – hat im Rahmen seiner eigenen Theoriearchitektur Identität als „das zentrale System von Bedeutungen der individuellen Person“ (S. 74) bzw. als CodeStruktur7 bezeichnet und diese als das Bezugssystem definiert, „innerhalb dessen persönliche Bedeutungen konkret symbolisiert und ‚ausgedrückt‘, ‚ausagiert‘, ‚realisiert‘ usw. werden können“ (ebd.). Luhmann hat diesen Faden nicht systematisch aufgenommen, weil er aus Gründen der Theoriearchitektur das „psychische System“ nicht nur in die Umwelt des sozialen Systems, sondern damit auch in die Umwelt der Soziologie verwiesen hat. Es ist ein Verdienst des Ansatzes von Dux, diese „Halbierung“ des Gegenstandsbereichs der Soziologie nicht mitzumachen.
Bi o g r a p h i s c h e I d e n t i t ä t – Be g r ü n d u n g e n u n d K o n z e p t i o n e n Der Kontext, in dem in der Soziologie die Entstehung von Subjektivität behandelt wird, ist die Sozialisationstheorie (vgl. Oevermann 1979). Die sozialisatorischen Prozesse, im Zuge derer sich Bedeutungen ausbilden und Subjektivität entsteht, begründen jedoch noch nicht per se die Herausbildung einer relativ dauerhaften Struktur biographischer Identität. Dass sich Identität als verzeitlichte Struktur in Form biographischer Identität herausbildet, ist von verschiedenen Autoren (vgl. u.a. Willems und Hahn 1999; Nassehi 1994, 1995) differenzierungstheoretisch begründet worden: Die moderne Sozialität, so Willems und Hahn (1999, S. 14), produziere „ein extrasozietales Individuum“, das „in keinem der Subsysteme als ganzes kommunikativ eingebracht werden“ könne und seine Einheit daher selbstreferenziell begründen müsse. Die Entstehung biographischer Identität – angestoßen durch soziale Institutionen, die als „Identitätsgeneratoren“ wirken – könne als Konsequenz dieser Entwicklung angesehen werden. Damit sind freilich zunächst nur die äußeren Prozesse und Bedingungen genannt, die biographische Identität – und das heißt: subjektive Sinngrenzen – erfordern, die mit der sozialen Verortung der Person in Stand, Klasse oder Geschlechtsidentität nicht deckungsgleich sind. Die Entstehung biographischer Identität ist an bestimmte historische Voraussetzungen gebunden, im Zuge derer eine Person, die ihr Leben als Ganzes in den Blick nimmt und bewertet, erst entstanden ist. Entscheidend dafür waren soziale Institutionen der Selbstbeobachtung, wie die Beichte oder
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Innerhalb von Parsons’ Theorierahmen geht es dabei um die Funktion der „pattern maintenance“.
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das (religiöse) Tagebuch, deren Rolle in neuerer Zeit unter anderem die Psychotherapie einnimmt (Hahn 1988; Willems 1999). Es gibt – darin besteht wohl die „Wahrheit“ der Protestantismusthese Webers – gute Gründe, davon auszugehen, dass die selbstreflexive Struktur der biographischen Identität historisch aus einer religiösen Form der Selbstbeobachtung hervorgegangen ist, dass also die Vorstellung eines beobachtenden Gottes die methodische Form menschlicher Selbstbeobachtung mit hervorgebracht hat. Aus einer anderen Perspektive hat Martin Kohli (1985) die Herausbildung eines institutionalisierten Lebenslaufs als einer verzeitlichten und personzentrierten Struktur mit der Entstehung biographischer Perspektiven verknüpft. Der Übergang der Moderne sei durch eine Chronologisierung des Lebens gekennzeichnet, durch den „Übergang vom Muster der Zufälligkeit der Lebensereignisse zu einem des vorhersehbaren Lebenslaufs“ (S. 4f.). Dies finde seinen Ausdruck nicht nur in der sequenziellen Ordnung von Lebensereignissen, sondern auch in veränderten biographischen Perspektiven, in denen sich ein Übergang von der historischen bzw. jahreszeitlich-naturalen Zeit als Verlaufsachse für das Leben hin zur Zeit des individuellen Lebens selbst beobachten lasse. Diese historisch argumentierenden Ansätze liefern mit dem Verweis auf demographische, sozialstrukturelle, institutionelle und semantische Entwicklungen Gründe für die Bedingung der Möglichkeit biographischer Identität. Eine Theorie biographischer Identität müsste allerdings darüber hinaus nach deren faktischer Struktur fragen, und dies in einer Weise, die den Änderungen der sozialen Rahmenbedingungen Rechnung trägt. Dabei lassen sich im Wesentlichen zwei Zugänge unterscheiden. Dem ersten zufolge wäre biographische Identität als Säkularisat einer ursprünglich religiösen Struktur aufzufassen, bliebe aber um das strukturell religiöse Problem der Bewährung zentriert. Den durch den Prozess der Säkularisierung veränderten Rahmenbedingungen wird hier insofern Rechnung getragen, als davon ausgegangen wird, dass zwar Bewährung als Problem und Struktur zwingend erhalten bleibt, die inhaltlich-religiösen Lösungen aber tendenziell verloren gehen und durch individuell-biographische ersetzt werden müssen. Diese Position ist in den letzten Jahren von Oevermann (1995, 2003) vertreten worden. Mein eigener Vorschlag – der in einigen Punkten an Überlegungen zur Autopoiesis der Biographie (Schimank 1988) anschließt – unterscheidet sich davon durch den Versuch, das Konzept der biographischen Identität von solchen Vorgaben zu lösen und als „neutrales“ Konzept einer sich selbst verstärkenden Selektivität von interpretiertem Handeln und Erleiden zu entwickeln, dessen inhaltliche Konturen und Problemstellungen dann jeweils als spezifische und damit kontingente Formen der Identität rekonstruiert und erklärt werden müssen. 84
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Die Realität des Subjekts und das Problem der Bewährung In neueren Überlegungen hat Oevermann im Anschluss an Max Weber das – seiner Ansicht nach unhintergehbare – Bewährungsproblem und darauf bezogene Bewährungsmythen als eine Form struktureller Religiosität und gleichzeitig als konstitutiv für Subjektivität bestimmt. Er sieht das Problem der Bewährung fundiert in der Polarität von Zukunftsoffenheit und Endlichkeit des Menschen, um die der Mensch – im Unterschied zum Tier – wisse. Durch die „Nicht-Stillstellbarkeit der Bewährungsdynamik“ (Oevermann 2003, S. 342) sei der Mensch getrieben, im Diesseits eine Bewährung zu leisten, deren Feststellung jedoch strukturlogisch erst im Jenseits möglich sei. Da dieses Jenseits aber auch ein Jenseits aller Erfahrung sei, könnten Bewährungsmythen immer nur die Hoffnung auf Bewährung im Jenseits verbürgen und Anzeichen für die Begründetheit dieser Hoffnung sammeln. In dem Maße, wie kollektiv verbürgte Mythen für die Beantwortung der Sinnfrage kaum noch zur Verfügung stünden, werde der Einzelne auf seine eigene Biographie zurück verwiesen. Im Zuge des Säkularisierungsprozesses werden demnach traditionale Bewährungsmythen substituiert durch Formen biographischer Identität, deren Fokus individuelle Bewährungsmythen sind. Das Vorhandensein eines universellen „Bewährungsproblems“ wird in Oevermanns Konzept axiomatisch vorausgesetzt. Dass in manchen Kulturen ein solches Problem nicht explizit werde, dürfe nicht als Fehlen desselben, sondern müsse als eine spezifische Ausformung der Deutung und damit als Ausprägung des Bewährungsmythos selbst interpretiert werden. Weil das Bewährungsproblem theorielogisch aus der Spannung von Zukunftsoffenheit und Endlichkeitsbewusstheit (und damit anthropologisch) abgeleitet wird, muss es entsprechend immer vorhanden sein, auch wenn es nicht explizit wird. Biographische Identität, so lässt sich folgern, manifestiert sich demnach immer am Problem der Bewährung und an dessen Deutung und Bewältigung. Diese anthropologische Wendung der Protestantismusthese Webers erzeugt auf ihre Weise eine „Realitätsanbindung“ des Subjekts: Das mit dem Menschsein gegebene Wissen um die Endlichkeit schafft notwendig ein Problem, an dem Menschen sich abzuarbeiten haben, und für das sie Lösungen finden müssen. Je säkularisierter die Umwelt, in der sie leben, umso radikaler stellt sich das Bewährungsproblem, für das die Antworten nun biographisch – in Form „angestrengter Selbstverwirklichung“ (S. 348) – gefunden werden müssen. Indem Oevermann das Bewährungsmotiv anthropologisch rückbindet an ein Bewährungsproblem, wird aus dem historisch Unwahrschein85
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lichen und in seiner Entfaltung an bestimmte Voraussetzungen Gebundenen eine Universalie, die selbst nicht mehr erklärt zu werden braucht. Allerdings, so mein Einwand, stellt sich die Frage, ob das Bewährungsproblem selbst nicht an bestimmte semantische Voraussetzungen, d.h. an spezifische Formen der Thematisierung gebunden ist. Auch wenn das menschliche Leben zukunftsoffen und endlich ist und entsprechend das heute als gelungen Erscheinende sich morgen ins Gegenteil verkehren kann, so ist doch damit nicht zwingend gesagt, dass dies als ein Problem der Bewährung aufgefasst werden muss. Dieser Einwand betrifft auch Oevermanns Anschluss an Weber, der ja in seinem ProtestantismusAufsatz eine historisch unwahrscheinliche – und der Sache nach „widernatürliche“ – Entwicklung zu erklären suchte. Oevermann dagegen enthistorisiert den Gehalt der Weber’schen These, indem er das Bewährungsproblem anthropologisch fasst und nur dessen Lösung an historische Voraussetzungen koppelt. Demgegenüber wäre, so mein Vorschlag, in Rechnung zu stellen, dass Bewährung nur eine Variante des Umgangs mit begrenzter Lebenszeit unter Bedingungen der Unsicherheit ist, die im Zuge des gesellschaftlichen Säkularisierungsprozesses überdies potenziell unter Druck gerät. Zu hinterfragen ist damit gleichzeitig die normative Grundlegung von Oevermanns Modell, nach dem es allenfalls ein Verkennen der Unhintergehbarkeit und Unabschließbarkeit des Bewährungsproblems geben kann, nicht aber dessen faktische Irrelevanz. Die lebensgeschichtliche Sicherung von Anschlüssen im Sinne des: „Es muss irgendwie weitergehen“, so soll gegen Oevermann argumentiert werden, hat strukturlogisch Vorrang gegenüber dem Motiv der Bewährung. Dieses wäre folglich dort, wo es vorkommt, als voraussetzungsreiche Variante zu erklären, nicht aber bereits an den Anfang der Analyse zu stellen. Für das Vorhandensein eines „Bewährungsproblems“ in dem von Oevermann bezeichneten anspruchsvollen Sinne müsste meines Erachtens eine weitere Bedingung erfüllt sein: Ein imaginiertes externes (oder verinnerlichtes) Gegenüber, das einen verpflichtenden Maßstab repräsentiert, also etwas oder jemand, angesichts dessen man meint, sich bewähren zu müssen. In den monotheistischen Religionen stehen für diesen Maßstab Gott und sein göttliches Gesetz sowie die Vorstellung eines Jüngsten Gerichts, an dem verbindlich „abgerechnet“ wird. Es hat sich eine differenzierte Semantik entwickelt, welche die Wege zur Bewährung, die Versuchungen und Abirrungen auf diesem Weg sowie die Irritationen angesichts des ausbleibenden Erfolges beschreibt. In einer säkularisierten Form finden wir diese Semantik in der Leistungsethik und der ihr zugrunde liegenden moralischen Ökonomie wieder. Gemeinsam ist beiden Varianten, dass ein verpflichtender Maßstab vorausgesetzt wird, 86
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von dem her die fundamentale Unterscheidung zwischen grundsätzlichem Misslingen oder Gelingen ins Leben eingezogen wird. Wenn sich nun aber im Zuge des Säkularisierungsprozesses mit dem Jenseits auch das externe Gegenüber in Gestalt des Richtergottes im Bewusstsein verflüchtigt, ergibt sich neben der Konsequenz einer Radikalisierung der Bewährungsdynamik in der Immanenz auch als zweite Möglichkeit deren tendenzielle Auflösung, weil sich, so die Vermutung, mit dem externen Gegenüber potenziell auch dessen säkulare Varianten verflüchtigen. Die Vorstellung einer Radikalisierung der Bewährungsdynamik in der „angestrengten Selbstverwirklichung“ wäre daher um die alternative Möglichkeit einer Entmythologisierung der Lebenshaltungen zu erweitern, für die es zwar noch Aufgaben, Hindernisse und Fehlschläge gibt, ohne dass deren Bewältigung jedoch als „Bewährung“ konnotiert und in einen auf das ganze Leben bezogenen Bewährungsmythos eingebettet wird.8 Das Wissen um die Endlichkeit kann biographische Bewährungsmythen ebenso hervorbringen wie Fatalismus, Hedonismus oder Pragmatismus, um lediglich einige alternative Möglichkeiten zu nennen. Die Manifestation eines Bewährungsproblems und dessen Artikulation in Bewährungsmythen ist an spezifische Voraussetzungen gebunden. Dazu gehörte in dem historischen Fall, auf den Weber Bezug nimmt, eine unhinterfragte Jenseitsvorstellung und ein daraus abgeleiteter „richtender“ Maßstab, von dem man nicht wusste, wie er einen selbst treffen würde, an dem man sich aber gleichwohl auszurichten hatte. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass ein solcher „jenseitiger“ Maßstab auch als „Gewissen“, „Pflicht“ oder „Verantwortung“ ins Innere des Menschen verlagert gedacht werden kann (vgl. Kittsteiner 1995). Aber trotz solcher Verinnerlichung handelt es sich dann von der Struktur her um eine Art „internalisiertes Externes“ im Sinne einer Instanz, vor der sich die Person rechtfertigt und angesichts derer sie im Sinne einer „methodischen“ Gesamtbeurteilung des Lebens grundlegend scheitern kann. Wenn aber die Jenseitsvorstellung ihre Verbindlichkeit verliert, ist damit auch die Möglichkeit des Bedeutungsverlusts des daraus abgeleiteten Maßstabs, an dem das Leben ausgerichtet wird, verbunden. Die religiöse Indifferenz fände dann potenziell auch eine Entsprechung in einer Indifferenz im Hinblick auf das „Ziel“ des Lebens, in dem Sinne, dass dessen ethische Zurichtung auf „Lebensführung“ tendenziell verloren geht. Auf Ebene der Grundlagentheorie wäre dementsprechend Iden8
Ich habe an anderer Stelle (Wohlrab-Sahr 2003b) ausgeführt, dass Weber selbst auf den Fatalismus als weitere – logisch denkbare und faktisch auffindbare – Möglichkeit des Umgangs mit dem Problem der doppelten Prädestination hinweist.
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tität nicht von vornherein als normativ zentriert, auf ein „letztes“ Problem hin orientiert zu konzeptualisieren. Stattdessen wären normative Zentrierungen dort, wo sie empirisch vorkommen, als kontingente Strukturen in ihrem Entstehungs- und Sinnzusammenhang zu rekonstruieren.
Die Realität des Subjekts als biographische Struktur Im Anschluss an die vorangegangenen Überlegungen sollen im Folgenden Grundelemente eines Konzepts biographischer Identität skizziert werden, das die normativen Prämissen eines an Autonomie oder „Bewährung“ orientierten Konzepts nicht weiter mitführt, gleichwohl aber die Anregungen der Neurobiologie und die strukturtheoretischen Gehalte klassischer Identitätskonzepte aufgreift und der normativen und evaluativen Dimension des Sozialen, wie sie der Vorstellung von Identität notwendig inhärent ist, Rechnung trägt. Biographische Identität wäre diesem Verständnis zufolge über folgende Merkmale zu bestimmen: • Biographische Identität bezeichnet ein kommunikatives Selbstverhältnis. Sie ist bereits in ihrem Entstehungsprozess an Kommunikation und Perspektivenübernahme gebunden, im Zuge derer die Person sich selbst „von außen“, also objektivierend betrachtet. Diese Kommunikation erfolgt zunächst mit signifikanten Anderen, aus ihr gehen aber zunehmend generalisierende Perspektiven hervor. Zu berücksichtigen ist hier auch die Kommunikation mit einem imaginierten Gegenüber, das gleichzeitig die Funktion eines signifikanten und generalisierten Anderen übernehmen kann. Identität als „reale“ entsteht also (vgl. Mead 1973) durch reflexive Akte. Entsprechend verliert eine Person, die ihre Fähigkeit zu solchen reflexiven Akten verliert, in diesem Sinne auch ihre Identität. • Bei der Herausbildung, Reproduktion und Transformation biographischer Identität handelt es sich um einen auf Selektionen basierenden Strukturbildungsprozess. Identität „organisiert“ divergierende Erfahrungen im Laufe der Zeit in einer bestimmten Weise und bringt darüber – durch Reproduktion und Transformation – eine Struktur hervor. Dies entspricht dem, was in der Neurobiologie als „Erfahrungsgedächtnis“ und von Dux als „reales Subjekt“ bezeichnet wird. In soziologischer Perspektive lässt sich dies als Strukturbildung oder Organisation von Erfahrung fassen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass dieser Organisationsprozess sich auch im körperlichen Ausdruck und in der organischen Befindlichkeit dokumentiert. Identität als Organisation von Erfahrung, die sich auch
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körperlich-leiblich manifestiert, repräsentiert die Einheit der Person.9 Die Veränderungsprozesse und Instabilitäten, denen Personen im Verlauf des gesellschaftlichen Wandels ausgesetzt sind bzw. die sie auch selbst mit hervorbringen, treffen auf solche bereits aufgebauten Strukturen und führen zu deren Reproduktion, partieller Revision, bisweilen auch zum Strukturwandel. Allerdings greifen auch in Zeiten massiver äußerer Veränderungen einmal aufgebaute Formen der Strukturierung. Neue Selektionen müssen auf vorangegangene Bezug nehmen, ab einem bestimmten Punkt der Stabilisierung entsteht so eine unhintergehbare biographische „Realität“. Selbstreflexivität als Strukturmerkmal von Identität unterliegt historischen Voraussetzungen. Gesellschaftliche Entwicklungen und der Wandel sozialer Institutionen können die „Biographisierung von Erleben und Handeln“ (Brose und Hildenbrand 1988) forcieren. In dem Maße, wie etwa „Selbstreflexion“ und „Authentizität“ zu Kriterien der Personalrekrutierung werden und entsprechend in Auswahlgesprächen getestet werden, wirkt dies auch auf biographische Identitäten zurück. Es wäre allerdings verfehlt, aus der Zunahme solcher Situationen strategischer Selbstpräsentation auf eine Form der Identität zu schließen, die nur noch aus einer Summe strategischer Positionierungen besteht. Denn auch die Beobachter solcher Darstellungen bewerten nicht allein das „Schauspiel“ als solches, sondern orientieren sich am Kriterium der Stimmigkeit zwischen Selbstdarstellung, körperlicher Repräsentation und im Lebenslauf verdichteter Ereignisverkettung, um daraus auf eine mögliche Kontinuität der Person über die Zeit hinweg zu schließen.10 Biographische Identität ist gleichzeitig eine Relevanzstruktur. Die jeweiligen Formen der Organisation von Erfahrung und die in ihnen zum Ausdruck kommenden Relevanzstrukturen unterscheiden Identitäten voneinander. Dies lässt sich auch als Errichtung von Sinngrenzen beschreiben, die das „psychische System“ von seiner Umwelt unterscheiden, ihm aber auch Dauerhaftigkeit sichern (vgl. Luhmann 1984, S. 35f.; Willems und Hahn 1999, S. 10f.). Biographische Analysen zeigen, dass solche Relevanzstrukturen zwar nicht invariant, aber dennoch vergleichsweise beharrlich sind.
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Dieser Sachverhalt lässt sich auch im Anschluss an Luhmann formulieren. Dort heißt es, bezogen auf soziale Systeme: „Denn nur als Organisation, das heißt nur in der Form der Repräsentation seiner eigenen Einheit, kann ein System mit seiner Umwelt kommunizieren“ (Luhmann 1997, Bd. 2, S. 607). Identität wäre demnach die Organisation des psychischen Systems. 10 Vgl. dazu das Dissertationsprojekt von Ulrike Meister zur Rolle von Selbstpräsentation und Selbstbewusstsein in Auswahlgesprächen.
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In diesem Zusammenhang ist auch der Stellenwert von Identifikationen zu diskutieren. Die Klassiker der Identitätstheorie (Mead 1968; Erikson 1966) haben Identifikation als eine Vorstufe der Identitätsbildung betrachtet. „Identitätsbildung“, so heißt es bei Erikson, „beginnt dort, wo die Brauchbarkeit der Identifikationen endet“ (S. 140). Über die Theorie Charles Taylors (1996) allerdings eröffnet sich noch ein anderer Zugang zum Zusammenhang von Identität und Identifikation. Taylor skizziert den Menschen als einen „engaged agent“, zu dem es zentral gehört, dass er mit starken Wertungen und qualitativen Unterscheidungen operiert. Identität wäre in dieser Perspektive ohne „starke Wertungen“ – und das heißt auch: ohne Identifikationen – nicht vorstellbar. Die Rolle der Außenwelt ist also für das Subjekt nicht allein dadurch relevant, dass sie Widerstände und damit Irritationen schafft, die kognitiv wieder ins Gleichgewicht gebracht werden müssen,11 sondern auch dadurch, dass sich in Auseinandersetzung mit ihr die Relevanzsetzungen des Subjekts und so auch die Bedeutungsstruktur der eigenen biographischen Identität ausbilden. Dies lässt sich mit dem Hinweis aus der Neurobiologie verknüpfen, demzufolge das Erfahrungsgedächtnis ein „emotionales“ ist, das manche Umweltreize „kalt lassen“, auf das andere aber „stimulierend“ wirken. Wesentlich dabei ist meines Erachtens, dass Relevanzstrukturen und „starke Wertungen“ als formale Struktur aufzufassen sind, damit aber über die Inhalte dieser Relevanzen und Wertungen keine Aussage getroffen wird. Im Unterschied zur Semantik von „heiß“ und „kalt“ freilich zielt auch der Begriff „starker Wertungen“ auf einen Vorgang der Interpretation und nicht auf eine bloße Reaktion auf einen entsprechenden Stimulus. Identitätskonstitution ist gebunden an ein Mindestmaß von Kontinuität und Kohärenz (vgl. dazu Straub 2000). Gerade diese Bestimmung von Identität ist von Kritikern immer wieder angegriffen worden (vgl. Keupp 1989). Sie impliziert jedoch keine widerspruchsfreie oder gar starre Einheit, sondern verweist auf ein Grundprinzip von Systembildung, das gerade in Zeiten äußerer Instabilitäten wesentlich ist: Die Person muss zwischen in der Zeit-, Sach- und Sozialdimension konfligierenden Erfahrungen Bezüge herstellen und über Divergenzen hinweg Zusammenhänge schaffen. In der Sachdimension geht es dabei etwa um unterschiedliche Rollenanforderungen und normative Erwartungen, um die Konfrontation mit verschiedenen signifikanten Anderen, differenten sozialen und räumli-
11 Wie etwa in Piagets (1976) Konzept der Äquilibration, das auch bei Oevermann (1979) aufgegriffen wird.
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chen Bezügen etc. In der Zeitdimension geht es um die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit oder derjenigen signifikanter Anderer sowie um die Antizipation möglicher (anschließbarer) Zukünfte. In der Sozialdimension geht es um die Auseinandersetzung mit Fremdwahrnehmungen der eigenen Person oder Biographie, die mit dem Selbstbild nicht übereinstimmen. Nicht dass ein harmonisches Verhältnis zwischen konfligierenden Bezügen hergestellt wird, konstituiert Identität, sondern dass ein Verhältnis hergestellt wird. Die Person kann das, was sie gestern war, heute nicht einfach abtrennen, insbesondere deshalb nicht, weil sie – als soziales Wesen – immer Gefahr läuft, von anderen daran „erinnert“ zu werden. Gerade hier kommt der Außenwelt als Garant für die „Realität“ des Subjekts eine zentrale Rolle zu. Der Bezug auf sie erzwingt im Normalfall ein Mindestmaß an Kontinuität und Kohärenz. Der Bezug auf eine bereits strukturierte „Innenwelt“ trägt das seine dazu bei. Wenn Dux also von einem „realen Subjekt“ spricht, das sich in Auseinandersetzung mit einer widerständigen Außenwelt bildet, sind die Bestände soziologischer, psychologischer und sozialphilosophischer Identitätstheorie ausgezeichnet geeignet, um genau diesen Realitätsstatus zu erfassen.12 Perspektivenübernahme und Selbst-Objektivierung aufgrund der Rezeption der Perspektiven anderer auf einen selbst bringt Divergierendes zwangsläufig ins Spiel. Selbst die säuberliche Trennung der Sphären ist eine spezifische Form des InBeziehung-Setzens, die in der Regel um ihre Alternativen weiß. Biographische Identität hat eine explizite und eine implizite Seite. Beide Seiten aber kommen zum Ausdruck und „dokumentieren“ sich. Für die explizite Seite liegen im gesellschaftlichen Wissensvorrat Modelle bereit, mit denen biographische Erfahrungen interpretiert werden können. Das gilt auch für die Erfahrung extremer Widersprüche in der Zeit- und in der Sachdimension. Solche Modelle sind z.B. Konversionserzählungen, welche die Zeit vor und nach der Konversion strikt voneinander unterscheiden und polarisierend bewerten (vgl. dazu Luckmann 1986). Aber auch die Rede vom so genannten „Praxisschock“ oder den „Zwängen der Praxis“, welche die
12 Die „Patchwork-Identität“, wie Keupp (1989) ein Gegenmodell zu Eriksons (1966) Identitätsmodell bezeichnet hat, stellt dazu meines Erachtens keinen wirklichen Alternativentwurf dar. Das Bild des Patchworkens illustriert lediglich den Vorgang des In-Beziehung-Setzens unterschiedlicher Erfahrungen, zu dem Personen in allen Zeiten gezwungen waren, und hat in diesem Sinne wenig „Postmodernes“ an sich. Die Metapher veranschaulicht allenfalls, dass die „Webmuster“ in verschiedenen Bereichen des Lebens nicht immer dieselben sind.
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Divergenz von Erwartungen und Anforderungsprofil und daraus resultierende Erfahrungen des Bruchs im Übergang vom Bildungs- ins Berufssystem symbolisch zum Ausdruck bringen, ist ein im gesellschaftlichen Wissensvorrat bereitliegendes Interpretament für Erfahrungen der Inkohärenz, das gleichzeitig dazu beiträgt, auf der Ebene der Identität Anschlüsse zu sichern. Die implizite Seite biographischer Identität, die nur ansatzweise reflexiv verfügbar ist, kommt möglicherweise am ehesten dem entgegen, was Dux „innere Natur“ nennt. Neben dem, was hier als „soziale Körperlichkeit“ zu berücksichtigen wäre, wären auch die Formen neuronaler Strukturierung des Erfahrungsgedächtnisses in Rechnung zu stellen, auf die die Neurobiologen verweisen. Von soziologischer Seite allerdings wäre darauf zu beharren, dass es sich auch bei der Rekonstruktion impliziter Identität um eine Interpretation zweiter Ordnung handelt, die immer schon auf eine sinnstrukturierte Realität des Biographieträgers rekurriert, wie rudimentär und wenig elaboriert diese auch sein mag. „Verstehen“ bleibt eine Grundlagenkategorie der Identitätstheorie. Biographische Identität kann auch zusammenbrechen oder „beschädigt“ werden (Goffman 1975). Der anti-normative Affekt vieler Identitätskritiker verkennt die normative und evaluative Dimension der sozialen Basis von Identität im Sinne des Sollens und Wollens (vgl. Schimank 1996, S. 247). Das bedeutet nicht, von einem harmonistischen Modell „gelungener“ Identität auszugehen. Die Messlatten des Scheiterns oder der Beschädigung von Identität sind sozial und historisch variabel und können daher nicht ein für allemal oder für alle sozialen Bereiche gleichermaßen bestimmt werden. Sie können allerdings in formaler Hinsicht bestimmt werden. So wäre vom „Zusammenbruch“ von Identität dann zu sprechen, wenn eine Person sich in bestimmten Teilen ihrer Vergangenheit und Gegenwart im Wortsinn nicht mehr „wiedererkennt“, d.h. sich nicht mehr als die Person „weiß“, die dies oder jenes getan hat. „Beschädigung“ von Identität im Goffman’schen Sinne wäre die ständige Notwendigkeit zur Täuschung, die aber von der Person selbst nicht von einer höheren Warte aus entproblematisiert werden kann, weil sie zu den von der Person selbst anerkannten Normen oder Werten in extremem Widerspruch steht. Subjektiv mehr oder weniger gelingende Entproblematisierungen findet man – zumindest für eine gewisse Zeit – sicherlich in Fällen politisch oder aus Liebe motivierter Täuschung, wobei dann auf Prinzipien rekurriert wird, die soziale Normierung zumindest zeitweise außer Kraft setzen. Also nicht der Widerspruch gegenüber sozialer Normierung per se beschädigt Identität, sondern
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der dauerhafte Widerspruch zu Normen und Werten, die man selbst akzeptiert. Gerade diese soziale Grundlegung der normativen und evaluativen Basis von Identität macht einen wichtigen Aspekt ihrer „Realität“ aus. Beispiele des Zusammenbrechens und Versuche der „Reparatur“ beschädigter Identität unterstreichen – kontrafaktisch – den „realen Status“ dieser Konstruktion, ohne dass dabei notwendig auf biologische Begrifflichkeiten rekurriert werden müsste. Biographische Identität manifestiert sich in expliziten oder impliziten Formen verzeitlichter Selbstthematisierung: über Deutungen, Verweise, Bewertungen, über das, was erzählerisch bzw. darstellerisch selegiert wird und damit implizit auch über das, was ausgeblendet bleibt. Für die Herstellung von zeitlichen und sachlichen Zusammenhängen, also von Kontinuität und Kohärenz, sind biographische Erzählungen ein unverzichtbares Mittel (vgl. Schütze 1987; Linde 1993; Wohlrab-Sahr 2001). An ihnen ist Identität zu erkennen, und über sie wird Identität hergestellt. Biographische Erzählungen oder Formen biographischer Thematisierung (z.B. „Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn...“) stellen ein wesentliches Element der Versprachlichung des Interpretationsvorganges dar, der für Identitätsbildung konstitutiv ist. Wenn man aber die Bedeutung des „Erfahrungsgedächtnisses“ ernst nimmt, sind gerade Formen der Erhebung und Interpretation von Bedeutung, die dem Ausdruck des Habituellen und Impliziten Raum geben und sich nicht primär auf explizite subjektive Theorien stützen. Identität enthält immer Spuren der – erlittenen oder selbst geschaffenen – Kontingenz ihres Zustandekommens. Auch wenn sie einen Organisationsprozess darstellt und das Subjekt seine Kontur durch die Art des Selegierens, Organisierens und der Relevanzsetzung in der Konfrontation mit äußeren Realitäten schafft, gibt es gleichzeitig einen Verweisungshorizont von Optionen und Handlungsmodi, die im Verlauf eines Lebens nicht „gewählt“ oder durch externe Prozesse verunmöglicht wurden. Allerdings bleibt vieles davon implizit und wird erst in Krisen explizit gemacht. Zur Feststellung der „Realität“ von Identität gehört eine Rekonstruktionsarbeit, die diesen Verweisungshorizont des „auch möglich Gewesenen“ mit in Betracht zieht.13
13 Dieser Gedanke, der an den Begriff der Appräsentation bei Husserl anschließt und auch in die Soziologie Luhmanns Eingang gefunden hat, ist methodisch meines Erachtens am deutlichsten in der Sequenzanalyse der Objektiven Hermeneutik umgesetzt (vgl. Oevermann 2000).
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Schluss In diesem Text wurde versucht, Überlegungen zur „Realität“ des Subjekts in ein soziologisches Modell biographischer Identität einmünden zu lassen, das diese als formale „Struktur“ begreift, ohne deren Herausbildung an die Bewältigung eines bestimmten Problems rückzubinden. Jede Art der Bestimmung – so mein Ansatzpunkt – wäre selbst schon als spezifische und damit zu erklärende Ausgestaltung einer solchen formalen Struktur zu betrachten, aber nicht ihrerseits als Merkmal von Identität an sich anzusehen. Dies schließt an Konzeptionen der Selbstorganisation an, ohne freilich die Geschichte einer solchen Selbstorganisation zu vernachlässigen, die von der Person und ihrer Umwelt validiert und damit als „reale“ festgestellt wird. Für beides steht hier der Ausdruck biographischer Identität: für den situativ abgerufenen selbstreflexiven Interpretationsvorgang, aus dem heraus Identität überhaupt erst entsteht, ebenso wie für die daraus im Laufe der Zeit erwachsene Struktur, die zur bindenden „Realität“ wird für weiteres Handeln und Erleben. Neurobiologische Ansätze sind mit einem solchen Modell biographischer Identität durchaus kompatibel, insofern auch sie auf nachhaltige Strukturbildung, aber auch auf den möglichen, wenn auch im Verlauf der Zeit immer schwierigeren Umbau von Ich-Strukturen zielen. Allerdings kann ein solcher Anschluss identitätstheoretischer und neurobiologischer Perspektiven nur dann gelingen, wenn die Kategorie des „Verstehens“ als Grundlagenkategorie in die Betrachtung integriert wird.
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Das un mögli che w eibli che S ubjekt und d ie M öglichk eit en f em inist i sch er Subje kt kr it ik CORNELIA KLINGER
Da s m ä n n l i c h e S u b j e k t u n d d i e s e l b s t l o s e F r a u Zu den vielen Richtungen, aus denen das Konzept des modernen („cartesianischen“) Subjekts in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unter Beschuss geraten ist, zählt auch – und zwar durchaus an prominenter Stelle – die feministische Theoriebildung. Dass das vermeintlich universale Subjekt des Wissens, das autonome Subjekt des Handelns, nicht nur in historischer, sozialer und kultureller Hinsicht entschieden partikularer ist, als es auf den ersten Blick aussieht, dass es neben zeitspezifisch modernen, klassenspezifisch bürgerlichen und kulturspezifisch abendländischen auch noch geschlechtsspezifisch männliche Züge trägt, pfeifen mittlerweile sogar die männlichen Spatzen – wenngleich widerwillig – von den Dächern (vgl. z.B. Zizek 2001, S. 7). Kaum jemand in Sicht, die oder der bestreiten wollte: „[...] gender, and the various practices contributing to its constitution, is one of the most crucial contexts in which to situate the purportedly neutral and universal subject of reason“ (Benhabib 1995, S. 19). „[...] l’individu moderne qui émerge, vers le milieu du XVIIIe siècle, pour réclamer [...] l’instauration d’une société d’égaux [...] cet individu qui naît pour se constituer en sujet, en acteur potentiel de son histoire et de l’histoire, est exclusivement masculin“ (Gaspard 1995, S. 143). Ist das erst einmal klar und deutlich ausgesprochen, fällt allerdings auch gleich auf, dass nicht erst das moderne Subjektkonzept männliche Selbst-Herrlichkeit in ein universales Gewand kleidet. Lange bevor das sachlich-sächliche Neutrum „Subjekt“ am Horizont der abendländischen 99
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Geschichte auftauchte, als vielmehr noch vom Menschen, vom Humanum oder von der Seele die Rede war, gab es bereits ein entsprechendes quid pro quo zwischen Mensch und Mann. Die raffiniert getarnte Behauptung des Alleinvertretungsanspruchs des Allgemeinen durch das partikulare männliche Geschlecht erweist sich bei genauerem Hinsehen als Erbstück des alten Adam, jenes nach oben, zu Transzendenz und Unsterblichkeit hinstrebenden, nach unten dagegen von Immanenz und Endlichkeit (und damit zugleich von Geschlecht) sich abgrenzenden Menschen-Mannes. Obwohl dessen Verortung im metaphysisch-hierarchischen Koordinatensystem zwischen Gott und Tier, Geist und Körper, Form und Materie im Prozess der Moderne seine Geltung verliert, bleibt die alte Gleichung zwischen dem All-Einen und dem Männlichen erhalten. Die hierarchisch strukturierte Geschlechterordnung war stabil genug, einen tief greifenden Epochenwandel zu überstehen. Mag der Aufstieg des Subjekts in der Moderne auch ein einzigartiges Novum darstellen: Sobald der Blick auf das Geschlechterverhältnis (und andere Herrschaftsverhältnisse) fällt, kommt unter der blitzblanken Tabula rasa des radikalen Neubeginns der Staub der Jahrhunderte zum Vorschein. Ganz gleich, ob nun der zwischen Gott und Tier sich verortende Mensch-Mann oder das säkulare, neutrale Subjekt den Schauplatz beherrscht, in jedem Fall problematisch ist der Status der Frau. Sie steht im Zwielicht zwischen beiläufig-beliebiger, zurückgesetzt-randständiger Zugehörigkeit und strikter Exklusion, schillernd zwischen Gefährdung und Gefährlichkeit. Zu Zeiten, als es noch eine Seele gab, war fraglich, ob die Frau eine Seele hat, und das Problem, „ob die Weiber Menschen seyn oder nicht“ (Gössmann 1988, Bd. 4), hat die Gelehrten beunruhigt und ihre Konzile beschäftigt (vgl. Fraisse 1989, S. 143). Mehrheitlich wurde die Frage nach dem Mensch-Sein der Frau bejaht; Theologen und Philosophen haben eine Art Zwischenlösung gefunden zwischen radikalem Ausschluss und vollständiger Anerkennung. Das Rätsel der weiblichen Identität löst sich in der funktionalen Relation zum Mann. Nur so lässt sich beispielsweise für Thomas von Aquin die Existenz der Frau überhaupt rechtfertigen: „Es war notwendig, dass das Weib ins Dasein trat [...] als die Gehilfin des Mannes; zwar nicht als Gehilfin zu einem [andern] Werke als dem der Zeugung [...], da ja der Mann zu jedem sonstigen Werke eine bessere Hilfe im andern Manne findet als im Weibe [...]“ (1941, S. 36). Freilich haben sich die bürgerlichen Ehemänner das Leben mit ihren „troublesome helpmates“ behaglicher eingerichtet, als der Dominikanermönch Thomas sich das vorgestellt hat. Jedenfalls ist die Liste der Pflichten, die Jean-Jacques Rousseau für die „besseren Hälften“ zusammenstellt, um einiges länger:
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„[...] toute l’éducation des femmes doit être rélative aux hommes. Leur plaire, leur être utile, se faire aimer et honorer d’eux, les élever jeunes, les soigner grands, les conseiller, les consoler, leur rendre la vie agréable et douce, voilà les devoirs des femmes dans tous les temps, et ce qu’on doit leur apprendre dès leur enfance“ (1969, S. 703).
Aber ganz gleich wie eng oder weit die weibliche Gehilfenschaft angelegt sein mag, klar ist und bleibt: „Das Weib existiert nicht für sich“. Die Frau ist weder in genau demselben noch in einem ganz anderen, aber ebenbürtigen Sinne Mensch wie der Mann, sie ist lediglich „la femelle de l’homme“ (S. 695), das Weibchen des Mannes, der sich selbst nur gelegentlich, in einigen wenigen Momenten, als Mann, als männliches Geschlechtswesen auf dieselbe Ebene herablässt wie die Frau – „[...] le mâle n’est mâle qu’en certains instants“ (S. 697) – und sich ansonsten mit Geist und Vernunft, eben mit dem Mensch-Sein in einem höheren Sinne identifiziert. Aus einer männlichen Perspektive hat sich eigentlich nie die Frage gestellt, wer oder was die Frau ist, als vielmehr, wozu die Frau da ist, wozu sie dient und nützt: „A functionalist attitude to women pervades the history of political thought“ (Okin 1979, S. 10). Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass die Frage nach der weiblichen Identität für Frauenbewegung und Feminismus im 20. Jahrhundert zu einer regelrechten Obsession wird: „Some of the most important questions in contemporary feminist theory concern the meaning and significance of identity, and the relationship between identity and difference [...] what does it mean to ,be‘ a woman [...]? What does it mean to be identified as a woman, to identify oneself as a woman, to identify with women, and to identitify a category of women?“ (Weir 1996, S. 1).
Obwohl das Projekt der Moderne auch dieses qua Geburt zugeschriebene Dienstbarkeitsverhältnis ins Wanken bringt, bleibt der Subjektstatus der Frau prekär. Frauen haben allen Grund zu fragen, ob sie mitgemeint sind und oder nicht, wenn vom Menschen oder vom Subjekt die Rede ist. Gilt der Satz „alle Menschen werden Brüder“ oder „all men are created equal“ für sie mit derselben Selbstverständlichkeit wie der Satz „alle Menschen sind sterblich“? „No intention to include women can be deduced from the omission of the word male“, schreiben die obersten Richter des Bundesstaates Massachusetts immerhin noch im Jahr 1931 in ihrer Abweisung der Klage einer Frau, die unter Hinweis auf die geschlechtsneutrale Formulierung „persons“ im entsprechenden Gesetzes-
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text ihr Recht auf Zulassung zu einem öffentlichen Amt gefordert hatte.1 Während Frauen also einerseits einen auffallend langen und zähen Kampf um ihre Anerkennung als Subjekt und Person führen müssen, stellt sich andererseits die Frage, ob dieses Ziel überhaupt erstrebenswert ist, oder ob die Identifikation mit dem universalen Subjekt nicht vielmehr eine Zumutung bedeutet, eben aufgrund der faktisch nun einmal gegebenen männlichen Prägung der angeblich geschlechtsneutralen Subjektposition: „While remaining myself, I must at the same time transform myself into that abstract and ,universal‘ subject for whom cultural artifacts are made and whose values and experiences they express. The subject is not universal at all, however, but male. Thus, I must approve of the taming of the shrew, laugh at the mother-in-law or the dumb blonde, and somehow identify with all those heroes of fiction from Faust to the personae of Norman Mailer and Henry Miller, whose Bildungsgeschichten involve the sexual exploitation of women“ (Bartky 1990, S. 26).
Zwischen diesen beiden Polen verläuft der Zwiespalt, der Frauenbewegung und feministische Theorie von Anfang an begleitet, um nicht zu sagen, verfolgt: Auf der einen Seite steht die Forderung nach Gleichheit, auf der anderen das Postulat der Differenz. In der einen Richtung wird die Mensch- bzw. Selbstwerdung der Frau, also die Anerkennung ihres gleichen Anspruchs auf den Status eines mündigen, selbstverantwortlichen und selbsttätigen, kurzum autonomen Subjekts gefordert. Dabei behält die Vorstellung eines neutralen, der Geschlechtlichkeit gewissermaßen vor- oder übergeordneten Mensch- bzw. Subjekt-Seins Geltung; nur ihre Einlösung, ihre Anwendung und Ausdehnung auf das weibliche Geschlecht wird reklamiert. Der andere Weg geht von einer irreduziblen Dualität der Geschlechter aus und klagt die Anerkennung der weiblichen Eigenart und Eigenständigkeit ein. Im Konzept des neutralen Subjekts oder des allgemein Menschlichen wird kein erstrebenswertes Ideal mehr gesehen, keine die Geschlechterdifferenz übergreifende, allgemeingültige Idee, die der durch seine gesellschaftliche Position privilegierte Mann zu Unrecht für sich beansprucht und okkupiert hätte, sondern die Idee selbst erscheint als korrumpiert, nämlich als männlich geprägt, als einseitig, eindimensional, ja vielleicht gar als durch bestimmte Sozialpathologien kontaminiert, die mit der männlichen Macht- und Herrschaftsposition unvermeidlich verbunden sind. Dabei ist es gerade das spezifisch moderne Subjektkonzept, das ins Visier der Kritik gerät. 1
Commonwealth vs. Welosky, 276 Mass. 398; cert. denied, 284 U.S. 684 1932, zitiert nach Okin 1979, S. 251.
