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German Pages 346 Year 2018
Jonas Wollenhaupt Die Entfremdung des Subjekts
Sozialtheorie
Dr. Jonas Wollenhaupt, geb. 1982, ist Journalist, Politologe und Soziologe. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich der Kritischen Theorie, der Sozialisation und Sozialpsychologie sowie der Kritischen Theorie des Subjekts.
Jonas Wollenhaupt
Die Entfremdung des Subjekts Zur kritischen Theorie des Subjekts nach Pierre Bourdieu und Alfred Lorenzer
Die vorliegende Arbeit wurde am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main unter dem Titel »Das entfremdete Subjekt. Ein Beitrag zur Kritischen Theorie des Subjekts« als Dissertation angenommen. Gutachter: Prof. Dr. Hans-Joachim Busch, Prof. Dr. Robert Heim, Prof. Dr. Vera King Tag der Disputation: 11.06.2018 Siegelziffer D.30
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Inhalt
Vorbemerkung | 7 Einleitung | 9
1 IDEENGESCHICHTE DER ENTFREMDUNG | 13 1.1
Von der Antike bis zur Renaissance | 13
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4
Die Muße als Gegenbegriff zur Entfremdung in der Antike | 13 Positive und negative Entfremdung bei den Denkern der Gnosis | 19 Der Entfremdungsbegriff im Mittelalter | 22 Selbstentfremdung in der Renaissance | 26
1.2
Die Begriffsgeschichte der Entfremdung von der Moderne bis in die Spätmoderne | 30
1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.2.7 1.2.8 1.2.9
Jean-Jacques Rousseau: Entfremdung von der guten Natur | 30 Entfremdung in der Philosophie Hegels | 35 Entfremdung im Werk von Karl Marx | 43 Entfremdung als Unbehagen in der Theorie Sigmund Freuds | 64 Verdinglichung bei Georg Lukács | 69 Entfremdungstheorie im französischen (Post-)Strukturalismus | 74 Entfremdung in der positivistischen Theorie | 80 Entfremdung innerhalb der Kritischen Theorie | 80 Neuere Ansätze zu Entfremdung | 94
1.3
Resümee: Subjekt und Entfremdung | 98
2 BOURDIEU UND LORENZER | 10 7 2.1
Bourdieu | 108
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7
Philosophische Antiphilosophie bei Bourdieu | 108 Bourdieus Theorie der Praxis | 109 Die Welt in Relationen | 114 Kapital als akkumulierte soziale Energie | 117 Das Habituskonzept | 120 Das soziale Feld | 130 Herrschaft im Schleier der symbolischen Verhältnisse | 132
2.1.8 Zusammenfassung und Kritik | 139 2.1.9 Habitus ohne Eigensinn? | 146 2.2
Lorenzer | 148
Kritische Theorie des Subjekts | 148 Hermeneutik des Leibes | 150 Materialistische Sozialisationstheorie | 152 Entfremdung als heteronome Praxis durch verzerrte Narration | 169 Entfremdung in der Kritischen Theorie des Subjekts und der Kritischen Theorie der Gesellschaft | 174 2.2.6 Resümee | 211 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5
3 DAS ENTFREMDETE SUBJEKT IM FELD | 215 3.1
Metatheorie der menschlichen Praxis | 215
3.1.1 Subjektive und objektive Strukturanalyse, blinde Flecken und Kohärenz | 219 3.2
Die innere Natur im Habitus | 223
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5
Soziale Libido | 225 Relation, Szene und Erinnerungsspur | 229 Interaktionsformen und (un-)praktischer Sinn im Feld | 233 Das Unbewusste im Feld | 235 Eigensinn und Reproduktion des Leibes | 243
3.3
Aneignung und Entfremdung im Feld | 250
3.3.1 Sozialisierte Subjektivität, Habitus und Identität | 250 3.3.2 Das Subjekt zwischen Zeichen und Symbol | 259 3.3.3 Das Subjekt im Feld – Vergegenständlichung, Erfahrung, Reflexion und Entfremdung | 264 3.3.4 Das Unbehagen der Felder | 269 3.3.5 Im Bann der Doxa | 271 3.3.6 Von der Irritation zur Transformation | 276 3.4
Das entfremdete Subjekt | 293
3.4.1 Fünf Beispiele des entfremdeten Subjekts | 298
4 RESÜMEE – DAS ENTFREMDETE SUBJEKT | 3 2 3 LITERATUR | 3 29
Vorbemerkung
Das Besondere an dieser Dissertation war, dass sich der Forschungsgegenstand der Arbeit im Schreibprozess gespiegelt hat. Denn Schreibprozesse sind stets Entfremdungs- und Wiederaneignungsprozesse. Schreiben verlangt grundsätzlich die Veräußerung des eigenen Geistes, diese Veräußerungen werden im Text vergegenständlicht und können dann neu angeeignet werden. Nun bleibt der Text aber nicht bei einem selbst, ja er kann geradezu widerspenstig werden, gar einen Eigensinn entwickeln und sich der Wiederaneignung durch den Autor versperren: Er kann sich dem Autor entfremden. Dementsprechend war meine Wiederaneignung gelegentlich herausfordernd, aber nur so konnten die Gedanken schlussendlich die Substanz gewinnen, die dem Thema gebührt. Entfremdung und Aneignung sind denn auch die zentralen Kategorien dieser Dissertation. Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, war nicht weniger, als einen neuen Zugang zum Phänomen der Entfremdung zu finden, mit der Verbindung der Theorien von Pierre Bourdieu und Alfred Lorenzer. Dieses Vorhaben wurde von meinem Doktorvater Prof. Hans-Joachim Busch gefördert und begleitet. Ihm gebührt ebenso Dank wie meinem Zweitgutacher Prof. Robert Heim und der Drittgutachterin Prof. Vera King. Ein weiterer Dank gilt der Doktorandengruppe „Sozialphilosophie“, namentlich Benjamin Schiffl und Julian Möhring. Mein Dank gilt ebenso den besonderen Menschen, die mir immer wieder geholfen haben, die Entfremdung vom Text, den Selbst- und Weltverhältnissen zu überwinden.
Frankfurt im Sommer 2018 Jonas Wollenhaupt
Einleitung
Spätestens seit den 1980er Jahren war Entfremdung ein Begriff, dem man „nicht trauen sollte“ (Labica 1984: S. 300), wie es im historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus steht. Die inflationäre Verwendung im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs hatte ihm endgültig die analytische Schärfe genommen. Die aufgekommenen postmodernen und poststrukturalistischen Theorien haben ihn dann, zusammen mit dem Begriff des Subjekts, beerdigt. Das Phänomen der Entfremdung ist hingegen nicht verschwunden. Es bleibt hartnäckig Teil der gesellschaftlichen Gefühlswelt. Gerade in den prekären Arbeitsverhältnissen sind Entfremdungserscheinungen häufig die Regel. Entfremdung als Gefühl der mangelnden Selbstverfügung, der Indifferenz und Sinnlosigkeit scheint sich aber nicht nur in den neuen Arbeitsverhältnissen, sondern darüber hinaus in unterschiedlichen sozialen Feldern einzustellen. Die Frage nach dem guten Leben wird in Feuilletons und im sozialwissenschaftlichen Diskurs gestellt. Auch die Ratgeberdichte scheint den Befund zu stützen, dass es eine Sehnsucht nach einem nichtentfremdeten Leben gibt. Die gesellschaftliche Diskussion zur Entfremdungsdiagnose ließe sich zusammenfassen in der Frage: Es gibt ein gutes Leben, aber wo ist es? Die Entfremdungstheorie ist daher nicht veraltet. In den letzten Jahren gab es immer wieder Reformulierungsversuche des einst so mächtigen Begriffs, zum Beispiel von Rahel Jaeggi (Jaeggi 2005), Hartmut Rosa (Rosa 2010) oder Christoph Henning (Henning 2015). Eine kritische Theorie der Gesellschaft geht vom ethischen Bezugspunkt des Leids aus. So lässt sich das Leiden an der Entfremdung in der Spätmoderne als Ausgangspunkt für eine Retheoretisierung des Begriffs nehmen. Entfremdung ist zwar die unschärfste Kategorie von Leid, aber dennoch eine unabdingbare. Gerade in industriellen Gesellschaften, in denen körperliche Faktoren als Gradmesser für Leid verwendet werden (Hunger, Sterblichkeit etc.) und das Wirtschaftswachstum als Wohlstandsindikator dient, fehlt die Kategorie der Entfremdung als Indikator für soziales Leid und für inneren Wohlstand. Entfremdung ist somit eine Kategorie von Leid, auf die nicht verzichtet werden kann. Auf ein Subjekt und eine Theorie von
10 | Die Entfremdung des Subjekts
Entfremdung zu verzichten würde auch die Kategorie des sozialen Leides unplausibel machen. Entfremdung ist seit der Antike ein Kernthema philosophischer und sozialwissenschaftlicher Analysen und Diagnosen. Eine Theorie von Entfremdung wurde dabei implizit oder explizit stets mit einem Gegenmodell konzipiert. Selbst kulturpessimistische Entfremdungstheorien lassen noch ihr Gegenmodell ex negativo durchscheinen. Dieses Gegenbild lässt sich in der Regel als Selbstverwirklichung des Subjekts verstehen. Die Selbstverwirklichung des Subjekts kann dabei nichts anderes sein als ein Zustand der Nähe oder gar des Zusammenfallens von ursprünglich Zusammengehörigem. Was im Menschen zusammengehört ist jedoch umstritten. Wer aber eine Konzeption von Entfremdung formuliert, der kommt nicht ohne die Annahme einer eigentlichen Nähe zweier Pole aus, die sich entfernen können. Um zu verstehen, was eigentlich zusammengehört, ist es daher notwendig, auf eine Subjekttheorie zurückzugreifen. Subjektivität ist in den meisten Entfremdungstheorien eng an eine Vorstellung von Authentizität gekoppelt (Ausnahme: Jaeggi 2005). So macht erst die authentische Praxis ein glückliches, ein gelungenes und damit ein gutes Leben aus. Authentizität ist dabei eng verknüpft mit einem Wesen oder einer Essenz des Menschen. Dieser Essentialismus ist jedoch nicht mehr zu halten, darauf haben poststrukturalistische Theorien zu Recht insistiert. Sie haben das Subjekt allerdings vorschnell mit dem Essentialismus begraben. In der vorliegenden Arbeit gilt es daher zu zeigen, dass es eine Theorie des Subjekts geben kann, in der Entfremdung ohne Essentialismus gedacht wird. Entfremdung lässt sich grundsätzlich aus zwei Perspektiven betrachten: zum einen als conditio humana, als anthropologische Konstante, und zum anderen als zeitgenössisches Phänomen. Beide Perspektiven sind verschränkt, denn Entfremdung wird in Gesellschaften immer dann zum Problem, wenn der anthropologische Kreislauf von Entfremdung und Aneignung scheitert. (Vgl. Henning 2015: S. 13– 18) Dieser Kreislauf ist elementar für den Prozess der Sozialisation des Individuums. Es veräußert einen Eigenanteil und dieser wird in gesellschaftlicher Form wieder angeeignet. Gelingt dieser Prozess, dann vermitteln sich subjektive Eigenschaften mit objektiven, d.h. gesellschaftlichen, Eigenschaften. Misslingt die Veräußerung oder die Aneignung, dann entsteht Entfremdung. Eine Metapher dafür ist der Spiegel. Im Spiegel sehe ich mein veräußertes Bild, das mir meine Lebensgeschichte vorhält. Das Subjekt bildet so seine Identität nach der Aneignung des Spiegelbildes: Ich bin der, den ich sehe. Jedoch kann der Spiegel ein Zerrbild abbilden (defizitäre Veräußerung) oder die Selbstwahrnehmung kann falsch sein (defizi-
Einleitung | 11
täre Aneignung).1 Im Spiegel wird immer nur der gegenwärtige Zustand abgebildet. Nehme ich diesen für mich an, so werde ich aufgrund der Selbstobjektivierung im Spiegel zum Ding (Selbstverdinglichung). Kann ich aber eine stimmige Narration entwickeln, dann kann ich eine Identität annehmen, die meine Lebensgeschichte richtig ausdrückt. Das im Objekt Vergegenständlichte ist daher das Reflexionsmedium, durch das sich Identität ausbildet. In einem perfekt-utopischen Kreislauf von Entfremdung und Aneignung gäbe es keine Differenz von Subjektivität und Identität. Subjektivität stellt die Binnenstruktur des Subjekts dar, alles, was sein Sein ausmacht (Wünsche, Bedürfnisse, Fähigkeiten etc.). Die Identität ist das gesellschaftliche Sein, die aus der Anerkennung von Fremd- und Selbstzuschreibung entstandene gesellschaftliche Figur.2 Die Differenz von Subjektivität und Identität kennzeichnet die Entfremdung. Damit drängt sich die Fragestellung der vorliegenden Arbeit auf. Wie kann ein so verstandener Entfremdungsbegriff aus der Perspektive einer Kritischen Theorie des Subjekts theoretisiert werden? Um sich einer Antwort anzunähern, wird zunächst, als erster Schritt, eine kohärente sozialphilosophische Konzeption von Entfremdung erarbeitet. Die Komplexität, mit der sich der Entfremdungsbegriff im Laufe seiner Geschichte angereichert hat, zieht sich durch philosophische, sozialwissenschaftliche und psychologische/psychoanalytische Theorien. Eine Schärfung des Entfremdungsbegriffs, wie sie hier angestrebt wird, bedarf daher einer behutsamen Komplexitätsreduktion, die aber die interdisziplinäre Anknüpfungsfähigkeit bewahrt. Die Analyse der Ideengeschichte von Entfremdung im ersten Kapitel soll dafür die Schwachstellen und die Kontinuitäten der Theorien deutlich machen. Es sollte dabei klar werden, was unter Entfremdung zu verstehen ist und welche Aspekte davon heute noch anschlussfähig sind. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den kritischen Theorien von Marx bis zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Mit dem eindeutig herausgearbeiteten Entfremdungsbegriff werden dann die Feld-Habitus-Theorie von Pierre Bourdieu und die Theorie der Interaktionsformen von Alfred Lorenzer verknüpft. Beide Autoren versuchten, unabhängig voneinander, Subjektivismus und Objektivismus in einer Theorie der Praxis zu überwinden. Dennoch sind blinde Flecke geblieben, die durch eine Verbindung beider erhellt werden können. Im Licht dieser Verbindung wird Entfremdung dann theoretisierbar als das nicht-essentialistische Gegenüber von Subjektivität. Bei den tiefgehenden 1
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Hier ist eine Ähnlichkeit zur Theorie von Lacan offensichtlich, die aber nicht im Zentrum der Arbeit steht. Zur Entfremdung von Lacan (und Derrida): Christoph Bialluch (vgl. Bialluch 2011). An dieser Stelle lässt sich zudem zwischen personeller und sozialer Identität unterscheiden. (Vgl. Krappmann 2016)
12 | Die Entfremdung des Subjekts
Analysen von Bourdieu und Lorenzer werden die wichtigsten Aspekte der Theorien erläutert und kritisiert. Die Auswahl der Theorieelemente ist dem Gegenstand angepasst, d. h. sie bezieht sich auf Entfremdung. Die erste These der Arbeit lautet, dass sich die beiden Theorien von Bourdieu und Lorenzer zu einer materialistischen Theorie der Praxis verknüpfen lassen, ohne dass eine der beiden Theorien in der anderen aufgeht. Während Lorenzer die Innensicht auf das Subjekt erhellt, lässt sich mit Bourdieu die Außenansicht besser verstehen. Die zweite These ist, dass mit dieser Verknüpfung eine Analyse von Entfremdung möglich wird, die nicht-essentialistisch ist, aber an einem Subjekt festhält, womit die Arbeit einen Beitrag zur Kritischen Theorie des Subjekts bieten soll. Entfremdung findet sich im letzten Kapitel der Arbeit eingebettet in die Theorieverknüpfung von Bourdieu und Lorenzer. Dies verdeutlicht, wie unterschiedliche Felder mannigfaltige Formen von Entfremdung verursachen und welche gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Auswege aus der Entfremdung denkbar werden. Entfremdung wird dann in einer subjektiven und einer objektiven Strukturanalyse theoretisierbar. Am Schluss sollen fünf kurze fiktive Beispiele die komplexe Theorie untermauern.
Ideengeschichte der Entfremdung
Das Phänomen der Entfremdung und der Begriff der Entfremdung haben sich in den verschiedenen Epochen unterschiedlich dargestellt. Einige Gemeinsamkeiten lassen sich aber dennoch bestimmen: das Gefühl der Ohnmacht, der Indifferenz oder der eigenen Verlorenheit in der Welt. Diese wurden meist von Theoretisierungen und auch Instrumentalisierungen begleitet. Der Anspruch, einen kompletten Überblick über alle einzelnen Stationen der Entfremdungstheorie zu geben, wäre vermessen. Ich beschränke mich daher auf die für die Arbeit wichtigsten Aspekte. Dabei wird auch die Stringenz der Gedanken zu Entfremdung sichtbar. Wichtig ist die geistige Nähe der Entfremdungstheorie zur Geschichte der Theorie und Praxis der Pädagogik und Bildung, welche Entfremdung explizit und implizit entweder als zu überwindende oder als dynamische Kategorie miteinbezieht. Für die jeweilige Epoche und ihren Zeitgeist in Bezug zur Entfremdung werden stellvertretend bestimmte Theoretiker bzw. ihre Theorien vorgestellt. Den größten Raum der Analyse wird die Theorie von Karl Marx einnehmen. Diese bildet gewissermaßen den Kristallisationspunkt der Gedanken zur Entfremdung. Marx bewahrt Theorieartefakte von u. a. Aristoteles, Rousseau oder Hegel und verknüpft diese mit einer sozioökonomischen Analyse seiner Gegenwart. Entfremdung ist plötzlich theoretischer Gegenstand und soziales Problem gleichzeitig, was sicherlich ein Aspekt der Attraktivität des Marx’schen Denkens ausmacht. Daher übte die Theorie auch großen Einfluss auf post- und neomarxistische Theoretiker aus.
1.1 VON DER ANTIKE BIS ZUR RENAISSANCE 1.1.1 Die Muße als Gegenbegriff zur Entfremdung in der Antike Das aristotelische Motiv der σχολή (Muße) und mit ihm die Idee der Subjektivität und Entfremdung tauchen in der westlichen Philosophiegeschichte immer wieder
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auf. Günther Buck (Buck 1984: S. 18–24) verortet die σχολή als Gegenbegriff zur Entfremdung.1 Achim Trebeß (Trebeß 2001: S. 1) folgt dieser Einordnung.2 Die Ideengeschichte der Entfremdung fängt daher in der Antike an und sie beginnt mit dessen Gegenpol: der σχολή. Diese stellt Aristoteles der dienstbaren Arbeit entgegen, womit Arbeit in den Verdacht gerät, Teil des schlechten Lebens zu sein. Aristoteles differenziert zwischen freien Tätigkeiten, die ihren Zweck rein in sich selbst haben (Musik, Philosophie …), und Tätigkeiten, die nur Mittel sind.3 Nur die musischen Tätigkeiten erlauben die Realisierung der subjektiven Anlagen. Die Theorie der Entfremdung beginnt dementsprechend parallel zur Theorie des Subjekts. 4 Dies soll im Folgenden verdeutlicht werden. Die aristotelische Vorstellung der Muße nimmt eine zentrale Stellung in der Bestimmung des glücklichen, d.h. entlasteten Daseins ein. Muße und Arbeit sind beide Tätigkeitsformen. Der Unterschied liegt im Ziel der Tätigkeit: „Die σχολή ist nicht die lustvoll registrierte Abwesenheit in sich mühseliger Tätigkeit. Sie ist nicht weniger Tätigkeit als die dienstbare Tätigkeit und Arbeit der Lebensfristung. Sie ist nur nicht gefesselt in der schwitzenden Unrast der Besorgung des Lebens, d. h. der Besorgung der Lebens-Mittel. Ein Unterschied in der Art der Tätigkeit ist hier gemeint. Der rechte Müßig-
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Aristoteles selbst benutzte auch das Wort ἀλλότριος (allotrios), aus dem sich später das lateinische alienatio entwickelte, um das Fremde und Ausgeschlossene zu charakterisieren: „Aristoteles bezeichnete mit dem Begriff ‚allotrios‘ den vom Recht und wohl auch vom gemeinschaftlichem Leben in der Polis Ausgeschlossenen“ (Meyer 1984: S. 27). Der Begriff ἀλλότριος charakterisiert das Fremde, gegen das sich etwas Feindseliges erhält. Dementsprechend benutzt Aristoteles auch den Begriff apallotriosis, bei dem sich der juristische Gebrauch bewahrt; im Akt des Veräußerns entfremde ich einen Gegenstand einem anderen. Eine nahezu erschöpfende Begriffsgeschichte der Entfremdung bietet Ernst Alt. (Vgl. Alt 1982: S. 11–36) Klar umreißt Hans Brühweiler die Entgegensetzung von Muße und Arbeit: „Arbeit ist immer inhaltsbesetzt und zielträchtig. Sie gehört den Bereichen des Gegebenen und des Aufgegebenen an. Alledem gegenüber gilt innerhalb derselben Dimension als entschiedenster Kontrapost die Musse. Sie zielt grundsätzlich auf nichts ab, denn sie hat ja nichts ausser ihr Liegendes zu be-zwecken oder noch zu erreichen. Der Ort ihrer Intention ist daher immer jetzt und hier. Wer Musse betreibt, um damit etwas anderes zu erlangen, der verzweckt etwas, das seinem Wesen nach zweckfrei ist.“ (Brühweiler 1971: S. 61) Den Anfang der Subjektivitätsgeschichte könnte man auch, den Überlieferungen nach, im Orakel von Delphi (ca. 500 vor Christus) verzeitlichen, das mit seinem apollonarischen Eingangsdiktum γνῶθι σεαυτόν (Erkenne dich selbst) bereits zur introspektiven Besinnung auf die eigene Subjektivität rät, also bereits Entfremdung annimmt.
Ideengeschichte der Entfremdung | 15
gang, der mit dem Ausdruck σχολή gemeint ist, ist nicht das Gegenteil von Tätigkeit; denn Tätigkeit ist die Vollzugsform des Menschlichen selbst.“ (Buck 1984, S. 20)
Musische Aktivitäten sind daher die höchsten Formen der Tätigkeit, sie machen die richtige Praxis aus, in der das Subjekt ganz für sich selbst ist, in verwirklichter Subjektivität: „Der Müssige ist immer herausgehoben aus der sozialen Funktion der Arbeit und ist so erst einmal für sich und bei sich.“ (Brühweiler 1971, S. 68) Das Ziel der musischen Tätigkeit ist die εὐδαιμονία (Eudaimonia): die Glückseligkeit. Diese kann durch die richtige Praxis des tugendhaften bios, der ethisch richtigen Lebensweise, erlangt werden. Sie ermöglicht die vollkommene Verwirklichung der subjektiven Anlagen in der musischen Tätigkeit. Das ist die Voraussetzung für die εὐδαιμονία, die keinen weiteren Zweck außerhalb ihrer selbst hat.5 Aristoteles bezieht die εὐδαιμονία aber nicht auf die sinnliche Lust, sondern auf die theoria. Diese sei die Anschauung der ewigen und unveränderlichen Strukturen der Welt ohne äußere Einflüsse der sinnlichen Wahrnehmung: Sie ist philosophische Selbst- und Welterkenntnis und damit das höchste Wissen. Die theoretische Erkenntnis wird zum Ideal eines nichtentfremdeten Lebens. Die theoria kennzeichnet die Lebensweise des bios theoretikos, der den Notwendigkeiten des Lebens entkommen konnte. Die Erkenntnis durch die theoria ist somit die höchste und tugendhafteste Form menschlicher Existenz.6 Sie ist den Göttern verwandt, denen ursprünglich die zwanglosen Tätigkeiten vorbehalten waren. In welcher Form die aristotelische Konzeption bei Marx wieder auftaucht und den normativen Maßstab der Entfremdung bildet, soll skizziert werden. Bei Aristoteles führt die Entfaltung der Ethik, der musischen Tätigkeiten, zur Verwirklichung der dem Menschen innewohnenden Gattungskräfte (zur Selbstverwirklichung) und so zur εὐδαιμονία. Gegen dienstbare Arbeit aber hält sich Misstrauen. Sie ist ein 5 6
Die Linearität und Differenz zwischen Aristoteles εὐδαιμονία und Marx’ Ansichten zur Moral hat Alan Gilbert erarbeitet. (Vgl. Alan Gilbert 1992) Dazu genauer Otfried Höffe: „Als Wissen, dem es ausschließlich um die Einsicht in die Ursprünge und Gründe des immer Seienden geht, ist es nicht an technischer oder politischer Verwendung interessiert. Im Gegensatz zu zeitgenössischen Forderungen nach gesellschaftlicher Relevanz der Wissenschaft gehört es zu Aristoteles’ Begriff von Theorie, dass sie bloß um des Wissens und nicht um irgendeines Nutzens willen betrieben wird. Wahres Wissen ist ein autonomer Wert. Die Theorie gilt in keiner Weise als ein Zwischenziel, sondern ausschließlich als Endziel. Gerade deshalb erfüllt sie auch das weitere Kriterium für Eudaimonie, nämlich im höchsten Grad Ziel zu sein [...]. Die Theorie ist jener ausgezeichnete Fall einer Aktivität [...], bei dem der Vollzug [...] und das Ziel [...] vollständig zusammenfallen: ‚Das Denken handelt, indem es denkt‘ [...]. Rein um ihrer selbst willen durchgeführt, ist sie eine schlechthin freie Tätigkeit und in diesem Sinn die höchste Form von Praxis.“ (Otfried Höffe 1976: S. 243)
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Gefängnis, in dem nur Mittel zum Überleben produziert werden. Damit ist deutlich ein Merkmal der Marx’schen Entfremdungstheorie vorgezeichnet: „Der Begriff der entfremdeten Arbeit [bei Marx, J. W.] ist durchaus auf dem Boden des aristotelischen Ideals der σχολή konzipiert, also jener Tätigkeitsform, die in sich vollkommen und geglückt ist und die freie Selbsthabe des Tätigen einschließt, Arbeit aber von vornherein verdächtigt und als eine Form der Selbstentfremdung denkbar macht.“ (Buck 1984: S. 23)
In beiden Theorien ist es die erdrückende Objektivität der Welt, die den Subjekten durch dienstbare Arbeit bzw. Lohnarbeit ständig eine heteronome Praxis abverlangt. An der Stelle, an der bei Aristoteles Erkenntnis als Wendepunkt zur εὐδαιμονία auftaucht, steht bei Marx das Klassenbewusstsein.7 Es ist demnach anzunehmen, dass Marx das Motiv der freien Entfaltung der Wesenskräfte durch Erkenntnis Aristoteles entlehnt hat. Diese Integration der Wesenskräfte beziehungsweise die Position eines ontologischen Essentialismus dienen Marx dann zur Begründung seiner Sozialontologie. (Vgl. Quante 2002, S. 460) Das vorausgesetzte, ursprüngliche und einheitliche Verhältnis vom Menschen zu seiner eigenen Natur ist bei Aristoteles und Marx der Maßstab des guten Lebens. Für Marx ist es auch der Maßstab der Entfremdungskritik im Kapitalismus. 8 Das gute Verhältnis bewahrt die Einheit von Mensch und eigener Natur durch Kontemplation, während das schlechte Verhältnis den Menschen in ein ihm selbst fremdes Wesen verwandelt, ihn entfremdet.9 In beiden Theorien kommt der Mensch über die Entfremdung auf höherer Ebene wieder zu sich selbst. Bei Marx ist der geschichtliche Endpunkt der Kommunismus, bei Aristoteles hingegen die Polis. Beide Systeme verwirklichen
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Auch Aristoteles’ Theoria und Marx’ Bewusstsein scheinen verwandt, was die These von Buck stützt, dass sich die Muße als Leitmotiv der Bildung bis in die Gegenwart konserviert hat. (Vgl. Buck 1984) „Der Marx’sche Entwurf des Menschenwesens als bedürftig ist also wesentlich aristotelischen Ursprungs, fest in der metaphysischen Tradition verwurzelt, und das Maßvolle der aristotelischen Ethik bildet eine Grundlage der Kritik am Kapitalismus.“ (Eldred 2000, S. 71) Diese ontologisch-metaphysischen Reste in Marx’ Theorie führen zu theorieimmanenten Problemen des historischen Materialismus. (Vgl. Quante 2002) Achim Trebeß weist außerdem auf die wichtige geschichtsphilosophische Weiterentwicklung von Marx hin, die ihn von Aristoteles unterscheidet; nämlich der Umstand, dass Entfremdung ein sozialökonomisches Problem ist, abhängig vom Stand der Geschichte. (Vgl. Trebeß 2001, S. 2) Hier offenbart sich Marx’ Problem, ein transhistorisches Gattungswesen mit dem historischen Materialismus zu verknüpfen.
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das gute und natürliche Leben für alle Gesellschaftsmitglieder.10 Denn der Zweck der Polis ist es, „den Menschen zu seiner höchsten Verwirklichung zu bringen, zu dem, was Aristoteles Eudaimonie nennt.“ (Otfried Höffe 1976, S. 233)11 Das deckt sich mit dem Reich der Freiheit bei Marx, verwirklicht in einer Gesellschaft der Muße ohne kapitalistische entfremdete Arbeit: „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört [...]. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit.“ (Marx 1973[1867]: S. 828)12
Marx’ Rezeption und Aufnahme der aristotelischen Philosophie13 ist evident. Grundlegende philosophische Ideen von Freiheit, freier Entfaltung der Wesenskräfte und Arbeit sind eindeutig mit Aristoteles in Verbindung zu bringen. An der Rückseite dieser positiven Bestimmungen des Mit-sich-eins-Seins wurde Entfrem10 Ein weiteres Marx’sches Motiv, der sich, dem Gattungswesen gemäß, wieder frei entfaltende Mensch im Kommunismus, ist im Werk des Aristoteles angelegt, so Wolfgang Kullmann: „Er [Aristoteles] benennt den Zustand dessen, der seine höchste Vollkommenheit, sein Glück, erreicht, mit demselben Begriff, mit dem er den Anfangszustand bezeichnet, nämlich ebenfalls ‚Natur‘ (physis [...]). Darin liegt keine Unklarheit. Aristoteles möchte zum Ausdruck bringen, daß das Telos (die Vollendung, sein Ziel) tendenziell im Menschen schon angelegt ist, daß aber der kulturelle Weg des Menschen vom Ausgangszustand zum Ziel frei und eigenverantwortlich zurückgelegt werden muß.“ (Wolfgang Kullmann 2006, S. 268) 11 Auf den normativen Moment der Polis in Marx’ Grundrissen geht Patricia Springborg ein: „considers the polis, with its rudimentary separation of communal and private property, and the incipient duality of individualism and communism to which it gives rise – and which is the eventual source of its destruction – to be the authentic, and perhaps the highest, form of commune among historical forms of the past. Indeed, it is a curiosity of Marx’s thought that the standpoint from which he judged Western European society of his day was that of the polis and its virtues.“ (Springborg 1986, S. 191) 12 Achim Trebeß weist außerdem darauf hin, dass freie Tätigkeit und banausische Tätigkeit bei Aristoteles bereits das Reich der Freiheit und das Reich der Notwendigkeit bei Marx antizipieren. (Trebeß 2001, S. 1) Zur Rezeption und Differenz zwischen Marx und Aristoteles bei der Konzeption von Reich der Freiheit und Notwendigkeit. (Vgl. Martens 1974) 13 Zu den verschiedenen Aristotelesrezeptionen bei Marx vgl. DeGolyer 1992; McCarthy 1992; Seidel 1979. Der Bezug zu Aristoteles ist für Heinz Lubasz sogar so entscheidend, dass er so weit geht zu behaupten: „I think, that one cannot really understand Marx’s work without taking this Aristotelian dimension into account.“ (Heinz Lubasz 1977)
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dung verbegrifflicht.14 Die nachfolgende Sozialphilosophie15 erhielt so eine normative Negativfolie: Der Begriff des Subjektseins wurde positiv gesetzt und das Außer-sich-Sein und Für-fremde-Zwecke-Sein wurde geächtet.16 Emanzipatorische Sozialwissenschaften entwickelten häufig ihre Kritik aus einer Ethik, die im Ideal der σχολή ihren Bezugspunkt findet. Daraus leitet sich die Idee einer Einheit von der Natur des Menschen und seiner Praxis ab. Diese Einheit verspricht die freie Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten, Autonomie und Glück. Als Gegenmotiv bildete sich der Begriff der Entfremdung. Mit der Philosophie des Aristoteles wird der Maßstab des guten Lebens angelegt, der sich bis in die Gegenwart17 konserviert und bei Marx seine sozioökonomische Entsprechung erhielt. Das gute Leben war dem Subjekt, das seine Subjektivität in der Einheit von Sein (als Natur) und (Selbst-)Bewusstsein (Theorie) entfalten konnte, vorbehalten. Das schlechte Leben ist ein Leben, das an heteronome Tätigkeiten gebunden ist. Die Entfremdungstheorie nimmt ihren Ausgangspunkt an der Bestimmung, dass das Mensch-Sein sich wesentlich an der Entfaltung seiner subjektiven Potentiale bemisst und mehr zu sein hat als bloßes Sein, nämlich ein erkennendes und selbstverwirklichendes Sein. Gerade in der theoretischen Erkenntnis liegt das Glück. Zu kritisieren ist, dass Aristoteles das Subjekt sehr stark essentialistisch denkt. Außerdem fallen aus seiner Theorie Frauen, Sklaven und Polisfremde von vornherein heraus. Letztlich kann Aristoteles auch nicht schlüssig begründen, warum bereits die Erkenntnis Glück ermöglicht, und auch seine scharfe Trennung von musischen und dienstbaren Tätigkeiten ist unhaltbar. Dennoch begründete er in der griechischen Antike den ideengeschichtlichen Dualismus von Subjektivität und Entfremdung, der bis in die Gegenwart hineinreicht.
14 Richard W. Miller stellt die These plastisch dar, indem er acht Zitate von Aristoteles zum guten Leben, „The good life and its essence, happiness [...], are activity of human life in accordance with virtue“ (Miller 1992, S. 276) direkt acht Zitaten von Marx zum entfremdeten Leben gegenüberstellt. 15 Das Bildungsmotiv der Muße heute „bleibt dennoch [trotz der ideologischen Anteile in der Theorie des Aristoteles, wie der Sklavenhaltergesellschaft J. W.] erstaunlich, wenn man beachtet, wie unangefochten und im Grunde stets mit der Kraft großer Autorität versehen, sich das Motiv der σχολή durch alle historischen Verhältnisse und Meinungen hindurch gehalten hat.“ (Buck 1984, S. 23) Zum Verbleib der Muße-Konzeption in der Pädagogik vgl. auch Hans Brühweiler 1971. 16 Ausnahmen gab es in der Gnosis, der christlichen Theologie und Wilhelm von Humboldt u.a. Hier wurde Entfremdung positiv gedeutet. 17 Eine Ausnahme bilden hier strukturalistische Theorien.
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1.1.2 Positive und negative Entfremdung bei den Denkern der Gnosis Die Betrachtung der Gnosis als eigenständige synkretische Religion hat sich erst in den letzten Jahrzehnten verfestigt. (Vgl. Norbert Brox 1998: S. 298–299) Die geistigen Strömungen dieser Zeit schöpfen aus mannigfaltigen philosophischen und theologischen Quellen, insbesondere antike hellenistische Motive sind von Beginn an stark vertreten, sie prägen so auch das frühchristliche Denken18: „Vermutlich von der Gnosis und überhaupt von der hellenistischen Lebensstimmung angeregt, wird dieser Ausdruck [alienatio, J. W.] von den ersten christlichen Theologen verwendet, um die Stellung des Menschen zwischen Welt und Gott, Diesseits und Jenseits zu explizieren.“ (Wind 1992: S. 69)
In der Gnosis und im frühen Christentum ist Entfremdung bzw. das Fremde eine Ortsbestimmung, die den Menschen in einer negativen bzw. einer feindlichen Umgebung positioniert. Gleichzeitig ist in der Gnosis Entfremdung aber auch die Voraussetzung von Erlösung: Es existieren parallel ein positiver und ein negativer Begriff der Entfremdung. Die gnostischen Strömungen sind diffus und unterscheiden sich teils stark. Gemeinsam sind ihnen aber:19 1.
2.
3.
Ein dualistisches Weltverständnis, mit der göttlichen Sphäre des Lichts und des Geistes sowie der weltlichen Sphäre der Dunkelheit und Materie. (Vgl. Alt 1982: S. 28) Die Emanation aus dem göttlichen Ursprung in die Welt. Je weiter sich daher die Welt von Gott entfernt, desto schlechter wird sie. Die Materie wird somit zum Inbegriff des Bösen und Schlechten.20 Ein Glaube an Erlösung durch Erkenntnis21: „Die Betonung der Erkenntnis als Mittel zur Erlösung, ja sogar als Form der Erlösung selbst, und der Anspruch, diese Erkenntnis in der eigenen ausgearbeiteten Lehre zu besitzen,
18 Die Anfänge des gnostischen Denkens lassen sich auf das 1. Jahrhundert v. Chr. datieren. Die letzten Ausläufer ziehen sich bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. 19 Die Einteilung hinsichtlich der Gemeinsamkeiten der gnostischen Denkweisen ist ausführlicher dargestellt bei Christoph Markschies. (Vgl. Markschies 2001: S. 25–26) 20 Ernst Alt bezeichnet diese Form der Entfremdung von Gott als Vorläufer des säkularen Entfremdungsbegriffs im deutschen Idealismus bei Fichte und Hegel. (Vgl. Alt 1982: S. 26) 21 Gnosis bedeutet „Erkenntnis“ oder „Wissen“ – immer als Gotteserkenntnis bzw. Gotteswissen verstanden.
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sind gemeinsame Züge der zahlreichen Sekten, in denen sich die gnostische Bewegung historisch ausprägte.“ (Jonas 1999[1958]: S. 56) Die heimliche Potenz eines göttlichen Lichtfunkens (pneuma) im Menschen. Die heilsgeschichtliche Möglichkeit der Erlösung durch Logos und einer vermittelten pneumatischen Erkenntnis. Logos bedeutet Wort oder auch Vernunft, in der Gnosis ist damit aber auch Gottes Sohn und der Urmensch gemeint.22 Er verhilft zur Scheidung von Geist und Materie und zur Vereinigung der Lichtteile mit dem göttlichen Ganzen im Lichtreich.
Ein wesentlicher Teil der gnostischen Heilsgeschichte ist die Entfremdung hin zu Gott durch Erkenntnis: „In seiner soteriologischen Funktion nun ermöglicht der Logos die Herauslösung der menschlichen Lichtfunken. Diese Herauslösung wird in der Gnosis auch Entfremdung genannt.“ (Alt 1982: S. 29) Die gnostischen Theoretiker wenden die Entfremdung auf diese Weise ins Positive: Sie gilt als Voraussetzung von Befreiung und Heil. Durch die (Selbst-)Erkenntnis des eigenen Fremdseins in der bekannten Welt (negative Entfremdung) entfremdet sich der Mensch dem Diesseits (positive Entfremdung) zurück ins jenseitige Ganze. Die Erkenntnis (Logos) durch das Denken steht, wie bei Aristoteles, am Beginn der Erlösung von Entfremdung. „Entscheidend ist es für den gnostischen Menschen, sein eigentliches Selbst zu erkennen. Das gnostische Selbst, das in der Gnosis seine verfremdete, uneigentliche Existenz durchschaut, aus der es leidenschaftlich hinausdrängt, entlastet sich von jeder Beteiligung am Zustandekommen des Fremdseins.“ (Norbert Brox 1998: S. 307)
War das Telos bei Aristoteles noch der Weg von der ursprünglichen menschlichen Natur zur verwirklichten menschlichen Natur, so verschiebt sich in der Gnosis die Perspektive auf einen objektiven Gott, der über das Subjekt zurück zu sich gelangt. Nach dem Abfall aus der Vollkommenheit gibt es in der Gnosis weder weltliche Erlösungsangebote noch andere Auswege aus der negativen Entfremdung von Gott: „Nichts in der Welt kann Identität vermitteln, nichts in ihr kann der Erlösung nach ihrem Durchleiden gleichkommen, damit gibt es aber auch keine irdische Möglichkeit, diese Fremdheit zu überwinden, eine Fremdheit, die gesetzt ist, unbeeinfluss-
22 Später wird auch Jesus Christus als Logos bezeichnet. Der Begriff, in seiner gesamten Bedeutungsvielfalt, spiegelt die Geisteshaltung der Antike, die sich bis in die Neuzeit erhält: Vernunft, Sprache, Sinn oder Logik, werden als göttliche oder weltliche Eigenschaften zur Voraussetzung von Heil und Erlösung verstanden.
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bar.“ (Trebeß 2001: S. 3) Das Leben in der Fremde23 wird aber vergessen und der Mensch richtet sich in der bösartigen Welt ein, er arrangiert sich: „Aus seiner Entfremdung ist die Not geschwunden.“ (Jonas 1999[1958]: S. 77) Nur mit der (Selbst)Erkenntnis, die das Selbst an einen transzendenten Gott koppelt, erkennt das Subjekt seine Fremdheit in der Welt wieder und das bereitet den Weg in das jenseitige erlösende Heil: „Die Wiedererinnerung an die eigene Fremdheit, das Erkennen seines Exils als das, was es ist, ist dann der erste Schritt zurück, das erwachende Heimweh ist die beginnende Heimkehr.“ (Jonas 1999[1958]: S. 77) Das Fremdsein in der Gnosis ist kein selbstverschuldetes Problem falscher (Gedanken-)Tätigkeit wie bei Aristoteles, sondern das Potential der Befreiung, das nur durch Gott realisiert werden kann: „Der Absturz [des Subjekts aus dem Lichtreich] war ohne sein Zutun geschehen. Den Wiederaufstieg kann er nur mit Fremdeinwirkung, also mit Hilfe bewerkstelligen.“ (Norbert Brox 1998: S. 303) Die Hilfe kommt durch Logos, die Offenbarung durch das Wort Gottes und seine Vernunft. Er vermittelt die Selbsterkenntnis und mahnt die Enthaltsamkeit von jeder Materie an. Das Selbst ist verantwortlich für die eigene Erlösung. Denn Selbsterkenntnis wird durch den Logos nur angestoßen: „der ‚Ruf‘ der gnostischen Offenbarung erweckt die Funken [die pneuma, J. W.] zum Bewußtsein und zur Reaktion und ‚individualisiert‘ sie so.“ (Norbert Brox 1998: S. 307) Die eigenen göttlichen Lichtteile entfremden sich dem Körper und der Materie und steigen ins Lichtreich zurück: Voraussetzung ist die „Erkenntnis des eigenen göttlichen Geist-Selbst des Menschen.“ (Haardt 1967: S. 11) Die notwendige Selbstreflexivität setzt ein Subjekt voraus, dieses verschwindet dann aber wieder mit der Scheidung von Materie und Geist, der im universalen Ganzen aufgeht. Die Negativität der materiellen Welt wurde so zum fundamentalen Bezugspunkt der gnostischen Strömungen. Der Ausweg aus ihr, die Rückkehr in die göttliche Lichtwelt, kann nur kollektiv geschehen, auch wenn der Einzelne dafür sich selbst erkennen muss. Eschatologische Vollendung erhält die Gnosis nur durch die Vereinigung aller Lichtteile, die von Gott gerufen werden. Am Ende steht die Auslöschung des Diesseits und der Individualität im Jenseits. Subjektivität ist dementsprechend nur ein notwendiger Zwischenschritt des Telos, um wieder die totale göttliche Objektivität herzustellen.24 Die theoretisch-theologische Ausrichtung reflektierte die Lebensstimmung der Gnosis, in der das Heil in der Entfremdung von der Entfremdung lag: Die Men23 Hans Jonas bezeichnet den Begriff des fremden Lebens als „Urwort der Gnosis.“ (Jonas 1999[1958]: S. 78) Es ist „eines der wichtigsten und eindrucksvollen Symbolwerte, die uns in der gnostischen Sprachwelt begegnen, und es ist völlig neu in der Geschichte menschlichen Redens überhaupt.“ (Jonas 1999[1958]: S. 76) 24 Ähnlich, wie es später Hegel ausführen wird.
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schen in der Gnosis fühlten sich nicht mit der Welt identisch, sie suchten die Entfremdung von ihr, um über die geistige Erkenntnis Erlösung von der Materie zu erfahren.25 „Gerade in der Gnosis und überhaupt im späten Hellenismus ist ‚alienatio‘ ein Begriff, der angeben kann, daß der Mensch sich in der bekannten Welt nicht heimisch fühlt. Entfremdung ist der Ausdruck einer allgemeinen Lebensstimmung, die bedeutet, daß der Mensch sich in dieser faktischen, veränderlichen Welt nicht zu Hause fühlen kann. Daher ist der Mensch heilsbedürftig. Die Frage nach dem Heil setzt ein Gefühl von Entfremdung (Fremdheit) voraus.“ (Wind 1992: S. 69)
Die individuelle und kollektive Erfahrung von Mangel und Unzulänglichkeit der Welt sind die Basis für die gnostische Religion. (Vgl. Norbert Brox 1998: S. 311) In der Gnosis, zwischen Spätantike und Frühchristentum, hat sich das Telos verschoben: Das Subjekt verwirklicht sich nun in seiner Rückkehr zu Gott und nicht mehr in seiner musischen Selbstverwirklichung. Geblieben ist die Selbsterkenntnis als Mittel der Erlösung. Diese ist auch zu verstehen als „mythische Projektion der Selbsterfahrung.“ (Quispel 1951: S. 37) Die Lebensstimmung der Zeit wird als entfremdet wahrgenommen. Daneben existiert aber noch ein positiver Begriff der Entfremdung, als Weg der Erlösung. In der späten Gnosis und der sozialen Festigung des Christentums wird Entfremdung dann zunächst negativ verstanden. So betont auch der christliche Theologe Plotin (205-270 n. Chr.) die negative Entfremdung, die Verstrickung der menschlichen Seelen mit der Materie. Der positive Entfremdungsbegriff taucht im Mittelalter aber immer wieder auf, so bei Augustinus, Guigo von Kastell oder Thomas von Aquin. 1.1.3 Der Entfremdungsbegriff im Mittelalter Der Entfremdungsbegriff wird in der mittelalterlichen christlich-theologischen Literatur uneinheitlich verwendet und stetig modifiziert.26 Wie in der Gnosis, so gibt es auch im Christentum einen positiven und einen negativen Begriff von Entfremdung im religiösen Feld. Einer der wichtigsten Theoretiker der negativen Entfremdung ist der Theologe und Kirchenvater Augustinus von Hippo (354 – 430 n. Chr.).27 Mit
25 Auch vor dem Tod. (Vgl. Norbert Brox 1998: S. 306) 26 Eine Übersicht über die verschiedenen theologischen Verwendungsweisen sind bei Heinz Meyer (Meyer 1984: S. 29–31) und Ernst Alt (vgl. Alt 1982: S. 30–36) zu finden. 27 Augustinus orientiert sich an dem spätantiken Denker Plotin (205–270) und dessen Neuplatonismus. Der Neuplatonismus gilt als das letzte philosophische System der Spätantike
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ihm verfestigt sich im Denken des frühen Mittelalters die negative Theologie: Zum einen war damit die Vorstellung verbunden, dass Gott das allumfassende erste metaphysische Prinzip der Welt darstellt, aus dem alles andere entstand. Zum anderen, womit sich Augustinus deutlich von der Antike unterschied, gelten Denken und Wissen nicht mehr als das Höchste, da das göttliche Ganze nicht mehr erfasst werden könne. Das Unbegreifliche erhält so seine metaphysisch-mystische Bestimmung. Gottesnähe war nicht mehr durch Erkenntnis, sondern durch Ekstase (Augner 2001: S. 22–23) und Kontemplation möglich. Für Augustinus gilt die irdische Existenz als Ferne von Gott und damit als Entfremdung. Erlösung war durch die tugendhaften Praktiken möglich, die dadurch als Mittel der Disziplinierungsmacht instrumentalisiert werden konnten. Augustinus bezeichnet dementsprechend alle ketzerischen Meinungen seiner Zeit als von Gott entfremdet. (Vgl. Alt 1982: S. 33) Zudem verweist er auf den Sündenfall, der die Begierde28, als Ausdruck der Entfremdung, nach sich zieht und diese noch verstärkt. (Vgl. ebd.: S. 33) Augustinus entwarf so eine christliche Ethik, die die Lebensstimmung der Entfremdung in eine normative Ordnung überführte: Die Praxis sollte gottgefällig werden. Dazu wurden Verhaltensanweisungen definiert, die durch eine Kategorisierung in Gebrauchsdinge (uti) und Genussdinge (frui)29 geordnet wurden (Vgl. Pfligersdorffer 1987; Scholz 1911: S. 197–235; Rudolf Lorenz 1952/53; Wind 1992): „Das bedeutet, daß der Mensch Mittel und Zweck verwechseln kann; relative Güter kann er als absolute Güter auffassen. Die Begriffe ‚uti‘ und ‚frui‘ geben eine wahre Seinsordnung an, und diese Begriffe kann und soll der Mensch als ‚Wegweiser‘ auf seiner Lebensreise verwenden.“ (Wind 1992: S. 67) Entfremdung, als „Distanz von Gott in der sinnlichen Begierde“ (Meyer 1984: S. 30) tritt daher mit der Vertauschung von Zweck und Mittel ein.30 In der Frühscholastik verdichtet sich die Haltung, dass eine ekstatische positive Entfremdung Grundlage für göttliche Erfahrung sei. So wurde bei Guigo von Kastell (1088-1137) „Entfremdung als die Voraussetzung für die reine Erfahrung überbzw. der Gnosis. Gott ist demnach das erste und ursprüngliche Prinzip der Welt. Er ist unerkennbar und unbegreiflich. 28 Augustinus schreibt: „Entziehst du dich nicht deiner Begierde, so entfremdet sie dich von Gott.“ (Augustinus zit. nach Pannenberg 2011: S. 261) 29 Uti kennzeichnet Dinge, die Mittel zum Zweck sind. Demgegenüber bezeichnet frui Dinge, die um ihrer selbst Willen existieren. Sie sind gottnahe und erzeugen menschliches Glück. Die Parallelen zu Aristoteles sind offensichtlich. 30 Zur Verdeutlichung greift Augustinus auf die Parabel einer Pilgerreise zurück. Trotz der Verlockungen der Reise (schöne Orte, bequeme Fortbewegungsmittel etc.) darf der Pilger den Zweck der Reise nicht mit den Mitteln und Versuchungen vertauschen. (Vgl. Wind 1992: S. 65)
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natürlicher Wahrnehmung und als Geschenk der göttlichen Gnade“ (Moldzio 2003: S. 63) aufgefasst. Der Mensch fährt aus sich heraus und ist der feindlichen Welt herausgehoben, näher bei Gott, bei seiner Wahrheit. Bei Thomas von Aquin (12241274), einem der bedeutendsten Vertreter der Hochscholastik, wird Entfremdung ebenfalls positiv verstanden als 1. 2. 3.
ein generelles „Außer-sich-sein im Erkennen und Streben“ (Meyer 1984: S. 30), eine „Loslösung von den Sinnen und Absichten“ (ebd.: S. 30), eine ekstatische Gotteserkenntnis. (Vgl. Charlin 1996; Meyer 1984: S. 30)
Thomas von Aquin verbindet die Entfremdung mit den Lehren von prophetischen Visionen, durchaus auch im medizinisch-psychologischen Sinne: Halluzinationen, Träume oder Wahnvorstellungen werden als positive religiöse Entfremdung gedeutet.31 Schließlich bleiben ein positiver und ein negativer Entfremdungsbegriff bestehen, wie sie auch in der Gnosis zu finden waren: Einerseits eine positive Entfremdung in der Entweltlichung durch Ekstase oder kontemplative Praktiken des erkennenden Geistes, verbunden mit der Entsagung von Materie, in den Praktiken des Betens, des Rückzugs, des Pilgerns und des Verzichts. Andererseits bleibt die negative Entfremdung als Entfernung zu Gott durch falsches sündiges Handeln, in Bezug auf eine weltlich-materielle Lebensweise: „Entfremdung bedeutet biblisch in erster Linie Gottlosigkeit und Gottesferne. […] Dem Begriff Entfremdung entspricht […] der biblische Begriff der Sünde.“ (Alt 1982: S. 30) Dieser weist daraufhin, dass die Entfernung zu Gott bzw. Entfremdung von Gott universell ist und jeden betrifft und erst durch individuelles Handeln verstärkt oder gemildert, sogar aufgehoben werden kann. (Vgl. Tillich 1958: S. 64–65) Damit wird die negative Entfremdung zu einem Merkmal der Häretiker und Nicht-Christen, die keinen Ausweg aus der feindlichen Welt zugesprochen bekommen. Den gläubigen Christen aber bleibt die Möglichkeit der individuellen Eschatologie: Die Rückkehr aus der Entfremdung setzt deshalb die Einhaltung religiöser Regeln und Gebote voraus und wird im Zuge dessen an soziale Verhaltensweisen geknüpft. Diese orientieren sich an dem Telos des Christentums, der Rückkehr ins ursprüngliche Ganze. Dieses Motiv teilt sich das Christentum mit der Antike und Gnosis32: „Im neuplatonisch-christlichen Schema der Bewegung von Entfremdung 31 Dazu passt, dass die literarische Gattung der Visionsliteratur im Mittelalter ihren Höhepunkt erreichte. (Vgl. Dinzelbacher 1981) 32 Und später mit Marx, Rousseau und Hegel. Neben der Vorstellung eines Telos finden sich noch andere Motive der scholastischen Theologie bei Marx und Vertreten der Kriti-
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und Heimkehr ist der Ausgangspunkt eben zugleich der Zielpunkt der Bewegung, und Entfremdung ist hier nie gedacht ohne die Wiedervereinigung mit dem Einen.“ (Buck 1984: S. 157) Alle weltlich-naturhafte Bewegung ist daher gedacht mit einer innewohnenden göttlichen Absicht und strebt zur Einheit, dem Ende der Entfremdung. Der negative Begriff der Entfremdung als Sünde wird in den Bibelauslegungen dann immer stärker betont. Der positive Begriff, der über die Gnosis in die christliche Mystik gekommen war, verblasste hingegen zusehends. (Vgl. Alt 1982: S. 35– 36) Die christlich-theologische Deutungshoheit der negativen Entfremdung schwand dann mit dem Ende der Scholastik und dem Beginn der humanistischen Frührenaissance in Italien Mitte des 14 Jahrhunderts. Eine Reihe von Entwicklungen stärkten das Individuum und schufen die Grundlage für das moderne Subjekt. (Vgl. Hagenbüchle 1998: S. 32)33 Was bei Thomas von Aquin an Selbstreflexionspotential und Autonomie34 schon angedeutet war, setzte sich am Ende des Mittelalters langsam durch. Entfremdung war seit der Gnosis maßgeblich geprägt durch das Verhältnis von Mensch und Gott, Materie und Geist sowie Vielheit und Einheit. Mit dem Ende des Mittelalters und der Wende zum Subjekt verblassten diese Verhältnisse und die Säkularisierung setzte ein: „Um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert, zu der Zeit also, die man als den Beginn des Spätmittelalters bezeichnen kann, verbreitete sich bei den avanciertesten Autoren die Überzeugung, daß die Ordnung der erscheinenden Welt nicht notwendig der unveränderlichen göttlichen Vernunft entspreche und schon gar nicht von dem unwiderruflichen Willen ihres Schöpfers aufrecht erhalten werde. […] Diese geistige Wendung schlägt sich in allen politischen und kulturellen Bereichen nieder. […] Der Begriff Gottes verändert sich ebenso radikal wie der des Menschen.“ (Mensching 1998: S. 492)
schen Theorie wieder. Unter anderem, dass das Höchste nicht vorweg zu begreifen sei. Auch die Kritik an der Vertauschung von Mittel und Zweck kommt in der Warenkritik wieder zum Vorschein. 33 Roland Hagenbüchle verdeutlicht die Wendung aufs Subjekt mit der Praxis des Beichtens: „Symptomatisch für die Herausbildung des mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Subjekts ist ferner die Entwicklung der Beichtpraxis, die im Laternakonzil (1215) formuliert wurde und im Tridentium (1545–63) den Stand der heutigen Praxis erreicht. Der geschlossene Beichtstuhl bringt diese Entwicklung 1614 insofern zu einem Abschluß, als nun das Gesicht verborgen bleibt und sich die ganze Aufmerksamkeit des Beichtigers auf das menschliche Innen richtet.“ (Hagenbüchle 1998: S. 33) 34 Thomas betrachtet den Menschen als Vernunftwesen, wobei diese Vernunft nicht im Widerspruch zu Gott steht. Er verteidigt auch die einzigartige Seele jedes Menschen und lehnt einen übergreifenden Gesamtintellekt ab.
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War der Mensch vorher nur in seiner Nähe zu Gott vollständig, so rückte in der Renaissance das Verhältnis des Menschen zu sich selbst in den Mittelpunkt und damit auch seine Selbstentfremdung. 1.1.4 Selbstentfremdung in der Renaissance Ego sum unus utinamque integer: „Ich bin einer und möchte mit mir eines bleiben.“ (Petrarca zit. nach Böhm 2007: S. 44) Dieses Zitat verweist auf die Entfremdungserfahrung zu Beginn der Renaissance. Der italienischen Lyriker Francesco Petrarca (1304-1374) formuliert ein solches Gefühl und einen Anspruch seiner Zeit. Sein subjektiver Stil entsteht mit einer Selbstanalyse, mit dem melancholischen Ich, das an die Stelle einer übergeordneten Macht getreten ist: So wurde das theozentrische Weltbild durch das anthropozentrische Weltbild abgelöst. Das führte zur Theoretisierung der Entfremdung als Selbstentfremdung. Das Mittelalter war Ende des 14. Jahrhunderts in einer politischen und ökonomischen Krise. (Vgl. Kessler 2008: S. 7–13) Mit dem Zusammenbruch der gesellschaftspolitischen Ordnung verschwand auch die scholastische Philosophie, an ihre Stelle traten die Künstler und Philosophen der Renaissance, die durch ihren Rückgriff auf die Antike wegweisend für die Moderne wurde. (Vgl. Kessler 2008) In der Renaissance war Entfremdung daher nicht mehr nur die Entfremdung von Gott, sondern die Entfremdung des Selbst, als Folge einer neuen Perspektive auf das Subjekt: „Das moderne Subjekt ist selbstbestimmt, während nach früheren Ansichten das Subjekt in Beziehung zu einer kosmischen Ordnung bestimmt wird.“ (Taylor 1978: S. 16–17) So verkündete Petrarca das Ende des medium tempus und den Anfang einer neuen Epoche, die er zugleich selbst begründete.35 Jacob Burkhardt bezeichnete Petrarca sogar als den „frühesten völlig modernen Menschen.“ (Burckhardt 1985: S. 202)36 So übertrieben diese Wertung ist, zeigt sie doch den Stellenwert Petrarcas für die Zeitepoche. 35 Andreas Kablitz bemerkt dazu treffend: „Jener historischen Deutung, welche die Neuzeit mit der Wiederbelebung der Antike beginnen lässt, liegt die uns vertraute Periodisierung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit zugrunde. […] Genau diese Dreiteilung der Geschichte aber geht auf Petrarca zurück. […] Dieses Periodisierungsmodell hat einen ungeheuren Erfolg gehabt, und Petrarca wäre wahrscheinlich kaum der Ehrentitel eines Begründers der Neuzeit zugefallen, hätte er nicht selbst dieses Modell der Geschichtsbetrachtung aus der Taufe gehoben.“ (Kablitz 2008: S. 48) 36 Auch Bertrand Russel sieht in Petrarca einen der ersten modernen Menschen, wenn auch etwas vorsichtiger ausgedrückt als bei Burkhardt: „Die Weltanschauung, die wir im Gegensatz zum Mittelalter als modern bezeichnen, entstand in Italien mit der Renaissance genannten Bewegung. Anfänglich hatten nur einige wenige dieser Menschen, vor allem
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„Petrarca hat nicht nur spätere Entwicklungen der Renaissance vorweggenommen, weil er außergewöhnlich begabt und weitblickend war, er hatte auch einen aktiven Anteil an ihrer Entstehung dank der gewaltigen Anerkennung, die er bei Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolgern genoß. Wie die meisten philosophischen (und politischen) Propheten war er einer von denen, die die Zukunft voraussahen, weil sie halfen, sie in die Wege zu leiten.“ (Kristeller 1986: S. 15)
Petrarca kommt in seiner Lyrik immer wieder zum Ich zurück, was Dante Alighieri zuvor noch ablehnte. (Vgl. Kablitz 2008: S. 46) Auch wenn er noch an den Autoritäten der Antike und des Mittelalters festhielt, bleibt das autonome Ich mit seiner Selbstverantwortung und Leidensfähigkeit von nun an richtungsgebend: „Hier zeigt sich also, wozu die kopernikanische Revolution Petrarcas geführt hat: Zur Erforschung der Tiefe der Psyche, der Leiden der Seele, der Zweifel, angesichts des gegenwärtigen und zukünftigen Lebens.“ (Santagata 2008: S. 68) Ohne das schützende transzendente Obdach der göttlichen Einheit bleibt dem Subjekt aber nur das Selbst, das sich den Menschen der Zeit als zutiefst zerrissen offenbart: „Das zur Freiheit erwachte moderne Subjekt ist ein schwaches, verängstigtes, verstreutes Ich, das die volle Verantwortung für seine eigene Freiheit nicht tragen kann, weil es über sich selbst und die verschiedenen Schichten seines Bewusstseins nicht verfügt.“ (Geyer 2008: S. 151) Zu dieser Lebensstimmung passt die literarische Verarbeitung Petrarcas, der dadurch zum ersten Subjekt der Moderne stilisiert wurde. Er wird dadurch zum personalisierten Gründungsmythos der Neuzeit, die mit der Entdeckung der Entfremdung zugleich den Ausweg aus ihr zu suchen begann. Er steht hier für eine neue Weltsicht Pate, obwohl er nicht alleiniger Begründer des neuen Zeitalters war. Die Humanisten begründeten eine Epoche, in der der Mensch begann, sich ein Bild von sich selbst zu machen, die bildende Kunst Italiens wurde zum eindrücklichsten Merkmal dieser neuen Selbstreflexivität. Indiz dafür ist die Zunahme an Porträts mit menschlichem (leidenden) Ausdruck.37 Begleitet wurde dieses neue Zeitalter des Renaissance-Humanismus von enormen sozioökonomischen Umbrüchen, wie
Petrarca, diese Weltanschauung; im Verlauf des fünfzehnten Jahrhunderts aber griff sie auf die Mehrheit der gebildeten weltlichen wie geistlichen Italiener über.“ (Russell 2009: S. 503) 37 Begonnen hat dieser Prozess der Humanisierung in der Kunst des Spätmittelalters. Nicht ohne Grund verändern sich die Jesusdarstellungen mit dem Tod des leidenden Franz von Assisi (1182–1226). Bis zum 12. Jahrhundert wurde Christus am Kreuz triumphierend als Weltherrscher gemalt, ab dem 13. Jahrhundert als leidendes Subjekt. (Vgl. Wenger 1998) Ab dem 14. Jahrhundert wurden immer mehr realistische Porträts gemalt.
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sie Arnold Hauser beschreibt38, und später neuen Disziplinartechniken,39 die vermutlich auch die Lebensstimmung der Zeit so geprägt haben, dass der Mensch sich 38 Arnold Hauser beschreibt in seinem Buch Der Manierismus (Hauser 1964) das Ende der Renaissance und das Aufkommen der Selbstentfremdung als modernes Phänomen. Er argumentiert, dass der Frühkapitalismus, der moderne Verwaltungsstaat und die durchgesetzte Geld- und Zinswirtschaft eine erste gesellschaftsrelevante Welle der Entfremdung ausgelöst haben. Im Zuge dessen habe sich auch die Renaissancekunst in den Manierismus transformiert, der Ausdruck der Entfremdung gewesen sei: „Der [manieristische, J. W.] Künstler drückt seine Besorgnis, seine Bestürzung, seine Verzweiflung über eine Welt aus, in der der Geist der Entfremdung, der Entpersönlichung und Entseelung die Herrschaft gewonnen hat.“ (Ebd.: S. 110) Tatsächlich haben sich die Macht- und Produktionsverhältnisse in der Renaissance nachhaltig umgestellt. So verlagerte sich die Macht zu den bürgerlichen Familien und Unternehmern, unter deren Federführung die ersten Manufakturen entstanden. In den Hochburgen des handelsgeprägten Frühkapitalismus (Venedig, Florenz, Genua etc.) entstanden daher neue Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte. Mit ihnen verfeinerten sich auch die Technologien der Disziplinierung. Auf dem Höhepunkt der Renaissance, Ende des 16. Jahrhunderts, haben sich die neuen Institutionen dann gefestigt: „In dem seither im Zuge befindlichen und im großen und ganzen ununterbrochen gebliebenen Entwicklungsgang gab es neben den eine gewisse Erholung bietenden Ruhepunkten, wie zum Beispiel dem Mittelalter, plötzliche, revolutionäre Sprünge, deren empfindlichster sich im 16. Jahrhundert ereignete. Einen ähnlichen Sprung im Prozeß der Entfremdung erlebte die abendländische Menschheit erst wieder im letzten Jahrhundert, zur Zeit der Entstehung des modernen Hochkapitalismus.“ (Ebd.: S. 94) Entscheidend wird dieser Zeitpunkt, weil er laut Hauser auch mit einem steigenden gesellschaftlichen Bewusstsein der Entfremdungserscheinungen verbunden war. Auf dem Höhepunkt der Renaissance schlägt die Gesellschaft dann in eine Krise um und die Aufbruchstimmung war vorüber: „die Menschen fühlen sich auf einmal von allem, was ihrem Leben bisher Sinn und Ziel verliehen hat, wie abgeschnitten, von allem was ihnen vertraut war, getrennt und entfernt. Sie mögen auch früher von fremden Menschen beherrscht gewesen sein, jetzt stehen sie plötzlich fremden Mächten gegenüber. (…) Staat und Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, Rechtsprechung und Heerwesen sind zu rücksichtslosen, mit unmenschlicher Objektivität funktionierenden Automaten geworden.“ (Ebd.: S. 94) Nach Hauser waren die objektiven Arbeitsverhältnisse keineswegs schlechter, jedoch stellte sich das Gefühl von Entfremdung ein, bedingt durch die zunehmende Ferne zur eigenen Tätigkeit. Dazu kamen der intensivere Geldverkehr, der Zins in einem neuen Bankwesen, die Quantifizierung der Arbeitsprodukte und die Überblendung der subjektiven Qualitäten und Besonderheiten der Individuen, die sich zunehmend ihrer Persönlichkeit beraubt fühlten. Die persönlichen Beziehungen wurden mit der Auflösung des mittelalterlichen Feudalsystems aus Patriarchat, Willkür und Gnade zu unpersönlichen Marktbeziehungen: „Die mittelalterlichen Formen der Loyalität, der patriarchalen Fürsorge und der korporativen Solidarität, der christlichen und kameradschaftlichen Mildtätigkeit verschwinden allmählich, (…) es verlieren die meisten Vereinigungen ihre
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mit der Frage der Selbstentfremdung, jenseits göttlicher Bestimmung, zu beschäftigen begann. Mit der Renaissance wurde das autonome Subjekt und die Frage des Selbstverhältnisses wiederentdeckt und mit ihm die Theorie der Selbstentfremdung. Wenngleich es nicht die fehlende Muße der Antike war, sondern der gesellschaftliche Orientierungsverlust, der Entfremdung wieder ins Zentrum der Reflexion über das Selbst gehoben hat.
menschliche Unmittelbarkeit.“ (Ebd.: S. 103) Hauser verknüpft die Entfremdungstheorie von Marx mit den ersten frühkapitalistischen Ansätzen in den Handelsstädten der italienischen Renaissance. Seine Zeitdiagnose scheint plausibel, ist aber ohne empirische Datenlage schwer zu prüfen. Dennoch liefert sie einen Hinweis darauf, dass eine kapitalistische Ökonomie entfremdende Verhältnisse bedingen könnte. 39 Foucault, der den Begriff des autonomen Subjekts ebenso ablehnen würde wie den Begriff der Entfremdung, liefert dennoch einen historischen Überblick über das Phänomen der Entfremdung und er macht verständlich, wie diese in die Körper der Menschen einsickert. Er behauptet, dass sich seit dem 17. Jahrhundert eine Mikrophysik der Macht immer weiter in die Körper einschreibt: „Gewiß gab es seit langem viele Disziplinarprozeduren - in den Klöstern, in den Armeen, auch in den Werkstätten. Aber im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts sind die Disziplinen zu allgemeinen Herrschaftsformen geworden. Sie unterscheiden sich von der Sklaverei, da sie nicht auf dem Besitz des Körpers beruhen; das ist ja gerade die Eleganz der Disziplin, daß sie auf ein so kostspieliges und gewaltsames Verhältnis verzichtet und dabei mindestens ebenso beachtliche Nützlichkeitseffekte erzielt.“ (Foucault 2008[1975]: S. 839) Diese Disziplinierung verstärkt sich seit dem 17. Jahrhundert: „Es handelt sich immer um minutiöse, oft um unscheinbare Techniken, die aber ihre Bedeutung haben. Denn sie definieren eine bestimmte politische und detaillierte Besetzung des Körpers, eine neue ‚Mikrophysik‘ der Macht und seit dem 17. Jahrhundert haben sie nicht aufgehört, immer weitere Gebiete zu erobern – so als wollten sie den gesamten Gesellschaftskörper einnehmen.“ (Ebd.: S. 841) Achim Trebeß weist vor allem den Text „Überwachen und Strafen“ (Ebd.) als wichtigen Beitrag zur Phänomenologie der Entfremdung aus: „Es ist ein Text, der hinsichtlich der Historisierung von Entfremdung und der Analyse ihrer Phänomenalität von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Er gehört in die Begriffsgeschichte, weil er die Tiefe von Entfremdung aufzeigt, zeigt, wie sehr die Individuen den Bedingungen ihrer entfremdeten Arbeit unterworfen sind, welche den unmittelbaren ökonomischen Verhältnissen fernstehenden Bereiche, Bereiche der Machtausübung sind, der Kontrolle – bis hin zur Hygiene und den herrschenden Normen von Sauberkeit.“ (Trebeß 2001: S. 179)
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1.2 DIE BEGRIFFSGESCHICHTE DER ENTFREMDUNG VON DER MODERNE BIS IN DIE SPÄTMODERNE 1.2.1 Jean-Jacques Rousseau: Entfremdung von der guten Natur Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) gilt als der Wegbereiter der modernen Entfremdungstheorie, obwohl er keine explizit eigene Entfremdungstheorie erarbeitet hat. (Vgl. Alt 1982: S. 76; Israel 1990[1972]: S. 35; Baczko 1962: S. 224) Doch seine Phänomenologie der Gesellschaft beschreibt die Zerrissenheit des modernen Menschen eindringlich. Eine neue Vorstellung von Natur, die sich in der Aufklärung langsam durchsetzt, hatte daran entscheidenden Anteil: Der Entfremdungsbegriff ist bei Rousseau daher nicht ohne seinen Naturbegriff bzw. seine Vorstellung vom Naturzustand zu verstehen.40 Am Vorabend der französischen Revolution rückt der Mensch gleichsam als Natur- und Kulturwesen endgültig und unumkehrbar in den Mittelpunkt der Philosophie, aus dem sich später die Soziologie als eigenständiges Fach herausbildet und Entfremdung umgehend auf die Forschungsagenda setzt. Bei Rousseau wird Entfremdung zu einem soziologischen Problem: „Deutlich bei diesem Verständnis von Entfremdung ist der Bruch mit der theologischen Entfremdung zu denken. Der Bruch ist eindeutig insofern, als Entfremdung und ihre Folgen im Verkehr der Menschen untereinander entstanden sind und nur durch sie selbst überwunden werden können. Es ist aber anderseits gerade die Gesellschaftlichkeit, die die Entfernung des Menschen von seiner natürlichen Existenz ausmacht. Der von Rousseau beschriebene Naturzustand ist zwar nicht mehr gottgewollt, aber ‚naturgewollt‘.“ (Trebeß 2001: S. 11)
Damit wird auch die Schuld der Entfremdung endgültig von der Erbsünde auf die Zeitgenossen selbst verschoben: Die Menschen werden zu Subjekten der Geschichte erklärt, sie werden verantwortlich für ihre Lage und für mündig erachtet, in den Lauf der Welt einzugreifen. Im Menschenbild der Aufklärung wurde der Mensch zu einem Teil der Naturgeschichte, die nicht mehr nur Natur klassifiziert und statisch repräsentiert, sondern in ihrer historischen Entwicklung begreift. (Vgl. Meyer 2010: S. 44–48; Geyer 40 Interessant ist in diesen Zusammenhang die positive Betonung des Gefühls bei den Theoretikern der Aufklärung, wie dem 3. Earl of Shaftesbury (1671–1713) und Francis Hutcheson (1694-1746). Beide rücken die Emotionen in das Blickfeld. Das Urteilsvermögen ist nicht mehr nur auf die Vernunft begrenzt, sondern lässt auch das eigene Gefühl zu. Diese Einstellung ist prägend für die englische und deutsche Frühromantik sowie für Rousseaus Konzeption einer ursprünglichen Natur, in der Mensch und Natur sich im Einklang befinden.
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1997: S. 197–255) Im Zuge dieser Entwicklung entfaltet Rousseau einen impliziten Entfremdungsbegriff auf Grundlage eines hypothetischen Naturzustands. Der Mensch tritt durch unglückliche Zufälle aus diesem Naturzustand heraus und verfängt sich in Subjekt-Objekt-Widersprüchen. Vergesellschaftung wird zum Primat der Entfremdung und Rousseau zum ersten „Diagnostiker“ und auch „Therapeuten“ (Müller 1985: S. 60) der Gesellschaft. Er kritisiert, ähnlich wie später Hegel und Marx, nicht nur einen fatalen gegenwärtigen „Abfall“ (ebd.: S. 22) von der Natur, sondern entwirft auch ein Modell der Überwindung beziehungsweise Rückkehr zur Natur auf höherer Ebene – Rousseau antizipiert die bewusste „Schaffung einer neuen, zweiten Natur des Menschen.“ (Alt 1982: S. 150) Die Kritik im Namen einer ursprünglichen Natur ist daher nicht rückwärtsgewandt, sondern strebt einen neuen Zustand an, unter dem Gesellschaftsvertrag. Rousseau kommt der Gesellschaft als Primat der Entfremdung auf die Spur, weil er Mensch und Natur als Widerspruch denkt. Diese Annahmen werden im Folgenden kurz expliziert: Er vertrat, wie zu seiner Zeit üblich, eine Naturrechtsposition, eine statische Vorstellung von Natur und unveränderlichen Wesenszügen. Zum anderen hat er bereits ein „stark geschichtliches Menschenbild.“ (Fetscher 1968: S. 47) Diese Antinomie, zwischen unveränderlicher und prozesshafter Natur, ist Ausdruck seiner Zeit. Rousseaus Naturbegriff bleibt daher auch bis zum Schluss ambivalent: „Das Statische am Naturbegriff Rousseaus ist das Naturgesetz der Selbsterhaltung, als Hauptbeweggrund des menschlichen Handelns, von Rousseau auch Selbstliebe genannt. […] Das Dynamische am Naturbegriff ist dagegen die Freiheit. Dieses wird verstanden als unbeschränkte Offenheit und fast unbegrenzte Wandlungsfähigkeit (Perfektibilität) der menschlichen Natur.“ (Alt 1982: S. 145)41
Der Naturzustand und der Gesellschaftszustand des Menschen sind für Rousseau grundsätzlich divergierend. Den wahren authentischen Menschen sieht er im Naturzustand, frei von Geschichte und Gesellschaft. Er lebte in ihm frei, glücklich und unabhängig, ohne Grund und Absicht, diesen Zustand zu verlassen. Sein Wille ist absolut frei, da er nur seine autarken Bedürfnisse kennt und diese alleine ohne äußere Einflüsse befriedigen kann. Jede Begegnung dient höchstens der Fortpflanzung oder einem kur41 Buck bezeichnet die Perfektibilität auch als „Grundtheorem der neuzeitlichen philosophischen Anthropologie.“ (Buck 1984: S. 108) Man muss Perfektibilität als Potenz des Werdens verstehen, in dem positive wie negative Komponenten entstehen und vergehen können. Die Entdeckung der Perfektibilität als Grundausstattung des Menschen ist Voraussetzung der Soziologie. Buck spricht auch von „Instinktreduktion und Entdifferenzierung, d. h. als Modifikabilität der Antriebe, als Unbestimmtheit.“ (Buck 1984: S. 109)
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zen Kampf um Lebensmittel. Der Mensch im Naturzustand unterliegt einer instinktiven und natürlichen Selbstliebe (amour de soi)42, er lebt nur nach seinen Bedürfnissen der physischen Selbsterhaltung. Den Naturzustand rekonstruiert Rousseau als hypothetische Annahme.43 Er versucht den solitären und beziehungslosen Menschen zu rekonstruieren, um einen Maßstab der Kritik zu erhalten. Natur ist dabei eine „Metapher für die ursprüngliche, die naturhaft-kindliche Einheit des Menschen mit sich selbst – für eine geschichtlich (wie biographisch) verlorene Einheit“ (Müller 1985: S. 28) bzw. „Identität des Menschen mit sich selbst.“ (Alt 1982: S. 145) Rousseau konstruiert so einen sprachlosen, beziehungslosen, nicht-reflexiven und vorsozialen Menschen,44 der Interaktion nur als lose kurze Assoziation erfährt. Die Antinomie von Natur und Gesellschaft wird zur Antinomie von Freiheit und Gesellschaft. (Vgl. ebd.: S. 94) Der ungesellschaftliche Mensch verfügt über einen freien Willen, da er nur sich selbst verpflichtet ist, er ähnelt damit dem Tier – erst in Gesellschaft gerät er unter den Zwang der Beziehung und Interaktion: Freiheit und Authentizität gehen verloren und mit ihnen le sentiment de l'existence, das Gefühl des Naturmenschen, dessen Freiheit Rousseau mit einer radikalen Innerlichkeit bzw. Subjektivität definiert. Diese autonome Subjektivität des authentischen Menschen im unberührten Naturzustand wird ihm in Gesellschaft genommen, in die er nur aus Gründen der Organisation gegen Naturkatastrophen eintrat. (Vgl. Israel 1990[1972]: S. 34) Der Mensch verstrickt sich in Abhängigkeiten und verfällt daher in die „Raserei, sich zu unterscheiden.“ (Rousseau 1990[1755]: S. 257) Je größer die Abhängigkeiten werden, desto stärker wächst der Wunsch nach Individualität, und ein Konkurrenzkampf beginnt. Schließlich wird der Mensch den Kräften des Sozialen unterworfen: „Der Wilde lebt in sich selbst; der soziable Mensch weiß, immer außer sich, nur in der Meinung der anderen zu leben, und sozusagen aus ihrem Urteil alleine bezieht er das Gefühl seiner eigenen Existenz.“ (Rousseau zit. nach Trebeß 2001: S. 14)
42 Dieses Motiv des Willens zur Selbsterhaltung und Selbstliebe war in der Aufklärung seit Hobbes legitim. Das Subjekt will Subjekt sein, es will es selbst sein und bleiben. Daher schreibt Buck: „Das Subjekt, dessen wahrhafte Entdeckung Hegel philosophiegeschichtlich Rousseau zuschreibt, – das Subjekt hat die einzige Sorge, Subjekt zu sein. Diese Sorge macht es zum Subjekt.“ (Buck 1984: S. 160) 43 Ob Rousseau den Naturzustand immer nur hypothetisch sah oder ob dieser seiner Meinung nach real existierte, ist unklar und bleibt offen. (Vgl. Alt 1982: S. 83) Für die Forschung ist dies jedoch irrelevant, da der Naturzustand ohnehin nicht (wieder) herzustellen sei. (Vgl. Müller 1985: S. 28) 44 Rousseau versucht alle Eigenschaften der Zeitgenossen, die durch Gesellschaft zustande gekommen sind, zu subtrahieren – neben Neid und Hass verschwinden somit auch Vernunft und Sprache.
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Mit seiner perfectibilité, der Vervollkommnungsfähigkeit, die ihn vom Tier unterscheidet, passt sich der Mensch der Gesellschaft an. Perfectibilité meint die grundsätzliche Offenheit für Transformationsprozesse menschlicher Natur und damit die Fähigkeit, über seinen Naturzustand hinauszugehen. In Gesellschaft wird diese Fähigkeit zur Ursache der Entfremdung: „Es hat sich eine Diskrepanz zwischen être und paraître entwickelt, zwischen dem faktischen Sein des Menschen, sozusagen seiner ‚wahren‘ Persönlichkeit, und dem Bild seiner selbst, das er zu schaffen trachtet.“ (Israel 1990[1972]: S. 34) Der Mensch erfindet Werkzeuge, Sprache, Wissenschaft und Künste. Es entstehen Privateigentum, Institutionen und Arbeitsteilung: Für Rousseau, wie später für Marx, die Grundlage der Ungerechtigkeit und die Einschränkung menschlicher Freiheit.45 Der Triebimpuls der amour de soi, des Selbsterhalts, wird zur amour propre, zur konkurrenzgeprägten Eigenliebe oder Selbstsucht. Das glückliche und unbekümmerte Sich-selbst-Sein wird zum Narzissmus, der nur in Gesellschaft entstehen kann. Der Mensch, angetrieben von der Selbstsucht, definiert sich nur noch über die Meinung der anderen: Ein chaotischer Zustand entsteht und das Böse und Schlechte kommt in die Welt. Der Mensch verschleiert seine Natur und seine Absichten, er steht außer sich und ist sich selbst entfremdet. Der Mensch unter der amour propre findet seinen Maßstab nicht mehr in der Befriedigung ursprünglicher Bedürfnisse, sondern wählt außer ihm liegende gesellschaftliche Maßstäbe, die ihn entfremden: „Der Mensch in Gesellschaft ruht nicht mehr in sich. Sein Dasein ist gebrochen, sein Bewußtsein reflektiert, durch andere vermittelt, Er hat ein relatives Ich. Er ist seiner ursprünglichen Natur entfremdet. Er setzt sich in Widerspruch zu sich, das heißt zu dem, was von ihm ursprünglich durch diese „Natur“ bestimmt war oder bestimmt gewesen wäre.“ (Müller 1985: S. 27)
Das nach dem Selbst strebende Subjekt entwirft sein Selbst aus der Meinung (opinion) der anderen und damit wird jeder dem anderen nur noch Mittel zum Zweck der Identitätsstiftung. Dieses Paradox, das die widerspruchsfreie Subjektivität in die komparative Existenz verstrickt, hält den Menschen in Gesellschaft. (Vgl. Buck 1984: S. 100) Die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich so sehr mit dem Subjekt verzahnt, dass kein Zurück mehr möglich scheint. Im Gegenteil: Der Drang nach ursprünglicher Freiheit führt zu der Herrschaft des Menschen über seine Mitmenschen. Ausweg bietet nur noch eine Wiederherstellung der Ordnung durch den Gesellschaftsvertrag. 45 Ähnliche Gedanken äußert Marx später in der Deutschen Ideologie. (Vgl. Israel 1990[1972]: S. 34)
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Da für Rousseau eine Rückkehr in den Naturzustand, wie ihm Voltaire vorwarf, ausgeschlossen war, entwickelte er das Konzept des volonté générale, des allgemeinen Willens, dem sich die Menschen unterwerfen sollen. Das bedeutet eine radikale Vergesellschaftung, in der der Naturzustand vollkommen verschwunden ist – der Mensch soll sich nicht mehr mit der Natur, sondern radikal mit der Gesellschaft identifizieren und in ihr aufgehen, um Identität mit sich selbst auf einer anderen Ebene wiederherstellen zu können. (Vgl. Alt 1982: S. 150) Entfremdung wird hier als totale Entäußerung der eigenen Identität und der dazugehörigen Rechte unter den Gesellschaftsvertrag verstanden. Da jeder unter dem Gesellschaftsvertrag steht, bildet sich eine herrschaftsfreie sittliche Freiheit für alle, ein gemeinsames Ich, in dem alle Sonderinteressen im Allgemeinwillen aufgehoben sind. Rousseau benutzt den Begriff aliénation, wie zu der Zeit üblich, als juristischen Begriff im Sinne von Entäußerung. Die Freiheit und die Rechte des Einzelnen sollen der Gemeinschaft entäußert werden. „Das Wort verwendet Rousseau – in der Tradition der Naturrechtslehre – […] für ökonomisch-juristische Vorgänge.“ (Trebeß 2001: S. 11) Da eine Wiederherstellung von Identität nur noch gesellschaftlich möglich ist, kann Rousseau nicht mehr mit dem Naturrecht argumentieren. Er entwickelt folglich den contrat social als freiwillige Vereinbarung. An die Stelle der Natur soll der Allgemeinwille gesetzt werden. Autonome Subjektivität soll dabei nicht gestärkt, sondern entäußert werden, um eine gemeinsame Identität zu vermitteln: Der Citoyen hat seinen Eigensinn dem Gemeinwohl anzuvertrauen, dafür tritt er in einen ordnenden Naturzustand zweiter Ebene, er geht in zweiter Natur auf. Der Gesellschaftsvertrag birgt erhebliche Schwächen (vgl. Alt 1982: S. 144) und kann kaum als funktionierendes Konzept zur Überwindung von Entfremdung gesehen werden.46 Rousseau kann nicht zureichend beantworten, wer den volonté générale bilden und durchsetzen kann. Auch die Konstruktion des natürlichen Menschen ist bei Rousseau fragwürdig. Marx kritisierte den individuellen Menschen bei Rousseau mit dem Verweis darauf, dass der vergesellschaftete Mensch der natürliche Mensch sei.47 Daher verwendet er stattdessen den Begriff des Gattungswesens. So sehr Rousseaus Konzeption des Gesellschaftsvertrags Schwächen hat, die Entdeckung der Historizität (vgl. Müller 1985: S. 24; Fetscher 1968: S. 62– 64) eröffnet eine neue Sicht auf das Subjekt, es ist von nun an in Raum und Zeit der Geschichte verstrickt, die es beschädigen und zwingen, außer sich zu leben.48 46 So beschreibt beispielsweise Julia Simon-Ingram die Gefahren des Totalitarismus in der Staatskonzeption Rousseaus. (Vgl. Simon-Ingram 1991: S. 331–335) 47 Marx macht diesen Unterschied vor allem in der „Deutschen Ideologie“ und späteren Schriften. Zur Kritik von Marx an Rousseau. (Vgl. Israel 1990[1972]: S. 36–37) 48 Das Subjekt, welches zuvor von René Descartes in den Mittelpunkt der Philosophie gestellt wurde, autonom und zeitlos, erschien nun geschichtlich: „Die epochale Entdeckung
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Das gute Leben ist für Rousseau ein widerspruchsfreies Leben, in dem das Subjekt vollends in zweiter Natur aufgeht: Dieses ethische Prinzip setzt sich fort. Rousseaus Werk findet in ganz Europa anklang, besonders in der deutschen Romantik an der Schwelle zum 19. Jahrhundert. Bei bedeutenden Vertretern wie Schiller erhält sich die Vorstellung eines Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft. Die gestörte Harmonie zwischen Natur und Mensch im Zeitalter der Industrialisierung verschärfe die Entfremdung des Menschen von seinen anthropologischen Grundkonstanten, so die deutsche Romantik. 1.2.2 Entfremdung in der Philosophie Hegels Das Phänomen Entfremdung ist bei Hegel in drei Begrifflichkeiten klassifiziert: „Entfremdung wird bei Hegel weitgehend synonym mit Entäußerung und Entzweiung gebraucht. Wie viele komplexe Begriffe Hegels ist auch der Entfremdungsbegriff ‚trichotomisch‘ strukturiert: Entzweiung ist der formale, logische, ‚Entäußerung‘ der naturphilosophische und ‚Entfremdung‘ der geistesphilosophische Aspekt. Der solchermaßen dreigliedrige Entfremdungsbegriff folgt also in seiner Struktur der Struktur des Hegelschen Systems (Logik, Geistesphilosophie und Naturphilosophie) und ist in Verbindung mit dem Gegenbegriff der ‚Aufhebung‘ ein Grundbegriff der Hegelschen Philosophie überhaupt.“ (Nicolaus 1995: S. 66)
Vor allem der Begriff Entzweiung nimmt in Hegels Frühwerk, besonders in der „Differenzschrift“ von 1801, eine zentrale Stellung ein. Das Hegel’sche Frühwerk lässt sich daher auch als „romantische Philosophie“ (Nicolaus 1995: S. 64–67) bezeichnen, in der die wachsende Entfernung zwischen den Menschen und der Gesellschaft, Natur, Welt und Gott das Hauptthema ist. Durchaus zu verstehen im Sinne der christlichen Theologen und den Theoretikern der Renaissance. Zerrissenheit ist ein elementares Motiv in Hegels Zeit, denn sie ist eine Reaktion auf die Industrialisierung, fortschreitende Arbeitsteilung,49 die Erschütterung des Glaubens an Gott nach dem Erdbeben von Lissabon 1755 und die Französische Remenschlicher Historizität, wie sie das dritte Viertel des 18. Jahrhunderts charakterisiert, mußte die Autonomie des Cartesischen Subjekts nachhaltig erschüttern.“ (Hagenbüchle 1998: S. 2) 49 Bereits in den ersten Schriften von Hegel, wie den „Theologischen Jugendschriften“, findet sich eine Theorie der Entfremdung als Folge des Privateigentums, wie Herbert Marcuse herausgearbeitet hat. (Vgl. Marcuse 2004[1962]) Gesellschaftliche Institutionen und Privateigentum verhindern demnach die Befriedigung von Bedürfnissen und führen zur Entfremdung.
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volution 1789. Aus diesem Zeitgeist heraus entsteht das Primat von Hegels Philosophie: „Entzweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie.“ (Hegel 1986[1801]: S. 20) Er postuliert damit die Aufhebung der Entzweiung als Aufgabe der Philosophie. Denn erst die Vernunft vermag es, die Entzweiung in eine objektive und eine intellektuell subjektive Welt zu versöhnen. Die Entzweiung lässt sich rückgängig machen, indem die Philosophie sie reflektiert und sich ihrer Trennung erinnert.50 Hegel operiert jedoch nicht mehr, wie Rousseau oder auch Schiller, mit einem idealen Natur-Urzustand, aus dem der Mensch herausgetreten sei, da dieser Gedankengang selbst bereits durch ein entfremdetes Bewusstsein konstruiert wurde. Das Bewusstsein kann sich dementsprechend nicht mit dem Verlassen des Naturzustands entzweit haben: So „kann die Ph.d.G [Phänomenologie des Geistes, J. W.] nicht mit einem, wenn auch nachträglich gelieferten, Ur-Status oder einem historischen Idealstatus operieren, wie das Rousseau und Schiller in ihrem Geschichtsentwurf tun.“ (Buck 1984: S. 180) Hegel operiert daher mit einem wesentlich komplexeren Modell der subjektiven und sozialen Welt. Dementsprechend entwirft er in der Phänomenologie des Geistes ein universales System des Absoluten Idealismus. Eine Systemtheorie, die den Anspruch hat, alles 50 In Hegels eigenen Worten: „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie. Es ist insofern eine Zufälligkeit, aber unter der gegebenen Entzweiung der notwendige Versuch, die Entgegensetzung der festgewordenen Subjektivität und Objektivität aufzuheben und das Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkte als ein Produzieren zu begreifen. In der unendlichen Tätigkeit des Werdens und Produzierens hat die Vernunft das, was getrennt war, vereinigt und die absolute Entzweiung zu einer relativen heruntergesetzt, welche durch die ursprüngliche Identität bedingt [ist]“ (Hegel 1986[1801]: S. 21) oder „Die Gegensätze, die sonst unter der Form von Geist und Materie, Seele und Leib, Glaube und Verstand, Freiheit und Notwendigkeit usw. und in eingeschränkteren Sphären noch in mancherlei Arten bedeutend waren und alle Gewichte menschlicher Interessen an sich anhängten, sind im Fortgang der Bildung in die Form der Gegensätze von Vernunft und Sinnlichkeit, Intelligenz und Natur [und], für den allgemeinen Begriff, von absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität übergegangen. Solche festgewordenen Gegensätze aufzuheben, ist das einzige Interesse der Vernunft.“ (Ebd.: S. 21) Und wenige Zeilen weiter erläutert er: „Je weiter die Bildung gedeiht, je mannigfaltiger die Entwicklung der Äußerungen des Lebens wird, in welche die Entzweiung sich verschlingen kann, desto größer wird die Macht der Entzweiung, desto fester ihre klimatische Heiligkeit, desto fremder dem Ganzen der Bildung und bedeutungsloser die Bestrebungen des Lebens, sich zur Harmonie wiederzugebären.“ (Ebd.: S. 21–22)
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auf das Eine und gleichzeitig auf seine Verflechtungen untereinander zu beziehen. Für Hegel besteht alle Materie nur aus Vergegenständlichungen des Geistes. Der Geist ist daher das „absolut Erste“ (Hegel 2009[1830]: S. 16), das sich in die materielle Vielfalt der Welt entfremdet hat und zu seiner Rückkehr strebt, in ihm gelangt die Idee wieder „zu ihrem Fürsichsein.“ (Ebd.) Hegel beschreibt deskriptiv die dialektische Bewegung des Weltgeistes, den der Philosoph bei seiner Entfaltung betrachten soll, während dieser zugleich im Philosophen denkt. Entfremdung ist so in einer geistesgeschichtlichen Perspektive zu verorten. Der Geist 51 ist das Absolute und einzige Prinzip der Welt, aber er ist zerrissen: „Was ist aber der Geist? Er ist das Eine, sich selbst gleiche Unendliche, die reine Identität, welche zweitens sich von sich trennt, als das Andere ihrer selbst, als das Fürsich- und Insichsein gegen das Allgemeine.“ (Hegel 1986[1924]: S. 390) Hegel beschreibt hier, dass der reine Geist sich erst selbst identisch war, ohne Entfremdung und ganz bei sich, und sich anschließend in Raum und Zeit beziehungsweise Natur und Geschichte entfremdet. Damit partikularisiert sich der Geist und entwickelt in den Subjekten ein Für-sichSein. Dieses Besondere der Subjektivität steht dem objektiven Allgemeinen gegenüber. Beides sind jedoch Veräußerungen des einen Geistes, er verstrickt sich dementsprechend in sich selbst, ohne es zu merken. In Hegels idealistisches System ist jedoch eine automatische Vernunft eingearbeitet, die den Weltgeist zu sich selbst zurückstreben lässt, zu seinem Selbstbewusstsein. Die Geschichte ist daher der Gang dieses Weltgeistes, der wieder zur wirklichen Wahrheit bzw. Freiheit in der Selbstidentität strebt und damit ein „werdendes Wissen“ (Trebeß 2001: S. 47) von der Trennung und seiner Überwindung ist.52 Damit der Geist sich aber selbst wieder bewusst werden kann, muss er seine Entfremdung rückgängig machen. Aus diesem Grund muss er sich zunächst im Subjekt verwirklichen. Dieses ist daher bloß Mittel des Geistes, um das absolute Wissen wiederzuerlangen. Das führt zu einer Reihe von Phänomenen, die Hegel beschreibt. Der Gang vollzieht sich von der „sinnlichen Gewißheit“ bis zum „Selbstbewusstsein“. Die einzelnen Schritte dieser Bewegung des Geistes vollziehen sich dialektisch. Auftretende Widersprüche heben sich zu einer höheren Stufe auf und
51 Der Weltgeist bei Hegel entspricht Gott, seine Theorie enthält somit immer das Primat des lenkenden Gottes. 52 Joachim Israel fasst Hegels Kerngedanken der Phänomenologie des Geistes nach Sydney Hook äußerst kurz zusammen: „Für Hegel ist Geschichte der Weg des Geistes zur Freiheit. Freiheit kann nur im Selbstbewusstsein gefunden werden. Gott ist das absolute Selbstbewusstsein. Geschichte ist daher die Autobiographie Gottes.“ (Israel 1990[1972]: S. 42)
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sollen im absoluten Wissen münden. Dies wird im Folgenden ausführlicher beschrieben: In einem ersten Schritt bildet sich subjektives Bewusstsein. Dieses ist Ergebnis der „sinnlichen Gewißheit“, die durch die „Unmittelbarkeit meines Sehens, Hörens“ (Hegel 1986[1807]: S. 86) entsteht. Der Geist registriert so seine Umwelt und lernt sich dadurch zu unterscheiden. Das Ich entsteht gerade durch das Sich-von-sichUnterscheiden (vgl. Hegel 2009[1830]: S. 199–201), in dem Subjekt und Objekt getrennt werden. Das so entstandene Bewusstsein wähnt sich zunächst unabhängig, verstrickt sich aber dann mehr und mehr in die Abhängigkeiten, wenn es bemerkt, dass das Fremde seine Eigenständigkeit bewahrt. „(I)nsofern unterliegt alles Bewußtsein einem Zwang, in der Anerkennung eines Fremden, das es sich gegenübersetzt, sich zugleich an dieses Andere seiner selbst zu verlieren: Bewußtsein ist wesensmäßig Außer-sich-Sein; es ist, in der Anerkennung des Fremden als Fremdem, Selbstvergessenheit und Selbstentfremdung.“ (Buck 1984: S. 182)
Damit versagt ein erster Identitätsentwurf des Subjekts, in dem sich dieses als Singulär gesetzt hat. Die Singularität ist nicht aufrechtzuerhalten, die objektive Welt bleibt fremd. Das Subjekt, genauer der Geist in ihm, erkennt sich selber nicht in den Objekten der Welt. Die Identitätskrise ist daher das Ergebnis einer Differenz zwischen Sein und Denken. Der Geist wird durch diese Entfremdung angetrieben und eignet sich dann die Welt an, indem er sich vergegenständlicht und danach die Vergegenständlichung wieder aneignet. Das ist der Kern der Philosophie, wie sie Hegel versteht. Der Geist entäußert sich in die (Gegenstands-)Welt und entgegenständlicht diese anschließend, er hebt sie auf: „Der Geist wird aber Gegenstand, denn er ist diese Bewegung, sich ein Anderes, d. h. Gegenstand seines Selbst zu werden und dieses Anderssein aufzuheben. Und die Erfahrung wird eben diese Bewegung genannt, worin das Unmittelbare […] sich entfremdet und dann aus dieser Entfremdung zu sich zurückgeht und hiermit jetzt erst in seiner Wirklichkeit und Wahrheit dargestellt wie auch Eigentum des Bewußtseins ist.“ (Hegel 1986[1807]: S. 37–38)
Die Erfahrung führt zum Zusammenbruch der alten Identität und zum Entstehen einer neuen. Es findet eine fortdauernde Dialektik statt: Wissen und Wirklichkeit bilden ihr Spannungsfeld, „wenn seine [des Bewusstseins] Normen mit seinem effektiven Sein konfrontiert werden.“ (Taylor 1978: S. 188) Das Subjekt muss so der Welt seine Fremdheit nehmen, sich in ihr erkennen. Dies tut es durch die Kraft des Denkens: „Indem ich einen Gegenstand denke, mache ich ihn zum Gedanken und nehme ihm das Sinnliche, ich mache ihn zu etwas, das wesentlich und unmittelbar das Meinige ist: denn erst im
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Denken bin ich bei mir, erst das Begreifen ist das Durchbohren des Gegenstandes, der nicht mehr mir gegenübersteht und dem ich das Eigene genommen habe, das er für sich gegen mich hatte. Wie Adam zu Eva sagt, du bist Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein, so sagt der Geist, dies ist Geist von meinem Geist, und die Fremdheit ist verschwunden.“ (Hegel 2013[1820]: S. 47)
In dieser Aneignung durch das Denken verschwindet das Fremde. Die Zerrissenheit zwischen Subjekt und Objekt wird überwunden und der Geist ist ein Stück mehr bei sich. Dennoch scheitert das Bei-sich-Sein des Subjekts fortwährend an der Verschränkung mit der äußeren Wirklichkeit: Subjekt und Allgemeinheit verstricken sich in den „Widerspruch der Selbständigkeit beider Seiten und ihrer Identität, in welcher sie aufgehoben sind.“ (Hegel 2009[1830]: S. 200) Das Subjekt durchdringt die Gegenstände aber nicht nur Kraft des Denkens, sondern auch durch Arbeit. Es macht sie sich praktisch zu eigen, bis es sich in ihnen reflektieren kann und so die Wirklichkeit verdoppelt: Subjekt und Objekt spiegeln sich. Die äußere Wirklichkeit wird so zu einer eigenen Wirklichkeit umgestaltet. Das Subjekt überwindet die Entfremdung in der Angleichung der objektiven Welt an sein Ebenbild: „Die Selbsterkenntnis des Subjekts setzt voraus, die ihm gegenüber äußerliche Welt des Objekts als fremde zu setzen und sich zugleich dieser ihm nun fremd gegenüberstehenden Welt zu bemächtigen, um sie als eigene wirklich zu machen, wie sich als Subjekt wirklich zu machen (sich als solches selbst zu erkennen), und dieser Prozeß ist möglich nur vermittelt durch die Arbeit. Mit der Arbeit, als Entäußerung des Subjekts an die Wirklichkeit, als seine tätige Selbstverdoppelung, als sein Durchdringen der Wirklichkeit, erzeugt es die Wirklichkeit als seine Wirklichkeit, wie es sich in dieser nun doppelt eigenen Wirklichkeit zugleich selbst zu erkennen vermag.“ (Trebeß 2001: S. 47)
Dieses Vergegenständlichungsmodell bildet später den Kern der Entfremdungstheorie des jungen Marx. Eine Skizzierung an dieser Stelle bietet sich daher an. Im Prozess der Vergegenständlichung und Aneignung entwickelt sich Identität. Daher sind Vergegenständlichung und Aneignung Werkzeuge der Selbsterfahrung. Diese ist erst im Medium der Objekte (Dinge oder Menschen) möglich, also reflexiv. Die so gewonnene Identität ist aber brüchig und konstituiert sich stetig neu, bis der Geist mit der Welt identisch ist (absolutes Wissen). Für Hegel ist der Erkenntnisprozess aber nur ein scheinbarer, da der Geist das Anzueignende immer schon war. „‚Scheinbar‘ deswegen, weil der (absolute) Geist am Ende seines Prozesses der Selbsterkenntnis einsieht, dass das Andere immer schon mit ihm identisch war. Auch auf diese Weise könnte der Geist in sich zurückgehen. Der absolute Geist ist ebenso ewig in sich seiende als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität. Der Geist als absolutes Subjekt macht
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sich zum Objekt und begreift sich nach einem langwierigen Prozess als mit diesem Objekt identisch. Aussagen wie diese bestimmen offensichtlich den Geist als ein metaphysisches Übersubjekt, letztlich als Gott.“ (Ritsert 2007: S. 49)
So eignet sich der Geist fortschreitend die Welt an, dafür werden die Objekte angeglichen und angeeignet, da sie seinen Absolutheitsanspruch stören. Auf dem Weg zur Selbstgewissheit scheint der Geist unaufhaltsam und die Aufhebung der Trennung von subjektiver und objektiver Welt deutet sich an. An dieser Stelle tauchen bei Hegel aber plötzlich andere Mitsubjekte auf. Er beschreibt diesen Vorgang in seinem berühmten Abschnitt über Herr und Knecht. (Vgl. Hegel 1986[1807]: S. 145–155) Hier müsste das Subjekt das andere Subjekt vernichten: „Einer geht auf den Tod des anderen, um die Selbstentfremdung rückgängig zu machen.“ (Buck 1984: S. 184) Die Negation des Feindes, in einem „Kampf auf Leben und Tod“ (Hegel 1986[1807]: S. 149), wäre der Tod, da das andere Subjekt auch Teil des Geistes ist. Der Andere muss also am Leben bleiben und dennoch seine Fremdheit verlieren. Die Anerkennung kann daher nur beidseitig funktionieren: „Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist; d.h. es ist nur als ein Anerkanntes.“ (Ebd.: S. 145) Der Sieger des Kampfes wird daher zum unabhängigen Herrn, der seinen Knecht in Abhängigkeit lässt. „Der Sieger hat erreicht, was er wollte: Anerkennung als Fürsichsein, Selbstbewußtsein; er ist nicht primär vom Leben abhängig. Für den Sklaven oder Knecht ist das Leben von primärer Wichtigkeit, aber er ist einer äußeren Existenz untergeordnet, über die er keine Kontrolle hat.“ (Taylor 1978: S. 210)
Der Knecht hat fortan die Aufgabe, die äußere Welt, die Dinge der äußeren Welt, für den Herrn zu bearbeiten und bereitzustellen. Der Herr genießt die Dinge. Er kann sich jedoch nicht im Knecht widerspiegeln, die Anerkennung durch ihn bleibt nutzlos. Der Herr verharrt in seiner Situation, er genießt und konsumiert die Ergebnisse der Arbeit seines Knechtes. Die Dinge der objektiven Welt, die der Herr nur in einer Genuss-Beziehung kennenlernt, sind für den Knecht harte Arbeit. Sie sind für ihn widerständige, unabhängige und rohe Dinge, die er mühsam bearbeiten muss. Hier findet langsam eine Umwälzung statt. Der Herr, der sich bei sich wähnt und in Anerkennung nur noch konsumiert, fällt in „einen Zustand des Stumpfsinnes“ (Taylor 1978: S. 212) zurück. Der Knecht hingegen beginnt sich in die objektive Welt zu entfremden und kehrt aus dieser verwandelt zurück, er eignet sich mittels harter Arbeit die Welt an. Oder genauer: Die Produkte des Knechts sind Ausdruck seiner schöpferischen Leistung und es setzt der Prozess aus Entfremdung und Aneignung, der die Subjektivität bildet, wieder ein:
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„Die Arbeit als Erfahrung der Widerständigkeit des Wirklichen und als Disziplinierung unserer eigenen Wunschbefangenheit hat diesen doppelten Erfahrungscharakter, durch den sich die Erkenntnis und mit ihr die Haltung des Erkennenden selbst wandeln, d. h. im Prozeß einer Bildung begriffen sind.“ (Buck 1984: S. 189)
Indem sich der Knecht die objektive Welt so Schritt für Schritt aneignet, gewinnt er seine Identität, nach dem Modus von Vergegenständlichung und Aneignung. Deutet man die Anerkennung als Grundlage der Sozialität, als gegenseitige „‚Anerkennung‘ – [der] wechselseitige[n] Beschränkung der eigenen, egozentrischen Begierde zugunsten des jeweils Anderen“ (Honneth 2010: S. 32), dann wird klar, dass sich Entfremdung grundsätzlich in intersubjektiven Verhältnissen bewahrt. So bleibt auch das Subjekt auf dieser Stufe im „Gefühl seines Unglücks“ (Hegel 1986[1807]: S. 174) und strebt weiter nach Selbstidentität. Der Geist erkennt seine Atomisierung und die Grenzen seines Absolutheitsanspruch und verfällt in ein „unglückliches Bewußtsein“ (ebd.: S. 154–177) in der Erkenntnis der unüberbrückbaren Entfremdung von Subjekt und Objekt.53 So lässt sich Entfremdung in der Phänomenologie des Geistes folgendermaßen zusammenfassen: Bei Hegel ist Entfremdung ein Sich-fremd-Machen, eine Selbstentfremdung. Zunächst entfremdet sich der Geist in die Natur und die Geschichte, in der er wieder zurück zum Ganzen strebt. Diese Bewegung des Geistes führt ihn in die Menschen, die einzig vernunftbegabten Wesen. So findet in der Tier- und Pflanzenwelt auch nur ein ewig-tautologisches Entstehen und Vergehen statt, während menschliche Kultur die inhärente Kraft hat, eine dialektische Aufwärtsspirale in Gang zu setzen. Zu diesem Zweck entfremdet sich das Subjekt, der Geist in ihm, in die äußere Welt, um über den Prozess der Aneignung, vermittelt durch (philosophische) Arbeit, zum Absoluten zu gelangen: Mühsam entfalten die Gedanken passende Begriffe, die sich mit den Dingen decken sollen, sie durchdringen und ihre Fremdheit nehmen sollen. Aus dem Zustand des passiven Bewusstseins und der Registrierung der Umwelt konstituiert sich Subjekt und Objekt, das Ich und das Andere. Selbstbewusstsein ist verbunden mit dem stetigen Versagen des eigenen Identitätsentwurfs und der Neukonstitution durch (Begriffs-)Arbeit. Aber erst die soziale Welt lässt die Identität aus der Intersubjektivität schöpfen. Der Prozess wird durch die Anwesenheit des anderen, der nicht wie ein Ding aus der objektiven Welt negiert werden kann, gestört und die Subjekte verharren in einer permanenten Entfremdung. Die Anerkennung begrenzt die Begierden in den Subjekten und drängt den tödlichen Kampf in ein befriedetes Herrschaftsverhältnis von Herr und Knecht. Beide existieren entfremdet, der eine durch entfremdeten Genuss, der andere durch