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Bevor der möglicherweise überhaupt nicht entscheidbare Streit zwischen den beiden Richtungen entschieden worden wäre und jedenfalls ohne dass es gelungen wäre, entweder genau denselben oder einen ganz anderen Status für Frauen als Akteurinnen in allen Bereichen der Gesellschaft vollständig durchzusetzen, hat die Debatte eine neue Wendung genommen. Auf einmal sieht sich die feministische Theorie mit dem gleichen Vorwurf konfrontiert, den sie bis dahin selbst erhoben hat. Hatte sie den Universalitätsanspruch des weißen, bürgerlich-abendländischen, männlichen Subjekts als ebenso unwahr wie unterdrückerisch zurückgewiesen, so stellt sich nun heraus, dass die Konstruktion des Subjekts Frau ihrerseits der Konstruktionsregel des universalen Subjekts der Moderne folgt. „In beginning the scientific reconstruction of the world from their own standpoint, women must draw on the experiences of all women [Hervorhebung C.K.]“ (Jaggar 1988, S. 387), hatte anfangs die hoffnungsfrohe und wohlmeinende Devise gelautet, die sich nun dieselbe Art von Kritik gefallen lassen muss wie jeder andere Universalitätsanspruch auch, denn alsbald „[...] zeigte sich, dass in einem Gutteil der theoretischen Ansätze der Frauenforschung, die beanspruchten, die Lebensverhältnisse und Erfahrungen von Frauen zu analysieren, die Erfahrungen bestimmter Gruppen von Frauen (weiße, heterosexuelle Frauen der Mittelschicht) verallgemeinert worden waren. [...] das ‚Erbe der Väter‘ in Gestalt universalisierender, ahistorischer Theorien schlug hier zu Buche“ (Knapp 1995, S. 64).
Die bestechend einfache Rechnung lautet: jede Subjektposition, jede Selbstsetzung und Selbstbehauptung grenzt sich von einem Anderen ab, grenzt ein Anderes aus, produziert Ausschlüsse, stellt Über-/Unterordnungsverhältnisse her. Ganz gleich, ob diese vielleicht allzu simple Regel wirklich stimmt oder nicht (Zweifel daran sind durchaus angebracht): In der Folge erweitert sich der Blick, der zunächst auf die Andersheit und Ausgeschlossenheit des weiblichen Geschlechts gerichtet war, auf andere Andere und schärft sich für andere Arten von Ausschlüssen. Der Einspruch gegen den prätendierten Universalismus der Subjektposition wird nicht mehr im Namen eines partikularen Subjekts (Frau) erhoben, sondern die Kritik am Universalismus wird gewissermaßen selbst universal. Der feministische Diskurs wird „aware of everything which had previously been constructed as ‚other‘ than the global and totalitarian knowing rational subject“ (Braidotti 1991, S. 7). Für die Frage nach der Subjektstellung der Frau und nach einer weiblichen Identität bedeutet das: „Once essential and universal man dissolves, so does his hidden companion, woman. We have, instead, myriads of women li103
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ving in elaborate historical complexes of class, race, and culture“ (Harding 1987, S. 284f). Wenn dieser Schritt einen Fortschritt darstellt, so liegt er in der Auflösung des dem Geschlechterverhältnis aufgezwungenen und zwanghaften Dualismus des Einen und Anderen, des Universalen und Partikularen, in dessen Entweder-Oder-Falle auch noch jede Opposition tappt, solange sie dem Muster von Gleichheit vs. Differenz folgt und so den trügerischen Dualismus widerspiegelt und weiterträgt, statt ihn hinter sich zu lassen. Aus diesem Dilemma führt die neuere Wendung der Diskussion heraus. Ob jedoch die Erlösung von der Dichotomie tatsächlich zur Auflösung des Rätsels der prekären weiblichen Identität beiträgt bzw. zu einer Bewältigung der Gerechtigkeitsprobleme im Geschlechterverhältnis, bleibt dahingestellt. Es fällt schwer abzusehen, welche Vor- und Nachteile, welcher Gewinn oder Verlust sich aus den neuerdings mit so großer Beflissenheit propagierten Experimenten mit nomadischen Subjekten, flüssigen und fraktalen, multiplen und flexiblen Identitäten für die Frauen ergibt. Und zwar nicht etwa weil es zu früh wäre, diese Frage zu beantworten, sondern im Gegenteil, weil es zu spät sein könnte, sie zu stellen. Denn mit der Auflösung des Geschlechterdualismus scheint sie ihren Bezugspunkt zu verlieren. Kaum noch wage ich, die Frauen beim Namen zu nennen, geschweige denn in ihrem Namen zu sprechen; an „die Frau“ gar im allseits verpönten Singular ist ohne Anführungszeichen überhaupt nicht mehr zu denken. Dass daraus jeder Theorie und Praxis, die auf die Verbesserung der gesellschaftlichen Situation von wem? Frauen? zielt, Probleme erwachsen, liegt auf der Hand.
Der Tod des Subjekts und die Dethematisierung v o n He r r s c h a f t s v e r h ä l t n i s s e n Kaum aus dem Schatten des Mannes herausgetreten und in seiner Eigenständigkeit sichtbar geworden, scheint das Kollektivsubjekt Frau diesen mühsam erkämpften Status wieder zu verlieren, droht oder lockt die „Dethematisierung“2 der Kategorie Geschlecht – und das, obwohl Geschlecht nach wie vor, ja eigentlich kaum weniger als zuvor, ein wesentliches Kriterium darstellt für die Verteilung von sozialen/ökonomischen Vor- und Nachteilen, ebenso wie von politischem Vor- und Nachrang (Macht und Ohnmacht). Die Kategorie Geschlecht bildet weiterhin einen wichtigen Faktor der Sozialstruktur, konkret „eine dominante gesell-
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Diesen handlichen Terminus leihe ich mir von Ursula Pasero (1995), allerdings ohne mich auf ihre Thesen zu beziehen.
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schaftliche Ungleichheitskategorie“ (Engle 2000, S. 153). Die Statistiken sprechen diesbezüglich eine klare Sprache. „[...] in den Zentren der Macht und des Einflusses, in den Führungspositionen von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik [...] hat die Bewegung [i.e. die Frauenbewegung, C.K.] die männliche Dominanz und die soziostrukturelle Benachteiligung von Frauen nicht brechen können, hier liegt die Männerquote nach wie vor bei 97 Prozent“ (Gerhard 2000, S. 17).
Mag die neuerdings gewonnene Einsicht in die Überschneidungen der Kategorie Geschlecht mit anderen Kategorien wie Klasse und Rasse/ Ethnie zur Destabilisierung des Kollektivsubjekts Frau und zur Desorientierung feministischer Theorie und Politik beitragen, so zeigt gerade der Blick über den Tellerrand der Kategorie Geschlecht hinaus auf Klasse und Rasse/Ethnie, dass diese das seltsame Schicksal des Verschwindens ihrer Stellung als soziale Kollektivsubjekte bei gleichzeitiger Fortdauer der damit verknüpften gesellschaftlichen Problematik teilen. Die „Dethematisierung“, um nicht zu sagen der „Tod“ des Konzepts Klasse wird zeitlich weiter zurückdatiert: „[...] class died somewhere between the beginning of the twentieth century and the end of the Great Depression [...] In the contemporary period of history, the class paradigm is intellectually and morally bankrupt“ (Pakulski und Waters 1996, S. 25). Wenn trotzdem das Gespenst der toten Klasse nicht aufhört umzugehen, und das nicht nur in Europa, dann liegt das in erster Linie daran, dass „[a]uf der Makroebene der empirisch überprüfbaren Ressourcen-Verteilung [...] von objektiver Klassenlosigkeit keine Rede sein [kann], also davon, dass der soziale Zugang zu materiellen [...] und nicht-materiellen [...] Wohlfahrtsgütern von der jeweiligen sozialstrukturellen Lage [...] abgekoppelt sei [...]. Vielmehr ist auch weiterhin eine negative Determinationskraft der Sozialstruktur im Hinblick auf die Realisierung sozialer Chancen zu unterstellen“ (Bittlingmayer und Kraemer 2001, S. 279).
Unter dem Vorzeichen der Globalisierung scheinen sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten soziale Ungleichheit und Klassenunterschiede sogar (noch oder wieder) weiter zu verschärfen. Aufgrund dieser Diskrepanz zwischen fortbestehender bzw. sich fortschreibender und möglicherweise fortschreitender sozialer Ungleichheit bei gleichzeitig verschwimmendem Klassenbegriff ist vom unbegriffenen Phänomen eines „Kapitalismus ohne Klassen“ (Beck 1986, S. 117; Berger 1987, S. 80) die Rede.
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In anderer, aber durchaus vergleichbarer Weise herrscht in der aktuellen Diskussion Verwunderung über einen „Rassismus ohne Rassen“ (vgl. z.B. Balibar und Wallerstein 1990, S. 28; Rieger 1995, S. 502). Ethnische Unterschiede sind nach wie vor Kristallisationspunkt sowohl krasser sozialer Missstände und Missverhältnisse als auch eklatanter politischer Ungleichgewichte und zwar als Wohlstands- und Machtgefälle zwischen Zentrum und Peripherie auf Weltmaßstab, im postkolonialen „Weltsystem“ und damit verbunden als Migrationsproblem zwischen Peripherien und Zentren und schließlich als Minderheitenproblem innerhalb des Nationalstaats. Dennoch zeigt sich die gleiche Tendenz zur Dethematisierung, die allerdings auch in diesem Fall nicht unwidersprochen bleibt: „[…] it is now often conservatives who argue that race is an illusion. The main task facing racial theory today, in fact, is […] to argue against the recent discovery of the illusory nature of race; against the supposed contemporary transcendence of race; against the widely reported death of the concept of race; and against the replacement of the category of race by other, supposedly more objective, categories like ethnicity, nationality, or class. All these initiatives are mistaken at best, and intellectually dishonest at worst“ (Winant 1999, S. 181).
Die skizzierten Parallelen zwischen Klasse, Rasse und Geschlecht erlauben es, in Analogie zu Kapitalismus bzw. Klassenherrschaft ohne Klassen und zu ethnischer/rassischer Ungleichstellung bzw. Rassenherrschaft ohne Rassen, nun auch von Geschlechterherrschaft bzw. Männerherrschaft ohne Geschlecht(er) zu sprechen. Die drei Kategorien durchlaufen früher (wie im Fall von Klasse) oder später (im Fall von Rasse und Geschlecht) ähnliche Entwicklungen der Dethematisierung. Es liegt nahe, den Widerspruch zwischen Verschwinden und Fortbestand, den alle drei Kategorien aufweisen, durch Unterscheidung nach Hinsichten aufzuklären. Die Hypothese lautet: Die Todesanzeigen von Klasse, Rasse und Geschlecht betreffen ausschließlich die subjektive Dimension, wohingegen in objektiver Hinsicht in allen drei Fällen gravierende Ungleichheitsrelationen bestehen bleiben. Was heißt das? Wenn wir uns auf der Suche nach einer Antwort zunächst die subjektive Dimension ansehen, dann werden, der Auffächerung des Wortfeldes in Subjekt, Subjektivierung und Subjektivität entsprechend, drei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Ebenen sichtbar: • Auf der symbolischen oder semantischen Ebene, d.h. in den gesellschaftlichen und theoretischen Diskursen, findet die Konstituierung des Subjekts statt. Obwohl die Situierung des Subjekts nach Klasse, 106
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Rasse und Geschlecht eine Partikularisierung des universalen Subjekts bedeutet, werden die Kollektivsubjekte Klasse, Rasse und Geschlecht jedes für sich nach dem Modell des universalen Subjekts gedacht. Diesem Muster folgen sie auch darin, dass sich alle drei Subjektkategorien jeweils in zwei hierarchisierte Positionen polarisieren, die sich als oben/unten, innen/außen, Eines/Anderes gegenüberstehen: Klasse zerfällt in Kapital und Arbeit, Rasse in weiß und schwarz, Geschlecht in Mann und Frau.3 Auf der Ebene der Sozialstruktur und -topologie, d.h. in den gesellschaftlichen Institutionen (Arbeit/Beruf, Familie, Staat/Nation) und ihren Räumen werden diese Konzepte realisiert, personalisiert, „gelebt“; hier findet Subjektivierung im engeren Wortsinn statt: Die Individuen werden den Subjektkategorien zu- bzw. untergeordnet. Da die Sozialstruktur ebenso hierarchisch verfasst ist wie die semantische Dimension, erlangen die Individuen auf diese Weise entweder den Status von Personen, oder sie werden von diesem Status ausgeObwohl die Anzahl von Klassen und Völkern bzw. Ethnien eine völlig offene Frage ist und auch die Anzahl von Rassen traditionell zwischen vier und fünf schwankt, zeigt sich, wenn es darum geht, diese Konzepte zum Zweck von Ordnungs- und Herrschaftsbildung zu operationalisieren, eine ähnliche Tendenz zur Reduktion auf zwei, wie sie im Fall von Geschlecht als natürlich erscheint: „State and social policies organized along a Black-White binary required individuals and groups to be placed in one category or the other“ (Glenn 2000, S. 7). Aber nicht nur zur Begründung, sondern auch zur Infragestellung von Herrschaftsordnungen scheint die Reduktion auf ein binäres oben/unten-, innen/außen-Schema günstig zu sein. Mit Genugtuung konstatieren Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ die Reduktion der unübersichtlichen Menge von Klassen auf zwei: „Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich [...] dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat“ (Marx und Engels 1983, S. 463). In allen Relationen findet eine Dramatisierung zur Wir-Sie-Opposition und damit zu einer binären Struktur statt. „Der Code ,wir und sie‘ (oder innen und außen) funktioniert ähnlich exklusiv wie die Geschlechterdifferenz [...]“ (Leggewie 1994, S. 53). Oder umgekehrt – ist diese duale Logik einmal erkannt, erscheint die Geschlechterdifferenz als wir-sie-Code wie alle anderen, steht ihre „natürliche Gegebenheit“ infrage. Obwohl die Dualisierungsfalle bei der Kategorie Geschlecht besonders leicht zuschnappt, handelt es sich auch in diesem Fall um eine politische Operation, die eine Ordnung herstellt; von Natur aus ist der Bimorphismus der Geschlechter keineswegs vorgegeben: „Even at the level of biological difference, the basis for a binary division between men and women does not exist. There is no criterion which allows the human race to be devided into two exclusive sexes, and the common sense arguments behind the division collapse on examination“ (Bryson 1999, S. 49).
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schlossen. Die duale Spaltung der symbolisch-semantischen Ebene setzt sich in soziale Ungleichheitsrelationen um, die vor allem durch rechtliche Ausschluss- bzw. Einschlussmechanismen hergestellt werden. Daran schließt die Ebene der Subjektivität im engeren Sinne an, d.h. die Sphäre des individuellen Bewusstseins, der je einzelnen Erfahrung, Empfindung und Befindlichkeit. Werden Klasse/Rasse/Geschlecht durch Subjektivierung personalisiert, so werden sie hier individuiert und inkorporiert, verinnerlicht und einverleibt; sie werden jeweils zur Instanz je-meiniger psycho-physischer Identität (ich) und unmittelbarer gemeinschaftlicher Bindung bzw. Solidarität (wir).
In diesen drei Hinsichten zeigen alle drei Kategorien zum gegenwärtigen Zeitpunkt zumindest Tendenzen der Auflösung, die auf Entsubjektivierung oder Depersonalisierung hinauslaufen. Es steht aber weiterhin die Vermutung im Raum, dass die Dethematisierung von Klasse, Rasse und Geschlecht weder aus der Bewältigung der Ungleichheitsproblematik resultiert, noch umgekehrt zu ihrer Bewältigung wesentlich beiträgt. Es ist vielmehr anzunehmen, dass sich die Strukturen, in denen Ungleichheitsrelationen und Ungleichverteilungen (re)produziert werden, aus der Subjektdimension in die Objektdimension, in die Funktionsmechanismen und Funktionszusammenhänge verlagert haben. Es findet eine Versachlichung von Macht, eine Rationalisierung von Über- und Unterordnungsverhältnissen statt. Damit ist ein Sichtbarkeitsverlust verbunden, der als Dethematisierung imponiert. Diese Hypothese erscheint nicht zuletzt deswegen plausibel, weil eine solche Entwicklung nicht neu ist.
Di e E m a n z i p a t i o n d e r M a c h t u n d d i e w a c h s e n d e Un g l e i c h h e i t z w i s c h e n t o t e n S u b j e k t e n Als Vorgang der Depersonalisierung und Versachlichung von Macht und Herrschaft wird bereits der Weg von der traditionalen zur modernen Gesellschaft im Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung bzw. im Wechsel von Sozial- zu Systemintegration beschrieben. Diese Entwicklung stand am Beginn der Moderne. Sie ergab sich aus der Konvergenz technologischer Fortschritte und gesellschaftlicher Innovationen, die zusammen zu einer Erweiterung der Kommunikationskreisläufe führten, die den Rahmen personaler Relationen sprengten. Damit war Befreiung verbunden: Die Ausdifferenzierung der Ökonomie, die Entstehung des Marktes und sein Medium Geld schafften Entlastung von bedrückender leibeigener Dienstbarkeit. Mit dem Ende personaler 108
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politischer Herrschaft im Demokratisierungsprozess ging eine Entfernung (von) der Knute des Herrn einher. In diesem Zusammenhang verblasste die Sublimation und Legitimation von Herrschaft in der Vorstellung eines personalen Herr-Gottes. Dieser grundlegende gesellschaftliche Wandel hat ein regelrechtes „Anspruchsfeuerwerk“ (Beck 1996, S. 60) entfacht, indem er den modernen Ideen des von den Funktionszusammenhängen der Gesellschaft freigesetzten, autonomen, universalen Subjekts bzw. der Gleichheit aller Subjekte eine reale Basis gegeben hat. War die Entstehung dieser Ideen gesellschaftlich bedingt, so gingen sie über ihren Entstehungshorizont weit hinaus; sie verselbstständigten sich und entfalteten ein kritisches Potenzial, das seither nicht aufgehört hat, auf die gesellschaftliche Entwicklung Einfluss zu nehmen und seinerseits zur weiteren Depersonalisierung der sozialen Funktionszusammenhänge beizutragen. Denn eine fortschreitende Versachlichung bildete und bildet auch weiterhin eine wesentliche Voraussetzung für die fortschreitende Modernisierung der modernen Gesellschaft. Trotzdem war die Versachlichung der gesellschaftlichen Strukturen und Abläufe, wie sie am Beginn des Modernisierungsprozesses eintrat, keineswegs gleichbedeutend mit dem Ende der Macht, mit der Abschaffung von Herrschaft schlechthin. Diese Entwicklungen weckten die Hoffnung der Aufklärung auf Freiheit und Gleichheit, aber sie erfüllten sie nicht. Aus der Befreiung von alten personalen Verhältnissen entstand zwar ein Freiheitseffekt, aber das moderne, ausdifferenzierte Funktionssystem blieb angewiesen auf Subjekte als Träger im Allgemeinen und im Besonderen auf ungleich positionierte und situierte Subjekte. Unfreiheit und Ungleichheit war kein unliebsames Erbe des ancien régime, das, aus welchen Gründen auch immer, noch eine Weile überständig wie ein fossiles Relikt in die Moderne hineinragt, um nach und nach von selbst abzusterben. Die Ausdifferenzierung der Funktionen übersetzte sich weder in die Entlassung des autonomen Subjekts aus dem System noch in die Gleichheit aller Subjekte, sondern langfristig gesehen in einen immer vollständigeren Sieg des Systems über das Subjekt und zunächst in eine Ausdifferenzierung alter Über- und Unterordnungsverhältnisse in die neuen Kategorien von Klasse, Rasse und Geschlecht. Gewiss hat es soziale Hierarchien, Ungleichheitsrelationen zwischen Herrn und Knechten, Freien und Sklaven, Männern und Frauen schon früher gegeben, aber erst im Modernisierungsprozess entwickelten Klasse und Geschlecht infolge der Trennung zwischen gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion im Industrialisierungsprozess jeweils eigene Gesetzlichkeiten, während die Kategorie Ethnie/Rasse ihre Konturen vor allem aus der Entstehung des Nationalstaates und der Expansion der westlichen Nationalstaaten im Kolonisierungsprozess gewann. Wie 109
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frühere Formen gesellschaftlicher Organisation, die ihr nicht bloß zeitlich vorausgegangen sind, sondern die sie auch strukturell voraussetzte, an die sie anknüpfte, hat die moderne Gesellschaft Über- und Unterordnung zwischen ihren Akteuren erzeugt. Diese Verhältnisse differenzierten sich im Zuge des Modernisierungsprozesses aus. Damit entstanden zugleich komplexe Interdependenzen zwischen ihnen, die bis heute noch weitgehend unverstanden sind, nicht zuletzt, weil Klasse, Rasse und Geschlecht jeweils für sich als bipolares Herrschaftsverhältnis missverstanden wurden. Allerdings besteht zwischen den Erfordernissen der Ausdehnung des gesellschaftlichen Verkehrs über die Reichweite personaler Relationen hinaus und der persistierenden Notwendigkeit sozialer Ungleichheit eine Diskrepanz, die sich nicht überbrücken, sondern nur dynamisieren lässt. Seit Beginn und im Verlauf des 20. Jahrhunderts gewinnt die Dynamik der Ausdehnung der Funktionszusammenhänge der Gesellschaft Oberhand; damit schreitet die „Anonymisierung der Macht, das heißt ihre Ablösung von einem zur Herrschaft legitimierten und begrenzten Kreis von Personen“ (Plessner 1981, S. 279) weiter fort. Diese Entwicklung betrifft das Subsystem Wirtschaft wieder ebenso wie das Subsystem Politik: Der „Emanzipation des Eigentums vom Eigentümer [...] entspricht die Emanzipation der Macht vom Machthaber“ (S. 279). Wenn ökonomische und/oder politische Macht sich vom Machthaber emanzipiert, erscheint Herrschaft „als semipersonale Kategorie mit einer Leerstelle auf der Subjektseite“ (Hilger 1982, S. 86). Die neue Etappe im Versachlichungsprozess der Macht beginnt also bei der im antagonistischen Schema aller drei Kategorien jeweils als „oben“ lokalisierten Position. Die Figuren des Zigarre rauchenden Kapitalisten, des Peitsche schwingenden Sklavenhalters, des Frau und Kinder unterjochenden Patriarchen verschwinden von der Bildfläche. Das „Herrschaftssubjekt“ wird abstrakt, aber „ohne parallele Depersonalisierung auf der Objektseite“ (S. 85). Kurzum: „[T]he rulers have ceased to rule, but the slaves remain slaves“ (Anderson 1992, S. 280). Das Phänomen von Herrschaft ohne Herrschaftssubjekt (Klassen-, Rassen-, Geschlechterherrschaft ohne Oberklasse, Herrenrasse, Männer) geht mit einer Reduzierung des Begründungsbedarfs einher. Ohne sichtbares Herrschaftssubjekt scheint niemand die bestehenden Ungleichheitsrelationen deklarieren, erklären, begründen, rechtfertigen zu können oder zu müssen, bzw. niemand scheint sie zu wollen, zu verantworten oder von ihnen zu profitieren. Es gibt keinen oder jedenfalls keinen als gültig anerkannten Diskurs mehr, der Klasse/Rasse/Geschlecht im Sinne der wissenschaftlichen bzw. pseudo-wissenschaftlichen Klassen-, Rassen- und Geschlechtertheorien des 19. Jahrhunderts konzeptualisiert. 110
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Auf diese Weise kann Ungleichheit zwischen Klassen, Rassen und Geschlechtern, der Vorrang, die Herrschaft einer Klasse, einer Rasse oder eines Geschlechts über die oder das jeweils andere nicht mehr aus einem höheren (göttlichen oder natürlichen) Gesetz abgeleitet und mit einem tieferen gesellschaftlichen oder kulturellen Sinn/Wert versehen werden. Insoweit als ihr Angriffspunkt zugleich auch ihr Bezugspunkt ist, verlieren zusammen mit den sinngebenden Legitimationsdiskursen die kritisch-emanzipatorischen Gegendiskurse teilweise ihre Grundlage. Die unten Platzierten bleiben unten, obgleich unverständlich wird, wem und wozu diese Ordnung der Dinge dient. Diese erste Facette der Dethematisierung lässt sich als Entideologisierung bezeichnen. Es trifft freilich nicht zu, dass die Sklaven Sklaven bleiben. Depersonalisierung betrifft auch die in der Klassen-, Rassen- und Geschlechterhierarchie unten Platzierten. Herrschaft verliert ihre Objekte zwar noch nicht oder wenigstens noch nicht ganz im Zuge von Entideologisierung, sondern vor allem auf dem Wege von Entsegregierung. Entsegregierung meint die langsame, aber inzwischen fast vollständige Beseitigung jener rechtlich und institutionell verankerten Ausschlussmechanismen, durch die Klassen, Rassen und Geschlechter jeweils voneinander getrennt und asymmetrisch verschiedenen gesellschaftlichen Räumen zugeordnet werden. Genauer gesagt betrifft Segregation in erster Linie die nachgeordnete Klasse oder Rasse, das nachrangige Geschlecht, die vom Recht auf Zugang und Partizipation am gesellschaftlichen Prozess aus-, dagegen auf bestimmte Funktionen und in bestimmte Sektoren eingegrenzt werden. Das Prinzip Apartheid schließt die untergeordnete Rasse in „homelands“ ein, das untergeordnete Geschlecht ins „home“, und die Abtrennung von Klassen spiegelt sich noch bis heute auf jedem Stadtplan wider, der reich und arm ohne materielle Demarkationslinie, aber treffsicher nach „Vierteln“ dividiert. Der Abbau soziostruktureller Exklusionen findet im Zuge des allmählichen Ausbaus des Rechtsstaates statt und wird durch wohlfahrtsstaatliche Elemente ergänzt. Das ist jedoch keineswegs nur ein Akt der Gerechtigkeit, vielmehr macht das Prinzip der funktionalen Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme die Auflösung der Segregierung und Hierarchisierung der Akteure notwendig, indem es verlangt, dass „[...] jeder Einzelne [...] zu jedem Funktionssystem Zugang erhalten [muss] [...] Jedes Funktionssystem bezieht die Gesamtbevölkerung ein“ (Luhmann 1981, S. 25). In den frühen Phasen des Modernisierungsprozesses konnte davon keine Rede sein; die hierarchisierende Segregation der „Gesamtbevölkerung“ nach den Kategorien Klasse, Rasse und Geschlecht stand dem entgegen. Aber im späteren Verlauf des Modernisierungsprozesses setzen sich die Tendenzen zur Entsegregierung in der Aufhebung aller formalen Ausschlüs111
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se, die Klasse, Rasse und Geschlecht polarisierend konstituieren, mehr und mehr durch. Dazu tragen auch die an den Ungleichheitsrelationen ansetzenden sozialen Bewegungen (Arbeiter-, Frauen-, Bürgerrechtsbewegungen) mit ihren Forderungen nach Einlösung der Freiheits- und Gleichheitsprinzipien wesentlich bei. In der Sphäre des individuellen Bewusstseins bewirken Entideologisierung und Entsegregierung zusammen einen Individualisierungseffekt. Infolge des Verlusts der Diskurse, welche die Subjektkategorien festlegen, ebenso wie aufgrund der Aufhebung formaler Ausschlüsse schwindet die Wahrnehmung und Erfahrung von Klassen-, Rassen- und Geschlechtszugehörigkeit als individuelles Schicksal bzw. als gemeinschaftlich geteilte Schicksalsgenossenschaft. Die Einzelnen erleben ihre Zugehörigkeit zu einer Klasse, Ethnie, Geschlecht nicht mehr als den ihre Identität determinierenden Faktor. Vielleicht sogar noch weniger erfahren sie die Sozialagenturen der Familie, der Arbeitswelt, der Nation als Grundlage ihrer Gemeinschaft und Solidarität mit anderen, die diese „Lage“ teilen – in Opposition gegen andere, die das nicht tun. Ganz gleich, ob diese Erfahrung als Befreiung erlebt oder eher als Identitätsverlust erlitten wird, geht auch von Individualisierung ein Impuls zur Dethematisierung von Klasse, Rasse und Geschlecht aus. Während das Bild, das die Systemtheorie vom Modernisierungsprozess zeichnet, die Konstituierung und Dekonstituierung von Klasse, Rasse und Geschlecht in verschiedenen Phasen der Moderne zu unscharf konturiert, verläuft dieser Prozess eher nach Plan desjenigen Modernisierungskonzepts, das zwischen erster und zweiter, einfacher und reflexiver Moderne unterscheidet: Während in der frühen Phase vorindustrielle Traditionen im Allgemeinen und vorindustrielle Herrschaftsformen im Besonderen abgeschafft, aber durch Formen ersetzt worden waren, die gleichwohl an diesen Traditionen wenn schon nicht festgehalten, so doch angesetzt haben, so werden in der Gegenwart mit den Traditionen und Gewissheiten der ersten Moderne auch die Herrschaftsformen der Industriegesellschaft, also die Kategorien Klasse, Rasse und Geschlecht zum Gegenstand von Auf- und Ablösungstendenzen (vgl. z.B. Beck 1996, S. 39f). Allerdings ist fraglich, ob die Nummerierung der Moderne in erste und zweite bzw. die Polarisierung zwischen einfacher und reflexiver Moderne nicht zumindest irreführend ist, indem sie Unterschiede, vielleicht gar Entgegensetzung akzentuiert, wo Kontinuität besteht. Technologische und gesellschaftliche Innovationen lösen einen weiteren Depersonalisierungsschub des Funktionssystems aus, eine Verselbstständigung, eine „Emanzipation der Macht“, eine Entfernung der Herrschaft, was hier nicht Beseitigung, sondern Distanzierung heißt. Indem Macht als die Fähigkeit, Wirkung zu erzielen, und Herrschaft als 112
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Relation von Befehl und Gehorsam noch um einiges unabhängiger werden von der raumzeitlichen Präsenz von Personen, wird Macht mächtiger, dehnt sich die Reichweite von Herrschaft aus. Durch „time-spacecompression“4, verbessert sich die Fähigkeit des Sozialsystems, eine Verbindung zwischen Anwesenheit und Abwesenheit herzustellen, „to ,bind‘ time and space“ (Giddens 1990, S. 14). Durch Depersonalisierung bewältigen Macht und Herrschaft aber nicht allein Kontingenz im Sinne der Bedingungen von Raum und Zeit besser, sondern sie werden zugleich unabhängiger von der conditio humana, den Zufällen der personalen Umstände, von der Willkür, den Leidenschaften und Launen, den Tugenden und Schwächen, kurzum den persönlichen Eigenschaften sowohl der Herrschenden als auch der Beherrschten. Verlängert man diese Tendenz der Perfektionierung von Macht und Herrschaft durch ihre Verselbstständigung, dann zeichnet sich die Möglichkeit eines Sieges des Systems über das Subjekt ab, das Verschwinden von Gesellschaft in einer unterschiedslosen Herrschaft des Sachzwangs über die Individuen, die darin gleich und aufgrund des Fehlens des personalen Elements von Herrschaft sogar frei bzw. ihrer Unfreiheit nicht bewusst wären. Vorerst jedoch und noch so lang, bis ausschließlich Rechner Rechnern befehlen und gehorchen, gilt, was bisher gegolten hat: Das moderne, ausdifferenzierte Funktionssystem bleibt angewiesen auf Subjekte als Träger im Allgemeinen, und trotz aller Fortschritte in der Rationalisierung von Macht und der Depersonalisierung von Herrschaft hat das System bis heute nicht aufgehört, ungleiche Subjektpositionen zu (re)produzieren und wird das voraussichtlich auch weiterhin tun. Denn zu keiner Zeit war oder ist die moderne Gesellschaft in der Lage, ihren eigenen Regeln der Äquivalenz entsprechend den Preis ihrer Produktion 4
Unter den Vorzeichen von Postmodernisierung und Globalisierung hat sich in den letzten Jahren eine interessante Diskussion um die Frage nach Veränderungen des raum-zeitlichen Koordinatensystems entwickelt. Dabei ist umstritten, ob der Übergang von der Moderne zur Postmoderne einen Sieg des Raumes über die Zeit mit sich bringt, oder ob umgekehrt der Raum unter die Vorherrschaft der Zeit gerät. Wahrscheinlicher ist eine dritte These, nach der sowohl Zeit als auch Raum eine Entwertung erfahren. Dafür hat der amerikanische Soziologe und Geograph David Harvey den inzwischen viel zitierten Terminus „time-space-compression“ geprägt. Er definiert das Phänomen so: „As space appears to shrink to a ,global village‘ of telecommunications and a ,spaceship earth‘ of economic and ecological interdependencies [...] and as time horizons shorten to the point where the present is all there is [...], so we have to learn how to cope with an overwhelming sense of compression of our spatial and temporal worlds“ (1990, S. 240). Die zunehmende Beherrschung der Bedingungen von Raum und Zeit ist ein entscheidender Faktor menschlicher Kontingenzbewältigung, d.h. eine Erweiterung von Macht und Möglichkeiten.
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zu zahlen und die Kosten ihrer Reproduktion zu tragen. Um mit diesem Mangel nicht konfrontiert zu werden bzw. um daran nicht zu scheitern, erzeugt das System Ungleichheitsrelationen – aus strukturellen Gründen. Im Zuge der Rationalisierung von Macht und Herrschaft tritt aufgrund von Entideologisierung eine Rhetorik der Sachzwänge an die Stelle ideologischer Begründungen. Solange die Ungleichheitsproblematik ungelöst bleibt, handelt es sich dabei bloß um eine verschobene, verschleierte, besonders schwer durchschaubare Form von Ideologie. Im Zuge von Entsegregierung verschiebt sich die Ungleichheitsproblematik von der klar sichtbaren, leicht skandalisierbaren Exklusion zu Formen von Benachteiligung, die mit dem herkömmlichen diskursiven und politischen (in erster Linie rechtlichen) Instrumentarium schwerer greifbar und folglich schlechter angreifbar sind. Aber „[...] neither racial oppression nor male domination have disappeared from the scene. They have [...] been fundamentally reorganized. Both operate, now, not through explicit, legally and culturally authorized systems of exclusion, but through a process of incorporation that systematically reproduces disadvantage“ (Brenner 1999, S. 308).
Für die Kategorie Klasse gilt dasselbe, mit dem Unterschied, dass hier die formalen Ausschlüsse früher beseitigt wurden, so dass auch von „death of class“ früher die Rede war. Während die verschiedenen Sozialbewegungen (Arbeiter-, Frauen-, Bürgerrechtsbewegungen) sehr erfolgreich waren und es noch sind, wenn es darum geht, die verschiedenen Erscheinungsformen von Exklusion zu attackieren, versagt ihr Instrumentarium vor dem Geheimnis, wie Inklusion Ungleichheit (re)produzieren kann, und zwar systematisch entlang aller drei Kategorien, sowohl Klasse und Rasse als auch Geschlecht, obgleich diese doch infolge weiter fortschreitender Depersonalisierung von Macht und Herrschaftsverhältnissen ihre erst im Modernisierungsprozess gewonnenen Konturen wieder verlieren. Solange dieses Geheimnis ungelüftet bleibt, tragen die respektiven Sozialbewegungen mit ihren erfolgreichen Bemühungen um eine Kritik/Dekonstruktion der Legitimationsdiskurse und um Überwindung der formalen Ausschlüsse – ungewollt – eher zur Dethematisierung als zu einer Lösung der Probleme von Klasse, Rasse und Geschlecht bei. Und das Fazit? Obwohl die fortschreitende Depersonalisierung von Macht und Herrschaft mit ihren Tendenzen der Entideologisierung, Entsegregierung und Individualisierung die Kategorien Klasse, Rasse und Geschlecht auf dem heute erreichten Stand des Modernisierungsprozesses zu destabilisieren und aufzulösen scheint, erfüllt dieser Vorgang die 114
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Hoffnungen auf Freiheit und Gleichheit genauso wenig wie zu Beginn der Moderne. Trotz Aufhebung rechtlicher Ausschlüsse (Entsegregierung) bestehen de facto massive Ungleichheitsrelationen, krasse Ungleichverteilungen von Macht, Reichtum und Einfluss fort, die trotz Individualisierung irgendwie noch immer an den alten Kategorien Klasse, Rasse und Geschlecht ansetzen, aber aufgrund von Entideologisierung nicht mehr – weder in affirmativer noch in kritischer Absicht – adäquat perzipiert, reflektiert und artikuliert werden können. Und die Zukunft? Globalisierung ist zunächst ein anderer Name für die „time-space-compression“, die zur Ermächtigung einer verselbstständigten Macht, zu einer vom personalen Herrn entfernten Herrschaft führt. Unter ihrem Vorzeichen zeichnet sich eine widersprüchliche Entwicklung ab. Auf der einen Seite trägt Globalisierung zur weiteren Auflösung der Kategorien Klasse, Rasse und Geschlecht insofern bei, als diese auf der Basis des modernen Nationalstaats entstanden sind und gestanden haben; durch Globalisierung gerät diese Basis ins Schwanken. Auf der anderen Seite lassen die seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts an Dynamik gewinnenden Prozesse der Globalisierung wieder deutlich in Erscheinung treten, was in den Grenzen des Nationalstaats, des Nationalstaatensystems zumindest (wenn auch nur mühsam) gebändigt und gedämpft zu werden schien: das politische System beruht wie eh und je auf Gewalt ebenso wie das ökonomische System auf Ausbeutung. Beides geht vom Menschen aus und greift auf Menschen zu, und es positioniert Menschen ungleich. In dieser Hinsicht besteht Kontinuität nicht nur zwischen verschiedenen Etappen in der Entwicklung der Moderne, sondern noch weit hinter sie zurück. Die Moderne dagegen, die Hoffnung geweckt hat, nicht auf eine Emanzipation der Macht vom Menschen, sondern auf die Emanzipation der Menschen von der Macht, auf eine Entfernung der Herrschaft, in der das doppeldeutige Wort nicht Distanzierung, sondern Beseitigung meint, diese Moderne hat bis zum heutigen Tag noch gar nicht begonnen.
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Das un-mög lich e Subje kt. Ein Bli ck durch die er kenntn ispolit i sch e B rille d er Cu lt ural St udie s PAUL MECHERIL
„Zu spät!“ Frantz Fanon
Die erkenntnisbezogenen und politischen Anliegen gleichermaßen verpflichtete Analyse von alltagskulturellen Praxen und Strukturen wird in der intellektuellen Tradition der Cultural Studies in einem theoretischen Denkrahmen geführt, der nicht starr und festgelegt ist, sondern sich revisionär und re-flexiv in einem Prozess stetiger Versetzung befindet. Stuart Hall hat diesen Prozess als „Ringen mit den Engeln“ bezeichnet (2000a, S. 39). Im vorliegenden Text will ich auf das Ringen der Cultural Studies mit dem Engel „Subjekt(theorie)“ eingehen. Dies soll so geschehen, dass eine Markierung des erkenntnispolitischen Problems Subjekt sichtbar wird, die sich sinnvoll ergeben kann, wenn man die Prüfung des grundlegenden Subjektverständnisses in den Cultural Studies beginnt. Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist, im Diskurs der Cultural Studies angesprochene, nicht immer aber in einem Zusammenhang bedachte Facetten jenes paradoxen Verhältnisses zu markieren, welches das Subjekt konstituiert: Die Unmöglichkeit des Subjekts ist seine Möglichkeitsbedingung. Der Text wird also eine um das Subjekt geordnete Bewegung in den Cultural Studies inszenieren, um zu einer Vorstellung des un-möglichen Subjekts zu gelangen, die im verzweigten, heterogenen und teils widersprüchlichen Feld Cultural Studies eine Position findet (der widersprochen und die verschoben werden kann). Die Bewegung erfolgt in drei Abschnitten: Identität, Wirksamkeit, Widerstand. 119
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Da s a r t i k u l i e r t e S u b j e k t ( i d e n t i t y u n d e r e r a s u r e ) „Ich bin in einer katholischen Gegend aufgewachsen. Eine meiner besten Freundinnen ging sonntags regelmäßig in die Kirche und später häufig zur Beichte. Sie sang auch im Kirchenchor. Ihr Vater war Schulleiter am Mädchen-Gymnasium und legte viel Wert auf ein vorbildliches religiöses Leben. Auf mich wirkten sie sehr fromm. Ich hatte dagegen nie die Gelegenheit, etwas Genaueres vom Christentum, von Jesus und der Bibel zu erfahren. Wodurch ich mich in der Grundschulzeit von den anderen unterschied, war auch, dass ich an ihrem Religionsunterricht nicht teilnehmen durfte. Und wenn ich schon einmal eine Kirche betrat, mit den anderen, morgens beim Schulgottesdienst, wies man mir ganz hinten in der Kapelle einen Platz zu. Zu weiteren Zugeständnissen konnte sich meine Lehrerin aus ,Gewissensgründen‘, wie sie meinte, nicht entschließen. Wie gerne wäre ich bei den übrigen Kindern gewesen! Für mich war das sehr bitter“ (aus Swietlik und Yilmaz 1996, S. 19f.).