53 Ein Begriff der später, materialistisch gewandelt, bei Herbert Marcuse wieder auftaucht.
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entfremdete Arbeit. Die fortschreitende Entfremdung hält das Streben nach Erkenntnis und den Prozess der Bildung offen. Hegel beschreibt diesen Entfremdungsprozess in seiner Gymnasialrede von 1809 konkreter. In dieser kehrt die Vorstellung einer positiven Entfremdung zurück. In seiner bildungstheoretischen Rede von 1809 beschreibt er den Sündenfall als Ausgangspunkt und die Rückkehr ins Paradies als Zielpunkt von Bildung. Die Rede als Rektor ist eine konkrete Variante seines Gedankengangs aus der Phänomenologie des Geistes. Entfremdung ist hier eine notwendige Täuschung, um den Geist anzuregen (vgl. Henning 2015: S. 83) und damit eine „zweckmäßige Selbsttäuschung.“ (Ebd.: S. 84) Die Negativität der Entfremdung als Voraussetzung von Selbsterkenntnis durch Bildung wird von Hegel positiv gedeutet: „[E]rst Hegel hat seit der ‚Phänomenologie des Geistes‘ die Negativität wirklich positiv begriffen.“ (Buck 1984: S. 178) Hegel betrachtet Entfremdung daher auch nicht im Sinne einer besonderen Gesellschaftsdiagnose s(einer) Zeit, sondern als allgemeinen teleologischen Verlauf. Entfremdung verändert sich hier von der Frage nach geglücktem Dasein und der damit einhergehenden Zeitkritik zu einer reinen Funktion der Bildung. (Vgl. ebd.: S. 178) Auf die Praxis der Bildung bezogen ergibt sich für Hegel, dass Entfremdung die Vorbedingung für Bildung ist und somit wird Entfremdung zur conditio humana. Nach Buck reduziert Hegel die Entfremdung damit auf das „lernpsychologische“ (ebd.: S. 179) Motiv der erhöhten Aufmerksamkeit für alles fremdartige Neue. Hegel betont die Notwendigkeit von Entfremdung, um überhaupt Aneignen zu können, um überhaupt etwas lernen, verstehen oder tun zu können. Erst mit der disziplinierten Arbeit an den Gegenständen und der daraus resultierenden Bildung gelingt ein Menschwerden. Je sperriger der sich-zu-eigen gemachte Gegenstand war und je mehr Kraft in seine Aneignung gesteckt wurde, desto mehr wird Entfremdung aufgehoben. Hegel bleibt bei seiner Verwendung des Entfremdungsbegriffs einer bildungstheoretischen bzw. erkenntnistheoretischen Perspektive verhaftet, die für ihn schlussendlich eine theologische ist. Bei Rousseau wurde Entfremdung ins Zentrum der Gesellschaftskritik gerückt, bei Hegel verliert der Begriff hingegen seine gesellschaftskritische Sprengkraft. Er wird zum Bewegungsmoment der Teleologie; vom objektiven Geist über das materielle Subjekt hin zum absoluten Wissen. Erst das Fremde (fremd ist es nur, weil es unerkannt ist) regt das Subjekt zum Aneignen an und damit zum Streben zurück zur absoluten Einheit. Im Hegelschen Idealismus wird Entfremdung 1. 2.
als Durchgangsstation des Geistes zum absoluten Wissen begriffen (Makro-/Systemebene) und auf einen bildungstheoretischen Denkprozess des menschlichen Subjekts reduziert (Mikroebene).
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Maßgebend für Marx und neomarxistische Theorien wurde das Vergegenständlichungsmodell: Das Subjekt kann sich nur erkennen und verwirklichen durch seine tätige Verdopplung in die Welt (es muss sich zum Gegenstand machen) und diese Vergegenständlichung anschließend aneignen. Der Geist will mit sich identisch sein und die Entfremdung überwinden, dafür muss er sich selbst, mittels seiner Objektivierung, erfahren. 1.2.3 Entfremdung im Werk von Karl Marx Der Imperativ Marx’scher Philosophie ist die Verwirklichung des Subjekts durch die Aneignung der selbstgeschaffenen objektiven Strukturen. Durch die Aneignung soll sich das Subjekt in den gesellschaftlichen Strukturen reflektieren können und eine nichtentfremdete Identität ausbilden. Dazu muss es den gesellschaftlichen Fetisch der Warenproduktion durchbrechen. Dann erst fallen Sein und Bewusstsein zusammen und eine Gesellschaft entwickelt sich, in der dies möglich ist: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ (Marx 1987[1875]: S. 19) Bei Hegel war es noch der objektive Weltgeist, der Erkenntnis erlangen konnte. An diese Stelle tritt bei Marx das Subjekt. Er setzt daher den Menschen an die Position, an die Hegel noch Gott gesetzt hatte. Beide argumentieren, dass die Welt eine Scheinwelt ist. Bei Hegel führt das Aufheben dieses Scheins zur Aufhebung der subjektiven Welt insgesamt. Bei Marx hingegen haftet den realen Dingen nur ein Schein an, den das Subjekt mit der Aufhebung seiner Entfremdung aufhebt. Hinter dem Schein verbirgt sich die reale materielle Welt und die realen Beziehungen der Menschen. Hier zeigt sich der Wandel von der idealistischen Philosophie Hegels zum Materialismus Marx’. In den verschiedenen Motiven der Marx’schen Entfremdungsanalyse erhält sich dieses sehr abstrakte Grundmuster. In den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ von 1844 beschreibt Marx die Entfremdungsproblematik konkret, sie wird auch für seine späteren Arbeiten fundamental bleiben. Entfremdung entwickelt sich grundsätzlich mit dem Grundwiderspruch des Kapitalismus, dem zwischen Arbeit und Kapital.54 54 In den „Ökonomisch-philosophischen“ Manuskripten beschreibt Marx Entfremdung zunächst aber als geschichtliches Herrschaftsprinzip, als eines, das es bereits vor dem Kapitalismus gab. So ist bereits „das feudale Grundeigenthum schon seinem Wesen nach die verschacherte Erde, die d[em] Menschen entfremdete und daher in der Gestalt einiger weniger grossen Herrn ihm gegenübertretende Erde. Schon im Feudalgrundbesitz liegt die Herrschaft der Erde als einer fremden Macht über d[en] Menschen.“ (Marx 2009[1932]: S. 77) Marx expliziert, dass Grund und Boden als natürlich dem Adeligen gehörend verkannt werden: Das Grundeigentum „erscheint als der unorganische Leib sei-
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Um die Entfremdungstheorie von Marx adäquat erfassen zu können, ist es zunächst unabdingbar, sein Vergegenständlichungsmodell zu beschreiben. Daran anschließend werden die, in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ definierten, vier Arten der Entfremdung erläutert. Danach wird expliziert, wie Marx Entfremdung in seine ökonomische Analyse des Fetischs einbezieht, ohne jedoch einen Bruch mit den frühen Überlegungen zur Entfremdung zu vollziehen. In einem vierten Schritt wird ein Exkurs zur Metapher der toten und lebendigen Arbeit eingefügt. Abschließend wird die Entfremdungstheorie im Verhältnis zur Natur und zur Kritik des Essentialismus erläutert.
nes Herrn.“ (Ebd.: S. 77) Marx spricht weiter von der Notwendigkeit, „daß dieser Schein aufgehoben wird“ (ebd.: S. 78) und die dahinter verborgenen Verhältnisse von „Exploiteur und Exploitirtem“ (ebd.: S. 78) hervortreten. Das reale Verhältnis, in dem die Menschen sich gegenüberstehen, muss aus historischer Notwendigkeit heraus klar und deutlich hervortreten. Diese Determinante vollzieht sich mit dem, durch gewachsene Produktivkräfte, entstandenen Bewusstsein der Unterdrückten über ihre Verhältnisse. In der Feudalgesellschaft ist dies der Bauer, mit dessen gesteigerten Bewusstsein über seine reale Beziehung zum Herrn und seine reale Beziehung zur entfremdeten Erde, vollzog sich der Wandel zum Kapitalismus. Das feudale Herrschaftsprinzip zwischen Lehnsherrn und Bauer wandelt sich zum Verhältnis von Kapitalist und Arbeiter, die beide unter der Herrschaft des Geldes stehen. Im Kapitalismus erstarken die objektiven Kräfte, da es keinen mehr gibt, der diese durchblickt oder gar beherrschen würde. Die Kräfte der Adeligen schwinden und lösen sich im Kapital nahezu auf: „Es ist nothwendig, daß das ruhende Monopol in das bewegte und beunruhigende Monopol, die Concurrenz, der nichtstuhende Genuß des fremden Blutschweißes in den vielgeschäftigen Handel mit denselben umschlägt. Es ist endlich nothwendig, daß in dieser Concurrenz das Grundeigenthum unter der Gestalt des Capitals seine Herrschaft sowohl über die Arbeiterklasse als über die Eigenthümer selbst zeigt, indem die Gesetze der Bewegung des Capitals sie ruinieren oder erheben. Damit tritt an die Stelle des mittelaltrigen Sprichworts: kein Acker ohne Lehnsherrn, das modere Sprichwort: das Geld hat keinen Herrn, worin die ganze Herrschaft der todgeschlagenen Materie über d[en] Menschen ausgesprochen ist.“ (Ebd.: S. 78–79) Die Entfremdung des Bauern von seinem Feld und seinem Produkt, von dem er abgeben muss, wandelt sich mit dem Herrschaftsmodus. Im Kapitalismus fallen alle Gesellschaftsmitglieder unter die fremden Bewegungsgesetzte des Geldes und Kapitals. Die formelle Freiheit hat nicht alle emanzipiert, sondern alle unter die objektive Ordnung des Kapitals subsumiert, wie es alle – und hier ist sicherlich der zivilisatorische Fortschritt zu erkennen – unter die juristischen Gesetzte subsumiert hat. War bei Hegel in der HerrKnecht-Dialektik vom Herrn wie vom Knecht eine andere jeweils spezifische Art der Entfremdung zu konstatieren, so erläutert Marx wie sich die Entfremdung im Kapitalismus universalisiert hat.
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Das Vergegenständlichungsmodell und die allgemeine Entfremdung Marx arbeitet keine Differenz zwischen Arbeit und Handlung aus. Es ist daher anzunehmen, dass beide Begriffe einen einzigen Sachverhalt beschreiben. (Vgl. Quante 2002: S. 234)55 Arbeit/Handlung ist für Marx die Grundbedingung für Identität, da diese dem Subjekt ermöglicht, sich zu sich selbst richtig zu verhalten. Entscheidend bei diesem Prozess ist das Vergegenständlichungsmodell, das Kernstück der Marx’schen Entfremdungstheorie ist und darüber hinaus den Horizont seiner Gesellschaftskritik bildet: „das Entäußerungs- bzw. Vergegenständlichungsmodell [ist] die entscheidende grundbegriffliche Ressource der Marxschen Kritik“ (Lange 1980: S. 55) überhaupt. Außerdem bildet es auch das „Herzstück in seinem späteren Hauptwerk und liegt den Analysen im Kapital zugrunde.“ (Quante 2002: S. 234) Vergegenständlichung ist notwendig, um die Gattungs-/Wesens-Kräfte des Menschen zu verwirklichen. Dies ist die normative Forderung bei Marx: Die Verwirklichung der Wesenskräfte. Die Potentialität der individuellen Anlagen soll sich im Produkt vergegenständlichen56 und anschließend soll das Subjekt darüber verfügen können.57 Das Vergegenständlichungsmodell ist eine anthropologische Konstante und daher grundlegend für alle Gesellschaftsformen.58 Wesens- oder auch Gattungskräfte sind ontogenetisch und gleichzeitig phylogenetisch zu begreifen, sie sollen individuell und gesellschaftlich entfaltet werden. Als gesellschaftliche Kräfte sind sie nur gemeinsam zu verwirklichen, denn der „Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein zoon politikon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.“ (Marx 1990[1860]: S. 616) Das bedeutet konkret: Marx geht es um die Befriedigung der Bedürfnisse und die Ausbildung der Fähigkeiten als Realisierung des Potentials der Anlagen. 55 Ähnlich sieht das auch Buck in Bezug auf Marx: „Die Arbeit ist die Vermittlung des Subjekts mit sich selbst; sie ist das Geschehen dieser Vermittlung derart, daß wir sagen können, alles wesentliche Tun des Subjekts, alles Zu-sich-Kommen des Subjekts sei Arbeit.“ (Buck 1984: S. 193) 56 Marx dazu „Das Product der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung.“ (Marx 2009[1932]: S. 84) 57 Quante weist nach, dass Marx durchaus eine weite Auffassung von Gegenstand hatte. Hierin ist auch Ziel und Absicht enthalten. (Vgl. Quante 2009: S. 233–245) 58 So fasst das auch Joachim Israel zusammen: „Zusammenfassend könnte man sagen, daß der allen Gesellschaften zugrunde liegende Prozeß die ‚Vergegenständlichung‘ ist, d. h. der bewußte Versuch des Menschen, Objekte zur eigenen Bedürfnisbefriedigung zu schaffen sowie die gesellschaftlichen Institutionen, mit deren Hilfe sich die Produktion vollzieht.“ (Israel 1990[1972]: S. 56)
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Dadurch soll die ursprüngliche Einheit von Mensch und Natur auf höherer Ebene wieder hergestellt werden, wie bei Rousseau. Der Mensch wird erst durch das Entfalten seines Naturpotentials wirklich Mensch. In einer ursprünglichen Gesellschaftskonstellation (Urkommunismus) herrschten einfache Bedürfnisse und direkte Befriedigung vor. Die gemeinsame Produktion und die Produktion von Mitteln, bzw. Werkzeugen, hat eine Produktionsebene geschaffen, die nicht zur direkten Befriedigung dient: Diese Ebene ermöglicht die Verkehrung von Subjekt und Objekt. Das Subjekt erzeugt nicht nur Objekte zum direkten Verbrauch (z. B. Nahrungsmittel), sondern Objekte, um weitere Objekte zum Verbrauch herzustellen (Werkzeuge). Problematisch wird die so geschaffene objektive Ebene, wenn sich Subjekt und Objekt vertauschen: „Verkehrung des Subjekts in das Objekt und umgekehrt.“ (Marx 2009[1941]: S. 69) Dem Subjekt kommt so das Produkt seiner Vergegenständlichung abhanden und während das Subjekt so zum Objekt wird, wird das Objekt zum Subjekt. Was nichts anderes heißt, als der Verlust der Autonomie auf Seiten des Subjekts bei gleichzeitiger Zunahme der Herrschaft von Sachen und Strukturen über den Menschen. Der Mensch tritt in den Stoffwechselprozess mit der Natur ein, vermittelt durch Arbeit bzw. Handlung, und transformiert die Welt nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen. Diese werden in die Welt entäußert und verwandelt, d. h. brauchbar, wieder angeeignet. Allen Vergegenständlichungen wohnt daher im Idealzustand der subjektive Zweck, Erkennen und Ausbildung der eigenen Anlagen, inne,59 um sich durch Aneignung identisch zu den eigenen Gattungskräften verhalten zu können. Der Mensch soll daher in seinen zum Gegenstand gewordenen Kräften sich selber erkennen können und sich diese aneignen. Entfremdung ist dementsprechend eine Störung in diesem Prozess von Entäußerung oder Aneignung. Der Schritt vom Subjekt zum objektiven Verhältnis oder der Schritt vom objektiven Verhältnis zum Subjekt zurück ist beschädigt. Oder anders gesagt: Die Veräußerung schafft eine Welt, die einerseits nicht mehr die subjektiven Vergegenständlichungen erkennen lässt und andererseits eine eigene Macht erhält. Eine Störung im Prozess der Entäußerung vollzieht sich, wenn statt dem subjektiven Zweck ein fremder Zweck vergegenständlicht wird. Eine Störung im Prozess 59 Hier folge ich Michael Quante, der das Handlungsmodell als Primat vor dem Produkt sieht: „Alle Eigenschaften des Gegenstandes, sofern er als Handlungsprodukt aufgefasst wird, müssen in dem subjektiven Zweck, der durch die Handlung den Gegenstand hervorbringt, enthalten sein. In diesem ganz fundamentalen Sinne gibt es bei Marx ein Primat der Tätigkeit oder der Praxis (des Hervorbringens) vor den Produkten (oder den Sachverhalten). Man könnte auch sagen, daß Marx den Satz unterschrieben hätte: Nichts ist in den Handlungsprodukten, was nicht zuvor im Handlungsprozeß gewesen wäre.“ (Quante 2009: S. 246)
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der Aneignung tritt auf, wenn die Gattungskräfte nicht mehr richtig zurückgeholt werden können, dann taucht ein Teil menschlicher Wesenskraft in die Welt ein und verselbstständigt sich, unkontrolliert verwaltet diese Kraft den Menschen, ohne dass er dies noch nachvollziehen könnte. Die Handlungen der Subjekte, die sie vollziehen sollen, um sich selbst zu verwirklichen, vergegenständlichen sich und werden in den Dingen und Verhältnissen „ontologisch unabhängig.“ (Quante 2009: S. 260)60 Das ist die Voraussetzung dafür, dass sie überhaupt vom Subjekt getrennt werden können, obwohl das Subjekt ihrer doch bedarf, um Identität auszubilden. Wie aber sieht eine gelungene Vergegenständlichung und Aneignung aus? Der Mensch wird erst dadurch Subjekt, indem seine Fähigkeiten und Bedürfnisse in die Welt entäußert werden, dort werden sie vergegenständlicht und anschließend soll das Subjekt sich darin reflektieren und so eine Identität ausbilden, in der er seine subjektiven Anlagen61 entfalten kann. In der Produktion und Reproduktion der eigenen Identität erzeugt er die, zur Reflexion notwendige, objektive Welt, die dann das Subjekt reflektiert und eine entsprechende Identität erzeugt: Der Mensch ist daher Produzent und Produkt seiner Identität. In dieser Dialektik des sich selbst erzeugenden Menschen kann sich der Reichtum der Anlagen des Gattungswesens entfalten und eine sinnvolle Identität mit der Welt herstellen. Anders ausgedrückt: Ich kann mein Gattungswesen nur realisieren, wenn ich in einer kooperativen Produktion die Welt so erzeuge, dass sie das Gattungswesen zurückspiegelt und ich dadurch eine Identität ausbilde, die meine Subjektivität ausdrückt. Das Telos des Menschen ist die fortschreitende Selbsterzeugung als Dialektik von Subjekt und Identität. Der Mensch soll eine Identität ausbilden, in der die objektiven Strukturen, die Handlungen, Wünsche und Eigenschaften erkannt werden. Diese objektive Struktur muss dafür die Freiheit zur Entfaltung aller ermöglichen. Die Erfahrung des wahren Menschseins in der erschaffenen Welt lässt ihn adäquat sich mit ihr identifizieren, sich in ihr reflektieren und entfalten. Marx geht es um die totale Ausbildung der Individualität, die Aneignung des eigenen Körpers, mit seinen Sinnen und Bedürfnissen: „Wie das Privateigentum nur der sinnliche Ausdruck davon ist, daß der Mensch zugleich gegenständlich für sich wird und zugleich vielmehr sich als ein fremder und unmenschlicher Gegenstand wird, daß seine Lebensäußerung seine Lebensentäußerung ist, seine Verwirklichung seine Entwirklichung, eine fremde Wirklichkeit ist, so ist die positive Aufhebung des 60 Neben den Dingen vergegenständlichen sich auf gleiche Weise die Prozesse und Verhältnisse bzw. „Tatsachen“. (Vgl. Quante 2009: S. 260) 61 Marx schreibt von Vermenschlichung, Individualisierung, Befreiung, Vereinzelung usw. Schärfe gewinnt man durch die Verwendung der Begriffe Subjekt und Identität. Das Subjekt ist hier als individuelle Instanz, Identität als vergesellschaftete Instanz zu begreifen.
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Privateigentums, d.h. die sinnliche Aneignung des menschlichen Wesens und Lebens, des gegenständlichen Menschen, der menschlichen Werke für und durch den Menschen, nicht nur im Sinne des unmittelbaren, einseitigen Genusses zu fassen, nicht nur im Sinne des Besitzens, im Sinne des Habens. Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben. Die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit, ihr Verhalten zum Gegenstand ist die Betätigung der menschlichen Wirklichkeit.“ (Marx 2009[1932]: S. 121)
So beschreibt auch Terry Eagleton: „Ziel des Marxismus ist es, dem Körper die ihm gestohlene Macht zurückzugeben. […] Der Kommunismus ist notwendig, weil wir ohne ihn nicht in der Lage sind, unseren Fähigkeiten entsprechend zu fühlen, zu schmecken, zu riechen und etwas zu berühren.“ (Eagleton 1994: S. 210)62 Der Mensch ist gerade durch seine Subjektivität und Objektivierungsressourcen Mensch, er ist aktiv, kreativ und produktiv. Er ist ein gegenstandserzeugendes Subjekt, das sich selbst zum Gegenstand macht, um sich beobachten und entwickeln zu können. Er nimmt sich gerade durch seine welterzeugende Kraft als Subjekt wahr und reflektiert dies durch seine tätige Verdoppelung in die Welt: „Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen; indem er sich nicht nur, wie im Bewußtsein, intellektuell, sondern werkthätig, wirklich verdoppelt, und sich selbst daher in einer von ihm geschaffenen Welt anschaut.“ (Marx 2009[1932]: S. 91) Der Mensch, im Unterschied zum einseitig und nicht-bewusst produzierenden Tier, ist ein universell und kooperativ produzierendes Wesen, es erschafft den gesellschaftlichen Reichtum aus seinen Anlagen. Er produ62 Die Fähigkeiten und Bedürfnisse sind materialistisch-körperlich zu verstehen. Dem Menschen entgleitet im Kapitalismus der Zugang zu seinem eigenen Körper, seiner inneren Natur und damit zu seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen, dadurch dass er abstrakt sprechen und denken kann: „Der Marxismus berichtet davon, wie […] Geschichte dem Zugriff des Körpers entgleitet und ihn zu einem Selbstwiderspruch treibt. Eine bestimmte Art von Körpern als eine historische zu beschreiben, heißt, daß sie unentwegt in der Lage sind, etwas aus dem zu machen, was sie macht. Die Sprache ist in diesem Sinn geradezu der Index menschlicher Geschichtlichkeit; denn sie ist ein System, dessen Besonderheit darin liegt, Ereignisse möglich werden zu lassen, die über die formale Struktur der Sprache selbst hinausgehen. Ein Aspekt dieser unergründlichen Fähigkeit zur Selbstüberschreitung liegt auf Seiten des sprachlich produktiven Tiers in der Fähigkeit, seinen Körper in ein Gewebe von Abstraktion hinein auszudehnen, die dann später seine eigene sinnliche Natur vergewaltigen.“ (Eagleton 1994: S. 207)
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ziert aber durch seine Arbeit nicht nur seine Anlagen, er produziert gemeinschaftlich und vergegenständlicht dadurch sein Gattungswesen, soweit es der Stand der Produktivkräfte zulässt. Der Mensch kann sich daher nur dem Stand der Geschichte entsprechend entfalten, darüber hinaus kann er ohne alle anderen Mitmenschen nicht fortschreiten. Im Kapitalismus aber kann der Mensch seine Anlagen nicht richtig ausbilden. Er bildet sich wieder zurück zum Tier, zur tierischen Produktionsweise in der Vereinseitigung seiner Tätigkeit und der bloßen Arbeit zum Überleben, dabei wird der Arbeiter umso ärmer, je mehr er produziert: „Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichtum er produziert, je mehr seine Produktion an Macht und Umfang zunimmt. Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert.“ (Ebd.: S. 84)
In dieser Entleerung der Menschenwelt kann das Subjekt seine Wesenskräfte nicht verwirklichen, weder richtig entäußern noch richtig aneignen und das Verhältnis von Subjekt und Objekt verkehrt sich. Die Identität entspricht nicht dem Wesen, sie ist leer und an die Stelle tritt kompensatorisch die Ware, die Anhäufung von Waren. An die leere Stelle tritt somit der Sinn des Habens, der defizitäre Versuch der Verwirklichung, ohne jedoch die Fähigkeiten und Bedürfnisse entfalten zu können: „Die Selbstentsagung, die Entsagung des Lebens und aller menschlichen Bedürfnisse, ist ihr Hauptlehrsatz [der Nationalökonomie, J. W.]. Je weniger du ißt, trinkst, Bücher kaufst, in das Theater, auf den Ball, zum Wirtshaus gehst, denkst, liebst, theoretisierst, singst, malst, fichtst etc., um so [mehr] sparst du, um so größer wird dein Schatz, den weder Motten noch Raub fressen, dein Kapital. Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerst, um so mehr hast du, um so größer ist dein entäußertes Leben, um so mehr speicherst du auf von deinem entfremdeten Wesen. Alles, was dir der Nationalökonom an Leben nimmt und an Menschheit, das alles ersetzt er dir in Geld und Reichtum, und alles das, was du nicht kannst, das kann dein Geld: Es kann essen, trinken, auf den Ball, ins Theater gehn, es weiß sich die Kunst, die Gelehrsamkeit, die historischen Seltenheiten, die politische Macht, es kann reisen, es kann dir das alles aneignen; es kann das alles kaufen; es ist das wahre Vermögen. Aber es, was all dies ist, es mag nichts als sich selbst schaffen, sich selbst kaufen, denn alles andre ist ja sein Knecht, und wenn ich den Herrn habe, habe ich den Knecht und brauche ich seinen Knecht nicht. Alle Leidenschaften und alle Tätigkeit muß also untergehn in der Habsucht. Der Arbeiter darf nur soviel haben, daß [er] leben will, und darf nur leben wollen, um zu haben.“ (Marx 1968: S. 549–550)
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Die moralische und sozialpsychologische Kategorie der Habsucht führt Marx daher nicht auf einen Charakterfehler, sondern auf einen strukturellen Fehler im Kapitalismus zurück: Sie ist eine Folge der Entfremdung. Entfremdung wird vorausgesetzt, um Habgier zu entwickeln: Die Steigerung der Entfremdung geht mit der Anhäufung des Kapitals einher. Im letzten Teil des Zitats erklärt Marx diesen Vorgang mit der Hegel’schen Herr-Knecht-Dialektik, die unter dem Kapital zum Erliegen kommt: Da das Herr-Knecht-Verhältnis im Kapital aufgehoben ist (das Kapital verfügt über alle Macht) wird es zum „wahren Vermögen“, nachdem Kapitalist und Arbeiter streben. Dem eigentlichen Knecht, dem Arbeiter, wird die Entfaltung seiner Wesenskräfte durch die Aussicht auf Kapital (in dem alle Kräfte vorhanden sind) gehemmt. Da aber das Kapital sich lieber selbst kauft, eintauscht und verwertet, als eigensinnige Kraft, anstatt dem Arbeiter zu dienen, behält dieser seine Leere, die er doch mit dem Kapital überwinden wollte: Er bleibt Knecht ohne die Entwicklung, die dem Knecht im rohen Herr-Knecht-Verhältnis noch ausmachte. Die Entwicklung büßt ihre Dynamik ein, da das Kapital mit der Kraft des Tauschwerts alles beherrscht. Im Kapitalismus ist die Entfremdung daher universell und die Herrschaft wird sachlich und nicht mehr personell.63 Es lässt sich zusammenfassen: Das Vergegenständlichungsmodell übernimmt Marx von Hegel und wendet es materialistisch. Entfremdung ist demnach als eine Störung der Veräußerung oder Aneignung des Vergegenständlichten zu verstehen. Dadurch können die subjektiven Potentiale nicht entfaltet werden und die ausgebildete Identität kann Subjekt und Objekt nicht passend vermitteln. Daraus folgt eine psychische und physische Problematik, die in den kompensatorischen Sinn des Habens führt. Darüber hinaus erlangen die objektiven Vergegenständlichungen eine Eigensinnigkeit, die Herrschaft über die Menschen erlangen. Konkret wird diese allgemeine Bestimmung der Entfremdung in der Differenzierung der Entfremdung in vier Teile, die Marx in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ vornimmt. Die vier Arten der Entfremdung (1) Die erste Art der Entfremdung ist die falsche Beziehung zum Produkt. Im Kapitalismus gehören dem Produzenten die Produkte nicht: Er kann sich nicht mehr aneignen, was er selber produziert. Die Identität ist dadurch beschädigt und die freigesetzten Wesenskräfte verkehren sich in eine fremde Macht. Marx kritisiert das Fremdwerden des Produkts, da der Arbeiter nicht darüber verfügen kann: „Der Gegenstand, den die Arbeit produciert, ihr Product, tritt ihr als ein fremdes Wesen als eine, von d[em] Producenten unabhängige Macht gegen63 Das Herr-Knecht-Verhältnis ist nur im Sinne einer personellen Beziehung aufgehoben, es entwickelt sich aber eine solche Dialektik zwischen Arbeit und Kapital.
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über.“ (Marx 2009[1932]: S. 84) Damit beschreibt Marx zunächst die Asymmetrie kapitalistischer Eigentums- und Machtverhältnisse. Die produzierten Gegenstände gehören einem anderen, der mit diesen Sachmitteln Macht erhält. Die Produktionsverhältnisse im Kapitalismus führen dazu, dass der Arbeiter als „physisches Subjekt“ nur „Arbeit“ (Produktionsmittel) und „Subsistenzmittel“ (Lohn) zum Überleben erhält. Dafür muss er sich in eine Abhängigkeit begeben, in der er körperlich und geistig verelendet: „je mehr der Arbeiter producirt, er um so weniger zu consumieren hat, daß je mehr Werthe er schafft, er um so werthloser und so unwürdiger wird, daß je geformter sein Produkt um so mißförmiger der Arbeiter, daß je civilisirter sein Gegenstand um so barbarischer der Arbeiter.“ (Ebd.: S. 86) Jedoch erschöpft sich die Kritik nicht an der Frage des Eigentums und der Macht. Marx kritisiert die fehlende Aneignung auch unter einem sozialpsychologischen Aspekt: „Je mehr der Arbeiter sich ausarbeitet, um so mächtiger wird die gegenständliche Welt, die er sich gegenüber schafft, um so ärmer wird er selbst, seine innere Welt, um so weniger gehört ihm zu eigen. […] Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand; aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand.“ (Ebd.: S. 84) Die mangelnde Aneignung der Vergegenständlichung versperrt dem Subjekt die Möglichkeit der Identitätsausbildung, während das Produkt gleichzeitig ontologisch unabhängig wird und Macht über das Subjekt erlangt. (2) Im zweiten Fall von Entfremdung verschiebt sich die Perspektive vom Produkt auf den Prozess. Problematisch wird hier die Entäußerung: „[D]ie Entfremdung zeigt sich nicht nur im Resultat, sondern im Akt der Produktion, innerhalb der producirenden Thätigkeit selbst.“ (Ebd.: S. 87) Dem Akt der Vergegenständlichung ist nicht mehr der subjektive Zweck (Selbstverwirklichung), sondern nur noch der objektive Zweck (Produktion für andere) immanent. Die kapitalistischen Verhältnisse bestimmen Umfang, Art und Weise, Mittel und Zweck der Arbeit. Die Arbeit ist daher keine Praxis mehr, um das Wesen zu verwirklichen, sondern nur noch Mittel.64 Der Arbeiter erfährt die Entfremdung am unmittelbarsten, sie führt direkt zu psychischen und physischen Leiden, zu Sinnverlust und Elend: „Die äusserliche Arbeit, die Arbeit, in welcher der Mensch sich entäussert, ist eine Arbeit der Selbstaufopferung, der Kasteiung. […] Die Thätigkeit des Arbeiters [ist] nicht seine Selbstthätigkeit. Sie gehört einem andern, sie ist der Verlust seiner selbst.“ (Ebd.: S. 88) Die Arbeit im Kapitalismus reduziert den Arbeiter daher auf monotone Arbeitsschritte, beraubt ihn seiner Gesundheit und reduziert seine Praxis auf wenige unmenschliche Tätigkeiten. Damit wird nochmals deutlich, welchen normativen Bezug Marx zur Entfremdung einnimmt. Die Arbeit soll der Verwirklichung des Men64 Die Verkehrung von Zweck und Mittel, Subjekt und Objekt ist ein seit Aristoteles bekanntes Motiv der Entfremdung und findet sich hier bei Marx wieder.
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schen und daher der Ausbildung seiner Fähigkeiten und Bedürfnisse dienen. Gerade das wird ihm aber im Kapitalismus verunmöglicht. Da die Arbeit vor allem abstrakt ist, erscheint sie austauschbar und sinnlos. Der Arbeiter findet sich nicht mehr im Arbeitsprozess wieder, sondern nimmt sich und die Arbeit als rein äußerlich wahr, er ist seiner Tätigkeit entfremdet. Marx beschreibt in der Zusammenfassung der ersten und zweiten Dimension von Entfremdung weiter, wie sich die positiv-menschliche Tätigkeit in ihr Gegenteil verkehrt: „Wir haben den Akt der Entfremdung der praktischen menschlichen Tätigkeit, die Arbeit, nach zwei Seiten hin betrachtet. 1. Das Verhältnis des Arbeiters zum Produkt der Arbeit als fremden und über ihn mächtigen Gegenstand. Dies Verhältnis ist zugleich das Verhältnis zur sinnlichen Außenwelt, zu den Naturgegenständen als einer fremden, ihm feindlich gegenüberstehenden Welt. 2. Das Verhältnis der Arbeit zum Akt der Produktion innerhalb der Arbeit. Dies Verhältnis ist das Verhältnis des Arbeiters zu seiner eignen Tätigkeit als einer fremden, ihm nicht angehörigen, die Tätigkeit als Leiden, die Kraft als Ohnmacht, die Zeugung als Entmannung, die eigne physische und geistige Energie des Arbeiters, sein persönliches Leben – denn was ist Leben [anderes] als Tätigkeit – als eine wider ihn selbst gewendete, von ihm unabhängige, ihm nicht gehörige Tätigkeit. Die Selbstentfremdung, wie oben die Entfremdung der Sache.“ (Ebd.: S. 88–89)
Diese ersten beiden Dimensionen von Entfremdung konstituieren die Grundarchitektur der Marx’schen Entfremdungstheorie im Lichte einer gescheiterten Aneignung (erste Dimension) und Veräußerung (zweite Dimension). Die beiden weiteren Dimensionen sind Ableitungen daraus. (3) Die dritte Dimension ist die Entfremdung vom Gattungswesen. Marx’ Begriff des Gattungswesens ist umstritten, lässt sich doch ein essentialistischer Kern dahinter vermuten.65 Was aber ist das Gattungswesen für Marx? „Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben. In der Art der Lebensthätigkeit liegt der ganze Charakter einer species, ihr Gattungscharakter, und die freie bewußte Thätigkeit ist der Gattungscharakter d[es] Menschen. […] Der Mensch macht seine Lebensthätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins. […] Die bewußte Lebensthätigkeit unterscheidet d[en] Menschen unmittelbar von der thierischen Lebensthätigkeit. Eben nur dadurch ist er ein Gattungswesen. Oder er ist nur ein bewußtes Wesen, d. h. sein eignes Leben ist ihm Gegenstand, eben weil er ein Gattungswesen ist. Nur darum ist seine Thätigkeit freie Thätigkeit. Die entfremdete Arbeit kehrt das Verhält-