Ayse Yilmaz’ Erinnerung gibt Zugehörigkeitserfahrungen wieder. Wie es für alltagsweltliche Darstellungen nicht unüblich ist, wird hier etwas – Erfahrungen, in denen Eigenschaften der Relation zwischen Ayse und einem sozialen Zusammenhang angezeigt werden – zum Thema, weil es problematisch geworden ist. Eingeleitet wird Ayses Darstellung prekärer Zugehörigkeit durch einen Hinweis auf Differenz, die (noch) keine Differenz auf der Ebene kultureller Handlungsweisen und die auch (noch) kein physiognomisierter Unterschied ist. Ayse sagt nicht, dass der relevante Unterschied zwischen ihr und den anderen darin bestehe, dass sie auf der Ebene von Handlung und Präferenzen kulturell „anders“ disponiert sei, noch macht sie auf eine Differenz ihrer Erscheinung im Vergleich zu den Erscheinungen der anderen aufmerksam. Der hier berichtete Unterschied besteht zunächst nur darin, dass für Ayse ein Verbot gültig ist und an ihr wirksam werden kann. Für Ayse gilt eine Einschränkung, die für die anderen nicht gilt. Dies unterscheidet und identifiziert sie. Ayses Gegenwart vergegenwärtigt das Verbot, so wie das Verbot Ayse als von den anderen Unterschiedene vergegenwärtigt. Das Verbot (be)sondert sie von dem Rest der Schulklasse. Es bugsiert und lotst sie in die Position, eine Andere zu sein, indem es sie sowohl zeitlich (die Religionsstunde) wie räumlich (der Gebetsraum) von den anderen separiert und genauer: von den anderen zeitlich und räumlich partiell trennt. Weil die Aufteilung Ayse innerhalb und im sozialen Rahmen zeitweise und raumspezifisch sondert, weil die Aufteilung nicht vollständige Nicht-Zugehörigkeit, sondern lediglich eine partiell zurückgenommene Zugehörigkeit anzeigt, ist die Unterscheidung alteritätsproduktiv. Denn erst, wenn das Problem des und der Anderen sich im ima120
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ginären Raum des Eigenen stellt, wird es zu einem praktisch relevanten Problem, dessen Bearbeitung die „Binnen-Anderen“ konstituiert. Dass darüber hinaus diese Figur subalterner Positionierung1 in jedem sozialen Raum, in jedem wodurch auch immer begrenzten und erzeugten sozialen Kontext möglich ist, wird dadurch veranschaulicht, dass Ayse, wenn sie den diffus mit einem Verbot belegten und dadurch aufgewerteten Raum betritt, in einer toposymbolischen Praxis der Allokation erneut an einen „anderen“ Ort verwiesen wird, der ihren Status, eine Andere zu sein, symbolisiert. Für Ayse bedeutet dies, dass sie auch im allerheiligsten Raum der Zugehörigkeit damit rechnen muss, mit einer neuen symbolischen Aufteilung des Raumes konfrontiert zu werden, die sie als Andere positioniert, markiert und bestätigt. In der berichteten Situation ist vor allem die angeordnete Bewegung des Körpers im Raum, die fremdinstruierte, vorgesagte Bewegung des Körpers auf den ihm zugewiesenen Punkt jene Praxis, die Ayses Position im Raum der Kapelle als Position einer Anderen markiert. In jedem „öffentlichen“ Raum, den das Kind Ayse betritt, dies ist die Lektion, die sie in dem schulischen Kontext lernt, kann diese Praxis der Separierung durch differenzielle Zuordnung zu und in symbolisch geordneten Räumen stattfinden. Ayse hat den Mangel erlernt. Sie ist un-möglich und wird paradoxerweise aufgrund dieser Unmöglichkeitsbedingung zu der, die sie ist. Ayse, so wie ich sie hier modelliert habe,2 ist ein mangelhaftes Subjekt, das in Unmöglichkeitszusammenhängen konstituiert wird. Die Mangelhaftigkeit, Konstitutionsbedingung des un-möglichen Subjekts, muss hierbei als doppelter, als ein allgemeiner Mangel und ein spezifischer Mangel verstanden werden. Im Sinne einer exkursiven Anmerkung möchte ich zunächst einige Aspekte des allgemeinen Mangels ansprechen: „[T]he subject“, schreibt 1
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Ich halte es für angemessen, „Subalternität“ in losem Anschluss an den Gebrauch des Ausdrucks in den Postcolonial Studies (G.C. Spivak; H.K. Bhabha) als Perspektive zu verstehen, die in einer zum Zwecke analytischer Klarheit einseitigen Weise auf Phänomene der systematischen materiellen und kulturellen Benachteiligung und Marginalisierung in einem rassistischen System der Unterscheidung und deren subjektivierende Konsequenzen hinweist. Ich benutze Subalternität also im Kontext eines rassismustheoretischen Verständnisses darüber, dass Subjektivität und Identität als Produkte eines machtvollen Systems von (Selbst-)Erfahrung und (Selbst-)Wissen zu untersuchen sind. Andere relevante Differenz- und Dominanzverhältnisse berücksichtige ich hier nicht – und verfehle damit empirische Zusammenhänge, die beispielsweise auch/zentral durch Genderverhältnisse und -praktiken strukturiert sind. Method(olog)isches zur interpretativen Praxis des Modellierens findet sich in meinem Buch Prekäre Verhältnisse (Mecheril 2003a, S. 32-56).
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Ernesto Laclau (1991, S. 63), „is the metaphor of an absent fullness“. Das Subjekt „entsteht“ nicht durch Identifikation und Artikulation, es entsteht nicht durch Identifikation und Anrufung, weil es diese Identifikation nicht ist, sondern vielmehr die Unmöglichkeit der Identifikation; aber auch diese Unmöglichkeit ist es, das Subjekt, nicht. Man könnte sagen, dass die allgemeine paradoxe Struktur des Subjekts darin besteht, dass es mehr und weniger ist als das, womit es sich identifiziert, dass es das, womit es sich identifiziert, ist und nicht ist, und dass das, was mehr oder weniger ist, als das, womit es sich identifiziert, „fullness“, abwesend ist. Diesen Aspekt hat auch Slavoj Zizek (1991) hervorgehoben.3 Zizek erläutert die Mangelhaftigkeit des Subjekts an der Hegel’schen Herr-Knecht-Figur; für den Knecht gilt: „[T]he moment of victory is the moment of greatest loss“ (S. 252). Der Knecht wird in einer Struktur hervorgebracht, in der er nicht, zumindest nicht mit dem Anspruch, zu sich selbst kommen zu wollen, siegen, den Herrn und die Struktur ihrer Beziehung besiegen kann. Denn sobald er siegt, wird er sich des Mangels seiner selbst bewusst. Zwar kämpft der Knecht für einen Zustand, in dem er er selbst sein kann. Dieser Zustand ist aber unerreichbar. Insofern stellt der Herr die positive Verkörperung der knechtischen Unmöglichkeit dar. Er ist, Zizek greift den Hegel’schen Ausdruck „Reflexionsbestimmung“ auf, der positive Spiegel, in dem sich die Negativität des Knechts, die Unmöglichkeit, mit sich selbst identisch zu sein, spiegelt. Da dies umgekehrt nicht gilt, haben wir es in der Herr-Knecht-Figur mit einer asymmetrischen Reflexionsbestimmung zu tun. Diese ist überall dort relevant, wo Subjektpositionen in einem binären Schema der Überund Unterordnung verteilt sind: der und die Heterosexuelle als Reflexionsbestimmung der lesbischen oder schwulen Position, „Whiteness“ („Europeanness“, „Civilizationness“ etc.) als Reflexionsbestimmung des schwarzen, muslimischen Anderen, der Mann als Reflexionsbestimmung der Frau.4 Das Konstatieren des Mangels an „fullness“, einer Ganzheit, die es nie gegeben hat, des Mangels, identisch mit sich selbst zu sein und das Konstatieren des Verlustes des Mangels in der Erfahrung und der Einsicht, dass das Mit-sich-selbst-identisch-Sein eine Illusion ist („loss of the loss“, S. 252), geht meines Erachtens mit zwei Verkürzungen einher. 3
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„The subject is a paradoxical entity which is so to speak its own negative, i.e. which persists only insofar as its full realization is blocked – the fully realized subject would be no longer subject but substance“ (Zizek 1991, S. 254). „[M]an is the reflexive determination of women’s impossibility of achieving an identity with herself (which is why woman is a symptom of man)“ (Zizek 1991, S. 253).
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Erstens operieren von einer Lacan’schen Psychoanalyse inspirierte Subjekttheorien (Laclau, Zizek), die auf den durch die Sprache der Anderen, das Symbolische, eingebrachten (Totalitäts-)Mangel des Subjekts hinweisen, der die Bedingung für Subjektivität darstellt (das Subjekt verfehlt sich in der Reflexion), mit der Unterstellung eines Bedürfnisses nach Komplettierung. Diese Unterstellung macht in universalistischer Manier den Drang nach Kompensierung des Mangels ubiquitär geltend, setzt ihn allgemein.5 Die zweite Verkürzung der Ansätze, die das Subjekt allgemein als Mangel denken, hängt mit einer unzureichenden Differenzierung zusammen. Die Herr-Knecht-Dialektik wird von Slavoj Zizek als allgemeine Figur kommentiert, in der gesellschaftliche Verhältnisse der Über- und Unterordnung nur insofern bedeutsam sind, als sie einen (asymmetrischen) Raum der Projektion der Unmöglichkeit abgeben, mit sich selbst identisch zu sein: „[It] is not the external enemy who is preventing me from achieving identity with myself, but every identity is already in itself blocked, marked by an impossibility, and the external enemy is simply the small piece, the rest of reality upon which we ,project‘ or ,externalize‘ the intrinsic, immanent impossibility“ (S. 252). Doch „der Feind“ ist nicht allein sublime Referenz einer verlagerten Verortung subjektiver Unmöglichkeit, er ist auch „real“, er (konkretes Gegenüber wie Struktureigenschaft eines sozialen Zusammenhangs) verhindert, verbietet und untersagt. Um ein Beispiel zu geben: Die rassistische Figuration (weißer Herr, schwarzer Knecht) wird nur sehr eingeschränkt erfasst, wenn die Unmöglichkeit, ein mit sich selbst identisches Subjekt zu sein, nicht mit Blick auf die Spezifität des rassistischen Komplexes betrachtet wird, der „racialised subjects“ hervorbringt. Durch das Wissen, ein „Anderer“ zu sein, werde ich dem Wissen und der affektgenerativen Struktur produktiv unterworfen, die mich zum Anderen macht – dieser Andere ist in der rassistischen Figuration aber ein spezifischer Anderer, der einen spezifisch unmöglichen Traum einer 5
Die Setzung ist aber nur unter der allgemeinen Voraussetzung plausibel, dass ein, was immer dies heißen soll, vorsprachliches und „ungeteiltes Ich“ die (Erinnerungs-)Spur bezeichnet, auf deren Fährte sich das mangelhafte Subjekt defizitär begibt. Was aber wäre, wenn ein empirisches Subjekt sich, ohne dass ihm dies bewusst ist oder auch nur bewusst sein kann, seinem Mangel hingäbe (und ihn durch Hingabe an den Topos des Mangels überwände, ohne der Illusion aufzusitzen, der Mangel sei irrelevant) und nicht, zumindest zuweilen, einem vermeintlich „irgendwie“ gegebenen und dadurch relevanten Zustand der Unzerstückeltheit hinterheragierte, einem Zustand, der dem Imaginären und der Zergliederung durch die „Selbst“-Gegenüberstellung im nicht-sprachlichen und sprachlichen Reflexiven enteilt ist – sei es in resignierter Haltung oder als Phänomen des tatsächlich Zur-Sprache-gekommen-Seins, das als prekäres und undurchschaubares Verhältnis erfahren und praktisch bejaht wird?
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postrassistischen Identität träumt. Vervollständigt wird dieser Zusammenhang der Inferiorität/Superiorität durch die spezifische Angewiesenheit der anderen Seite: „Die Engländer sind nicht deshalb rassistisch, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die Schwarzen nicht wissen, wer sie sind“ (Hall 1999a, S. 93). Auf die spezifisch unmöglichen Subjekte, jene, die durch kulturelle Prozeduren aus dem Bereich des kulturell Legitimen ausgeschlossen sind, den Subalternen, den rassistisch Konstituierten, sind Cultural Studies in einer besonderen Weise des Interesses und des Engagements bezogen. Dieses erkenntnispolitische Interesse nehme ich auf und wende mich – sympathisierend und die Sympathie mit Anmerkungen von Gayatri C. Spivak (1988), die Praxen der intellektuellen Repräsentation problematisieren, als (be)trügerische intellektuelle Schwärmerei einklammernd – marginalisierten Positionen zu, die im System rassistischer Unterscheidung markiert und bezogen werden. Es entspricht dem erkenntnispolitischen Anliegen der Cultural Studies,6 in einer Weise für marginalisierte, symbolisch delegitimierte und materiell restringierte, subalterne Positionen und Erfahrungen einzutreten, dass diese in ihrer prekären Dignität zur Geltung gebracht werden. Mit (subalternen) Erfahrungen zu beginnen, kann somit als Motto der Cultural Studies verstanden werden.7 6
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„Obwohl Cultural Studies keinen Anspruch auf Totalität oder Universalität erheben, versuchen sie dennoch, ein besseres Verständnis davon zu entwickeln, wo ,wir‘ uns befinden, so dass ,wir‘ an einen anderen, hoffentlich besseren Ort gelangen können. Wobei allerdings die Frage, was besser ist und wie Entscheidungen getroffen werden, wie auch die Frage, wer ,wir‘ sind, offen gelassen wird“ (Grossberg 1999, S. 58). Grossbergs Kennzeichnung des Grundanliegens von Cultural Studies macht eine grundlegende Figur deutlich, in der sich ein intellektuelles Denken befindet, das aus den Erfahrungen (mit) kritisch-normativer Orthodoxie und ihrer unbarmherzigen Gewissheit gelernt hat, vorsichtig und zurückhaltend zu sein und dennoch den Anspruch, soziale Prozesse kritisch zur Geltung zu bringen, nicht aufgegeben hat. Wir erkennen hier eine inhaltlich zurückgenommene Haltung von „Kritik“, die „kritisch“ (ausgerichtet) ist, ohne festgelegt zu haben, welches die exakten Kriterien der Kritik sind. In dieser gewissermaßen reflexiv gebremsten und enthaltsamen Variante der Kritik, eine Art negative Suchperspektive, die nicht genau weiß, wonach sie sucht, gewinnen Cultural Studies eine Stärke, die in gleichem Maße ihre Schwäche ist. Überzeugend ist die kritische Perspektive dort, wo sie sich in empirischer Anschmiegsamkeit und einer theoretischen „Lernfähigkeit“ zeigt, welche das Wechselspiel von Macht und Subjektivität empirisch und theoretisch anregend zum Thema machen, schwach, im Sinne von unbefriedigend und unwirksam, dort, wo die offene Ausrichtung der Kritik sich als belanglose Variante eines „anything goes“ darstellt. Dass hierbei die (politisch wirksame) Repräsentation von Erfahrungen sich selbst wiederum in neue Legitimitätskrisen manövriert, die sich etwa
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Kommen wir auf Ayses Erinnerung zurück. Aus der Perspektive des Schulkindes, aus der Ayse in der oben angeführten Sequenz erzählt, ist die Differenzerfahrung, die Subalternitätserfahrung und die Erfahrung verwehrter fragloser Zugehörigkeit gewissermaßen an und für sich repräsentiert und allenfalls diffus auf religiöse, kulturelle oder ethnische Differenz bezogen. Ayses Wunsch, bei den anderen Kindern sein zu wollen, ihr Wunsch, fraglos und unterschiedslos unter ihnen eine von ihnen zu sein, steht im Vordergrund. Dass Ayse ein Erfahrungen machendes, wünschendes und wunschbegabtes Wesen ist, wird aus der Perspektive der Cultural Studies nicht nur nicht bestritten, dieser Umstand stellt aufgrund des politischen Selbstverständnisses und des kritischen Anspruchs der Cultural Studies eine unhintergehbare Voraussetzung ihrer Analyseperspektive dar. Subjekt-Status wird durch das Vermögen, Erfahrungen machen zu können, begründet. Subjektivität bezeichnet einen erfahrungsbegründeten Zugang zur Welt (etwa Grossberg 1996, S. 98) oder besser: eine Aus- und Einrichtung der Einzelnen in der Welt, die ihnen ein nicht allein kognitives Wissen von der Welt und sich selbst vermittelt. Erfahrungen existieren aber nicht an sich und nicht für sich, sondern sind in einer umfassenden Weise in diskursiv-ideologische Zusammenhänge eingebettet. Der Verknüpfungsprozess wie auch das Ergebnis dieser Verknüpfung von Erfahrungen mit Diskursen kann als Subjektivierung verstanden werden. So ist es gedankenexperimentell vorstellbar, dass Ayses Erfahrungen der partiellen Separierung und ihr Wunsch nach selbstverständlicher Zugehörigkeit mit unterschiedlichen (z.B. ethnisierenden, religiösen, politischen) Diskursen verbunden werden. Diese (experimentell vorgestellte) Verknüpfung von Diskurs und Erfahrung weist darauf hin, dass es sich bei den hier bedeutsamen Anschlüssen nicht um willentliche SelbstAnschlüsse eines überlegten und überlegenden Subjekts handelt, was mithilfe des Begriffs der Artikulation näher erläutert werden kann. Die Theorie der Artikulation „fragt, wie eine Ideologie ihre Subjekte entdeckt und nicht wie das Subjekt die notwendigen und unvermeidlichen Gedanken denkt, die zu ihm gehören. Sie ermöglicht es uns zu denken, wie die Ideologie die Menschen handlungsfähig macht und es ihnen ermöglicht, auf einsichtsvolle Weise ihre historische Situation zu begreifen, ohne diese Formen der Einsicht auf ihre sozioökonomische, Klassen- oder soziale Position zu reduzieren“ (Hall 2000b, S. 65f.). in der Figur zeigen, dass schwarze Intellektuelle über schwarze Erfahrungen sprechen (oder: „migrantische“ Intellektuelle über „migrantische“ Erfahrungen), weist darauf hin, dass man im Zuge des schönen Mottos die Kritik an der mit ihr verbundenen Praxis nicht suspendieren sollte.
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Wenn wir – in einer künstlich übersteigerten Betrachtungsweise – das Fragment des Berichtes von Ayse als „unartikuliert“ verstehen, wird deutlich, dass in der Produktion des Andersseins durch eine Zuordnung im Raum, durch eine körperliche Verschiebung Ayse noch nicht von Diskursen angerufen wird. Das Kind Ayse erfährt ihre Position (noch) unangerufen und unverknüpft, ohne Bezug auf Diskurse ethnischer oder kultureller Differenz/Identität. (Kind-)Ayses Erfahrung ist „real“, sie ist (nachträglich) auch benennbar, in diesem Sinne artikuliert, aber nicht angebunden; es stellt sich in dem Darstellen und Mitteilen, diesem einen Verständnis von Artikulation der Erfahrung, noch keine Verbindung her zwischen der Erfahrung, die als Variante und Aspekt sozialer Kraft zu verstehen ist, und Systemen von Wissen und Macht, in denen die Erfahrung eingebettet und die soziale Kraft, die in ihr enthalten ist, gebahnt werden kann. Artikuliert in diesem Sinne ist das Subjekt, wenn es im Zuge seiner sich in Erfahrung und Sprachigkeit konstituierenden Subjektivität von diskursiven Formationen angerufen wird. Dort, wo gehört und geantwortet wird (ein Grundmodus fragloser Zugehörigkeit; Mecheril 2003a), dort, wo ein „Erkennen“ stattfindet, das die soziale Kraft der Praktiken und Erfahrungen für eine nicht bestimmte Zeit und in einem vorläufigen Modus freilegt, wird eine Subjektposition bezogen und konstituiert sich in diesem Bezug ein Subjekt als Träger und Empfänger einer Identität. Um den konstruktiven Charakter von „Identität“ hervorzuheben, könnte man davon sprechen, dass Identitäten Beschreibungen temporärer Verbindungen zwischen diskursiven und psychischen Strukturen darstellen. Und „Subjekt“ kann vor diesem Hintergrund als Bezeichnung für die unbestimmte Stelle verstanden werden, die sich im Kontext dieser Verbindungen und Zusammenhänge konstituiert und Träger und Empfänger, Medium von Identität(sbeschreibung)en und Handlungen ist. Insofern in „Identität“ der kontingente und „vernähte“ Zusammenhang zwischen diskursiven Praktiken und den psychischen Strukturen zum Ausdruck kommt, die als Voraussetzungen fungieren, besprochen zu werden, ist „Identität“ die (auftrennbare) Naht zwischen Subjektposition/Anrufung und Strukturen des psychischen Apparates.8 Die Verbindung darf hierbei nicht als einseitiger Prozess des Ergriffen- oder Ange8
„I use ,identity‘ to refer to the meeting point of suture, between on the one hand the discourses and practices which attempt to ,interpellate‘, speak to us or hail us into place as the social subjects of particular discourses, and on the other hand, the processes which produce subjectivities, which construct us as subjects which can be ,spoken‘. Identities are thus points of temporary attachment to the subject positions which discursive practices construct for us“ (Hall 1996, S. 5f.).
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sprochenwerdens des Individuums verstanden werden, sondern bezeichnet einen Vorgang, der nur gelingen kann, wenn das Individuum „sich“ in die ihm zukommende, zurufende, zuschreibende Subjektposition einbringt. Das Artikulationskonzept der Cultural Studies erläutert, dass soziale und kulturelle Identitäten als in und durch politische(n) und soziale(n) Auseinandersetzungen hergestellte, kontingente Phänomene zu verstehen sind. „Identität“ wird bedeutsam, wenn bestimmte Kräfte und Elemente mit Diskursen artikuliert werden und sich, was in Identifikationsprozessen angezeigt wird, artikulieren. Das Artikulationskonzept kann insofern als Versuch verstanden werden, die Phänomene Identität und Subjekt in einer entschieden nicht essenzialistischen Weise zu denken. Die Abkehr von essenzialistischen Lesarten tendiert allerdings dazu, theoretisch kontingente und empirisch beharrliche Begrenzungen zu unterschätzen. Auch wenn Prozesse der Verknüpfung und der Identifikation als kontingente Phänomene gedacht werden müssen und Reartikulationen möglich sind, so ist doch „nicht alles potenziell mit allem artikulierbar“ (Hall 2000b, S. 71). Die Limitation der Verkopplung, die sich empirisch in Phänomenen des Anschließen-Könnens und des Anschließen-Wollens präsentiert, muss in erster Linie als eine Begrenzung durch Verhältnisse gedacht werden, die Möglichkeiten der Bewegung und des Anknüpfens quantitativ und qualitativ differenziell verteilen: „Die verschiedenen Weisen, mit denen schwarze Menschen und schwarze Erfahrungen in den dominanten Repräsentationsregimes positioniert und unterworfen wurden, waren Effekte einer gezielten Ausübung von kultureller Macht und Normalisierung. Wir wurden durch jene Regimes nicht nur in Sinne von Saids ,Orientalismus‘ innerhalb der Wissenskategorien des Westens als unterschiedene und andere konstruiert. Vielmehr hatten sie die Macht, uns dazu zu bringen, dass wir uns selbst als ,Andere‘ wahrnahmen und erfuhren“ (Hall 1994a, S. 29f.).
Die Selbst-Erfahrung und Selbst-Wahrnehmung des „schwarzen Subjekts“, die Hall hier hervorhebt, basiert nicht nur auf einem machtvoll degradierenden und weit verzweigten System der Unterscheidung, das Selbst-Verständnis des schwarzen Subjekts ist konstitutiver Teil des Systems. Die schwarze Erfahrung und das subalterne Verständnis des Andersseins wird in dem Moment mit der Ausweglosigkeit der eigenen Wirklichkeit, ihrer Einkapselung, konfrontiert, da bewusst wird, dass eine würdevolle Aufhebung der degradierenden Differenz in beiden denkbaren Richtungen – Assimilation oder Anerkennung – nicht möglich ist. Assimilative Angleichung ist eine Illusion und ein selbsttrügerischer Traum, weil die Spielarten des Rassismus physisch und kulturell wir127
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kende Gifte gegen die vermeintliche Gefahr der Verunreinigung durch Assimilation sind (Mecheril 2003b). Anerkennung ist ein schlechter Witz, weil durch die Forderung nach Anerkennung der im rassistischen System zu sich selbst gekommenen Anderen die Ordnung bestätigt wird, die Andere als bestenfalls bemitleidenswerte Gestalten hervorgebracht hat. So wirkt das Bemühen der kulturell und materiell Degradierten um Respekt ihrer selbst als herrschaftsbestätigende Komplizität: Herrschaft, so die hegemonietheoretische Einsicht Gramscis (1980), wirkt durch Zustimmung und Einwilligung subalterner Subjekte. Wie aber ist dann noch die Veränderung von Herrschaftsverhältnissen denkbar? Die Antwort der Cultural Studies auf diese Frage soll in zwei Schritten wiedergegeben werden.
Wer hat das Sagen? (agency under erasure) Von jener Perspektive, aus der Identität als „ausgestrichenes“ Phänomen erscheint, und die das Subjekt als Phänomen des Mangels erkennt, ist es ein kurzer Weg zu der Perspektive, die das Subjekt in einer weiteren Hinsicht als „dezentriert“ zur Geltung bringt. Kam unter der analytischen Perspektive „identity“ das epistemische Selbstverhältnis als prekäres und paradoxes Verhältnis in den Blick, geht es unter der Perspektive „agency“ um die Frage, inwiefern im Verhältnis des Einzelnen zu anderen, im Verhältnis zu sich selbst und im Verhältnis zur Welt und den Dingen von einem praktischen Verhältnis des Handlungsvermögens gesprochen werden kann. Der Ausdruck „agency under erasure“ weist darauf hin, dass eine einfache Bejahung der Frage unangemessen ist,9 eine einfache Verneinung jedoch gleichermaßen. Für die Art und Weise, in der in den Cultural Studies „agency“ zum Thema wird,10 sind insgesamt drei Aspekte von Bedeutung. Grundsätzlich wird das Phänomen der praktischen Wirksamkeit postsouverän gedacht. Nicht ein autonomes Subjekt ist Zentrum und Ausgangspunkt des eigenen Handelns, vielmehr konstituiert sich praktische Wirksamkeit in einem vorgängigen Kontext, zu dessen Reproduktion das Handeln strukturell beitragen muss. Wirksamkeit wird politisch und kulturell differen9
„Obviously, within cultural studies, the question of agency involves more than a simple question of whether people control their own actions through some act of will“ (Grossberg 1996, S. 99). 10 Ich benutze in diesem Text die Ausdrücke „praktische Wirksamkeit“ und „Handlungsvermögen“ als deutschsprachige Äquivalente zu „agency“; den Begriff Wirksamkeit habe ich an anderer Stelle expliziert (Mecheril 2003a, S. 161-217).
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ziell und spezifisch eingeschränkt, beschnitten und verwehrt, so dass das praktische Vermögen „Anderer“ daran geknüpft bleibt, dass sie Andere sind. Schließlich ist „praktische Wirksamkeit“ in den Cultural Studies auch deshalb ein bedeutendes Thema, weil Handlungsvermögen eine normative Forderung darstellt, die von den Cultural Studies in einem immer vorsichtigen Zuspruch tendenziell mitgetragen wird. Cultural Studies geht es zum einen darum, deutlich zu machen, wo und aufgrund welcher Bedingungen praktische Wirksamkeit in einer nur dürftigen Art und Weise wirksam werden kann. Zudem wird das intellektuelle Grundanliegen der Cultural Studies vom Engagement für Zusammenhänge getragen, in denen Alternativen zu diesen „Dürftigkeiten“ denkbar und praktizierbar sind (wobei diese Alternativen, in der postnormativen Normativität der Cultural Studies, immer wieder offengelassen und bedacht, eröffnet und thematisiert werden). Gerade weil es sich bei den Cultural Studies um ein kritisches Projekt handelt, ist also das Thema des individuellen und kollektiven Handlungsvermögens für die Cultural Studies von zentraler Bedeutung. Das soziale Prozesse und sich selbst (qua Rationalität) beherrschende „klassische“ Subjekt gewann seine Souveränität darin, dass es das Sagen hatte bzw. sein rationales Reflexionsvermögen nicht dazu einsetzte, sich klar zu machen, dass es über das Sagen nicht verfügt. Mit der Infragestellung dieses gewissermaßen einfachen Subjekts beginnt ein Prozess, der häufig als Dezentrierung bezeichnet wird. Die negativen Attribute, die dem dezentrierten Subjekt zugesprochen werden, sind bekannt. Es ist, um einige Aspekte zu markieren, weder autonomer Agent der eigenen Geschichte noch Zentrum des eigenen Tuns, weder „Herr im eigenen Hause“ (Freud GW XII, S. 11) noch privilegiert durch die Möglichkeit eines instrumentellen Gebrauchs von Sprache (z.B. Hall 1994b, S. 193ff.). Bei dem Sprechen handelt es sich nicht um einen planvollen und überlegten Gebrauch von Sprache durch ein „sprachkompetentes“ Subjekt. Der Einzelne ist nicht Autor seines Sprechens, sondern Sprache/Sprechen ist in zweierlei Weise „selbstständig“. Sie ist als ein den einzelnen Sprechern gegenüber vorgängiger Zusammenhang von Regeln und Optionen ein vorsubjektiver Rahmen, in dem die Formierung des Subjektes stattfindet. Zum anderen ist der Zusammenhang einer Sprache keiner, in dem Bedeutungen eindeutig festgelegt sind. Dem Gebrauch der Worte eignet ein Mangel: Bedeutungen sind nicht endgültig, sie sind kontextualisierte und sich in der Wiederholung stetig verschiebende Bezüge auf eine Realität, die nicht erreichbar ist, sie sind in „sich“ instabil und durchlässig. Sprache/Sprechen ist vor-läufig. In der Tradition dieser sprachtheoretischen Position lautet die Antwort auf die Frage, wer das Sagen hat: Niemand. Denn die Sprache hat das Sagen und „hat“ damit 129
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ihre Subjekte. „Handlungsvermögen“ ist insofern keine Eigenschaft, keine Kompetenz der Einzelnen, sondern kommt ihnen, sie konstituierend, in einem vorgängig strukturierten Feld zu, das an ihnen „handelt“ und sie dadurch zu Handlungssubjekten macht. Somit lautet also die Antwort auf die Frage, wer das Sagen hat: Niemand. Dies ist aber nur ein Teil der Antwort. Bei diesem Teil stehen zu bleiben, bedeutete in einer sozusagen strukturalistischen Einseitigkeit Verhältnisse der Überund Unterordnung nicht zu thematisieren. Das Sagen haben heißt nach dem Universalwörterbuch der deutschen Sprache, dem „Duden“, eine Stellung innehaben, aufgrund derer man Anordnungen, Entscheidungen treffen, anderen Vorschriften machen kann. Wer das Sagen hat, verfügt über jene Ressourcen rechtlicher, materieller und symbolischer Art, die das Stellungnehmen möglich, legitim und wirkungsvoll macht. Sobald also die Frage nach dem SagenKönnen auf das Verhältnis von „Herr“ und „Knecht“ bezogen wird, muss die Antwort zunächst lauten: der Herr. Das Thema praktischer Wirksamkeit wird folglich verfehlt, solange die Dimension der symbolischen und materiellen Über- und Unterordnung nicht in einem strengen Sinne Berücksichtigung findet. Wenn beispielsweise Judith Butler Konzeptionen zurückweist, die das autonome und souveräne Subjekt als Voraussetzung moralisch wertvollen Handelns betrachten, und in diesem Zuge konstatiert, dass „man seine Souveränität einbüßen [muss], um menschlich zu werden“ (Butler 2003, S. 11), dann muss zweierlei eingewandt werden: Das, was einzubüßen ist, muss erst einmal besessen sein, und dieser Besitz, dessen Verlust mich erst in das moralische Privileg „menschlich“ führt, ist differenziell verteilt. Wer mangels Souveränität nicht in der Lage ist, Souveränität einzubüßen, dem ist es auch nicht vergönnt, menschlich zu werden. Cultural Studies heben die Bedeutung dieser Verteilungsverhältnisse in ihrem theoretischen Ansatz kultureller Handlungsfähigkeit hervor: „[I]n broader cultural terms, questions of agency involve the possibilities of action as interventions into the processes by which reality is continually being transformed and power enacted“ (Grossberg 1996, S. 99). Die Möglichkeiten, in den Fluss der Transformation von Realität einzugreifen, handelnd Teil dieses Transformationsprozesses zu sein, ergeben sich in Abhängigkeit von symbolisch-materiellen Orten und Positionen, die den Einzelnen zukommen, weil sie von diskursiven Zusammenhängen „angerufen“ werden und weil sie sich in der „Erwiderung“ als Subjekte konstituieren. Wer über Zugänge zu Ressourcen (Positionierungen) verfügt, in dieser Non-Souveränität eine Souveränität zu gewinnen, und für wen damit auch Bedingungen der Möglichkeit gegeben sind, diese Souveränität (wieder und wieder) zu verlieren, der und die konstituiert 130
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sich in dieser Verfügung/Gegebenheit über praktische Wirksamkeit. Die gewonnene und verlorene Souveränität bleibt ihrer Herkunft und ihrer inhaltlichen Gegenwart nach gebunden an Non-Souveränität als notwendige Voraussetzung von Souveränität. Wäre ich immer schon souverän, könnte ich nicht souverän sein (Gott ist nicht souverän).11 Da Non-Souveränität Voraussetzung und Konsequenz von Souveränität ist, liegt es nahe, praktische Wirksamkeit als „Machtphänomen“ zu denken und zu untersuchen. Die Aussage, dass Handlungsweisen und Praktiken, Wünsche und Darstellungen, Erfahrungen von Machtverhältnissen durchdrungen seien,12 bezieht sich in den Texten der Cultural Studies hierbei auf zwei Verständnisse von „Macht“. Macht ist einerseits ein nicht suspendierbares allgemeines Charakteristikum von Diskursen: „Das Wissen, das ein Diskurs produziert, konstituiert eine Art von Macht, die über jene ausgeübt wird, über die ,etwas gewusst wird‘“ (Hall 1994c, S. 154). Diese „jenen“, über die etwas gewusst und über die durch Wissen Macht ausgeübt wird, sind nun prinzipiell alle. Denn Macht ist, in Anlehnung an den in den Cultural Studies breit rezipierten Foucault’schen Machtbegriff, total. Sie ist eine Konstitutionsbedingung des Sozialen und – eingeschränkter – eine Voraussetzung der Konstituierung der Subjekte. „Jene“, über die etwas gewusst und über die darin Macht ausgeübt wird, sind aber immer auch bestimmte. Denn, dass Macht total ist, schließt nicht aus, dass sie auch spezifisch und in dieser Spezifität spezifisch repressiv sein kann, also mit unterschiedlichen und unterscheidenden Formen der Zubilligung und Verwehrung von Handlungsmöglichkeiten einhergeht. Hierbei muss jedoch spezifische Macht nicht notwendig als zentrierte Macht begriffen werden (wie dies Hall zum Teil tut13). Viel eher können wir davon ausgehen, dass Formen de11 Texte, die, zu Recht, auf die Nicht-Souveränität des Subjekts verweisen, können so gelesen werden, dass das implizit idealistische Verständnis von „Souveränität“ zu Tage tritt, das die Texte ermöglicht. Denn insofern behauptet wird, dass das Subjekt nicht im „klassischen“ Sinne souverän sei, wird die Möglichkeit der Idee von Souveränität als einem außersozialen Ermöglichtsein zum Handeln in einer verborgenen Sehnsucht bestärkt. Das schroffe Zurückweisen der souveränen Möglichkeit setzt diese erneut in die Welt; nun kann sie Sehnsüchte binden und arbeitet still dem Eindruck zu, dass etwas schmerzlich verloren gegangen sei. 12 „Im Zentrum gegenwärtiger kritischer Theorie steht die Erkenntnis, dass Erfahrung selbst ein Produkt der Macht ist und dass deshalb das, was am offensichtlichsten ist und am wenigsten infrage gestellt wird, oft am stärksten von Machtbeziehungen durchdrungen ist“ (Grossberg 1999, S. 52). 13 „Diejenigen, die den Diskurs produzieren, haben also die Macht, ihn wahr zu machen – z.B. seine Geltung, seinen wissenschaftlichen Status durchzusetzen“ (Hall 1994c, S. 154).
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zentrierter und zentrierter spezifischer Macht Felder ausbilden, in denen sich spezifische Subjekte konstituieren. Wichtig ist nun, „Macht“ nicht einseitig als entweder totales oder spezifisches Phänomen zu verstehen. Auch wenn vieles dafür spricht, die Konstituierung des Subjekts allgemein als einen unabweislich von Machtbeziehungen vermittelten Prozess zu verstehen, so darf diese allgemeine Perspektive doch nicht den Blick auf spezifische SubjektMacht-Konstellationen verstellen. Rassismus beispielsweise kann als Bündel zentrierter und dezentrierter diskursiver Praxen verstanden werden, in denen Subjektpositionen „offeriert“ und „zugewiesen“ werden. Wenn Rassismus als eine artikulative Bedingung der Möglichkeit von Subjektivität betrachtet wird, dann macht es Sinn, den Prozess der rassistischen Subjektivierung im Lichte eines allgemeinen Verständnisses von Subjektivierung – Ermöglichung („subjectivation“) und Restringierung („subjectification“) – zu verstehen. Rassismus muss aber auch als spezifisch repressive Form der Erzeugung beschränkter und beschädigter Identitäten zur Geltung gebracht und untersucht werden. Wo dies unterbleibt, läuft die Analyse darauf hinaus, auf jene Voraussetzung zu verzichten, die es ihr ermöglicht, einen kritischen Anspruch zu formulieren. Wenn Cultural Studies an der Analyse des Einsickerns und des Eindringens von Macht in die Möglichkeiten der Menschen interessiert sind, „ihr Leben auf würdige und sichere Art zu verbringen“ (Grossberg 1999, S. 62; Hervorhebung P.M.), wenn Cultural Studies daran interessiert sind, die machtvolle Beschneidung von Handlungsräumen und -möglichkeiten zum Thema zu machen, dann können sie nicht auf einen Begriff von Verhinderung, Einschränkung und Begrenzung und ein Verständnis dieser repressiven Verhältnisse als differenzielle Verhältnisse verzichten.14 Und sie können auch nicht das Motiv aufgeben, für Verhältnisse einzutreten, in denen Menschen ihr Leben auf „würdige und sichere Art“ verbringen – wobei die Vorstellung, was dies konkret heißt, notwendig offen zu halten und in einem Projekt fortwährender Revision immer wieder zu öffnen ist. Die erste Reaktion auf die Frage, ob eine Veränderung veränderungswürdiger, etwa rassistischer Verhältnisse möglich ist, fällt demnach nicht nur recht bescheiden aus, sie verschiebt die Frage auch in den 14 Dass wir es hierbei empirisch mit vielfältigen und sich flexibel verknüpfenden, kontextspezifisch neue Konstellationen schaffenden, sich entkoppelnden und wieder verknüpfenden „Linien der Verhinderung/Ermöglichung“ zu tun haben, die einfache Analysen, Veränderungsvorschläge und Parteinahmen erschweren, sollte nicht davon abhalten, die grundsätzliche Gegebenheit der Wirklichkeit ungleicher Verhältnisse der Verhinderung/ Ermöglichung zum Thema zu machen.
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Kontext wissenschaftlicher Logik und beantwortet sie methodologisch: Cultural Studies – so wie ich sie hier modelliere – plädieren erstens für den pragmatischen Gebrauch einer doppelt ausgerichteten empirischen und theoretischen Analyseperspektive, die das Verhältnis von Macht und Subjektivierung als allgemein ermöglichendes/verhinderndes und spezifisch beschränkendes/produktives Verhältnis erkennt und kritisch an der Frage prüft, in welcher Weise in diesem konkreten Fall (einer Biographie, eines institutionellen Zusammenhangs, einer Gesetzgebung etc.) verhindert wird, dass Menschen ihr Leben auf würdige und sichere Art verbringen. Zweitens pflegen Cultural Studies einen nicht orthodoxen Gebrauch einer unabgeschlossenen, immer wieder an empirischer Erfahrung zu revidierenden Vorstellung, was es heißt, dass Menschen ein würdevolles Leben führen.
Widerstand un-möglich Verfügen nun diejenigen, die unter bestimmten Bedingungen etwa der kontextspezifischen Relevanz von Klasse, Sexualität, Ethnizität („race“) oder Gender in einem spezifischen Sinne nicht das anerkannte, wirksame Sagen haben, über Mittel, gegen die Verhältnisse, in denen sie nicht viel zu sagen haben, aufzubegehren? (Wie) Ist „Widerstand“ möglich? Für den heterogenen, komplexen Diskurs der Cultural Studies ist dies eine bedeutsame und vielfältig bearbeitete Frage. Ich möchte die Arbeit, die in den Cultural Studies hierzu geleistet wurde und wird, so kommentieren, dass zwei Antworttypen, denen letztlich unterschiedliche Begriffe von Widerstand zugrunde liegen, deutlich werden.15 Der eine Antworttyp versteht Widerstand und Veränderung als Moment, das der Struktur der Dominanzverhältnisse selbst eingelagert ist; die andere Antwort indes knüpft Widerstand und Veränderung stärker an das hermeneutischinterpretierende und politisch-aktionale Vermögen von Akteuren. Diese letzte Idee findet sich etwa in Stuart Halls Überlegungen zur Medienrezeption (1999b). Er führt am Beispiel der Rezeption von Fernsehnachrichten aus, dass es neben dem „preferred reading“ durchaus auch ein „negotiated“ und sogar ein „oppositional reading“ geben kann. Zwar agiert der Rezipient der Nachrichten innerhalb eines dominanten 15 Beide Antworten gehen von der grundlegenden Annahme aus, dass „Widerstand“, so darunter die Veränderung von gesellschaftlichen Verhältnissen illegitimer Dominanz durch Handlungsweisen Einzelner oder Gruppen verstanden wird, eine grundsätzlich sinnvolle Analysekategorie ist, die Kämpfe um gesellschaftliche Veränderungen und politisches Handeln theoretisch bedeutsam, empirisch gehaltvoll und normativ erhellend erläutert.
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Codes (S. 107), der Bedeutungen offeriert und nahe legt, diese aber letztlich nicht determiniert. Verallgemeinernd könnte hier von der Variabilität der Lesarten des polysemischen Textes gesprochen werden, die in einem durch den überdeterminierten Text vorgegebenen Rahmen kontextualisiert und begrenzt ist. Mit diesem Hinweis auf sozusagen die „gebundene Eigenständigkeit“ der Dekodierungsprozesse, der relativ eigenständigen Bedeutungen von Alltagspraxen bei der Produktion von Lesarten, rückt Hall die Bedeutung des dekodierenden Subjekts in den Vordergrund, das potenziell zu einem oppositionellen Lesen (und Handeln) in der Lage ist.16 Der Typ Antwort, der Opposition und Widerstand gegen die Lesarten, die ein dominanter Code vorschlägt, sowie Kreativität und Reflexivität, die Erweiterung und Modifikation sprachlicher und kultureller Strukturen ermöglichen, als Eigenschaften des interpretierenden Akteurs versteht, tendiert freilich zu einer idealistischen Verortung des widerständigen und kreativen Potenzials im „Subjekt“. In Abgrenzung zu dieser Tendenz hingegen verstehen radikal nonessenzialistische Auffassungen „agency“ und „Widerstand“ als strukturelle Hervorbringungen. So findet sich bei Grossberg (1996, 2000) der Versuch, Widerstand/agency als Eigenschaft der Beschaffenheit des Raumes zu verstehen. In einer verräumlichten Auffassung von Subjektposition spricht Grossberg (2000) von der „Territorialisierungsmaschine“, die Menschen territorial verstreut und platziert.17 Praktische Wirksamkeit und Handlungsvermögen sind für Grossberg nicht die Leistung eines Subjekts, sondern Kennzeichen eines Raumes: „The question of agency is [...] how access and investment or participation (as a structure of belonging) are distributed within particular structured terrains“ (1996, S. 100). „Zugang“, „Verbundenheit“ und „Zugehörigkeit“ sind für Grossberg jene räumlichen Kategorien, die das Phänomen agency angemessen – und das heißt für ihn: non-essenzialistisch – erfassen. Im Rahmen dieser Auffassung ist es jedoch nicht möglich, Diskrepanzen zwi-
16 Ähnliche Überlegungen finden sich in vielen Texten der Cultural Studies. So entwirft Hans-Herbert Kögler (1999) in einem Vergleich von Kritischer Theorie und Cultural Studies eine kritisch-hermeneutische Idee, die das reflexive und kreative Potenzial des Subjekts betont, das prinzipiell in der Lage sei, die Sprachstruktur, die das Sprechen hervorbringt, zu modifizieren und zu erweitern, dies hierbei aber durch das „tiefsitzende Bedürfnis nach sozialer Anerkennung“ (S. 232f.) im Kontext begrenzter situierter Sinnbildung tue. 17 „Bestimmte Plätze definieren spezifische Formen der Handlungsfähigkeit und ermächtigen spezifische Bevölkerungsteile. [...] Handlungsfähigkeit ist durch die Artikulation von Subjektpositionen in spezifische Plätze (Orte des Investments) und Räume (Aktivitätsfelder) auf sozial konstruierten Territorien definiert“ (S. 220).
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schen Orten des Investments/Aktivitätsfeldern und den Akteuren, die z.B. oppositionell oder widerständig an diesen Plätzen und in diesen Räumen agieren, anders zu denken denn als Ausdruck eines distributiv-(territorialisierungs)maschinistischen Prozesses. Grossbergs Ansatz kann als Versuch beschrieben werden, Subjektivierung und Handlungsbefähigung ohne Subjekt zu denken – ein Versuch, der meiner Ansicht nach das theoretische Problem nicht löst, sondern nur umgeht. Mit der Behauptung, dass Widerstand „nur als überdeterminierte Artikulation von Bevölkerungsteilen mit bestimmten Orten der Handlungsfähigkeit erklärt werden“ kann (2000, S. 220f.), umgeht Grossberg letztlich quasipositivistisch die Frage, was unter Widerstand verstanden werden kann. Mit Bezug auf die Frage, wie Veränderungen der Verhältnisse möglich sind, die Subalterne hervorbringen, ist es sinnvoll und notwendig, beide Auffassungen von Widerstand und Handlungswirksamkeit nicht gegeneinander auszuspielen, sondern in ihrem auch spannungsvollen Verhältnis zueinander empirisch explorativ, theoretisch explikativ und politisch artikuliert zur Geltung zu bringen. Handlungsvermögen, das eine verändernde Unruhe in das System des degradierenden Unterscheidens einbringt und dieses System nicht schlicht bestätigt und fortführt, stellt weder die heroische Tat des und der Einzelnen, noch das selbstbezügliche Spiel einer strukturalen Logik dar. An einem der thematischen Felder, in denen die Widerstandsthematik in Cultural Studies eine wichtige Rolle spielt, dem mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum „blühenden“ Feld der Hybridität, möchte ich diesen Punkt abschließend ein wenig genauer ausführen.18 Homi K. Bhabha erläutert sein Verständnis von postkolonialer Hybridität so: „In my own work I have developed the concept of hybridity to describe the construction of cultural authority within conditions of political antagonism or inequity. Strategies of hybridization reveal an estranging movement in the ,authoritative‘, even authoritarian inscription of the cultural sign. At the point at which the precept attempts to objectify itself as a generalized knowledge or a normalizing, hegemonic practice, the hybrid strategy or discourse opens up a space of negotiation where power is unequal but its articulation may be equivocal. Such negotiation is neither assimilation nor collaboration. It makes possible the emergence of an ,interstitial‘ agency that refuses the binary representation of social antagonism. Hybrid agencies find their voice in a dialectic that does not seek cultural supremacy or sovereignty. They deploy the partial culture from which they emerge to construct visions of community, and ver-
18 Auf die Kritik am Hybriditätsdiskurs gehe ich hier nicht ein. Eine differenzierte kritische Darstellung des „Hybriditätskultes“ findet sich beispielsweise bei Kien Nghi Ha (2004).
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sions of historic memory, that give narrative form to the minority positions they occupy; the outside of the inside: the part in the whole“ (1996a, S. 58).
(Postkoloniale) Hybridität und hybrides Handlungsvermögen versteht Bhabha als Phänomen der Überschreitung und Zurückweisung binärer Unterscheidungen. Diese „interstitial agency“, diese Wirksamkeit im Bereich zwischen theoretisch kontingenten, aber/und empirisch robusten „Vernähungen“, dem dritten Raum, ist in zweierlei Hinsicht „widerständig“. Zum einen widersetzt sich Hybridität dem universellen Anspruch binär unterscheidender Schemata (vgl. Mecheril 2003b), sie verweigert sich der allein oppositionellen Repräsentation und Konstruktion sozialer Prozesse und Antagonismen.19 Das widerständige Potenzial von Hybridität besteht zum zweiten darin, dass Hybridität die hegemoniale Praxis der dominanten Kultur unterwandert und unterläuft. Bhabha (1994) demonstriert dies an der kolonialen Situation: Um ihre Dominanz, „sich“ durchzusetzen, sind die Kolonisierenden darauf angewiesen, dass die Kolonisierten Symbole und Diskurse der Kolonisierenden übernehmen; diese verfremdende, verschiebende Wiederholung destabilisiert aber die dominante koloniale Macht. Durch die Mimikry der Kolonisierten wird das dominante System in einer nicht heilbaren Weise verwundet. Da die hegemoniale Macht darauf angewiesen ist, sich an und in den Anderen zu wiederholen, stellt sie ein Einfallstor für sie nachträglich destabilisierende Veränderungen bereit und mehr noch: dar. Im Hintergrund dieses Einfallstores fungiert der innere Widerspruch des Kolonialismus, der seine „Anderen“ „zivilisieren“ und sie zugleich in fortwährender „Andersheit“ halten muss (Loomba 1998, S. 173). Die widersprüchliche koloniale Notwendigkeit, die Anderen zu „zivilisieren“, sie durch Bildung und Mission an dem „Eigenen“ teilhaben zu lassen, verbiegt und beunruhigt das Eigene. Denn durch verschiebende, neuschreibende und „entstellende“ Wiederholung, durch Mimikry und Camouflage fordert die „kolonisierte hybride Identität“ die superiore Identität heraus. Bhabha geht es um ein Verständnis von „Handlungsspielraum“ (agency) als „einer dialogischen Position von Berechnung, Verhandlung und Befragung“ (1996b, S. 354). Er bindet den „postkolonialistischen“ Handlungsspielraum an Kontingenz. Kontingenz ist Bedingung des Spielraumes. Denn durch die und in der Unbestimmtheit, die im an Derrida angelehnten sprachlichen Modell von Bhabha als verschiebende Wiederholung der Vergangenheit(en) in der Gegenwart gedacht wird, bewahrheitet sich Hybridität. Im Anschluss an Frantz Fanons Arbeiten,
19 „Hybridity is to culture what deconstruction is to discourse: Transcending binary categories“ (Nederveen Pieterse 2001, S. 238).
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die gezeigt haben, dass die koloniale Autorität sich dadurch verwirklicht, dass sie das schwarze Subjekt einladen, die weiße Kultur nachzuahmen, geht Bhabha davon aus, dass „such an invitation itself undercuts colonial hegemony“ (Loomba 1998, S. 178). Die un-mögliche Identifikation, die prekäre Nachahmung bringt eine „subversive Strategie subalternen Handlungsspielraums hervor, der seine eigene Autorität schafft, durch wiederholtes ,Auftrennen‘ und aufrührerisches Neuverknüpfen“ (Bhabha 1996b, S. 353). Widerstand und Wirksamkeit der hybriden Subjekte denkt Bhabha somit nicht als Aktivität der Individuen, sondern als Phänomen, das durch den dominanten kolonialen Diskurs selbst erzeugt wird. Nicht die „Subjekte“ sind widerständig, sondern der Struktur postkolonialer Gesellschaften sind Ambivalenzen eingelagert, aus denen Widerstand strukturell resultieren kann. Doch können und müssen diese Einlagerungen auch als subjektivierende Momente eines beständig Handlungsvermögen nachfragenden Zusammenhangs verstanden werden, der sich nur durch symbolische Handlungen verwirklicht. Kommen wir – ein letztes Mal – auf Ayse Solmaz zurück. Ayse ist weder deutsch noch türkisch; durch ihre Anwesenheit, durch die in dieser Anwesenheit formulierten, Forderung, sich auf sie pädagogisch zu beziehen, durch die Ausbildung von Wirksamkeitsvermögen, die es ihr ermöglichen zu partizipieren (christliche Weihnachtslieder singen, deutsche Spiele spielen, türkische Geschichten erzählen etc.), schwächt sie das System der eindeutigen Unterscheidung. Diese Schwächung wird in dem Augenblick zu einer Bedrohung der Ordnung, wenn die Hoffnung auf Umwandlung der irritierenden Elemente in einschätzbare Ja- oder Nein-Partikel, Wir- oder Nicht-Wir-Teile aufgegeben werden muss und offenkundig ist, dass die un(zu)gehörige, Ayses hybrider Erscheinung eingeschriebene Allianz von Nähe und Ferne (weder durch „Rückkehranreize“ noch durch „Integrationshilfen“) im Rahmen des binären WirNicht-Wir-Schemas aufgelöst werden kann. Der Zugehörigkeitsstatus Hybrider ist unaufhebbar. Diese Uneinfügbarkeit bedroht, weil sie anzeigt und verkörpert, was durch rassistische Systeme aus der Welt geschafft werden soll: die Kontingenz der Ordnungssysteme.20 20 Hybridität – so will ich hier Bhabhas Verständnis postkolonialer Hybridität verallgemeinern – weist auf Phänomene der Zusammensetzung hin, denen aufgrund einer im doppelten Wortsinn unmöglichen Überschreitung der Geruch des Unzusammengehörigen anhaftet. Möglich sind hybride Phänomene nur in einem Kontext, der ihre Paradoxie machtvoll produziert, wobei die formalen Elemente sind: die als sinnvoll, natürlich etc. betrachtete Trennung und die unter bestimmten gesellschaftlich-historischen Bedingungen biographisch notwendige, spannungsreiche Zusammenführung des Getrennten. Als zentraler Effekt dieser Zusammenführung wird das binäre Regime, das sie hervorbringt, geschwächt und herausgefordert.
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Ayses Mehrfach-Status, der auch ein mehrfacher Status der NichtZugehörigkeit ist, wird von einer auf die Einwertigkeit sozialer Zugehörigkeit angewiesenen Ordnung hervorgebracht und von dieser Ordnung zugleich, weil Mehrfachzugehörigkeit das Ordnungsprinzip bedroht, produktiv nicht anerkannt (indem beispielsweise Zonen der Subalternität ausdifferenziert werden). Ayse und ihresgleichen zeichnet insofern eine durch und durch zerstörerische Eigenschaft aus (zu der sie durch ein Versehen, eine absichtslose Anwesenheit, einen biographischen Unfall gekommen sind): Sie zerstören Unterscheidungsschemata und -praxen, beispielsweise Machtsemantiken wie die Binarität zwischen den „mächtigen Weißen“ und den „unterdrückten Schwarzen“. Damit schwächen sie auch die Selbstverständnis-Mythen in den subkulturellen communities. Sie zerstören, um es in einer Referenz an Georg Simmel (1968) zu sagen, die Hoffnung, dass das Morgen, an dem sie die Fremden geblieben sind, ausbleiben könnte, verkörpern das schon eingetretene Morgen und stellen in ihrer absichtslos störrischen Uneinfügbarkeit den paradoxen und darin beunruhigenden Anspruch, als Nicht-Zugehörige zugehörig zu sein.21 Allerdings/und: In den binär strukturierten Diskursen konstituiert sich bei jenen, die sich auf der anderen Seite befinden, der Wunsch und der Wille, das diskursive Feld zu verändern, deren Effekt sie sind. Sie sind der Effekt eines Zusammenhangs, der ihnen reflexiv gestattet, die trügerische Vorstellung einer anderen Zeit, sei dies eine (z.B. präkoloniale) Vergangenheit oder eine (postkoloniale) Zukunft, zu pflegen. Doch: „Too late. Everything is anticipated, thought out, demonstrated, made the most of. [...] You come too late, much too late. There will always be a world – a white world – between you and us“ (Fanon 1967; zit. nach Bhabha 1996, S. 56). Frantz Fanons „Zu spät“ taugt zu zweierlei. Es taugt als allgemeines subjekttheoretisches Motto, in dem die idealistische Sehnsucht nach einer Ankunft an einem unbeschriebenen Ort zum Ausdruck kommt und die Enttäuschung darüber, dass dies nicht so ist: Zu spät, da war schon jemand und etwas vor mir da und hat mir dadurch die Möglichkeit genommen, ich zu sein. Ich wurde meiner selbst beraubt, noch ehe ich ich wurde. Es taugt darüber hinaus als spezifisches Motto, das die Paradoxie der „anderen Subjektposition“ und die Widersprüchlichkeit des mit dieser Position identifizierten und für seine Anerkennung kämpfenden subalternen Subjekts deutlich macht. Denn durch das strategisch bedeutsame Eintreten für das subalterne Subjekt wird ihre Subalternität wieder eingeschrieben und bestätigt. Fanon (1980) macht – resignativer als Bhabha ihn interpretiert – deutlich, dass das
21 Ausführlicher habe ich diese Gedanken in dem Essay „Politik der Unreinheit“ ausgeführt (Mecheril 2003b).
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postkoloniale schwarze und subalterne Subjekt, das unmögliche Subjekt, in einer Traurigkeit im Blick des Betrachters existiert, die auf die eine Seite des Gramsci’schen Hegemoniebegriff verweist: die Komplizität der Subalternen. Die andere Seite dieser hegemonialen Verhältnisse ist das der Struktur dieser Verhältnisse eingelagerte subversive Potenzial. Widerstand – als Kennzeichnung einer „strukturellen“ Option ebenso wie als Beschreibung einer Handlungsweise – ist immer beides: Wiederholung und Verschiebung der dominanten Verhältnisse, gegen die sie sich richtet. Widerstand ist un-möglich. Wenn der un-mögliche Widerstand als inhaltlich (vorsätzlich) nicht endgültig bestimmte Kategorie verstanden wird, dann sind Widerstand und Handlungsvermögen im doppelten Sinne des Wortes Vermögen, für die sich eine politisch-normativ reflektierte Wissenschaft mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln der Erkenntnisbildung und Re-Artikulation einsetzt (vgl. Grossberg 1999, S. 66ff.). Es spricht somit vieles dafür, die angesprochenen Auffassungen von Widerstand (Widerstand als strukturell eingelagerte und als aktionale Option; Widerstand als Wiederholung und als Verschiebung von Ordnungen) nicht gegeneinander auszuspielen, weil dadurch entweder ein Idealismus des Subjekts oder ein Idealismus der „Struktur“ bestärkt würde. Beide Idealisierungen sind nicht überzeugend. Denn so wie es kein Subjekt ohne Gesetz gibt (Butler), so gibt es auch kein Gesetz ohne Subjekt. In gewisser Weise geht es also darum, die unterschiedlichen Antworten gleichzeitig zu geben, die Antworten parallel und synchron zur Geltung zu bringen, die Spannung zu halten und damit intellektuelle Felder zu schaffen, in denen die politische, theoretische und empirische Angemessenheit der Antworten von neuem befragt, eröffnet und revidiert werden kann. In diesem Sinne stellen Cultural Studies ein reflexives und nicht abschließbares Unternehmen dar: Wo Subjekte und Diskurse sind, da macht es Sinn, Formen der widerstandsproduktiven Verhinderung von praktischer Wirksamkeit zu beobachten, zu analysieren und zu (re-)artikulieren. Um es am Ende nicht ganz ernst zu formulieren: Wo Macht ist, da sind Cultural Studies.
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A llt ägli che Ident it ät s arb eit u nd K olle kt ivb ezug. D as wi eder e nt deckt e W ir in ein er indi vidu ali si ert en G es ell sch af t WOLFGANG KRAUS
„Deshalb ist jede(r) von uns mit dem gleichen Problem konfrontiert: Wie soll man sich mithilfe der Anderen [...] in seinen multiplen Persönlichkeiten finden (und ‚wiederfinden‘)?“ Étienne Balibar
Soziale Zugehörigkeit als Thema der Identitätstheorie ist nicht neu.1 Als „generalized other“ taucht die Sozialität schon als Wesensmerkmal der interaktionistischen Identitätstheorie auf. Gleichwohl zeigt sich in den letzten Jahren ein neuer theoretischer Klärungsbedarf. Denn die gesellschaftlichen Makroveränderungen, auf die sich die Theorie der reflexiven Modernisierung in ihrem Erklärungsanspruch bezieht, müssen auch auf der Mikro- und Mesoebene nachweisbare Spuren hinterlassen. Jürgen Habermas (1998) hat in diesem Zusammenhang von einem „Formenwandel sozialer Integration“ gesprochen, der als ambivalenter Wandlungsprozess zu begreifen sei. Diese Entwicklung führe zu einer „zweideutigen Erfahrung“: „Die Desintegration Halt gebender, im Rückblick autoritärer Abhängigkeiten, die Freisetzung aus gleichermaßen orientierenden und schützenden wie präjudizierenden und gefangennehmenden Verhältnissen. Kurzum, die Entbindung aus einer stärker integrierten Lebenswelt entlässt die Einzelnen in die Ambiva1
Herzlichen Dank den ProjektkollegInnen Renate Höfer, René John, Heiner Keupp, Holger Knothe und Florian Straus für vorbereitende Diskussionen.
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lenz wachsender Optionsspielräume. Sie öffnet ihnen die Augen und erhöht zugleich das Risiko, Fehler zu machen“ (S. 126f.).
Aus der Perspektive einer sozialpsychologischen Theorie alltäglicher Identitätsarbeit stelle ich die Frage, welche Theorieangebote die Analyse dieser veränderten Situation stützen können. Ihre Sichtung ist Gegenstand dieses Artikels.
Individualisierung und Kollektivbezug in der zweiten Moderne In der zweiten Moderne – so die Überlegung – entkoppeln sich tendenziell die Bezüge in der institutionellen Strukturierung von Sozialisierungspfaden; die Passförmigkeit des Institutionengefüges löst sich auf, so dass das Angebot an „Normalformen“ für Individualbiographien schwindet. In dem Maße, wie die Bindung an Traditionen und ihre institutionelle lebensphasische Strukturierung schwächer wird, müssen kollektive Identitäten der ersten Moderne den Charakter des Gegebenen verlieren. Das erleichtert einerseits die individuelle Wahl und erhöht ihre Bedeutung. Aber durch den Schwund an Normalformtypisierungen erschwert es sie zugleich (Dahler-Larsen 1997). Gerade weil also Zugehörigkeiten ihren Charakter als kulturelle Selbstverständlichkeiten verlieren, öffnet sich eine Leerstelle. Die Frage ist, wie subjektive Identitätsstrategien aussehen, durch die sie gefüllt werden soll. Auch wenn die Bezugnahme auf eine nationale Gemeinschaftskultur nach wie vor stark sein mag, stellt sich die Frage, ob sie ihre Zentralität behaupten kann oder aber ob sie nur noch zu einer aus einer Vielzahl von Wir-Bezügen wird. Die „Anderen“ sind dann nicht mehr gleichzusetzen mit Personen außerhalb des nationalen „Containers“ bzw. des persönlichen Umfelds. Kollektivbezüge speisen sich – so die These – zunehmend aus einem globalen Angebot identitärer Versatzstücke. In diesem Sinne kann man von einer „internal globalization“ (Beck 2002) sprechen, die das Alltagsbewusstsein der Subjekte verändert, selbst wenn sie versuchen, sich innerhalb eines nationalstaatlichen Raumes abzuschotten. Im Übrigen verweist die Dekonstruktion des Begriffs der nationalen Identität durch die „Identity Politics“-Forschung ohnehin darauf, dass er eine nationale Homogenität auf Kosten von Teilgruppen einer Gesellschaft behauptet und so Herrschaftsstrukturen verschleiert. Aus einer solchen herrschaftskritischen Perspektive wird deutlich, dass die aktuelle Prominenz des Identitätsbegriffs
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„[...] nicht als einfaches Indiz einer intellektuellen Mode betrachtet werden [darf], denn sie antwortet auf einen tatsächlichen Wandel der Praktiken und der politischen Ziele: Die sozialen Auseinandersetzungen nehmen in zunehmendem Maße die Form von Kämpfen um Anerkennung an und handeln nicht mehr von der Gleichverteilung der Reichtümer. Identität ist ohne Zweifel sowohl eine theoretische als auch eine praktische Frage geworden“ (Renault 2004, S. 113).
Di e k o n s t r u k t i v i s t i s c h e I d e n t i t ä t s t h e o r i e – und ihre Leerstelle Solche Überlegungen treffen in der sozialpsychologischen Identitätstheorie auf eine Leerstelle, denn sie hat lange Zeit den Bezug auf ein kollektives Wir weitgehend außer Acht gelassen. Zwar waren die sozialen Beziehungen immer präsent, aber aus einer individualisierungstheoretischen Perspektive heraus zunächst auf das unmittelbare soziale Netzwerk und kaum auf kollektive Identitäten bezogen. Eine Theorie reflexiver Modernisierung indes fordert genau diesen Blick. Allerdings kann die neuere Entwicklung der Identitätstheorie durchaus Ergebnisse vorweisen, die als Ausgangspunkt für eine solche Klärung gelten können. Denn sie geschah unter Rückgriff auf Ansätze aus der Soziologie (Herbert Mead und William James), in denen der WirBezug eine zentrale Rolle spielt, auch wenn er dort eher abstrakt bleibt. Hinzu kommt eine Fülle von Überlegungen aus konstruktivistischer Sicht, gestützt durch den „narrative turn“, der die narrative Konstruktion von Identität herausstreicht, die gemeinschaftliche Konstruktionsarbeit (z.B. per „community narratives“) jedoch ebenfalls nur am Rande betrachtet. Als Fazit für den gegenwärtigen Stand der sozialpsychologischen Identitätstheorie stelle ich fest, dass insbesondere der Kohärenzbegriff vielfach ausdifferenziert und das Konzept eines „inneren Identitätskerns“ als essenzialistische Setzung einer grundlegenden Kritik unterzogen worden ist. Die aktuelle sozialpsychologische Identitätsforschung ist sich weitgehend einig in einer breiten Hinwendung zu Überlegungen, wie sie etwa Keupp et al. (2002) in ihrem Konzept einer „alltäglichen Identitätsarbeit“ vorgelegt haben (vgl. Kaufmann 2004; Martucelli 2002; Simon 2004; Coté und Levine 2002; Bauman 2004). Identität wird dort verstanden als ein unabschließbares Prozessgeschehen, das immer ko-konstruktiv, d.h. in Wahrnehmung anderer und in Auseinandersetzung mit ihnen, stattfindet. Kohärenz ist angesichts der Fragmentierung des Alltagsbewusstseins nur als fiktionales Ziel gültig. Die „Tendenz der Subjekte wächst, ein Mehr an inneren Identitätsmöglich145
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keiten zuzulassen“ (Honneth 2000, S. 1087). Für das Individuum ist es unmöglich geworden, seine Identität als Einheit zu artikulieren. Es kann sich identitär nur aus einer je spezifischen Selbstpositionierung in Spezialkontexten heraus als „Ganzes“ beschreiben und so eine strategische Haushaltung seiner Kräfte gegenüber den unterschiedlichen Systemanforderungen sicherstellen. Die Beschreibung der Individualität erfolgt, so Hahn und Bohn (1999), zum einen im Modus der „biographischen Identität“, zum anderen im Modus einer „partizipativen Identität“. Letztere nimmt Bezug auf die Gemeinsamkeiten mit anderen. Weil die gruppenspezifischen Merkmale nicht eindimensional sind und sich in Teilaspekten artikulieren, bedarf es wiederum der narrativen Synthese zur Konstruktion einer Gesamtidentität, die das Individuum als ganze und einzigartige Person beschreibt. Diese hier skizzierte Konvergenz darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sowohl in der Psychologie als auch in der Soziologie die identitätstheoretische Diskussion keineswegs abgeschlossen ist. So kann mit Peter Wagner (2002, S. 305) etwa für die Soziologie festgestellt werden, dass sie lange Zeit eher reduktionistische Subjektkonzeptionen vertreten hat, die weit hinter dem zurückgeblieben waren, was in der philosophischen Diskussion und in der Kunst an Differenzierungen vorgenommen worden war. Und diese soziologische Distanz zur Identitätstheorie ist keineswegs beendet. Auch für die Jetztzeit konstatiert Martucelli das Unbehagen der Soziologie an neueren identitätstheoretischen Überlegungen: „Die Schwierigkeit also, ja die Unfähigkeit der Soziologie, der identitären Dezentrierung auf eine operationale Weise Rechnung zu tragen, ist frappierend. Zum einen weiß sie nicht wirklich, was sie mit der Zersplitterung des Selbst anfangen soll, außer in Diskurse über die ‚multiple‘ Natur des modernen Individuums zu verfallen, die sich sehr schnell wiederholen und leer laufen. Zum anderen tut sie sich vielleicht schwerer als andere Disziplinen, sich von dem zu befreien, was wahrscheinlich das grundlegende Postulat des abendländischen Individuums ist. Der Idee nämlich, dass es, ungeachtet des Zerbrechens des Individuums, bei ihm eine fundamentale Invarianz gibt, einen ,Stil‘, eine erste und grundsätzliche Haltung gegenüber der Welt, einen ,Charakter‘, der unser gesamtes Verhalten auf eine unauslöschliche Weise bestimmt. In der Tat ist zu konstatieren, dass die Analysen sehr häufig im Metaphorischen stecken bleiben oder sich auf die Beschwörung des Prozesses beschränken, wobei nicht selten eine situative Beschreibung genügen muss, um ihn zu darzustellen“ (Martucelli 2002, S. 404).
Nach wie vor wird die Identitätsdiskussion oft von „außen“ in die Fächer getragen, ihr Neuigkeitswert „von innen“ bezweifelt.
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„Ein Soziologe ist geneigt zu denken, dass die neue poststrukturalistische Rhetorik der ‚Subjektpositionen‘ eine unnötige Wiedererfindung des gewohnten Vokabulars von Status und Rolle ist. Dies ist ein Ergebnis der Tatsache, dass so vieles der bekanntesten aktuellen Sozialtheorie außerhalb der Soziologie und allzu oft in Unkenntnis der soziologischen Theoriebildung entstanden ist“ (Calhoun 1995, S. 197).
Alltägliche Identitätsarbeit und kollektive Identitäten Im engeren Kontext der Identitätsdiskussion hat zwar ein Modell alltäglicher Identitätsarbeit breite Anerkennung gefunden, der Bezug auf kollektive Identitäten bleibt allerdings ungeklärt. Der Wir-Bezug ist vorhanden, aber im Großen und Ganzen gilt nach wie vor Peter Wagners (2002, S. 315) Feststellung, dass die Diskussionen um kollektive und personale Identität merkwürdig unverbunden nebeneinander stehen. Modelltheoretisch lohnt als erster Zugang einmal mehr ein Blick auf das Werk Erik Eriksons, weil er in seinen Schriften personale Identität auch in ihren Bezügen zu kollektiven Identitäten thematisiert hat. Diese Frage war ihm im Übrigen als Sohn eines dänischen Vaters und einer deutschjüdischen Mutter, mit einem deutschen Stiefvater, nach österreichischen Lehr- und Wanderjahren, in der US-amerikanischen Emigration, die er über Dänemark erreichte, auch vor dem Hintergrund seiner eigenen Biographie nicht fremd. Nach Erikson ist Identität deshalb so schwer zu fassen, weil wir es mit einem Prozess zu tun haben, „der im Kern des Individuums ‚lokalisiert‘ ist und doch auch im Kern seiner gemeinschaftlichen Kultur‚ ein Prozess, der faktisch die Identität dieser beiden Identitäten begründet“ (1970, S. 18). Erikson siedelt den Identitätsbegriff also zwischen Innen und Außen an, zwischen Subjekt und Gesellschaft. So sehr es ihm im Gefolge Freuds darum geht, Identitätsbildung als einen innerpsychischen Vorgang zu verstehen, so klar ist ihm doch auch, dass dieser in der Gesellschaft stattfindet. „Was [Erikson] mit dieser delphischen Formulierung zu meinen scheint, ist, dass Identität eine Interaktion ist zwischen der inneren Entwicklung der individuellen Persönlichkeit, verstanden in Begriffen, die aus dem Freud’schen Modell des Es-Ich-Überich abgeleitet sind, und dem Wachsen eines Selbstgefühls, das aus der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft erwächst, aus der Internalisierung ihrer kulturellen Normen, dem Erwerb verschiedener statusbezogener Positionen und dem Einnehmen verschiedener Rollen“ (Gleason 1992, S. 128).
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Vom Nationalcharakter zur nationalen Identität Hinsichtlich der Gemeinschaftskultur nimmt Erikson einen nationalen Blickwinkel ein. Der Kollektivbezug ist bei ihm wesentlich als nationaler Bezug verstanden, der sich in einer Gemeinschaftskultur manifestiert. Aktueller Bezugsrahmen ist für ihn nach Gleason (1992) die kollektive Selbsterforschung der USA, die in der Zeit während des zweiten Weltkriegs und danach stattgefunden hat. Erikson untersucht in diesem Zusammenhang die Auswirkungen eines „Nationalcharakters“ auf die individuelle Identitätsbildung. „Der historische Wandel“, so schreibt er, „hat ein solches Ausmaß und solche Beschleunigung erreicht, dass er als Bedrohung der sich entfaltenden amerikanischen Identität erlebt wird“ (Erikson 1966 [1946], S. 46). Mit seinen „Reflections on the American Identity“ beteiligt er sich an einer damals bedeutsamen Diskussion, die von Margaret Mead und anderen geführt wird und ersetzt den dort zentralen Begriff des „Nationalcharakters“ durch den Begriff der „nationalen Identität“, mit all den theoriestrategischen Möglichkeiten, die sich daraus ergeben (Erikson 1950, S. 285ff.). Nach dem Krieg ist es dann die große Debatte über die Massengesellschaft und den Platz eines entfremdeten Individuums darin, in der ein weiterer Erikson’scher Begriff: die „Identitätskrise“, einen prominenten Platz findet (vgl. David Riesman et al. 1953) . Kollektive Identität war also ein Thema, das die Identitätsforschung im Gefolge Eriksons von zwei Seiten im Blick hatte: zum einen aus der Sicht des Subjekts, das sich auf eine kollektive, primär nationale, Identität bezieht und darin verortet, und zum anderen mit Blick auf das Kollektiv, dem selbst eine Identität zugesprochen werden kann. „Die Bedeutungsverschiebung, die der Identitätsbegriff dabei annimmt, liegt auf der Hand: Aus der (psychologischen) Identität und ‚Identitätsarbeit‘ einer einzelnen Person wird die Einheit vieler und deren ‚Begründung‘. Ein gängiger Zweifel drängt sich wie von selbst auf: ist es nicht doch so, dass man durch das bloße Anhängsel ‚kollektiv‘ einen individualpsychologischen Begriff missbraucht, um die Existenz und Einheit von etwas zu suggerieren, das es vielleicht ‚gar nicht gibt‘ – das jedenfalls nie und nimmer so existiert, wie es eine leibhaftige Person tut?“ (Straub 1998, S. 98).
Auch wenn man sich der Straub’schen Missbrauchsthese nicht uneingeschränkt anschließen mag, so ist doch offenkundig, dass die breite Anwendung des Identitätsbegriffs Unschärfen und Missverständnisse provoziert. Die von Wagner konstatierte Distanz zwischen den Forschungen zur individuellen und zur kollektiven Identität mag vielleicht auch darin 148
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begründet liegen, dass der Identitätsbegriff eine Nähe der beiden Felder suggeriert, ohne diese Erwartung in der konkreten Analyse der Bezüge so einfach einlösen zu können.
Ko l l e k t i v e I d e n t i t ä t e n u n d r e f l e x i v e Modernisierung Eine Sichtung der aktuellen Forschung zur kollektiven Identität stößt zunächst auf das erwähnte Unbehagen angesichts der Unschärfe des Begriffs. Die Frage, ob einem kollektiven Wir eine Identität zugesprochen werden soll, hat die Sozialwissenschaften seit ihrem Beginn umgetrieben. Zu einer abschließenden Klärung ist es bis heute nicht gekommen (Niethammer 2000). Die Begriffsgeschichte ist komplex und widersprüchlich, so dass man mit Recht von einer „crowded category“ (Dahler-Larsen 1997) sprechen kann. Dennoch wäre wenig gewonnen, wenn man sich von dem Begriff einfach verabschieden würde. Denn die aktuelle Diskussion der Begriffsgeschichte zeigt auch, dass es durchaus Sinn macht, sich auf diesen Kontext weiter zu beziehen (vgl. Simon 2004). Denn aus der Sicht der Individualisierungstheorie wird die mangelnde theoretische Verknüpfung der kollektiven Identitäten mit der Frage der personalen Identität überdeutlich. Es erscheint mir daher einleuchtend, den subjektiven Bezug auf kollektive Identitäten genau zu analysieren, dabei aber am Individuum als Orientierungspunkt festzuhalten. Abgesehen von dieser grundsätzlichen Diskussion um die Beibehaltung des Begriffs der kollektiven Identität gibt es eine ganze Reihe von Überlegungen, die aus der Perspektive einer reflexiven Modernisierung vielversprechende Anschlusspunkte bieten. Sie betrachten im Wesentlichen die unschärfer werdenden Wir-Bezüge der Subjekte, die zunehmende Instabilität dieser Bezüge und die Affektseite von kollektiven Identitäten.
Hybridisierung Insbesondere aus der Migrationssoziologie und den Cultural Studies speisen sich viele Überlegungen zu einer Hybridisierung der subjektiven Wir-Bezüge (Robbins 1998). Kollektive Identitäten verlieren danach ihre Passförmigkeit für gewisse soziale Gruppen. Diese erleben solche Bezüge als nicht (mehr) angemessen für ihre identitäre Selbstkonstruktion. Die Rede ist vom subjektiven Erleben eines „Dazwischen“, einer „metissage“ (Laplantine und Nouss 2001) oder „Kreolisierung“ (Glissant 2002) jenseits binärer Wir-Bezüge. Migrations- bzw. Mobilitätserfah149
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rungen bringen danach die individualisierten Individuen nicht nur mit neuen kollektiven Identitäten in Berührung, sondern setzen sie Identitätsanfragen und vor allem -zuschreibungen aus. Die individuellen identitären Antwortmanöver sind vielschichtig und transgressiv, herrschende Kategorien übersteigend, geprägt von einem „Nicht-mehr – Noch-nicht“ bzw. „Sowohl-als-auch“ (Mecheril 2003). Der Begriff der Hybridität dient hier nur als Verweis auf das Phänomen und die Diskussion darüber. Denn er bleibt bisher unscharf, was zu einem gelegentlich überbordenden „hybridity talk“ führt (Hutnyk 1996). Die Gefahr ist, dass so die alten Probleme der Ausbeutung und Rassendiskriminierung mit einer neoromantischen Sozialfigur verschleiert werden (van der Veer 1996). Dennoch kann man die Fragen, welche hier aufgeworfen werden, nur noch aus der Mitte einer Nationalgesellschaft argumentierend als Randproblem abtun. Zum einen rücken sie, global gesehen, zunehmend stärker in den Blick, und zum anderen kann individualisierungstheoretisch argumentiert werden, dass auch die individualisierten Individuen eines nationalstaatlichen Raums zunehmend hybride Muster von WirBezügen ausbilden. Insofern geht es nicht „nur“ um Migrationsidentitäten, sondern auch um die erwähnte „innere Globalisierung“ der Subjekte in einem nationalstaatlichen Raum. Aus identitätstheoretischer Sicht stellt sich die Frage, was Zugehörigkeit angesichts der Auflösung von Figuren sozialer Identität subjektiv bedeuten kann (Hall 2002).
Labilisierung von Wir-Bezügen Ein zweiter Befund zur kollektiven Identität verweist auf die schwindende Stabilität kollektiver Identitäten, ihre Wandelbarkeit und ihre situative Aktivierbarkeit. Die Überlegung schließt an die oben angesprochene subjektive Verarbeitung von Migrationserfahrungen mit dem damit implizierten zunehmenden Abstand zur Herkunftskultur an. Denn solche Erfahrungen fördern das Gefühl der Labilität von kollektiven Wir-Bezügen, bedingt auch durch die Wahrnehmung einer „Gegenwartsschrumpfung“, d.h. einer fortschreitenden „Verkürzung der Zeiträume, für die wir mit einiger Konstanz unserer Lebens-, Arbeits- und Produktionsverhältnisse rechnen können“ (Lübbe 2000, S. 1). Das also, was eine kollektive Identität ausmachen kann, ist in seiner Geltungsdauer einem immer schnelleren Verfallsprozess ausgesetzt, was eine „temporale Identitätsdiffusion“ (ebd.) zur Folge hat. Allerdings kann eine zunehmende Labilität kollektiver Identitäten nicht uneingeschränkt behauptet werden. Das zeigen etwa empirische Befunde zum Nationalgefühl bzw. zur kulturellen Identität (vgl. Kelman 2001). Gerade dort finden sich aber auch Belege, dass etwa nationale 150
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Identität aus einem Bündel von Dimensionen besteht, dessen Zusammensetzung historisch und individuell erhebliche Wandlungen erfahren kann. Bezogen auf eine spezifische kulturelle und/oder nationale Identität stellt sich dann die Frage, ob in dem dort eingepassten und institutionell abgesicherten Angebot an Wir-Bezügen eine Veränderung erkennbar ist. Zudem wird die Bezugnahme darauf globalisiert. Sie wird zu einem – nach wie vor wichtigen – von vielen Identifikationsangeboten in einem breiten, medial vermittelten und virtuell verfügbaren Sortiment. Was bei der Frage der Flüchtigkeit von Verortungen also auch in den Blick geraten muss, ist die mediale Seite, die globale Verfügbarkeit von Identitätsangeboten ohne räumliche Verortung, gestützt auf neue Techniken der Kommunikation und des Austauschs. Dies erschwert subjektive Kontinuitätserfahrungen und die Konstruktion von personalem Vertrauen (Croucher 2004). Die virtuelle Form des Kollektivbezugs ist für den Begriff der kollektiven Identität selbst eine Herausforderung. Denn in vielen Ansätzen wird bislang im Sinne Benedict Andersons (1991) die „imagined community“ zwar als Konstruktion anerkannt, aber nicht als konsistenter theoretischer Rahmen genutzt, sondern modelltheorisch wie empirisch gleichwohl durch eine Vielzahl von Gruppenidentitäten mit den Charakteristika des Face-to-Face-Kontaktes unterfüttert (vgl. Ashmore et al. 2001). Bei virtuellen Gemeinschaften ist dies aber nicht mehr notwendig der Fall, mit notwendigen Folgen für die Vertrauensbildung und die Konstruktion und Erhaltung sozialer Verortungen. Ein solcher Fokus stellt zudem die Frage nach den Ressourcen, die für einen solchen Modus der Identitätsarbeit notwendig sind. Denn es gibt erhebliche soziale Unterschiede im Zugang zu den virtuellen Welten („digital divide“: Morley 2000).
Die affektive Dimension von Wir-Bezügen Ein dritter Diskussionsstrang kreist um die Rolle von Emotionen und ihre handlungsleitende Qualität für individuelle Wir-Bezüge. Pointiert gesagt: Auch wenn ein subjektiver Wir-Bezug reflexiv gewählt sein mag, basierend auf einer konstruierten Tradition und kulturellen Ready Mades, so heißt das noch lange nicht, dass es einem nicht „todernst“ damit sein kann. Die Gefühlsseite von kollektiven Identitäten, die Bekämpfung von bedrohlichen Gefühlen wie Angst, Ohnmacht, Hilflosigkeit und Entwürdigung, die Fokussierung von negativen Gefühlen wie Hass und Wut auf Dritte sind keineswegs von der „postmodern ironischen Gesellschaft“ entsorgt worden. Es gibt auch in den spätmodernen Gesellschaften genügend Beispiele für das Gegenteil, etwa in Form der „explosions identitaires“ in den französischen Vorstädten (Kaufmann 2004). Ja, die 151
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Frage ist, ob nicht mit der Auflösung gesellschaftlicher Strukturierungen auch die Container für diese destruktiven Gefühle beseitigt worden sind, ohne dass neue aufgestellt worden wären. Dies gilt im Übrigen auch für „positive“ Gefühle wie Euphorie, Geborgenheit und Sicherheit. Die affektive Seite der Wir-Bezüge wird in der aktuellen Forschung zur kollektiven Identität, wie erwähnt, eher am Rande behandelt. Dabei stellen Emotionen sowohl in der Euphorie einer „Love-Parade“ einerseits wie auch in hassgeprägten gewaltsamen Auseinandersetzungen von Bevölkerungsgruppen andererseits zentrale Charakteristika von WirBehauptungen dar (Mamdani 2004). Zwar gerät in den letzten Jahren die Angst als affektiver Bezugspunkt zunehmend in den Blick der Gesellschaftsanalyse (Moghaddam und Marsella 2004), aber das Bild des strategischen modernen Entscheiders ist immer noch so stark, dass Emotionen als bloßes Resultat oder Beiwerk von individuellem identitärem „Management“ (sic!) erscheinen. Die Gefahr ist, dass damit das strategische Handeln des Identitätsarbeiters und die reflexive Haltung des individualisierten Individuums in einer rationalen Moderne überbetont werden. Darüber wird oft vergessen, wie sehr Identitätsarbeit und Kollektivbezüge von Emotionen geprägt sind (Simon et al. 2004).
Al l t ä g l i c h e I d e n t i t ä t s a r b e i t u n d v e r ä n d e r t e Wir-Bezüge: Ressourcen für eine m o d e l l t h e o r e t i s c h e Di f f e r e n z i e r u n g In diesem Reflexionsrahmen muss eine Theorie alltäglicher Identitätsarbeit ihre Überlegungen zu subjektiven Wir-Bezügen ausbuchstabieren: Hybridität als reflexive Situierung des Identitätsarbeiters „zwischen“ den kollektiven Identitäten, Instabilität der Wir-Konstruktionen selbst und Emotion als subjektiv erlebte Beglaubigung für – zumindest situative – Zugehörigkeit. Zwei theoretische Zugänge halte ich für besonders geeignet, diese Theoriearbeit zu stützen. Sie ermöglichen partiell eine Verbindung der genannten drei Themenkomplexe. Es handelt sich zum einen um den Identity-Politics-Diskurs und zum anderen um die Verbindung des Citizenship-Ansatzes mit der Identitätstheorie.
Der Identity-Politics-Ansatz und sein Grundthema: Anerkennung Der Identity-Politics-Diskurs leistet eine herrschaftskritische Untersuchung der identitären Bedeutung von Anerkennung für kollektive Identitäten. Identität ist hier nicht einfach nur Ergebnis. Im Kampf um die Er152
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füllung von Ansprüchen ist sie selber eine Schlüsselressource und -voraussetzung politischen und sozialen Handelns (Castells 2003). Identitätspolitik zielt auf einen möglichst optimalen Zugang zu sozialer Anerkennung und anderen zentralen Ressourcen (Fraser und Honneth 2003). Beiträge dazu kommen vor allem von den Cultural Studies und den Postcolonial Studies. Sie untersuchen die gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen für Identitätspolitiken, d.h. die Entstehungsbedingungen, Konstruktionsmechanismen und gesellschaftlich fundierten Dominanzverhältnisse, innerhalb derer Identitätspolitiken ihre Dynamik entfalten. Dort wird auch die Frage aufgeworfen, inwiefern die zunächst den postkolonialen MigrantInnen zugeordnete Diaspora-Erfahrung (Gilroy 1997) unter den Bedingungen von Globalisierung und Entgrenzung mittlerweile ein strukturelles Moment westlicher Lebensentwürfe in der zweiten Moderne geworden ist. Allerdings bedürfen die Diskussionen einer subjektbezogenen Übersetzung, denn sie werden dort in der Regel gruppenbezogen und nicht aus einer Perspektive individueller Identitätspolitik erörtert. Aus Sicht einer subjektbezogenen Theorie alltäglicher Identitätsarbeit ist ein weiteres Problem des Identity-Politics-Diskurses eine – nicht selten bewusste – Nähe zu essenzialistischen Positionen, die eine konstruktivistische Identitätstheorie weit hinter sich gelassen hat. „Etliche feministische Theoretikerinnen haben zum Beispiel argumentiert, dass es manchmal entscheidend sein mag, ‚den Essenzialismus zu riskieren‘. [...] Das Argument lautet, einfach gesagt, dass es im Falle der Unterdrückung, Entlegitimierung und Entwertung einer spezifischen Kategorie von Identität in den dominanten Diskursen eine lebenswichtige Antwort sein kann, ihren Wert für alle die zu behaupten, die durch diese Kategorie bezeichnet sind, und sie so implizit in einer essenzialistischen Weise zu beschwören“ (Calhoun 1995, S. 202f.).
Im Identity-Politics-Diskurs ist die Analyse gesellschaftlicher Dominanzverhältnisse aus einer identitären Perspektive oft verschränkt mit Überlegungen zur Wahl der richtigen politischen Strategie für deren Veränderung. Der theoretische Nutzen der Analyse ist indes nicht unbedingt davon abhängig, dass die daran gebundene Strategiewahl mitvollzogen wird. Für eine subjektbezogene Theorie alltäglicher Identitätsarbeit ist diese Differenzierung notwendig. Denn die Strategieoptionen sind ja selbst Gegenstand von offenen identitären Positionierungsprozessen der Subjekte.