65 Darauf wird vertiefend in Abschnitt 1.2.3 (Essentialismus bei Marx) eingegangen.
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nis dahin um, daß der Mensch eben, weil er ein bewußtes Wesen ist, seine Lebensthätigkeit, sein Wesen nur zu einem Mittel für seine Existenz macht.“ (Ebd.: S. 90)
Wir können Marx hier entnehmen, dass gerade die freie bewusste Selbsterzeugung das Gattungswesen ausmacht und nicht ein essentialistischer Kern. Das Wesen oder die Natur des Menschen ist daher seine Freiheit und die Selbstverwirklichung der spezifisch historischen Potentiale. Der Mensch soll seine Identität autonom setzen können. Dazu muss er sich aber im Medium der eigenen Vergegenständlichung reflektieren können. In der entfremdeten Arbeit wird dieses Potential menschlicher Anlagen auf ein bloßes Mittel zum Überleben reduziert. Die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen wird dadurch gehemmt. Sie ist das, was Marx als menschliche Natur geltend machen will, allerdings weder paternalistisch noch deterministisch: „Marx’ Perfektionismus ist allerdings liberal, weil die Möglichkeiten zur Entfaltung und Realisierung der Potentiale freiwillig ergriffen, nicht aufgezwungen werden sollen; er ist egalitär, weil die Entfaltung kein Privileg sein darf und keine Belohnung in einem konkurrenzförmigen Wettrennen; er ist schließlich dynamisch, weil keine bestimmte Tätigkeitsform als höchste, im Wesen des Menschen angelegte ausgezeichnet wird.“ (Elbe 2015: S. 332)
Mit dem Gattungswesen entfaltet Marx die Naturkategorie. Zum einen nimmt er, ganz im Sinne Hegels, die Arbeit als vertrauensbildende Vermittlungsinstanz: Die Natur verliert ihre Fremdheit durch Bearbeitung (Vergegenständlichung und Aneignung). Zum anderen ist auch die innere Natur des Menschen selbst durch einen Selbsterzeugungsprozess gekennzeichnet. Das zu verwirklichende Potential ist daher in jeder historischen Situation ein anderes. Marx geht explizit auf das Vergegenständlichungsparadigma ein: Der Mensch wird nur dadurch zu einem menschlichen Wesen, dass er bewusst mit anderen seine Identität und seine Welt konstituiert, die dann so vielseitig ist, dass er in ihr Erfahrung machen kann und so seine Potentiale entfaltet. Erfahrung aber ist nur durch Reflexion möglich, diese ist aber in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen nur schwer zu realisieren: „Indem daher die entfremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner Production entreißt, entreißt sie ihm sein Gattungsleben.“ (Marx 2009[1932]: S. 91) Dadurch, dass der Mensch nicht mehr bewusst produziert oder nicht mehr das produziert, was er produzieren müsste, um sich zu verwirklichen, entwirklicht bzw. entmenschlicht er sich. Durch die Produktionsstruktur nach den Spielregeln von Angebot und Nachfrage sind alle Möglichkeiten einer frei gewählten und gemeinschaftlich geplanten Produktion versperrt. Die nicht-bewusste Produktion hemmt die Erfahrung der eigenen Gattungskräfte. (4) Die vierte Entfremdungsdimension ist aus den drei vorherigen abgeleitet: Der Mensch entfremdet sich von den anderen Menschen. Marx beschreibt eine Stö-
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rung in dem Verhältnis, wie der Mensch sich zu anderen in Beziehung setzt. Die unmittelbare Beziehung des Menschen zum Menschen wird durch den Markt ersetzt. Da weder der andere Mensch für meine Bedürfnisse noch ich für die Bedürfnisse anderer produzieren kann, sondern alle Produkte abstrakt hergestellt werden, kann keine sinnhafte Identifizierung stattfinden: „Was von dem Verhältniß des Menschen zu seiner Arbeit, zum Product seiner Arbeit und zu sich selbst gilt, das gilt von dem Verhältniß d[es] Menschen zum anderen Menschen, wie zu der Arbeit und dem Gegenstand der Arbeit d[es] andern Menschen.“ (Ebd.: S. 92) Die Störung des Verhältnisses zu sich selbst ist für Marx die Voraussetzung der Störung des Verhältnisses zu anderen. Eine kooperative gemeinsame Produktion verwandelt sich in eine Produktion, in der der andere Mensch, wie der Arbeiter selbst, nur als Ware erscheint. Im Kapitalismus wird auch die Kooperation bloß zum Mittel – jeder behandelt den anderen als Ware. (Vgl. Elbe 2015: S. 337) Eine Voraussetzung der Verwirklichung des Menschen ist demgegenüber eine bewusst eingerichtete objektive gesellschaftliche (Re-)Produktionsstruktur. Erst unter dieser bewussten Produktion und Reproduktion der Dinge und Verhältnisse kann der Mensch sich realisieren und den anderen menschlich gegenübertreten. So ist es erst in Beziehung zu anderen überhaupt möglich, das menschliche Gattungswesen zu realisieren. „Die Entfremdung d[es] Menschen, überhaupt jedes V[er]hältniß, in dem der Mensch zu sich selbst steht[,] ist erst verwirklicht, drückt sich aus in dem Verhältniß, in welchem der Mensch zu d[em] andern Menschen steht.“ (Marx 2009[1932]: S. 92) Die Entfremdung vom Menschen fasst alle vorigen Kategorien zusammen. Das Subjekt kann sich weder mit seinem Produkt identifizieren noch mit dem Prozess der Herstellung dieses Produkts und auch nicht mit seinen Gattungskräften. Er kann sich zu anderen Menschen nicht menschlich verhalten, da das direkte soziale Verhältnis sich in ein indirektes marktreguliertes Verhältnis verwandelt hat. Diese Punkte führen zu einer Hemmung der Ausbildung von Fähigkeiten und Bedürfnissen, die das Wesen in der entsprechenden geschichtlichen Epoche ausmachen. Entfremdung im Kapital: Fetischismus und Kontinuität entfremdeter Arbeit Im „Kapital“ erschließt Marx dann einen weiteren Zugang zur Entfremdung, den des Warenfetischismus. In der besonderen Produktionsweise des Kapitalismus werden die Produkte nicht als Gebrauchswerte, sondern als Tauschwerte produziert. Die Menschen beziehen sich daher nur über ihre Arbeiten aufeinander. Der gesellschaftliche Verkehr (die Beziehung der Menschen untereinander) wird dementsprechend zum Verkehr von Waren. Die Produkte spiegeln dieses gesellschaftliche Verhältnis zurück, allerdings nehmen die Menschen an, dass die Warenförmigkeit
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den Produkten natürlich zukommt und sie dadurch ihren Tauschwert als natürliche Eigenschaft zu besitzen scheinen.66 Diese Kritik von Marx wird ausgeführt: Die Produktion von Tauschwerten (die Eigenschaft, die dem Gebrauchswert hinzugefügt wird, um aus ihm eine Ware zu machen) ist nur dadurch möglich, dass ein Zusammenhang unter den Waren geschaffen wird. D. h., eine Ware kann nur dann einen Wert, bzw. eine Wertform, annehmen, wenn sie in ein Verhältnis zu einer anderen Ware gesetzt wird. Beispielsweise ist ein Tisch (10 Std. Arbeitszeit und Rohstoff) genauso viel Wert wie 5 Röcke (2 Std. Arbeitszeit und Rohstoff). Das ist das gesellschaftliche Verhältnis von Arbeitsprodukten. (Vgl. Marx 1973[1867]: S. 86) Dieses reale Verhältnis, das die Menschen als Warenproduzenten zueinander eingehen, ist ihnen nicht bewusst: „Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“ (Ebd.: S. 88) Ihnen ist bloß der solitäre Wert der Ware bewusst, nicht aber die Herkunft des Wertes. Dieses reale, aber unerkannte Verhältnis spiegelt sich in der Wertform der Ware. Die Ware scheint dann den Wert als Natureigenschaft immanent zu haben, obwohl es eigentlich nur das gesellschaftliche Verhältnis der Warenproduzenten ist. Im Kapitalismus erscheint daher die gesellschaftliche Eigenschaft des Wertes als Eigenschaft der Sache selbst. Die Ware ist aber nur scheinbar ein ganz normales Ding: „Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theo66 Marx vergleicht dieses Fetisch-Phänomen mit der Religion. Ähnlich wie die Gläubigen glauben, dass ein höheres Wesen eine Macht aus sich heraus besitzt, obwohl es doch nur die Macht der Gläubigen selber ist: „So stellt sich der Lichteindruck eines Dings auf den Sehnerv nicht als subjektiver Reiz des Sehnervs selbst, sondern als gegenständliche Form eines Dings außerhalb des Auges dar. Aber beim Sehen wird wirklich Licht von einem Ding, dem äußeren Gegenstand, auf ein andres Ding, das Auge, geworfen. Es ist ein physisches Verhältnis zwischen physischen Dingen. Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.“ (Marx 1973[1867]: S. 86–87)
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logischer Mucken.“ (Ebd.: S. 85) Im alltäglichen Gebrauch hat sie für Marx aber nichts Mysteriöses an sich. Sucht man nach dem Ursprung des Wertes der Ware, dann bemerkt man, dass der Wert gar keine immanente Eigenschaft des Produkts ist, sondern irgendwo anders herkommen muss, also plötzlich „geheimnisvoll“ (ebd.: S. 86) wird. Das Ding „verwandelt […] sich [daher] in ein sinnlich übersinnliches Ding“ (ebd.: S. 85), erst wenn es analysiert wird. Marx antwortet daher auf die rhetorische Frage, woher das Mysteriöse kommt: „Offenbar aus dieser Form selbst. Die Gleichheit der menschlichen Arbeiten erhält die sachliche Form der gleichen Wertgegenständlichkeit der Arbeitsprodukte, das Maß der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft durch ihre Zeitdauer erhält die Form der Wertgröße der Arbeitsprodukte, endlich die Verhältnisse der Produzenten, worin jene gesellschaftlichen Bestimmungen ihrer Arbeiten betätigt werden, erhalten die Form eines gesellschaftlichen Verhältnisses der Arbeitsprodukte. Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie dem Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch diese quid pro quo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich-übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge.“ (Ebd.: S. 86)
Die Produkte spiegeln den Menschen ihre eigenen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zurück, in denen die Menschen sich nur als Tauschpartner aufeinander beziehen und selber Warenform annehmen. Durch dieses Zurückspiegeln erscheinen die gesellschaftlichen Verhältnisse dann fälschlich als Natureigenschaft in den Waren. Die Produkte reflektieren die darin vergegenständlichte Warenproduktion. Die Menschen verkennen diese gesellschaftlichen Verhältnisse dann als außer ihnen liegend, als unveränderbar und eben als Naturgewalt. Es sieht nämlich so aus, als würden die Dinge automatisch einen Wert erhalten, dem sich jeder unterzuordnen hat. Der Fetisch besteht dann in der „selbstverständliche[n] Naturhaftigkeit“ (ebd.: S. 95–96) des Wertes. Aber der Fetisch ist nicht bloß falsches Bewusstsein, der sich mit seiner Entdeckung auflöst, er haftet den Waren an: „Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.“ (Ebd.: S. 87–88) Der Fetisch ist daher ein integraler Bestandteil der Warenproduktion und er ist eine Folge der realen Verhältnisse der arbeitsteiligen Gesellschaft. (Vgl. Heinrich 2004: S. 72) Marx erklärt das Ankleben des Fetischs an die Ware durch die reale Bezugnahme der Produzenten aufeinander mittels ihrer Arbeitsprodukte, wodurch sie sich nicht unmittelbar als Menschen aufeinander beziehen. Die Warenförmigkeit der Produkte hat ihren Ursprung daher in der arbeitsteiligen kapitalistischen Produkti-
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onsweise, die nicht mit der Beseitigung des Scheins zusammenfällt, sondern nur mit der Beseitigung der Warenproduktion. Im Fetischtheorem finden daher zwei Entfremdungsmomente statt. (Vgl. Trebeß 2001: S. 116) Erstens werden die Menschen real beherrscht. Sie können daher nicht mehr autonom handeln, sondern stehen unter der Kontrolle der Sachen (bzw. unter der Kontrolle der Herrschafts- und Produktionsverhältnisse): „Die [Wertgrößen, J. W.) wechseln beständig, unabhängig vom Willen, Vorwissen und Tun der Austauschenden. Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“ (Marx 1973[1867]: S. 89) Zweitens sind sie durch den Schein verblendet und können nicht durchschauen, dass die Macht ihren Ursprung in den eigenen gesellschaftlichen Produktionsweisen hat. Verwirrungen hat Marx dadurch hervorgerufen, dass er im Fetischkapitel des Kapitals Entfremdung und die Ebene falschen Bewusstseins zusammendenkt. Ingo Elbe schlägt daher vor, dass „man den Entfremdungsbegriff für die Kritik der realen Verselbständigung, den Fetischismusbegriff für die kognitiven Effekte derselben verwendet.“ (Elbe 2015: S. 369–370) Dem stimme ich zu. Die Kontinuität des Entfremdungstheorems vom jungen Marx bis zum „Kapital“ ist umstritten. (Vgl. ebd.: S. 371–379) So hält Marx noch in den Grundrissen zum „Kapital“ an einem Entfremdungsbegriff fest, der dem aus den „Manuskripten“ ähnelt. (Vgl. Marx 2005[1941]: S. 721–723) Es wird deutlich, dass Marx das Vergegenständlichungsmodell auf seine Fetischtheorie anwendet. (1) Er geht davon aus, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Waren objektiviert/ vergegenständlicht werden. (2) Marx nimmt an, dass diese Vergegenständlichung zurückwirkt auf die Subjekte und diese die Gesellschaft ideologisch danach ausrichten, da sie die realen Verhältnisse nicht begreifen und nicht richtig aneignen können. Die Identität entspricht nicht den subjektiven Fähigkeiten und Bedürfnissen, sondern einer Warenwelt. (3) Die Vergegenständlichungen werden unabhängig und erlangen dementsprechend die Macht über die Produzenten. Im dritten Band des „Kapitals“ weicht Marx von der Totalität der entfremdeten Arbeit im „Kapital“ ab, so dass auch in einer zukünftigen Gesellschaft Entfremdung nicht ganz aufgehoben werden kann: „Der wirkliche Reichtum der Gesellschaft und die Möglichkeit beständiger Erweiterung ihres Reproduktionsprozesses hängt also nicht ab von der Länge der Mehrarbeit, sondern von ihrer Produktivität und von den mehr oder minder reichhaltigen Produktionsbedingungen, worin sie sich vollzieht. Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu re-
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produzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.“ (Marx 1989[1894]: S. 827–828)
In diesem Zitat vereinigt Marx gleich drei historische Entfremdungskategorien. Erstens beschreibt er die nichtentfremdete Arbeit, die Arbeit als Selbstzweck zur Entwicklung menschlicher Kräfte, mit Aristoteles gegenüber einer mühevollen Arbeit als Mittel zum Überleben. Zweitens spielt er auf Rousseau an, der die Entfremdung des kulturellen Menschen durch einen Naturzustand höherer Ebene kollektiv auf ein Minimum reduzieren will. Drittens verweist er auf Hegel und das Reich der Freiheit, das der Notwendigkeit gegenübersteht. (Vgl. Trebeß 2001: S. 122) Marx verweist in dem Zitat außerdem darauf, dass das Reich der Freiheit erst jenseits der eigentlichen materiellen Produktion beginnen könne. Er weicht also von der totalitären Betrachtung des Entweder-oder in die nüchterne wissenschaftliche Analyse des Sowohl-als-auch ab. Entfremdung wird bei Marx schließlich relational und in einem gewissen Rahmen notwendig, und zwar auch in einer kommunistischen Gesellschaft. Ohne Warenproduktion würde aber der Fetisch wegfallen und entfremdete Arbeit könnte auf ein Minimum reduziert werden. Das Reich der Freiheit erhebt sich nicht aus dem untergegangenen Reich der Notwendigkeit, sondern bedarf einer minimal entfremdenden Produktionsweise, auf deren Grundlage Freiheit, Selbstverwirklichung und menschliche Verhältnisse erst möglich werden. Exkurs: Lebendige und tote Arbeit Aufschlussreich für die Kontinuität des Entfremdungsbegriffs bei Marx ist die Metapher der lebendigen und der toten Arbeit. Besonders auch im Zusammenhang mit dem Terminus der Entfremdung taucht diese im Entwurf zum 6. Kapitel des „Kapitals“ auf (vgl. Marx 2009[1941]), das Marx aber nie veröffentlichte. Hier wird im Rückbezug auf die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ pointiert die Entfremdung im Produktions- und Verwertungsprozess dargestellt. Zunächst aber ist zu erklären, was unter toter und lebendiger Arbeit zu verstehen ist:
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„Die in den Produktionsmitteln bereits enthaltene Arbeit ist dieselbe wie die neu zugesetzte. Sie unterscheiden sich nur dadurch, dass die eine vergegenständlicht ist in Gebrauchswerten und die andre im Prozess dieser Vergegenständlichung begriffen, die eine vergangen, die andre gegenwärtig, die eine tot, die andre lebendig, die eine vergegenständlicht im Perfektum, die andre sich vergegenständlichend im Präsens ist. Im Umfang, worin die vergegenständlichte Arbeit lebendige ersetzt, wird sie selbst ein Prozess, verwertet sie sich, wird sie ein Fluens, das eine Fluxion schafft. Dieses ihr Einsaugen zusätzlicher lebendiger Arbeit ist ihr Selbstverwertungsprozess, ihre wirkliche Verwandlung in Kapital, in sich selbst verwertenden Wert, ihre Verwandlung aus einer konstanten Wertgröße in eine variable und prozessierende Wertgröße. Allerdings kann diese zusätzliche Arbeit nur in der Gestalt konkreter Arbeit und daher den Produktionsmitteln nur in ihrer spezifischen Gestalt als besonderen Gebrauchswerten zugesetzt werden und wird auch der in diesen Produktionsmitteln enthaltene Wert nur durch ihren Konsum als Arbeitsmittel durch die konkrete Arbeit erhalten.“ (Marx 2009[1973]: S. 21–22)
Die tote Arbeit ist die bereits vergegenständlichte, die lebendige ist die aktive Arbeit im Prozess der Vergegenständlichung. Marx unterstellt, dass im Kapitalismus die tote Arbeit nur durch die lebendige am Leben erhalten wird. Das relationale Verhältnis von lebendiger und toter Arbeit oder von Arbeit und Kapital verlagert sich zunehmend auf die Seite der toten Arbeit. Mit unheimlichen Gravitationskräften scheint sie alles einzusaugen und damit Arbeit zu entmenschlichen, das verfestigte Kapital gewinnt die Oberhand und damit die Herrschaft: „Es ist nicht die lebendige Arbeit, die sich in der gegenständlichen Arbeit als ihrem objektiven Organ verwirklicht, sondern es ist die gegenständliche Arbeit, die sich durch Einsaugen der lebendigen erhält und vermehrt und dadurch zum sich verwertenden Wert, zum Kapital wird, als solches funktioniert. Die Produktionsmittel erscheinen nur noch als Einsauger eines möglichst großen Quantums lebendiger Arbeit. Die lebendige Arbeit erscheint nur noch als das Mittel der Verwertung vorhandner Werte und daher ihrer Kapitalisierung.“ (Marx 2009[1941]: S. 67)
Je größer der Anteil der toten Arbeit ist, desto stärker scheinen die Gravitationskräfte zu werden, ähnlich einem schwarzen Loch ziehen sie alles Lebendige immer dynamischer in sich hinein. Marx macht deutlich, dass das natürliche Verhältnis des Menschen zur Natur zu einem entfremdeten Verhältnis wird, indem die Produktionsmittel als Agenten des Kapitals bzw. Kapitalisten fungieren. „Soweit der Produktionsprozeß bloß Arbeitsprozeß ist, verzehrt der Arbeiter in diesem Prozeß die Produktionsmittel als bloße Lebensmittel der Arbeit. Soweit aber der Produktionsprozeß zugleich Verwertungsprozeß ist, verzehrt der Kapitalist in ihm das Arbeitsvermögen des
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Arbeiters oder eignet sich die lebendige Arbeit als Lebensblut des Kapitals an. Das Rohmaterial, überhaupt der Arbeitsgegenstand, dient nur dazu, fremde Arbeit einzusaugen, und das Arbeitsinstrument dient nur als Konduktor, Leiter für diesen Einsaugungsprozeß. Indem das lebendige Arbeitsvermögen den gegenständlichen Bestandteilen des Kapitals einverleibt ist, wird dies zu einem belebtem Ungeheuer.“ (Ebd.: S. 88)
In diesem Zitat unterscheidet Marx zwei Formen der Arbeit. Geht es allgemein um einen Produktionsprozess, dann verwendet der Arbeiter die Produktionsmittel als Subjekt. Wird der Produktionsprozess aber Verwertungsprozess, werden also Tauschwerte produziert, dann wird der Arbeiter zum Objekt des Kapitals. Marx behauptet, dass der Arbeitsgegenstand nur dazu dient, die lebendige Arbeit einzusaugen. Das Arbeitsinstrument, das Produktionsmittel, entzieht dem Subjekt seine lebendige Arbeit und stellt sie zur Anhäufung des toten Kapitals zur Verfügung. Der Arbeiter schafft so ein Ungeheuer aus seiner eigenen Kraft. Marx verweist hier auf das bekannte Motiv der selbstgeschaffenen fremden Mächte. Diese Mächte sind entstanden aus eigenen Vergegenständlichungen. Diese sind nun unabhängig und autonom, sie erhalten sich am Leben durch die lebendige Arbeit. Essentialismus bei Marx Die Bestimmung der Entfremdung des Menschen von sich selbst und vom Gattungswesen erscheint essentialistisch (vgl. Jaeggi 2005) verkürzt. Marx braucht allerdings eine Kategorie des richtigen Verhältnisses zu einem Ursprünglichen, um überhaupt eine normative Grundlage zu schaffen, auf der seine Gesellschaftskritik aufbauen kann (1). Es ist daher zu klären, wie stark Marx essentialistisch verfährt. Essentialismus kann man Marx zum einen bei seiner Konzeption des Gattungswesens (2) und zum anderen bei seinem geschichtsdeterministischen Ansatz (3) vorwerfen. (1) Marx’ Entfremdungskritik hat ihren Bezugspunkt in der normativen Forderung, dass die subjektiven Potentiale entfaltet werden sollen. Der Mensch soll seine universalen Fähigkeiten ausbilden und Bedürfnisse entwickeln und befriedigen, die das Gattungswesen in seiner Epoche vermittelt bekommt. Erst im Kommunismus können dann alle Fähigkeiten und Bedürfnisse vollkommen entwickelt werden. Fähigkeiten und Bedürfnisse sind daher liberal konzipiert. Man kann an dieser Stelle einwenden, dass Marx grundsätzlich subjektive zu verwirklichende Potentiale als Bedingung für ein gelungenes Leben annimmt. Der Essentialismus bestünde dann in der Unterstellung, dass das echte und wahre Leben nur dann zu erreichen sei, wenn man seine universellen Anlagen entwickelt und verwirklicht. Marx braucht diese ethische Annahme, damit er begründen kann, warum die kapitalistischen Verhältnisse problematisch sind.
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(2) Um Marx’ Begriff des Gattungswesens zu rekonstruieren, bietet es sich an, seine Quellen zu betrachten. Marx’ anthropologischer Materialismus geht maßgeblich auf Feuerbach zurück. (Vgl. Schmidt 1993[1971]: S. 14–15)67 Von Hegel übernimmt Marx das Vergegenständlichungsmodell als anthropologische Konstante. Ein dritter Bezugspunkt ist Moses Heß, von dem er die politische Konzeption des Verhältnisses von Privateigentum und Entfremdung entnimmt: „Das Marxsche Modell des Gattungswesens läßt sich als Synthese aus drei Quellen begreifen: der anthropologischen Konzeption von Feuerbach, der sozialen Einheitsvision von Heß und dem von Hegel entliehenen Vergegenständlichungsmodell des Handelns. Marx behält mit Hegel das erkenntnistheoretische Subjekt-Objekt-Modell bei, um die Notwendigkeit der Entfremdung zu konzipieren. Er akzeptiert mit Feuerbach die individuell anthropologische und die theoretische Dimension des Gattungswesens als untergeordnete Aspekte des primär sozialen Gattungswesens. Und mit Heß kritisiert er Privateigentum an Produktionsmitteln, Lohnarbeit und die Existenz eines Rechtsstaates als Ausdruck der Entfremdung, die durch unmittelbare oder bewußt geplante und rational durchschaute Kooperation zu ersetzen sei.“ (Quante 2009: S. 267)
Das Gattungswesen ist kein starres Wesen (und keine reine ursprüngliche Natur), zu dem einfach zurückgekehrt werden kann. Das Gattungswesen Mensch ist offen und hat als Bedingung nur seine Autonomie und Freiheit. Entfremdung vom Gattungswesen bedeutet daher nicht Entfremdung von einem ursprünglichen Wesen, sondern den Mangel an Autonomie, Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung. Die Realisierung des Gattungswesens ist allerdings gekoppelt an eine kooperative Gesellschaftsgestaltung: „Im planmäßigen Zusammenwirken mit andern streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen.“ (Marx 1973[1867]: S. 349) Gleichzeitig sind es gesellschaftliche Formen der Warenproduktion, die diese Realisation des Gattungsvermögens verhindern. Dieser Gedankengang erinnert an Rousseau: Es sind die kulturellen Kräfte, die die Wesenskräfte einschränken und damit die natürliche Bestimmung derselben verunmöglichen. Bei Rousseau liegt die Lösung in einem Gesellschaftsvertrag und bei Marx in der gemeinsamen geschichtlichen Determination, die die Wesenskräfte befreien soll. Aber welche Kräfte sind genau zu befreien? Dazu Marcuse über Marx: „Die innerste Natur des Menschen liegt in seiner Universalität. Seine intellektuellen und körperlichen Anlagen können nur entfaltet werden, wenn alle Menschen als Men67 Feuerbach entwirft vor Marx eine materialistische Anschauung und kehrt sich damit als Junghegelianer gegen Hegel: „Anstatt mit Philosophie zu beginnen, um wieder mit Philosophie zu endigen, will er [Feuerbach] mit Nichtphilosophie beginnen, um durch Philosophie hindurch zur Nichtphilosophie zurückzugelangen.“ (Schmidt 1993[1971]: S. 16)
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schen existieren, das heißt, im entfalteten Reichtum ihrer menschlichen Wesenskräfte.“ (Marcuse 2004[1962]: S. 243) Die innere Natur ist daher durch ihre Universalität gekennzeichnet, die der Mensch nur durch seine Bezugsweise auf die Welt verwirklichen kann, d. h. die richtige Vergegenständlichung: „Der Mensch kann sein Gattungswesen nur realisieren, indem er ein Bewußtsein desselben entwickelt. Letzteres kann er nur, indem er seine Gattungseigenschaften an einem Objekt erkennt. Dieses Objekt muß dabei, damit es sich um wahre Erkenntnis des eigenen Gattungswesens handelt, eine Vergegenständlichung seiner Gattungseigenschaften sein. Für Marx ist dies der gesellschaftliche Produktionszusammenhang. In diesem liegt also der erste Schritt die Vergegenständlichung und Entäußerung bzw. Entfremdung der Gattungskräfte vor – der Zustand des Kapitalismus als Endpunkt dieser entfremdeten Vergegenständlichung. Sind alle Gattungseigenschaften auf diese Weise herausgearbeitet, dann kann der Mensch – analog zur Feuerbachschen Religionskritik – durch soziale Revolution beginnen, sich dieses Gattungskräfte praktisch anzueignen.“ (Quante 2009: S. 258)
Das Konzept der Gattung ist bei Marx sehr offen gedacht, dadurch umgeht er essentialistische Verengungen. Gleichzeitig koppelt er aber die richtigen Bedürfnisse an kulturelle und historische Gegebenheiten: „Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw. sind verschieden je nach den klimatischen und anderen natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes. Andererseits ist der Umfang sogenannter notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes [...] ab.“ (Marx 1973[1867]: S. 185)68
Ein konkretes Bedürfnis in einer bestimmten Zeit zu verabsolutieren verbietet sich daher. Es ist die ausgearbeitete Universalität, die die Bedürfnisse der Individuen je spezifisch werden lässt:
68 Noch einmal Marx/Engels, zur Verdeutlichung in der deutschen Ideologie: „Zum Leben [...] gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst, und zwar ist dies eine geschichtliche Tat, eine Grundbedingung aller Geschichte, die noch heute, wie vor Jahrtausenden, täglich und stündlich erfüllt werden muss, um die Menschen am Leben zu erhalten. […] Das Zweite ist, dass das befriedigte erste Bedürfnis selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon erworbene Instrument der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen führt.“ (Marx 1990[1846]: S. 28)
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„In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sog. Natur sowohl wie seiner eignen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangne historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d.h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorgegeben Maßstab, zum Selbstzweck macht? Wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert? Nicht irgend etwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist? In der bürgerlichen Ökonomie – und der Produktionsepoche, der sie entspricht – erscheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung; diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung und die Niederreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußeren Zweck.“ (Marx 2005[1941]: S. 395–396)
Der Reichtum der menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse bildet daher den Kern des Gattungswesens, den es zu entfalten gilt. Das Gattungswesen ist offen und nicht essentialistisch, bis auf die normative Annahme, dass es Potentiale gibt und diese ausgearbeitet werden sollen. Marx, ganz aristotelisch geprägt, bestimmt, dass die menschlichen Sinne, Fähigkeiten und Bedürfnisse Selbstzweck sein sollen und die Entfaltung in der Praxis nur sozial geschehen kann. Das bedarf für Marx keiner weiteren Rechtfertigung. (Vgl. Eagleton 1994: S. 210) (3) Marx’ Essentialismus ist in erster Linie aber ein phylogenetischer Essentialismus, aus dem ein ontogenetischer Essentialismus folgt, der den Menschen teleologisch festlegt. Der Mensch hat keinen essentialistischen wahren Kern, sondern ist Teil einer historisch materialistischen Entwicklung, da Marx an einer essentialistischen Naturgeschichte festhält. Gleichzeitig findet sich aber auch die gegenteilige Analyse, dass die Geschichte eine „Geschichte von Klassenkämpfen“ (Marx/Engels 1990[1848]: S. 462) sei, wobei ein sozialer Kampf über den Stand und Fortgang der Geschichte entscheidet, in der es also keine Gesetzmäßigkeiten gibt. Ein Widerspruch, den Marx nicht auflösen kann (vgl. Görg 1994: S. 87), auch weil er an seiner deterministischen Teleologie festhält. Die Probleme seiner deterministischen Geschichtskonstitution führen zu einer essentialistischen Subjektkonstitution: Der Weg des Subjekts ist bereits vorgezeichnet, wie sich aus Marx’ Leitfaden entnehmen lässt: „Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die öko-
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nomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“ (Marx 1990[1860]: S. 8–9)
Hier wird deutlich, dass Marx ein Primat der ökonomisch-objektiven Struktur annimmt und dass die Menschen nur Abdruck derselben sind, bis sie sich dieser bemächtigen können. Im Basis-Überbau-Modell, in dem der Überhang des Ökonomischen offensichtlich wird, erscheinen die Schwachstellen der Marx’schen Subjektkategorie. Das Subjekt ist zum einen vollkommen gesellschaftlich bedingt, es ist bloß das Abbild objektiver Strukturen, wie Marx es in den Feuerbachthesen formuliert: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (Ebd.: S. 6) Zum anderen ist das Subjekt im Kern stets Wesen in bloß falscher Existenz. Dieser Grundwiderspruch in der Subjektkonstitution ist auf den teleologischen Impetus zurückzuführen, in dem der essentialistisch-deterministische Weltverlauf einen essentialistischen Subjektverlauf als revolutionäres Subjekt konstituiert. Marx’ Gattungsbegriff zeichnet sich durch eine Offenheit aus, in der es keine festen Wesenskerne gibt, die nur zu realisieren seien. Essentialistisch hingegen sind die normativen Annahmen, dass es anthropologisch Potentiale des Menschen gibt, die es zu entfalten gilt. Außerdem ist das Telos der Natur, und der Mensch als Teil davon, essentialistisch, da Marx einen genauen Fortgang der Natur und des Menschen in ihr zumindest teilweise verabsolutiert. 1.2.4 Entfremdung als Unbehagen in der Theorie Sigmund Freuds Für Sigmund Freud liegt der Grundwiderspruch des Menschen in der antagonistischen und unauflöslichen Konstellation der Triebe Eros und Thanatos auf der einen Seite und Kultur auf der anderen Seite. Dieser Antagonismus markiert den Beginn jeder Lebensentwicklung. Er ist die Folge des Bruchs mit dem primären Narzissmus, der mit dem „ozeanischen Gefühl“ (Freud 2016[1930]: S. 52) eines grenzenlosen Ichs einhergeht. In dieser ontogenetischen Entwicklung wird die Außenwelt
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nach und nach internalisiert, wodurch sich die Entfremdung des Es vom Über-Ich bildet. Das ozeanische Gefühl bleibt aber als Erinnerung und als Fixpunkt der Rückkehr aus der Entfremdung. Die Triebe werden in der äußeren Realität (durch Gebote, Verbote, Moral und Autoritäten) gebrochen und erscheinen nur noch verzerrt, wodurch sie sich nicht mehr adäquat befriedigen lassen. Das menschliche Verhalten ist daher den Trieben entfremdet, der Mensch kann sie in der kulturellen Welt nicht realisieren. Obwohl Freud keine explizite Entfremdungstheorie vorgelegt hat, können vor allem seine kulturtheoretischen Schriften in diesem Sinne verstanden werden: „Kultur ist [für Freud, J. W.] Entfremdung, Entfremdung ist der Prozeß der Kultivierung der Triebnatur des Menschen.“ (Trebeß 2001: S. 139) Neben dieser allgemeinen Bestimmung der Subjekt-Objekt-Trennung durch den Kulturbruch mit dem primären Narzissmus tauchen auch die aus anderen Entfremdungstheorien bekannten Motive bei Freud auf. So ist die objektive Struktur der Gesellschaft verantwortlich für die unrealisierbaren Bedürfnisse. Auch die Gefahr einer Instrumentalisierung und Verselbstständigung der Triebkräfte lässt sich herauslesen. Die allgemeinste Formel in Freuds impliziter Entfremdungstheorie lässt sich daher folgendermaßen formulieren: Entfremdung entsteht in dem unbewältigbaren Grundkonflikt zwischen Triebstruktur und Gesellschaft/Kultur. Das Es wird durch die Instanz des Über-Ichs nur bedingt realisiert, es bleibt seiner Bestimmung als Lustprinzip entfremdet. Dem Ich kommt dabei eine Position zwischen den Antagonisten zu: Es vermittelt Es und Über-Ich, es sucht gewissermaßen einen Ausgleich in der Entfremdung. Wie bei Rousseau, Hegel und Marx sind es auch bei Freud die objektiven Strukturen69, die mit den menschlichen Subjektstrukturen konflikthaft vermittelt werden. Diese Formel lässt sich in Freuds kulturanalytischem Essay von 1929 „Das Unbehagen in der Kultur“ (vgl. Freud 2016[1930]) konkret beschreiben. Dort geht er der Frage nach, warum die Menschen an ihrer selbsterzeugten Kultur leiden. Als Antwort formuliert er, dass die Individuen sich den Anforderungen der Kultur unterwerfen müssen, um ein funktionierendes Miteinander zu gewährleisten. Die Menschen gehen bestimmte Verhältnisse ein, in denen sexuelle und aggressive Regungen kontrolliert und sublimiert werden. Die Kultur nimmt beide Triebe in Anspruch, um ihre Aufgabe zu gewährleisten: Beherrschung der Natur und die Regulation menschlicher Beziehungen. Während der Eros die gesellschaftliche Bindung der Menschen untereinander verstärkt, entsteht aus dem Destruktionstrieb ein Schuldgefühl, das gesellschaftliche bzw. individuelle Gewissen. Freud nimmt an, 69 Diese objektiven Strukturen sind bei Freud kulturelle, bei Marx ökonomische und bei Rousseau gesellschaftliche, wobei diese Kategorien nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind.
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dass die Triebe durch die Kultur instrumentalisiert werden, wodurch diese Sicherheit bietet, aber gleichzeitig Triebbefriedigung hemmt. Durch die kulturellen Einrichtungen kann dementsprechend weder das Lustprinzip (Streben nach Lust) noch das Realitätsprinzip (Vermeidung der Unlust) ausreichend Lust vermitteln. Mit Lustprinzip ist der uneingeschränkte Antrieb zur Lustgewinnung des Es gemeint. Das Realitätsprinzip ergänzt das Lustprinzip. Als Teil des Ichs steht das Realitätsprinzip für die Vermittlung von Umwelt und Lustprinzip. Lust wird in der Entwicklung des Kindes zunehmend nicht unmittelbar, im Sinne des Lustprinzips, befriedigt, sondern durch die äußere Realität vermittelt. Leid entsteht, wenn weder das Lust- noch das Realitätsprinzip die Wunscherfüllung adäquat ermöglichen können. Freud charakterisiert die Quellen der Unlust: In der Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit und Sterblichkeit, der „Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers“ und der „Übermacht der Natur“ erlebt der Mensch Angst und Unlust. Diese Punkte sind für Freud konstant und unveränderlich. Er macht aber noch eine weitere Komponente aus, eine soziale, die für ihn einen engen Spielraum bietet: das Erfahren der „Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehung der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln.“ (Ebd.: S. 67) Diese letzte Quelle der Unlust lässt sich prinzipiell verändern. Freud erkennt hier die Möglichkeit, das Leid zu reduzieren. „Allerdings, wenn wir bedenken, wie schlecht uns gerade dieses Stück der Leidensverhütung gelungen ist, erwacht der Verdacht, es könne auch hier ein Stück der unbesiegbaren Natur dahinterstecken, diesmal unserer eigenen psychischen Beschaffenheit.“ (Ebd.: S. 67) Er steht seiner eigenen Hoffnung daher skeptisch gegenüber. Das konkrete Unbehagen an der Kultur ist für Freud in einem ursprünglichen Schuldgefühl zu suchen. Das Schuldbewusstsein, entstanden durch Internalisierung der aggressiven Regungen, ermöglicht die Kulturfähigkeit und gleichzeitig bedingt es die Entfremdung. Der Sündenfall der Kultur ist durch das Bild des Vatermordes durch die Söhne dargestellt. Er markiert den Übergang in das Zeitalter des sozialen Leids und den Ursprung der leidvollen Schuldgefühle: „Seine schuld- und gewissenschaffende Wirkung verleiht dieser menschheitsgeschichtlichen Urszene eine initial kulturbildende Qualität; ihr szenischer Ablauf findet sich im ödipalen Konflikt der einzelnen Lebensgeschichten moderner Kulturmenschen wieder.“ (Busch 2001b: S. 68) Die Kulturverbote, um den Vatermord nicht zu wiederholen, bzw. die Verinnerlichung des Gewissens, erinnern an die Selbstbeschränkung und Anerkennung, die Hegel anführt, wenn er den Ursprung der Sozialität im Abschnitt über Herr und Knecht beschreibt.
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Die selbstgeschaffene Kultur wird daher zum fremden Über-Ich, das die Disziplin, Norm und Ordnung in die Menschen implementiert.70 Das Es wird vom ÜberIch zurechtgewiesen. Auf der gesellschaftlichen Bühne erscheint es dann als entfremdetes bzw. verzerrtes Es. Die Entfremdung wird so zum Instrument, um die Triebe in kulturelle Errungenschaften umzulenken, zu sublimieren. Die Subjekte schaffen eine objektiv-kulturelle Welt, die sie anschließend nicht mehr nachvollziehen können (sie ist unbewusst), die sie beherrscht und die sie hinter ihrem Rücken lenkt. Auch bei Freud sind ein glücklicher Ursprung (primärer Narzissmus) und anschließende Entfremdung durch Kultur eng verzahnt. Seitdem die Philosophie die Selbstbefreiung der Menschen auf dem Plan hat, erschien als Ausweg aus dieser Entfremdung eine neue Gesellschaftsordnung.71 Freud als bürgerlicher Theoretiker sieht zur Kultur seiner Zeit wenig Alternativen, außer der Milderung und Abschwächung von sozialem Leid. Das Mittel dazu sieht er in der Therapie, in einer individuellen Suche nach dem Grund der Entfremdung und der Bewusstmachung der Unglücksursachen. Hier wird die Ausweglosigkeit der Freud’schen Kulturtheorie sichtbar, denn ein gesellschaftlicher Lösungsweg ist weitgehend versperrt. Freud verweist aber auf verschiedene – teilweise widersprüchliche – leidmindernde Konstellationen zwischen Trieb und Kultur. (Vgl. Busch 1993: S. 311) Ein grundsätzliches Programm gegen das Unbehagen aus der Entfremdung lässt sich daraus nicht ableiten. Freud schlägt die Vereinigung von Kultur mit dem Lebenstrieb vor, um Aggression und Destruktion zu verhindern. Die Kultur soll eine Ordnung herstellen, unter der der Eros als Teil der Kultur gegen den Todestrieb in Dienst genommen wird: „Prozeß im Dienste des Eros.“ (Freud 2016[1930]: S. 93) Ein libidinöser Zusammenhalt und die Umwendung des Aggressionstriebes auf sich selbst sollen das neue Primat der Kultur werden. Freud hofft auf eine bewusste Einrichtung der Kultur, in der die objektiven Verhältnisse so strukturiert werden, dass der Destruktionstrieb sich nicht gegen Andere, sondern gegen sich selber verwirklicht. Genauer: Wie bei Hobbes im Leviathan, so hat auch Freud die Idee, dass es eine kulturelle Einrich70 Freuds Beschreibung der verinnerlichten Aggression und der Bildung des Über-Ichs im Wortlaut: „Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt und nun als ‚Gewissen‘ gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte. Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewusstsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis.“ (Freud 2016[1930]: S. 94) 71 Wie bei Platon, Hegel, Rousseau, Marx usw.
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tung geben muss, die die Menschen vor ihrer Destruktion schützt. Freud hofft, dass die Energie der Aggression umgeleitet und gegen den Trieb selbst gewendet wird. Mit dieser Idee begründet Freud das Gewissen, das die Menschen schützt,72 anstatt sie unglücklich zu machen. Unter der Prämisse, dass Entfremdung durch die internalisierte Differenz von Über-Ich und Es entsteht, wird das Über-Ich zum Herrn über die Entfremdung; es beschneidet das Es durch seine kulturellen Gebote vermittels des Schuldgefühls. Das Über-Ich formiert sich aus einem Ideal-Ich, einer idealen Selbstsicht. Das Schuldgefühl entsteht durch die Abweichung des eigenen Verhaltens infolge von Es-Regungen im Widerspruch zum Ideal-Ich. Wird das Ideal-Ich nun in einem äußeren Objekt verkörpert und „liebt [man] es wegen der Vollkommenheit, die man fürs eigene Ich angestrebt hat“ (Freud 2007[1921]: S. 74), dann wird das Über-Ich ausgelagert. Mit diesem Delegieren des Über-Ichs auf eine äußere Autorität wird ebenfalls die Macht über Sublimierung, Triebabfuhr und Entfremdung aus der Hand gegeben. Entfremdung wird in den Händen bestimmter Autoritäten (ob Personen oder Ideen) so zum Instrument der Herrschaft. Entfremdung ist in der Kultur unumgänglich, jedoch drängt sie zu ihrer Aufhebung. Das Es macht durch Wünsche, Träume, Versprecher usw. auf sich aufmerksam. Diese verdrängten Triebregungen versuchen über Umwege zurückzufinden. Unterwerfung und Widerstand sind in dem nie vollständig zu vergesellschafteten Subjekt dementsprechend permanent möglich. Kritik ist an der einseitig biologistischen Konzeption und spekulativen Herleitung des Triebes zu üben. (Vgl. Busch 1993: S. 322) Freud nimmt eine essentialistische Ursubstanz der Triebe an, die er aber nirgendwo nachweisen kann. Dadurch kommt es an einigen Stellen zu einer mechanistisch wirkenden Gegenüberstellung von Natur und Kultur. Innere wie äußere Natur sind aber immer auch gesellschaftlich vermittelt und nicht autonom zu denken. Diese Kritik nehmen später Klaus Horn und Alfred Lorenzer in einer Kritischen Theorie des Subjekts auf. (Vgl. ebd.: S. 313) Herbert Marcuse sieht in den kulturtheoretische Arbeiten Freuds eine metapsychologische Variante der westlichen Philosophie, genauer der Identitätsphilosophie seit Aristoteles (vgl. Marcuse 1967: S. 107–139) und auch speziell der Entfremdung, in Gegenüberstellung zur Triebbefriedigung: 72 Aus dem brutalen Naturzustand, den Hobbes und Freud ähnlich konzipieren, führt bei beiden Theoretikern nur die Gewalt zur Einhaltung der Ordnung. Hobbes verortet sie im Souverän, der die Menschen unter Androhung von Strafe friedlich machen soll, während Freud den Souverän durch die Kultur in das Über-Ich introjiziert sieht. Die Macht für die gesellschaftliche Friedenssicherung kommt bei Hobbes von außen und bei Freud von innen.
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„Die Philosophie der antagonistischen Subjekt-Objekt-Beziehung enthält auch das Bild ihrer Versöhnung. Die rastlose Mühe des transzendierenden Subjekts endet in der letztlichen Einheit von Subjekt und Objekt: in der Vorstellung des ‚Seins-an-und-für-sich-selbst‘ des Daseins in der eigenen Erfüllung. Der Logos der Befriedigung widerspricht dem Logos der Entfremdung: die Bemühung, die beiden zu versöhnen, beseelt die innere Geschichte der westlichen Metaphysik. In der aristotelischen Hierarchie der Daseinsformen, die in dem nous theos gipfelt, hat diese Bemühung um Versöhnung ihre klassische Formulierung gefunden.“ (Ebd.: S. 112)
In der Lesart von Marcuse reiht sich Freud in das philosophische Motiv der Identitätssuche von Subjekt und Objekt ein. Unbehagen ist Folge der unterdrückten aggressiven Triebregungen, die sich aus der Entfremdung von Über-Ich und Es, Realitätsprinzip und Lustprinzip, Subjekt und Objekt ergeben. Obwohl Freud keine explizite Entfremdungstheorie geschrieben hat, hat er dennoch mit seiner Entdeckung der Tiefenstruktur des Menschen und seiner unbewussten Dynamiken einen Ansatz geschaffen, der für die Klärung des Phänomens Entfremdung kaum zu vernachlässigen ist. 1.2.5 Verdinglichung bei Georg Lukács Georg Lukács entwirft 1923 in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (vgl. Lukács 2013[1923]) eine Verdinglichungstheorie, die sich auf die Marx’sche Fetischtheorie bezieht und diese auf Hegel zurückführt. Er beharrte auf der Befreiungsthese des Proletariats. In diesem Zusammenhang dienen ihm die Begriffe Verdinglichung und Entfremdung zur Erklärung eines totalitären Kapitalismus, der gerade in den hochentwickelten Gesellschaften eine ungeahnte Stabilität erlangt hatte. Lukács interessiert die grundsätzlich konflikthafte, aber stabile Verbindung von Kapital und Proletariat. Er beschreibt zunächst frühere Gesellschaftsformen, in denen es bereits vereinzelt Massenproduktion gab, allerdings ohne bedeutende Rationalisierungen und Mechanisierungen. Im Kapitalismus ergreift diese Form der Produktion und die ihr eigene Verdinglichungstendenz die Gesellschaft total. Andere Formen des Wirtschaftens werden unter die rationalisierten und kapitalistischen Strukturen subsumiert. Die Rationalisierung erscheint nicht mehr, wie noch bei Marx, als treibende Kraft gestiegener Produktivkräfte im Konflikt mit den Verhältnissen, sondern als ihr Gegenteil – sie stabilisiert die Verhältnisse. Mit Max Weber stellt Lukács daher die um-sich-greifende Rationalisierung als Folge der Arbeitsteilung in das Zentrum seiner Gesellschaftsanalyse. Demnach besteht der Produktionsprozess aus eng ineinandergreifenden Schritten und Abfolgen, die die Tätigkeiten abstrakt werden lassen. Die so rationalisierte Arbeit erfasst das
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Bewusstsein der Arbeiter und trennt diese von ihrer Persönlichkeit: Ihre Handlungen im Produktionsprozess geraten zu nurmehr verdinglichten bzw. objektivierten Handlungen, wodurch die Persönlichkeit in einem solchen Produktionsprozess abhandenkommt. Die Tätigkeit des proletarischen Menschen wird auf den bloßen mechanisierten Arbeitsablauf reduziert: „Der Mensch erscheint weder objektiv noch in seinem Verhalten zum Arbeitsprozeß als dessen eigentlicher Träger, sondern er wird als mechanisierter Teil in ein mechanisches System eingefügt, das er fertig und in völliger Unabhängigkeit von ihm funktionierend vorfindet, dessen Gesetzen er sich willenlos zu fügen hat. Diese Willenlosigkeit steigert sich noch dadurch, daß mit zunehmender Rationalisierung und Mechanisierung des Arbeitsprozesses die Tätigkeit des Arbeiters immer stärker ihren Tätigkeitscharakter verliert und zu einer kontemplativen Haltung wird.“ (Lukács 2013[1923]: S. 263–264)
Die Maschine gibt die Tätigkeit vor und der Arbeiter passt sich an. Gleichzeitig kann er diesen Prozess von einer externen Position betrachten. Dieses Betrachten nennt Lukács kontemplative Haltung. Der Arbeiter wird so im Arbeitsprozess verdinglicht. Zugleich erhalten die Dinge, neben dem Gebrauchswert, einen Tauschwert, an dem sich die gesellschaftliche Produktion orientiert. Mit dem Tauschwert besitzt das Ding plötzlich menschliche, bzw. wie bei Marx, „gespenstische“ Qualitäten. Folglich ist der Fetischcharakter nicht bloß falscher Schein, denn die Beziehungen sind real verdinglicht: „Der fetischistische Schein der ‚Sachlichkeit‘ von Personalbeziehungen ist nicht eine Illusion, sondern Ausdruck der realen Verdinglichung: Die Produzenten werden von den Produktionsbedingungen überwältigt; die Subjekte werden Knechte ihrer selbstgeschaffenen Herrn, der gesellschaftlichen Kausalität der Warenproduktion.“ (Dannemann 1987: S. 31)
Lukács arbeitet daher, wie es bei Marx angelegt ist, heraus, dass Verdinglichung nicht bloß ein Bewusstseinsphänomen bzw. eine verfälschte Wahrnehmung, sondern eine praktische Verkehrung, eine Realverdinglichung, ist, die auch praktisch aufgehoben werden muss. (Vgl. ebd.: S. 40–49) Das Proletariat kann die Gesellschaft aber nur durch eine tiefgreifende Revolution der Produktionsverhältnisse praktisch umwerfen. Die Entlarvung der Ideologie kann dementsprechend nur ein Anfang sein, nicht aber direkt zur Emanzipation des Menschen führen. Daher bleiben die Produktionsverhältnisse stabil. Denn der relativ homogene und totale Produktionsprozess strukturiert das Bewusstsein aller Gesellschaftsmitglieder. Die verdinglichten Tätigkeiten und ihre kontemplative Anschauung erstrecken sich sukzessive über die gesamte Gesellschaft: Das verdinglichte Bewusstsein wird zur Folge und Voraussetzung der kapitalistischen Gesellschaft. Lukács diffe-
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renziert drei Teile der Verdinglichung in der Gesellschaft. Erstens die Anpassung und Übernahme der Verdinglichung durch alle Individuen. Zweitens die Anpassung der Wissenschaft an die Verdinglichung: Diese sei nicht mehr in der Lage, den Grund der Verdinglichung zu benennen. Drittens das bürgerliche Bewusstsein wird in die Verdinglichung gezogen. Daraus folgt, dass der Gesamtzusammenhang der Gesellschaft durch die Arbeitsteilung unbegreifbar wird. Die Welt kann mit dem bürgerlichen Bewusstsein nicht mehr erfasst werden. Das Bürgertum konsumiert die Produkte nur, ist aber von der Produktion selbst abgeschnitten und kann daher die Einzelaspekte der Produktion nur rationalistisch erkennen: Die kapitalistische Produktionsweise erscheint somit als ausweglos und der Gesamtzusammenhang der Produktion bleibt unerkannt. Bürgerliches Bewusstsein, Bürokratie und Wissenschaft werden so zu Ideologien. Das verdinglichte Bewusstsein ist ein geschichtsloses, blind für die realen Verhältnisse, die es weiter verdinglicht. Der Begriff Verdinglichung meint vor allem die falsche Zuschreibung einer ontologischen Qualität. Dadurch werden eigentlich bewegliche Verhältnisse als natürlich festgestellte Verhältnisse verkannt. Für Lukács obliegt dem Proletariat das theoretische Erkennen und praktische Auflösen des verdinglichten Bewusstseins. Die proletarische Klasse strebt zur Subjekt-Objekt-Identität: „Die Selbsterkenntnis des Proletariats ist also zugleich die objektive Erkenntnis des Wesens der Gesellschaft.“ (Lukács 2013[1923]: S. 331) Diese Position unterscheidet das Proletariat von der Bourgeoisie, obgleich beide von der gleichen Verdinglichung betroffen sind. Der Einfluss der Herr-Knecht-Dialektik Hegels auf Lukács wird hier deutlich. Die Proletarier leiden an der Verdinglichung und streben zur Aufhebung durch Tätigkeit und Selbsterkenntnis, während die ebenfalls verdinglichte Bourgeoisie sich in ihrem Status als Herr einrichtet. „Er [Lukács, J. W.] […] sucht nachzuweisen, daß die rationelle Produktion alle gesellschaftlichen Institutionen von Grund auf prägt. Die abstrakte Gleichheit der Warenform mit ihren verkehrenden Konsequenzen setzt sich auch in Staat, Recht, Kunst usw. der Neuzeit durch, was zur Folge hat, daß die Verdinglichung des Lohnarbeiters durch die des Nicht-Arbeiters (Richters, Künstlers etc.) ergänzt wird.“ (Dannemann 1987: S. 35)
Diese Selbsterkenntnis des Wesens der Gesellschaft verändert den Arbeiter und macht ihn zum revolutionären Subjekt: „Die Selbsterkenntnis vollbringt eine gegenständliche, struktive Veränderung am Objekt ihrer Erkenntnis.“ (Lukács 2013[1923]: S. 353) Der Arbeiter allein kann die Kommodifizierung der Arbeitskraft erkennen und sogleich die Ware als verschleiertes soziales Verhältnis. Die Verdinglichung der gesamten Gesellschaft drängt das Proletariat zugleich auf die Objektseite (sie sind Ware) und auf die Subjektseite (sie sind selbstbewusst werdende Klasse). Die starke Verschiebung, nach beiden Seiten hin lässt den Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft offensichtlich werden. Die Klasse der
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Bourgeoisie (verkörpert durch den Bürokraten) hingegen bleibt in ihrer unerkannten Verdinglichung, die ihr den Aufstieg in der Verwaltung ermöglicht. Lukács begreift Geschichte als Determinismus. 73 In diesem ist der Kapitalismus eine notwendige Epoche der Verdinglichung. Er gerät aber mit dem ontologischen Wesen der Geschichte, der Dialektik, in einen Widerspruch. Das Proletariat erkennt, als Subjekt und Objekt der Geschichte, die Verdinglichung und überwindet den Kapitalismus, dieser wird dann zur bloßen Epoche der Geschichte und nicht ihr Ende. Das ontologische Theorem der Herr-Knecht-Dialektik wird so auf Marx’ Theorie angewandt. Marx wird von Lukács mit Hegel’scher Brille neu gelesen. Lukács Theorie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Begriff der Verdinglichung eröffnet eine neue Perspektive auf das Problem der Entfremdung. Lukács beginnt seine Analyse mit der Ware, die, durch ihre Produktion als Tauschwert, eine spezifische kapitalistische Produktionsweise einleitet. Die Arbeitsteilung ermöglicht eine unerkannte irrationale gesellschaftliche Produktion, die in ihren fragmentierten Teilbereichen dem Rationalisierungsprozess unterworfen ist. Diese vereinzelten Aktivitäten werden zur Ware Arbeitskraft. Unter solchen Bedingungen verdinglicht sich die Tätigkeit des Arbeiters, sie wird zu einem Ding und entfremdet sich der Persönlichkeit. Dieser Entfremdung auf der Ebene des Seins entspricht die Verdinglichung auf der Ebene des Bewusstseins: Schein und Sein der Verdinglichung und Entfremdung bedingen sich gegenseitig. Daraus resultieren zum einen die physischen und psychischen Beschädigungen für den Arbeiter und zum anderen die Ideologie als solitäre Rationalisierung von gesellschaftlich-ökonomischen Prozessen ohne Gesamtübersicht und bewusste Planung. So sind die Sphäre der bürokratischen Verwaltung, der Konsumtion oder der Produktion für sich genommen rational, für den gesamten Komplex der Gesellschaft hingegen können diese Teilrationalisierungen gleichzeitig äußerst irrational sein. Lukács’ Verdienst ist, zum einen die ideologisierenden Auswirkungen von Entfremdung und Verdinglichung und zum anderen den Einfluss des gesellschaftlichen Prozesses der Warenproduktion auf das Sein und Bewusstsein der Menschen genau analysiert zu haben. Lukács versteht die Phasen der Geschichte als ontologisch totalitär. Er greift daher die Subjekt-Objekt-Dialektik von Hegel auf und verortet vorschnell das Proletariat darin. Gegenüber diesem Geschichtsdeterminismus beleuchtet er aber auch die relative Stabilität der Produktionsverhältnisse aufgrund fehlenden Erkenntnis und die ausbleibende Emanzipation der Arbeiter. Dies sind dann auch Anknüpfungspunkte für die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, allen voran für Adorno und Horkheimer. Beide beschäftigen sich weiterführend mit der 73 Marx war hier ambivalenter, er kann den Widerspruch zwischen Geschichte als deterministische Telelogie und offenes Ergebnis der Kämpfe nicht auflösen. (Vgl. Görg 1994: S. 87)
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Kritik Lukács’ an den empirisch-positivistischen Einzelbetrachtungen der herrschenden Wissenschaft. Eine Pointe der Theorie Lukács’ ist die Ideologiekritik: ohne den Blick auf den Gesamtzusammenhang wird die Irrationalität des Ganzen durch die Rationalität der Teile überstrahlt. Lukács greift die implizite Philosophie der Marx’schen Warenanalyse auf und interpretiert sie als Verdinglichungstheorie. Später, in seinem Vorwort zu „Geschichte und Klassenbewusstsein“74, revidiert er Teile seines Frühwerks und schließt eine Kritik an, die an den „Ökonomischen-philosophischen Manuskripten“ von Marx orientiert ist In seinem Spätwerk geht Lucács explizit auf die Entfremdung ein. Hier greift er die Marx’sche Konzeption der Entwicklung von Fähigkeiten und der Entfaltung menschlicher Anlagen auf. (Vgl. Dannemann 1987: S. 228) Er differenziert Vergegenständlichung, Entäußerung und Entfremdung im Sinne von Marx: „Lukács unterscheidet [...] die im Arbeitsprozeß amalgamierten Elemente der ‚Vergegenständlichung‘ und die der ‚Entäußerung‘. Jeder Arbeitsprozeß führt zur Objektivation; das Vergegenständlichen ist ein ‚natürliches‘, nichtabschaffbares Element jeder Arbeit, es enthält als solches keine entfremdeten Elemente. Die ‚Entäußerung‘ besteht in den Rückwirkungen der Vergegenständlichungsprozesse auf den Produzenten. Hierbei entstehen unter bestimmten (z.B. unter warenwirtschaftlichen) Bedingungen Entfremdungseffekte. Die Zuwachsraten der Reichtumsproduktion – der gesamtgesellschaftliche Reichtum an Objektivationen – kontrastieren der Privation der Persönlichkeitsentwicklung.“ (Ebd.: S. 229)
Lukács fasst in seinem späteren Werk die Verdinglichung als „Vermittlungskategorie der Entfremdung“ (Lukács 1986[1971]: S. 601), die sich total in allen Lebensäußerungen wiederfindet. Die Überwindung der Verdinglichung ist gedacht als eine Wiederaneignung der Autonomie durch eine tiefgehende Demokratisierung der Gesellschaft durch das Proletariat. Die Schwachstellen der Verdinglichungstheorie Lukács’ sind für Rahel Jaeggi (vgl. Jaeggi 1999) zum einen eine essentialistische Vorstellung75 von Sub74 Lukács hatte sich zunächst gegen eine Wiederveröffentlichung seines Frühwerks gewehrt. 75 Hier ist zu differenzieren, denn Lukács nimmt wie Marx ein Gattungswesen an, dieses ist allerdings, im Gegensatz zum Wesen der Substanz in der Antike, formbar. Er sieht das Wesen Mensch als biologisch und historisch. Rüdiger Dannemann beschreibt die Ontologie bei Lukács in Kurzform: „1. Der Mensch ist – auch – ein biologisches Wesen. Als solches besitzt er eine Gattungsmäßigkeit an sich, ein relativ konstantes Basisrepertoire an physischen Fähigkeiten (und Mängeln), Trieben usw. 2. Der Mensch ist – vor allem – ein geschichtliches Wesen, eben ein Wesen, das kein Wesen im herkömmlichen Sinne
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jektivität respektive Authentizität und zum anderen „die in der Betrachtung der Verdinglichung als ‚Kategoriefehler‘ liegende Vermischung von deskriptiven und normativen Komponenten“ (ebd.: S. 69), die aus einer undifferenzierten Setzung einer angenommenen Ethik76 hervorgeht. Lukács stellt als erster den inneren Zusammenhang von Verdinglichung und kapitalistischer Ideologie im Anschluss an Marx dar. War bei Hegel der Entfremdungsbegriff noch durch die Geschichte des Geistes dargestellt, in der sich der Weltgeist in den Menschen entäußert und durch die Subjekt-Objekt-Identität in der Religion und Philosophie durch Begriffe zurückkehrt, wird bei Lukács das Proletariat und die Partei zum Subjekt-Objekt der Geschichte. Lukács kritisiert sein eigenes Frühwerk später als idealistisch und noch zu stark an Hegel orientiert. Unter dem Einfluss der Marx’schen Frühschriften wendet er sich stärker dem Materialismus zu. Er bemängelt an seinen Frühschriften die Gleichsetzung von Vergegenständlichung und Entfremdung allgemein. Vergegenständlichung bzw. Verdinglichung erscheint als grundlegendes Problem des Kapitalismus und nicht wie bei Marx als anthropologische Konstante. Verdinglichung ist nicht aus der Welt zu schaffen, im Gegensatz zur Entfremdung, die ein Fremdwerden der eigenen Vergegenständlichungen darstellt. (Vgl. Vellay 2008) Durch Lukács findet ein philosophischer Versuch der Weiterführung Marx’scher Theorie statt. Unter dem Einfluss der später entdeckten „Ökonomischphilosophischen“ Marx’schen Frühschriften verschiebt Lukács seine Reifikationstheorie vom Zentrum an den Rand seines Denkens. Verdinglichung wird zur conditio humana. Sie ist das menschliche Instrument zur Weltaneignung und trägt in sich die Möglichkeit ihrer Überwindung ebenso wie die Möglichkeit der Entfremdung. 1.2.6 Entfremdungstheorie im französischen (Post-)Strukturalismus Besonders in der französischen Marx-Diskussion setzt sich die Idee eines theoretischen Anti-Humanismus und Anti-Historismus durch. Dementsprechend leitet Althusser in der französischen Marx-Rezeption einen Paradigmenwechsel ein. Das Subjekt-Objekt-Theorem der Philosophie seit Platon und Aristoteles wird durch eine strukturalistische Betrachtung ersetzt, an der später die Diskursanalyse von Mibesitzt. Ähnlich wie heute bei Castoriadis ist für Lukács das entscheidende Merkmal des Menschen, sich durch Praxis neu zu definieren. Die ironische Konstante dieser ‚Anthropologie‘ besteht darin, daß sie für die Spezies Homo sapiens keine inhaltliche Konstante kennt, keine Substanz im antiken Sinne.“ (Dannemann 2005: S. 96) 76 Lukács war sich des Problems bewusst: Zeitlebens hat er an einer materialistischen Ethik gearbeitet, zu der er als Vorarbeit eine ontologische Grundlegung entwickelte. (Vgl. Benseler 1986) Die Formulierung einer materialistischen Ethik blieb unvollendet.