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Citizenship und Identitätsarbeit als Prozessblick auf Anerkennung Im Gefolge der identitätspolitischen Diskussion gibt es Versuche, die Konzepte von Identität und Citizenship miteinander zu verbinden und aus dieser Perspektive den Anerkennungsbegriff in eine Vielzahl von Zugehörigkeitsdimensionen zu übersetzen (Isin und Turner 2003). Statt also den Fokus auf Citizenship als Status oder Rechtsanspruch zu legen, besteht dort Konsens, dass sie als ein sozialer Prozess definiert werden muss, in dem Individuen wie Gruppen Rechte, Zugänge und Positionen fordern, erhalten oder verlieren (Janoski und Gran 2003). Solche Entwicklungen haben zu einem soziologischen Verständnis geführt, das weniger auf rechtliche Gegebenheiten fokussiert als vielmehr auf kulturelle Normen, Praktiken und Identitäten (Isin und Wood 1999). Für den Blick auf eine subjektbezogene Identitätspolitik sind die unter der Perspektive der Citizenship Studies vorgelegten Versuche hilfreich, Inklusion und Exklusion auf einer Vielzahl von Ebenen zu prozessualisieren. Zugehörigkeit wird dann als Prozess verstanden, der nicht abschließbar ist. Das „boundary management“ (Wellman 1999) wird zu einer komplexen Aufgabe, die sich nicht über binäre Grenzkonstruktionen verstehen lässt. Damit lässt sich der Hybriditätsbegriff als „black box“ zumindest ein Stück weit analytisch aufbrechen. Die Auflösung der binären Zugehörigkeitskonstruktionen in vielschichtige Zugehörigkeitsverhältnisse wird auch subjektbezogen analysierbar. Zudem ermöglicht eine dimensionale Ausdifferenzierung von WirGrenzen die Unterscheidung subjektiver Zugehörigkeitsmuster sowie eine genauere Betrachtung der Grenzen von Wir-Bezügen und damit der Frage des Boundary Managements. Die Grenzziehungen können auf den verschiedenen Ebenen unterschiedlich stattfinden, was wiederum die inter- und intrasubjektive Notwendigkeit zur Aushandlung ihres Bezuges zueinander nach sich zieht (Beck 2002, S. 19). Zugehörigkeit wird an der Peripherie entschieden, im Spannungsfeld unterschiedlicher WirDimensionen, und ist nicht vom Zentrum her bestimmbar. Denn das Zentrum selbst verschiebt sich je nach Bezugnahme auf eine spezifische Grenzdimension. Ein solcher theoretischer Zugang darf allerdings nicht normativ in dem Sinn verstanden werden, dass er an die Stelle des alten Reinheitsideals die Hybridität als neues Ideal setzen möchte, das sich einer empirisch gehaltvollen Analyse der Konstruktionsprozesse kollektiver Identitäten und ihrer Logik entzieht. Denn es ist zu vermuten, dass die Vervielfältigung von Differenzen zu verfeinerten Prozessen der Hierarchisierung und Normierung und damit zu erneuten Ausschlüssen führen könnte (Terkessidis 1999). 154
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Al l t ä g l i c h e I d e n t i t ä t s a r b e i t u n d d i e Ko n s t r u k t i o n v o n W i r - Be z ü g e n Subjektive Identitätspolitik Der Begriff der Identitätspolitik lässt sich auch subjektbezogen verwenden. Er kann in einer Theorie alltäglicher Identitätsarbeit dazu dienen, deren zugehörigkeitsbezogene Dimension zu entfalten (vgl. Giddens 1991). Subjektive Identitätspolitik vollzieht sich danach über symbolische und reale Handlungen, über die anderen und einem selbst angezeigt werden soll, wo das Eigene vom Fremden abgegrenzt werden muss, wo Bedrohungen der Grenzziehungen gesehen werden und abgewehrt werden müssen. Bewusst wird sie den Individuen in der Regel allerdings nur dann, wenn eingeschliffene Identitätskonstruktionen bedroht sind und neu verhandelt werden müssen (Castells 2003). Aus identitätspolitischer Perspektive begründet sich die Attraktivität kollektiver Zugehörigkeiten für Individuen aus dem Nutzen, der sich in einem System gesellschaftlicher Macht- und Ungleichheitsverteilung durch Selbst- und Fremdpositionierung erlangen lässt (Harré und Moghaddam 2003). Solche Positionierungen werden situativ verhandelt. Die Verhandlung beginnt natürlich nicht bei Null, vielmehr gibt es dafür eine Basis in Form der verfügbaren Positionen und Ressourcen einerseits und kulturell verfügbarer Erzählungen andererseits (Harré und Langenhove 1999). Globalisierungsprozesse müssen unter dieser Perspektive dazu führen, dass sich die eingespielten Identitätsmuster und die durch sie gesicherten Normalitätsvorstellungen auflösen. Die „territoriale EntwederOder-Theorie der Identität“ (Beck 2004, S. 13ff.) wird im Prozess der Entgrenzung der Wir-Koordinaten in der zweiten Moderne dekonstruiert. Empirisch stellt sich die Frage, welche Kompensationsstrategien die Individuen in einer solchen Situation entwickeln. Es mangelt zwar überhaupt nicht an Vorschlägen zum Festhalten an den Restbeständen oder zur Rückkehr zu verlorenen Glaubenssystemen, aber solche Anstrengungen bewirken letztlich das genaue Gegenteil. Denn „Kampagnen für die Wahl eines bestimmten Wert- und Glaubenssystems haben tendenziell den subversiven Effekt, die Menschen darüber zu informieren, dass sie Wert- und Glaubenssysteme frei wählen können“ (Anderson 1990, S. 5). Ins Auge springen Versuche, an Identitätsgehäusen festzuhalten, sie zu verteidigen und möglichst Schuldige für die Erschütterungen und Bedrohungen auszumachen. Aber die Veränderungen sind so allgegenwärtig, komplex und diffus zugleich, dass sie trotz des Angebotes reduktionistischer Erklärungsmuster kaum in einfache Ursache-Wirkung- oder Täter-Opfer-Zusammenhänge gebracht werden können. Identitätspoli155
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tisch gesehen sind kollektive Identitäten also sowohl Ausgangspunkt als auch Ziel von individueller Identitätsarbeit. Für sie werden Inklusionsund Exklusionsbestimmungen vorgenommen, die angeben, wer dazugehört und wer nicht. Damit schaffen sie Ansprüche und definieren Rechte, die daraus folgen; sie produzieren Motivationen für die Verteidigung oder Ausweitung der Ansprüche. So erzeugen sie Zugehörigkeiten und sichern darüber Verortung und „Beheimatung“ (Mitzscherlich 1997).
Arbeit am Patchwork multipler Wir-Bezüge Das individualisierte Individuum realisiert seine Identität über eine Fülle von Wir-Bezügen, die alle als Zugehörigkeitsbehauptungen zumindest grundsätzlich die interpersonale Arbeit an Vertrauen und Anerkennung implizieren. Die Herausforderung des Identitätsarbeiters besteht darin, dieses Wir-Patchwork in einer Weise zu organisieren, welche die Individualitätsbehauptung einerseits ermöglicht, ohne andererseits den Gemeinschaftsbezug zu gefährden. Zu vermuten ist, dass es Konstellationen von subjektiven Wir-Bezügen gibt, die den Identitätsarbeiter vor größere Managementprobleme stellen als andere. Sie können wohl keineswegs im Sinne von Eindeutigkeit aufgelöst werden, sondern müssen situativ „verwaltet“ werden. Eine solche auf situative Aushandlung bezogene Identitätsarbeit muss allerdings Konsequenzen für die Konstruktion von Vertrauen und Anerkennung haben, fehlt ihr doch eine situationsübergreifende Zugehörigkeitsversicherung. Empirisch zu klären ist, ob es kollektive Identitäten gibt, die (immer noch) mehr als andere über ein Identität organisierendes und Vertrauen sicherndes Potenzial verfügen, wie etwa nationale Identitäten. Solche Identitäten stell(t)en nicht nur selbst einen Kollektivbezug her, sondern organisieren eine Fülle anderer Bezüge und bieten insofern eine – zumindest vordergründige (?) – Entlastung von der Identitätsarbeit. Im Sinne einer „dreifachen Vergesellschaftung“ (Juhasz und Mey 2003) ist hier zudem an Geschlecht und Klasse/Schicht zu denken. Die „Salience“, d.h. die relative Bedeutung spezifischer kollektiver Identitäten in einer individuellen Bedeutungshierarchie ist von der Social-Identity-Forschung eingehend untersucht worden. Hier liegen auch Theorieangebote zur Modellierung der Hierarchieveränderung vor (Ashmore und Jussim 1997). So ist vorstellbar, dass Wir-Bezüge ganz unterschiedlich hergestellt und akzentuiert werden, bezogen auf eine situative Identitätsbehauptung also eine ganz unterschiedliche Funktion haben. Dabei wird oft – auch methodisch – vernachlässigt, dass die Subjekte kategoriale Rekodierungen vornehmen, die den Bedeutungshof von Wir-Positionen völlig verändern können. Amit (2002, S. 22) zeigt dies 156
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am Beispiel der Frage der Ethnizität. In einer Studie der zweiten Generation von südeuropäischen Einwanderern in Kanada stellte er fest, dass sie die Frage ethnischer Zugehörigkeit ganz markant auf das familiale Beziehungsnetz beziehen. Die Wir-Positionierung findet also weder in eine imaginierte kollektive Identität hinein statt noch in eine konkret erlebbare (die lokale „ethnic community“), sondern wird primär auf die Herkunftsfamilie bezogen. Die Frage ist also nicht nur, wie wichtig bzw. übergreifend spezifische kollektive Identitäten (noch) für den Einzelnen sind, sondern auch, was er als Sinnkonstruktion damit verbindet. Denn Veränderungen sind auf beiden Ebenen zu beobachten. Diese andauernde Positionierungsarbeit ist es, um die es in der alltäglichen Identitätsarbeit geht.
Individuelle Identitätspolitik und soziale Ungleichheit – die Frage des individuellen „Identitätskapitals“ In der Diskussion um den Hybriditätsbegriff ist es bereits angeklungen: Theorien gesellschaftlicher Entwicklung müssen sich daraufhin befragen lassen, wie sie mit der Frage sozialer Ungleichheit umgehen. Das Thema ist in der Theorie reflexiver Modernisierung zunehmend ins Zentrum gerückt. Aus der Sicht alltäglicher Identitätsarbeit kann hier auf die Identity-Politics-Diskussion Bezug genommen werden. Diese verweist darauf, dass sich soziale Ungleichheit auf einer Vielzahl von Ebenen der Zugehörigkeit bzw. Grenzziehung sozialstrukturell ausdrückt und entsprechend der Kampf um Anerkennung vieldimensional ist (Bauman 2004). Wie notwendig dieser Hinweis auch ist, so hat sich doch auch gezeigt, dass ein bloßer Opfer-Diskurs der Realität von benachteiligten Gruppen keineswegs gerecht wird, sie gar mit einer „Defizit- und Kulturfixierung“ (Griese 2004) in einer Opferrolle einschließt. Aber auch der Gegendiskurs hat seine Gefahren, nämlich eine Exotisierung des Fremden oder Hybriden. Subjektbezogen geht es darum, die Ressourcen der individualisierten Individuen mit je unterschiedlichen kollektiven Zugehörigkeiten auf ihre identitäre Bedeutung hin zu analysieren. So stellt sich etwa die Frage, ob in einer globalisierungsgeprägten Welt nicht eine Neubewertung der Kapitalsorten vorgenommen werden muss (Juhasz und Mey 2003). MigrantInnen etwa, die unter einer nationalstaatlichen Perspektive über eine schlechte Kapitalausstattung verfügen, haben möglicherweise Zugang zu einem „capitale spatiale“ (Lévy 2001, S. 13), einem „Raumkapital“, das es ihnen ermöglicht, Bindungen zu verschiedenen kulturellen und/oder geographischen Orten zu haben und zu nutzen, was den Umgang mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Geschwindigkeiten und 157
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Zeiten einschließt. Es stellt sich also die Frage, ob manche Ausdeutungen der Theorie sozialen Kapitals nicht einem „methodologischen Nationalismus“ aufsitzen (Beck 2004). Identitätsbezogen ist zu klären, in welcher Weise die Ressourcen in die Optionen zur Identitätskonstruktion eingreifen, wie sie die Möglichkeiten zur Selbstpositionierung in kollektiven Identitäten beeinflussen und ob sich eine Wirkungshierarchie bestimmen lässt. Solche individuellen Optionen ändern nicht notwendigerweise etwas an der sozialstrukturell bedingten Außenseitersituation, gleichwohl ermöglichen sie individuell eine Vielzahl von Identitätsstrategien und Wir-Bezügen. Für die Zwecke einer individualisierungstheoretisch informierten Identitätstheorie haben Coté und Levine den Begriff des „Identitätskapitals“ vorgeschlagen und ausführlich expliziert (2002, S. 141ff.). Danach geht es in der zweiten Moderne nicht mehr darum, vorgezeichnete Übergänge zwischen Institutionen biographisch zu bewältigen, denn diese sind immer weniger strukturiert (Dubet 2002). Dies bedeutet für die Einzelnen, dass biographische Passagen weitaus individueller und ungeschützter verlaufen und dass Identitätsarbeit hoch individualisiert stattfinden muss. Der Begriff des Identitätskapitals zielt genau auf diese Aufgabe der Selbstpräsentation in einer Vielzahl relativ unverbundener sozialer Kontexte mit tendenziell ungeregelten Übergängen. Es geht also nicht primär darum, einen Status zu erreichen oder zu halten, sondern mit der Brüchigkeit von Rollen und Biographien zurechtzukommen. Dabei helfen nach Coté und Levine neben den sozialen Ressourcen auch „intangible ressources“ wie Ich-Stärke und „reflexive-agentic capacities“ (2002, S. 144). Mit Blick auf die Ressourcen kommt auch die affektive Dimension der Identitätsarbeit wieder ins Spiel. Unter einer modernisierungskritischen Perspektive eröffnet sie den Blick auf die Belastungen für das Ich. So betonen Simon et al. (2004) in ihrer Betrachtung von MehrheitsMinderheits-Beziehungen das „cognitive-affective crossfire“, in dem sich etwa die Angehörigen von Minderheiten befinden. Der Einbezug der affektiven Dimension zielt hier vor allem auf die Frage der Überforderung des Individuums in seiner identitätspolitischen Aufgabe und auf die Rolle der Kapitalausstattung ab (Ehrenberg 2004). Negative Emotionen werden identitätspolitisch in der Regel mit der Analyse von Herrschaft und Diskriminierung in Zusammenhang gebracht. Emotionale „Hochs“ wiederum, wie etwa Euphorie, Trance und Ekstase, sind der Gegenstand von Analysen, die aktuell unter den Stichworten „Event“, „Raves“, „Love Parade“ bzw. „Kult“ firmieren (Gebhardt et al. 2000). Aus einer subjektbezogenen Identitätsperspektive sind hier vor allem Ansätze interessant, welche die „Suche nach Intensität“ (Kaufmann 158
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2003) unter modernisierungstheoretischer Perspektive in ihren Ansatz integrieren und insbesondere die medial zugängliche Form dieser Intensitätssuche betrachten (Le Guern 2002).
Erbschaft als Wahl – Identitätsarbeit als reflexive Daueraufgabe Das Prinzip der Individualität als Freisetzung aus gesellschaftlichen Normierungen und als Affirmation des Prinzips der Vertragsfreiheit, d.h. der freien Gestaltung des Zusammenlebens einerseits und der sozialen Identität anderseits, bedeutet für das Individuum der zweiten Moderne zunehmend das Recht, eine „Bindungserbschaft“ ausschlagen zu können, sich „Testamenten“ nicht fügen zu müssen. „Die Moderne hat einen Modus des Erbens erfunden, der nicht der traditionelle Modus ist, denn das Individuum nimmt sich das Recht, sein Erbe zu wählen. Es kann dies auf mindestens vier Weisen tun: Alles akzeptieren; das Erbe ausschlagen; ein Recht auf Überprüfung nutzen und so nur die Teile des Erbes behalten, die es zufrieden stellen; ein Erbe beanspruchen, das es nicht bekommen hat, das es aber dennoch zu seinem machen möchte“ (de Singly 2003, S. 33).
Bezogen auf kollektive Identitäten fächern diese vier Optionen bindungsstrategische Möglichkeiten der Individuen auf. Welche zum Einsatz kommen, wird auch vom Individualisierungsgrad einer Gesellschaft abhängen. Empirisch können wir allerdings nicht davon ausgehen, dass eine Gesellschaft in homogener Weise „durchindividualisiert“ ist (Wagner 1995). Zu erwarten ist vielmehr die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: „Schematisierend [...] kann man sagen, dass im Innern jedes nationalen Raums Individuen und Gruppen koexistieren, die sich nach der Geschichte ihrer Individualisierung unterscheiden“ (de Singly 2003, S. 238). Es kann also davon ausgegangen werden, dass es empirisch eine Varianz der Bindungstypen gibt, je nach Teilhabe der Einzelnen an den Individualisierungsprozessen. Ein weiterer Differenzierungsfaktor wird die Teilhabe an Ressourcen sein. Denn „eine Gesellschaft kann nicht ausschließlich auf einer Gesamtheit von Vertragsbeziehungen zwischen freien und gleichen Individuen aufbauen, weil sie dann all jene, vor allem aber die Mehrheit der Arbeiter, ausschließt, denen ihre Existenzbedingungen nicht die notwendige soziale Unabhängigkeit bieten, um gleichberechtigt an einer kontraktuellen Gesellschaftsordnung teilzunehmen“ (Castel 2005, S. 54).
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Der individuell gewonnene Gestaltungsraum eröffnet zwar – in starker Abhängigkeit von den Ressourcen – Möglichkeiten des Wir-Bezuges, aber er bietet keine Gewissheiten. Denn der Zweifel als Charakteristikum der modernen kritischen Vernunft dringt in das Alltagsleben ein und formt eine grundlegende, existenzielle Dimension der gegenwärtigen sozialen Welt. „Die Moderne institutionalisiert das Prinzip des radikalen Zweifels und besteht darauf, dass alles Wissen die Form von Hypothesen annimmt: Behauptungen, die sehr wohl wahr sein mögen, aber die prinzipiell immer für eine Revision offen sind [...]“ (Giddens 1991, S. 3). Die subjektive Konstruktion von Wir-Bezügen findet statt inmitten einer verstörenden Vielfalt von Möglichkeiten – ein Modus der „Erbschaft“, der die reflexive Frage nach ihrer Neubewertung ständig mit sich trägt.
Literatur Amit, V. (2002): An anthropology without community? In: V. Amit/ Nigel Rapport (Hg.): The trouble with community. Anthropological reflections on movement, identity and collectivity. London: Pluto Press, S. 13-72. Anderson, B.R. (1991): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso. Anderson, W.T. (1990): Reality is not what it used to be. Theatrical politics, ready-to-wear religion, global myths, primitive chic, and other wonders of the postmodern world. San Francisco: Harper & Collins. Ashmore, R.D./Jussim, L. (1997): Introduction: Toward a second century of the scientific analysis of self and identity. In: R. Ashmore/ L. Jussim (Hg.): Self and identity: Fundamental issues. New York: Oxford University Press, S. 3-19. Ashmore, R.D./Jussim, L./Wilder, D. (Hg.) (2001): Social identity, intergroup conflict and conflict reduction. Oxford: Oxford University Press. Balibar, É. (2003): Sind wir Bürger Europas? Hamburg: Hamburger Edition. Bauman, Z. (2004): Identity. Themes for the 21st century. London: Blackwell. Beck, U. (2002): The cosmopolitan perspective. Sociology in the second age of modernity. In: S. Vertovec/R. Cohen (Hg.): Conceiving cosmopolitanism. Theory, context, and practice. Oxford: Oxford University Press, S. 61-85.
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Die So ziologi e de r Modern e und die Fr ag e na ch d em Sub jekt PETER WAGNER
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neuen Zeitalters – der Moderne – angekündigt habe, in welchem die Frage der Mündigkeit ein für allemal beantwortet worden sei, sondern vielmehr ein Ethos, eine Lebenshaltung, die diese Frage immer offen halte (Foucault 1984). Angesichts dieser Einwände widmet sich der vorliegende Beitrag der Frage nach dem Subjekt in der Soziologie der Moderne zunächst im Sinne einer Reflexion über die Bedingungen, unter denen das soziologische Denken des Subjekts möglich und – vielleicht – notwendig wurde, um dann in einem zweiten, vorsichtigen Schritt zu fragen, wie dieses Subjekt auch gesellschaftsgeschichtlich in Erscheinung zu treten vermag.
De r s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h e S u b j e k t d i s k u r s als Element einer politischen Philosophie Oft wird angenommen, die Frage der Konstitution des Subjekts komme erst mit der Neuzeit auf. Nun trifft es zwar zu, dass etwa im Englischen das Substantiv „self“ als Begriff für dasjenige in einem Menschen, das ihn zu genau dieser Person macht – einer Person, die ein Bewusstsein von sich selbst hat und zum Handeln im Einklang mit diesem Bewusstsein fähig ist – erst vom 17. Jahrhundert an in Gebrauch kommt. Aber die Frage nach dem, was mit „self“ oder später mit „Subjekt“ umschrieben werden sollte, war früheren Denkern keineswegs fremd. Es ist im Kern die Frage danach, ob der Mensch über den Verlauf seines Lebens hinweg jenseits seiner körperlichen Verfasstheit, der Einheit seines Körpers, auch eine Kontinuität und Kohärenz der Person aufweist, die als solche mit ihrer – sozialen und objekthaften – Umwelt in Beziehung tritt. Die Begriffe „Subjekt“, „Identität“ oder auch „Selbst“ geben auf diese Frage eine äußerst affirmative Antwort – sie postulieren solch eine Kontinuität und Kohärenz und dies mit der starken Annahme der Zeit überdauernden Einheit und Gleichartigkeit.1 Holt man ideengeschichtlich weiter aus, so sieht man jedoch, dass eine große Zahl unterschiedlicher Antworten auf diese Frage gegeben wurde. Ganz allgemein gesprochen haben die empirischen Traditionen
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Der Versuchung, an dieser Stelle den Begriff „Subjekt“ in seinem Verhältnis zu verwandten, sich mit ihm überlappenden Begriffen wie eben Selbst, (personale) Identität, Person zu definieren, gebe ich nicht nach. Es geht mir darum, im Verlauf meiner Argumentation zu zeigen, dass mit diesem Begriffsfeld eine Problematik erschlossen wird, der sich einzelne Definitionen gerade zu entziehen trachten. Vgl. zu einem früheren Versuch um den Begriff „Identität“ Wagner 1998a sowie Wagner 2002, ein Beitrag, an den sich die vorliegende Darstellung anlehnt.
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der Wissenschaften vom Menschen – im weitesten Sinne – oft dazu tendiert, das Bestehen einer solchen Einheit zu bezweifeln. Sie beobachteten Veränderungen, sogar radikale Umbrüche, im Denken und in den Orientierungen der einzelnen Menschen und sahen sich daher nicht veranlasst, a priori Einheit zu postulieren. Im Gegensatz hierzu haben transzendentale Traditionen eher behauptet, dass zumindest eine Einheit der Wahrnehmung oder des Bewusstseins vorliegen müsse. Wäre dies nicht der Fall, so die Annahme, dann könnte auch die Frage nach dem Subjekt nicht gestellt werden. Es ist also ein Irrtum, anzunehmen, die Themen der „Subjektphilosophie“ seien als solche neuzeitlich. Die Frage nach der Kontinuität und Kohärenz des Subjekts im Verlauf seines Lebens war schon lange gestellt, als gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Sozialwissenschaften in ihrer heute noch erkennbaren Form entstanden. Diese Sozialwissenschaften der „Moderne“ neigen generell dazu, eine Besonderheit im Charakter der Zeit, in der sie selbst entstanden sind, zu postulieren – die Existenz sozialwissenschaftlicher Reflexivität gilt damit selbst als Nachweis von Modernität, der mit Mitteln sozialwissenschaftlicher Methodologie sehr viel schwerer zu erbringen wäre (vgl. dazu ausführlich Wagner 2001, Prolog und Kapitel 1). Zugleich fehlt diesen Wissenschaften eine empirisch und konzeptuell offene Perspektive auf Situationen, in denen sie selbst nicht präsent waren und die schon allein aus diesem Grunde gern als „vormodern“ bezeichnet werden. Man muss nicht so weit gehen, eine conditio humana anzunehmen, die über alle Vielfalt soziokultureller Konfigurationen hinaus Konstanten menschlichen sozialen Lebens bestimmt, um erkennen zu können, dass bestimmte Problematiken der sozialen Welt über die europäisch-nordamerikanische Geschichte der letzten zwei bis drei Jahrhunderte hinaus den Menschen bekannt waren. Im Hinblick auf die Frage des Subjekts und der Subjektivität sei hier nur darauf hingewiesen, dass bereits im Ägypten des Mittleren Königreichs ein „neues Ideal der Person“ entstanden war, das auf dem Konzept des „von seinem Herzen gelenkten Menschen“ beruhte, bei dem das Herz als „der Sitz der inneren Qualitäten und als der Orientierungsgeber der Person“ verstanden wurde.2 Bemerkenswert ist hingegen die Tatsache, dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts die entstehenden Sozialwissenschaften die Frage neu zu formulieren und dabei die Reichweite der Antworten eher zu reduzieren trachteten. In einigen Gebieten, etwa in der liberalen politischen Philo2
Vgl. Assmann 2004. Für eine Konzeptualisierung von Identität, die über die begrenzten sozialwissenschaftlichen Ressourcen hinausgreift und bewusst auch solche aus angeblich „vormodernen“ Kontexten heranzieht vgl. Friese 1998.
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sophie oder auch in der politischen Ökonomie und den aus ihr entspringenden neoklassischen Wirtschaftswissenschaften, wurde das rationale, autonome Subjekt zum Ausgangspunkt und Zentrum der Betrachtungen gemacht: ein stabil kohärentes Wesen, dessen Präferenzen festliegen, das Entscheidungssituationen auf Grundlage dieser Vorlieben vernünftig analysiert und sich für seine Taten verantwortlich zeigt. In anderen Gebieten, so etwa in der soziologischen Denkweise, wurde angenommen, dass die Orientierungen und das Verhalten der Menschen von deren Position innerhalb der Gesellschaft bestimmt würden. Auch diese Menschen verfolgten demnach kontinuierlich und kohärent einen Weg, nur dass dieser nicht von ihnen selbst gewählt worden war. Dieser Gegensatz humanwissenschaftlicher Positionen wurde später als Dualismus von „unter- und übervergesellschafteten Vorstellungen vom Menschen“ (Wrong 1999), als undiskutierbare Gegenüberstellung von inkompatiblen „sozialen Metaphysiken“ (Boltanski und Thévenot 1991, S. 42) beschrieben. Es ist bezeichnend, dass die Extreme sich an einem Punkt berühren, an dem die Frage des Subjekts völlig unproblematisch wird. In beiden Vorstellungen ist Kontinuität und Kohärenz der Person kein Problem; es ist durch ontologische Vorannahmen bereits aus dem Weg geräumt worden. So überraschend eine solche Aussage zunächst klingen mag: Der Aufstieg der Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert brachte zunächst also eine Vernachlässigung der Frage des Subjekts mit sich; es wäre kaum übertrieben zu sagen, dass dieser sogar mit einem Rückschritt in den Modi der Konzeptualisierung dieser Frage einherging. Dabei haben die Sozialwissenschaftler Formen der Repräsentation des Menschen, die in anderen Gebieten entwickelt wurden, etwa in der Philosophie und mehr noch in der Literatur, kaum zur Kenntnis genommen. Themen wie Individualität oder Subjektivität im Zusammenhang mit partikularen, ja idiosynkratischen Lebensverläufen oder Lebenszielen blieben außerhalb der Reichweite sozialwissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Diese Wissenschaften betrachteten die Identitätsfrage entweder unter dem Blickwinkel der voll entwickelten, stabilen Persönlichkeit – ein Ideal des Bürgertums im 19. Jahrhundert – oder unter jenem der unweigerlichen sozialen Determiniertheit – der Bevölkerungsmassen nämlich, die entwicklungs- und verantwortungsunfähig waren. Unbestritten steht die Frage des Subjekts in beiden Fällen im Hintergrund, aber ein ergebnisoffener Zugang zu ihr wird nicht gewährt. Die „Modernität“ dieser intellektuellen Konstellation wird offenbar, wenn man erkennt, dass hier eine Antwort auf die soziale und politische Lage im nachrevolutionären Zeitalter gesucht und dabei eben das Subjekt ins Zentrum der Problematik gerückt wurde. Wenngleich die politi168
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sche Wirklichkeit weit hinterherhinkte, war doch mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution die Frage der – individuellen wie gesellschaftlichen – Selbstbestimmung, das Verlangen nach dem „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ unabweisbar auf die Tagesordnung gesetzt worden. Dies aber bedeutete, dass ein Zusammenhang zwischen den Lebensorientierungen der einzelnen Menschen und einer tragfähigen politischen Ordnung geschaffen wurde, der zuvor kaum bestanden hatte. Zwar finden sich im Kontext der antiken griechischen Demokratie bei Aristoteles (1998, Buch 2) Überlegungen zu den Voraussetzungen dafür, dass ein Bewohner der polis auch Bürger, also Teilhaber an politischen Entscheidungen sein konnte. Die Lehre von den zwei Reichen im Christentum hingegen ließ später diese Frage als irrelevant erscheinen; wenn die Menschen nach der Phase der klassischen Demokratie und Republik wieder „Subjekte“ in dem Sinne waren, dass sie einem Herrscher unterworfen waren, dann waren ihre Charakteristika von geringem Belang. Als Thomas Hobbes sich darum besorgte, dass ihre Sehnsüchte und Passionen die Menschen in alle unterschiedlichen Richtungen treiben könnten, schloss er notwendig daraus, dass der Staat, wiewohl von den Menschen in einem rationalen Akt gegründet, souverän über diesen stehen sollte, um solche Orientierungen, die das Gemeinwohl gefährden könnten, zu unterdrücken. Dies war zwar ein kleiner, aber gewichtiger Schritt über die Gleichsetzung von „Subjekt“ und „Untertan“ hinaus, wie nicht zuletzt Carl Schmitt (1995) erkannte. Der Gedanke der Volkssouveränität machte dann einen großen Schritt und setzte durchweg verlässlichere – stabilere und kohärentere – Mitglieder der politischen Ordnung voraus; nicht zuletzt die Erfahrung des Terrors im Verlauf der Französischen Revolution machte deutlich, dass diese Voraussetzung nicht ohne weiteres als erfüllt angesehen werden konnte. Von diesem Moment an entfaltete sich die politische Problematik der Moderne, die Frage nämlich nach dem Verhältnis eines politischen Gemeinwesens zu seinen Mitgliedern unter Bedingungen der Selbstbestimmung. Die Sozialwissenschaften des 19. Jahrhunderts waren ein groß angelegter Versuch, für diese Problematik eine Lösung in Form einer Art nachrevolutionärer politischer Philosophie zu finden, welche die Frage nach dem Subjekt stellen musste, zugleich aber glaubte, es sich nicht leisten zu können, sie völlig offen zu halten. Nur zwei Sorten von Menschen schienen diesem Denken mit der neuen Lage verträglich: zum einen stabile, vernunftbegabte, rationale Individuen, denen die Wahrung der kollektiven Belange anvertraut werden konnte, und zum anderen Gesellschaftsmitglieder, deren Verhalten sozial vorbestimmt und damit gleichermaßen regelmäßig und vorhersehbar war. Im Mittelpunkt des in169
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tellektuellen Bemühens stand – oft unausgesprochen – die Frage nach einer Form politischer Stabilität, die aus der angenommenen Kohärenz der Orientierungen und Handlungen der Menschen gewonnen werden könne. Das Erbe dieser Problematik lastet noch heute auf der Behandlung des Themas in den Sozialwissenschaften, wiewohl es – außerhalb der politischen Philosophie, in der es unweigerlich zu explizieren ist – oft geleugnet wird oder nur unbewusst vorhanden ist (vgl. ausführlicher Wagner 1998b sowie 2001, Kapitel 2).
Di e B e f r e i u n g d e r S u b j e k t d i s k u s s i o n a u s d e r politischen Problematik Eine Öffnung, welche die weitere Diskussion erheblich beeinflussen sollte, wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts erzielt. Ihr wurde allerdings der Boden wiederum nicht im Kernbereich dessen bereitet, was konventionellerweise als Sozialwissenschaft bezeichnet wird. Die Namen, die hier zu nennen sind, sind Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud. Nietzsche verweigerte schlicht und radikal den Problemstellungen der Moral- und Politikphilosophie jegliche intellektuelle Anerkennung und befreite damit den Menschen von den ihm in diesen Denkformen auferlegten Regeln für das kollektive Leben. Freud entdeckte die Antriebe für eine volle Verwirklichung des Selbst in der menschlichen Psyche und verband die Geschichte der Zivilisation mit der Verdrängung und Unterdrückung dieser Antriebe. Vor einem solchen „nietzscheanisch-freudianischem“ Hintergrund (Rorty 1989) konnten Soziologen-Philosophen wie Georg Simmel und George Herbert Mead dann die Formen beobachten, in denen Subjekte Identitäten in sozialer Interaktion ausbilden, und unterschiedliche Weisen der Identitätsbildung in verschiedenen sozialen Kontexten konzeptualisieren. Von diesem Zeitpunkt an hat sich allmählich eine Soziologie und eine Sozialpsychologie des Subjekts entwickelt, die sich nicht länger auf starke Vorannahmen über das Wesen des Menschen stützen muss, sondern die Herausbildung des Selbst sowohl im biographischen Sinne – in Verbindung etwa mit der Kinderpsychologie und der Jugendsoziologie – als auch im gesellschaftlichen Sinne – in Unterscheidung von Identitätsbildungsprozessen nach sozialen Kontexten – zum Gegenstand der Untersuchung zu machen trachtet. Im Gegensatz zu den (mutmaßlichen) Erfordernissen einer politischen Moderne, welche die Subjektproblematik in den Sozialwissenschaften des 19. Jahrhunderts überlagerte, ist es hier die Orientierung an einer eher „individuellen Modernität“ (Inkeles 1983), die das Erkenntnisinteresse leitet. Fundamental modern ist in die170
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sem Verständnis genau „der Gedanke, dass wir unsere eigenen sozialen Identitäten konstruieren“ (Hollis 1985, S. 230). Die Modernität dieses Gedankens besteht in der Ablehnung vorgegebener substanzieller Identität einerseits und in der Betonung der Autonomie des Einzelnen, also der Selbstbestimmung über die eigenen Lebensorientierungen, andererseits. In dieser Konzeptualisierung findet sich jedoch eine – meist nicht erkannte oder zumindest nicht explizierte – Spannung im Verständnis der individuellen Moderne, die der oben beschriebenen Spannung im Verständnis der politischen Moderne nicht unähnlich ist. Das Erschaffen des eigenen Selbst muss als ergebnisoffen verstanden werden, denn sonst läge keine Autonomie vor. Aber das autonome Subjekt muss als Resultat der Identitätsbildung erreicht werden, denn genau dies zeichnet die „moderne“ Konstellation aus. Dann aber wäre zumindest ein Teil des Ergebnisses doch vorbestimmt.3
Subjektbil dung in der M oderne: Substanz und Prozess Manche Autoren behelfen sich in diesem konzeptuellen Dilemma mit einer Unterscheidung zwischen substanziellen Aspekten des Selbst, die nicht vorherbestimmt sind, sondern biographisch entwickelt werden, und dem Prozess der Subjektbildung, der zur Ausprägung der Gestalt oder Struktur des Subjekts, also zu Kontinuität und Kohärenz der Person, führt.4 Dass eine Einheit der Person erreicht wird (oder – normativ, im Normalfall – erreicht werden muss), wird mit dem Begriff des Subjekts bereits vorausgesetzt. Wie diese Einheit aussieht, ist der Konstruktion durch den einzelnen Menschen unter gegebenen Interaktionskontexten und sozialen Umständen anheim gestellt. Derartige Subjektbildung wird dann begrifflich eng mit der „Moderne“ als ihrer soziohistorischen Bedingung verbunden. Es ist das für die Moderne typische Individuum, das handlungs-, kommunikations- und 3
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An dieser Stelle vermischen sich sehr schnell normative mit empirischen und konzeptuellen Aspekten. Kann unter modernen Bedingungen ein Mensch sich entschließen, die Möglichkeit von Autonomie nicht wahrzunehmen? Wenn ja, wäre dies notwendig pathologisch? Die Parallele zur Problematik der politischen Moderne lässt sich am Phänomen des so genannten Fundamentalismus deutlich machen: Dessen Anhänger treffen oft eine radikale Wahl, handeln also äußerst „modern“; zugleich beseitigen sie mit diesem Akt die Bedingungen der Moderne (vgl. kürzlich Eisenstadt 1999). Exemplarisch für diese Argumentationsweise Straub 1998, S. 83-95; vgl. auch Joas 1998.
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interaktionsfähig ist, welches im Prozess der Subjektbildung entsteht – diese vollzieht sich nicht unter allen Umständen. Mit diesem Schritt drückt sich ein Bewusstsein der empirisch-historischen Einwände aus, die gegenüber der generellen Annahme der Ausbildung von Kontinuität und Kohärenz der Person erhoben werden können. Damit aber verschiebt sich die Problematik nur: Welches sind nun die Bedingungen der „Moderne“, unter denen Subjektbildung stattfindet, wie lassen sich diese bestimmen? Kann man einfach mit einem eher umgangssprachlichen Begriff von Moderne arbeiten, der sie mit den westlichen Gesellschaften der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit gleichsetzt? Wann aber und mit welchen Ereignissen oder Prozessen beginnt dann diese Moderne, und in welcher Weise befördern die Ereignisse oder Prozesse, die den Beginn der Moderne markieren, die Herausbildung von Subjekten? Es ist keineswegs selbstevident, dass etwa die „demokratischen Revolutionen“ oder die industrielle Revolution – übliche historische Markierungen des Anbruchs der Moderne – für die Individuen, die in jenen Perioden lebten, die Lebensbedingungen so verändert haben sollten, dass ihre Persönlichkeitsentwicklung einen grundlegend anderen Verlauf nehmen sollte als die ihrer Vorfahren. Konzeptuell gesprochen bleibt überhaupt unklar, ob mit dem Begriff „Moderne“ eine historische Situation gekennzeichnet werden soll, in der Subjektbildung möglich ist und autonome Subjekte entstehen können, oder ob umgekehrt das Vorliegen autonomer Subjekte eine historische Situation schafft, die dann als „Moderne“ bezeichnet werden kann. Hier liegt eine für Forschungsstrategien unbrauchbare Tautologie vor, die pauschal die Existenz einer Moderne suggeriert, deren räumliche und zeitliche Abgrenzung nie angegeben werden kann. Die doppelte konzeptuelle Verbindung von Subjekt und Autonomie zum einen und von Subjekt und Moderne zum anderen gibt vor, Probleme einer Gesellschaftstheorie und historischen Soziologie von Moderne zu lösen, die sie eher verdeckt. Befragen wir zunächst kurz die Verbindung von Subjekt und Autonomie, um anschließend und ausführlicher auf die Verbindung von Subjekt und Moderne einzugehen.
Das Subjekt und die Frage der Autonomie: e i n e s c h e i n b a r e An t i n o m i e Autonomie bedeutet Selbstbestimmung, eine Situation, in der jemand sich seine eigenen Gesetze geben kann. Ein Mensch bestimmt die Regeln seines Handelns selbst. Der Begriff ist dabei notorisch unterbestimmt. Wenn nicht angenommen werden soll, dass die Quellen dieser 172
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Regeln auch aus dem Selbst entspringen, muss die Frage nach den Ressourcen für die Bestimmung des Selbst gestellt werden. Ein starker Autonomiebegriff, wie er etwa in der neoklassischen Ökonomie in Verbindung mit dem Rationalitätsbegriff vorliegt, muss unterstellen, dass die Individuen bereits Präferenzen haben, die sie von außen in die Situation einbringen. Soziologisch-psychologischen Ansätzen, die sich für die Entwicklung des Menschen und die allmähliche Herausbildung seiner Orientierungen interessieren, bleibt dieser Weg aus guten Gründen versperrt. Mit Simmel und Mead hat sich demgegenüber ein relationaler Subjektbegriff durchgesetzt, der davon ausgeht, dass die „Präferenzen“ in Interaktion mit anderen geformt werden. Dieser Schritt, der absolut richtig und notwendig erscheint, bleibt nicht ohne Konsequenzen für den Autonomiebegriff. Wenn nicht angenommen werden soll, dass in der Interaktion mit anderen nur erkannt wird, was das eigene ICH ist, das schon vorher in genau gleicher Weise vorhanden, nur noch nicht bewusst wahrgenommen war, dann hat diese Interaktion immer auch eine substanzielle Wirkung auf die Formung des ICH. Ich ist dann immer schon ein anderer; Identitätsbildung ist „Veranderung“.5 Wörtlich betrachtet, liegt somit aber keine Autonomie, sondern Heteronomie vor. Der andere bestimmt (mit) über die Regeln und Orientierungen, die jemand seinem eigenen Leben gibt. Damit aber ist die Verknüpfung des Subjektbegriffs mit einem Autonomiepostulat problematisch geworden. Eine Unterscheidung von Substanz und Prozess der Subjektbildung hilft hier nicht weiter, denn es wäre gerade die Substanz, die „heteronom“ bestimmt wäre, während im Prozess die Kohärenz entstünde, die es erlaubt, die heteronome Substanz als „eigene“ aufzufassen. Würde man diese Argumentation zum Zentrum des Subjektdiskurses machen, so erschiene dieser als Beispiel für die typische Selbsttäuschung der Moderne. Elemente dieser Sichtweise finden sich in modernitätskritischen Positionen von Friedrich Nietzsche über Theodor W. Adorno zu Michel Foucault. Diese „faktische Heteronomie“ des vermeintlich autonomen modernen Subjekts muss aber nicht notwendigerweise erschrecken. Generell wird hier nichts anderes beschrieben als die „primäre Sozialität“ (vgl. Joas 1992) des Menschen, die einen radikalen empirischen Begriff von Autonomie ausschließt. 5
Zur Rekonstruktion dieser Denklinie, die von sozialphilosophischen Diskussionen der Zwischenkriegszeit um Martin Buber, Edmund Husserl und Martin Heidegger über die zu wenig beachtete Arbeit Der Andere (1965) von Michael Theunissen bis zum Poststrukturalismus reicht vgl. Friese 2001. Heute wird eine derartige Perspektive vor allem in Teilen der feministischen Diskussion vertreten und weiterentwickelt.
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Die plausible Schlussfolgerung aus dieser scheinbaren Antinomie ist eine andere: Warum sollte es problematisch sein, mit dem Begriff „Autonomie“ die Vorstellung – die auch und vielleicht zuallererst eine normative wäre – zu bezeichnen, dass ein erwachsener Mensch, sofern ihm die Entwicklungsmöglichkeiten dazu gegeben wurden, in eigenem Namen handelt? Diese Vorstellung kann persönlich wie gesellschaftlich handlungsleitend sein, ohne dass deswegen eine empirische Annahme über die Stabilisierung dieses Subjekts und dessen Differenzierung von anderen getroffen werden müsste. Sie schüfe, würde sie allgemein oder zumindest weithin geteilt, genau jene „Moderne“, die sich in rein soziohistorischer Betrachtung immer wieder dem konzeptuellen Zugang entzieht. Problematisieren wir also nicht weiter das Subjekt, sondern stellen wir die Frage nach der Moderne, in der das Subjekt solchermaßen verstanden wird.