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chel Foucault ansetzt. Neben Althusser und Foucault einigte auch Jacques Lacan, Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes eine Kritik am herrschenden Begriff eines autonomen Subjekts. Bei Althusser sind Subjekte restlos ideologische Subjekte. Subjekte werden interpellativ in einer ideologischen Struktur gebildet und bekommen einen gesellschaftlichen Platz zugeordnet. Außerhalb dieser ideologischen Ordnung gibt es keine Subjektivität. Das Subjekt kann nur innerhalb der Ordnung sein. Althusser liest Marx durch eine spinozanische Brille, in der das Subjekt nichts mehr ist als seine Beziehungen. Den Grundgedanken der Ontologie Spinozas fasst Slavoj Žižek zusammen: „Für Spinoza gibt es kein Hobbessches ‚Selbst‘, das der Wirklichkeit entzogen wäre und ihr gegenüberstünde. Spinozas Ontologie ist die Ontologie vollkommener Immanenz in der Welt – d. h. ich ‚bin‘ nichts als das Netzwerk meiner Beziehungen zur Welt und in ihm vollkommen ‚entäußert‘. Mein conatus, mein Streben, mich selbst zu behaupten, ist somit keine Selbstbehauptung auf Kosten der Welt, sondern mein uneingeschränktes Akzeptieren der Tatsache, dass ich Teil der Welt bin, mein Zur-Geltung-Bringen der umfassenderen Wirklichkeit, in der allein ich gedeihen kann. Der Gegensatz von Egoismus und Altruismus ist damit überwunden: Ganz bin ich nicht als isoliertes Selbst, sondern in der gedeihlichen Wirklichkeit, deren Teil ich bin.“ (Žižek 2005: S. 38)
Althusser knüpft daran an, das potentiell mündige und subjektive Subjekt beginnt zu verblassen. Was bei Althusser mit Marx und bei Lacan mit Sigmund Freud beginnt, wird von deren Schülern weitergeführt. In der Struktur scheint kaum mehr Platz für ein subjektives Subjekt, das in der Postmoderne dann auch mehr und mehr verschwimmt. Intersubjektivität wird zunehmend ohne etwas Innerliches der Subjekte verstanden – der Andere, der Blick, der Spiegel überstrahlen eine wie auch immer geartete innere Natur. Um Marx aus den Fängen des realen Sozialismus zu lösen, versucht Jean-Paul Sartre Marx mit Heidegger neu zu lesen. Dabei verzichtet er weitgehend auf die ökonomische Kritik von Marx. Sartre analysiert erneut den in der Marx’schen Theorie unaufgelösten Widerspruch zwischen einer notwendigen (automatischen) revolutionären Umwälzung durch das Proletariat einerseits und dem eigenständigen Status des emanzipierten Subjekts andererseits. Das Subjekt als Existenz steht bei Sartre unhintergehbar fest. Ohne die Kategorien der Geschichte und Ökonomie versucht Sartre die Entfremdung als verkehrte Seinsweise zu erfassen. Der Mensch, genötigt sein Sein beständig zu entwerfen und diesen Entwurf zu realisieren, ist nicht starr. Im Werden des Menschen zeigt sich seine notwendige Freiheit. Der Idealzustand, die Einheit von Entwurf und Realisierung, wird durch die äußeren Zwänge gebro-
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chen und führt in die Entfremdung. Sartre beschreibt sechs Ebenen der Entfremdung. (Trebeß 2001: S. 167–175)77 In der Kritik der realsozialistischen Länder verweist Sartre auf das Problem, ohne gesellschaftliche Veränderung nur das Privateigentum abgeschafft zu haben. 77 Die Ebenen der Entfremdung lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstens Entfremdung als Ergebnis einer Vergegenständlichung. Das Produkt der Arbeit, als vergegenständlichtes Objekt, bleibt fremd und in der Welt, ohne es einverleiben bzw. anzueignen zu können. Es kann sich gegen das Subjekt wenden und die Tragweite der Entfremdung deutlich werden lassen. Natur, die äußerliche Materie als Natur, entzieht sich der Aneignung und kann sich, mangels ihrer Beherrschung, als Naturkatastrophe gegen das Subjekt wenden. Zweitens beschreibt Sartre eine Entfremdung durch den anderen. Der Andere ist bei Sartre immer ein Objekt, die Beziehung ist daher nicht intersubjektiv. Der Andere ordnet die Welt, die Welt ist nicht nach den Vorstellungen des Subjekts geordnet. Wenn der Andere als Subjekt erkannt wird, erkennt sich das Subjekt zwangsläufig selbst als Objekt. In den Augen des Anderen kann das Subjekt sich dementsprechend nur als Objekt erfahren: Seine Freiheit ist beschädigt. In dem Entwurf des einen findet sich die Einschränkung der Freiheit des Anderen. Die grundlegende Existenz des Anderen bedingt die Entfremdung in der Erfahrung des Selbst als Objekt und der eingeschränkten Freiheit. Im Blick des Anderen erfährt sich das Subjekt als fremdes Objekt. Als dritte Ebene beschreibt Sartre die Dreierbeziehung. Das Subjekt, eingebunden in soziale Verhältnisse, kennt nicht nur den anderen, sondern viele Andere und viele Objekte. Das Wir ergibt sich aus der Erfahrung eines gemeinsamen Objektstatus, vermittelt über einen Dritten bzw. den anderen gesamt. Hieraus konstituieren sich soziale Wir-Verhältnisse: Kultur, Religion, Nation usw. werden zu Zugehörigkeitsabstrakta. Als vierte Ebene kommt eine ökonomische Ebene ins Spiel: die Knappheit. Die begrenzten Ressourcen sind maßgebend für die sozialen Konstellationen. Neben den Wechselspielen aus Subjekt und Objekt und dem Dritten kommt der Faktor der Verteilung ins Spiel. Die anderen werden zu (potentiellen) Feinden im Kampf um die Verteilung. Es kommt zur Verdinglichung. Die materielle Gegebenheit der Welt bestimmt die sozialen Verhältnisse, gerade durch ihre Knappheit. Im Umgang mit der ausweglosen Situation bieten sich für Sartre zwei Möglichkeiten an: die Reihe und die Gruppe. Diese beschreibt Sartre als fünfte und sechste Ebene. Auf der Ebene der Reihe stehen die Gesellschaftsmitglieder miteinander zufällig in Beziehung. Die Vermittlung kommt von außen. Unter diesen heteronomen Bedingungen, ähnlich der Vereinzelung durch Arbeitsteilung bei Marx, bilden die Individuen keine gemeinsame Gruppe. Sie bleiben, in Marx’scher Terminologie, eine Klasse an sich, getrennt durch eine Entfremdung sozialer Beziehungen. Die Gruppe ist ihr Gegenmodell: Sartre definiert eine solidarische, bewusste und organisierte Klasse für sich. Die Gruppe kann in der Tat die Herrschaft über die kapitalistische Struktur erlangen und in einer abgestimmten Aktion die Entfremdung beherrschen. Das Modell einer Überwindung gibt Sartre auf.
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Entfremdung bleibt in der politischen Organisation von oben nach unten dabei aber bestehen. Die vollständige Überwindung der Entfremdung hält Sartre nicht für möglich. Hoffnung hat er in der Beherrschung der Entfremdung durch eine Gruppe, die Entfremdung zurückdrängen könnte: „Dennoch kann auch für Sartre die überwundene Entfremdung durch die Struktur der Gruppe kein endgültiger Zustand mehr sein. Es ist und bleibt eben das Reich der Freiheit, das sich auf dem der Notwendigkeit etabliert. [...] Entfremdung kann nicht überwunden werden, da die Knappheit nicht überwunden werden kann, sondern immer eine Gefährdung der Gruppe bleiben wird, diese von innen und außen bedroht, denn innerhalb der Gruppe werden sich Zweier- und Dreierbeziehungen aufbauen, wie die Gruppe selbst für Dritte ein feindliches Objekt (Subjekt) sein kann.“ (Ebd.: S. 175)
Der Begriff der Entfremdung als Kategorie für einen gesellschaftlichen oder individuellen Zustand klingt in der Französischen Theorie ab. Die Unmöglichkeit der Überwindung von Entfremdung zeigt Wirkung. Sartres Existenzialismus führt aber zum Ausblenden des Natur-Faktors. In seiner Freiheit ist der Mensch zur permanenten Zwecksetzung gezwungen. Der Mensch entwirft sich selbst und keine hintergründige Geschichte. Das Subjekt verliert seinen Status als Referenzpunkt für Entfremdung. Denn die Existenz geht der Essenz voraus (Sartre 1989[1946]: S. 11), damit dient nicht mehr die Entfremdung von einer natürlichen subjektiven Essenz der Erklärung eines menschlichen Unbehagens, sondern der andere, der den praktischen Entwurf stört. Entfremdung verlagert sich im Existenzialismus von der Entfremdung von Subjekt und Objekt zur Entfremdung von Praxis und Intersubjektivität. Der Mensch ist nur das, was er von sich entwirft, daher kann nur der Entwurf entfremden. Der Entwurf als eigene Freiheit ist in seiner Entfremdung, durch den Zwang Anderer, gestörte Praxis. Entfremdung ist bei Sartre nicht mehr tätige Selbstentfremdung durch das Subjekt, sondern heteronome Entfremdung durch Intersubjektivität. Die strukturalistische Denkweise setzt sich auch in der französischen psychoanalytischen Bewegung durch. Hier vor allem bei Jacques Lacan. Während Althusser Marx strukturalistisch wendet, wendet Lacan Freud in ähnlicher Weise. Hier setzte der linguistic turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften an. So gründet bei Lacan der Trieb auch nicht mehr auf einer biologisch-psychischen Grundlage wie bei Freud. Entfremdung beginnt dementsprechend nicht mit dem Unbehagen eines unerfüllten biologischen Triebes, sondern im Spiegelstadium: Das Kind erkennt und verkennt sich im Spiegel. Mit dem ersten Erkennen und Identifizieren, einsetzend mit dem Aha-Erlebnis, spaltet sich das moi (bei Freud das Ideal-Ich) und das je, das soziale Ich. Neben dieser ersten Form der Entfremdung wirkt die Sprache als Instanz der Entfremdung. (Vgl. Bialluch 2011)
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Im Anschluss an die existenzialistische Theorie Sartres und die strukturalistischen Theorien Althussers und Lacans geht das Subjekt als selbstmächtiges Subjekt in der Französischen Philosophie endgültig unter. Prominent ist das Verschwinden des Subjekts bei Michel Foucault, der zur Entfremdungstheorie dennoch einen wichtigen Beitrag leistet. Aspekte der Biopolitik, der Disziplinierung und der Macht können unter dem Vorzeichen der Entfremdung gelesen werden, wenn das abwesende Subjekt wieder hinzugenommen wird. Entfremdung erscheint hier ohne dialektisch-historische Weltbewegung oder dialektische Methode. Zunächst ist festzuhalten, dass Foucault aufgrund seiner Ansichten zum Subjekt keine klassische Position zur Entfremdungstheorie einnehmen kann. Das Subjekt „ist keine Substanz. Es ist eine Form, und diese Form ist weder vor allem noch immer mit sich selbst identisch.“ (Foucault 1985[1984]: S. 18) Vielmehr konstituiert die spezifische Denktradition respektive der Diskurs das Subjekt. Das Subjekt bei Foucault hat einen „de-ontologische[n] Charakter.“ (Bublitz 1998: S. 213) Bei Foucault ist Subjektivierung und Disziplinierung nicht zu trennen: „Subjektivierung fällt mit Normalisierung in eins.“ (Menke 2003: S. 290) Betrachtet man diese beiden Punkte allerdings als widersprüchlich und gegenläufig, dann werden Foucaults Begriffe von Macht und Disziplin zu starken Werkzeugen der Analyse von Entfremdung. Foucaults Untersuchungen zur Mikrophysik der Macht lassen deutlich werden, dass Macht nicht einfach ein bipolares Herrscher-Unterdrücker-System ist, sondern ein ausdifferenziertes Netz feingliedriger Strukturen. In einem System der Kontrolle und Überwachung funktioniert es gerade dadurch, dass es nahezu unsichtbar ist. Mit der Französischen Revolution verlagert sich die Ausübung der Macht langsam von der offensichtlichen körperlichen Gewalt zur heimlichen Disziplinierung durch Normen, Kategorisierungen und Wissen als Rohstoff der Macht. Durch die kapitalistische Arbeitsteilung und ihre notwendige Disziplinierung sickern angepasste Verhaltensweisen und Strukturen in den menschlichen Körper ein. Der Arbeiter wird zu einem Objekt angepasster kapitalistischer Bedürfnisse. Die Ausbreitung der Macht in alle sozialen Beziehungen und Institutionen wird total, sie wird universell und formt einen neuen Körper: Sie subjektiviert den Menschen erst. Der Körper wird zu einem Körper des Kapitals, ohne ein autonom denkender und handelnder Körper gewesen zu sein. Entfremdung als ethischer Bezugspunkt lässt sich in einer solchen Konzeption nicht mehr denken, da mit dem autonomen Subjekt auch jeder normative, ob teleologisch oder anders begründete, Wegweiser wegfällt. Es bleibt eine ökonomische Struktur, die den Körper, vermittelt über Kontrolle und Überwachung, bis in die biologische Bestimmung strukturieren will. Die Macht breitet sich in alle Verästelungen der Gesellschaft, vom Gefängnis über die Sexualität bis zur Hygiene hinein aus, sie dringt in die Gesellschaftskörper ein und strukturiert sie dementsprechend. Denkt man das Subjekt mit
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einer inneren Natur, dann ergibt sich aus Foucaults Analysen eine neue Perspektive auf die Gesellschaft als durchzogen von entfremdenden inkooperierten Machtverhältnissen. Wissen wird bei Foucault zur Voraussetzung und zum Produkt von Macht.78 Das Wissen der Aufklärung wandelt sich zu unbeherrschbaren Machtstrukturen. Zunehmendes Wissen führt zu heteronomen und nicht zu emanzipativen Verhältnissen. Bei Foucault gibt es keinen Klassenantagonismus mehr im Marx’schen Sinne. Macht wird nicht von den Subjekten besessen und gesteuert, sie scheint ihnen äußerlich, nur in der sozialen Beziehung liegend. Entfremdung als gesellschaftliches Problem ist bei Foucault delokalisiert: Macht durchzieht alle Bereiche, alle sozialen Beziehungen und alle Institutionen. In seinem Spätwerk einer „Ästhetik der Existenz“ (vgl. Foucault 2013) versucht Foucault das Subjekt gegen die Macht wiederzubeleben. Ein Subjekt ohne Grundkonstitution weist allerdings keine Zielrichtung auf und Foucault postuliert daher ein Subjekt im Kampf gegen die unmenschliche Ausübung der Macht: „Sie müssen eine Ausübung der Macht erfinden, die nicht Angst macht. Das wäre das Neue“ (Foucault 1976: S. 69), schlägt Foucault 1976 der Sowjetunion vor. Mit Foucault setzt endgültig eine strukturalistische Kritik am Begriff des autonomen Subjekts an. Ein versöhntes Subjekt in Identität mit dem Objekt wird radikal abgelehnt. Der Dekonstruktivismus betont hingegen die prinzipielle Offenheit des Subjekts, das sich der Zugriffe erwehrt. An die Stelle von Versöhnung tritt ein Mix herumschweifender frei wählbarer Identitäten. In den postmodernen und deskonstruktivistischen Theorien ist das Subjekt nur noch ein subjektloses. Wie Axel Honneth bemerkt, geht es Foucault auch um das Leid als Ausgangspunkt von Kritik, diesem Leid fehlt es allerdings an einem leidartikulierendem Leib: „Obwohl alles an seiner [Foucaults, J. W.] Kritik der Moderne auf das Leiden des menschlichen Leibes unter den disziplinierenden Akten der modernen Machtapparate konzentriert
78 Dazu Foucault: „Man muß wohl einer Denktradition entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, daß es Wissen nur dort geben kann, wo Machtverhältnisse suspendiert sind, daß das Wissen sich nur außerhalb der Befehle, Anforderungen, Interessen der Macht entfalten kann. […] Eher ist wohl anzunehmen, dass die Macht Wissen hervorbringt […]; dass Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert. Diese Macht/WissenBeziehungen sind darum nicht von einem Erkenntnissubjekt aus zu analysieren, das gegenüber dem Machtsystem frei und unfrei ist. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, dass das erkennende Subjekt, das zu erkennende Objekt und die Erkenntnisweisen jeweils Effekte jener fundamentalen Macht/Wissen-Komplexe und ihrer historischen Transformationen bilden.“ (Foucault (2008)[1975]: 730)
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scheint, findet sich in seiner Theorie nichts, was dieses Leiden als Leiden artikulieren könnte.“ (Honneth 1999: S. 92) Nach dem Strukturalismus hat auch der Poststrukturalismus, der Dekonstruktivismus und die Postmoderne eine reservierte Haltung gegenüber dem Subjekt. Von einheitlichen Schulen kann jedoch nicht gesprochen werden, die Theorien unterscheiden sich teils deutlich. Einig sind sie sich in der Ablehnung einer subjektiven, zur Autonomie befähigten Subjektivität. Mit dem einsetzenden linguistic turn verschwindet das Subjekt und seine Entfremdung. Mit dem Auflösen der Vernunft und der Geschichtlichkeit in teils beliebige Zeichensysteme bricht auch das Ziel menschlicher Emanzipation als die hinter der Entfremdung theoretisierte Ethik zusammen. 1.2.7 Entfremdung in der positivistischen Theorie In den traditionell eher positivistisch geprägten angelsächsischen Theorien wird Entfremdung, vor allem in Bezug auf Marx, mikrosoziologisch verwendet. Die Betrachtung der Gesellschaft als Ganzes, wie in den kritischen Theorien, wird hier auf empirische Teilaspekte reduziert. Entfremdung wird quantitativ und qualitativ erfasst und in verschiedenen Milieus, Klassen, Staaten analysiert und verglichen. Prominent an dieser Stelle ist die Theorie von Melvin Seeman. (Seeman 1993; Kromrey 1998: S. 143–149) Entfremdung kann ihm zufolge in fünf Dimensionen untergliedert werden: Machtlosigkeit, Sinnlosigkeit, Normlosigkeit, Isoliertheit und Selbstentfremdung. Diese Dimensionen werden sozialpsychologisch-empirisch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse angewandt. Ähnliche Operationalisierungen finden sich bei Robert Blauner. (Vgl. Blauner 1964) Der empirische Ansatz bleibt hinter dem theoretischen zurück. Eine Kritik an den empirischen Entfremdungsanalysen formulieren Joachim Israel und Christoph Henning. (Henning 2015: S. 167– 179; Israel 1990[1972]: S. 261–263) 1.2.8 Entfremdung innerhalb der Kritischen Theorie Während in Frankreich strukturalistische Ansätze verfolgt wurden, suchte im deutschsprachigen Raum die Kritische Theorie der Frankfurter Schule nach Auswegen aus der Entfremdung, ohne auf ein autonomes Subjekt zu verzichten. Adorno und Horkheimer: Natur, Subjekt und Entfremdung Adorno und Horkheimer beschreiben in ihrem gemeinsamen Werk „Dialektik der Aufklärung“ (Adorno/Horkheimer 2003[1944]) den doppelten Charakter der Aufklärung. Einerseits ist die Aufklärung der fortschreitende Gang der Vernunft, andererseits trägt sie ihr eigenes Unheil bereits in sich selber. Die dialektisch-
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teleologische Weltbewegung der Aufklärung war von der idealistischen Theorie Hegels bis zum Materialismus von Marx prominent. Aber schon Marx lässt Zweifel an der Konzeption erkennen, wenn er dem Automatismus des geschichtlichen Fortschritts das Konzept der Klassenkämpfe gegenüberstellt. Daher begann die Kritische Theorie das Projekt der Aufklärung neu, auch unter der Annahme eines erneut drohenden Rückfalls. Besonders Adorno und Horkheimer entwickelten die Kritische Theorie der Gesellschaft unter dem Einfluss von Marx, Freud, Benjamin und Lukács. In der „Dialektik der Aufklärung“ entwerfen sie eine negative Geschichtsphilosophie. Deren Zielsetzung ist die Beantwortung der Frage, warum die Zivilisation scheiterte, anstatt die Entfremdung zu überwinden: „Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.“ (Ebd.: S. 11) Eine positive Geschichtsphilosophie nach der Katastrophe von Auschwitz ist für die Autoren nicht mehr denkbar. Entfremdung und Verdinglichung wurden nicht überwunden, im Gegenteil, sie sind maßgeblich an dem Umschlag der Aufklärung in den Mythos beteiligt gewesen. Aufklärung ist für Adorno und Horkheimer ein anhaltender Prozess der Gattungsgeschichte und nicht auf das Zeitalter der Säkularisierung beschränkt. Die zunehmende Aufklärung hat den Menschen jedoch nicht von der Entfremdung befreit, sondern ihn mit der Entfremdung amalgamiert. Denn diese wurde trotz steigender Produktivkräfte nicht überwunden. Auch ihre Bedingungen aus den Produktionsverhältnissen heraus sind nicht verschwunden. Gerade die Entfremdung und Verdinglichung in der Warenwelt und der gesellschaftlichen Rationalisierung haben sich als Gefahr für die Emanzipation des Menschen herausgestellt, so die These. Um die spezifische Konstellation der Entfremdung in der „Dialektik der Aufklärung“ herauszuarbeiten, wird zunächst die Grundarchitektur beschrieben. Das Werk operiert mit einem Dreistufenmodell der Gattungsgeschichte: Mimesis, Mythos und Aufklärung. Diese Stufen sind allerdings keine klaren Abfolgen, sondern immer schon miteinander vermittelt. In jeder Epoche sind daher auch die anderen Epochen enthalten. Zum Beispiel ist auch die Aufklärung in Form des Wunsches nach Welterklärung bereits im mythischen Polytheismus gegeben. Die vorangegangene Epoche verschwindet also nicht, sie ist in der nächsten heimlich anwesend. So hat auch die Aufklärung stets Elemente und Reste des Mythos in sich, die sich dialektisch zurückverkehren können. Den Beginn der Gattungsgeschichte verorten Adorno und Horkheimer in einem Zeitalter der präanimistischen Mimesis. Der Naturzustand wird als theoretische Konstruktion, als Gedankenexperiment, gesetzt, ähnlich wie bei Rousseau, Marx und Freud. So ist im Naturzustand Subjekt und Objekt noch ohne Trennung, sie sind ein und dasselbe. Aus dem Naturzustand erwächst die Urgeschichte, die erste menschliche Tat, die Reflexion und der damit verbundene Eintritt in die Geschich-
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te: „Die zentrale Idee der Dialektik der Aufklärung bestand darin, daß die Menschen zu Beginn ihrer Geschichte in einer Art Sündenfall aus der Einheit mit der Natur heraustreten.“ (Busch 2001b: S. 22) Auf die Reflexion und die Erkenntnis der Unterschiedlichkeit zwischen Mensch und Natur folgen der Schrecken und die Angst vor der übermächtig erscheinenden Natur.79 Durch Nachahmung und Anpassung an die Natur haben die Menschen in der mimetischen Zeit nicht nur versucht zu überleben, sie haben auch gleichzeitig die Furcht vor der Natur zu bändigen und zu begreifen versucht. In der Phase des Mythos werden die Naturkräfte dann personalisiert: Götter, Dämonen, Geister erklären die Natur und diese wird mit Ritualen, Opfern und Fetischen gebändigt. An diesem Punkt wird die präanimistische Mimesis durch den Verstand, aber noch nicht durch Vernunft, ersetzt. Die letzten Rudimente dieses Mythos sind die polytheistischen Naturgötter der römischen und griechischen Antike. Nach und nach setzt sich aber die aufklärerische (instrumentelle) Vernunft durch und eine (irrationale) Rationalität wird zum neuen gesellschaftlichen Paradigma. Die Unterwerfung der furchteinflößenden Natur wird durch immer feingliedrigere soziale und technische Mittel vorangetrieben. Am Ende steht die durchrationalisierte verwaltete Welt. In dieser letzten Phase der Vernunft, der absoluten Welt- und Naturbeherrschung, tritt die Naturwissenschaft und Technik an die Stelle von Mimesis und Mythos. Gleichzeitig setzt sich auch die ökonomisch-rationalistische Welt durch und damit die Organisation der Mehrwertproduktion durch Arbeit: „Zivilisation hat anstelle der organischen Anschmiegung ans Andere, anstelle des eigentlich mimetischen Verhaltens, zunächst in der magischen Phase, die organisierte Handhabung der Mimesis und schließlich, in der historischen, die rationale Praxis, die Arbeit gesetzt.“ (Adorno /Horkheimer 2003[1944]: S. 205) Jedoch sind Mimesis und Mythos auch in der von Vernunft beherrschten Gesellschaft nicht verschwunden. Gerade die Verdrängung der tabuisierten mimetischen Verhaltensweisen erscheint immer wieder unterhalb des Zivilisationsgeschehens: „Die von Zivilisation Geblendeten erfahren ihre eigenen tabuierten mimetischen Züge erst an manchen Gesten und Verhaltensweisen, die ihnen bei anderen begegnen, und als isolierte Reste, als beschämende Rudimente in der rationalisierten Umwelt auffallen. Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut. Es ist ansteckende Gestik der von Zivilisation unterdrückten Unmittelbarkeit: Berühren, Anschmiegen, Beschwichtigen, Zureden. Anstößig heute ist das Unzeitgemäße solcher Regungen.“ (Ebd.: S. 206)
79 Passend scheint mir in diesem Zusammenhang die Bemerkung Horkheimers zu Adorno 1939, dass die Theorie des Individuums eine „Geschichtsphilosophie der Angst“ (Horkheimer 1985: S. 456) sei.
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Mimesis ist einer der Grundbegriffe der philosophischen Anthropologie der jungen Kritischen Theorie. Sie ist der Schlüsselbegriff, um das Naturverhältnis in der Theorie von Adorno und Horkheimer zu verstehen, das sich im Spannungsfeld zwischen Subjekt und Natur bewegt.80 Mimesis ist für Adorno/Horkheimer die präreflexive, „in die biologische Schicht zurückreichende Verhaltensweise“ (Adorno 1993[1973]: S. 487) der Nachahmung und Angleichung an die objektive Struktur. So ist Natur, und das heißt auch Triebgeschichte, in allen Phasen noch präsent. Dieses Triebschicksal wird umso stärker, je mehr es gebrochen wird: „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, führt nur tiefer in den Naturzwang hinein.“ (Ebd.: S. 29) Jede Entfremdung von den eigenen Naturanteilen vergrößert deren Herrschaft, anstatt einer Beherrschung durch das Subjekt. Entscheidend für das Verständnis der Entfremdung in der „Dialektik der Aufklärung“ ist daher der Begriff der Natur. Die Autoren argumentieren mit der Undurchschaubarkeit der Naturaneignung. Denn die Natur wird in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr als den Menschen zugehörig interpretiert, sondern als etwas Fremdes, als etwas, das nur außerhalb der Menschen existiert. Natur, auch innere Natur, wird nicht mehr als Bestandteil des Subjekts wahrgenommen, sie erscheint als fremde Objektivität und je stärker die Naturbeherrschung wird, desto größer ist die Entfremdung von der Natur: „Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben.“ (Ebd.: S. 25) Diese Naturvergessenheit versperrt jede sinnvolle Reflexion über das eigene Naturverhältnis und damit über die eigene Natur. Adorno und Horkheimer stellen fest, dass die Moderne in ihrer Naturvergessenheit den Weg zur vollständigen Totalität der Gesellschaft gegenüber dem Individuum bereitgestellt hat. Denn die Naturvergessenheit bedeutet Selbstvergessenheit. Das Zeitalter der Aufklärung hat die Loslösung von der Natur impliziert und damit den Weg zum rein gesellschaftlichen Wesen ermöglicht, bei dem es keine Naturbezogenheit mehr gibt: „Radikale Vergesellschaftung heißt radikale Entfremdung.“ (Ebd.: S. 81) Die absolute Vergesellschaftung nimmt nicht mehr die Gestalt eines befreienden Telos an, sondern die Gestalt der gesellschaftlichen Totalität. Damit stellen sich Adorno und Horkheimer gegen die Befreiungsthesen von Rousseau, Hegel und Marx. Die radikale Entfremdung macht es unmöglich, unmittelbare Erfahrungen zu machen und dadurch die Erkenntnis der Totalität zu erlangen. Die Vermehrung des Wissens hat gerade nicht das universelle Glück gebracht, das die Aufklärung versprochen hatte, sondern ein neues Unglück. Die Vernunft ist 80 In der „Ästhetischen Theorie“ kommt Adorno wieder auf diesen Begriff zurück. Hier wird die mimetische Verhaltensweise in der Kunst zum letzten Träger von gesellschaftlicher Veränderung.
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keine, die einen humanistischen Zustand herbeiführt, sondern eine instrumentelle Vernunft, die bloß vernünftig im Sinne des Marktes ist. Wissen ordnet sich dem Mehrwert unter: „Es zielt nicht auf Begriffe und Bilder, nicht auf das Glück der Einsicht, sondern auf Methode, Ausnutzung der Arbeit anderer, Kapital.“ (Ebd.: S. 20) Die kapitalistische Vergesellschaftung hat dementsprechend nicht die subjektive Entfaltung ermöglicht, sondern die kapitalistische Objektivität in das Subjekt verlängert. Anpassung, Instrumentalisierung und Repression sind die Folge. Die Verfeinerung der Naturbeherrschung schafft die Voraussetzung ihres Vergessens: Die Zergliederung der Arbeit innerhalb der kapitalistischen Produktion führt zur Entfremdung und die Entfremdung zum gesellschaftlichen Schleier, zum verdinglichten Bewusstsein und zur gesellschaftlichen Ideologie. Anstatt diesen Schleier zu lüften, der mit dem Anwachsen der Produktivkräfte immer offensichtlicher werden sollte, verlängern sich die Imperative des Marktes bis in die kleinsten gesellschaftlichen Beziehungen. Die düstere Prognose der totalen Vergesellschaftung entsteht für Adorno und Horkheimer unter dem Eindruck der Kulturindustrie und der Massenmedien. Werbung, Kino, Film, Radio usw. treiben die Vergesellschaftung voran und mit ihr das verdingliche Bewusstsein, das die Kultur und Gesellschaft zementiert. Die Entfremdung als Naturvergessenheit im Kontext eines allumfassenden Äquivalententauschs bleibt aber nicht nur bestehen, sondern wird zur Gefahr der Aufklärung selbst. Während die Kulturindustrie und die Werbung die Menschen beständig in einer Wiederholung der infantilen Regression gefangenhalten, treiben die Naturkräfte die Destruktionsphantasien voran. Denn schlussendlich kann die Kulturindustrie ihr Glücksversprechen nicht einlösen: „Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht.“ (Ebd.: S. 161) Nicht nur die Werbung verfährt mit einer Umgehung des Reflexionspotentials und dem direkten Ansprechen der Affekte, sondern auch die politische Propaganda. Das wird am Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ beschrieben. Werbung und Propaganda schaffen es daher, mimetische und mythische Restbestände zu aktivieren. Gerade weil eine Reflexion der eigenen Natur nicht möglich ist, wird diese umso anfälliger für Werbung und Propaganda, verbunden mit der Koppelung libidinöser Energien an Waren, Weltanschauungen und Führer. In der „Dialektik der Aufklärung“ argumentieren Adorno und Horkheimer u. a. psychoanalytisch. Die Furcht vor der übermächtigen Natur führt zur Abwehr psychosomatischer Regungen: Das Tabu entsteht. Die mimetische Angleichung und ein Zurückkommen zur Natur sind dadurch versperrt. Der Weg führt umgekehrt zur Angleichung der Natur an den Menschen. Diese Beherrschung der Natur funktioniert nur über die Arbeit, die aus den mythischen Praktiken hervorgeht. Bei Marx war die Arbeit innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise Bedingung für die Entfremdung, bei Adorno/Horkheimer ist es die Arbeit überhaupt, die vom mimetischen Verhalten entfremdet ist. Die Arbeit zur Naturbeherrschung ist jedoch die
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Voraussetzung, um die Furcht und die mimetischen Regungen beherrschbar zu machen: Der Herrschaft über die äußere Natur geht dabei einher mit derjenigen über die innere Natur. Diese Selbstbeherrschung bringt das Tabu hervor. Adorno spricht auch vom „mimetischen Tabu.“ (Adorno 1993[1973]: S. 169) Die psychoanalytische Entsprechung ist die Verdrängung. Dazu kommt der Abwehrmechanismus der Projektion, wie er im Antisemitismus zu finden ist. Die Überwindung der Entfremdung kann auch nicht aus der Arbeit bzw. dem Proletariat hervorgehen. Denn die Arbeit als Naturaneignung ist vom Beginn der Arbeitsteilung an mit Entfremdung verknüpft. In der Beherrschung der Natur und der damit verbundenen vergesellschaftenden Arbeitsteilung gibt es kein Außerhalb mehr, von dem aus Entfremdung wirksam bekämpft werden könnte. Ein Leben in der Natur (in der Nachahmung der Natur als Lebensweise) ist der Beherrschung der Natur gewichen: „Natur soll nicht mehr durch Angleichung beeinflußt, sondern durch Arbeit beherrscht werden.“ (Adorno/Horkheimer 2003[1944]: S. 35) Der ursprüngliche Zugang zur Natur durch mimetische Nachahmung ist durch die Arbeitsteilung versperrt, Natur wird daher zum Tabu. Diese negative Geschichtsphilosophie beschreibt eine gesellschaftliche Reproduktion der Herrschaft des Menschen über den Menschen, während diese gleichzeitig das Glück der Freiheit und Menschlichkeit verspricht. Das angehäufte Wissen und die fortgeschrittene Technik lösen dieses Glücksversprechen nicht ein, im Gegenteil. Diese Dialektik in der Aufklärung, die Glück verspricht und Herrschaft reproduziert, wird von den Sagen des Odysseus bis zur Kulturindustrie exemplifiziert. Am Ende steht die total verwaltete Welt, eingebettet in einen universellen Verblendungszusammenhang. Die Subjekte verschwinden hinter den allmächtigen Marktimperativen. Die Katastrophe ist aber bereits in Auschwitz eingetreten, wo das Individuum bis zum Letzten verwertet und auf eine rein mathematische Kategorie reduziert wurde. Die Mechanismen, die dorthin geführt haben, bleiben bestehen und die potentielle Kraft der Vernichtung und Herrschaft haben sich durch die Technik noch einmal verstärkt. Die offensichtlichen Gewalt- und Herrschaftsformen, gegen die sich die Aufklärung noch wehren musste, wodurch sie an Schärfe und Profil gewann, sind im Kapitalismus durch ideologisch gefestigte Formen der Herrschaft und des Zwangs ersetzt worden. Die Mimesis kehrt dann auf der Ebene der Moderne wieder zurück. Nur passt sich diesmal der Mensch nicht an die Natur an, sondern an die kapitalistische Gesellschaft. Das Ich (das autonome Subjekt) ist, nach dem es in der bürgerlichen Epoche beschworen wurde, wieder in einen Naturzustand zweiter Natur verfallen, blind und ohnmächtig. Das Individuum zerfällt und Adorno kritisiert, dass es „bei vielen Menschen [...] bereits eine Unverschämtheit ist, wenn sie Ich sagen.“ (Adorno 2003[1951]: S. 55) Der Entfremdungsbegriff in der Dialektik der Aufklärung kann wie folgt zusammengefasst werden: Die Verstrickung der Aufklärung mit dem Mythos ist we-
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sentlich bedingt durch die Entfremdung des Menschen von der Natur. Mimesis ist zunächst durch den Mythos und dann durch die Ratio in einer arbeitsteiligen Gesellschaft zum Agenten des Falschen geworden. Die formale Logik übersetzt die Welt in eine Rationalität, die zunehmend selbstreferenziell wird und jeglichen Sinn negiert. Die Urgeschichte beginnt mit der Trennung von Subjekt und Natur durch eine erste Reflexion. Die vergessene Natur, trotz aller Verdrängungen, Projektionen und Sublimierungen, verbleibt im Menschen. Die Entfremdung wird daher zum Problem: Sie ist nicht vollständig, sondern unabgeschlossen. Gerade deshalb aber hört sie nicht auf, den Menschen immanent zu sein. Je weiter sich diese von der Natur entfernen, desto stärker wird die Spannung der Entfremdung, die sich dann umso brutaler in Kulturindustrie und Gewalt falsch versöhnt. Aufgrund dieser Unabgeschlossenheit bleibt dennoch auch immer etwas, das nicht in der falschen Versöhnung aufgeht: Dieses bezeichnet Adorno später als das Nichtidentische. Nichtidentität als Entfremdung Nichtidentität ist der Schlüsselbegriff der „Negativen Dialektik.“ (Adorno 2000[1966]) Diese ist die methodische Begründung und Fundierung der Kritischen Theorie, gewissermaßen ihre Tiefenstruktur. Sie wird von Adorno zunächst mit einer Kritik der affirmativen Dialektik von Hegel legitimiert: „Stellt die Hegelsche Lehre von der Dialektik den unerreichten Versuch dar, mit den philosophischen Begriffen dem diesen Heterogenen gewachsen sich zu zeigen, so ist Rechenschaft am fälligen Verhältnis zur Dialektik zu geben, wofern sein Versuch scheitert.“ (Ebd.: S. 16) Dementsprechend entwirft er eine Dialektik, die eine Versöhnung von Subjekt und Objekt offenhält, indem sie diese gerade nicht versöhnt, sondern ihr Auseinanderweisen bewahren möchte: „Es handelt sich um den Entwurf einer Philosophie, die nicht den Begriff der Identität von Sein und Denken voraussetzt und auch nicht in ihm terminiert, sondern die gerade das Gegenteil, also das Auseinanderweisen von Begriff und Sache, von Subjekt und Objekt, und ihre Unversöhntheit, artikulieren will.“ (Ebd.: S. 15–16)
Diesem Paradox liegt die Annahme einer grundsätzlich defizitären Aneignungsmöglichkeit des Objekts zugrunde. Innerhalb der herrschenden Gesellschaftsverhältnisse hält Adorno die menschlichen Mittel für unzureichend, um die Welt zu erkennen und damit richtig anzueignen. War bei Hegel und auch bei Marx noch die Teleologie einer stetig voranschreitenden Vernunft ein Eckpfeiler der Theorie, so ist es bei Adorno das Misstrauen gegen die Vernunft. Diese instrumentelle Vernunft hält Adorno für untauglich, um Erkenntnis zu gewinnen. Denn instrumentelle Vernunft identifiziert Subjekt und Objekt in einer falschen Weise. Das Subjekt versagt daher bei der Aneignung seiner Welt, und es tut dies, weil seine Aneignungsmittel der Vielseitigkeit der Welt nicht gewachsen sind.
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Macht sich das Subjekt diesen Mangel aber bewusst, indem es die Identität von Subjekt und Objekt reflektiert, bewahrt sich das Nichtidentische und somit die Möglichkeit seiner richtigen Identifizierung und auch der richtigen Einrichtung der Welt. Adorno verfolgt dementsprechend einen praktischen Zweck mit seiner Philosophie vom Standpunkt der Erlösung.81 Das Nichtidentische ist für Adorno ein Sammelbegriff für die, unter dem Zwang der Identität verlorenen, Besonderheiten der Objekte. Dem folgend ist das „Nichtidentische […] auf der Gegenstandsseite zu suchen.“ (Ritsert 2011: S. 39) Allerdings wäre das Nichtidentische falsch verstanden, wenn es als geheimnisvolle Substanz bloß richtig erkannt werden müsste. Für Adorno ist das Nichtidentische zu bewahren und nicht durch neue Identifikationen erneut zu verdecken. Diese Absicht Adornos ist für den Entfremdungsbegriff auf mehreren Ebenen durchaus fruchtbar, wie nachzuweisen ist. Denn der Begriff des Nichtidentischen reflektiert die Subjekt-Objekt-Problematik. Adorno bemängelt, dass die Aneignung des Objekts zu einer falschen Identifizierung des Objekts führen kann. Es handelt sich daher um ein Referenzproblem, wie Jürgen Ritsert bemerkt: Das Nichtidentische ergibt sich aus dem „Problem der Referenz, also des Bezugs von Empfindungen, Wahrnehmungen, Denk- und Sprachmustern auf Sachverhalte ‚draußen in der Welt‘, die mit Operationen und Kompetenzen des Machens und Ausdrückens von äußeren Erfahrungen nicht identisch sind.“ (Ritsert 1997: S. 32) Die subjektiven Strukturen (Empfindungen, Wahrnehmungen, Denk- und Sprachmuster) können sich die objektiven Strukturen (Sachverhalte ‚draußen in der Welt‘) nicht richtig zu eigen machen. Diese abstrakte Kritik Adornos lässt sich in drei konkretere Punkte gliedern: 1. 2. 3.