Das Subjekt und die Moderne: eine historisch-soziologische Perspektive Die faktische Heteronomie des Menschen, die aus einem relationalen Verständnis der Subjektbildung folgt, eröffnet nämlich Perspektiven für ein sozio-historisches Forschungsprogramm, das sich letztendlich auch der Frage nach der Existenz einer „Moderne“ wieder historischempirisch nähern kann. Sie erlaubt es, die radikalen Versionen des sich gegenüber seiner Normumwelt instrumentell-rationalistisch verhaltenden Individuums und des in soziale Normen vollständig eingebetteten Menschen als – empirisch unwahrscheinliche – Extreme auf einem Spektrum von Möglichkeiten der Subjektbildung zu betrachten, deren Realisierung unter verschiedenen Umständen empirischer Untersuchung im Prinzip zugänglich ist. Ohne diese Perspektive immer auf den Begriff zu bringen, liegen uns zahlreiche Beiträge zu einer solchen historischen Soziologie des Subjekts durchaus vor. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt an dem historischen Moment, an dem die „Massengesellschaft“ des frühen 20. Jahrhunderts, die schon Anlass zur Kritik der „Atomisierung“ gegeben hatte, aber dennoch – zumindest für optimistischere Beobachter – die Annahme einer neuen, gesellschaftsadäquaten Balance von „Sozialstruktur und Persönlichkeit“ zugelassen hatte, in Europa autoritäre und totalitäre politische Regime hervorgebracht hatte. So unterschiedliche Autoren wie Erich Fromm, Theodor W. Adorno oder Hannah Arendt versuchten, diese Entwicklung durch ein Missverhältnis zwischen beschleunigter Individuierung, die durch Industrialisierung, Urbanisierung und Migration 174
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hervorgerufen wurde, und im Vergleich dazu langsamer Ausbildung eines Selbst, das den neuen sozialen Umständen gerecht werden könnte, zu erklären.6 Selbst wenn diese Studien sich nicht durchweg an einem interaktionistischen Subjektbegriff orientierten, so sind sie doch in einem solchen Lichte reinterpretierbar. Dann suggerieren sie, dass die Beziehung zu anderen, die der einzelne Mensch unter Bedingungen hoher Mobilität und relativ geringer Verfügung über sozio-ökonomische und kulturelle Ressourcen eingeht, ihn gerade nicht „handlungsfähig“ macht, sondern ihn dazu neigen lässt, die Bestimmung über sein Schicksal in die Hände anderer zu legen. Hohe Mobilität bedeutet hier, dass zwar eine große Vielzahl von Beziehungen zu anderen vorliegt, darunter allerdings nur wenige Beziehungen mit großer Intensität, die ein gespiegeltes ICH entstehen lassen könnten, auf das man seine eigenen Orientierungen bauen könnte. Der Mangel an eigenen Ressourcen wiederum signalisiert dabei zugleich die Auslieferung an das Verhalten der anderen, das eine Suche nach Sicherheiten außerhalb des eigenen Selbst nahe legt. An dieser Stelle kann die empirische Validität der unterschiedlichen Studien zu Persönlichkeit und Autoritarismus nicht eingehender diskutiert werden. Aber diese reinterpretierenden Beobachtungen sollten ausreichen, um die Möglichkeit von gesellschaftlichen Situationen aufzuzeigen, in denen sich nur schwache Formen des Subjekts ausbilden. Zugleich herrschten in jener historischen Situation „starke“ gesellschaftliche Kräfte vor, die dem Handeln vieler Einzelner auch ohne deren starke Überzeugung eine Richtung vorzugeben vermochten. David Riesman sollte die Formen des Selbst in den Massengesellschaften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als „außengeleitet“ bezeichnen und sie von dem Ideal des Bürgertums des 19. Jahrhunderts, der „innengeleiteten“ Person, unterscheiden (Riesman et al. 1962). Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete sich in der Phase schnellen Wohlstandswachstums und relativer politischer Stabilität eine regressive intellektuelle Synthese von Subjekt und moderner Gesellschaft heraus, 6
Unter diesen Arbeiten lässt sich wohl eine kultursoziologische von einer politikphilosophischen Inspiration unterscheiden. Erstere sieht im Zusammenspiel neuer Ausprägungen kultureller Herrschaft und psychischer Dispositionen den Grund für die Persistenz nicht-autonomer Orientierungen der „Subjekte“, während Letztere die Schwierigkeit weniger in der Persönlichkeitsstruktur als im Zusammen-Handeln und den Bedingungen des Gemeinsamen sieht. Adorno auf der einen Seite und Arendt auf der anderen sind vielleicht die jeweils prägnantesten Vertreter (vgl. Wagner 2005). Neue Perspektiven zur Soziologie des Individuums und zu den sozialen Kontexten von Individuierung finden sich jetzt bei Kaufmann (1999, 2001).
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die – wiewohl interaktionistisch inspiriert – das gesellschaftliche Resultat der Identitätsbildung mittels des Theorems der Internalisierung von Normen voraussetzt. Erst mit den Anzeichen eines ungeordneten Abbaus des umfassenden institutionellen Arrangements der Wohlfahrtsstaaten seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts öffnet sich die Diskussion über das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft wieder. In dieser Periode entsteht ein Diskurs über die angebliche „postmoderne Identität“, einer Form des Subjekts, die im Widerspruch zum konventionellen Begriffsverständnis Instabilität, Fluidität und multiple, wechselseitig inkonsistente Orientierungen annimmt bzw. beobachtet und daher vom sozialpsychologischen und gesellschaftstheoretischen mainstream weithin abgelehnt wird (vgl. Kellner 1995; kritisch Honneth 2003). Wenngleich sowohl konzeptuelle Kurzschlüsse als auch unzulässige empirische Verallgemeinerungen in dieser Debatte durchaus zu diagnostizieren sind, ist eine solche Ablehnung dennoch voreilig. Die Zweifel an Kontinuität und Kohärenz des Selbst in seinen heute vorfindbaren Formen könnten durchaus eine Schwächung der Subjektbildung unter den herrschenden sozialen Bedingungen anzeigen – in Analogie zur Situation in der Mitte des 20. Jahrhunderts, wenngleich in erheblich veränderter Ausprägung. Wie in der Vergleichssituation könnte eine mangelnde Stabilität des Interaktionskontextes des einzelnen Menschen zu einer Schwächung der Kontinuitäts- und Kohärenzkonstruktion – oder überhaupt der Möglichkeit zu einer solchen – führen. Anders als in der Vergleichssituation findet sich aber auch keine gesellschaftlich vorherrschende Form der „Außenleitung“, die diese Schwäche „ausgleichen“ könnte. Wenn „postmoderne Identität“ oft als befreiend und desorientierend zugleich beschrieben wird, wäre ein solcher Befund mit diesen konzeptuellen Überlegungen zumindest vereinbar.7 Eine großflächige historische Soziologie der Subjektbildung in europäischen Gesellschaften geht heute auch oft davon aus, dass die rapi-
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Im Hinblick auf politisches Handeln – die Frage, die auch in der Mitte des letzten Jahrhunderts den Anstoß für die Untersuchungen gab – sind Parallelen unverkennbar. Die fallweise Mobilisierung von Wahlbürgern über Fokusgruppen und Medienkampagnen, die immer mehr die kontinuierliche Partizipation in Parteien und durch Meinungsmedien der „organisierten Moderne“ ersetzt (die gegenwärtigen Premierminister in Italien und im Vereinigten Königreich sind die besten Beispiele für den Einsatz solcher Strategien), erscheint freiheitlich, weil sie entbindet, zugleich aber schafft sie in kritischen Momenten hohe Desorientierung. Aus normativer Sicht erscheint es dem Autor kaum vermeidlich, diese Phänomene als Verfall politischer Kommunikation zu interpretieren – selbst gemessen an den wahrlich nicht hohen Maßstäben der Ära nach dem „Strukturwandel bürgerlicher Öffentlichkeit“.
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den sozialen Veränderungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu einer „Entwurzelung“ der Menschen aus vorgegebenen Kontexten geführt haben, die erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts mit der Konsolidierung der demokratischen Wohlfahrtsstaaten auf nationaler Grundlage allmählich eine „Wiederverwurzelung“ erlaubt haben, welche wiederum in der jüngeren Vergangenheit von einem erneuten Prozess der „Entwurzelung“ aufgehoben wird.8 Ohne diese Periodisierung zunächst in ihrer Substanz zu betrachten, können wir festhalten, dass die ihr zugrunde liegende Denkweise in einem ersten Schritt eine Historisierung des Diskurses über das Subjekt vornimmt, die den notwendigen Rahmen für jegliche Annahme über eine gegenwärtige Spezifität der Subjektbildung bereitstellt, und es in einem zweiten Schritt auch ermöglicht, auf die Beziehung von Subjekt und Moderne zurückzukommen, ohne über diesen eine konzeptuelle Vorannahme treffen zu müssen. Beginnen wir hier mit dem zweiten Schritt, und kommen wir dafür auch auf unsere frühere Überlegung zur Beziehung von Subjekt und Autonomie zurück.
S u b j e k t , Au t o n o m i e , M o d e r n e : zum Zusammenhang von Begriff und Erfahrung Mit dem Begriff „Autonomie“ wurde oben die Vorstellung gekennzeichnet, dass Menschen, wenn sie handeln, dies in ihrem eigenen Namen tun. Eine soziale Konfiguration wiederum kann als „modern“ bezeichnet werden, wenn der Gedanke der Autonomie in ihr weit verbreitet ist.9 Wenn nun – gängigen Auffassungen folgend, diese aber reinterpretierend – der Begriff des Subjekts mit dem der Autonomie verknüpft werden soll, dann muss dieser eine Vorstellung von selbstgewählter, „eigener“ Kohärenz und Kontinuität der Person bezeichnen. Und „Moderne“ – führen wir die Verknüpfung weiter – muss dann eine soziale Konfiguration benennen, in der die Vorstellung, dass Menschen sich ihre Lebensorientierungen selbst schaffen (wie Hollis – vgl. oben – es ja im Hinblick auf „individuelle Modernität“ auch annimmt), verbreitet ist. 8 9
Vgl. z.B. Giddens 1990; eigene frühere Beobachtungen dazu in Wagner 1995, besonders S. 96-100, 227-236 und 246-250. Zu der weiterführenden Überlegung, dass der Begriff „Moderne“ damit nicht direkt eine soziale Konfiguration – etwa die „moderne Gesellschaft“ mit marktlich organisierter Ökonomie und demokratisch organisierter Politik – bezeichnet, sondern zunächst ein Interpretationsmuster für eine solche Konfiguration, vgl. Wagner 2001 und 2004b, in Anlehnung an Castoriadis’ Begriff der „imaginären Bedeutungsgebung“ (z.B. 1990) und dessen Entwicklung durch Arnason (z.B. 1989).
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An dieser Stelle ist der Schritt von der begrifflichen zur soziohistorischen Analyse zu gehen. Der genannte Gedanke lässt sich in der Tat in den europäischen Gesellschaften der letzten zwei bis drei Jahrhunderte auffinden – weniger, wie zuvor gesagt, in den Sozialwissenschaften als vielmehr in einer Kultur der individuellen Autonomie, die sich allmählich in Europa und Nordamerika verbreitete (Taylor 1994, S. 539-540). Aber das Vorhandensein dieser Idee machte diese Gesellschaften noch keineswegs durchweg „modern“ im Hinblick auf die Herausbildung von autonomen Subjekten. Eine Soziologie der Moderne muss weitere Fragen stellen und zusätzliche Beobachtungen treffen. Das Vorhandensein der Idee individueller Autonomie lässt zunächst völlig offen, inwieweit diese Auffassung von allen in einer gegebenen Gesellschaft lebenden Menschen geteilt wird oder, darüber hinaus, inwieweit dieser Gedanke überhaupt allen zugänglich ist. Dies ist – erstens – die Frage nach der Durchdringung einer sozialen Konfiguration mit dem „modernen“ Selbstverständnis. Zweitens mag es den Menschen zwar bewusst sein, dass ihnen ihr Selbst von keinen externen Kräften auferlegt ist, sondern dass sie es in ihrem sozialen Umfeld selbst schaffen, aber sie mögen trotzdem – und nicht immer in unbegründeter Weise – davon überzeugt sein, dass sie eigentlich keine Wahl haben, dass ihre Identität in gewisser Weise ihnen vorausgeht. Diese Erfahrung ist für eine Jüdin im Zwischenkriegsdeutschland etwa von Hannah Arendt beschrieben worden: Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich eben als Jude wehren, wie sie sagte – unabhängig davon, wie man sich selbst sieht. Für Soziologen war, wie oben angedeutet, die soziale Zuschreibung von Identität eine Grunderkenntnis ihrer Disziplin, selbst wenn dies lange nicht so formuliert worden ist. Heutige Subjekttheoretiker mögen darauf bestehen, dass auch ein Selbstverständnis als Jude oder als Arbeiter, welche in bestimmten sozialen Konstellationen in großer Zahl und eher gleichförmig vorkamen, dennoch in prinzipiell offenen Prozessen sozialer Interaktion zustande kam. Soziologen der Moderne jedoch würden Unterscheidungen treffen wollen, in denen die tatsächliche „Handlungsfähigkeit“ der Einzelnen und damit auch das jeweilige Verständnis von „Autonomie“ einer empirischen Betrachtung – und vielleicht auch konzeptuellen Reflexion – unterzogen wird. Drittens, und das ist oben bereits kurz angedeutet worden, muss man es konzeptuell auch zulassen, dass die Stabilität eines gewählten Selbst variieren kann. Damit soll nicht die sozialpsychologische Beobachtung bestritten werden, dass grundlegende Lebensorientierungen sich überwiegend in Interaktionskontexten einer bestimmten Lebensphase ausprägen. Die Beobachtung „postmoderner Identität“ mag wenig verall178
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gemeinerungsfähig und zudem auf einen unglücklichen Begriff gebracht worden sein. Aber es erscheint doch zugleich offenkundig, dass eine einmal in der Adoleszenz entstandene „Identität“ unter Umständen – und diese Formel ist hier empirisch-soziologisch zu lesen – auch als vergleichsweise wenig bindend und als für spätere Veränderung und auch für inkonsistente Brüche offen angesehen werden kann. Wenn Menschen unter „modernen“ Bedingungen ihre Lebensorientierungen selbst schaffen (wenngleich nicht unter selbst gewählten Umständen, wie ein Philosoph des 19. Jahrhunderts in anderem, aber verwandtem Kontext formulierte), dann bilden die drei Spezifizierungen dieser Bedingung, die soeben entwickelt wurden, auf den ersten Blick so etwas wie einen Gradmesser von „Modernität“. Entlang der Achse, die sie formen, erhöht sich die Konstruierbarkeit von Identität. Während alle drei Bedingungen der Identitätskonstruktion im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte für einige Mitglieder westlicher Gesellschaften erfüllt waren, so galt dies jedoch keinesfalls für alle. Eine Soziologie der Moderne gerät ob dieser Einsicht schnell in die Versuchung, anzunehmen, der historische Pfad könne nicht anders als von der Ausweitung der Geltung dieser Bedingungen markiert sein. Übergänge von einer sozialen Konfiguration der Moderne zu einer anderen wären dann von zunehmender Konstruierbarkeit personaler Identität gekennzeichnet.10 Hier gilt es jedoch zunächst, vor vorschnellen Linearitätsannahmen zu warnen. Diese Lektion ist inzwischen zwar weithin, aber vielleicht immer noch nicht intensiv genug gelernt. Der Strang der soziologischen Moderne-Diskussion, der sich um den Begriff der „Reflexivität“ gebildet hat (vgl. Beck et al. 1995), tritt jedenfalls nicht wirklich aus jener Denkform heraus, die annimmt, mit dem jeweils neuesten Gedanken und der neuesten sozialen Konfiguration sei auch das bislang höchste Niveau intellektueller bzw. sozialer Entwicklung erreicht. Dabei erscheint es doch äußerst fragwürdig, eine Ära, in der unter Stichworten wie Deregulierung und governance von der Reflexion über Bedingungen und Folgen kollektiven Handelns defätistisch Abschied genommen wird, über jene Periode vor über zwei Jahrhunderten hinauszuheben, in welcher der Ausgang aus der Unmündigkeit sowohl von Philosophen proklamiert als auch von Akteuren in Gang gebracht wurde. Die Frage, auf welcher Seite der Geschichte die andere Hälfte der „halbierten Moderne“ (Ulrich 10 Man muss kein Apologet westlicher Gesellschaften sein, um in einer solchen Formulierung das Freiheitsversprechen wiederzuerkennen, das uns ideengeschichtlich in einer Vielzahl anderer Ausdrucksformen bekannt ist. Jedoch würden nur Apologeten westlicher Gesellschaften Freiheit auf die Konstruierbarkeit personaler Identität reduzieren.
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Beck) verloren gegangen ist, kann hier nicht beantwortet werden. Mutmaßlich ist sie ohnehin falsch gestellt. Aber der dem Diskurs der Moderne teure Begriff des „Ausgangs“ aus der Unmündigkeit lässt sich möglicherweise mit Michel Foucault neu verstehen. Das reflexive Subjekt ist nicht jenes, das aus einem Raum der Geschichte in einen anderen tritt und dort mündig wird. Der neue Raum, jener der europäischen Nationalstaaten des 19. und 20. Jahrhunderts, wurde zu einem „stählernen Gehäuse“ (Max Weber 1904-1905) neuer Art hergerichtet, in dem jene kulturell-sprachliche, ethnische und soziale Wiederverwurzelung – die Sprache der Moderne wechselt schnell von technischen zu organischen Metaphern – stattfinden konnte, die den Grad der Konstruierbarkeit von Identität für die Subjekte gering und damit eher überschaubar hielt. Ein sozialer Prozess der „Wiederverwurzelung“ muss wohl historisch und soziologisch häufig im Zusammenhang mit einem Rückgang der Konstruierbarkeit von Identität gesehen werden. Einzelne Menschen werden ihren Leben wieder „natürliche“ – das sind zwar sozial konstruierte, aber von ihnen als vorgegeben empfundene – Grundorientierungen geben, historisch etwa als Angehörige von Nationen und Klassen nach den Erfahrungen mit der Moderne des 19. Jahrhunderts. Der Moment der Mündigkeit in jenem emphatischen Kant’schen Sinne war damit jedoch vorüber. Mündigkeit findet vielleicht eher nur im „Ausgang“ selbst statt und verschwindet mit dem Wiedereintritt.11
Subjekt und Politik in der Moderne: Rü c k k e h r z u r p o l i t i s c h e n P r o b l e m a t i k Diese Überlegungen – vage, wie sie hier bleiben müssen – stellen nicht nur jegliche Vorstellung von einem problemlosen Fortschreiten der „individuellen Modernisierung“ infrage; sie führen uns auch wieder zurück zur politikphilosophischen Problematik der Beziehung zwischen personaler Identität und politischer Ordnung, jener Frage, mit der das „moderne“ sozialwissenschaftliche Interesse an Identität begonnen hatte. Oder, in anderen Worten, es gebietet sich, abschließend noch eine Anmerkung zur Frage des „kollektiven Subjekts“, selbst wenn der gegenwärtige Diskurs der Moderne diese Begriffskonstellation weitgehend vergessen haben mag. 11 Ein analoger Irrtum lag in der Debatte um die „Achsenzeit“ vor, insofern hiermit die These vom Anbruch der Geschichte als einer des menschlichen Handelns verbunden war. Vgl. für eine umfassende und kritische Neubetrachtung der Diskussion Arnason et al. 2004.
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Der Begriff des kollektiven Subjekts entstammt direkt der politischen Sprache. Er interpretiert das Autonomieverlangen der Moderne als kollektive Selbstbestimmung, und er stand in der europäischen Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte eher auf der Seite der politischen Linken, suggerierte er doch die Aneignung der Subjekteigenschaft durch ein Kollektiv im Hinblick auf eine politische Transformation. Derselbe Geschichtsverlauf machte jedoch auch die Einsicht unabweisbar, dass die Konstitution von handlungsfähigen Kollektiven unter analytisch wie normativ viel zu einfachen Annahmen gedacht worden war. Im Lichte der vorstehenden Überlegungen lässt sich nun das Verhältnis von Subjekt und Politik mit den Mitteln einer vergleichend-historischen Soziologie in einer Weise neu thematisieren, die aus politik- und gesellschaftstheoretischen Annahmen zwar ihre Frage bezieht, aber nicht deren Antworten ableitet. Die konzeptuelle Befreiung des Subjekts von der Last der politischen Problematik, die wir oben zunächst unter Verweis auf Nietzsche und Freud, dann eher soziologisch im Hinblick auf Simmel und Mead diskutiert haben, hatte zu Recht die Anforderungen an eine zureichende Antwort auf die Frage der Konstitution eines kollektiven Subjekts erhöht, indem die Pluralität der biographischen Interaktionskontexte jegliche regressive Synthese in Form einer engen Verknüpfung von „Sozialstruktur und Persönlichkeit“ untersagte. Aus diesen Gründen scheuen interaktionistische Soziologen und Sozialpsychologen, denen das individuelle Subjekt wichtig ist, häufig vor der analogen Konzeptualisierung eines kollektiven Subjekts zurück – durchaus nicht zu Unrecht, denn weder haben Kollektive eine Biographie noch interagieren sie in einer den einzelnen Menschen auch nur annähernd vergleichbaren Weise (vgl. Straub 1998, S. 96-104). Zugleich verkennt die völlige Zurückweisung eines Kollektivbegriffs aber auch eine grundlegende Parallelität der Problematiken, die mit dem Subjektbegriff angesprochen werden. Wenn wir akzeptieren, dass mit dem Begriff des Subjekts die Kommunikations-, Interaktions- und Handlungsfähigkeit von einzelnen Menschen thematisiert wird, dann müsste mit dem Begriff Kollektivsubjekt eine Kommunikations-, Interaktions- und Handlungsfähigkeit von Kollektiven postuliert werden. So problematisch „kollektives Handeln“ – ein in der Soziologie durchaus akzeptierter Begriff – auch immer sein mag, so gehört es doch unabdingbar zum normativen Selbstverständnis der politischen Moderne, dass ein Kollektiv sich selbst Regeln des Zusammenlebens gibt, auf sich selbst einwirkt. Betrachten wir diese Annahme nicht als eine reine Fiktion politischer Philosophie, so brauchen wir einen Begriff für die Voraussetzung kollektiven Handelns. Dessen Notwendigkeit zeigt sich heute an der 181
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Lebhaftigkeit der vielfältig geführten Debatten um verschiedene Formen „kollektiver Identität“ – national, religiös, europäisch, ethnisch etc. Die Verschiebung vom Begriff des Subjekts zu dem der Identität scheint zugleich einen Verlust an „Modernität“ anzuzeigen, nämlich an Handlungsfähigkeit, Reflexivität und Historizität (zu diesen Begriffen vgl. die Beiträge von Wittrock und Wagner in Arnason et al. 2004). Trotz einer solchen kulturalistischen Reduktion benennen diese Debatten den zutreffenden Kern einer Problematik und die Notwendigkeit eines Begriffs. Die Zweifel nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts müssten sich auf vorschnelle Konnotationen von Gleichheit, Beständigkeit und Kohärenz innerhalb von Kollektiven richten, nicht aber die Problematik der kollektiven Selbsteinwirkung als solche zurückweisen. Der Preis dafür schließlich wäre eine Verabschiedung vom Politischen überhaupt, und dieses Risiko besteht zweifellos seit dem Beginn jenes lang anhaltenden Ausgangs aus der zweiten Krise der Moderne in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts (vgl. Wagner 1995, Kapitel 810) – ein Ausgang, von dem man hoffen sollte, dass er noch einen Umbruch anzeigt und nicht schon eine neue soziale Konfiguration. Die Jahreszahlen 1968 und 1989 stehen heute allgemein für den Beginn von soziopolitischen Umbrüchen in West- und in Osteuropa und in gewisser Weise für die Befreiung von Subjekten aus auferlegten Beschränkungen. Sie stehen aber auch für das weitgehende Scheitern von Versuchen der bewussten Selbsteinwirkung von Kollektivsubjekten.12 So wie in den 60er Jahren Modernisierung als ein Prozess ohne Subjekt gesehen wurde, der paradoxerweise zugleich autonome individuelle Subjekte hervorbringen sollte, so erscheint heute „Globalisierung“ in der soziologischen wie politischen Diskussion gleichfalls oft als eine selbsttätige Entwicklung, deren befreiende Wirkungen die Menschheit genießen kann, sofern es ihr gelingt, sich von dem Prozess nicht überrollen zu lassen. Eine solche duale Perspektive, die das Prozessuale von dem Subjekthaften trennt, ist fatal kurzsichtig. Nachdem die Frage nach dem Subjekt im 19. und weiten Teilen des 20. Jahrhunderts der politischen Problematik der Moderne untergeordnet 12 Es sollten in diesem Zusammenhang – trotz aller konzeptuellen Einwände im Einzelnen – die Erkenntnisse der Totalitarismusforschung unterschiedlicher Ausprägung nicht vergessen werden, die Erfahrungen der „Entwurzelung“ mit Schwächungen der Subjektbildung verbinden. Die Fluidität der so genannten „postmodernen Identität“ wäre dann eine Ausprägung des gleichen Phänomens, die bislang politisch relativ harmlos erscheint, weil sie keine totalitären Resultate hervorgebracht hat. Aber die Gefahr mag heute eher in der Schwäche der kollektiven Reflexions- und Handlungsfähigkeit als in der Überstülpung eines Partialwillens auf eine plurale Gesellschaft liegen (vgl. Wagner 2003b).
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worden war, ist sie heute weitgehend von dieser entkoppelt worden. Die Betonung von Individualisierung und Pluralisierung allein führt jedoch zu keinem „Ausgang aus der Unmündigkeit“. Es gibt keine individuelle Moderne ohne politische Moderne, keine individuelle Selbstbestimmung ohne kollektive Selbstbestimmung. Wenn die gegenwärtige Konfiguration der Moderne häufig unter dem Stichwort der Deinstitutionalisierung qua Globalisierung beschrieben wird, so wäre demgegenüber eine Perspektive zu entwickeln, die den Prozess der Globalisierung unter Betonung der in ihm aktiven Subjekte als Konflikt über unterschiedliche Weisen der Welterschaffung auffasst.
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Zugeri chtet, kontrol liert und abhäng ig. D as Subj ekt in d er F igurat io nssozio logie GABRIELE KLEIN
„Der Blitz in seinem Auge das sie sah Wie niemand sie zuvor gesehen Entfachte sich in ihrem das ihn sah Wie niemand ihn zuvor gesehen“ Norbert Elias
Der Mensch erkennt sich im Blick des Anderen. Er existiert nicht an sich, als singuläre Substanz, sondern nur in der sozialen Bezugnahme. Die unhintergehbare Präsenz der Anderen, das ist für Norbert Elias wohl das Los der Menschen. Nicht zufällig führt der Titel seines Gedichtbandes den Begriff Mensch im Plural, denn Menschen sind, so Elias, nur als vergesellschaftete Individuen und damit nur in Bezug aufeinander und in Abhängigkeit voneinander denkbar. Theoretischer Hintergrund dieser Auffassung ist Elias’ Überlegung, dass „Gesellschaft“ nicht als ein in sich abgeschlossenes Gebilde, sondern als eine sich ständig im Wandel befindliche Figurationsordnung vorstellbar sei, die sich weder allein aus dem Handeln einzelner Individuen erklären noch als alleiniges Resultat systemischer Gesetzmäßigkeiten beschreiben lasse. Ebenso wenig wie die Gesellschaft ein hermetisches, unveränderbares Konstrukt sei, sei der Mensch ein autonomes Individuum oder ein „homo clausus“, wie Elias zu sagen pflegte. Vielmehr verstand er das Konzept des von der Umwelt abgeschlossenen, mit einem ureigenen Innenleben ausgestatteten Subjekts selbst als das Produkt eines langen Zivilisationsprozesses. Die historische Genese des modernen Subjekts beschrieb Elias als Herausbildung dessen, was er „Selbstzwangapparatur“ nannte: eine für die Moderne charakteristische Psychostruktur, die sich durch Rationalisierung 187
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und Psychologisierung des Verhaltens, einen Anstieg von Scham und Peinlichkeit sowie die Regulierung des Affekthaushaltes auszeichnet. Dieser Text will die subjekttheoretische Position der Figurationssoziologie herausarbeiten und Elias’ Arbeiten als eine sozialhistorische Theorie der Konstitution des modernen Subjekts vorstellen. Dazu soll zunächst der Rahmen skizziert werden, in dem Elias’ Subjektkonzeption verortet werden kann, indem die aktuellen Positionen des Subjektdiskurses sowie die für den Subjektdiskurs relevanten Begriffe diskutiert werden. Anschließend werden die für Elias’ Subjektbegriff zentralen Subjektkonzeptionen von Marx und Freud vorgestellt, um darüber Elias’ Subjektbegriff herauszuarbeiten. Schließlich soll die Anschlussfähigkeit des figurationssoziologischen Subjektbegriffs für ein Subjektkonzept der „reflexiven Moderne“ skizziert werden.
Erkenntnisfähi ges Subjekt versus vergesellschaftetes Individuum „La mort de l’homme, c’est un thème qui permet de mettre au jour la manière dont le concept d’homme a fonctionné dans le savoir.“ (Michel Foucault 1994, S. 817)
Es war 1966, als Michel Foucault den Tod des Menschen verkündete, um einen Bruch mit dem neuzeitlichen Denken zu ermöglichen. Seitdem ist auf akademischen Feldern ein Kampf um das Subjekt ausgebrochen, der keineswegs erstmalig ist, sondern einige historische Vorläufer vor allem in der Philosophie aufzuweisen hat.1 Während die einen sein Verschwinden konstatieren und in der „Leere des verschwundenen Menschen denken“ (Foucault 1999, S. 412) wollen, sind andere für seine Reanimierung angetreten. Diejenigen, die das Subjekt endgültig verabschieden wollen, sehen es zu stark an die neuzeitliche Tradition angebunden. Ihnen gilt Foucaults Formel vom Tod des Subjekts als Metapher für das Brüchigwerden des Rahmens, innerhalb dessen sich die Moderne konstituiert hat. Ob analytische Philosophie, Sprachphilosophie oder Poststrukturalismus, sie sehen das Subjekt als unrettbar an und meinen damit vor allem jenes Subjekt, das in der cartesianisch-kantischen Tradition als Descartes’ „ego cogitans“, als Kants „ich denke“ oder auch als Hegels „subjektiver Geist“ in Erscheinung getreten ist (vgl. Langbehn 2001, S. 131). Andere philosophische Strömungen hingegen plädieren gegen einen Pa1
Vgl. dazu: Stichwort Subjekt. In Ritter und Gründer 1998, S. 374-454; Bürger 1998.
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radigmenwechsel und versuchen, die neuzeitliche Geschichte des Subjekts fortzuschreiben. Sie reanimieren es – auch für die Nachmoderne – als „selbstbewusstes Einzelwesen mit jeweils singulärer Motivation“ (Frank 1988, S. 23) oder vertreten die These, dass das 20. Jahrhundert eine „subjektlose Subjektivität“ (Hagenbüchle 1998, S. 78) entdeckt habe, die die Gefühlswelt des Menschen thematisiert, ohne eine Einheit und Autonomie des Subjekts zu unterstellen und eine Substanzialisierung oder Ontologisierung des Subjekts zu unternehmen. Diese Annahme mündet in der These, dass der Subjektbegriff mittlerweile durch das Konzept der Subjektivität abgelöst worden sei (vgl. Langbehn 2001). Was in der Philosophie aus erkenntnistheoretischer Perspektive diskutiert wird, beschäftigt andere Wissenschaftsdisziplinen von der Theologie über die Rechtswissenschaft, Semiotik, Literaturwissenschaft bis zur Psychologie und schließlich zur Soziologie ebenfalls seit ihren Anfängen. Das Subjekt hat auch in diesen Disziplinen eine bewegte, schillernde Geschichte und entsprechend viele Bedeutungsdimensionen: Es tritt auf als Rechtssubjekt, grammatisches Subjekt, als literarischer Protagonist, als das sich selbst bewusste Einzelwesen oder als vergesellschaftetes Individuum. Vor allem die Soziologie hat der erkenntnistheoretischen Vorstellung von der Einheit und Autonomie des Subjekts schon immer tendenziell kritisch gegenübergestanden. Die soziologische Perspektive galt weniger den Subjekten als selbstbewussten Einzelwesen mit jeweils singulärer Motivation, sondern den Beziehungen und Machtgefügen zwischen Subjekten und den sozialen Ordnungen, in die sie eingebettet sind. Überdies versteht die Soziologie Subjekte nicht nur als Einzelpersonen, die als vereinzelte Träger von Sinn den Machtgefügen von Nation, Staat, Klasse oder Geschlechterverhältnissen unterworfen sind. Der Subjektbegriff bezieht sich hier auf handelnde Akteure und damit gleichermaßen auch auf „Kollektivsubjekte“ wie Gruppen, Organisationen und soziale Bewegungen. Ähnlich wie die Philosophie kann auch die Soziologie auf eine Theorietradition zurückblicken, in der das Subjekt stark umkämpft war: Manche Theorien sozialer Ordnungen wie beispielsweise die Systemtheorie kommen ohne jenen Subjektbegriff aus, der, in Anlehnung an die Antike, „subjectum“ meint, was in Übersetzung des griechischen Begriffs „hypokeímenon“ das „zugrunde Liegende“ bezeichnet, also zunächst substanziell gedacht war und dann, mit Descartes, auf den Menschen als einen Träger von Sinn übertragen wurde. Handlungstheoretisch orientierte Ansätze wiederum stärken die Position des Subjekts, indem sie es als zentralen Träger von Handlung, Kommunikation oder sozialer Transformation ausweisen. 189
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Anders aber als in der Philosophie, die auch immer um den Begriff des Subjekts gerungen und ihm eine Vielzahl von Bedeutungsdimensionen zugeschrieben hat, ist der Subjektbegriff in der soziologischen Theorie weit weniger diskutiert (vgl. Sutter 1999; Reckwitz 2004). Selbst die Feministische Soziologie hat sich weit weniger als die Feministische Philosophie bemüht, das „weibliche Subjekt“ theoretisch zu positionieren, obwohl sie beispielsweise die Figur des „nomadisierenden Subjekts“ als Metapher für weibliche Subjektpositionierung bis heute intensiv diskutiert (vgl. Braidotti 1994). Entsprechend breit und unterschiedlich wird der Subjektbegriff in der Soziologie benutzt und mitunter synonym zu Begriffen wie Individuum, Selbst, Mensch, Akteur verwendet. Dies veranschaulichen bereits einschlägige soziologische Nachschlagewerke und Lexika. So tauchen die Begriffe Subjekt oder auch Subjektivität in manchen Wörterbüchern und Handbüchern der Soziologie gar nicht auf,2 hier lassen sich zu dem Themenkomplex Subjekt ausschließlich Begriffe wie Individualisierung, Individualismus oder Persönlichkeit finden. In anderen Nachschlagewerken wiederum werden die Begriffe Subjekt und Subjektivität erläutert,3 dafür aber bleiben Begriffe wie Individuum, Person, Mensch oder Selbst unerwähnt oder werden als Synonyme behandelt. Auch Elias benutzt nur selten den Begriff Subjekt. In seinem Buch Was ist Soziologie? (1978) kommt der Terminus Subjekt nur vereinzelt und dann in Anführungsstrichen vor. Das Stichwortregister des 1997 neu aufgelegten zweibändigen Buches Über den Prozeß der Zivilisation hat den Subjektbegriff gar nicht verzeichnet, und schließlich trägt das für die Frage nach der Subjektposition von Elias zentrale Werk nicht zufällig den Titel Die Gesellschaft der Individuen (1987): Elias legt sein Augenmerk auf die „Individuen“ und damit auf einen Subjektbegriff, der einem bürgerlich-liberalen Gesellschaftskonzept entstammt und der Auflösung der feudalen Gesellschaft seine Entstehung verdankt, und der dann in der Soziologie mit den spezifischen Anforderungen der Moderne an den Einzelnen im Hinblick auf Prozesse der Regulierung, Standardisierung und Vermassung in Beziehung gebracht wurde. Den Begriff des Individuums setzt Elias gleich mit dem des Menschen. Die soziologische Frage nach dem Verhältnis des Individuums als ein vernunftbegabtes und willensfähiges Wesen zu den gesellschaftlichen Strukturen, die auf das Individuum einwirken und die das Individuum zugleich seinerseits beeinflusst, beantwortet Elias aus figurations- und zivilisations2 3
So fehlen sie z.B. in Schäfers 1992; Bernsdorf 1975; Kerber 1991; Boudon und Bourricaud 1992; dies. 1989; Outhwaite und Bottomore 1995. Vgl. z.B. Hillmann 1994; Fuchs-Heinritz et al. 1994; Jary 1991; Abercrombie et al. 1994.
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theoretischer Perspektive. Das Individuum lässt sich demnach zum einen nicht im Gegensatz zu gesellschaftlichen Verhältnissen denken, sondern nur als deren Bestandteil. Zum zweiten war es Elias’ Anliegen, das Konzept des Individuums als Einzelwesen, das in seiner Existenz einmalig ist, als historisches Konstrukt zu identifizieren. Das Individuum ist für Elias unauflösbar in soziale Beziehungen verwoben; darüber hinaus lässt sich seine Zivilisationstheorie auch als Kritik an einer Anthropologisierung des Subjektbegriffs lesen. Bei der Theorie des Subjekts bei Elias hat man es folglich mit einer sozialhistorischen Theorie des Individuums zu tun.
Marx und Freud: Theoretische Ausgangspunkte der Subjekttheorie Elias’ „Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemanden unterworfen zu sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet zu sein.“ (Michel Foucault 1987, S. 246)
Zwei wesentliche Bausteine seiner Theorie des Individuums hatte Elias bereits bei Marx entdeckt: Erstens, dass der Diskurs über Individuen nur im Plural erfolgen kann; beruht doch die Seinsweise der Menschen vor allem auf ihrer Gesellschaftlichkeit. Zweitens übernahm Elias die Marxsche Dekonstruktion eines Subjektbegriffs cartesisch-kantischer Prägung, die das Subjekt als autonom und transzendental denkt und in den Rahmen der gesellschaftlichen Bedingungen seiner Möglichkeiten stellt. Marx hatte eine Dialektik von Mensch und Gesellschaft unterstellt, indem er betonte, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse die Menschen erst hervorbringen, zugleich aber als Produkte der Beziehungen von Menschen anzusehen sind.4 Zugleich betonte Marx die spezifische Produktivkraft des Menschen, das Bewusstsein, die Vorstellungskraft, die ihn von Tieren unterscheide. Im Unterschied zu einer idealistischen Position aber sah er die menschliche Vorstellungskraft an gesellschaftliche, „notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse“ (MEW 13, 1961, S. 9) geknüpft, was in dem prominenten Satz „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt“ (ebd.) Niederschlag 4
„Um zu produzieren, treten sie in bestimmte Beziehungen und Verhältnisse zueinander, und nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Beziehung zur Natur, findet die Produktion statt“ (MEW 6, 1959, S. 407; vgl. auch MEW 3, 1958, S. 38, 423).
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fand. Konsequent verstand Marx dann auch die Subjekthaftigkeit des Menschen nicht als ein dem Einzelnen originär innewohnendes Phänomen. Vielmehr bezeichnete er, ähnlich wie später Elias, „das menschliche Wesen [...] als das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (MEW 3, 1958, S. 6), als Ergebnis des spezifischen, historischen und damit wandelbaren Zusammenspiels von Individuen, dessen Struktur durch eine historische Form der Arbeitsteilung gegeben sei. Obwohl Marx das Subjekt über dessen Bindung an die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse immer als vergesellschaftet dachte, vertrat er einen emphatischen Subjektbegriff, der, so Eagleton, einem „romantischen Humanismus“ (1994, S. 230) verpflichtet war. Die Freiheit des Subjekts und die Entfaltung seiner Wesenskräfte bildeten für ihn den Maßstab, an dem er seine Gesellschaftskritik entwickelte. Der ökonomischen Bedingtheit der Subjekte setzte er die nach Befreiung drängenden Wesenskräfte des Menschen entgegen, die wiederum nur dann zur Entfaltung kommen könnten, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse transformiert worden seien, die den Menschen ein „erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ (MEW 1, 1958, S. 385) sein lassen. Und auch daran ließ Marx keinen Zweifel: Die Selbstverwirklichung des Einzelnen ist nur im Zuge der Selbstverwirklichung aller zu erreichen. Elias übernahm den Marx’schen Gedanken einer Verwobenheit des Menschen in gesellschaftliche Verhältnisse, sah jedoch anders als Marx diese nicht als vornehmlich ökonomische Verhältnisse an, sondern betonte die enge Verzahnung von ökonomischen und politischen Verhältnissen mit individuellen Verhaltensweisen, die für ihn unauflösbar an die jeweilige Figurationsordnung gebunden waren. Die Subjektkonstitution leitete er demzufolge auch nicht allein über die Kategorie der Arbeit her. Als zentrale Vorgänge beschrieb er vielmehr die Monopolisierung von (politischer, militärischer und fiskalischer) Macht sowie Prozesse der gesellschaftlichen Differenzierung, zu denen freilich Arbeitsteilung und damit die „Verlängerung der Interdependenzketten“ gehörte. Da Elias die Genese des modernen Subjekts unmittelbar an diese für die Moderne charakteristischen Zentralisierungs- und Differenzierungsprozesse geknüpft sah, konnte er auch Marx’ emphatischem Subjektbegriff nicht Folge leisten. Während Marx’ Subjektbegriff widersprüchlich angelegt war, indem er einerseits auf der von den gesellschaftlichen Verhältnissen durchdrungenen Wesenhaftigkeit des Menschen insistierte, auf der anderen Seite aber das Individuum objektiv mit dem unbedingten Verlangen nach Freiheit ausgestattet sah, verstand Elias den Menschen als ein durchweg durch die jeweilige Figurationsordnung entstandenes Produkt, das ohne Rest in den gesellschaftlichen Verhältnissen aufgeht. 192
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Anders als Marx, der die Vorstellung einer ursprünglich freien, aber in der kapitalistischen Gesellschaft unterdrückten Subjektivität nicht aufgeben wollte und der Frage nach der Verankerung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen in den Subjekten selbst nicht nachging, und auch im Unterschied zur Kritischen Theorie, die in etwa zeitgleich mit Elias diese Frage mit vielfältigen kulturkritischen Untersuchungen und Analysen – so zum Beispiel zum affirmativen Charakter der Kultur, zum autoritären Charakter, zur Kulturindustrie oder zum eindimensionalen Menschen – beantwortete, analysierte Elias den Prozess der Einschreibung figurativer Ordnungen in die Subjekte als einen sowohl sozialhistorisch wie biographisch unhintergehbaren Vorgang der Herausbildung stabiler Psychostrukturen. Ein emphatischer Begriff des Subjekts, in dessen Natur es läge, nach Freiheit zu streben und seine „wahren“ Bedürfnisse zu entfalten, hatte im Rahmen eines derartigen Denkmodells keinen Platz. Anders als die Marx’sche Theorie war die Psychoanalyse Freuds darauf angelegt, die Strukturen des Subjekts konzeptionell zu fassen. Und hier fand Elias einen weiteren zentralen Baustein für seine sozialhistorische Theorie des Subjekts: das Modell der Psychostruktur, wie es Freud erst kurz vor Elias’ Arbeiten an dessen erster großen figurationssoziologischen Schrift, der Habilitationsschrift Die höfische Gesellschaft (Elias 1969), formuliert hatte. Wie Marx war auch Freud der Auffassung, dass Menschen nur im Zusammenleben mit anderen materiell überleben können. Im Unterschied zu Marx aber, der diese Grundannahme in den Kontext der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit stellte, bestand Freud auf der Bedeutung der Kultur für das menschliche Überleben, deren Entwicklung und Dynamik er triebtheoretisch herleitete (Freud 1975). In seiner Triebtheorie, niedergelegt in Jenseits des Lustprinzips (1972), zeigte er auf, dass die an sich nicht kulturfähigen Primärtriebe des Menschen, Eros und Thanatos, erst in den Dienst der Kulturentwicklung gestellt, d.h. kulturfähig gemacht werden müssen. Erst über ihre Sublimierung sei sowohl die Bearbeitung und Unterwerfung der Natur als auch die Entwicklung von Kultur möglich. Der für ihn ontogenetisch und phylogenetisch wirksame Sublimierungsvorgang vollzieht sich in der Bewältigung des Ödipus-Komplexes. An ihm verdeutlichte Freud, dass Gesetz und Begehren, Bewusstsein und Sinnlichkeit, Moral und Lust untrennbar sind und widersprüchliche Allianzen miteinander eingehen. In der Psychostruktur des Einzelnen, in der das Ich als realitätsvermittelnde Instanz permanent zwischen ÜberIch und Es zu vermitteln gezwungen ist, vollziehe sich die Dynamik dieser verschiedenen Wirkungsmächte.