Sprach- und Denkstrukturen: „Denken ist identifizieren .“ (Adorno 2000 [1966]: S. 17) Erkenntniskritik Normative Ebene und Kapitalismuskritik
1. Adorno kritisiert die Sprach- und Denkmuster, da diese nicht in der Lage sind, die Objekte der Welt kommunikativ und gedanklich vollständig zu begreifen: „Ob [eine] prädikative Bestimmung zutrifft oder nicht, darüber können wir uns täuschen, und keine noch so vollständige Beschreibung wird je zur Identifikation aller faktischen mit allen 81 In den Worten Adornos: „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint.“ (Adorno 2003[1951]: S. 283)
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möglichen Beschreibungen führen können. Negative Dialektik ist die Entlarvung der metaphysischen Illusion, so etwas [wie begriffliche Erkenntnis, J. W.] wäre möglich. Indem sie an der Möglichkeit festhält, eine Sache auch anders zu beschreiben, hält sie daran fest, daß die Welt auch anders sein könnte, als sie ist und wir sie deshalb verändern können. Das ist zwar logisch vergleichsweise trivial, aber der vorgeblich gesunde, realistische Gemeinsinn mißachtet häufig genau diese logische Einsicht.“ (Brunkhorst 1990: S. 30)
Durch das Erfassen der Gegenstände, ob materieller oder immaterieller Art, wird diesen gleichsam Gewalt angetan. Ein Begriff beschreibt einen Gegenstand, eine Person oder eine Idee immer nur unzureichend. Daraus folgt nicht nur eine falsche Bezugnahme, sondern auch eine falsche Identifizierung. Das Subjekt eignet sich somit die Objekte falsch an. Als Ausweg rät Adorno ein hermeneutisches Denken in Konstellationen. Denn nur so lässt sich Erkenntnis deutungsweise erreichen, dagegen wäre die „Utopie der Erkenntnis […], das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.“ (Adorno 2000[1966]: S. 21) Da dialektisches Denken allein dem Nichtidentischen sich nähern kann, bleibt dem Subjekt nichts anderes übrig, als innerhalb des Identischen nach dem Nichtidentischen zu suchen: „Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität.“ (Adorno 2000[1966]: S. 17) Die Entfremdung zwischen dem Subjekt und dem Objekt ist gegeben, weil eine sinnvolle Aneignung durch sprachliche und mentale Prozesse nicht möglich ist. 2. Das Nichtidentische ist nie vollständig zu begreifen: „Nichtidentität bedeutet […] die durch keine kognitive oder praktische Aktivität des erkennenden und handelnden Subjekts jemals zu erschöpfende, also unendlich Mannigfaltigkeit der Dinge und ihrer Eigenschaften“ (Ritsert 2011: S. 39) oder Adorno: „Erkenntnis hat keinen ihrer Gegenstände ganz inne.“ (Adorno 2000[1966]: S. 25) Dabei sind nicht nur sprachliche oder mentale Prozesse problematisch, sondern alle Formen der Erkenntnis, die vorgeben, etwas vollständig verstanden zu haben: So auch emotionale, sinnlich-taktile oder ästhetische Formen. Erkenntnis ist nur negativ möglich, d. h. in der Formulierung dessen, was nicht ist. Daraus lässt sich aber dann deuten, was sein könnte. Oder um es mit philosophischer Logik auszudrücken: Der fortwährende Glaube Begriff A sei genau Ding A, wobei Ding A in seiner unbeschreiblichen Mannigfaltigkeit unerkannt bleibt, ist verdinglichtes Bewusstsein. Dialektische Erfahrungsprozesse sprengen dieses Bewusstsein und entfalten den Widerspruch Begriff A sei eben nicht Ding A. Hingegen sei hermeneutisch Ding A mit den Begriffen A, B, C ... zu umkreisen und dann zu deuten. Negative Dialektik hat den Widerspruch zu bewahren, um die „Vielfalt des Verschiedenen“ (Ebd.: S. 16) der Dinge in der Welt nicht zu beschneiden. Adorno fordert so eine Berücksichtigung und Reflexion eigener konstruktivistischer Anteile. „Das Nichtidentische steht vielmehr (auch) für ein allemal unseren
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Aktionen vorgängiges Sein, das nicht von uns hervorgebracht, hergerichtet oder verstellt ist […]. Die negative Dialektik weiß zugleich um die konstruktiven Anteile unserer Sinne und unseres Sprach- und Denkvermögens. Ohne Identifikation gibt es keine sachliche Erfahrung. Aber Erfahrung verlangt zudem die Rücksicht auf das von unseren je spezifischen Empfindungen, Wahrnehmungen, Denk- und Sprechakten Ausgeschlossene.“ (Ritsert 2011: S. 40) 3. Adornos Negative Dialektik ist gleichzeitig eine Kapitalismuskritik in der Tradition der Dialektik der Aufklärung, in der Adorno/Horkheimer schreiben: „Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent, sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem es sie auf abstrakte Größen reduziert.“ (Adorno/Horkheimer 2003[1944]: S. 23–24) Die Qualität aller Objekte wird auf quantitative Merkmale reduziert. Damit verschwindet auch der Gebrauchswert hinter dem Tauschwert. Gleichzeitig werden immer mehr Teile der Gesellschaft dem Tauschwert unterworfen. Mit dem fortschreitenden Verlust der Besonderheiten verdinglicht sich auch das Bewusstsein: Dadurch, dass der Mensch sich nur noch allgemeine Äquivalente aneignet, macht er sich selber zum allgemeinen Tauschgut. Diese Kritik an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft fällt zusammen mit der Erkenntniskritik. Einerseits werden alle Objekte auf Wertgrößen reduziert, wodurch sie ihre Besonderheiten verlieren. Andererseits bedingt die defizitäre Aneignung der Objekte die Anfälligkeit für kulturindustrielles Konsumverhalten und Verblendung gegenüber den gesellschaftlichen Zusammenhängen. Nichtidentität enthält auch eine normative und sogar eine utopische Komponente. (Vgl. Bartonek 2011) Das zu Kritisierende verweist unweigerlich auf den besseren bzw. versöhnten Zustand, den Adorno trotz Ablehnung jeder „ausgepinselten Utopie“ (Adorno 2003[1967]: S. 120) häufig bemüht. Adorno überträgt dem Subjekt die Aufgabe, die Erkenntnismöglichkeiten durch eine Negative Dialektik zu nutzen und schließlich Denken und Sein – Letzteres durch Ersteres – mit sich zu versöhnen: „Das Subjekt muss am Nichtidentischen wiedergutmachen, was es daran verübt hat.“ (Adorno 2000[1966]: S. 149) Alle drei Aspekte verweisen auf eine Kritik falscher Aneignung und Entfremdung. Die subjektiven menschlichen Mittel der Aneignung sind nicht in der Lage, die objektive Welt adäquat zu erfassen. Das Falsche Identifizieren schneidet den Objekten (darunter fallen auch andere Subjekte) ihre Besonderheiten ab. Durch die mangelnden Sprach- und Denkstrukturen sind wir nicht in der Lage, die Welt richtig zu erkennen und damit richtig anzueignen. Erkenntnis wäre annährungsweise nur hermeneutisch möglich. In der normativen Annahme, dass Versöhnung das angestrebte Ziel ist und sein muss und Entfremdung damit verschwände, liegt die grundsätzliche These: Entfremdung ist das gesellschaftliche Grundproblem und in einem besseren Zustand aufzuheben, indem die Vielseitigkeit bzw. Besonderheit der Menschen und Dinge Anerkennung findet.
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Da alle Möglichkeiten der Erkenntnis auf emotionale, sinnliche und sprachliche Mittel begrenzt sind, ist das Nichtidentische nicht einfach aufzusuchen und zu benennen, sondern in seiner Widersprüchlichkeit zu belassen, gerade diese Widersprüchlichkeit ist als deutlicher Hinweis auf das Nichtidentische zu verstehen: „Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität.“ (Ebd.: S. 17) Das Nichtidentische ist damit keine geheimnisvolle Substanz, sondern der Ort, an dem das Entfremdete sich bewahrt hat. Das Nichtidentische ist auch nicht bloß ein mentaler Effekt, sondern es berührt die Sache selbst: „Vielleicht, um exakt zu sein, mit dem einen Unterschied, daß Kritische Theorie ja eben wirklich nur die subjektive Seite des Denkens, also eben die Theorie bezeichnet, während Negative Dialektik nicht nur dies Moment angibt, sondern ebenso auch die Realität, die davon getroffen wird; also daß der Prozeß nicht nur Prozeß des Denkens sondern, und das ist guter alter Hegel, zugleich ein Prozeß in den Sachen selber sei.“ (Adorno 2007: S. 37)
Negativ soll daher nicht nur die gedankliche Dialektik sein, sondern auch der Mensch selbst, da er sich durch sein Leid gegen die erdrückende Objektivität des Identischen wehrt: „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet: was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.“ (Adorno 2000[1966]: S. 29) So lässt sich schlussfolgern, dass Entfremdung in der negativen Dialektik vor allem über das Problem einer falschen Aneignung thematisiert wird. Eine Entfremdung von Subjekt und Objekt setzt Adorno voraus. Durch die defizitären Erkenntnismittel des Menschen (besonders im Kapitalismus) kommt es zu falschen Identifizierungen des Subjekts mit seiner Umwelt und zur Verdinglichung. Der Kapitalismus, der die objektive Welt strukturiert, lässt die Besonderheiten der Dinge und Menschen hinter dem ubiquitären Tauschwert verschwinden. Adorno sieht als Ausweg eine philosophische Kritik und eine ästhetische Verhaltensweise, um das Nichtidentische zu bewahren und damit das Potential der Versöhnung zwischen Subjekt und Objekt offen zu halten. Totale Entfremdung und „große Weigerung“ bei Herbert Marcuse Herbert Marcuse versucht innerhalb seiner auf Praxis ausgerichteten Theorie Auswege aus der Entfremdung zu formulieren. Zum einen orientiert er sich an dem marxistischen Begriff der entfremdeten Arbeit, zum anderen an Freuds Triebtheorie und Max Webers Rationalisierungsthese. Aus diesen Quellen speist er seine Kritik an der Industriegesellschaft, die er zusammenhängend in seiner Schrift „Der eindimensionale Mensch“ (Marcuse 1989[1964]) formulierte. Marcuse geht von einer grundsätzlich wirkenden Kraft in der Gesellschaft aus, der Dialektik. Diese zweidimensionale Dialektik ermöglicht die Überwindung der
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herrschenden gesellschaftlichen Epoche allgemein und damit auch die Überwindung des Kapitalismus und der entfremdeten Arbeit konkret: „Die gesellschaftliche Praxis des Menschen schließt Negativität wie auch ihre Überwindung ein. Die Negativität der kapitalistischen Gesellschaft liegt in ihrer Entfremdung der Arbeit; die Negation dieser Negativität wird mit der Abschaffung der entfremdeten Arbeit zustande kommen.“ (Marcuse 2004[1962]: S. 249) Allerdings lässt die Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft82 diese gesellschaftlichen Widersprüche in verschiedenen Bereichen von Kultur, Kunst und Wissenschaft miteinander verschmelzen. Es bleibt daher bloß das eindimensionale Denken übrig; dieses äußert sich in der positivistischen Wissenschaft, in der Rationalisierung irrationaler Produktions- und Konsumtionsverhältnisse und im Feld der Kunst. Die Industriegesellschaft dringt dementsprechend so tief in die psychischen und physischen Konstitutionen der Menschen ein, dass selbst der Begriff der Entfremdung Marcuse fragwürdig wird: „Wiederum stehen wir einem der beunruhigendsten Aspekte der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation gegenüber: dem rationalen Charakter ihrer Irrationalität. Ihre Produktivität und Leistungsfähigkeit, ihr Vermögen, Bequemlichkeiten zu erhöhen und zu verbreiten, Verschwendung in Bedürfnis zu verwandeln und Zerstörung in Aufbau, das Ausmaß, in dem diese Zivilisation die Objektwelt in eine Verlängerung von Geist und Körper des Menschen überführt, macht selbst den Begriff der Entfremdung fragwürdig. Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder; sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchengerät. Der Mechanismus selbst, der das Individuum an seine Gesellschaft fesselt, hat sich geändert, und die soziale Kontrolle ist in den neuen Bedürfnissen verankert, die sie hervorgebracht hat.“ (Marcuse 1989[1964]: S. 29)
Da nur etwas dem Menschen Eigentümliches entfremden kann, kritisiert Marcuse zunächst die diagnostische Kraft des Begriffs, da die Entfremdung in der eindimensionalen Gesellschaft bereits zu einem festen Teil der inneren Struktur des Menschen geworden ist. Die Industriegesellschaft zeichnet sich gerade durch ihre Transformation der Entfremdung, hin zu einer eigenen naturalisierten Daseinsform, aus. „Ich habe soeben darauf verwiesen, daß der Begriff der Entfremdung fraglich zu werden scheint, wenn sich die Individuen mit dem Dasein identifizieren, das ihnen auferlegt wird, und an ihm ihre eigene Entwicklung und Befriedigung haben. Diese Identifikation ist kein Schein, sondern Wirklichkeit. Die Wirklichkeit bildet jedoch eine fortgeschrittenere Stufe der Entfremdung aus. Diese ist gänzlich objektiv geworden; das Subjekt, das entfremdet ist, wird seinem entfremdeten Dasein einverleibt. Es gibt nur eine Dimension, und sie ist überall und 82 So der Untertitel des Buches „Der eindimensionale Mensch“.
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tritt in allen Formen auf. Die Errungenschaften des Fortschritts spotten ebenso ideologischer Anklage wie Rechtfertigung; vor ihrem Tribunal wird das ‚falsche Bewußtsein‘ ihrer Rationalität zum wahren Bewußtsein.“ (Ebd.: S. 31)
Ähnlich wie Adorno und Horkheimer beschreibt auch Marcuse eine ausweglose Entfremdung, die sich vom Effekt der falsch eingerichteten Produktionsverhältnisse zum anthropologischen Charakter selbst transformiert. Das Äußere und das Innere des Menschen verlieren ihren Widerspruch. Entfremdung wird bei Marcuse zum Teil der Natur des Menschen. Damit korrespondiert, dass die Menschen sich in den Konsumgütern der Warenwelt tatsächlich wiederfinden, ohne dass sie damit eigene Veräußerungen zurückaneignen würden. Diese „totale Kommerzialisierung“ (ebd.: S. 108) verschiebt die Perspektive vom subjektiven Phänomen der Entfremdung hin zu einem objektiv-gesellschaftlichen Phänomen. Die oppositionslose Gesellschaft dehnt die Entfremdung bis in die Triebstruktur des Menschen aus. Dem setzt Marcuse allerdings die Kunst entgegen. Er beschreibt, dass es neben dem marxistischen Entfremdungsbegriff auch eine „künstlerische Entfremdung“ gibt. Diese ist gekennzeichnet von einem „bewussten Transzendieren der entfremdeten Existenz“. Durch diese Vermittlungsfähigkeit der Kunst kann der bürgerlichen Gesellschaft eine Negation entgegengesetzt werden, die als Gegenpol wirkt. Marcuse nennt als Beispiel den Surrealismus. Dadurch gewinnt auch Marcuse, neben dem negativen Begriff von Entfremdung, noch einen positiven Begriff. Trotz der zarten Hoffnung, die Marcuse in die ästhetische Dimension setzt, bleibt er skeptisch, ob die herrschende Gesellschaft wirklich transzendiert werden könne. Kunst bleibt getrennt von den Produktionsverhältnissen und von der Arbeit und ist daher nur einer privilegierten Klasse vorbehalten. Von dieser wird der entfremdete Charakter der Kunst ritualisiert und gefeiert, ohne eine gesellschaftliche Kraft ausbilden zu können. (Vgl. ebd.: S. 83) Außerdem ist der phantasiebildende Effekt der Sublimierung durch Kunst, der für Marcuse die Vorbedingung der gesellschaftlichen Transformation ist, durch eine repressive Entsublimierung ständig bedroht. „Künstlerische Entfremdung ist Sublimierung. Sie bringt die Bilder von Zuständen hervor, die mit dem bestehenden Realitätsprinzip unvereinbar sind, die aber als Bilder der Kultur erträglich, ja erhebend und nützlich werden. Jetzt wird diese Bilderwelt außer Kraft gesetzt. Ihre Einverleibung in die Küche, das Büro und den Laden, ihre kommerzielle Freigabe an Geschäft und Vergnügen ist in gewissem Sinne eine Entsublimierung – vermittelter Genuß wird durch unmittelbaren ersetzt. Aber es ist eine Entsublimierung, die von einer ‚Position der Stärke‘ seitens der Gesellschaft ausgeübt wird, die es sich leisten kann, mehr als früher zu gewähren, weil ihre Interessen zu den innersten Trieben ihrer Bürger geworden sind und weil die von ihr gewährten Freuden sozialen Zusammenhalt und Zufriedenheit befördern.“ (Ebd.: S. 91)
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In der Industriegesellschaft koexistieren daher die Widersprüche der Kunst und der Gesellschaft friedlich und widerspruchsfrei miteinander. Die Entfremdung der Kunst von der Gesellschaft ist daher weitgehend verschwunden, sie wird zur Reklame. (Vgl. Ebd.: S. 79–81) Die Kluft zwischen der entfremdeten Gesellschaft und ihrer Negativität, „die in der künstlerischen Entfremdung offen gehalten wurde, [wird] durch die fortschreitende technologische Gesellschaft immer mehr geschlossen. Und indem sie geschlossen wird, wird die große Weigerung ihrerseits verweigert; die ‚Dimension des Anderen‘ wird vom herrschenden Zustand aufgesogen. Die Werke der Entfremdung werden selbst dieser Gesellschaft einverleibt und zirkulieren als wesentlicher Bestandteil der Ausstattung, die den herrschenden Zustand ausschmückt und psychoanalysiert. Sie werden so zu Reklameartikeln – sie lassen sich verkaufen, sie trösten oder erregen.“ (Ebd.: S. 84)
Dennoch sah Marcuse in gesellschaftlichen Randgruppen und der Studentenbewegung die Vorboten einer großen Weigerung. Diese große Weigerung sollte den Boden dafür bereiten, das Realitätsprinzip mit dem Lustprinzip vereinen zu können. Marcuses Werk „Triebstruktur und Gesellschaft“ (Marcuse 1967), auf dessen Erkenntnisse er im Buch „Der eindimensionale Mensch“ (Marcuse 1989[1964]) zurückgreift, skizziert bereits Umrisse einer befreiten Gesellschaft. Marcuse sucht nach subjektiven Kräften, die dem düsteren Entwurf einer totalitären Gesellschaft entgegenstehen. Das Realitätsprinzip in der Industriegesellschaft kennzeichnet Marcuse als Leistungsprinzip, in dem eine zusätzliche „surplus-repression“ (Marcuse 1962: S. 34) herrscht. Eine Repression, die über die notwendige kulturelle Reproduktionsarbeit hinausgeht. Der Todestrieb, der sich für Marcuse aus der Nichterfüllung des Eros ableitet, lässt sich abschwächen, wenn der Eros befreit wird. Die technischen Mittel der Automation, die Produktivkräfte, seien so weit entwickelt, dass die Gesellschaft weitgehend ohne Repression, Herrschaft und entfremdete Arbeit auskommen könnte. (Vgl. Marcuse 1967: S. 115) Dieser optimistische Gedankengang eines befreiten Eros aus dem Leistungsprinzip unterscheidet Marcuse von Adorno, Horkheimer und auch Freud. Die Automationsmöglichkeiten der ökonomischen Reproduktion seien so weit, dass Kultur und Lust miteinander vereint werden könnten, wodurch auch der Todestrieb marginalisiert wäre. Ist für die „Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer noch die grundsätzliche Amalgierung von Aufklärung mit Barbarei maßgeblich, so bietet Marcuse zumindest eine Perspektive auf eine Trennung dieser Antipoden und das heißt auf eine befreite (sozialistische) Gesellschaft. Marcuse geht davon aus, dass zunächst die entfremdete Arbeit abgeschafft werden müsse, damit sich emanzipativere gesellschaftliche Modelle durchsetzen können. Das Primat der Transformation liegt daher in der Negation der entfremdeten
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Arbeit, um anschließend Sexualität in einer nicht-repressiven Form in Eros zu sublimieren, der eine neue gesellschaftliche Ordnung begründen könne: „Nicht-repressive Sublimierung ist freies Spiel der menschlichen Fähigkeiten. Dieses aber setzt die Abschaffung der Not und der entfremdeten Arbeit voraus. Nur wenn die Individuen nicht mehr ganztägig mit entfremdeten Leistungen beschäftigt sind, kann die ‚Lustgewinnung aus Körperzonen‘ im Vollzug ihrer eigenen Funktion transzendierend die mitmenschliche Existenz selbst in ihren Kreis ziehen und in eine gesellschaftliche Ordnung eingehen.“ (Marcuse 2002: S. 159)
Diese Gedankengänge zur Überwindung von Entfremdung sind bei Marcuse mit revolutionärem Pathos geschrieben. Letztlich bietet er aber eine Variante der marxistischen Entfremdungstheorie, die ähnlich wie bei Adorno und Horkheimer, ins Objektiv-Totale gewendet wird. Die theoretische Grundlage zur Befreiung aus dem Leistungsprinzip wirkt, wie Hans-Joachim Busch richtig bemerkt, wie eine Geschichtsmetaphysik, deren Charme bereits verflogen ist. (Vgl. Busch 2001b: S. 98) Marcuse, wie Adorno und Horkheimer, können ihre These nicht belegen, wonach Entfremdung total geworden ist und es gleichzeitig dennoch Erkenntnismöglichkeiten (nicht zuletzt ihre eigenen) und Transzendierungspotentiale gibt. 1.2.9 Neuere Ansätze zu Entfremdung Ab den 2000er Jahren hat sich die Kritik an Entfremdung erneut in wissenschaftlichen Publikationen niedergeschlagen. Es sind hier vor allem Rahel Jaeggi (Jaeggi 2005), Luc Boltanksi, Ève Chiapello (Boltanski/Chiapello 2006) und Hartmut Rosa (Rosa 2010; Rosa 2013a; Rosa 2016b) zu nennen. Besonders Jaeggi entfernt sich mit ihrer Fundamentalkritik an den früheren Entfremdungstheorien wieder vom Lohnarbeitsparadigma, das vor allem durch Marx in die Entfremdungstheorie gelangt war. Wenn auch schon die erste Generation der Frankfurter Schule um Adorno, Horkheimer und Marcuse eine Universalisierung der Entfremdung andeuteten. In einem ungewöhnlichen Stil entwirft Jaeggi Beispiele, an denen sie moderne Entfremdungsphänomene exemplifiziert, auf realempirische Beispiele verzichtet sie. Jaeggi wirft den alten Entfremdungstheorien essentialistische, paternalistische und metaphysische Konzeptionen vor, die es ihrer Einschätzung nach nicht geben darf und auch nicht geben muss: „Entfremdungskritik unter heutigen Bedingungen darf nicht, muss aber auch nicht in einem starken Sinn ‚essentialistisch‘ oder metaphysisch begründet sein; und sie darf nicht, muss aber auch nicht perfektionistisch oder paternalistisch argumentieren.“ (Jaeggi 2005: S. 50)
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Um jeglichen Essentialismusverdacht zu zerstreuen, verschiebt sie dann auch ihre Analyseperspektive vom Subjekt auf das Objekt, indem sie ein nichtentfremdetes Leben nur durch gelungene Lebensvollzüge definiert. D.h. Das Subjekt soll sich die verschiedenen objektiven Rollen aneignen, um authentisch in ihnen zu sein. Hierbei geht der gesellschaftskritische Impetus der Entfremdungstheorie allerdings verloren. Denn Jaeggi beharrt darauf, dass das Subjekt sich nicht von sich selbst, in welcher Form auch immer, differenziert, sondern, dass es sich in seinem Tun entfremdet: „Man ist entfremdet nicht von etwas (dem eigentlichen Selbst), sondern in seinen Handlungsvollzügen, in dem also, was man tut bzw. wie man es tut.“ (Ebd.: S. 190) In dieser strukturalistischen Sichtweise bleibt unklar, woran das Subjekt dann überhaupt leiden soll, wenn es entfremdet ist. Außerdem liegt der Verdacht von einer nahezu unendlichen Plastizität nahe, in der das Subjekt sich an unzählige Rollen richtig anpassen kann. So ist für Jaeggi dann auch die „produktive Aneignung“ (Jaeggi 2005: S. 111) der Rollen als Ausweg aus der Entfremdung zu verstehen. Damit aber individualisiert sie gesellschaftliche Entfremdungsproblematiken. Das Subjekt wird selber verantwortlich für seine Entfremdung und Überwindung. Die Kritik an der Gesellschaft wird durch eine Kritik an den Subjekten ersetzt. Jaeggi verfängt sich damit selber in paternalistischen Vorwürfen an die Subjekte, die es nicht schaffen, in ihren Handlungen sie selbst zu sein. Sie gerät damit auch in einen Widerspruch zu Autoren wie Boltanski und Chiapello (Boltanski/Chiapello 2006) oder Alain Ehrenberg (Ehrenberg 2008), die gerade eine Selbstoptimierung als Triebfeder für individuelles Leid ausmachen. Außerdem kritisiert Jaeggi die älteren Entfremdungskonzeptionen, die immer einen essentialistischen Kern voraussetzen und daher in der Idee von einer Rückkehr gefangen wären. Ist diese These bei einigen Autoren nicht unbegründet, so ist sie doch für Marx und die frühe Frankfurter Schule nicht haltbar. Deren Ideen der gesellschaftlichen Überwindung von Entfremdung waren verknüpft mit einer neuen gesellschaftlichen Epoche, in der Potentiale entfaltet werden können, und nicht die Rückkehr zu einem Kernselbst. Der Essentialismusvorwuf gegenüber Marx und der Marxinterpretation der frühen Frankfurter Schule läuft daher ins Leere. Der Vorwurf des Paternalismus scheint ebenfalls übertrieben. So haben zwar bestimmte Gruppen, besonders im Zuge der 68er-Bewegung, häufig eine Entfremdung und ein verdinglichtes Bewusstsein konstatiert, gerade auch um die Zufriedenheit der anderen mit dem System zu delegitimieren. Allerdings ist das Leid der Menschen innerhalb der Gesellschaft, innerhalb der Arbeits- und zunehmend auch Freizeitverhältnisse offensichtlich. Konkrete Handlungsanweisungen zur Überwindung von Entfremdung finden sich jedoch selten. Auch problematisch ist die implizite Annahme des Selbst. Dieses entsteht für Jaeggi immer erst durch die Aneignung (Jaeggi 2005: S. 184) und müsste sich daher auch mit jeder neuen Aneignung transformieren lassen. Das Außen verliert so aber seinen Bezug zum Innen, weil das Innere immer nur die Konstitution durch eine ge-
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lungene Außenaneignung ist. Diese Kritik an der Rekonstruktion der Entfremdungstheorie von Jaeggi übt auch Christoph Henning. (Vgl. Henning 2015: S. 188– 196) So bemängelt er, Jaeggi sei „radikal konstruktivistisch“ (Ebd.: S. 196), wenn sie das Subjekt nur in der Konstruktion durch Aneignungsvollzüge denkt: „[D]ann wäre Entfremdung nicht mehr denkbar – ein Selbst wäre dann jeweils das, als was es sich in einem Moment angeeignet hätte (und unklar bliebe, was dieses ‚es‘ sein kann). Woher sollte hier noch Spannung kommen – zu was? Wären wir nicht mit jeder neuen Aneignung ein neues Selbst, so dass Identität über die Zeit undenkbar erschiene?“ (Ebd.: S. 195)
Jaeggis Nähe zu strukturalistischen Subjektansichten ist deutlich, sie versteht das Subjekt bloß als unterworfenes, als Produkt der Strukturen, Diskurse oder Texte. Das Subjekt verliert sich dadurch in einer unbestimmten Beliebigkeit, in der jegliche Rolle grundsätzlich anzueignen wäre, wodurch Entfremdung auch in heteronomen Zwangsverhältnissen noch überwindbar erscheint. Bei Jaeggi wird nie klar, wovon das Subjekt entfremdet, wenn es immer nur die äußeren Strukturen aneignen muss, um authentisch zu sein. Luc Boltanksi und Ève Chiapello nehmen in ihrem Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello 2006) eine weitere innovative Perspektive zur Entfremdungskritik ein. Neben der Sozialkritik verweisen die Autoren auf eine Künstlerkritik, die gerade mangelnde Authentizität und Sinnverlust zum Thema hat. Diese Entfremdungsmerkmale, die von Boltanski und Chiapello besonders im Frankreich des 19. Jahrhunderts ausgemacht werden, haben sich, so die These, von der Kritik am Kapitalismus hin zur Triebfeder des Kapitalismus entwickelt. Die Künstlerkritik, die in vielen Fällen mit der Sozialkritik in einen Widerspruch gerät,83 dient dem Kapitalismus als Inspirationsquelle und wird dankend in das System integriert. Anhand von Managementliteratur lässt sich ein Wandel in der Unternehmenskultur feststellen, die als Antwort auf die Entfremdungs- bzw. Künstlerkritik mehr Kreativität, Hingabe, Identifikation mit der Firma, flache Hierarchien und Selbstbestimmung verspricht. Der Kapitalismus ist der Künstlerkritik daher immer einen Schritt voraus, er besitzt die Fähigkeit, die Entfremdungskritik zu integrieren. Dennoch lässt sich das Verschwinden der Kritik an Entfremdung nicht mit einem Verschwinden der Entfremdung gleichsetzen. Die Idee, auf die Künstlerkritik zu verzichten, samt ihrer „perversen Effekte“ (Boltanski und Chiapello, zit. nach Henning 2015: S. 175) als Treibstoff für den neoliberalen Kapitalismus, ist ebenfalls unglücklich. Denn gerade Entfremdungserfahrungen und ihre Artikulation scheinen viele Lohnabhängige zu treffen, so die Kritik aus der Arbeitsund Industriesoziologie. 83 Kritik daran übt berechtigterweise Henning. (Vgl. Henning 2015: S. 175)
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Ein weiterer Ansatz zur neueren Entfremdungstheorie entwickelte Hartmut Rosa. Als Gegenbegriff zur Entfremdung setzt er Resonanz. Denn die Selbstbeziehung, die sozialen Beziehungen und die Beziehungen zur Umwelt sind im beschleunigten Kapitalismus ständig vom Resonanzverlust bedroht. Er verknüpft seine kritische Gesellschaftstheorie von der „Beschleunigungsgesellschaft“ (Rosa 2013a: S. 33) daher mit den Begriffen Resonanz und Entfremdung. Das Gegenteil von Entfremdung ist für Rosa dabei nicht mehr als „Autonomie-“ oder „Authentizitätsgedanke“ zu verstehen, sondern als Resonanz im Sinne „gelingender Weltbeziehungen“. Dies sind solche, „in denen die Welt den handelnden Subjekten als ein antwortendes, atmendes, tragendes, in manchen Momenten sogar wohlwollendes, entgegenkommendes oder ‚gütiges‘ ‚Resonanzsystem‘ erscheint.“ (Rosa 2013b: S. 9) Peter Schulz kritisiert Rosa für seine Verflachung der Kapitalismuskritik. (Vgl. Schulz 2015) Für Rosa sei Lohnarbeit nicht mehr grundsätzlich problematisch, da auch in ihr Aneignungen und Resonanzen zu finden seien, immer dann, wenn Arbeiter sich in ihren Handlungen wiederfinden. Schulz wendet mit Marcuse richtigerweise ein, dass die Verbindung von Lust und Arbeit keine unentfremdete Existenz darstellt, sondern gerade eine fortgeschrittene Form der Entfremdung sein kann, der eine Verbindung von kapitalistisch erzeugten Bedürfnissen und entfremdeter Arbeit zugrunde liegt. (Vgl. ebd.: S. 113) Daher sei die Versöhnung von kapitalistischen Produktionsverhältnissen mit Resonanzbereichen, die Rosa gegen die zunehmende Beschleunigung stärken will, problematisch. Rosa sieht dementsprechend auch Burnout84 als Entfremdungserscheinung, die nur auf mangelnder Resonanz beruht: „Nicht die viele Arbeit, wohl aber die Arbeitsverhältnisse führen tendenziell zu Burnoutkrankheiten: Die Hinweise darauf, dass Burnout entsteht, wenn bei der Arbeit ‚nichts zurückkommt‘, wenn es keine ‚Resonanzen‘ mehr gibt, sind überwältigend: Burnout tritt auf, wenn Erfolge nicht mehr wahrgenommen oder gefeiert werden, sondern nur als ‚Zwischenschritte in einer endlosen Kette‘ erscheinen, wenn Anerkennung versagt wird (Gratifikationskrise), wenn genuine persönliche Beziehungen und Interaktionen auf der Strecke bleiben oder instrumentalisiert werden, wenn die Arbeitsschritte nicht mehr intrinsisch motiviert sind, die Lust an der Arbeit als sinnerfüllte Tätigkeit verschwindet. Kurz: Burnout ist die Folge eines 84 An dieser Stelle ist Rosa auch für die Verwendung des Begriffs Burnout zu kritisieren. In der Diagnostik psychischer Erkrankungen ist Burnout nicht bekannt. Die Symptome unterscheiden sich nicht von der Depression. Es lässt sich vermuten, dass die BurnoutDiagnose mit einer gewissen Anerkennung für bestimmte Menschen mit guten Positionen im Feld gestellt wird, während Menschen mit schlechteren Positionen Depressionen diagnostiziert bekommen.
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Verstummens der ‚Resonanzachsen‘ am Arbeitsplatz (ebenso wie der Verlust des Arbeitsplatzes auch nicht nur materielle Einbußen, sondern ganz gravierend auch den Verlust von Resonanzräumen verursacht).“ (Rosa 2012: S. 4)
Entfremdungseffekte allerdings nur auf mangelnde Resonanz zurückzuführen scheint Entfremdung aber nicht grundsätzlich zu erklären. Tätigkeiten, in denen sich das Subjekt nicht wiederfindet kann, können ja grundsätzlich auch sehr resonanzreich bzw. anerkennungsreich sein, man denke nur an den anerkannten Manager, der voll in seiner Arbeit aufgeht, mit dem Aufgehen in der Arbeit fällt aber nicht zwangsläufig Entfremdung weg. Grundlegende Kritik an den Konzepten von Rosa und Jaeggi lässt sich auf deren Subjektkonstitution beziehen. Das Konzept der Resonanz von Rosa verfängt sich, ähnlich wie das von Jaeggi, auf die sich Rosa beruft (Rosa 2011: S. 234), im Netz einer metaphysischen Subjektkonstitution. Das Subjekt scheint sich nur durch Aneignung bzw. Resonanz zu konstituieren, es bleibt daher unklar, wovon das Subjekt genau entfremdet. Außerdem spielen ökonomiekritische und gesellschaftskritische Faktoren eine untergeordnete Rolle, weil es auf der Suche nach dem guten Leben plötzlich überall Möglichkeiten gibt, die das Subjekt nur selbstverantwortlich wahrnehmen müsse. Solche ungebundenen Lebensentwürfe führen, wie Ehrenberg (vgl. Ehrenberg 2008) gezeigt hat, gerade in Überforderung, Depression und Burnout. Darüber hinaus sind sie im Sinne von Jaeggi selber paternalistisch. Jaeggi (vgl. Jaeggi 2005: S. 50) und Rosa (vgl. Rosa 2009: S. 120) wollen auf Essentialismus und Paternalismus verzichten, wodurch sie aber das Subjekt in seiner Tiefendimension gänzlich preisgeben.85 Das vielversprechende Konzept der Resonanz bedarf demgegenüber aber einer genauen Analyse der Tiefenstruktur der Subjekte, um Resonanz auch in mental-körperlichen Regionen analysieren zu können.
1.3 RESÜMEE: SUBJEKT UND ENTFREMDUNG Die verschiedenen Theoretiker der Entfremdung hatten von Beginn an den Impuls, soziales Leid in eine Kategorie zu fassen, die über die Versagung elementarer Grundbedürfnisse als Ursache hinausgeht. Entfremdung erscheint in der Geschichte daher entweder als Lebensgefühl der Zerrissenheit, meist verbunden mit sozialen Unsicherheiten bzw. tiefgreifenden sozio-ökonomischen Veränderungen, oder als 85 Den Verzicht auf nicht-intersubjektive Anteile im Subjekt kann man von Honneth über Jaeggi bis Rosa beobachten. Zur Kritik an Honneth, die auch bei Jaeggi und Rosa ihre Gültigkeit behält. (Vgl. Busch 2003)
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theoretischer Begriff, um Störungen einer Ordnung im Welt- oder Selbstbezug zu analysieren. Beide Aspekte, als Gefühl und als Theorie, sind unablösbar miteinander verwoben. Die Frage nach der inneren Zerrissenheit bezog sich dabei immer auch auf die Frage nach der Einheit des Menschen, nach seinem Subjekt. Die Geschichte der Entfremdung entstand daher gleichzeitig mit der Subjektphilosophie.86 In Kapitel 1 wurden die Entfremdungstheorien beschrieben. Diese wurden in ihren idealtypischen Merkmalen bestimmt, um die Wandlungen und Kontinuitäten durch die Epochen zu verdeutlichen. Eine genaue Analyse des Lebensgefühls der Epochen lässt die Quellenlage zwar kaum zu. Allerdings lassen sich durch die hier geleisteten Reflexionen der Theorien Rückschlüsse auf die Gefühlswelten in den jeweiligen Epochen ziehen. Eine beständige Beschäftigung mit Entfremdung in allen hier behandelten Epochen spricht für eine kontinuierliche Problematik innerhalb der verschiedenen Gesellschaftsformen. Wie stark eine solche Entfremdung ausgeprägt war, ob sich gar ein Gefühl der Entfremdung intensiviert oder reduziert hat, lässt sich hingegen nicht deuten, daher bleibt nur die Analyse der historischen Theorien. In dieser Theoriegeschichte ist die allgemeinste Formel von Entfremdung der Verlust oder das Fehlen einer Ganzheit und Einheit. Die Aufhebung der Entfremdung ist daher eng verknüpft mit dem Wiederherstellen einer Einheit. Dieses Motiv findet sich in der hier dargestellten theoretischen Reflexion über Entfremdung seit Aristoteles. Auch wenn die Epochen der Entfremdungstheorie nicht klar abzugrenzen sind, so lassen sich doch einige Paradigmen festhalten, die nicht selten vor dem Hintergrund der Subjekttheorie entstanden sind: Zunächst lässt sich in der Antike Entfremdung als individuell verstandenes Problem kennzeichnen, bei dem sich das Selbst durch heteronome Tätigkeiten von sich entfremdet. Nur die musischen Tätigkeiten erlauben ein nichtentfremdetes Leben. Die Entfremdungsproblematik, wie sie hier stellvertretend für die Antike bei Aristoteles skizziert wurde, legt den Grundstein späterer Entfremdungstheorien. So ist bereits deutlich das marxistische Ideal einer nichtentfremdeten Arbeit vorgezeichnet, bei der das Subjekt in seinen Tätigkeiten ganz bei sich ist. Bei Aristoteles sind die musischen Tätigkeiten allerdings gegensätzlich zur Arbeit gedacht, bei Marx wird Arbeit hingegen in den Fokus gerückt. Daher beschreibt Aristoteles auch, wie unentfremdete Tätigkeiten auszusehen hätten, Marx hingegen beschreibt nur negativ, wie sie nicht auszusehen 86 Der Begriff der menschlichen Subjektivität ist doppelsinnig. Zum einen ist sie das Unterworfene, das den Menschen, als Ergebnis eines Zurichtungsprozesses, auf das Abgeleitetsein aus einer Struktur reduziert. Auf der anderen Seite wird das Subjekt aber auch als ein Mit-sich-selbst-Identisches verstanden, als ein autonomes und wirkmächtiges bzw. intentionales Subjekt. In dieser Arbeit wird die letztere Definition von Subjektivität theoretisiert.
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hätten. Dennoch ist davon auszugehen, dass Marx sich implizit an der Idee der Muße als unentfremdete Tätigkeit orientiert und diese versucht, in eine Theorie der Arbeit zu integrieren. So soll Arbeit einem Selbstzweck dienen und keinen fremden Zwecken. In den theologischen Modellen der Gnosis und des Mittelalters wird dann Gott zum Bezugspunkt des Menschen, seiner Subjektivität. Dadurch ist der Mensch im sündhaften Diesseits grundsätzlich entfremdet, was nur durch eine gottgefällige Lebensführung zu überwinden ist. Entfremdung wird aber gleichzeitig auch positiv gesetzt als Entfremdung vom schlechten Diesseits, hin zu Gott. Deutlich ist der Wechsel von einer philosophischen Form der Erkenntnis des unentfremdeten Lebens in der Antike hin zu einer spirituellen bzw. ekstatischen Form der Gotteserkenntnis, die, durch die richtige (gottgefällige) Praxis auf Erden, ein Leben ohne Entfremdung im Himmelreich verspricht. Das Motiv eines glücklichen Lebens im Jenseits, das es durch richtige Praxis im Diesseits zu erreichen gilt, ähnelt Marx’ Reich der Freiheit, auch wenn Marx das Jenseits im Diesseits anstrebt. In der Renaissance verschiebt sich die Entfremdungstheorie wieder hin zum Selbst. Denn ein gesellschaftlicher Orientierungsverlust und die damit verbundene Rückbesinnung auf die Antike nehmen das Selbst wieder in den Blick. Das lyrische Ich Petrarcas begleitet das wiederentdeckte Subjekt und die Hoffnung auf eine Einheit von Selbst und Welt. Zugleich aber wandelt sich diese Hoffnung in eine Melancholie. Das autonome Subjekt wird mit seiner neuen Freiheit auch selbstverantwortlich und muss die Frage der Einheit des Menschen ganz alleine, ohne göttliche Hilfe, beantworten. Das Motiv der Selbstverantwortung bleibt von nun an im Diskurs der Entfremdungstheorie, auch wenn es zwischen individueller und gesellschaftlicher Verantwortung beständig wechselte. Spätestens mit Rousseau wird dann Entfremdung als ein gesellschaftlichkulturelles Problem wahrgenommen. Es ist die Kultur, die den Menschen seiner Natur entfremdet, und erst eine neue Kultur, basierend auf dem Gesellschaftsvertrag, kann die Entfremdung wieder aufheben. Diese Denkbewegung ist typisch für die Aufklärung. Denn Natur wird durch Kultur unterdrückt, und erst eine Rückkehr zur Natur kann auf einer höheren Ebene eine neue Kultur begründen. Das Rousseaus’sche Natursubjekt wird durch die objektive Kultur (die Meinung der anderen) unterdrückt. Auch hier ist deutlich ein Motiv des späteren Marx’schen Entfremdungsbegriffs zu erkennen. Marx entnimmt Rousseau den Gedanken, dass das Natürliche sich auf einer höheren Ebene von Kultur wieder ausdrücken soll. Außerdem entwickelt Rousseau den Gedanken der perfectibilité, wonach die Essenz des Menschen in seiner Vervollkommnungsfähigkeit liegt. Die menschlichen Potentiale sollen sich daher entfalten können, wie es bereits bei Aristoteles angedeutet war. Auch Marx’ Subjektbegriff ist deutlich von dieser liberalen Ethik der freien Entfaltung des Menschen geprägt.
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Bei Hegel wird Entfremdung dann idealistisch begründet. Der Weltgeist erlangt im Menschen Bewusstsein und bewegt sich über die Negation immer weiter bis hin zum absoluten Weltgeist. Der Weltgeist muss sich dabei immer wieder vergegenständlichen und seine Objekte negieren. Hegel beschreibt als Erster, dass das Subjekt sich ständig Identitäten entwirft, die mit zunehmendem Bewusstsein immerfort wieder brüchig werden. Daher ist die Entfremdung Antrieb für die Weiterentwicklung des Geistes, der sich selbst und damit die Welt beständig aneignet (Hegels Bildungsbegriff). Erst wenn sich andere Mitsubjekte in den Weg dieser Weltaneignung stellen, wird die Dynamik des Fortschritts über Entfremdung blockiert. Nur die gegenseitige Anerkennung der Subjekte als Herr und Knecht und die damit verbundene Begrenzung ihrer Begierden kann die gesellschaftliche Spannung entschärfen. Für Marx’ Entfremdungstheorie ist vor allem dieses Vergegenständlichungsmodell wichtig und außerdem die Vorstellung, dass Entfremdung ein notwendiger Zwischenschritt ist. Marx baut auf diesem Zwischenschritt sein Geschichtsmodell auf, indem er aus der Herr-und-Knecht-Logik ein Klassenmodell entwirft, dass den materialistisch gewendeten Weltgeist87 zur klassenlosen Gesellschaft treibt. Mit Marx wird der kulturelle Aspekt von Rousseau und die deterministische Gesellschaftsentwicklung von Hegel auf ökonomische Kategorien zugespitzt. Die Überwindung der Entfremdung wird daher auf die Transformation der Produktionsverhältnisse projiziert. Während der frühe Marx eine Entfremdungstheorie entwirft, die noch deutlich an Aristoteles, Hegel und Rousseau orientiert ist, entwirft der Marx des Kapitals eine Fetischtheorie, die implizit auf der frühen Entfremdungstheorie beruht. Man könnte auch sagen: Der junge Marx analysiert die subjektive Seite des Kapitalismus, während der ältere Marx die objektive Seite in den Blick nimmt. So sind bei Marx wesentliche ideengeschichtliche Aspekte der Entfremdung vereint. Marx sieht den Menschen als Teil einer naturhaft-dialektischen Bewegung, die zur klassenlosen Gesellschaft strebt, in der der Mensch alle seine Potentiale entfalten kann und erst dadurch wirklich Subjekt wird. Für diese Praxis braucht er allerdings die Erkenntnis der Klasse (Klassenbewusstsein), die er im Kapitalismus aber nur schwer erlangen kann. Denn innerhalb der Warenproduktion werden ihm die realen Verhältnisse der Warenwelt zurückgespiegelt und gründen so seine Identität, in der sich Subjekt und Objekt verkehren. Freud verleiht der Entfremdung respektive dem Unbehagen dann eine psychologische Tiefendimension. Im Subjekt spürt er den objektiv-kulturellen Gründen der Entfremdung nach. Auch für ihn stellt Entfremdung ein Produkt der unvereinbaren 87 Bei Marx ist der Weltgeist rein natürlich zu verstehen. In der Dialektik der Natur und ihrer immanenten Bewegungsgesetze entwickelt sich Gesellschaft zur klassenlosen Gesellschaft, in der Natur und Kultur auf höherer Ebene verschmelzen bzw. der Weltgeist zu sich kommt.
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Antipoden Kultur und Natur dar. Obgleich er dabei bereits wesentlich differenzierter vorgeht als Rousseau, ist auch bei Freud der Pol der Natur noch überwiegend biologistisch und starr gedacht, wodurch Entfremdung auch nur essentialistisch theoretisiert werden kann. Freud, der keine Entfremdungstheorie im eigentlichen Sinne entworfen hat, ist es jedoch zu verdanken, dass der Entfremdung zum ersten Mal mit materialistisch-naturwissenschaftlichem Anspruch auch in der Tiefendimension des Subjekts nachgegangen wird. Die Frankfurter Schule sieht weiterhin gesellschaftlich-ökonomische Gründe der Entfremdung, die sie mit dieser Tiefendimension Freuds verknüpft. Überwindungsideen werden nach dem Schrecken des Holocausts skeptisch gesehen (von Adorno und Horkheimer skeptischer als von Marcuse) und oft in den Bereich der Kunst verlagert. Vor allem Adorno arbeitet eine Entfremdungstheorie aus, in der Entfremdung grundlegend für das Zeitalter der Aufklärung bleibt, da die Natur nicht mehr mitgedacht wird. Gerade innerhalb der Kulturindustrie ist kaum mehr eine Erfahrung zu machen, die auf das Nichtidentische verweisen könnte. Das Nichtidentische als Zentralkategorie der Negativen Dialektik beschreibt, wie das Entfremdete vor einer falschen Identifizierung zu bewahren sei. Nicht mehr Überwindung von Entfremdung ist das Ziel, sondern Bewahrung des Besonderen in der Entfremdung, damit es vielleicht irgendwann doch wieder Teil einer befreiten Gesellschaft werden könnte. Diese befreite Gesellschaft liegt für Adorno jenseits des Kapitalismus mit seiner totalitären Äquivalenz, die jede menschliche Besonderheit zum Allgemeinen degradiert. Gerade die Entdeckung, dass entfremdete Anteile des Menschen häufig mit Sprache falsch neubestimmt werden, woraus sich der Bann (Weiterentwicklung des Fetischs) speist, ist für eine moderne Entfremdungstheorie elementar. In der strukturalistischen Theorie wird dann, neben dem Subjekt, auch auf Entfremdung als theoretische Kategorie verzichtet (beispielsweise bei Foucault). Im Anschluss daran wird Entfremdung von Jaeggi als Kategorie gedacht, in der sich Subjektivität nur durch Aneignung konstituiert. Überwindung von Entfremdung wird dementsprechend nur als gelingende Aneignungsvollzüge theoretisiert. Auf die gesellschaftskritische Komponente wird weitgehend verzichtet. Rosa versucht mit seiner Theorie der Resonanz Gesellschaftskritik wieder mit Entfremdungskritik zu verknüpfen. Allerdings bleibt auch hier unklar, von was sich das Subjekt eigentlich entfremdet. Während Entfremdung in allen Epochen eine negative, das schlechte Leben betreffende, Konnotation hatte, wurde Entfremdung aber auch oft positiv gedeutet: Als Entfremdung von der Entfremdung. Besonders theologische Theorien haben eine Entfremdung von der falschen Welt hin zu Gott thematisiert, nicht selten durch mythische Erklärungen wie Ekstase oder unerklärliche Naturphänomene. Später wurde dieses Verständnis abgelöst von einer notwendigen Entfremdung des Men-
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schen, die Bildungsprozesse (Hegel) und auch Gesellschaftstransformation (Marx) dialektisch erst möglich macht. Die Entfremdungstheorien haben aber auch in theoretische Sackgassen geführt. So haben sie sich regelmäßig in essentialistischen Behauptungen verfangen (Ausnahme Jaeggi/Rosa). Mit diesen verbanden sich teleologische, theologische und verdinglichte Konzepte der Entfremdung. Diese essentialistischen Konzepte führten zu einem determinierenden Blick auf Mensch, Geschichte, Natur oder metaphysische Instanzen. Hierbei ist jedoch eine Unterscheidung zu treffen: Fast alle Konzepte von Entfremdung haben eine normative ontologische Grundannahme, die jedoch hinsichtlich einer „fixed ontological substance [… und] ontological potential“ (Rae 2010: S. 27) zu differenzieren ist. Ein ontologisches Potential findet sich u. a. bei Marx, Adorno/Horkheimer und Marcuse, während sich eine feste ontologische Struktur bei Aristoteles, Rousseau, Freud u. a. ausmachen lässt. Jaeggi und Rosa versuchen dagegen vollkommen auf ontologische Grundannahmen des Subjekts zu verzichten, wodurch sie das Subjekt aber bloß auf Resultate der Struktur reduzieren und damit nur unzureichend erklären. Ein weiteres Motiv der Entfremdungstheorie ist die Erkenntnis als Überwindungsmoment von Entfremdung. Denn der richtigen unentfremdeten Praxis geht die Erkenntnis der falschen Praxis voraus. Dieses Motiv der Erlösung durch Erkenntnis hat seinen Ursprung in der Antike und wird die gesamte Ideengeschichte der Entfremdung begleiten, wenn auch unter höchst unterschiedlichen Vorstellungen von Erkenntnis: darunter Gotteserkenntnis (Gnosis, Theologie), Erkenntnis durch Theorie (Aristoteles, Hegel, Marx, Freud) oder auch ästhetisch-leibliche Erkenntnis (religiöse Ekstase im Mittelalter, Kunstbetrachtung in der Kritischen Theorie). Auch die Modelle zur Überwindung von Entfremdung sind different. Sie laufen auf Wiederherstellungsprozesse hinaus, in denen entweder das Selbst oder die Gesellschaft wieder zu sich findet. Die gesellschaftsbezogenen Modelle tendieren zur Generierung von Teleologien und Urzustandskonzepten, wie bei Marx, Rousseau u. a. Aristoteles, Jaeggi, Rosa oder theologische Autoren etwa betrachten die Überwindung hingegen als subjektive Aufgabe. Beide Modelle zur Überwindung sind nicht streng voneinander abzugrenzen. Mischformen findet man bei Hegel, Adorno, Horkheimer u. a. Auch die Merkmale der Entfremdung haben sich verändert bzw. sind historischempirisch ohnehin nur schwer zu überprüfen. Dennoch lassen sie sich zusammenfassen als: Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen, Indifferenz gegenüber der eigenen Tätigkeit, das Gefühl der eigenen Verlorenheit in der Welt, mangelnde Autonomie und Sinnlosigkeit der eigenen Praxis. Was kann aber von diesen unterschiedlichen Konzepten und Merkmalen der Entfremdung für eine neue Entfremdungstheorie behalten werden? Aus den geschichtlichen Entfremdungstheorien und ihrer Kritik entwirft die vorliegende Arbeit einen Zugang zur Entfremdung, der einige alte Thesen bewahrt und gleichzeitig überschreitet. Die Arbeit legt in der folgenden
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thesenhaften Theoretisierung eine Position dar, die in den anschließenden Teilen der Arbeit gefestigt wird. Die grundlegende Hypothese lautet: Entscheidend für Entfremdung ist die Differenz von Subjektivität und Identität. Subjektivität verstehe ich als das individuelle Potential von Bedürfnissen und Fähigkeiten. Sie definiert dementsprechend die subjektive Seite des Menschen, Identität hingegen die objektive Seite. Identität wird über Praxis vermittelt, d. h., sie reproduziert sich über herrschende Denk-, Wahrnehmungs-, Sprach- und Handlungsräume in bestimmten Feldern. Subjektivität wie Identität sind gesellschaftlich bedingt. Dabei ist auf eine essentialistische feste Substanz (fixed ontological substance) des Menschen zu verzichten. Subjektivität demgegenüber jedoch nur noch über objektive Kategorien zu denken, wie Jaeggi oder Rosa es tun, erscheint mir zu einseitig. Vielmehr verstehe ich die einzugedenkende Subjektivität als einen integralen Bestandteil des Menschen, die sich gleichermaßen aus genetischen Naturanlagen und gesellschaftlichen Bedingungen speist. Nichtidentität markiert dementsprechend das Nichtineinanderfallen von Subjektivität und Identität, wodurch Identität offengehalten und das Potential ihrer Realisierung bewahrt wird. Entfremdung ist eine ontogenetische und phylogenetische conditio humana. Sie tritt in verschiedenen Lebensphasen bzw. Gesellschaftsphasen in unterschiedlicher Intensität auf. Entfremdung ist daher auch relational und prozesshaft zu verstehen. Dementsprechend ist auch ihre Überwindung immer nur graduell möglich. Bedürfnisse und Fähigkeiten können nur ausgebildet werden, wenn das Subjekt die Möglichkeiten von Erfahrung und Reflexion hat. Die Selbstaneignung ist daher nur im Rahmen einer Weltaneignung durch Erfahrung möglich, also eine Frage der gesellschaftlichen Verhältnisse. Entfremdung ist aus objektiver und subjektiver Analyse her zu begreifen. Aus der objektiven Perspektive folgt die Praxis des Menschen den Imperativen der Identität, sie ist daher gefangen in objektiven Strukturen, wodurch Subjektivität unter Umständen nicht mehr realisiert werden kann. Die Steigerungsvariante (wie sie bei Marx und Adorno zu finden ist) ist die Verkehrung von Subjekt und Objekt. Die vom Menschen geschaffenen objektiven Verhältnisse werden hinter seinem Rücken selber zu Akteuren, so dass der Mensch zum Anhängsel einer autonomen Praxis der Objekte degradiert. In diesem Zusammenhang ist der Fetisch entscheidend. Die Entfremdung von den objektiven Verhältnissen führt die Menschen unter die Kontrolle der Sachen, die sich verselbstständigt haben. Die Verkennung dieser Verselbstständigung als natürlich ist als Fetisch zu begreifen. Dieser ist daher die Bedingung für Ideologien. Auf der Subjektseite kommt Entfremdung durch defizitäre Veräußerung oder Aneignung zustande. Aneignung ist nur sinnvoll, wenn in dem Aneignungsobjekt bereits eigene Anteile veräußert worden sind. Um Subjektivität in der Identität zu realisieren, muss das Subjekt seine Potentiale veräußern, um sich anschließend da-
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rin reflektieren zu können: Gelungene Identität ist reflexiv. Jedes Aneignungsobjekt war zuvor fremd und wird erst durch die eigene Veräußerung (bei Marx die Arbeit) Teil des Selbst. Durch Veräußerung wird daher Eigenes im fremden Objekt objektiviert und dadurch aneignungsrelevant.88 Bei jeder gelungenen menschlichen Praxis bilden so Veräußerung und Aneignung einen Prozess. Aneignung geht über Inbesitznahme hinaus: Aneignung setzt eine praktische Aktivität des Subjekts voraus. Es muss sich das Objekt (ob geistig oder materiell) erarbeiten, dieses durchdringen und verstehen auf seine je spezifische Weise. Es überträgt gewissermaßen einen Teil von sich in den Gegenstand, um ihn dann zurückzuholen. 89 So sind Veräußerung und Aneignung Grundbedingungen menschlicher Praxis. Scheitert aber einer der beiden Prozesse, dann wird Praxis beschädigt, und zwar auf zweierlei Weise. Das Subjekt kann sich mit der Welt (mit den geistigen und materiellen Objekten der Welt) nicht mehr identifizieren (Identität mit der Welt kommt nicht zustande) und steht dieser indifferent gegenüber. Oder aber es kommt zu einer falschen Identifikation mit der Welt (Identität erreicht nicht die Subjektivität). Subjektivität wird dann in den Objekten der Welt nicht mehr adäquat wiedergegeben. Durch die ungenügende Aneignung und die falsche Identifikation bildet sich eine Identität, die die Subjektivität nicht mehr repräsentieren kann. Diese Konzeption von Entfremdung entfaltet gleichzeitig auch eine Subjektkonzeption. Subjektivität ist gewissermaßen ihr Gegenbegriff. Diese wird über die Deutung des Gegenteils von Entfremdung negativ bestimmbar. Es wird daher auch kei88 Zum Beispiel ist eine demokratische Struktur idealerweise durch die Veräußerung aller individuellen Interessen getragen. Die Störung der Demokratie wäre dann der Ausschluss von Veräußerungs- oder Partizipationsmöglichkeiten innerhalb der politischen Entscheidungsstruktur mit der Folge einer Entfremdung vom politischen System. Auf der subjektiven Seite wären Ohnmacht, Sinnlosigkeit der demokratischen Praxis und politische Apathie mögliche Folgen. Das Beispiel weist gleichzeitig darauf hin, dass die Möglichkeiten von Veräußerung und Aneignung oft kollektiv und daher von den gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig sind. 89 Am Beispiel des theoretischen Wissens wird dies deutlich: Das Subjekt muss Vorwissen, Fähigkeiten und auch Bedürfnisse (Wissenwollen) in eine Theorie veräußern, um sich diese dann aneignen zu können. In einem gelungenen Fall von Aneignung erhält es seine Veräußerung qualitativ verändert wieder zurück: Wissen, Fähigkeit und Bedürfnisse würden sich dann verändern. Aber auch das Objekt wird sich qualitativ, durch den Einfluss des Vorwissens und der Fähigkeiten des Subjekts, verändern. Durch diesen Prozess stehen Subjekt und Objekt in einem Verhältnis, sie stehen sich nah. Das Subjekt bekommt dadurch die Möglichkeit, sich im Objekt zu reflektieren oder, anders gesagt, der Mensch stellt einen Bezug zur Welt her und kann sich selbst darin wiederfinden: Das Subjekt kann sich mit der Welt identifizieren und gewinnt dadurch eine bestimmte Identität.