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Mit diesem Subjektmodell konnte Freud darlegen, dass sich gesellschaftliche Normen, Regeln und Gesetze in die Subjekte einschreiben und hier einen permanenten inneren Kampf mit den Trieben führen. Denn menschliches Zusammenleben setze, so Freud, gerade die Bändigung der ursprünglichen Triebe voraus. Eben in dieser Fähigkeit bestehe die Kulturalität des Subjekts, dessen Konstitution also unmittelbar an die Sublimierung der Triebe geknüpft sei. Diese anthropologische Grundannahme Freuds sollte Elias später zivilisationstheoretisch umdeuten. Freuds Psychoanalyse ließ keine Antwort auf die Frage zu, unter welchen Bedingungen sich die für die moderne Gesellschaft charakteristische Psychostruktur herausbilden konnte. Während Marx die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Konstitution des Subjekts ökonomisch verkürzte, war Freuds Argumentation biologistisch angelegt, indem er die Kulturentwicklung durch phylogenetisch und ontogenetisch wirksame Triebe determiniert sah. Klaus Horn resümiert dies: „Marx [...] musste übersehen, dass die Geschichte in den Menschen zur Natur wird; später verkennt Freud, dass die Natur in den Menschen zur Geschichte wird“ (Horn 1990, S. 131). Wie Elias Marx’ emphatischem Subjektbegriff und dessen rein ökonomischer Fundierung nicht Folge leisten wollte und, anders als Marx, die Frage nach der Verankerung gesellschaftlicher Verhältnisse im Subjekt stellte, verweigerte er sich der geschichtslosen, asoziologischen Subjekttheorie Freuds. Von Freud übernahm er das Modell einer Psychoapparatur, das er soziologisch umdeutete, indem er es als die verinnerlichte und im Verhalten sichtbar werdende Psychostruktur figurativer Ordnungen vorstellte. Mit seinem zivilisationstheoretisch untermauerten Modell der „Selbstzwangapparatur“ legte er einen Grundstein für die These der Verinnerlichung sozialer Verhältnisse und formulierte damit, dem Zeitgeist entsprechend, eine psychoanalytisch untermauerte These, die später in Bourdieus Theorie des Habitus körpertheoretisch weitergeführt werden sollte. Sein Hauptwerk Über den Prozeß der Zivilisation widmete er dem Nachweis, dass sich die von Freud als anthropologische Konstante gesetzte Psychoapparatur historisch erst unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen herausbilden konnte.5 Es ist der Clou seiner Theorie, den Zivilisationsprozess aus der Perspektive des Subjekts sowie der überindividuellen Strukturen beleuchtet und diese beiden Vorgänge, den Prozess der Staatenbildung und die historische Genese 5
Hans-Peter Duerr hat eine umfassende Kritik an Elias’ historischem Modell der Genese des Schamempfindens geübt und mit einer Vielzahl von historischen und kulturellen Beispielen die These zu untermauern versucht, dass Scham eine anthropologische Kategorie sei, vgl. Duerr 19882002, vgl. auch Landwehr 1997.
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des Psychohaushaltes, als ineinander verschränkte Prozesse beschrieben zu haben. Die Zentralisierung der Macht beschrieb er deshalb als einen mit der Genese des modernen Subjekts verbundenen Vorgang, weil sie mit der Bürokratisierung der gesellschaftlichen Institutionen abstraktere Kommunikationsverhältnisse, oder mit Elias gesprochen: längere Interdependenzketten geschaffen habe, die wiederum andere Verhaltensanforderungen hervorbringen und zugleich voraussetzen. Mit dem Nachweis der hohen Bedeutung von politischer Zentralisierung und sozialer Abhängigkeit konnte Elias einerseits die rein ökonomische Anbindung des Subjekts bei Marx und andererseits die biologische Determiniertheit des Freud’schen Subjektbegriffs hinter sich lassen. Mithilfe seiner figurationssoziologischen und zivilisationstheoretischen Annahmen gelang ihm zu zeigen, dass die über die Vergesellschaftung der äußeren Natur entstandenen Beziehungen zwischen den Menschen die historischen Voraussetzungen und Instrumente für Subjektbildung darstellen. Über eine soziologische Umdeutung der Psychoanalyse wiederum konnte Elias aufzeigen, dass und wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse als „innere Natur“ im einzelnen Menschen niederschlagen. Allerdings beschrieb Elias die Psychoapparatur weit undifferenzierter als sein Gewährsmann Freud. Während dieser gerade auf den permanenten innerpsychischen Konflikt zwischen den Energien und Funktionen der verschiedenen psychischen Instanzen hinwies und damit die Möglichkeit der Lustentfaltung und der individuellen „Freiheit“ auf das Subjekt verlagerte, konnte Elias’ psychogenetisches Modell eine subjektive Handlungs- und Gestaltungskompetenz nicht erklären. Elias reduziert sein Modell des Psychohaushalts auf zwei psychische Funktionen, Es und Über-Ich. Seiner Ansicht nach bildet sich ein Über-Ich erst im langfristigen Prozess der Staatenbildung heraus. Eine stabile Über-IchStruktur etabliert sich historisch allerdings genau zu jener Zeit, für die Michel Foucault neue Formen einer Mikrophysik der Macht herausarbeitet und Manfred Frank die Neudeutung der Begriffe Subjekt und Individuum konstatiert: „Tatsächlich ist nicht jedes Subjekt ein Individuum [...]. Wohl aber gilt, einer Sprechregelung zufolge, die sich vermutlich in der ‚Sattelzeit‘ (1750-1800) durchgesetzt hat, dass unter ‚Individuum‘ nicht länger mehr ein unspaltbar kleines Einzelding, sondern ein Einzelsubjekt zu verstehen ist“ (Frank 1988, S. 7). Im Unterschied zu der in diesem Zitat zum Ausdruck kommenden Historisierung des Wissens blendete Elias die Frage aus, wie im Laufe des Zivilisationsprozesses Wissen entsteht und sich verändert, und wie es zu einer spezifisch modernen Konzeption des Individuums kommen konnte, die den Menschen als „homo clausus“ und damit als ein von der Umwelt abgeschlossenes Individuum vorstellte. Dieser Frage sollte spä195
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ter Michel Foucault nachgehen, indem er die Konstitution des Subjekts in den Zusammenhang von Wissensdispositiven stellte. Die Genese des Über-Ichs im Individuum leitete Elias über die Reproduktion des historischen Zivilisationsprozesses im einzelnen Menschen her. Diesen als „Zivilisierung“ des Individuums bezeichneten Sozialisationsvorgang erklärte Elias behavioristisch. Insofern fällt es schwer, aus Elias’ Theorie herauszulesen, was einen Sozialisationsvorgang von einer „Züchtigung“ von Tieren unterscheidet, zumal er selbst Begriffe wie Züchtigung und Zurichtung für Sozialisationsvorgänge verwendet. Aufgrund dieses behavioristischen Sozialisationsbegriffs fehlt Elias das theoretische Instrument, um eine Vermittlungsproblematik von Fremd- und Selbstzwang im einzelnen Subjekt zu beschreiben. Er diskutiert diese Problematik ausschließlich aus zivilisationstheoretischer und figurationssoziologischer Perspektive. Eine seiner prominentesten Thesen lautet demzufolge: Im Laufe des Zivilisationsprozesses entstehen stabile Selbstzwangapparaturen, welche die Präsenz von Fremdzwängen unwichtiger machen; die Stabilität der Fremdzwänge wiederum ist das Produkt spezifischer Figurationsordnungen, welche die einzelnen Subjekte zur Selbstkontrolle zwingen. Diese zentralen Grundannahmen erlauben es nicht, die Möglichkeit individueller Freiheit, die Veränderung des individuellen Handlungsoder Verhaltensspielraums oder gar die Transformation verinnerlichter sozialer Muster zu denken. „Abgerichtet“ auf die Anforderungen der figurativen Ordnung kann das Subjekt gar nicht in der Lage sein, zu dem „gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang“ in Distanz zu treten und widerständig oder grenzüberschreitend zu handeln. Nun wird vielleicht auch verständlich, warum Elias den Begriff Subjekt nicht benutzt: Sein Psychomodell sieht ein Selbstverhältnis des Subjekts, ein Bewusstsein des Selbst nicht vor und kann so auch die EigenBeweglichkeit des Subjekts nicht denken. Denn anders als bei Freud gibt es in Elias’ psychostrukturellem Modell keine realitätsvermittelnde Instanz des Ich. Indem er ein zweidimensionales Über-Ich-Es-Modell favorisiert, kann er innerpsychische Dynamiken nur nach Muster einer Art Psychohydraulik ausmalen: Die Triebe und Affekte rackern sich hoffnungslos am Über-Ich ab, werden rücksichtslos gedämpft, zumindest solange die Subjekte in stabile Figurationsordnungen eingebettet sind.6 Diese Abwesenheit eines Selbstkonzeptes ist umso erstaunlicher, als einer der zentralen Elias’schen Begriffe die Selbstkontrollapparatur ist. 6
So konnte Elias auch nachweisen, dass sich stabile Selbstkontrollapparaturen geschlechtsspezifisch different herausgebildet haben, indem Frauen in höfischen Figurationen zu mehr Zurückhaltung gezwungen waren (vgl. Klein und Liebsch 1997, 2001).
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Mit Elias’ psychostrukturellem Modell lassen sich die von Freud beschriebene Ambivalenz und Dynamik psychischer Vorgänge nicht darstellen. Auch Formen der Selbstwahrnehmung, Selbstgestaltung und Selbstreflexion lassen sich mit Elias’ Theorie nicht erklären (vgl. Lemke 2001). Dass Elias das Selbstverhältnis des Subjekts in seiner sozialhistorischen Theorie des Individuums nicht thematisiert, ist auch insofern interessant, als er in seinem Alltag offenbar die Selbstreflexivität des Subjekts sehr hoch einschätzte: Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ er sich nicht nur als Gruppenanalytiker ausbilden und arbeitete als solcher, sondern unterzog sich auch einer Einzelanalyse (vgl. Elias 1990, S. 82ff.).
Individualität ohne Selbstgestaltung. Elias’ Subjektkonzept „Jeder Mensch ist ein einmaliger Mensch und tatsächlich, für sich gesehen, das größte Kunstwerk aller Zeiten.“ (Thomas Bernhard, Der Untergeher)
Elias vertrat – im Unterschied zu Marx, aber ähnlich wie Freud – keinen emphatischen Subjektbegriff. Zwar sieht er mit Marx den Menschen als ein fundamental durch gesellschaftliche Umstände und materielle Notwendigkeiten geprägtes Wesen an, verleugnet aber jede Möglichkeit einer „inneren Wahrheit“ des Subjekts und erklärt sie zu einer historischen Fiktion. Wenn Marx und Freud das Verdienst zukommt, das mit sich selbst identische, autonome bürgerliche Subjekt dekonstruiert zu haben, indem sie es in das Bedingungsgefüge von ökonomischen und triebstrukturellen Zwängen gestellt haben, die wiederum ein Ergebnis der Vergesellschaftung von äußerer und innerer Natur darstellen, hat sich Elias von ihrem substanziellen Subjektbegriff verabschiedet. Elias vertrat ein funktionales Subjektkonzept, indem er das Subjekt in seiner fundamentalen Gebundenheit an Figurationsordnungen verhaftet sah. Es ist sein Verdienst, als einer der ersten Soziologen einen nicht-essenzialisierenden Subjektbegriff begründet zu haben. Für ihn gab es kein vorgängiges Subjekt, verstanden als naturhaftes Wesen, das gesellschaftlich geformt würde. Vielmehr verstand er die Sozialität des Subjekts als dessen erste Natur. Allerdings bleibt auch Elias’ Subjektbegriff widersprüchlich – und dies in zweierlei Hinsicht. So hat zum einen Thomas Lemke (2001) zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Elias quasi durch die Hintertür einen substanziellen Subjektbegriff wieder einführte, indem er die Genese der Psychostruktur allein aus ihrer figuralen Funktionalität abgeleitet hat. Indem das Subjekt immer als Teil einer Figura197
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tion gedacht wird, erkläre Elias die sog. zweite Natur zur eigentlichen und einzigen Natur des Subjekts. Zum zweiten wollte Elias das soziologische Problem der Verbindung von Mikro- und Makrostrukturen über das Figurationskonzept lösen. So ist es zweifelsohne Elias’ historische Leistung, die für die Soziologie nach wie vor schwierige Problematik der Interdependenzen von Individuum und Gesellschaft, von Subjekt und Struktur bereits in den 1930er Jahren mit der Einführung des Figurationsbegriffs bearbeitet zu haben. Elias insistierte, dass der durch die moderne Soziologie seiner Zeit unterstellte Dualismus von Individuum und Gesellschaft eine Verkennung sei, indem eine historische Denkfigur für eine gesellschaftliche Grundtatsache gehalten werde (vgl. Elias 2003). Auf diese Weise würde die Historizität dieser Konstruktion verkannt und ihre zivilisationsgeschichtliche Essenzialisierung in der Theorie quasi verdoppelt. Damit nahm Elias eine theoretische Position zwischen Subjektivismus und Objektivismus ein, die vor allem von Pierre Bourdieu viele Jahre später, nach dessen Auseinandersetzung mit Claude Lévi-Strauss’ Strukturalismus und der Phänomenologie MerleauPontys, weitergeführt werden sollte. Bezogen auf sein Subjektkonzept bedeutet diese synthetisierende Position, dass Elias weder makrotheoretischen Annahmen, die das Subjekt als durch gesellschaftliche Strukturen geprägt verstehen, Folge leisten wollte. Noch wollte er der sinnfindenden Gestaltungskraft der Individuen einen so großen Raum zusprechen, wie es mikrosoziologische Theorien in der Tradition Max Webers – so beispielsweise der Symbolische Interaktionismus oder die Ethnomethodologie – postulieren. Allerdings lässt sich zwischen figurations- und zivilisationstheoretischen Grundannahmen selbst ein Widerspruch ausmachen. Denn während das Figurationsmodell subjekttheoretisch fundiert ist, indem es die handelnden Akteure als Motoren sozialen Wandels voraussetzt, lässt sich das Subjektverständnis der Zivilisationstheorie hingegen durch die behavioristischen Annahmen zum Sozialisationsvorgang nur strukturtheoretisch auslegen: Im Muster von Reiz und Reaktion erscheint das Subjekt als ein Effekt sozialer Strukturen. Es ist ein weiteres historisches Verdienst von Elias, den Zusammenhang von Soziogenese und Psychogenese herausgestellt zu haben. Elias war wohl einer der ersten Soziologen, der die Konstitution des modernen Subjekts als Prozess der Verinnerlichung des Sozialen charakterisiert und damit Ansatzpunkte bereitgestellt hat, die Konstitution des Subjekts körpertheoretisch zu fundieren. Obwohl er selbst keine soziologische Theorie des Körpers formuliert hat, ist er insofern dennoch als einer der Wegbereiter einer Soziologie des Körpers anzusehen. Da Elias das Individuum als gesellschaftliches Wesen und nicht, wie beispiels198
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weise Foucault, als eine historische Form der Selbstorganisation beschrieb, konnte er den Prozess der Verkörperung auch nur auf der Ebene des Subjekts und nicht auf Ebene der Figurationsordnung selbst beschreiben und hier als einen Prozess der Einschreibung, der Verinnerlichung und damit der Festschreibung sozialer Macht in den Subjekten charakterisieren. Die Performanz des Körperlichen wiederum diskutiert Elias auf der Verhaltensebene. Menschen handeln, so Elias, unreflektiert aus den zu unbewussten Selbstzwängen gewordenen sozialen Zwängen heraus. Da Elias das Modell des „homo clausus“ als eine historische Verkennung identifiziert, lässt sich aus figurationssoziologischer Perspektive weder die historische Genese der Trennung von „Innen“ und „Außen“ als ein Wissensdispositiv der Moderne noch als eine „praktische“, das heißt mit Bourdieu: zur Praxis gewordene Grundproblematik des modernen Subjekts anerkennen. Auch die „Vermittlungsproblematik“ zwischen Psyche und Körper – zwischen Empfindungen und Gefühlen und deren körperlichem Ausdruck – bleibt Elias’ Subjekttheorie verschlossen. So bleibt fraglich, ob sich soziale Verhältnisse so unmittelbar in die Körper „einschreiben“ und deren Aktualisierung entsprechend reflexartig erfolgt, wie es Elias’ Theorie des Zusammenhangs von Soziound Psychogenese nahe legt, ferner ob sich innerpsychische Strukturen derart unmittelbar in körperliches Verhalten umsetzen und zur Darstellung kommen und der körperliche Ausdruck selbst unmittelbar als Muster gesellschaftlicher Machtverhältnisse übersetzt werden kann. Soziales Verhalten spielt sich, so Elias, im Spannungsfeld von figurativen Zwängen und psychostrukturellen Mustern ab. Genau in diesem Spannungsfeld entstehe Individualität: „Was wir ‚Individualität‘ eines Menschen nennen, das ist in erster Linie eine Eigentümlichkeit seiner psychischen Funktion, eine Gestaltqualität seiner Selbststeuerung in Beziehung zu anderen Menschen und Dingen. ‚Individualität‘, das ist ein Ausdruck für die besondere Art und den besonderen Grad, in dem sich die Gestaltqualität der psychischen Steuerung des Menschen von der anderer unterscheidet“ (Elias 1987, S. 87).
Und diese Unterscheidung ergebe sich aus der spezifischen Konstellation, dem besonderen Figurationsgeflecht, in das der einzelne Mensch, um es mit Elias zu sagen, „zu leben gehalten ist“. „Nur durch eine gesellschaftliche Modellbildung bilden sich bei ihm im Rahmen bestimmter gesellschaftstypischer Charaktere auch jene Charaktere und Verhaltensweisen heraus, durch die er sich von allen übrigen Menschen seiner Gesellschaft unterscheidet. Die Gesellschaft ist nicht nur das Gleichmachende
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und Typisierende, sondern auch das Individuierende“ (ebd., Hervorhebung im Original).
In seiner Zivilisationstheorie hat Elias die historische Genese des Verhältnisses von Vergesellschaftung und Individuierung, aber nicht dessen spezifische geschichtliche Formen herausgearbeitet. Und obwohl er von der Selbststeuerung des Menschen sprach, gehörte die Selbstkonstitution des Subjekts nicht in das Feld seines figurationssoziologischen Interesses. Was seine eigene Biographie betrifft, lag ihm die Idee der Selbststeuerung wohl am Herzen: Als er in hohem Alter prominent geworden war, war es ihm ein beständiges Gräuel, wenn andere Menschen Biographisches über ihn schreiben wollten (vgl. Korte 1988). Er bevorzugte, sich ganz seiner historischen Bedeutung sicher, die Herstellung der Identität des Norbert Elias in der selbstreflexiven Narration (Elias 1990). Der Bedeutung der sozialen Positionierung des Selbst über einen Akt der Selbsterzeugung war sich Norbert Elias, was das Subjekt Norbert Elias betraf, zweifelsohne sehr bewusst.
Passungsarbeit en: Figurationssoziologischer Subjektbegriff und die Subjekttheorie der reflexiven Moderne „Könnte nicht das Leben eines jeden ein Kunstwerk werden?“ (Michel Foucault)
Elias’ Theorie steht den nachmodernen Subjekttheorien eher sperrig gegenüber: Zwar kann er als einer der Wegbereiter eines nicht-essenzialisierenden Subjektbegriffs betrachtet werden, dennoch ließe er sich aktuellen konstruktivistischen Subjekttheorien nur schwerlich zuordnen. Auf der einen Seite erscheint aus der Perspektive des zivilisationstheoretischen Denkens der Abschied vom Subjekt als „ideologisch“ und „falsch“, als eine Verkennung, als eine Zeitdiagnose, die, historisch zu kurz gedacht, selbst ein Resultat eines langfristigen Zivilisationsprozesses ist. Auf der anderen Seite lässt sich die Überfrachtung des Subjekts in den Theorien der reflexiven Moderne mit Elias als eine Verdoppelung eines kurzfristigen historischen Leitbilds in der und durch die soziologische Theorie lesen: Die Figur des „aktiven Bürgers“, der, ausgestattet mit dem Zwang zur Freiheit, als ein um sich selbst sorgendes, identitätsbastelndes, flexibles und räumlich mobiles Individuum eingeführt wird, dessen identifikatorische „Passungsarbeiten“ (Keupp et al. 2002) sich lebenslang zwischen höheren Chancen und größeren Risiken, 200
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zwischen Verlust von Sicherheiten und Gewinn von Freiheiten, zwischen Gewinnern und Verlierern abspielen, erscheint aus figurationssoziologischer Perspektive als eine spezifisch spätmoderne Fassung des modernen Konzepts des „homo clausus“. Wie dieser ein historisches Pendant zu politischen und ökonomischen Zentralisierungsprozessen in der Frühmoderne war, in der sich die „Gesellschaft“ ebenso wie das „Ich“ formierten und stabilisierten, erscheint der „aktive Bürger“ als Pendant zu Entstaatlichung, zu Postfordismus und Neoliberalismus, zu Transnationalisierung und Globalisierung. Aus der Perspektive der Elias’schen Theorie wären beide Subjektkonzepte das Denken des Wahren im Falschen, indem sie konzeptionell eine „soziale Tatsache“ verdoppeln, ohne deren historisches Gewordensein und damit ihre Wandelbarkeit kritisch zu reflektieren. Die Verdoppelung besteht vor allem in der Emphase, die dem Subjektbegriff unterlegt ist: Denn wie die Figur des „homo clausus“ die Suche nach dem wahren Kern, den wahren Bedürfnissen, nach Authentizität und individueller Freiheit produziert habe, unterliegt auch das Konzept des „aktiven Bürgers“ der Gefahr, den Möglichkeitsraum des Subjekts zu überbewerten. Um aber das reflexive Subjekt in einer reflexiven Moderne aus figurationssoziologischer Sicht zu denken, müsste die Zivilisationstheorie Elias’ nicht nur vom 18. ins 21. Jahrhundert fortgeschrieben, sondern auch in Hinblick auf ihre subjekttheoretischen Fundamente überarbeitet werden. So wären vor allem – auch für eine sozialhistorische Theorie des Subjekts – die Zusammenhänge von Individuum und Selbst, von Subjektkonstitution und Wissensformen, von figurativen Zwängen und Selbstgestaltung prozesstheoretisch zu analysieren, und das heißt: als historische Formationen zu beschreiben. So lassen sich mit Elias’ Subjektbegriff nur unzureichende Antworten auf manche aktuellen Fragen finden: Haben beispielsweise politische Dezentralisierungsprozesse, wie sie sich in Teilen Europas vollziehen, zwangsläufig eine Destabilisierung der ehemals stabilen „Selbstkontrollapparaturen“ zur Folge? Ist die Brutalität körperlicher Gewalttaten, wie sie sich in politischen Kämpfen im Kosovo, in Tschetschenien oder in Palästina zeigt, tatsächlich als Indiz für die Lockerung der Affektkontrollen aufzufassen, wie Elias’ Theorie nahe legen würde? Zeigt sich in den Terroranschlägen nicht auch eine zunehmende Rationalität und abstrakte, langfristige Planung von Gewalt, die man mit Elias als „Zivilisierung der Gewaltausübung“ beschreiben müsste? Elias’ Theorie ist von ihrem Geltungsanspruch her eine der letzten Metaerzählungen der modernen Soziologie, die selbst einem grundsätzlichen Widerspruch ausgesetzt ist, indem sie einerseits angetreten war, um die langfristige Geschichtlichkeit und permanente Wandlung des So201
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zialen und des Denkens über das Soziale nachzuweisen und andererseits dabei universell gültig sein wollte. Aber dies ist wohl das Los so mancher „großen Erzählung“.
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Das Unb ehag en in der Sp ät m oderne . Zur geg enw ärtigen L ag e de s Subje kts aus d er Si cht ein er p sy cho a nalyt i sch en Sozia lps ycho logie HANS-JOACHIM BUSCH
Die gesellschaftlichen Bedingungen mit all ihren Traditionsbrüchen, Entwurzelungen, ihren Mobilitäts- und Flexibilitätsansprüchen sowie den Unübersichtlichkeiten des Globalisierungsprozesses sorgen nicht zuletzt für ein Bewusstsein der Bedeutungslosigkeit, Einflusslosigkeit, ja Auslöschung autonomer Individualität, wie es sehr drastisch bereits Adornos resignative Überlegungen (1955) zum Ausdruck brachten. Die Existenz, überhaupt nur der Gedanke des Subjekts scheinen aufgelöst zu werden in Strukturen, Systeme und Netzwerke, in denen Kommunikation, Wirtschaft, technisch-wissenschaftliche Steuerung ein Disziplinarregime um das Subjekt schlingen. Daher ist hier, ehe ich ungebrochen meinen (alteuropäischen) Subjekt-Diskurs fortführe, das Bedenken zu erwägen, ob angesichts dieser Zustände das Festhalten am Subjektbegriff überhaupt noch zeitgemäß, gerechtfertigt oder sinnvoll ist. Denn manche Autoren haben die Konsequenz gezogen und – sei es in der Tradition Adornos, der Systemtheorie oder des Strukturalismus – dafür plädiert, das Projekt eines mit psychoanalytischen Mitteln gebildeten sozialwissenschaftlichen Subjektbegriffs zu verabschieden bzw. aufzugeben. Will man also an diese theoretische Traditionslinie auch unter Bedingungen der späten Moderne anknüpfen, so hat man dies zu begründen. Ich sehe mich zum Festhalten am Subjektbegriff aus zweierlei Gründen ermutigt: Zum einen ist ein Wiederaufleben theoretischer Stimmen in Philosophie (Frank 1991) und Sozial- und Kulturwissenschaften (Oe205
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vermann 1990, 1993; Schülein 1988, 2003; Zima 2000; Birbaumer und Steinhardt 2003) zu verzeichnen, die sich dieses Begriffes entweder wenigstens affirmativ bedienen oder ihn sogar betonen bzw. emphatisch für ihn eintreten. Zum anderen gilt für mich ein persönlicher – wissenschaftlicher und lebenspraktischer – Grund. Die sinnliche und reflexive Distanz, in der ich mich in meiner Stellung zur Welt zu erleben vermag, macht mir stets aufs Neue gegenwärtig, dass ich nicht vollends in ihr aufgehe, sondern mir ein Spielraum bleibt für eigene sinnliche und rationale Entwürfe; auch lässt das daraus erwachsende, nicht zu stillende Motiv, mir gesellschaftlich-politisch Lebensumstände einzurichten, die eigenen oder aus Überzeugung geteilten Bedürfnis- und Freiheitsmaßstäben und Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen, mir praxislogisch gar keine andere Wahl, als mich als ein in seinen alltäglichen Entscheidungen (bei allen äußeren Einflüssen, Zwängen) autonomes Individuum, als Subjekt zu verstehen. Ich denke, diese Grundlage von Subjektivität ist, allen betrüblichen Erfahrungen und pessimistischen Betrachtungen zum Trotz, nicht angetastet, und auch dieses Buchunternehmen, an dem ich mich, indem ich dies denke und schreibe, beteilige, zeugt davon. Nach wie vor gilt meines Erachtens die Annahme eines präreflexiven, substanziellen Moments von Subjektivität, das zwar immer nur in gesellschaftlichen Handlungen, intersubjektiven Zusammenhängen aufblitzt, aber damit nicht schon vorgängig durch diese bestimmt wird. Im Gegenteil manifestiert sich hier das Eigene, Außersoziale, Neue: der Impuls, den das Subjekt der sozialen Wirklichkeit – und sei er auch noch so klein – seinerseits zu geben vermag und mit dem es sie lebendig hält. Diese Perspektive ist insbesondere wichtig, um sozialwissenschaftlich sinnvoll den Gehalt der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorie aufgreifen zu können. Die Psychoanalyse ist von Freud nicht in der Absicht einer Sozialwissenschaft entworfen worden. Auch wenn sie gegen die damals, um die vorletzte Jahrhundertwende, herrschende medizinische Psychiatrie gerichtet war und sich davon in vielem emanzipierte, blieb sie dieser doch in ihrer Eigenschaft als Therapie gleichzeitig auch verhaftet oder doch wenigstens verwandt. Mit der Psychoanalyse entwickelte Freud aber auch ein neues Bild vom Menschen, eine allgemeine Psychologie. Diese umfassende, tragische Konzeption des Menschen als eines in allen seinen Verrichtungen von Trieben, von Schuld, von familialen Verstrickungen beherrschten Wesens brachte auch eine quasinaturwüchsige Ausdehnung seiner Betrachtungen auf das Gebiet von Gesellschaft und Kultur mit sich. Aber diese kultur- und sozialpsychologischen Reflexionen blieben, so instruktiv, erhellend und weitsichtig sie im Einzelnen auch waren, insgesamt doch in der Perspektive einer Soziologie als angewandter Psychologie befangen, führten nicht zu einer 206
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wirklichen interdisziplinären Öffnung des psychoanalytischen Ansatzes. Gleichwohl hat ihre gesellschaftliche und kulturelle Wirkung sehr rasch auch dafür gesorgt, dass die Psychoanalyse vonseiten der Sozialwissenschaften mit Interesse aufgenommen und dem eigenen Diskurs einverleibt wurde, und daher kommt ein ernsthaftes Unternehmen der Vergegenwärtigung sozialwissenschaftlicher Subjektkonzeptionen auch nicht ohne Berücksichtigung der auf die Psychoanalyse gestützten Ansätze aus. Die ersten, die unter Einbezug der Psychoanalyse sozialwissenschaftlich vorgingen, waren die Freudomarxisten (Gente 1970) und die Autoren der Frankfurter Schule. Ich werde hier ein Konzept von Subjektivität vertreten, das aus letzterer Tradition hervorgegangen ist. Nachdem ich im folgenden Abschnitt (I) zuerst die für spätmoderne Subjektivität maßgeblichen gesellschaftlichen Strukturveränderungen darlegen werde, werde ich im zweiten Teil die theoretischen Linien und die heute nötigen kategorialen Modifikationen dieses Ansatzes grob skizzieren. In einem weiteren Schritt (III) wird die Theorie der Interaktionsformen als ein aussichtsreicher konzeptueller Ansatz der Bildung des Subjekts in der Spannung von Intersubjektivität und innerer Natur vorgestellt, mithilfe dessen Strukturveränderungen von Subjektivität angemessen erfasst werden können. Und schließlich wird eine gegenwartsdiagnostische Zwischenbilanz gezogen (IV) und ausblickend die Frage möglicher Verbesserungen der Lage von Subjektivität geprüft (V).
Strukturelle Veränderungen in der spätmodernen Gesellschaft Das Entstehen einer sozialwissenschaftlich-psychoanalytischen Theorie des Subjekts hing, wie aufgezeigt, eng zusammen mit gravierenden Entwicklungen der kapitalistischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Frage ist nun, welche Wirkungen die tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen der folgenden Jahrzehnte subjekttheoretisch zeitigten bzw. zu welchen konzeptionellen Modifikationen sie nötigen. Um diese Frage zu behandeln, möchte ich zunächst die mir für das Feld der Subjektivität besonders bedeutsam erscheinenden Wandlungen der zweiten, späten oder reflexiven Moderne, auch wenn sie dem Leser durchweg bekannt sind, wenigstens kurz skizzieren. Der spätmodernen Gesellschaft kommt die Erzählung vom unaufhaltsamen Fortschritt der technischen Naturbeherrschung nicht mehr bedenkenlos über die Lippen. Technische Großkatastrophen und das Bewusstsein eines militärischen Vernichtungspotenzials, das reichen würde, ein Vielfaches der gesamten Menschheit einfach auszuradieren, wie 207
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auch die alltägliche, schleichende, aber doch spürbare, sichtbare Umweltverschmutzung und -zerstörung, die natürlich nicht vor den Grenzen des Körpers Halt macht, sondern sich auch dort pathogen ausbreitet, haben zu einer Ernüchterung gegenüber der westlich-kapitalistischen Lebensweise und zu Misstrauen gegenüber deren Wachstumszwängen geführt. Seit Jahrzehnten wird ebenso viel über Risiken und Folgen wie über den – vordem kritikloser unterstellten – Nutzen wissenschaftlichtechnischer Neuerungen jeder Art debattiert. Das einzelne Bewusstsein ist von der hierdurch erzeugten inneren Zerrissenheit geprägt. Ähnliche Verunsicherungen lassen sich auf strukturelle gesellschaftliche Veränderungen zurückführen, die unter dem Stichwort der Individualisierung zusammengefasst werden können. Die Biographien der Einzelnen sind bei weitem ungewisser geworden; ihre Zukunft ist offener, und Traditionen und Konventionen haben ihren Einfluss weitgehend eingebüßt. Diese Entwicklung betrifft die beruflichen Karrieren, das Geschlechterverhältnis und das Kindsein heute. Im Arbeitsleben wird der Einzelne unablässig mit Wandlungen konfrontiert. Das einmal am Anfang des Berufsweges Erlernte reicht, anders als früher, nicht aus; das berufliche Wissen muss sich den technischen Neuerungen unentwegt anpassen, um nicht zu veralten; die Tendenz geht dahin, dass die Wohnung mit dem Betriebsstandort gewechselt wird. Mobilität und Flexibilität werden zu geforderten Eigenschaften. Durch die zur Norm gewordene Berufstätigkeit der Frauen wird der Druck auf dem Arbeitsmarkt noch einmal größer. Entsprechend dieser Gleichberechtigung der Frauen, die auf allen Gebieten inzwischen zum (wenn auch noch nicht immer realisierten, aber doch anvisierten) Alltag geworden ist, haben sich die Geschlechterverhältnisse gewandelt. Paarbeziehungen sind nicht mehr einseitig an der Berufskarriere des Mannes orientiert; heute müssen die Karrieren beider aufeinander abgestimmt werden. Diese Egalität – und idealerweise: Reziprozität – greift natürlich auf den gesamten Beziehungsalltag, von der Haushaltsführung über die Kinderbetreuung bis hin zur Freizeit- und Urlaubsgestaltung, über, und sie betrifft selbstverständlich auch das Intimleben. Immer geht es darum, die Ansprüche beider auszugleichen, die gegenseitigen Bedürfnisse wahr- und ernst zu nehmen. Die traditionelle Familie ist unter diesen Umständen nicht mehr die unumstrittene Beziehungs- und Lebensform, denn sie hält den gewachsenen Ansprüchen oft nicht stand. Ihr hat sich eine Vielfalt anderer Formen beigesellt, vom Single über die Ein-Eltern-Familie, die Wohngemeinschaften usw. An die Stelle lebenslanger Partnerschaft ist die „sequenzielle Monogamie“ (Reiche 2003) getreten. Das Kinderhaben ist unter diesen Voraussetzungen schwieriger und weniger selbstverständlich geworden. Es mag Teil eines Lebensentwurfs sein, hängt aber davon ab, ob es sich mit den an208
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deren Teilen zu einem biographisch tragfähigen Gefüge verbinden lässt, in dem sich das doch so fragile, voraussetzungs- und entbehrungsreiche, zeitraubende und gefühlsaufwändige „Projekt“ des eigenen Kindes realisieren lässt. Wenn dann die – wenigen – Kinder kommen, sind sie Gegenstand hoher Aufmerksamkeit und intensiver Pflege, und es richten sich große Wünsche aus einem beschädigten Leben gerade an sie. Wenn ich versuchen sollte, die Phänomene auf einen gegenwartsdiagnostischen Nenner zu bringen, so würde ich zweierlei vermeiden wollen: Bei aller Verbundenheit mit der sensiblen Gesellschaftskritik der älteren Frankfurter Schule würde ich doch nicht deren verfallslogische Perspektive einer total verwalteten, entindividualisierten Welt, in deren Sog wir unrettbar hineinsozialisiert werden, teilen. Andererseits aber ist der Befund heute vorangeschrittener Individualisierung aus meiner Sicht keineswegs schlicht mit einem bloßen Zugewinn an Freiheit der Einzelnen verknüpft. Die wachsenden Möglichkeiten werden vielmehr auch mit zunehmenden Zwängen, Einschränkungen und Beschneidungen bezahlt. Honneth hat diesen irritierenden Eindruck auf den Begriff der „Paradoxien der Individualisierung“ (2002) zu bringen versucht. Der Begriff der reflexiven Moderne ist mir in diesem Zusammenhang dagegen zu euphemistisch. Er legt die Auffassung der Reflektiertheit des heutigen Bewusstseins hinsichtlich moderner Lebensbedingungen und Lebensformen nahe. Davon kann gegenwärtig jedoch keine Rede sein. Von „reflexiver Moderne“ zu sprechen hat dann seine Berechtigung, wenn dieser Terminus einen mehr intellektuellen, kritischen Diskurs über die Lage und die Zukunft der Moderne bezeichnet. Im Alltagsbewusstsein sind diese Aspekte eher marginal bzw. unterschwellig, vorbewusst vorhanden. Vielleicht wäre es angemessener, von der irritierten, der erschütterten Moderne zu reden. Im Konzept reflexiver Modernisierung werden dagegen die Schattenseiten der Individualisierung zwar nicht übersehen, finden aber doch nicht die ihrem Gewicht angemessene Aufmerksamkeit. Das gilt z.B. für Keupps (1989, 1995) auf Grundlage dieses Ansatzes entwickelte Patchwork-Konzept der Identität (zur Kritik vgl. Zima 2000, S. 69; Busch 2003b).
Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie – Stationen des Subjektbegriffs in der Frankfurter Schule Horkheimer, Adorno, Fromm und Marcuse verstanden Psychoanalyse als hilfreich bei der Untersuchung sozialpsychologischer Probleme, die – dies wurde am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung 209
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unabweisbar – offenbar im Horizont marxistischer Gesellschaftstheorie sowohl nicht vorhergesehen als auch nicht angemessen begriffen werden konnten. Die Subjekte, dieser desillusionierende Schluss musste gezogen werden, zeigten nicht die Bereitschaft, sich konsequent auf die Seite des vorhergesagten geschichtlichen Fortschritts zu schlagen und emanzipatorische Ziele zu verfolgen. Sie wiesen augenscheinlich ein Maß an Unkalkulierbarkeit, Irrationalität und Verführbarkeit auf, das nicht mehr nur aus gesellschaftlichen Bedingungen erklärt werden konnte, sondern auch im Hinblick auf seine psychischen Grundlagen erforscht werden musste. Unter den Vorzeichen einer zur Herrschaft gelangenden nationalsozialistischen Barbarei verdüsterte sich vor allem bei Horkheimer und Adorno der mit psychoanalytischen Mitteln gedachte Subjektbegriff sehr rasch und bekam mehr und mehr den Charakter einer Residualkategorie. Das einstmals stolze bürgerliche Subjekt der Gründerzeit, das innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft noch eine utopische Strahlkraft ausüben konnte, erlosch im Zeitalter des Nationalsozialismus und der „verwalteten Welt“ immer mehr. Schließlich mündeten Adornos Befunde in die Diagnose des Zustandes einer nachbürgerlichen Welt, die das Ich, das Subjekt, nicht mehr kennt. Die Hoffnung, Soziologie mit Psychologie begrifflich bereichern und erweitern zu können, wich der resignativen Ansicht, die psychologischen Kategorien hätten sich wieder in soziologische aufgelöst (Adorno 1955). Mit dieser bis ans äußerste gehenden Auffassung stand Adorno allein; in seinem eigenen Werk stand ihr immer auch die Tendenz gegenüber, dem Subjekt die Treue zu halten, seinen Spuren, Beschädigungen, Artikulationen (nicht nur in der Kunst) mit höchster Sensibilität nachzugehen, ihnen ans Licht und zu ihrem Recht zu verhelfen. Herbert Marcuse vertrat letztere Position schon von vornherein mit weniger Umschweifen, gleichsam unzweideutiger, ambivalenzfreier, und vermochte es so, einen Entwurf der Vermittlung von Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie vorzulegen (Marcuse 1955), der nicht zuletzt seinen Einfluss auf die Studentenbewegung der 60er Jahre begründete. Es waren diese Anregungen aus der Kritischen Theorie, im Wesentlichen der Arbeiten von Horkheimer, Adorno und Marcuse, die Ende der 60er Jahre zur Ausdifferenzierung eines neuen psychoanalytisch-gesellschaftstheoretischen Vermittlungsvorschlags führten, der „Kritischen Theorie des Subjekts“. Die unter dieser Überschrift versammelten Autoren (Dahmer, Horn, Lorenzer) verfochten mit neuem Elan ganz entschieden die Ansicht, Gesellschaftsdiagnose bedürfe eines eigenständigen subjekttheoretischen Blickwinkels und Pfeilers. Bei Horn führte das zu einer kritischen politischen Psychologie, bei Lorenzer zu einer interaktions-, sprach- und sozialisationstheoretischen, nicht zuletzt tiefen210
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hermeneutischen Neuformulierung der Psychoanalyse, welche die theoretischen Einflüsse der damaligen Zeit, durchaus in Korrespondenz zur im Entstehen begriffenen Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas, verarbeitete. Die Kritische Theorie des Subjekts war verbunden mit einer dezidierten Abkehr von bisherigen Gepflogenheiten der theoretischen Verwendung und zeitdiagnostischen Verwertung der Psychoanalyse in der Frankfurter Schule. In den Vordergrund trat nun die Konzentration auf die Ermittlung der konkreten Bildung des Subjekts und die Berücksichtigung der sprach- und interaktionstheoretischen Perspektive. Es wurde eine neue theoretische Grundlage entwickelt, auf der die Konstitution der Struktur des Subjekts aus den sozialisatorischen Interaktionen vom Mutterleib an entworfen werden konnte. Sozialisation war nach diesem neuen psychoanalytisch-materialistischen Verständnis Aneignung von innerer Natur, gebunden an einen Leib, der ihr immer auch äußerlich blieb. In sinnlichen Erinnerungsspuren von Interaktionserfahrungen wird ein körperliches Subjekt geformt, das nach und nach auch den symbolischen Umgang mit diesen unbewussten Niederschlägen im Austausch mit den Interaktionspartnern erlernt. Dieses Subjekt macht immer wieder die Erfahrung der Kollision zwischen gelungenen Kindheitsszenen und gesellschaftlichen Angeboten, es macht Bekanntschaft mit der Härte der Normen, mit denen seine Gesellschaft seine Artikulationen regulieren will. Es steht also immerfort unter Anpassungszwang – genauso wie umgekehrt die Gesellschaft, die gerade durch seine Widerständigkeit sich herausgefordert sieht, es sich gefügig zu halten. Indem mittels einer solchen Sozialisationstheorie die Herstellung von Subjektivität nachgezeichnet werden konnte, sollte auch dem Unwesen einer bloßen Übertragung psychoanalytischer Kategorien und Diagnosen auf soziale Sachverhalte ein Ende bereitet werden. Ein Kollektiv kann nicht wie ein Individuum betrachtet (und schon gar nicht behandelt) werden. Massen, Staaten sind, anders als Freud es sehen wollte, keine „Groß-Individuen“. Auch das von der älteren Generation der Kritischen Theorie entwickelte Konzept des Sozialcharakters litt noch zu sehr unter Anleihen aus dem klinischen, neurosentheoretischen Arbeitsfeld der therapeutischen Psychoanalyse. Das Unternehmen einer psychoanalytischen Sozialdiagnose wird dadurch nicht gerade leichter; im Gegenteil: Es wird komplizierter. Über den vorgestellten sozialisationstheoretischen Zugang kann der Zustand von Subjektivität nur rekonstruiert, nicht jedoch diagnostisch interpretiert werden. Es kann aber eine Abwägung bzw. Einschätzung gegebener gesellschaftlicher Bedingungen hinsichtlich ihrer entweder einschränkenden, unterdrückenden oder ermöglichenden, emanzipatorischen Elemente erfolgen. Sie kann vorgenommen werden hinsichtlich 211
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der Vielschichtigkeit der Artikulations- und Erlebnismöglichkeiten, die Subjektivität in einer gegebenen Gesellschaft bzw. in der gegenwärtigen Gesellschaft zur Verfügung stehen.