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ne positive Bestimmung von Authentizität vorgenommen. Das entfremdete Subjekt kann mithilfe von Erfahrungen der Entfremdung durch Irritationen (in Kunst oder Alltag) reflexiv werden und die Möglichkeiten gelungener Aneignung bewahren. Mit der negativen Bestimmung wird der Vorwurf des Essentialismus und des Paternalismus entkräftet. Außerdem kann auf einen gesellschaftlichen Ursprungsmythos verzichtet werden. Entfremdung ist demnach nur als dynamische, nicht-essentialistische und materialistische Konzeption denkbar. Eine solche Konzeption von Entfremdung kann auf feststehende Entitäten verzichten und trotzdem eine Entfremdung von Zusammengehörigem denkbar machen. Voraussetzung dafür ist eine subjekttheoretische Bestimmung, in der das Subjekt zunächst in einem gesellschaftlichen Prozess gebildet wird, aber darin dann auch entfremden kann. Allerdings ist Entfremdung nicht nur auf der Seite der Subjektivität, sondern auch der Gesellschaft zu betrachten. Es fehlt jedoch eine Gesellschaftsanalyse, die über das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital hinaus differenziertere Analysen zulässt. Erst auf dieser Grundlage ließe sich genauer erschließen, wie sich die Subjektivität als erste Natur zur zweiten Natur verhält. Während die Gesellschaftskritik der Strukturalisten Subjektivität kaum mitdenkt, sind die Analysen der Vertreter der Kritischen Theorie meist zu sehr auf die Totalität der Gesellschaft fokussiert. Gesellschaft differenziert sich aber, und eine kritische Gesellschaftstheorie muss die einzelnen Felder mit ihren Auswirkungen auf den Menschen theoretisieren können. Eine Kritische Theorie des Subjekts und eine Kritische Theorie der Gesellschaft werden so für moderne strukturalistisch orientierte Gesellschaftstheorien wie Bourdieus Praxeologie anschlussfähig. Entfremdung ist eine unverzichtbare Kategorie kritischer Gesellschaftstheorie. Ohne eine Analyse ihrer Tiefendimension bliebe die vorliegende Einschätzung von Entfremdung aber bloße Metaphysik. Diese Tiefendimension der Entfremdung in dem hier skizzierten Muster ist mit Alfred Lorenzer nachzuzeichnen. Mit Pierre Bourdieus Habitus-Feld-Theorie wird dann Entfremdung ein gesellschaftskritischanalytischer Begriff.
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Bourdieu und Lorenzer
Um den bisherigen Entwurf einer Entfremdungstheorie materialistisch zu festigen, werden in Kapitel 3 dieser Arbeit die Theorien von Pierre Bourdieu und Alfred Lorenzer vorgestellt. Beide haben keine eigenständige Entfremdungstheorie erarbeitet. Daher werden ihre Theorien jeweils in Bezug zu Entfremdung gedeutet. Im nächsten Kapitel werden die Theorien dann zueinander in Beziehung gesetzt. Bourdieu und Lorenzer gehen jeweils von ähnlichen philosophischen und soziologischen Hintergrundannahmen aus, verbleiben aber in einer objektiven (Bourdieu) oder subjektiven (Lorenzer) Strukturanalyse. Diese Konstellation macht die beiden Theorien untereinander anschlussfähig und für eine Verknüpfung attraktiv. Dafür spricht sich auch Hans-Dieter König aus: „Soziales Handeln als symbolisches Interagieren [entwickelt] eine Eigendynamik im Rahmen einer Lebenswelt, welche das Vermittlungsglied zwischen dem Seelenleben und dem sozialen System darstellt. [... Daher] lässt sich die von Lorenzer entworfene psychoanalytische Sozialisationstheorie beispielsweise mit Bourdieus […] sozialstruktureller Theorie verknüpfen. (König 2008: S. 5)
Mit beiden Theorien wird auch eine genaue Analyse der Dialektik zwischen objektiver und subjektiver Struktur möglich. Während bei Bourdieu eine Leerstelle in Bezug auf Entfremdung bleibt, erlaubt die Theorie von Alfred Lorenzer bereits eine eigenständige Analyse von Entfremdung in der Tiefenstruktur des Subjekts. Beide Theoretiker weisen in ihren Überlegungen jeweils einen blinden Fleck auf: Während Bourdieu nicht die innerdynamischen Mechanismen des Subjekts und seine Wechselbeziehungen zur Gesellschaft fassen kann, kann Lorenzer die objektiven Verhältnisse, die auf das Subjekt wirken, nicht genau erklären. An ihren blinden Flecken ergänzen sich die Theorien aber. Ein gemeinsamer Bezugspunkt ist dabei der Fokus auf die Entstehung der Eigensinnigkeit von Praxis, die weder aus den objektiven Strukturen noch aus den inneren subjektiven Strukturen der Menschen ganz erklärt werden kann.
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Es erscheint mir unerlässlich, die Grundzüge der Theorien zu skizzieren, bevor sie zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden können. Ich beschränke mich dabei aber auf die für Entfremdung notwendigen Aspekte der Theorien.
2.1 BOURDIEU 2.1.1 Philosophische Antiphilosophie bei Bourdieu Bourdieus Œuvre ist von einem zwiespältigen Verhältnis zur Philosophie geprägt. Einerseits bezieht sich Bourdieu implizit wie explizit auf eine Vielzahl von Autoren mit unterschiedlichen und teilweise entgegengesetzten Ansichten, andererseits kritisiert er Philosophie mit den Mitteln soziologischer Kritik. Besonders in seinem Spätwerk distanziert er sich dann von den philosophischen Schulen und von der Philosophie selbst. (Vgl. Bourdieu 2001b: S. 40–45) Bourdieu sieht sich als, im weitesten Sinne, kritischer Theoretiker und teilt mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule u. a. eine Skepsis gegenüber verschiedenen positivistischen Strömungen in der Wissenschaft, lehnt jedoch einen exklusiven übergeordneten Standpunkt, wie den von Adorno, ab. Bourdieus Kritik lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Philosophie beziehungsweise die Philosophen versuchen ihr Feld (das Feld der Geisteswissenschaft) als autonom zu reklamieren und verkennen dadurch ihre gesellschaftliche Genese und die versteckten Reproduktionsbedingungen der Ungleichheit im Feld.1 Daher führen abweichende Meinungen, falscher Sprachausdruck oder auch ein unpassender Sprachstil zur Ausgrenzung aus dem Feld. Bourdieu fordert demgemäß eine radikale soziologische Analyse des philosophischen Feldes, um dessen versteckte Herrschaftsmechanismen zu entschlüsseln und reflexiv wieder in die Philosophie einzubinden. (Vgl. Beer 2007: S. 137) Deutlich wird, dass er die Soziologie als Primat über allen anderen Fächern annimmt. Anders ist nicht zu erklären, dass die Soziologie (vor allem Bourdieus Soziologie) die Philosophie aufklären soll, nicht aber die Philosophie die Soziologie (Bourdieus Soziologie). Bourdieu immunisiert seine Theorie gegenüber einer Dialektik von Soziologie und Philosophie, ähnlich wie bei verschiedenen paternalistischen Gruppen der siebziger Jahre, bei denen immer nur die anderen ideologisch verblendet waren, der eigene Theoretiker aber den Überblick bewahrt. Bei Bourdieu stehen daher, ungeachtet des eigenen Anspruchs, keine Philosophie betreiben zu
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Bourdieus Ansicht ähnelt hier derjenigen der Frankfurter Schule.
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wollen, verschiedene sozialphilosophische Traditionen implizit und explizit im Hintergrund, wie Stefan Zenklusen bemerkt. (Vgl. Zenklusen 2010) Bourdieu versperrt sich so der Reflexion eigener impliziter philosophischer Annahmen in seiner Theorie. Dadurch kann er die eigenen normativen Grundlagen nicht mehr ausreichend begründen, was die moralische, ästhetische und subjektphilosophische Anschlussfähigkeit erschwert. (Vgl. Beer 2007: S. 137–147) Problematisch wird dies, wenn Bourdieu selber subjekttheoretische Hintergrundannahmen vorgibt, die sich aus seiner Theorie erklären sollen, diese sich aber nicht ohne weitere sozialphilosophische oder sozialpsychologische Reflexionen sichern lassen. Bourdieu gibt mit seinem Habituskonzept dementsprechend eine Handlungstheorie vor, die sich m. E. nicht ohne eine Subjekttheorie plausibilisieren lässt. 2.1.2 Bourdieus Theorie der Praxis Pierre Bourdieus theoretische Hintergrundannahmen werden in seinem Entwurf einer Theorie der Praxis explizit. (Bourdieu 2009) Dort versucht er nichts Geringeres als die Überwindung soziologischer und philosophischer Gegensatzpaare. Damit sollen die Antagonismen von Subjektivismus und Objektivismus, Individuum und Gesellschaft bzw. Akteur und Struktur aufgehoben werden. (Vgl. Gebauer/Wulf 1993: S. 7) Bourdieus praxeologisches Programm ist dementsprechend ein Programm zur Auflösung soziologischer Dualismen: „Von allen Gegensätzen, die die Sozialwissenschaften künstlich spalten, ist der grundlegendste und verderblichste der zwischen Subjektivismus und Objektivismus“ (Bourdieu 1993: S. 49): In diesem Sinn verschränkt Bourdieu die Innen- und Außenperspektive auf den Akteur: Dieser ist für ihn weder ein autonom handelndes Subjekt noch ein extern angeleitetes Objekt. Die Praxisdispositionen finden sich körperlich materialisiert im Habitus. Die Erzeugungsprinzipien der Praxis werden so zum primären Erkenntnisgegenstand der Soziologie Bourdieus. Zunächst gehe ich auf die Kritik Bourdieus an den subjektivistischen und objektivistischen epistemologischen Modellen ein. Auf der subjektivistischen Seite kritisiert er vor allem die Phänomenologie: Hier explizit Husserl, Alfred Schütz und Jean-Paul Sartre. Soziologische Erkenntnis sei demnach nicht aus rein subjektiven Quellen zu beziehen, denn die bloße subjektive Wahrnehmung der Welt reiche nicht aus, um verlässliche Aussagen über sie treffen zu können: „Die Erkenntnisweise, die wir die phänomenologische nennen wollen (oder, wenn man in Begriffen gegenwärtig existierender Schulen sprechen möchte: die ‚interaktionistische‘ oder ‚ethno-methodologische‘), expliziert die Wahrheit der primären Erfahrungen mit der sozialen Welt, d. h. das Vertrautheitsverhältnis zur vertrauten Umgebung. Sie begreift die soziale Welt als eine natürliche und selbstverständlich vorgegebene Welt, sie reflektiert ihrer Definition
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nach nicht auf sich selbst und schließt im weiteren die Frage nach den Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit aus.“ (Bourdieu 2009: S. 147)
Die subjektivistische Soziologie macht demnach aus den Erscheinungen der sozialen Welt (Grundsatz der Phänomenologie) die Erklärung der sozialen Welt und kann so die soziale Welt jenseits des Akteursblickwinkels nicht mehr erklären. Dadurch kommt sie über den Ansatz alltagspraktischer Erfahrung nicht hinaus. Bourdieu kritisiert die subjektivistischen Methoden scharf als „Bestandsaufnahme des krud Gegebenen“ oder die Erhebung „kleinbürgerlicher Sichtweisen“ auf „das Niveau einer Theorie der sozialen Welt.“ (Ebd.: S. 150) Die subjektivistischen Theorien können daher nicht erklären, woher die beobachteten Denk-, Wahrnehmungsund Klassifizierungsweisen der Subjekte überhaupt kommen. Bei seiner Kritik am Objektivismus setzt sich Bourdieu dann mit den Theorien von de Saussure, Lévi-Strauss und Althusser auseinander. In diesen objektivistischen Modellen fehlt ihm die Primärerfahrung der Akteure als strukturierendes Prinzip der sozialen Welt, da die objektiven Strukturen verabsolutiert und die Primärerfahrungen ignoriert werden: „Die hier objektivistisch genannte Erkenntnisweise [...] erstellt die – gewöhnlich ökonomischen oder linguistischen – objektiven Beziehungen, die die verschiedenen Praxisformen und deren Repräsentationen, d.h. im besonderen die praktische und stillschweigende primäre Erfahrung der vertrauten Welt, strukturieren – freilich um den Preis des Bruches mit dieser primären Erfahrung, folglich mit den stillschweigend übernommenen Voraussetzungen, die der sozialen Welt ihren evidenten und natürlichen Charakter verleihen.“ (Ebd.: S. 147)
Die Erfahrungen und Selbstauskünfte der Subjekte werden im Objektivismus negiert und die Subjekte als „bloße Träger der Struktur“ (Bourdieu et al. 1986: S. 154) begriffen. Als klassisches Paradebeispiel zieht Bourdieu das Marx’sche BasisÜberbau-Modell und die strukturalistische Theorie von Lévi-Strauss2 heran: Diesen Theorien ist gemeinsam, dass sie ohne eine Eigensinnigkeit der Akteure auszukommen scheinen, welche als Funktionsträger nur noch soziale Regeln, Rollen, Gesetze usw. ausführen. Bourdieu unterstellt dem Objektivismus daher „eine schroffe Diskontinuität zwischen der wissenschaftlichen und der praktischen Erkenntnis.“ (Bourdieu 1993: S. 51)
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Dazu Bourdieu: „Ich wollte, wenn Sie so wollen, die leibhaftigen Akteure wieder ins Spiel bringen, die durch Lévi-Strauss und die Strukturalisten, zumal Althusser, dadurch eskamontiert worden waren, dass man sie zu Epiphänomenen der Struktur gemacht hat.“ (Bourdieu 1992c: S. 28)
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Objektivismus wie Subjektivismus haben für Bourdieu einen epistemologischen blinden Fleck: Sie können die Entstehung der Praxis nicht zureichend reflektieren und verharren daher als Gegensatzpaar. Der Objektivismus ignoriert die Primärerfahrung des erkennenden Akteurs und der Subjektivismus bestreitet die Erkennbarkeit objektiver Gesetze, Regeln und Strukturen, wodurch er die Primärerfahrungen der Akteure hypostasiert. Bourdieu versucht daher mit seiner „kritischen Erkenntnis der Grenzen jeder theoretischen Erkenntnis“ (Ebd.: S. 47) diese Grenzen aufzulösen. Wobei er nicht die objektivistischen und subjektivistischen Erkenntnisweisen parallel und komplementär, sondern ihre Überwindung in der Bewahrung ihrer empirischen Ergebnisse betreiben will: „Die praxeologische Erkenntnis annulliert nicht die Ergebnisse des objektiven Wissens, sondern bewahrt und überschreitet sie.“ (Bourdieu 2009: S. 148) Die Praxeologie bei Bourdieu ist daher eine dialektische Synthese aus Objektivismus und Subjektivismus, in der beide Erkenntnisweisen aufgehoben werden sollen. Die praxeologische Erkenntnisweise vollzieht eine Reintegration der subjektiven Erfahrungen in die objektivistische Theorie. Diese erfolgt aber nicht einfach als Integration der subjektivistischen Verkürzungen in die objektivistischen Theorien, sondern durch die Bewahrung der Eigenlogik der Praxis. Bourdieu unterstellt dem Subjektivismus und dem Objektivismus einen „Intellektualozentrismus.“ (Bourdieu 1993: S. 56) Er beschreibt dies auch als scholastischen Irrtum. Bourdieu unterscheidet zwischen unreflektierter Praxis (man könnte auch von Alltagspraxis sprechen) und einer Praxis der Scholé, einer wissenschaftlichen scholastischen Praxis, welche handlungsentlastet bzw. kontemplativ von dem Zwang, etwas tun zu müssen, abgelöst ist und daher einer eigenen Logik folgt, die nicht mit der Logik der Praxis (Alltagspraxis) identisch ist und dementsprechend nur selbstreferenziell um sich selbst kreist. Eine Theorie der Praxis soll aber die „Grenze von Theorie und Praxis“ kennen und so „ein dem praktischen Wissen angemessenes Wissen [...] produzieren.“ (Bourdieu 2001b: S. 104) Diese Bourdieu’sche Metakritik ist eine Kritik an der Wissenschaft, die sich von der Welt zurückzieht, um sie beschreiben zu können, aber die genau dadurch den Gegenstand aus dem Blick verliert, die Praxis wird durch die Theorie verzerrt. Die Aufhebung der scholastischen Sicht ist die Grundbedingung der Praxeologie: „Hat man die ignorierte oder verdrängte Differenz zwischen der gewöhnlichen Welt und den theoretischen Welten einmal zur Kenntnis genommen, dann gerät ohne ‚primitivistische‘ Nostalgie und ‚populistische‘ Schwärmerei etwas in den Blick, was jedem scholastischen Denken, das auf sich hält, praktisch unzugänglich bleibt: die Logik der Praxis.“ (Ebd.: S. 65)
Bourdieu kann daher plausibel die Schwächen der Hermeneutik der Sozialphänomenologie darlegen. (Vgl. Flaig 2000) Ebenso werden die blinden Flecken der objektivistischen Theorien deutlich. An die Stelle von Objektivismus und Subjekti-
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vismus tritt bei Bourdieu der Habitus. Bourdieu leitet aus seiner Kritik an den herrschenden epistemologischen Modellen seine Theorie der Praxis und mit ihr die Habitus-Theorie ab, wie er selbst in einem Satz zusammenfasst: „Um den Strukturrealismus zu entgehen, der die Systeme objektiver Relationen derart hypostasiert, daß er sie in jenseits der Geschichte des Individuums oder der Geschichte der Gruppe angesiedelte präkonstruierte Totalitäten verwandelt, gilt es und genügt es auch, vom opus operatum zum modus operandi, von der statistischen Regelmäßigkeit oder algebraischen Struktur zum Erzeugungsprinzip dieser observierten Ordnung überzugehen und die Theorie der Praxis oder, genauer gesagt, die Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen zu entwerfen, die die Bedingung der Konstruktion einer experimentellen Wissenschaft von der Dialektik zwischen Interiorität und Exteriorität, d. h. zwischen der Interiorisierung der Exteriorität und der Exteriorisierung der Interiorität bildet: Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden materiellen Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten gefaßt werden können, erzeugen Habitusformen, d. h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv ‚geregelt‘ und ‚regelmäßig‘ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein; die objektiv ihrem Zweck angepasst sein können, ohne das bewußte Anvisieren der Ziele und Zwecke und die explizite Beherrschung der zu ihrem Erreichen notwendigen Operationen vorauszusetzen, und die, die alles gesetzt, kollektiv abgestimmt sein können, ohne das Werk der planenden Tätigkeit eines ‚Dirigenten‘ zu sein.“ (Bourdieu 2009: S. 164)
Der Eigensinn der Praxis lässt sich daher weder objektivistisch noch subjektivistisch erklären, sondern nur mithilfe der Rücksicht auf das, was Menschen praktisch tun, und die Frage, warum sie es tun. Bourdieu spürt der Praxis in den verinnerlichten körperlichen Praxisanweisungen nach, im Habitus. Denn die Praxis ist nicht das Ergebnis von selbstmächtigen Subjekten, „sondern die eines sozial geschaffenen Körpers, der sozial geschaffene und im Verlauf einer räumlich und zeitlich situierten Erfahrung erworbene Grundprinzipien in die Praxis umsetzt.“ (Bourdieu 2001b: S. 175) Bourdieu geht es daher auch nicht um eine Strukturanalyse der objektiven Strukturen wie im klassischen Strukturalismus, sondern um das praxeologische Erkennen vom Zustandekommen von Struktur und Habitus. Die Schemata, nach denen sich die Strukturen bilden, liegen im Habitus, der wiederum Produkt der Strukturen ist. Strukturen werden daher nur wirksam, wenn sie mit Praxis zusammenfallen. Die Analyse der Praxis geht daher auch über eine Handlungstheorie hinaus. Während der Begriff der Handlung einen Akzent auf das Subjekt setzt, ist Praxis umfassender zu verstehen. Praxis sind auch die Bewegungen, Wahrnehmungen und
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unbewussten Schemata, die sich nicht erst in Handlungen zeigen. Handlungen sind immer nur ein Teil der Praxis und als solche zumeist mit Sinnhaftigkeit bzw. als Akt mit einer bewussten Idee assoziiert. Während die Handlung meist als Akt des Einzelnen betrachtet wird, ist Praxis das, was auch zwischen mehreren Akteuren passiert. Die Theorie der Praxis will gleichzeitig die Mechanismen und Regelmäßigkeiten der sozialen Welt erfassen sowie Veränderungen und Emanzipationsmöglichkeiten beschreiben. Jörg Ebrecht und Frank Hillebrandt (Ebrecht/Hillebrandt 2002) fassen die Praxistheorie von Bourdieu zu vier Grundannahmen zusammen, denen ich folge: Erstens: „Ein Akteurskonzept jenseits des Intentionalismus.“ (Ebd.: S. 8) Bourdieu sieht den Akteur nicht als intentionalen oder rationalen Akteur. Dieser handelt vielmehr im Rahmen seiner habituellen Inkorporierungen. Dadurch wird allgemeine Praxis durch realisierte/gelebte Praxis zur inkorporierten Praxis, die die möglichen zukünftigen Praxisformen des Habitus konstituiert. Diese Praxisformen sind aber keine objektivierten starren Strukturen, wie zum Beispiel im Strukturalismus von Althusser. Die Fülle der möglichen Praxisformen (unbewusste generative Schemata) bezeichnet Bourdieu als praktischen Sinn, dieser manifestiert den Rahmen, in dem Aktivitäten stattfinden können. Seine eigenen empirischen Arbeiten hatten daher das Ziel, diesen praktischen Sinn zu entschlüsseln. Diese Form von Kritik des praktischen Sinns setzt an der empirischen Beobachtung der Praxis an. Zweitens: „Eine Gesellschaftstheorie jenseits des Funktionalismus.“ (Ebd.: S. 9) Sie führt Praxis auf geschichtliche Praxis und nicht auf funktionalistische Strukturen der Gesellschaft zurück. Der deduktiven Ableitung der Akteure aus übergeordneten eigenlogischen Systemen widerspricht Bourdieu. Der Akteur wäre in der funktionalistischen Theorie bloß ein Objekt der Rollenerfüllung von Funktion fordernden abstrakten Systemen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen und historisch-genealogische Entstehungskontexte ausblenden. Bourdieu koppelt hingegen Struktur und Funktion immer an den Akteur zurück: „Im Gegensatz dazu [zum Funktionalismus, J. W.] vertritt die Praxistheorie die These, dass soziale Strukturen und Funktionalitäten nur dann relevant sind, wenn sie mit der Lebenswirklichkeit der sozialen Akteure etwas zu tun haben, wenn die sozialen Akteure also den Strukturen einen praktischen Sinn abgewinnen können, der sie dazu führt, die Strukturen durch ihre Praxis konstituierenden Handlungen zu reproduzieren.“ (Ebd.: S. 9)
Bourdieus Sozioanalyse versucht dementsprechend keine Systeme oder überzeitliche Strukturen aufzuspüren, sondern relationale praktische Verhältnisse. Der soziale Raum enthält die Gesamtheit dieser relationalen Beziehungen der Akteure, die unter Einsatz verschiedener Kapitalsorten Positionswechsel oder Positionserhaltung anstreben. Die Analyse dieser relationalen sozialen Verhältnisse verdichtet objekti-
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vistische und subjektivistische Theorien zu einer Theorie der Praxis, in der Praxis aus den relationalen Beziehungen hervorgeht und den Rahmen zukünftiger Handlungsspielräume konstituiert. Drittens: „Die Theorie kultureller Praktiken.“ (Ebd.: 10) Sie versteht Kultur als innerhalb und nicht außerhalb der gesellschaftlichen Felder stehende kulturelle Praktiken: Kultur wird wesentlich als Alltagskultur und Kapital begriffen. Der um die Position im sozialen Raum ausgetragene Kampf wird mit dem (symbolischen) Kulturkapital bestritten. Dieses ist „konstitutiver Bestandteil der Strukturierung des sozialen Raums.“ (Ebd.: S. 10) Die kulturellen Praktiken werden inkorporiert und bilden zusammen mit der sozialen Struktur einen Praxiszusammenhang, der nur in Ausnahmefällen auseinanderfällt. Die Analyse der sozialen/kulturellen Welt aufgrund von Praxisformen entfernt sich auch von „Theorien, in deren Zentrum Kommunikation steht (Habermas, Luhmann).“ (Ebd.: S. 10–11) Wandlungsprozesse können somit durch das Verhältnis von Habitus (inkorporierter Geschichte) und Feld (objektivierter Geschichte) verstanden werden, fernab von rein diskursiven und funktionalen Deskriptionen. Viertens: „Die Materialität sozialer Praktiken.“ (Ebd.: S. 11) Bourdieu positioniert seine Praxistheorie gegenüber einem mechanistischen Materialismus einerseits und einem konstruktivistischen Idealismus andererseits: „Praktiken sind demnach weder die mechanische Folge äußerer Ursachen, noch sind sie das Ergebnis einer Kalkulation von Gewinnchancen und Handlungserfolgen.“ (Ebd.: S. 11) Praxis entsteht weder als Ableitung aus einem determinierenden Geschichtsverlauf noch aus einem konstruierten subjektiven Wahrnehmungs- und Bewertungsschema, sondern aus der Position im sozialen Feld. Praxis-Spielräume hängen dementsprechend von Qualität und Quantität der jeweiligen, auf dem Feld relevanten, Kapitalien ab. Bourdieu kann so den Zusammenhang von Kapital und Macht bzw. Herrschaft plausibel darstellen, da bestimmte Praxisformen den Zugang zu bestimmten Kapitalien voraussetzen. Bourdieu entwickelt einen Materialismus, der nicht mechanistisch zu verstehen ist und der einer Reduktion auf kommunikative (Habermas) oder diskursive (Foucault) Gesellschaftsanalysen auszuweichen versucht. 2.1.3 Die Welt in Relationen Über den dritten Weg, der an Subjektivismus (akteursbezogen) und Objektivismus (strukturbezogen) vorbeiführen soll, will Bourdieu ein dichotomes Paradigma im Nachdenken über Gesellschaft brechen und konsequent die Relationen in den Blick nehmen. So Formuliert Wacquant in Bezug auf die Theorie Bourdieus „Die Sozialwissenschaft muß zwischen diesen beiden Polen nicht wählen, denn der Stoff, aus dem die soziale Wirklichkeit gemacht ist – der Habitus wie die Struktur und ihrer
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beiden Überschneidung als Geschichte –, sind Relationen.“ (Wacquant 1996: S. 35)3 Bourdieus (empirische) Untersuchungen zielen daher auch nicht auf das Wesen, Essenzen oder Entitäten von Menschen, Gegenständen oder Strukturen, sondern auf ihre Beziehung zueinander. So ist zum Beispiel die Forschung zu einer Partei im politischen Feld nur dann aussagekräftig, wenn die Beziehung von der einen zu(r) anderen Partei(en) untersucht wird. Für Bourdieu sind die objektiven Relationen das Reale, sie bilden die objektive Struktur der Kräftefelder. Es sind nicht die Beziehungen, die zwei Akteure zueinander haben, sondern alle Positionen im Feld, das Netz von Konfigurationen, die den Habitus strukturieren. Das heißt, dass die Akteure Handlungsmuster verinnerlichen, die vom Wollen, rationalen Wissen oder von anderen Handlungsmotivationen unabhängige sind: Der Habitus ist daher ein „Ensemble objektiver historischer Relationen zwischen Positionen, die auf bestimmten Formen von Macht (oder Kapital) beruhen.“ (Ebd.: S. 36) Das relationale Denken schafft eine Ebene, in der man auf individuelle, essentialistische oder Naturkonzepte verzichten kann. Hier ähnelt das Konzept von Bourdieu dem von Luhmanns Systemtheorie, wie Boris Holzer bemerkt: „Auch zeitgenössische Theorien geben sich auf unterschiedliche Weise anti-essentialistisch und anti-individualistisch, z. B. Pierre Bourdieus Praxistheorie [...] und die Systemtheorie Niklas Luhmanns [...]. Beide distanzieren sich von individualistischen Handlungstheorien und jeglichem Substanzdenken.“ (Holzer 2010: S. 97) Soziale Relationen sind daher das Primat, aus dem heraus sich individuelle Praxis erst konstituiert. Der Schüler ist daher auch erst ein Schüler in der Praxis, wenn er einen Lehrer hat. Damit verschiebt die relationale Sichtweise den Blick auf den Menschen und die ihm innewohnenden Potentiale, auf die Beziehung zwischen Menschen und die performativen Kräfte der Sozialrelation. Der Handlungsantrieb ist dann weder eine Folge von Trieben noch von rationalen Gewinnmaximierungsvorstellungen, sondern das Ergebnis einer Position. Hier ist Kritik zu üben. Denn der Handlungsantrieb mag vielleicht erst in den passenden Relationen wirksam werden, gebildet wird er jedoch in der primären Sozialisation, in der auch der körperliche Bedarf des Kindes einfließt. Jedoch erteilt Bourdieu auch allen Interaktionstheorien eine Absage, indem er behauptet, „daß die ‚interpersonalen‘ Beziehungen niemals, es sei denn zum Schein, Beziehungen eines Individuums zu einem anderen Individuum sind, und daß die Wahrheit der Interaktion nie gänzlich in dieser selbst gründet.“ (Bourdieu 2009: S. 181) Obwohl Bourdieu sich damit theoretisch an die Netzwerktheorien, insbe3
Wacquant verweist in diesem Zusammenhang auf Marx und zitiert ihn „Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehen.“ (Marx zit. nach Wacquant 1996: S. 36)
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sondere eine relationale Soziologie, annähert, steht er diesen doch kritisch gegenüber.4 Und so spielen bei ihm „soziale Netzwerke [...] – trotz der Konzeption des Sozialkapitals und der Betonung von ‚Relationen‘ – keine systematische Rolle“ (Fuhse 2010: S. 186) und, so Jan Fuhse weiter: „Zum anderen legt neben dem Begriff des Sozialkapitals insbesondere Bourdieus Betonung der Relationen zwischen den sozialstrukturellen Positionen eine Auseinandersetzung mit sozialen Netzwerken nahe. Bourdieu betont immer wieder den ‚relationalen‘ Charakter seiner Theorie, spricht von ‚Netzwerken von Beziehungen‘ oder davon, dass die soziale Realität ‚relational‘ ist. (Vgl. Bourdieu 1980: S. 202–203; Bourdieu 1994: S. 17–19) Tatsächlich steht das ‚Relationale‘ aber bei Bourdieu nicht für eine Betrachtung von empirisch beobachtbaren Sozialbeziehungen. Vielmehr geht es Bourdieu um sogenannte ‚objektive Relationen‘, die vor allem durch die Ausstattung mit den verschiedenen Kapitalsorten bestimmt sind. ‚Relational‘ steht hier – wie Scott Lash nachgewiesen hat (Lash 1993: S. 201) – für ‚relativ‘. Positionen und Habitus sollen immer relativ zueinander betrachtet werden und eben nicht als isolierte Entitäten – weil sie sich in Abgrenzung voneinander und Anlehnung aneinander konstituieren. Der Netzwerkforschung steht Bourdieu dagegen kritisch gegenüber, weil sie sich zu sehr an den empirisch beobachtbaren Sozialbeziehungen orientiere und die dahinter liegenden ‚objektiven Relationen‘ vernachlässige (Bourdieu/Wacquant 1992: S. 88–89; Trezzini 1998: S. 532–533).“ (Ebd.: S. 188)
Trotzdem haben die Netzwerktheorien und Bourdieus Theorie einen gleichen theoretischen Ausgangspunkt mit der Theorie von Ernst Cassirer. Denn auch Bourdieu entwickelt seine Theorie der Praxis unter dem Einfluss der Unterscheidung von Funktionsbegriff und Substanzbegriff von Cassirer. 5 Dementsprechend will er seine Theorie vom Substanzdenken in den Sozialwissenschaften abtrennen und versucht Erkenntnis über die Relationen im Feld zu gewinnen. Cassirer verweist, in Kritik an dem von Aristoteles ausgehenden Substanz- und Eigenschaftendenken, darauf, dass die Begriffe erst die Objekte der Welt erzeugen. Cassirer begreift weiter, in Anlehnung an die Naturwissenschaften und die Mathematik, die Erkenntnis als Erkenntnis des Gewebes von Relationen zwischen den Begriffen. Das Alltagsverständnis wie die wissenschaftliche Analyse unterliegen daher dem Schein der Substanz in den Dingen und sie verkennen die objektive Realität der Kräfte zwischen den Gegenständen und Begriffen. Bourdieu verschiebt dementsprechend seinen Fokus auf die Relation, die Beziehung, zwischen den Gegenständen (Dingen und Menschen) und weg von einer Sub4 5
Zum Verhältnis von Netzwerktheorie und Bourdieus Feld- und Praxistheorie Roger Häußling. (Vgl. Häußling 2010: S. 68) Besonders Cassirers Kritik am Abstraktionsbegriff. (Vgl. Cassirer 1994)
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stanz, die in den Dingen und Wesen als Entität von der sozialen Welt bloß akzentuiert wird. Er geht so weit zu sagen, dass nur Relationen real sind im Gegensatz zu Gruppen oder Einzelakteuren: Daher setzt seine Analyse nicht am Produkt von relationalen Beziehungen an, sondern an der Relation selbst. Die topologischen Sozialmodelle Bourdieus gleichen physikalischen Modellen, sie werden als Kräftefelder gedacht. Der Habitus entwickelt seine Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsstruktur nur aufgrund seiner relationalen Beziehung im Raum und ist daher auch nur Produkt seiner Sozialposition, die ihn in Nähe und Ferne zu anderen Objekten verortet. Bourdieus Denken in Relationen wird noch klarer, wenn man sich die Beispiele seiner Forschung zur Geschlechterkonstruktion anschaut, dort wird der dualistische Denkansatz in Wissenschaft und Alltagsverständnis deutlich, den Bourdieu ersetzen möchte: „Da jedes der beiden Geschlechter nur in Relation zum anderen existiert, ist jedes das Produkt einer zugleich theoretischen und praktischen diakritischen Konstruktionsarbeit.“ (Bourdieu 2016: S. 46) Ohne den Begriff Mann lässt sich der Begriff Frau nicht denken und mit der Konstruktion von Mann und Frau werden alle anderen diversen Formen sozialer Geschlechtlichkeit nicht mehr denkbar. Der Habitus entsteht daher in der realen praktischen Beziehung zu anderen Akteuren als Effekt. Das Ensemble aller Relationen bildet das soziale Feld. Bourdieu entwickelt so eine soziale Physik, in der Kräfte nicht mehr von den einzelnen Subjekten/Akteuren ausgehen, sondern nur zwischen diesen existieren. Die Wirkungskraft, die in den Akteuren zu sein scheint, ist bei genauem Hinsehen die akkumulierte Energie der sozialen Welt, die nur dadurch existieren kann, dass sie in Relation zu etwas Anderem steht, so wie die Gravitationskräfte, die nur zwischen zwei Körpern eine Kraft entfalten können. Um die soziale Welt in Relationen aufzulösen, muss man sich das Primat der Erkenntnis in Linien (relativen Abständen) zwischen Punkten vorstellen, von denen aus man die Punkte (Akteure) bestimmt. An der relationalen Soziologie von Bourdieu kritisiere ich, dass er scheinbar eine nahezu unendliche Plastizität des Menschen annimmt, in der das Subjekt ausschließlich durch die Relation zu anderen existiert. Damit reduziert er aber das Individuelle auf das Relationale. Eine praxeologische Erkenntnisweise müsste aber auch subjektive Strukturen jenseits der Relation annehmen. 2.1.4 Kapital als akkumulierte soziale Energie Bourdieu entwickelt einen Kapitalbegriff, nach dem Kapital eine „Energie der sozialen Physik“ (Bourdieu 2009: S. 357) sei.6 Diese soziale Energie besteht aus der 6
Bourdieu verwendet diese Analogie zur Physik als Metapher, obwohl er sich der begrenzten Aussagekraft bewusst ist. Er weist darauf hin, dass die Konzeption der sozialen Welt
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Akkumulation verdinglichter oder lebendiger Arbeit. Sie kann dementsprechend von Personen oder Gruppen angeeignet werden. „Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Material oder in verinnerlichter, ‚inkorporierter‘ Form. Wird Kapital von einzelnen Aktoren oder Gruppen privat oder exklusiv angeeignet, so wird dadurch auch die Aneignung sozialer Energie in Form von verdinglichter oder lebendiger Arbeit möglich.“ (Bourdieu 1992a: S. 49)
Daher ist Kapital für Bourdieu soziale Energie und damit auch Macht. Kapital bedingt so die Grundstruktur sozialer Praxis und, abhängig von Volumen und Zusammensetzung, die Machtkonstellation bzw. die Position im Feld. Die Macht bzw. das Kapital kann aber erst in den passenden Relationen wirksam werden, wenn Habitus und Feldstruktur zusammenfallen. Für Bourdieu sind die Anerkennung und die Verteilung des Kapitals umkämpft. Der Akteur benötigt eine für das jeweilige Feld spezifische Kapital-Konfiguration seines Habitus, um in ein Feld eintreten (und in diesem verbleiben) zu können. Denn damit Kapital als soziale Macht fungieren kann, ist Anerkennung im Feld nötig, diese ist daher umkämpft. Kapital kann aber auch, wie eine Finanzblase, in sich zusammenfallen und verschwinden, wenn beispielsweise das Feld eine Form von Kapital nicht mehr anerkennt. Darüber hinaus sind Kapitalsorten auch von Inflation bedroht.7 Die drei grundlegenden Kapitalformen sind das ökonomische Kapital, das kulturelle Kapital und das soziale Kapital, zu denen noch das symbolische Kapital hinzuzufügen ist, das eine Sonderrolle einnimmt, denn es drückt den Anerkennungsgrad der anderen Formen aus: „Zu diesen drei Sorten kommt noch das symbolische Kapital hinzu, das die Form ist, die eine dieser Kapitalsorten annimmt, wenn sie über Wahrnehmungskategorien wahrgenommen wird, die seine spezifische Logik anerkennen.“ (Bourdieu/Wacquant 1996b: S. 151) Das symbolische Kapital ist dementsprechend die übergeordnete Kapitalkategorie, die darüber entscheidet, ob die akkumulierte soziale Energie zur Macht werden kann, das heißt sichtbar und wirksam wird oder bloß Potential ist, ohne wirksam zu werden. Je passender die Kapitalkonfiguration ist, desto mehr kann der Akteur Einfluss auf die Feldregeln nehmen. Eine anerkannte Koryphäe kann zum Beispiel in einem Feld über so viel symbolisches Kapital verfügen, dass sie die Definitionsmacht hat,
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als Sozialphysik nicht möglich ist. Denn die Akteure verkennen und folgen daher nicht mathematisch-physikalisch klar definierten Abläufen. Wenn sich beispielsweise das aristokratische Feld nicht mehr über Bildungswissen distinguieren kann, verliert das Wissen als Kapital an Wert. Und andere Kapitalformen werden wichtiger, in diesem Beispiel könnten es bestimmte Benimmregeln sein.
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wodurch sie Feldregeln aussetzen, neue bilden und strukturieren kann. Die Orthodoxen8 haben damit einen Perpetuierungseffekt im Feld, sie können immer mehr Kapital in anerkanntes symbolisches Kapital transformieren, da sie selber über die Anerkennung entscheiden und dementsprechend ihre Position weiter verbessern. Die Analyse des ökonomischen Kapitals vernachlässigt Bourdieu, auch wenn er darauf hinweist, dass dieses die entscheidendste Kapitalform ist. Bourdieu geht es beim ökonomischen Kapital vor allem um materielles Eigentum, welches als quantifizierbare Größe Tauschmittel darstellt und sich als solches nahezu unendlich transformieren kann. So lässt sich Gold gegen Aktien und gegen Geld etc. tauschen. Der Tausch gegen kulturelles Kapital ist komplexer, da ökonomisches Kapital zwar oft eine wichtige Rolle spielt, aber auch andere Faktoren entscheidend sind, um kulturelles Kapital zu erwerben. So ist der Erwerb von Bildungskapital oft mit ökonomischem Kapital verknüpft, aber nicht ausschließlich auf dieses zurückzuführen. Das inkorporierte kulturelle Kapital macht den Habitus aus. Es umfasst alle habituellen Eigenschaften bzw. verinnerlichten kulturellen Regeln und Verhaltensweisen. So kennzeichnet es das Wissen des Körpers. Einige Kulturkapitalsorten bzw. der Habitus werden in bestimmten Feldern höher anerkannt als andere. Neben dem inkorporierten Kulturkapital gibt es das objektivierte Kulturkapital, darunter fallen kulturell anerkannte Güter: Gemälde, Bücher etc. Eine weitere Form ist das institutionalisierte Kulturkapital. Darunter fallen Bildungstitel, Abschlüsse und andere Formen institutionell geregelter Bescheinigungen von kulturellen Fähigkeiten. Die dritte große Kapitalform ist das soziale Kapital. Es bezeichnet das Geflecht der Beziehungen. Darunter fallen Familien, Freunde, Arbeitskollegen, Parteien etc., kurz: Netzwerke. Die soziale Beziehung als Kapital gewinnt oder verliert an Wert mit dem Wert des anderen. Als Beispiel: Steht eine Partei weit in der Peripherie des sozialen Feldes, sind die dort geknüpften Beziehungen kaum in der Lage, als hohes symbolisches Kapital anerkannt zu werden. Trifft sich der Akteur allerdings regelmäßig mit der angesehenen Präsidentin oder dem angesehenen Präsidenten des Staates, dann vermehrt sich sein symbolisches Kapital. Alle drei Grundkategorien von Kapital haben, wenn sie nicht als symbolisches Kapital anerkannt sind, keinen Wert. Daher ist das symbolische Kapital die wichtigste Kapitalsorte im Feld.9 Die Grundkategorien sind weiter differenzierbar und überlappen sich. So ist das politische Kapital (für das politische Feld) beispielsweise eine Konfiguration von kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital, wel8 9
Bourdieu unterscheidet zwischen Orthodoxen und Häretikern im Feld, den Arrivierten und den Herausforderern. Zunächst verwendete Bourdieu den Begriff symbolisches Kapital für eine Unterkategorie des sozialen Kapitals. Später wandelte er den Begriff zur Bezeichnung einer Allgemeinkategorie.