S o z i a l i s a t i o n u n d i n n e r e Na t u r : Di e T h e o r i e d e r I n t e r a k t i o n s f o r m e n Hierzu hat die (vielfach missverstandene) materialistische Sozialisationstheorie Alfred Lorenzers einen entscheidenden Beitrag geleistet. Dies ist ihr vor allem gelungen in der Überwindung des biologistischen Triebmodells Freuds durch die vermittelnde Konzeption von Sozialisation und innerer Natur. Bis dahin war die Crux sozialwissenschaftlicher Handlungstheorien, sich der Motivationsenergien der Akteure (der es ja logischerweise bedarf, damit das Karussell der Interaktionen, von dem der Einzelne keineswegs nur angetrieben wird, in Schwung gehalten wird) nur summarisch zu versichern. Von einer individuellen Antriebsbasis, die zu Recht als gegeben unterstellt wird, oder von Antriebsüberschuss (Gehlen) war pauschal die Rede; wie diese aber beschaffen seien, hergestellt würden, wie es also im inneren Kern von Subjektivität zugeht, diese Frage von eminenter sozialwissenschaftlicher Relevanz blieb außer Betracht. Was bislang fehlte, war ein Konzept, das sowohl die Frage der Einübung in gesellschaftliche Verhältnisse als auch die Frage der Entstehung und Aufrechterhaltung individueller Eigen- und Widerständigkeit, Unkontrollierbarkeit, des Neuen, im Zusammenhang zu beantworten erlaubte. Genau dies unternimmt nun Lorenzers Sozialisationstheorie. Sie verlegt den Beginn der individuellen Biographie an den äußersten, frühesten pränatalen Punkt vor bzw. zurück. Im Moment der Verschmelzung von Samen und Eizelle lässt sich ein leibliches Gebilde ausmachen, das als pure innere Natur bezeichnet werden kann. In den sogleich einsetzenden leiblichen pränatalen Interaktionen (wie der Austausch mit der Mutter genannt werden darf) wird Schritt um Schritt eine innere physiologische Struktur hergestellt, in der die leibliche Natur eine interaktive Formung erfährt und ihre Reinheit verliert. Diese Formung bestimmt aber nicht die Reaktionen des heranwachsenden Embryos, sondern trifft weiterhin auf unabhängige, unvorhersehbare Impulse, mit denen sich „das Kleine“ meldet, Bedarf und – zunehmend – Bedürfnisse anmeldet. Diese Grundstruktur von äußerer, interaktiver Formung und davon nicht zu kanalisierender, überschäumender innerer Natur bleibt fortan die entscheidende lebensgeschichtliche Differenz, durch die wir uns und unsere Interaktionspartner immer wieder interessant finden und immer wieder von uns und ihnen – anders als von vorhersehbar auf Rei212
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ze reagierenden Wesen – überrascht werden. Sie ermöglicht es uns, die ganze Palette von Gefühlen (Hass, Ärger, Trauer, Befriedigung, Freude usw.) als etwas Eigenes und zugleich immer in Zusammenhang mit den Interaktionspartnern und der sozialen Welt Stehendes zu erleben. Im Fortlauf der Lebensgeschichte, inzwischen zur Welt gekommen, wird unser pränataler Proto-Akteur nun wirklich zum Teilnehmer an Interaktionen, an der Welt der Symbole. Er entwickelt, vorsprachlich, ein sinnlich-symbolisches Verhältnis zur Welt, riechend, schmeckend, hörend, fühlend, spielend; es lagert sich eine Schicht des sinnlich-unmittelbaren Erlebens als Basis der Subjektstruktur ab. Es ist dann das Erlernen der Sprache, die neben sinnlich-präsentativen auch sehr diskursive Züge aufweist, wodurch das heranwachsende Individuum auch systematisch mit der Realität von Verbot, gesellschaftlichen Normen konfrontiert wird. Es sieht sich vor die Alternativen gestellt, sich ihnen zu beugen und seine auf vorherigem Erleben beruhenden Bedürfnisse zu opfern oder sich dagegen aufzulehnen und seinen Bedürfnissen zur Geltung zu verhelfen – oder einen irgendwo dazwischen liegenden Kompromiss zu finden. In dieser Spannung zwischen Artikulation und Verbot steht das Individuum von nun an, von ihr ist die Geschichte und Struktur seines Erlebens und Sprechens gezeichnet. Die Interaktionsformen, die es ausbildet, können dementsprechend verschiedene Qualitäten der Bedürfnisrealisierung, des Gelingens, der angemessenen symbolischen Artikulation aufweisen. Nach Lorenzer lassen sich folgende Varianten der Ausdrucksform individueller Lebensentwürfe unterscheiden: bestimmte unbewusste, sinnlich-symbolische, sprachsymbolische Interaktionsformen sowie desymbolisierte Interaktionsformen und Zeichen. Hiermit hat Lorenzer das theoretische Grundgerüst einer psychoanalytischen Sozialwissenschaft des Individuellen geschaffen, die handlungs- und interaktionstheoretisch anschlussfähig ist, ohne jedoch die Radikalität der psychoanalytischen Perspektive auf das Individuum preiszugeben. Dem Mangel an dieser letzteren Konsequenz hatte ja nicht zuletzt die Kritik an sozialwissenschaftlichen Integrationsversuchen der psychoanalytischen Perspektive wie bei Parsons gegolten (vgl. etwa Adorno 1955). Parsons hatte sich aber seinerseits an Weiterentwicklungen und Modifikationen des psychoanalytischen Denkens, die nur noch teilweise dem klassischen Freudianismus verpflichtet waren und theoretisch umstritten sind, orientiert. Deshalb ist hier die Frage angebracht, welche Auffassung von Psychoanalyse dem Unternehmen einer sozialpsychologischen Subjekttheorie überhaupt zugrunde gelegt werden soll. Seit den Zeiten Freuds hat sich die Psychoanalyse in eine Vielzahl von Strömungen und Schulen verzweigt, die jeweils eigene persönlichkeitstheoreti213
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sche, entwicklungspsychologische usw. Akzente setzen. So gibt es auch aktuelle Vertreter der Kritischen Theorie, die sich weniger auf Freuds Konzept als auf nachfreudianische Schulen stützen. Habermas hat sich nicht mehr an das Verdikt Adornos gehalten und ist den von Parsons eingeschlagenen Weg weitergegangen, indem er die psychoanalytische Ich-Psychologie und Identitätstheorie zu einem Baustein seiner Theorie der Sozialisation gemacht hat. Und sein Nachfolger Axel Honneth hat sich (wie Jessica Benjamin) vornehmlich auf die Theorie der Objektbeziehungen und neue entwicklungspsychologische Erkenntnisse bezogen, als er sich der Psychoanalyse im Rahmen seines Konzepts der Anerkennung bediente. Wenn ich hier, anders als diese Autoren, nicht die Perspektive dieser Schulen einnehme, so heißt das doch nicht, dass ich die Auffassung vertrete, es seien durch sie nicht wichtige, weiterführende Einsichten erarbeitet worden. Mit meiner Entscheidung für die Verwendung der Lorenzer’schen Konzeption verbindet sich vielmehr die Einschätzung, dass diese viele der von den genannten Richtungen aufgeworfenen Fragen berücksichtigt und dafür eigenständige Antworten bereithält. So werden die Probleme der kindlichen Entwicklung und des Aufbaus der Persönlichkeit von Lorenzer selbstverständlich in Zusammenhang mit der Sozialität, den Objektbeziehungen, Sozialisationsinstanzen, Normen und der Sprache erörtert. Das betrifft insbesondere die Entwicklung der Strukturen der Symbolbildung im Ich, aber auch die Annahme einer unabhängigen kindlichen Kernstruktur von Beginn der Interaktion in der Mutter-Kind-Dyade an, womit er, wie die neuere psychoanalytische Entwicklungspsychologie, mit gewissen Implikationen der Freud’schen Annahme eines primären Narzissmus aufräumt. Wichtig und ausschlaggebend für meine Wahl dieses Ansatzes ist, dass er diese Neuorientierung der Psychoanalyse vollzieht, ohne Verkürzungen der ursprünglichen theoretischen Positionen Freuds (z.B. die Triebtheorie betreffend) in Kauf zu nehmen. Denn diesen Preis zahlen etwa die an die ich- und objektbeziehungspsychologischen Richtungen der Psychoanalyse anknüpfenden Sozialisations- und Interaktionstheorien von Parsons und Habermas bis hin zu J. Benjamin und Honneth.1 Ich habe das in einer in der Zeitschrift Psyche geführten Debatte zu verdeutlichen versucht, in der die Vereinbarkeit des Konzepts der Intersubjektivität mit bestimmten psychoanalytischen Grundannahmen zur Diskussion stand (Honneth 2001; Whitebook 2001; Busch 2003a). Dort bin ich dem Vorwurf, der im auf die Psychoanalyse gerichteten Intersubjektivitätsdiskurs erhoben 1
Zur Auseinandersetzung mit den entsprechenden Arbeiten von Parsons und Habermas vgl. Busch (1985), mit J. Benjamins Ansatz vgl. Busch (1996, 2001a).
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wird, entgegengetreten, die Rede vom Subjekt sei unweigerlich in eine monologisch-cartesianische, bewusstseinsphilosophische Tradition eingezwängt und infolgedessen obsolet (Reiche 1995). Sosehr eine gesellschaftliche und interaktionale Grundlegung der Psychoanalyse auf heutigem Stand sicher unumgänglich ist, lässt sie sich doch im Rahmen einer Subjekttheorie, wie Lorenzers Ansatz zeigt, nicht nur ohne Einbußen vollziehen, sondern sehr gut mit der, für eine angemessene Berücksichtigung der Psychoanalyse ebenfalls unerlässlichen, naturhaft-leiblichen Dimension von Subjektivität vermitteln. Der intersubjektivistischen Denkrichtung hingegen ist ihrerseits entgegenzuhalten, dass ihr diese letztere Dimension abhanden kommt. Psychoanalyse lässt sich aber nicht zu einer bloßen Beziehungstheorie verkürzen, auch wenn es zugleich stets darauf ankommt, zu zeigen, dass dies ein für sie wesentliches Element oder Charakteristikum ist. Sie ist immer auch bzw. immer schon gegründet auf ein triebhaft-leibliches Verständnis des Menschen, das zwar stets auf Intersubjektivität verwiesen ist, jedoch immer über sie hinausragt bzw. ihr vorausgeht (vgl. Busch 2003a). Sofern dieser Aspekt überständiger, überschüssiger, leiblich-außersprachlich verwurzelter Subjektivität nicht mehr in sie eingeht, entfernen sich meines Erachtens die Vertreter einer solchen Psychoanalyse-Rezeption auch von den Auffassungen für die Objektbeziehungstheorie maßgeblicher Autoren wie Klein und Winnicott. So hat etwa der intersubjektivitätstheoretisch gern in Anspruch genommene Winnicott (1988, S. 170) immer an der Vorstellung eines schon vorgeburtlich existierenden unabhängigen Ich-Kerns festgehalten. Damit verbunden ist in seiner Theorie die Annahme der absoluten Isolation des heranreifenden Individuums2 im vorgeburtlichen und frühen postnatalen Stadium (S. 184). „Dieses fundamentale und angeborene Alleinsein, aus dem das Leben seinen Anfang nimmt“ (S. 189), ist eine dem Menschen zutiefst innewohnende Erfahrung „von ungeheurer Bedeutung“ (S. 191). Diese Bedeutung tritt, wie Winnicott weiter schließt, darin zutage, „dass im Tiefsten jedes Individuum für immer und ewig vollkommen isoliert bleibt“ (S. 218). Diese Überlegungen Winnicotts halten, so sehr sie auch bemüht sind, den Schwierigkeiten der Freud’schen Triebtheorie zu begegnen, immer noch das Wissen um frühe leiblich-präreflexive Schichten im Persönlichkeitsaufbau wach, die auch in den zunehmenden intersubjektiven Verwicklungen der Lebensgeschichte nicht aufgehen. Und das unterscheidet sie von den sich auf sie berufenden Ansätzen einer strikt intersubjektivistischen Lesart der Psychoanalyse.
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Auf diesen Aspekt bin ich durch eine Diskussionsbemerkung des Wiener Psychoanalytikers Felix de Mendelsohn aufmerksam geworden.
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Um meine Position noch einmal zu rekapitulieren: Ich sehe in der gegenwärtigen psychoanalytischen Debatte kein Konzept, das – bei aller Vorläufigkeit und Unvollständigkeit – die begriffliche Öffnung zu den Sozialwissenschaften so konsequent, breit und elaboriert vorangetrieben hat wie die auf dem Boden der Kritischen Theorie des Subjekts entstandene Theorie der Interaktionsformen.3 Dieser sozialisationstheoretische Ansatz vermittelt Psychoanalyse und Sozialwissenschaft erst wirklich und führt über äußere terminologische Verbindungen wie Sozialcharakter hinaus. Bisherige Verknüpfungen beider Disziplinen scheiterten regelmäßig an der Aufgabe, die sozial-naturale Bildungsgeschichte der Subjektstruktur wirklich nachzeichnen zu können und begreifbar zu machen. Wenn Freud bereits feststellte, das Ich sei Niederschlag seiner Objektbeziehungen, so macht die Theorie der Interaktionsformen damit programmatisch ernst. Gleichzeitig vermag sie den naturalen Anteil an sozialem Handeln im Spiel zu halten und verschafft damit dem Freudschen Triebpostulat weiterhin Geltung. Psychoanalytischer und sozialwissenschaftlicher Diskurs werden ineinander überführbar, ohne dass Ersterer damit seine Identität verliert. Aus dieser Fortführung der Sozialpsychologie zur Subjekttheorie ergeben sich aber auch Konsequenzen für gegenwartsdiagnostische Untersuchungen von Subjektivität. Es genügen nicht mehr pauschal-spekulative Zuschreibungen familial erzeugter Sozialcharaktere, so treffsicher bzw. griffig sich manche Befunde in der Vergangenheit auch ausnahmen. Es verbieten sich Anleihen bei klinisch-psychoanalytischer Terminologie („narzisstischer Sozialisationstyp“), um die inneren Zustände einer Gesellschaft sozialpsychologisch auf den Punkt zu bringen. Und sträflich ist es erst recht, zeitgeschichtliche Akteure, Bewegungen, Staaten an den Maßstäben der Individualpsychologie und Psychopathologie zu messen. Zwischen psychoanalytisch-sozialpsychologischer Subjekttheorie auf der einen und Neurosenlehre auf der anderen Seite muss, aus methodologischen Gründen, eine klare Trennlinie gezogen werden. Denn die subtilen Instrumente der psychoanalytischen Behandlung fehlen ja als exquisite Erkenntnisgrundlage gänzlich, wenn sich der psychoanalytische Blick auf die Gesellschaft richtet. Freud war sich dieses kleinen, aber feinen Unterschieds in seinen klarsten sozialpsychologischen Momenten bewusst. Sein wohl zentrales kulturkritisches Theorem des „Unbehagens“ hat sich aus dem engeren, klinischen, kategorialen Kontext gelöst und siedelt in den Weiten „gemeinen Unglücks“, nicht „hysterischen Elends“ (Freud 1895, S. 312). Es ist daher auch müßig zu versuchen, von in psychoanaly3
Ob das sicher auch für einen solchen Versuch sich anbietende Theoriemodell Lacans sich ebenso eignen würde, vermag ich nicht zu beurteilen; vgl. hierzu sehr instruktiv Heim (1993).
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tischen Behandlungen über Jahrzehnte hinweg festgestellten Änderungen der Krankheitsbilder auf gravierende Symptomwandlungen im gesellschaftlichen Maßstab seit den Zeiten Freuds zu schließen. Auch wenn dies immer wieder vernachlässigt worden ist: Der beschränkte empirische Rahmen der psychoanalytischen Praxis gibt nicht genügend her, um zuverlässige Indikatoren für den Zustand und die Veränderungen des herrschenden Bewusstseins zu liefern. Zu deren Erforschung bedürfte es vielmehr einer bereits sehr fortgeschrittenen, aber noch weiter zu entwickelnden psychoanalytisch-sozialpsychologischen Methodologie (vgl. etwa Lorenzer 1986; König 1996; Busch 2001b und c).
Das Unbehagen des Subjekts in der spätmodernen Gesellschaft Gleichwohl kann schon der Versuch einer provisorischen psychoanalytisch-sozialpsychologischen Diagnose des modernen und spätmodernen Bewusstseins erhellende Einsichten zutage fördern. Hierzu ist auf die von Freud gegründete eigene begriffliche Tradition, wie sie im Unbehagen in der Kultur und, teilweise, in seiner Massenpsychologie (1921) vorliegt, zurückzugreifen. In ihr werden plausibel Phänomene diskutiert, die allen Mitgliedern einer Gesellschaft gleichermaßen begegnen, ihnen zustoßen oder Eigen sind. Unbehagen in der Kultur ist eine den modernen Menschen kennzeichnende psychische Verfassung, die mit den Schwierigkeiten des Trieblebens unter den geltenden gesellschaftlichen Verhältnissen zusammenhängt. Das sind zum einen die Sexualtriebe, deren Befriedigung zu Freuds Zeiten noch auf vielfältige Hindernisse stieß, die heute ausgeräumt zu sein scheinen. Abgesehen davon, dass diese oberflächliche Einschätzung in mancher Hinsicht Fragen aufwirft, hat sie manche Autoren zu der vorschnellen Annahme veranlasst, der Befund des Unbehagens in der Kultur gehöre weitgehend der Vergangenheit an. Dabei haben sie, was häufig vorgekommen ist, übersehen, dass Freuds Befund sich vor allem auf das Wirken des zweiten, destruktiven Triebes im menschlichen Seelenhaushalt bezieht. Denn dieser, wie auch immer durch sexuelle Frustrationen angeregt oder nicht, verkörpert die zerstörerischen, todesbejahenden Kräfte in unserem Inneren, die sich gegen alle kulturellen Verbote, Eindämmungs- und Ablenkungsversuche mit voraussagbarer Sicherheit doch immer wieder regen. Unbehagen ist das Gefühl, das uns diese immerfort uns begleitende Gewissheit von den dunklen, kulturfeindlichen Teilen unserer Innenwelt bereitet. Dieses Unbehagen erstreckt sich aber auch – wie Freud uns in seiner Studie ebenso drastisch wie eindrucksvoll vor Augen führt – auf die sozialen 217
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und kulturellen Ergebnisse, die das Wirken destruktiver Motive hervorgebracht hat. Die Menschheit, so schließt Freud seinen Essay, hat es nicht nur fertiggebracht, einen Weltkrieg zu führen, sie sitzt mittlerweile auch auf einem Pulverfass riesiger Waffenarsenale, mit dem sie sich jederzeit bis zum letzten Mann auszulöschen in der Lage ist. Dieses Unbehagen ist uns bis heute nicht nur ein treuer Begleiter geblieben – es ist uns, so würde ich behaupten, leider immer vertrauter geworden. Ganz entgegen der Ansicht, es habe sich seit Freuds Zeiten gemildert, hat es sich ausgeweitet. Die Katastrophen des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Exzesse und die daran anschließende Kette kriegerischer und terroristischer Gewalt bis zu den Anschlägen des 11. September haben das Bewusstsein der Allgegenwart von Destruktivität in den menschlichen Beziehungen tief verankert und das Misstrauen in die menschliche Kultureignung geschürt. Die soziale Angst, die Freud als auslösenden Faktor innerer destruktiver Strebungen wirksam sah, ist nicht etwa in Folge einer Liberalisierung menschlicher Beziehungen weitgehend gewichen, sondern sie ist geblieben. Strukturelle Gewalten von Bürokratien und Technokratien haben sich ausgebreitet und üben zusammen mit Flexibilisierungs- und Mobilitätsanforderungen einen hohen Disziplinierungsdruck auf die Individuen aus. In dieser vaterlosen Gesellschaft ist die Individualisierung so weit vorangeschritten, weil die Strukturen der familialen Nahwelten brüchig geworden sind. An die Tradition elterlicher Bewältigungsstrategien anzuknüpfen, verbietet sich in der viel beschworenen, „ständig sich wandelnden Welt“. Orientierungsverlust breitet sich aus und verstärkt die Angst in einer anonymen (entfremdeten) sozialen Umgebung. Der Orientierungsbedarf wird allzu leicht durch Angebote der Erlebnisgesellschaft, durch politische Ideologien usw. geschlichtet, wodurch die Einzelnen zu Bewusstseinsverkürzungen und zur Ausbildung von Vorurteilsstrukturen verleitet werden. Der dumpfe Zwang undurchsichtiger Verhältnisse führt zu Abstumpfungen, die durch „das Pfeifen im Walde“ eines „glücklichen Bewusstseins“ (Marcuse) nur kaschiert werden. Das spätmoderne Bewusstsein muss schließlich auch verkraften, dass die geltende Form der Naturbeherrschung zu fatalen Folgen für Welt und Mensch führen kann. Hatte Freud in solcher Praxis noch ein geeignetes Aggressionsventil gesehen, so hat sich für uns Heutige hier eine weitere Quelle nagenden Schuldbewusstseins aufgetan. Welchen Stellenwert die fortdauernde Misere der Geschlechterbeziehungen für Unbehagen in der Kultur hat, mag strittig sein (Benjamin 1990; Busch 1996, 2001a). Unbestreitbar ist jedoch, dass sich psychoanalytische Sozialpsychologie aus einer bei Freud noch gegebenen Schieflage in der Behandlung der Geschlechterfrage befreien musste. 218
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Vom einseitig-realitätswidrigen, männlichkeitsorientierten Entwicklungsmodell der klassischen Psychoanalyse muss, das hat die Diskussion der letzten Jahrzehnte gezeigt, Abschied genommen werden. Erst dann kann das „Patriarchat ohne Väter“, wie Benjamin die vaterlose Gesellschaft einstuft, wirklich einer sozialpsychologischen Kritik unterzogen werden. Der Spielraum von Subjektivität, wie ihn die Theorie der Interaktionsformen bestimmt, ist in Folge all dieser Bedingungen eingeengt. Es dominiert eine hektische Betriebsamkeit im Sinne instrumenteller Vernunft und des Konsumismus. Schablonenhafte Angebote einer medienbeherrschten Erlebnisgesellschaft bevormunden und ersticken geradezu die Artikulationen authentischen Erlebens der Einzelnen. Die in der familialen Umwelt der frühen Jahre gebildeten Lebensentwürfe sind ihnen gegenüber, vor allem wenn sie selbst starken Verzerrungen unterliegen, zu schwach. Die Individuen in der individualisierten Massengesellschaft ordnen sich ein; nur schwer finden sie die wirklich für ihr Innenleben adäquaten symbolischen Ausdrucksformen. Individuelle Unverwechselbarkeit und selbstbewusste Ausdrucksstärke werden im Rahmen dafür bereitgestellter Inszenierungen (etwa in Talkshows) bloß ausgestellt; kaum einer tanzt ernsthaft aus der Reihe.
Zur psychischen Ausrüstung des Subjekts für eine reflexive Moderne Nun hat sich beim Leser längst der Einwand geregt, diese Lagebeschreibung gegenwärtiger Subjektivität sei unausgewogen, einseitig-verdüstert. Dem widerspreche ich nicht. Mir geht es darum, beherrschende Züge im spätmodernen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft herauszuarbeiten. Das Augenmerk galt bisher den nachteiligen Aspekten. Zum Bild der Gegenwartsgesellschaft gehören aber auch andere Tendenzen, durch die Spielraum für Subjektivität neu geschaffen wird oder werden könnte. Die späte Moderne, das gilt es festzuhalten, ist weniger eine reflexive als eine irritierte, erschütterte. Oder anders gesagt: Eine reflexive Moderne ist sie nur, sofern sie auch eine irritierte, erschütterte ist. In ihr ist Unbehagen nicht zurückgewichen, sondern gewachsen. Ein reflexives Bewusstsein der Moderne im positiven Sinn ist ein (vielleicht) erstrebenswertes, bislang aber unerreichtes Ziel. Die beste Formulierung dieses Ziels hat meines Erachtens Anthony Giddens (1990, 1991, 1993) gegeben. Er spürt in den Wandlungen spätmoderner Individualität auch einen markanten Zug der kritischen Thematisierung des Selbst, seines Körpers auf; dessen besondere Eigen219
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schaft besteht darin, die eigene Praxis immer zugleich in Rücksicht auf eine Verbesserung der Bedingungen von Demokratie, Frieden, Schutz der Umwelt und sorgsamem humanen Wirtschaften anzulegen. Diese Haltung eines kritischen spätmodernen Selbst nennt er „Lebenspolitik“ („life politics“). Sie ist umfassend, verbindet das Persönliche mit dem Politischen und umgekehrt. Heute kann man sie, zumindest in Ansätzen, etwa bei manchen Vertretern einer engagierten Globalisierungskritik finden.4 Zur Ausbildung einer solchen Haltung bedarf es aber einer psychischen Grundlage. Es muss genau jener Kern widerständiger Subjektivität sich durch die Sozialisationsformen der modernen Gesellschaft erhalten haben, den die psychoanalytische Sozialpsychologie in der Tradition von Adorno und Marcuse bis hin zu Lorenzer und Horn zugrunde legt. Aus meiner Sicht lassen sich bestimmte psychische Bedingungen eines solchen lebenspolitisch motivierten Subjekts angeben, für die es gegenwärtig auch Anzeichen gibt. Bei allem Fortwähren, gar Anwachsen innergesellschaftlicher Destruktivität hat sich in Teilen des derzeitigen Bewusstseins zugleich doch auch ein (offenes) Unbehagen diesem Zustand gegenüber bewahrt, ja stärker und dauerhafter manifestiert. Davon zeugt die zunehmende Verbreitung des Pazifismus (vgl. Habermas 1998, S. 88f.), das Nachlassen der Bereitschaft, gehorsam und patriotisch für das eigene Land in den Krieg zu ziehen, die Kritik an den weltweit verbreiteten Vernichtungswaffen sowie die Kritik an den Ungerechtigkeiten des Globalisierungsprozesses. Hier ist eine zuvor nicht vorhandene Empfindsamkeit zu verzeichnen. Gleiches gilt auf dem Gebiet der Umweltschädigung (Anti-AKW-Bewegung etc.). Mit Freud (1933) kann diese Tendenz auf eine „konstitutionelle Intoleranz“ zurückgeführt werden. Die Anti-Kriegshaltung ist bei einer wachsenden Zahl von Menschen inzwischen geradezu körperlich, „in Fleisch und Blut“ übergegangen, Musterbeispiel einer politischen sinnlichen Symbolik. Um eine Waffe zu ergreifen und auf einen anderen Menschen im Rahmen einer militärischen Handlung zu richten, bedürfte es für diese Menschen einer Überwindung, zu der sie nicht mehr in der Lage sind, weil es ihnen ihr Innerstes (somatopsychisch) verbietet. Die fortgeschrittene Kultur ist in ihnen so tief verwurzelt, dass ihr Widerwille gegen Krieg übergroß geworden ist. Das Ich dieser Menschen ist gleichzeitig empfänglich für die vielfältigen Ängste (Richter 1992), die durch die Risiken der späten Moderne hervorgerufen werden. Damit sind sie in der 4
Sie ist aber nicht als bloßes gesellschaftliches Randphänomen einzustufen, sondern stößt vielmehr verbreitet auf Sympathie, Anerkennung und Zustimmung. So wurde der Attac-Aktivist Sven Giegold von einem Jugendmagazin vor u.a. Franka Potente, Florian Illies und Ralph Schuhmacher zum „wichtigsten jungen Deutschen“ gekürt (vgl. Wille 2003).
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Lage, adäquat auf die Gefahren von Kriegen und die Bedrohung der Umwelt zu reagieren. Indem sie sich zu Recht um die soziale und natürliche Welt ängstigen, vermögen sie, wie der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Robert J. Lifton (1990) aufzeigt, ein umfassendes Gattungsbewusstsein auszubilden, auf dessen Grundlage sie etwas gegen Bedrohungen und gesellschaftliche Fehlentwicklungen unternehmen. Gefühl und Ratio stehen bei diesen Personen in Korrespondenz, Sprache und Bewusstsein sind bei ihnen in der Lage, die sinnlichen Interaktionsformen zu artikulieren oder doch wenigstens im Konflikt mit bestehenden Normen angemessen zu benennen. In einem ganz anderen als dem mit diesem Terminus ursprünglich gemeinten Sinn kommt hier eine „symbolische Politik“ zum Tragen. Lebenspolitik wäre also nach ihrer psychischen Seite hin eine symbolisch gesättigte Politik, eine politische Aktivität, in Einklang stehend und angetrieben von Bedürfnisstrukturen, mit denen die Akteure (bei allen unvermeidlichen Einschränkungen, Verdrängungen) jedenfalls in Kontakt zu bleiben vermögen. Die von den Verhältnissen ausgehenden Irritationen werden von diesen vorwiegend auf dem Niveau symbolischer Interaktionsformen handelnden Individuen registriert; und das davon hervorgerufene Unbehagen kann sich „eventuell“, etwa in politischen Gruppierungen, „zum Problembewusstsein verdichten“ (Lorenzer 1981, S. 116). Das moralische Bewusstsein der betreffenden Personen ist, so lässt sich mit Marcuse sagen, zugleich auch immer libidinös. Dieser Gedanke ergänzt die wichtigen sozialisationstheoretischen Erkenntnisse zur moralischen Entwicklung (Habermas 1973; Döbert und Nunner-Winkler 1975). Die Stufe der postkonventionellen Moral, die in dieser Theorie das reflexive, universalistische Bewusstsein markiert, blieb nämlich in der motivationalen Hinsicht noch zu unbestimmt. Um die für sie nötige Ich-Stärke aufzubringen, bedarf es der Erfahrung eines Sozialisationsklimas, das die libidinösen Voraussetzungen schafft. Dazu reicht nicht allein intellektuelles Niveau. Anerkennung, Geduld und Verständigungsbereitschaft schaffen aufseiten der Eltern ebenso eine solche Atmosphäre wie vorgelebte Leidenschaften und Interessen, Authentizität. Im Hinblick auf die sozialisatorischen Voraussetzungen eines solchen lebenspolitischen bzw. lebenspolitikfähigen Selbst möchte ich hier den geglückten Verlauf der Mutter-Kind-Dyade, auf den ja auch die moderne psychoanalytische Bindungsforschung großes Gewicht legt (vgl. Dornes 2002), hervorheben. Im Zusammenspiel mit der Mutter werden in diesem Fall schon früh körperliche Bedürfnisartikulationen gefunden, die eine stabile Grundlage der sich bildenden Subjektstruktur darstellen. Sie bestimmt das Maß und die Art der Erlebnisfähigkeit des 221
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Einzelnen in seinen sozialen und Umwelt-Beziehungen späterhin entscheidend mit. Die frühe Erfahrung von Zuwendung durch die Eltern, auch verbunden mit dem Erwerb des Vermögens, Ambivalenzen auszuhalten, sorgt für eine reiche innere Welt, aus deren Sicherheit und Halt angstfrei Lebensentwürfe in der äußeren Welt formuliert werden können. Wenn zugleich ein geschlechterreziproker Sozialisationsstil (Benjamin) gepflegt wird, verstärkt sich die Ausprägung eines lebenspolitischen Selbst. Das Kind lernt dann von Vater und Mutter gleichermaßen und verfügt über die Möglichkeit, seine geschlechtliche Identität vielgestaltig und spielerisch zu gestalten. Ich möchte noch einen aktuell diskutierten Gefahrenpunkt solcher parental-intersubjektiv konstituierter Subjektivität ansprechen. Das für die Entwicklung eines selbstständigen, verantwortungsvollen, beziehungs- und liebesfähigen Individuums so wichtige Umfeld einer stabilen primären Interaktionsstruktur wie der Familie würde in seinem Zusammenhalt sowie in seiner Fortexistenz infrage gestellt, sollten bestimmte medizinisch-naturwissenschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten in den nächsten Jahrzehnten zunehmend Realität werden. Das betrifft vor allem die leibliche Elternschaft. Bereits heute lässt sich der Vater durch einen anonymen Samenspender und die Mutter durch eine „Leih-Mutter“ ersetzen. Die sprunghafte Entwicklung genetischer Eingriffsmöglichkeiten auch beim Menschen lässt uns darüber hinaus dem Zeitalter einer geplanten Menschenproduktion entgegensehen, die wenig mit der Familienplanung herkömmlichen Stils gemein hätte, ja einer Menschenzüchtung per Reagenzglas Huxley’schen Zuschnitts, welche den Zusammenbruch eines subjektgestützten Modells menschlicher Gesellschaft bedeuten würde. Das ist natürlich auch ganz stark eine Frage unseres moralisch-politischen Willens, und die Diskussion müsste sofort und intensiv beginnen – auch jenseits damit professionell befasster parlamentarischer Kommissionen und Expertengruppen. Mit einer Abkehr gar von intrauterinen Schwangerschaften – wie sie glücklicherweise derzeit nicht akut ist – wäre unweigerlich die vorgeburtliche Entwicklungsphase des menschlichen Individuums im Körper der Mutter als ein erstes wichtiges leiblich-intimes Beziehungserleben aus der kindlichen Biographie ersatzlos gestrichen. Dies hätte für sich genommen – nach meiner Auffassung – unabsehbare verarmende Folgen für die seelische Entwicklung künftiger Generationen. Nun sieht sich eine solche Auffassung heute folgender Kritik (Jongen 2001) ausgesetzt: Der in ihr zum Ausdruck kommende humanistisch-alteuropäische Subjektbegriff sei nicht mehr zeitgemäß. Wir befänden uns auf dem Wege (auf der Schwelle) zu einem posthumanen, postbiologischen Zeitalter, und hiergegen helfe das Sträuben von Be222
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denkenträgern wenig. Deren Einspruch wird als Stimme „seelisch ausgebrannter Bedenkenträger“ (Günter, zit. nach Jongen 2001), die in unterwürfiger Demut gegenüber Gott oder dem Vorgefundenen, Kreatürlichen verharren, disqualifiziert. Der Mensch müsse die neuen Technologien der eigenen Selbst-Erfindung als epochalen Fortschritt bejahen und bereit sein, sich selbst zu übernehmen. Einem Wort Flussers zufolge würde damit der Übergang „vom Subjekt zum Projekt“ (1998) vollzogen. Das ist gewiss ein großes Wort und klingt auch sehr zwingend. Ich glaube, wir betreten nicht das Zeitalter einer Selbstfindung „in der autopoietischen Natur-Kultur-Maschine“ (Jongen 2001), sondern wir erleben die Ära einer Wiederauflage neuzeitlicher Technikreligion. Das Sub-jekt macht sich nicht zum Pro-jekt, sondern unterwirft sich in der Tat – instrumentell vernünftig durch und durch – der Technik ganz und gar. Der menschliche „Prothesengott“, von Freud bereits entzaubert, gibt die Aufklärung (über sich selbst) vollends der Mythologie preis. Dies zu verhindern ist die zentrale Aufgabe des Subjekts, dessen dafür taugliche Ausstattung ich zuvor skizziert habe. Dieses trachtet, folgt man dem Hinweis von Schmid Noerr (1988), vor allem danach, dass Natur nicht er-funden, vielmehr er-innert wird.
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PSYCHOANALYTISCHE SOZIALPSYCHOLOGIE
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HANS-J OACHIM BUSCH
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Autorinnen und Autoren PD DR. PHIL. HANS-JOACHIM BUSCH Sigmund-Freud-Institut Myliusstraße 20 D-60323 Frankfurt am Main [email protected] DR. PHIL. JOACHIM HOHL Ludwig-Maximilians-Universität München Department Psychologie Lehrstuhl für Reflexive Sozialpsychologie Leopoldstraße 13 D-80802 München [email protected] PROF. DR. PHIL. HEINER KEUPP Ludwig-Maximilians-Universität München Department Psychologie Lehrstuhl für Reflexive Sozialpsychologie Leopoldstraße 13 D-80802 München [email protected] PROF. DR. GABRIELE KLEIN Universität Hamburg Fachbereich Bewegungswissenschaft Arbeitsbereich Soziologie und Psychologie von Bewegung, Sport und Tanz Mollerstraße 10 D-20148 Hamburg [email protected] APL.
PROF. DR. CORNELIA KLINGER Institut für die Wissenschaften vom Menschen Spittelauer Lände 3 A-1090 Wien [email protected]
DR. PHIL. WOLFGANG KRAUS Institut für Praxisforschung und Projektberatung Ringseisstraße 8 D-80337 München [email protected] 227
VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN
HD DR. PHIL. PAUL MECHERIL Universität Bielefeld Fakultät für Pädagogik Universitätsstraße 25 D-33615 Bielefeld [email protected] PROF. DR. PHIL. DR. RER. POL. HABIL. MICHAEL SCHMID Universität der Bundeswehr München Fakultät für Pädagogik Institut für Soziologie und Gesellschaftspolitik Werner-Heisenberg-Weg 39 D-85577 Neubiberg [email protected] PROF. DR. PHIL. JÜRGEN STRAUB Technische Universität Chemnitz Philosophische Fakultät Interkulturelle Kommunikation Thüringer Weg 11 D-09107 Chemnitz [email protected] PROF. DR. PETER WAGNER Europäische Universität Florenz Department of Political and Social Sciences Badia Fiesolana Via dei Roccettini, 9 I-50016 San Domenico di Fiesole (Firenze) [email protected] PROF. DR. PHIL. MONIKA WOHLRAB-SAHR Universität Leipzig Theologische Fakultät Abteilung Religionssoziologie Otto-Schill-Straße 2 D-04109 Leipzig [email protected]
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Sozialtheorie Susanne Krasmann, Michael Volkmer (Hg.) Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften Internationale Beiträge
Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen
Dezember 2006, ca. 260 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-488-3
Oktober 2006, ca. 260 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-477-8
Tatjana Zimenkova Die Praxis der Soziologie: Ausbildung, Wissenschaft, Beratung Eine professionstheoretische Untersuchung
Ulrike Gerhard Global City Washington, D.C. Eine politische Stadtgeographie
Dezember 2006, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-519-7
Oktober 2006, 280 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-497-2
Benjamin Jörissen Beobachtungen der Realität Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien
Heiner Depner Transnationale Direktinvestitionen und kulturelle Unterschiede Lieferanten und Joint Ventures deutscher Automobilzulieferer in China
November 2006, 230 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-586-3
Oktober 2006, ca. 210 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-567-7
Sebastian Linke Darwins Erben in den Medien Eine wissenschafts- und mediensoziologische Fallstudie zur Renaissance der Soziobiologie
Max Miller Dissens Zur Theorie diskursiven und systemischen Lernens
Oktober 2006, ca. 240 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-542-1
Florian Feuser Der hybride Raum Chinesisch-deutsche Zusammenarbeit in der VR China Oktober 2006, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-581-2
Oktober 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-484-0
Sacha-Roger Szabo Rausch und Rummel Attraktionen auf Jahrmärkten und in Vergnügungsparks. Eine soziologische Kulturgeschichte Oktober 2006, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-566-9
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Sozialtheorie Lutz Hieber, Paula-Irene Villa Images von Gewicht Soziale Bewegungen, Queer Theory und Kunst in den USA September 2006, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN: 3-89942-504-9
Christoph Wulf Anthropologie kultureller Vielfalt Interkulturelle Bildung in Zeiten der Globalisierung September 2006, ca. 145 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN: 3-89942-574-X
Heiner Keupp, Joachim Hohl (Hg.) Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel Zur Theorie des Subjekts in der Spätmoderne September 2006, 230 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-562-6
Ingrid Jungwirth Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman September 2006, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-571-5
Martin Voss Symbolische Formen Grundlagen und Elemente einer Soziologie der Katastrophe
Andrej Holm Die Restrukturierung des Raumes Stadterneuerung der 90er Jahre in Ostberlin: Interessen und Machtverhältnisse September 2006, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-521-9
Martin Voss, Birgit Peuker (Hg.) Verschwindet die Natur? Die Akteur-Netzwerk-Theorie in der umweltsoziologischen Diskussion September 2006, ca. 180 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN: 3-89942-528-6
Helen Schwenken Rechtlos, aber nicht ohne Stimme Politische Mobilisierungen um irreguläre Migration in die Europäische Union September 2006, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-516-2
Amalia Barboza, Christoph Henning (Hg.) Deutsch-jüdische Wissenschaftsschicksale Studien über Identitätskonstruktionen in der Sozialwissenschaft September 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 3-89942-502-2
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Sozialtheorie Lutz Leisering, Petra Buhr, Ute Traiser-Diop Soziale Grundsicherung in der Weltgesellschaft Monetäre Mindestsicherungssysteme in den Ländern des Südens und des Nordens. Weltweiter Survey und theoretische Verortung September 2006, ca. 200 Seiten, kart., ca. 18,80 €, ISBN: 3-89942-460-3
Ivo Mossig Netzwerke der Kulturökonomie Lokale Knoten und globale Verflechtungen der Film- und Fernsehindustrie in Deutschland und den USA Juli 2006, 228 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-523-5
Christian Kellermann Die Organisation des Mark Hillebrand, Paula Krüger, Washington Consensus Andrea Lilge, Karen Struve (Hg.) Der Internationale Währungsfonds und seine Rolle Willkürliche Grenzen in der internationalen Das Werk Pierre Bourdieus in interdisziplinärer Anwendung Finanzarchitektur August 2006, 256 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-540-5
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Christian Berndt, Johannes Glückler (Hg.) Denkanstöße zu einer anderen Geographie der Ökonomie
Wolf-Andreas Liebert, Marc-Denis Weitze (Hg.) Kontroversen als Schlüssel zur Wissenschaft? Wissenskulturen in sprachlicher Interaktion
August 2006, 170 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN: 3-89942-454-9
Ulrich Heinze Hautkontakt der Schriftsysteme Japan im Zeichen der Globalisierung: Geldflüsse und Werbetexte Juli 2006, 208 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-513-8
Juli 2006, 214 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-448-4
Renate Grau Ästhetisches Engineering Zur Verbreitung von Belletristik im Literaturbetrieb Juli 2006, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-529-4
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