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ches als symbolisches Kapital fungiert. Bourdieu fasst Kapitalsorten oft auch zusammen und entwirft somit eine Kapitalsorte analog einem Feld: zum Beispiel das Bildungskapital im Wissenschaftsfeld. Die Wechselkurse sind umkämpft und in jedem Feld unterschiedlich. Grundsätzlich kann Kapital getauscht oder transformiert werden. Beim ökonomischen Kapital gelten die Regeln der ökonomischen Klassiker: Es kann übertragen werden, es ist tauschbar und der Preis wird durch Angebot und Nachfrage reguliert. Inkorporiertes Kapital erlischt mit dem Tod der besitzenden Person und lebt nur noch als soziales Kapital für Andere nach (wenn ein Akteur den Verstorbenen, dessen Wissen anerkannt wurde, gut kannte und sich positiv auf ihn bezog). Viele Kapitalformen werden erst durch ihre Verknüpfung untereinander als symbolisches Kapital anerkannt. Der Kauf eines Gemäldes (Tausch von ökonomischem Kapital gegen objektiviertes kulturelles Kapital) ohne das Wissen und die kulturellen Kenntnisse über das Kunstwerk (inkorporiertes kulturelles und institutionalisiertes Kapital) könnten den Besitzer sozial sogar abwerten, statt dessen Position zu verbessern. Bourdieu unternimmt mit der Reformulierung des Kapitalbegriffs einen theoretischen Großentwurf. Die Prinzipien der Ökonomie werden auf alle Gebiete menschlicher Praxis angewendet. Das bleibt nicht ohne Folgen: So ist der Kapitalbegriff bei Bourdieu kaum mehr im klassisch-ökonomischen Sinne verwendungsfähig. Beispielsweise lässt sich kulturelles Kapital verausgaben, ohne es zu verlieren, es wächst durch Teilung und Weitergabe. Des Weiteren fällt die Einordnung und Beziehung der Kapitalsorten untereinander schwer. Bourdieu verwendet die Grundkategorien nicht abgestimmt und vermehrt seine Subkategorien unentwegt. So scheinen Kapitalformen bis in die kleinsten Verästelungen hinein theoretisierbar zu sein. Außerdem reduziert Bourdieu alle Praxis und alle sozialen Beziehungen auf soziale Kämpfe um Kapital und dessen Anerkennung als symbolisches Kapital. Die Frage, warum Akteure überhaupt dauernd miteinander kämpfen und nicht vielleicht auch solidarische Beziehungen eingehen oder altruistisch handeln, kann Bourdieu daher nicht ausreichend beantworten. 2.1.5 Das Habituskonzept Das Habituskonzept ist das Kernstück von Bourdieus praxistheoretischem Entwurf. Der Habitus dient ihm als Begriff, um seine Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen plausibel zu machen. Daher konzipiert er den Habitus jenseits von Subjektivismus und Objektivismus. Er ist weder eine Ableitung aus einem Selbst noch aus einer objektiven Struktur. Der Habitus wird vielmehr in einer permanenten praktischen Dialektik mit dem Feld konstituiert und modifiziert. Die einverleibten
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Praxisdispositionen und Schemata treten dabei nicht zum Habitus hinzu, sondern schreiben sich materiell in den körperlichen Leib10 ein. Der Habitus umfasst dabei nicht nur Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster (Habitus), sondern auch Bewegungen, Gesten, Mimik und alle weiteren äußerlichen Bewegungsmuster (Hexis). Zwar verwendet Bourdieu Habitus und Hexis nicht immer klar abgegrenzt voneinander. Trotzdem lässt sich eine theoretische Unterscheidung treffen, nach der Hexis eher das leibliche bezeichnet, während Habitus nur als die im Feld wirksame Wahrnehmungs- und Praxisdisposition zu verstehen ist. Die Hexis bezeichnet das äußerlich Sichtbare und der Begriff Habitus die generative Tiefenstruktur. Darüber hinaus fungiert die Hexis als Schnittstelle zwischen Welt und Körper. Daher ist sie der Vermittler zwischen Feld und Habitus: Die Welt- und Selbstbezüge werden mit dem Leib gelesen und definieren den Habitus nachhaltig: „Die körperliche Hexis [...] ist eine ständige unauslöschliche Gedächtnisstütze, in der sich auf sichtbare und fühlbare Weise all die möglichen Gedanken und Handlungen, all die praktischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten finden, die einen Habitus definieren.“ (Bourdieu 1997: S. 187)
Gegenstände, andere Akteure und Räume werden so mit ihrer Zeitlichkeit, d. h. ihrem Rhythmus, aufgenommen und motorisch-mimetisch zum Habitus geformt. Die Praxisanweisungen des Habitus werden so durch die Hexis gebildet und zeigen sich im Habitus. Diese Scharnierfunktion der Hexis bietet eine Möglichkeit, um binäre soziologische Konstruktionen von bspw. Subjekt/Objekt oder Akteur/Struktur miteinander zu vermitteln. (Vgl. Jäger 2005: S. 100) Der körperliche Leib wird somit zum Träger der Gegenwart gesellschaftlicher Verhältnisse, ihrer Geschichte und Zukunft. Klasse, Gender und soziale Positionen im Feld sind in der Tiefenstruktur des Leibes eingeschrieben, strukturieren die soziale Ordnung und die Wahrscheinlichkeit bestimmter zukünftiger Praktiken. Die Abhängigkeit der Zukunft von der Vergangenheit konstituiert sich im körperlichen Leib als Ort der strukturierten Struktur, die Struktur strukturiert. (Vgl. Bourdieu 2009: S. 164) So werden sinnlich die Strukturen der Welt inkorporiert: „Im Habitus werden Handlungsanweisungen sedimentiert, die einmal positive Sanktionen erfahren haben. Ein Akteur tendiert dann dazu, in einer ähnlichen Situation ähnlich zu handeln. Der Akteur erwirbt ein Muster, das unter Bedingungen, die denen der Einübung ähneln, wiederholt wird.“ (Fröhlich/Rehbein 2009: S. 114) 10 Bourdieu verwendet Leib und Körper nicht differenziert. (Vgl. Jäger 2005: S. 101)
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Dementsprechend verinnerlicht der Habitus auch das kulturelle Kapital. Bestimmte, für das Feld notwendige und spezifische kulturelle Verhaltensweisen, werden sinnlich registriert und durch die Hexis leiblich-körperlich zum Habitus, der in diesem Feld damit das kulturelle Kapital in der Tiefenstruktur verankert hat und es gewinnbringend einsetzen kann. Die Inkorporierung der Praxisdispositionen Der Leib erhält in der Soziologie Bourdieus eine Aufwertung, denn er ist es letztlich, der handelt. (Vgl. Bourdieu 2009: S. 193–202) Grundsätzlich gibt es bei ihm keine Trennung zwischen physisch und psychisch, denn bei allen „mentalen Akten“ (Krais/Gebauer 2002: S. 33) ist der Körper beteiligt.11 So ist die Speicherungs- und Naturalisierungsfunktion des Habitus dafür verantwortlich, dass die Herkunft, die soziale Position, niemals gänzlich abgelegt werden können: „Denn ihre gegenwärtige wie vergangene Position innerhalb der Sozialstruktur tragen die als physische Personen verstandenen Individuen überall und allezeit in Gestalt der Habitusformen mit sich herum.“ (Bourdieu 2009: S. 181) Wesentlich für die Einverleibung ist die Orientierung der Praxis an Praxis. (Vgl. Bourdieu 1993: S. 136) Für Bourdieu gibt es keine theoretische Instanz, die Wissen vermittelt, aufbereitet und damit einen praktischen Habitus aus einer theoretischen Überlegung erzeugen oder verändern könnte. Der Habitus ist wesentlich mimetisch erzeugt. Ein Reflektieren der Praxis ist nur nachträglich möglich. Praxis wird dementsprechend „gewissermaßen von Leib zu Leib“ (Bourdieu 1992c: S. 205) vermittelt, ohne bewusst zu werden. Bourdieu will so das praktische Wissen und Verstehen des Leibes wieder in die Soziologie einführen: „Es gibt eine ganz besondere, in den Intelligenztheorien häufig vernachlässigte Art und Weise des Verstehens: Verstehen mittels des eigenen Körpers. Eine Unmenge von Dingen verstehen wir nur mittels unseres Körpers, jenseits des Bewußtseins, ohne über die Wörter zu verfügen, es auszudrücken.“ (Ebd.: S. 205)
Der Habitus dient Bourdieu als Brückenbegriff, um alle Prozesse in der Tiefenstruktur unter einen Begriff zu fassen. In der Dialektik von Feld und Habitus entwickeln sich die Praxisanweisungen (Dispositionen). Diese legen zum einen die Möglichkeiten und zum anderen die Grenzen der Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster fest. Diese Dialektik ist unabschließbar und daher dynamisch. Entweder ändert sich das Feld oder der Habitus. Eine vollkommene ruhende Übereinstimmung zwischen Habitus und Feld ist nicht zu erwarten. Der Habitus speichert 11 So auch Rehbein und Saalmann in Bezug auf den Habitus: „Es handelt kein Geist, kein Bewusstsein, sondern ein menschlicher Leib.“ (Rehbein/Saalmann 2009: S. 113)
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und aktualisiert sich beständig aus der Dialektik und passt dementsprechend Geschmack, Lebensziele, Wünsche, Selbstverständnisse, Einstellungen etc. an. Bourdieus gesamtes Werk ist gekennzeichnet von einer unorthodoxen Bezugnahme auf Freud: So auch „die Konstruktion des Habitus, bei dem Bourdieu (hierin, aber nicht im Ganzen, analog dem ,Psychischen‘ in der Psychoanalyse) sowohl von einer Prägung durch Vergangenheit, einer im Habitus verkörperten Präsenz des Vergangenen ausgeht, als auch von einem dabei verinnerlichten impliziten Wissen oder nicht-bewussten, inkorporierten Automatismen sowie von dynamisch unbewussten (verdrängten, abgewehrten) Dimensionen.“ (King 2014: S. 22)
Dies wird auch in der Sozialisationsannahme deutlich, nach der die Primärerfahrungen der Kindheit die früheste Konfiguration des Habitus prägen, welcher sich nicht mehr wesentlich verändern kann. Alle neuen Erfahrungen legen sich über den Habitus, sie sind Modifikationen und Erweiterungen, ohne jedoch die Grundstruktur entscheidend transformieren zu können. Der Habitus wird im Laufe der Lebensgeschichte immer träger und verändert sich nur langsam, Bourdieu bezeichnet diese Trägheit als Hysteresis.12 Der Habitus wird von Bourdieu zunächst in Analogie zur generativen Grammatik Noam Chomskys entwickelt. Chomsky entwickelt die Theorie einer Universalgrammatik, nach der ein angeborenes Grammatikverständnis jeden Menschen die Sprachfähigkeit erwerben lässt und Sprache in kreativer Weise benutzbar macht. Bourdieu sieht den Habitus im Gegensatz zu einer Sprache generierenden Universalgrammatik nicht als angeboren, sondern als erworben. Die Grammatik bildet die strukturelle Basis, auf der in der Praxis (Bourdieu) bzw. im Sprechen (Chomsky) auf Situationen reagiert werden kann. Bourdieu entwickelt seine Theorie eines Habitus als generative Grammatik und nicht als Statik, denn die strukturelle Basis ist dynamisch und modifizierbar: „Im Zentrum der Grammatik steht nicht eine abstrakte Struktur, sondern das Subjekt und seine Produktion von Strukturen, die weder als unveränderlich noch als unabhängig von den Subjekten gedacht werden können.“ (Krais/Gebauer 2002: S. 33) Die Inkorporierung der sozialen Welt ist gleichzeitig die Speicherung der sozialen Ordnung, bzw. der Klassenlage. Durch privilegierte Lebensstile ist ein privilegierter Zugang zu verschiedenen Kapitalsorten möglich, die wiederum die soziale Klassenlage organisieren.13 Die Realität der objektiven Klassenlage verdoppelt sich, 12 Zu Hysteresis und Entfremdung vgl. Kapital 2.1.4. 13 Beispielsweise: Es sind in der Schule bestimmte Verhaltensweisen gefragt. Das Bildungsfeld erwartet diese Verhaltensweisen: stillsitzen, zuhören, Folge leisten, sich gewählt ausdrücken etc. Kinder, die in ein Familienfeld hineingeboren wurden, in dem sich diese
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sie ist nicht nur im objektiven Feld, sondern sie wird auch im Subjekt verankert: „Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in dem Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure.“ (Bourdieu/Wacquant 1996a: S. 161) Inkorporierung ist daher bei Bourdieu als Einschreibung in die Materialität des körperlichen Leibes zu verstehen. Der biologische Körper ist für ihn, jenseits eines Biologismus, als qualitative Materie zu verstehen: „Muß Soziologie zu ihrer Konstitution sich aller Formen von Biologismus verweigern, der tendenziell immer soziale Unterschiede durch Reduktion auf anthropologische Invarianten zu natürlichen erhebt, so kann sie das soziale Spiel in seinem wesentlichen Kern doch nur begreifen, wenn sie einige universelle Merkmale der körperlichen Existenz des Menschen berücksichtigt: sein Dasein als biologisches Einzelwesen, seine Orts- und Zeitgebundenheit, seine Sterblichkeit und sein Wissen darum.“ (Bourdieu 1995: S. 77)
Der Körper-Leib-Komplex ist für Bourdieu eines der unterbelichteten soziologischen und philosophischen Themen,14 er verblasst in der Theoriegeschichte hinter dem menschlichen Geist. Der Körper ist, so argumentiert Bourdieu, für die Soziologen häufig nur in der Untersuchung seiner Zurichtung interessant gewesen. (Vgl. Bourdieu 2003: S. 310) Bourdieus Materialismus ist hier ganz im Sinne von Marx und Engels Auffassung einer materialistischen Theorie der Geschichte: „Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. [...] also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. [...] Alle Geschichtsschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen.“ (Marx 1990[1846]: S. 20–21)
Das gesammelte menschliche Erleben bzw. die spezifische lokale Kultur und das gegenwärtige soziale Geschehen setzen sich materiell im Körper fest. Der entstehende praktische Sinn für das Feld prädestiniert Handlungen und Erwartungen. Der Habitus ist daher auch nur in den jeweils spezifischen Feldern präsent. Die Praktiken erzeugen nur in bestimmten Feldern Resonanz, im Sinne von Hartmut Rosa. (Vgl. Rosa 2016b) In anderen Feldern bleibt der Habitus wirkungslos und wird dadurch unsichtbar und ist nicht mehr zu beobachten. Der Habitus wird erst wirkMuster von Beginn an inkorporiert haben, können die Praxiserwartung im Bildungsfeld schneller und besser erfüllen als andere Kinder. 14 Ausnahmen sind bei Nietzsche, Feuerbach, Schopenhauer und auch bei Plessner und Gehlen zu finden.
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sam, wenn er auf Bedingungen trifft, „die [mit, J. W.] jenen identisch oder analog sind, aus denen er selbst hervorgegangen ist.“ (Bourdieu 1992c: S. 115) Die Akteure werden auf dem Feld mit einem Sinn für das Spiel (praktischer Sinn) erwachsen. Sie spielen dieses Spiel blind und ahnen, ohne dass es ihnen bewusst wäre, die nächsten Spielzüge. Damit wählen sie intuitiv die richtige Reaktion, wohingegen ein Neuankömmling auf dem Feld sich immer nur mühselig bewusst die einzelnen Schritte reflexiv aneignen kann, um das für das Feld richtige zu tun, d. h., sein Kapital sinnvoll zu investieren: Zwischen der intuitiven Praxis einer einverleibten Struktur und bewusst nachgeahmten Strukturen liegen oft die entscheidenden Momente, die über die Position im Feld bestimmen. Inkorporierung bedeutet für Bourdieu auch die Verinnerlichung der Struktur von Raum und Zeit. Über ein Vertrautwerden oder eine ausdrückliche Norm und eine strukturelle Einübung (Ritus) gelangen die Raum- und Zeitbedingungen in den Körper. Das Ritual funktioniert als vorstrukturierte Mimesis, die dazu dient, Kultur aktiv zu vermitteln. Gerade das Ritual ist oft mit körperlichen Übungen zum Zweck der Einübung bestimmter Haltungen, Gestiken und Verhaltensweisen verknüpft. Die Nähe und die Ferne zu anderen, ihre Relationen im Raum, das aufdringliche oder zurückhaltende Sprechen und die unzähligen Gestiken werden im Raum vermittelt. Neben dem Raum verinnerlicht sich der Rhythmus: „Zeitpunkt und vor allem Tempo der Praktiken beherrschen heißt, sich in Gestalt des Rhythmus von Gebärden oder Sprache ein ganzes Verhältnis zur Dauer auf den Leib zu schreiben, das als konstitutiv für die Person [...] erlebt wird.“ (Bourdieu 1993: S. 141) Die RaumZeit-Struktur ist die konkrete Struktur des Feldes, die den Habitus strukturiert. Darin entfalten auch Gegenstände ihre habituskonstruierende Wirkung, indem die Objekte wirkmächtig an das Subjekt herantreten: Die Welt der Objekte wird „mit dem ganzen Leib in den und durch die Bewegung und Ortsveränderung gelesen, die den Objektraum sowohl gestalten als auch von ihm gestaltet werden.“ (Ebd.: S. 142) Die Objekte sind wie die Akteure und die Praktiken nach Herrschafts- und Ordnungsprinzipien gegliedert, die Herrschaft und (soziale) Ordnung in den Habitus verlängern.15 Die grundlegendsten Leiberfahrungen konstituieren die Grenzen zulässiger und unzulässiger Umwelteinflüsse, „um am Ende in Intoleranzschwellen gegenüber natürlicher und sozialer Umwelt, gegenüber Lärm, Enge, physischer wie verbaler Gewalt sich niederzuschlagen.“ (Bourdieu 2003: S. 138) Kritisch zu betrachten ist der von Bourdieu vorgenommene Transfer von der kabylischen auf die französische bzw. industrialisierte westliche Gesellschaft. Selbst wenn hier womöglich die gleichen Prinzipien der kulturellen Weitergabe, Inkorporierung und der Praxis des Habitus gelten, ist eine konkrete vergleichende 15 Diese These entwickelt Bourdieu vor allem am Beispiel der Kabylen, hält sie aber für grundsätzlich übertragbar.
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Analyse schwer, da sich die Gesellschaften in grundlegenden Aspekten unterscheiden. Die Primär- und Sekundärerfahrungsräume sind, besonders angesichts der neueren Medien, größerer Bezugsgruppen, multikultureller Einflüsse und gänzlich anderer bewusster Strukturierung des Habitus (pädagogische Programme) wesentlich differenzierter. Trotzdem bleibt anzunehmen, dass die metatheoretische materialistische Inkorporierungsthese richtig ist. Dies wird nicht zuletzt durch empirische Ergebnisse der Neurophysiologie unterstützt. (Vgl. Schülein 2016: S. 120) Ein weiterer Kritikpunkt ist die eindimensionale Ausrichtung des Habitus. Zwar erkennt Bourdieu die verschiedenen Wechsel zwischen den Feldern und der damit verbundenen flexiblen Form der Habitus an, untersucht hat er aber meist klare monolithische Habitus-Feld-Strukturen. Der Habitus scheint jedoch flexibler, als von Bourdieu zumeist angedeutet. Bourdieu analysiert empirisch sehr genau, was inkorporiert wird, allerdings kann er nur unzureichend angeben, wie die Einverleibung in die Tiefenstruktur funktioniert. So hält er zwar sehr stichhaltig fest, dass der Habitus sich in der Dialektik entfaltet, wobei Dialektik dann jedoch meist nicht weiter ausgeführt wird und nicht genau klar wird, wo die beiden Ausgangspole liegen. Dialektik bezieht sich bei ihm auf eine, wie auch immer zustande kommende, Einigung zweier widerstrebender Strukturen: Habitus und Feld. (Vgl. Bourdieu 2009: S. 147) Meist betrachtet Bourdieu nur das Resultat der Dialektik, in dem der Widerspruch zwischen Struktur (Feld) und Handlung (Habitus) aufgehoben ist in einem Praxiszusammenhang. Des Habitus erscheint bei ihm dadurch als gegen Kritik immunisierte Dreifaltigkeit aus Speicherung, Naturalisierung und Praxisanweisung. Es wird aber nicht klar, wie sich der Habitus ausdifferenzieren lässt, vielmehr wird deutlich, dass Bourdieu den Begriff benutzt, um sich um die Tiefenstruktur nicht weiter kümmern zu müssen. Beate Krais und Gunter Gebauer zufolge erübrige sich für die Soziologie mit dem Habituskonzept gar der Innenblick. (Krais/Gebauer 2002: S. 26) So könne das Konzept den Habitus und damit die Persönlichkeit und die vollzogenen Handlungen zureichend erklären. Hier widerspreche ich. Das Habituskonzept würde, im Gegenteil, erst mit der Innenansicht wirklich fundiert. So sieht es auch Michael Zander: „Das Habituskonzept ist nicht nur für eine politisch aufgeklärte Psychologie bedeutsam, sondern es bedarf umgekehrt der Psychologie zu seiner Begründung.“ (Zander 2010: S. 4) Auf den ersten Blick offenbart sich hier eine Schwachstelle, was Bourdieu selber auch einräumt, aber diese bietet zugleich den Ansatz zu einer strukturalen Sozialpsychologie: „Es gibt tatsächlich eine ‚black box‘. Ich sage: Es gibt objektive Strukturen, und es gibt einverleibte Strukturen. Was geschieht zwischen beiden, wie geschieht es, wie lernt man? Ich sage auch irgendwo [...] dass man eine strukturale Sozialpsychologie entwickeln müsste. Aber die ist noch zu entwickeln, und man kann nicht alles machen.“ (Bourdieu 2011: S. 87)
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Der tendenziell soziologistische Ansatz von Bourdieus Sozioanalyse könnte daher durch eine Analyse des Psychischen vervollständigt werden, wie Vera King ausführt: „Die soziologische Analyse kann insofern durch die differenzierte Berücksichtigung des Psychischen umso mehr an Gehalt und Aussagekraft, Schärfe und Prägnanz gewinnen.“ (King 2014: S. 25) Hysteresis und Entfremdung Der Habitus kennzeichnet die unsichtbaren Beziehungen zur Welt, die sich „vermittels zutiefst unbewußter körperlicher Empfindungen und Erfahrungen aufzwingen.“ (Bourdieu 2003: S. 137) Die Beziehungen sind unsichtbar, weil weder ihre Entstehung reflektiert wird noch ihre Erscheinung sich im Feld bemerkbar macht,16 da sie integraler Bestandteil der Regelmäßigkeiten des Feldes sind. Aber diese unsichtbaren Weltbezüge können brüchig und damit sichtbar werden, wenn sich der Habitus nicht ausreichend schnell an Veränderungen anpassen kann. Die Erfahrungen und Empfindungen, die den Habitus geprägt haben, verlieren dann den Bezug zur Welt bzw. zum Feld. Bourdieu bezeichnet diese Trägheit des Habitus mit dem Begriff Hysteresis. Das Hysteresis-Konzept ist wichtig, um einen misslingenden Habitus zu erklären. Es beschreibt die begrenzte Plastizität des Habitus und damit die Grenzen seiner Anpassungsfähigkeit. Der Hysteresis-Effekt (bzw. dessen Folgen) kommt im Werk Bourdieus dem theoretischen Konzept der Entfremdung am nächsten. Der Habitus inkorporiert die sozialen Strukturen, dies tut er aber nicht immer im gleichen Maße. Vollziehen sich die Veränderungen zu schnell und ist der Habitus zu wenig flexibel (vgl. Bourdieu 2001b: S. 207), dann treten Hysteresis-Effekte ein. Dies ist unter anderem bei Revolutionen oder anderen starken FeldTransformationen zu beobachten, in denen der Habitus nicht mehr zum Feld passt (und sich dadurch die soziale Position verschlechtert): Einzelne Akteure oder auch Gruppen können so nur schwer oder kaum auf Krisen reagieren, weil sie plötzlich andere Formen der Praxis benötigen als die bereits erlernten: „Ihre Dispositionen werden dysfunktional, und je mehr Mühe sie sich geben, sie am Leben zu halten, um so gründlicher wird ihr Mißlingen.“ (Ebd.: S. 207) Bourdieu räumt der Primärsozialisation einen besonderen Stellenwert ein. Hier werden die grundlegenden Habitusstrukturen geprägt, die mit zunehmendem Alter immer schwieriger zu transformieren sind. Wie gut bzw. schnell der Habitus sich
16 Bourdieu entwickelt seine Habitustheorie daher zunächst ex negativo durch die Beobachtung des zerrissenen Habitus in der kabylischen Gesellschaft und dessen, vom Kolonialismus zerstörten, Habitus. Dieser wurde erst sichtbar, als er ins Missverhältnis mit dem Feld geriet. (Vgl. Bourdieu 2001b: S. 204–205)
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anpassen kann, hängt aber nicht nur mit dem Alter zusammen, sondern auch damit, ob der Habitus bereits als formbarer Habitus konstituiert wurde: „Was der neu Eintretende tatsächlich in dieses Spiel hineinbringen muss, ist nicht der Habitus, der hier stillschweigend oder explizit verlangt wird, sondern ein Habitus, der praktisch kompatibel sein oder eine genügende Nähe aufweisen und der vor allem formbar und geeignet sein muss, um sich in einen konformen Habitus konvertieren zu lassen, der, kurz gesagt kongruent und lernfähig [docile], das heißt offen für die Möglichkeit der Restrukturierung ist.“ (Krais/Gebauer 2002: S. 61–62)
Für Bourdieu gibt es daher Unterschiede hinsichtlich der Flexibilität des Habitus, die entscheidend für den Eintritt ins Feld sein können. Wird die Differenz zwischen Habitus und Feld zu groß, dann entstehen Diskordanzen. Bourdieu spricht von einem „gespaltenen“ (Bourdieu/Wacquant 1996b: S. 161) oder „zerrissenen“ (Bourdieu 2002b: S. 113) Habitus. Die Widersprüche von Feld und Habitus lassen sich dann dialektisch nicht mehr auflösen und sedimentieren im Habitus. Misslingt die Koppelung an ein altes Feld oder an neue Felder dauerhaft, dann entsteht eine zerrissene und oft apathische Habitusform. Bourdieu stellt das bei den Kabylen fest, welche die neue koloniale Wirtschaftsform nicht schnell genug adaptieren konnten. (Vgl. Bourdieu 2001b: S. 204–205) Der misslingende Habitus macht diesen erst objektiv wie subjektiv ersichtlich, davor ist er so sehr in die Struktur eingebunden, dass er als Verhaltensweise natürlich erscheint, er befindet sich dann gewissermaßen im Fluss der Praxis. Erst im Auseinanderdriften wird der Habitus wirklich beobachtbar, den Bourdieu mit der Figur des Don Quichotte vergleicht:17 „Folglich kann es geschehen, daß – nach dem Paradigma Don Quichottes – die Dispositionen mit dem Feld und den für seinen Normalzustand konstitutiven ‚kollektiven Erwartungen‘ in Mißklang geraten. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Feld eine tiefe Krise durchmacht und seine Regelmäßigkeiten (oder sogar seine Regeln) grundlegend erschüttert werden.“ (Ebd.: S. 206)
17 Bei der Figur des Don Quichotte ist das Interessante gerade, dass die Selbstreflexion nicht einsetzt, auch wenn sie sich andeutet. Es ist der untypische Fall, in dem Don Quijote den Habitus (der Kindheit) zu bewahren versucht, auch als Ausdruck von Würde. So taucht wiederholt auf: „de ir contra lo que debo a ser quien soy. – [ich will nicht] dagegen handeln, das sein zu müssen, was ich bin.“ (Cervantes zit. nach Wurmser 2007: 19) und im Original (Cervantes Saavedra et al. 1995: S. 378). Außerdem ist in diesem Zusammenhang die instruktive psychoanalytische Betrachtung des Don Quijote von Léon Wurmser (vgl. Wurmser 2012) interessant.
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Die Figur des Don Quichotte, der stur am Ritter-Habitus festhält, in einer Zeit, in der das Feld des Rittertums implodiert, ist idealtypisch. Der alte Habitus wird im neuen Feld nur noch als absurd wahrgenommen. Der Habitus, den das Misslingen irritiert, sucht in der Wiederholung den Fehler zunächst an sich selbst. Er prüft nicht das Feld, sondern den eigenen Habitus auf seine Konsistenz. Bourdieu vergleicht dieses Vorgehen mit einem Tennisspieler, der nach einem misslungenen Schlag diesen ohne Ball theoretisierend wiederholt, um sich seines Habitus zu vergewissern: „[E]in Augenblick des Zögerns kann eine Form von Nachdenken hervorrufen, die nichts mit dem eines scholastischen Denkers zu tun hat und die über angedeutete Körperbewegungen (etwa die, mit der ein Tennisspieler einen mißlungenen Schlag wiederholt, um durch einen Blick oder eine Geste den Effekt dieser Bewegung oder den Unterschied zwischen ihr und derjenigen zu prüfen, die es auszuführen galt) der Praxis zugewandt bleibt und nicht demjenigen, der sie vollführt.“ (Ebd.: S. 208)
Diese Trockenübung ist als Ausdruck einer Selbstvergewisserungshandlung zu interpretieren. Der eigene Habitus wird geprüft und gegebenenfalls justiert und damit zum Gegenstand der Beobachtung: Aus der Irritation folgt ein reflexives (Selbst-) Erkenntnisinteresse.18 Dieses ist allerdings nicht zwangsläufig eine Form des Denkens, sondern ein „praktisches Reflektieren“ (Ebd.: S. 209) des Körpers: Der Habitus vergewissert sich seiner Praxis über die körperliche Hexis. Misslingt eine Handlung im Feld, versucht der Akteur die richtige Bewegung über die (mehrmalige) Wiederholung einzuüben.19 Der Nachholeffekt, bedingt durch die Hysteresis, ist Ausdruck eines sozialen Jetlags, bei dem Neueinsteiger im Feld immer einen höheren Einsatz zeigen müssen, um den Verhaltensweisen der Alteingesessenen im Feld zu entsprechen, die sich, ohne großen Aufwand, nur natürlich bzw. unverändert verhalten zu brauchen: „Wahrscheinlich können die, die sich in der Gesellschaft ‚am rechten Platz‘ befinden, sich ihren Dispositionen mehr und vollständiger überlassen oder ihnen vertrauen (darin liegt die 18 Dieser Punkt weist nicht nur strukturelle Ähnlichkeiten zur psychoanalytischen Therapie auf, bei der Irritationen zum Anstoß der Reflexion werden, er erinnert auch an Hegels kritische Kant-Rezeption des Erkenntnissubjekts, welches „sich selbst nicht transparent“ (Habermas 1973: S. 25) ist und „erst mit dem Resultat seiner Selbstvergewisserung“ (Habermas 1973: S. 26) überhaupt erkenntnisfähig wird. 19 Hier ließen sich unzählige weitere Beispiele aus verschiedenen Bereichen anführen. Ein Beispiel ist das Wiederholen einer zur lernenden Vokabel, um den sprachlichen Habitus bewusst für ein Feld vorzubereiten.
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‚Ungezwungenheit‘ von Menschen ‚besserer‘ Herkunft) als die, die – etwa als soziale Aufoder Absteiger – Zwischenpositionen einnehmen; diese wiederum haben mehr Chancen, sich dessen bewußt zu werden, was sich für andere von selbst versteht, sind sie doch gezwungen, auf sich achtzugeben und schon die ‚ersten Regungen‘ eines Habitus bewußt zu korrigieren, der wenig angemessene oder ganz deplatzierte Verhaltensformen hervorbringen kann.“ (Ebd.: S. 209)
Bourdieu entwickelt den Begriff der Hysteresis aus seinen Beobachtungen, zunächst an den Kabylen, aber auch an sich selber und in zahlreichen empirischen Interviews. So bestimmt er soziales Leid und, allgemeiner, Unsicherheiten als Folge der Hysteresis. Durch seine makrosoziologischen Untersuchungen erkennt er, dass sich der Habitus nur langsam an neue Felder anpasst, und in den (mikrosoziologischen) Interviews, dass die Habitusträger darunter leiden. Da Bourdieu Hysteresis nur aus äußerlicher Beobachtung heraus analysiert, kann er zwar festhalten, dass Habitus sich nur langsam transformiert und dass durch Widersprüche zwischen Feld und Habitus Leid entsteht, allerdings bekommt er nicht die Tiefenstruktur in den Blick. Bourdieu entwickelt mit dem Hysteresis-Konzept eine Kategorie der Entfremdung, die er nur aus einer objektiven Perspektive erkennt. Gerade die Kategorien Leid, und auch Glück, wären aber aus einer subjektiven Analyse wesentlich differenzierter zu analysieren. 2.1.6 Das soziale Feld Bourdieu beschreibt die soziale Welt häufig mit dem Konzept des Feldes. Das Feld ist die objektivierte Form der Geschichte, die es in sich trägt, während der Habitus die inkorporierte Geschichte ist: „Diese Philosophie [des Handelns], die sich in einigen wenigen Grundbegriffen wie Habitus, Feld, Kapital verdichtet und deren Kernstück die doppelsinnige Relation zwischen den objektiven Strukturen (den Strukturen der sozialen Felder) und inkorporierten Strukturen (den Strukturen des Habitus) ist [...]“ (Bourdieu 1998b: S. 7), bildet das Kernstück Bourdieus Feldtheorie. Die Feldstrukturen verdeutlicht Bourdieu häufig mit der Metapher eines Spielfelds bzw. Sportfelds. Auf diesem sind es die Akteure, die mit all ihren habituellen Handlungen versuchen, ihre Position zu verbessern. Ihre Handlungen sind dabei an Kapitalinvestitionen und Erträgen orientiert.20 Für die Verbesserung des symbolischen Kapitals benötigen die Akteure symbolisches Kapital. Das kann in jedem Feld ein anderes sein: „Eine Eigenschaft der Felder ist, dass die Kräfteverhältnisse in ihnen jeweils besondere Formen anneh20 Teilweise verwendet Bourdieu auch den Begriff Markt statt Feld, was die ökonomische Komponente unterstreicht.
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men. In jedem Feld ist die Kraft […], die im Spiel ist, eine andere.“ (Bourdieu 2002b: S. 35) Jedes Feld funktioniert nach eigenen Spielregeln, mit denen um die Positionen gerungen wird und die darüber entscheiden, wie der Wert von Kapitalsorten und dessen Verteilung anerkannt werden, um bestimmte Investitionen zu tätigen, die ein spezifisches Ziel/eine Position im Feld erreichen lassen. Die Akteure befinden sich auf dem Feld daher unentwegt in einem Kampfverhältnis und konkurrieren gegeneinander. Die sozialen Kämpfe werden auf zwei Ebenen geführt: zum einen mit dem Einsatz von Kapital, um die richtige Kapitalverteilung und die benötigte Kapitalmenge zu erreichen, und zum anderen mit dem Kampf um die Veränderung der Regelstruktur des Feldes. Dabei sind die Perspektiven der Akteure auf das eigene und das Feld der anderen immer abhängig von der eigenen Position. Bourdieu zieht auch hier die Spielfeld-Metapher heran: Je nach Position auf dem Feld sieht der Akteur das Spiel anders, bewertet es anders. Die Perspektiven von Orthodoxen und Häretikern (herrschenden und unterlegenen Akteuren) auf dem Spielfeld sind grundsätzlich andere. Soziologische Erkenntnis entsteht für Bourdieu nur, wenn die Perspektiven der verschiedenen Akteure berücksichtigt und miteinander in Beziehung gebracht werden. Die Felder sind keine realen Felder, sondern wissenschaftliche Konstruktionen, die die soziale Welt zu verstehen helfen. Daher sind die Felder auch überlappend, gehen ineinander über und sind kaum realistisch auseinanderzuhalten. Eine Grenze kann dort gezogen werden, wo das Feld keine Wirkung mehr entfaltet, an den Stellen, an denen bestimmte Kapitalsorten nicht mehr anerkannt werden. Diese Grenzen verschwimmen. Bestimmte Kapitalwerte funktionieren in fast allen Feldern, andere sind relativ autonom. Die Ränder der Felder sind daher unscharf. Bourdieu beschreibt die Felder mit einem Zentrum, in dem sich die Orthodoxen, die Akteure mit den besten Kapitalressourcen, befinden, und der Peripherie, in dem die Häretiker als herausfordernde Akteure bestrebt sind, ihr Kapital anzupassen: indem sie versuchen, es zu erhöhen, die Zusammensetzung zu ändern oder die Spielregeln umzugestalten. Durch die zunehmende Differenzierung (Arbeitsteilung und Spezialisierung) der sozialen Welt tendieren Felder in Richtung Autonomie, sie versuchen sich abzugrenzen, eigene Ordnungen zu etablieren, und werden so für Neuankömmlinge im Feld zunehmend unverständlich. Neben der Autonomietendenz von Feldern gibt es eine Kolonialisierungstendenz, in der Felder dazu tendieren, andere Felder zu subordinieren.21 Die Homologie von Habitus und Feld führt auf der Seite des Akteurs zu einem praktischen Sinn für das Feld. Dieser Sinn beschreibt die instinktive Praxis im Feld. Die, die in ein Feld hineingeboren werden, können sich ohne Probleme dort bewe21 Besonders gut lassen sich diese Phänomene in den Subfeldern der Wissenschaft beobachten. Historisch haben sich dort immer mehr eigenständige Felder herausgebildet.
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gen. Der Leib, seine Wahrnehmung und Praxis verhält sich in der Regel genau passend zum Feld. Bourdieu entwickelt den Begriff des Feldes erst in seinen späteren Schriften und verwendet ihn auch erst dort systematisch, dort verdrängt er immer häufiger den Begriff des sozialen Raums22, er führt aber keine klare Trennung zwischen beiden durch, so bleibt das Verhältnis der beiden topographischen Modelle weitgehend ungeklärt. Allerdings bezieht sich sozialer Raum auf die gesamte Gesellschaft, während Felder immer nur Teile der Gesellschaft umfassen. 2.1.7 Herrschaft im Schleier der symbolischen Verhältnisse Für Bourdieu ist Herrschaft vor allem symbolische Herrschaft bzw. symbolische Gewalt. Diese Form der Herrschaft zeichnet sich durch ihre kulturelle Vermittlung aus. Nicht im Sinne eines falschen Bewusstseins, sondern materiell durch die Inkorporierung in den Körper. So werden beispielsweise erzogene Geschlechterrollen (Haltung, Gestik, Lautstärke der Sprache u. Ä.) zu materiellen Ausdrucksformen der verinnerlichten Herrschaftsverhältnisse, wodurch ursprünglich willkürliche Gesellschaftsverhältnisse zu gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten werden. Die 22 Bourdieu versucht mit seiner Konzeption des sozialen Raums Lebensstile und Klassen zusammenzudenken. Die symbolische Dimension der Distinktion ist für Bourdieu viel zu wenig in die bis dato aktuellen Analysen von Klassen eingeflossen: Es geht daher nicht nur um die realen (zumeist ökonomischen und herrschaftsbezogenen Merkmale verschiedener Klassenlagen), sondern um die Anerkennung bestimmter symbolischer Formen, die Unterscheidungen konstituieren. Symbolische Formen der Distinktion sind gekoppelt an den Habitus (Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster) und unverdächtig, als Mittler sozialer Distinktion zu dienen, und gerade deswegen so wirksam. Der Lebensstil und der Geschmack gelten weithin als privat, für Bourdieu sind sie allerdings entscheidend für die Konstitution von Klassen. Die Teilung der Klassen ist bei Bourdieu keine absolute, sondern eine relationale: Die Akteure sind nur in ihren Beziehungen zueinander in den sozialen Raum einzuordnen. Der soziale Raum ist daher auch, zum einen, durch die Akteure im Bezug zu ihren Lebensstilen, und zum anderen, in ihrem Bezug zur realen Lage entscheidend. Lebensstile und reale Lage bilden daher auch für sich ein Klassifikationssystem. Der Raum der sozialen Positionen wird durch die Anordnung der verschiedenen Kapitalsorten in einem Koordinatensystem abgebildet. Die Lebensstile werden empirischquantitativ erfasst und ebenfalls in ein Koordinatensystem eingetragen. Daraus erschließen sich die verschiedenen Geschmäcker bestimmter Gruppen, wie beispielsweise die Vorliebe für bestimmte Sportarten wie Fußball oder Boxen in den traditionellen Arbeitergruppen. Das Modell des sozialen Raums verbindet das Klassenmodell von Marx und das Schichtenmodell von Max Weber zu einer Landkarte der Relationen. Das Sozialraummodell ist dreidimensional, während das Feldmodell zweidimensional ist.
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symbolische Struktur verschleiert die realen Verhältnisse, da diese als natürlich Ordnung erscheinen und anerkannt werden, wodurch sie sich im Hintergrund als Herrschaftsverhältnis weiter etablieren können. Bourdieu nennt das den „Schleier der symbolischen Verhältnisse.“ (Bourdieu 1993: S. 248) Das Herrschaftsverhältnis tritt daher in der Regel als natürlich verkleidet auf, was Widerstand erschwert. Wobei es immer auch zu Momenten der Infragestellung von Selbstverständlichkeiten kommt. Diese Herrschaft ist in modernen Industriegesellschaften eng mit den Institutionen verknüpft. Denn die selbstverständlichen Sichtweisen auf die Welt sind maßgeblich durch Kulturinstitutionen vermittelt. Diese werden von Bourdieu weit gefasst und waren häufig Gegenstand seiner Untersuchungen. Zu nennen sind hier das Bildungswesen, Kirchen, Wissenschaft, Think-Tanks oder auch der Film-, Theater-, Literatur- und Musikbetrieb uvm. In diesen Feldern wird Herrschaft (re)-produziert. Über die Anerkennung des Wertes der Kapitalsorten in symbolischem Kapital unterwerfen und erheben sich die Akteure. Diese Anerkennung ist durch die Wahrnehmungs-, Denk- und Bewertungsmuster im Habitus verankert: „Als Produkt der Einverleibung einer sozialen Struktur in Form einer quasi natürlichen, oft ganz und gar angeboren wirkenden Disposition ist der Habitus vis insita, die potentielle Energie, die schlafende Kraft, aus der die symbolische Gewalt […] ihre geheimnisvolle Wirksamkeit bezieht.“ (Bourdieu 2001b: S. 216) Die so strukturierten Habitus, die häufig dichotom konstruiert sind (Mann/Frau, Schüler/Lehrer usw.), tendieren daher zu einer symbolischen Komplizenschaft von Herrscher und Beherrschten. (Vgl. Bourdieu 2016: S. 82) Denn Herrscher wie Beherrschte erkennen die selbstverständlichen Prinzipien an, allerdings nicht bewusst, sondern durch ihren Habitus und ihre Hexis. Denn die Herrschaft ist leiblich über Gefühle und Affekte verankert: Scham, Angst, Ekel, Geschmack et cetera sind aus diesem Grund beobachtbare Phänomene der Herrschaft.23 Die symbolisch verschleierte Herrschaft wird daher an den devianten Stellen sichtbar, immer an den Bruchstellen der Herrschaft. In der Primär- und Sekundärsozialisation schreibt sich die Herrschaft ein. Durch die unzähligen Körpertechniken, die teilweise nachgeahmt und teilweise repressiv vermittelt werden, verfestigen sich Herrschaftsstrukturen, die zunächst gar nicht als solche wahrge23 Beispielsweise ist der Auftritt in einem Königshaus noch immer starken Verhaltensweisen unterworfen, die nur sehr schwer nachzuahmen sind. Ein Neuankömmling in diesem Feld kann seine Unterlegenheit im Feld leiblich spüren: So wird auch klar, dass diese Herrschaft nur über die Anerkennung der für das Feld spezifischen Kapitalsorten und dessen Verteilung funktioniert. Selbst wenn die Mechanismen des Königshauses durchschaut sind und als willkürliche Herrschaft offensichtlich werden, wirkt die Anerkennung meist fort.
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nommen werden: Der Imperativ „Halte dich gerade“ wird so zu einer „List“, die als Teil des Ganzen die Ordnung im Feld strukturiert und zur „Unterwerfung unter die bestehende Ordnung“ (Bourdieu 1993: S. 129) anleitet. Mit der Inkorporierung naturalisiert sich die objektive Herrschaftsstruktur im Habitus zur symbolischen Herrschaft und wird somit unreflektiert. (Ebd.: S. 105) Die Herrschaftsstrukturen setzten sich so unbemerkt und vergessen in objektiver und subjektiver Struktur fest. Diese Herrschaftsstrukturen sind aber nicht statisch, sondern an einigen Stellen sehr brüchig. Der ständige Kampf um die symbolische Ordnung ist daher ein Kampf um die Herrschaft: „Das symbolische Kapital steht nicht fest, sondern hängt von den Regeln der Gruppe ab, die es anerkennt oder ablehnt. Insofern gibt es auch einen ständigen Kampf um die symbolische Ordnung, in die man sich selbst einordnet und von den anderen eingeordnet wird. Eine symbolische Ordnung beinhaltet immer Bewertungen, bringt also zum Ausdruck, was wichtiger oder weniger wichtig, richtig oder falsch, gut oder schlecht ist. Das soziale Leben ist ein Kampf um die symbolische Ordnung, und insofern stellt sich auch die Ordnung der Gesellschaft als ein Prozess, als ein permanenter Kampf um die symbolische Ordnung dar.“ (Abels/König 2010: S. 206)
Durch die Naturalisierung wird Herrschaft auf doppelte Weise gefestigt: Die inkorporierte Geschichte wird erstens vergessen und zweitens durch das Einschreiben in den Leib praktisch naturalisiert. (Bourdieu 1993: S. 131–132) Klassen erscheinen daher als selbstverständlich und nicht als Widerspruch, denn ihre historische Genese wird unsichtbar. Dieses Gefühl der Wahlverwandtschaft zur Klasse schlägt sich in körperlichen Empfindungen nieder. Herrschaft findet daher nicht bewusst statt: „Das derart Einverleibte findet sich jenseits des Bewusstseinsprozesses angesiedelt, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt selbst noch davor, explizit gemacht zu werden.“ (Bourdieu 2009: S. 200) Kritik ist an der Überbetonung des Symbolischen zugunsten der manifesten Gewalt zur Stabilisierung von Herrschaft zu üben. Auch in demokratischen Gesellschaften wird Herrschaft nicht nur symbolisch, sondern auch manifest mit Polizei, Militär und Freiheitsentzug abgesichert. Daher greift auch die Reduktion der Herrschaft auf Anerkennung bzw. Aberkennung zu kurz. Beispielsweise schützt auch die Aberkennung der Autorität eines Richters nicht vor einer Strafe. Bourdieu kann hingegen sehr genau herausarbeiten, wie Herrschaft auf der symbolischen Ebene funktioniert und wie diese in den Leib einwandert. Die Produktion und Reproduktion von Herrschaft ist maßgeblich durch die Kulturinstitutionen vermittelt, ohne aber bloße Ableitung einer Struktur zu sein. Denn Herrschaft wird über die Alltagspraxis durch die Akteure selber stetig anerkannt und verinnerlicht, und an einigen Stellen auch in Frage gestellt. Das Ensemble von erlaubten
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Praxisformen (bzw. verinnerlichten Dispositionen) in einem Feld bezeichnet Bourdieu als Doxa, welche sich im Schutze eines kulturellen Unbewussten bzw. NichtBewussten entfaltet und (Klassen-)Herrschaft sichert. Doxa: Im Schutze des Unbewussten Die unsichtbare Herrschaft ist eingebettet in die Doxa. Bourdieu meint mit diesem Begriff die kollektiv geteilten Selbstverständlichkeiten der Praxen und den gemeinsamen Glauben an die Regeln, Regelmäßigkeiten und Kapitalwertigkeiten in einem Feld. Ein Feld beinhaltet somit drei verschiedene Möglichkeiten der praktischen Orientierung: Orthodoxie als die anerkannte Meinung, Heterodoxie als die herausfordernde Gegenmeinung und die Doxa (Bourdieu 2009: S. 325) als nicht bewusste Selbstverständlichkeit. Die Doxa markiert somit die Grenze für Wahrnehmungs-, Denk- und Praxismuster der Feldteilnehmer. Mit der Durchsetzung einer spezifischen doxischen Ordnung in einem Feld werden die realen Strukturen in mentale Strukturen übertragen, wodurch diese dann erst als selbstverständlich anerkannt und unbekannt werden: „Eine der wesentlichen und primären Auswirkungen der Entsprechung realer Teilung und praktischer Teilungsprinzipien, sozialer und mentaler Strukturen beruht zweifellos in der Durchsetzung der Doxa: Der Verhaftung an Ordnungsbeziehungen, die, weil gleichermaßen reale wie gedachte Welt begründen, als selbstverständlich und fraglos hingenommen werden.“ (Bourdieu 2003: S. 734–735)
Die reale und die mentale Welt bedingen sich daher gegenseitig. Durch die Inkorporierung der sozialen Strukturen werden nicht nur die Praxismuster des Feldes übertragen, sondern auch bestimmte Praxismuster aus der Disposition möglicher Praxis ausgeschlossen. Die Doxa eines bestimmten Feldes prägt somit bestimmte Habitusformen, die wiederum die Doxa anerkennen und reproduzieren. Die Doxa ist somit der kollektive Glauben an die Strukturen des Feldes. Sie ist damit das Pendant zur Illusio, dem individuellen Glauben an die Strukturen. Beide Begriffe sind dementsprechend eng miteinander verbunden.24 Illusio bezeichnet die individuelle Selbstverständlichkeit bzw. den Glauben an die Investitionen im Feld. Bourdieu erklärt mit der Illusio die Intention des Akteurs. In der Regel tendieren Menschen, die in ein Feld hineingeboren sind, dort dann auch zu einer ausgeprägteren Illusio:
24 Bourdieu benutzt zunächst den Begriff Interesse, um verschiedene Intentionen der Akteure im Feld zu beschreiben. Um den Utilitarismus-Vorwurf zu entkräften, verwendet er in seinen späteren Schriften überwiegend den Begriff der Illusio.
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„Dagegen entscheidet man sich in sozialen Feldern, die im Ergebnis eines langwierigen und langsamen Verselbständigungsprozesses sozusagen Spiele an sich und nicht länger Spiele für sich selbst sind, nicht bewußt zur Teilnahme, sondern wird in das Spiel hineingeboren, mit dem Spiel geboren, und ist das Verhältnis des Glaubens, der illusio, des Einsatzes um so totaler und bedingungsloser, je weniger es als solches erkannt wird.“ (Bourdieu 1993: S. 123)
Die Regeln des Spiels im Feld würden ohne den Glauben daran nicht funktionieren. Illusio beschreibt auch das Vergessen der sozialen Spiele (Kämpfe), wenn mentale und soziale Strukturen übereinstimmen (was sie in der Regel tun): „Die sozialen Spiele sind Spiele, bei denen man vergisst, dass sie Spiele sind, und die illusio ist jenes verzauberte Verhältnis zu einem Spiel, das das Produkt eines Verhältnisses der ontologischen Übereinstimmung zwischen den mentalen Strukturen und den objektiven Strukturen des sozialen Raums ist.“ (Bourdieu 1998b: S. 141)
Gerät aber die Illusio ins Schwanken, weil sich das Feld oder der Habitus verändert, dann werden Selbstverständlichkeiten der sozialen Struktur im Feld (Regel, Spiel, Kampf) zur Illusion: „Was als Selbstverständlichkeit in der illusio erlebt wird, erscheint demjenigen, der diese Selbstverständlichkeit nicht teilt, weil er am Spiel nicht beteiligt ist, als Illusion.“ (Ebd.: S. 143) Diese Illusionierung des Akteurs kann sich auf die Werte, die Sinnhaftigkeit des Spiels, den Geschmack, die Praxis, Investitionen etc. auswirken. Bourdieu benutzt später für Illusio teilweise den Begriff einer (sozialen) Libido, die aber Produkt der Strukturen ist und nicht biologistisch missverstanden werden soll. Der Begriff der Doxa bzw. Illusio lässt sich in der Nähe der Marx’schen Ideologiethese verorten. Auch Marx sieht das Kapitalverhältnis als verschleiertes soziales Verhältnis, das sich heimlich im Hintergrund zur unreflektierten Klassenstruktur erhebt. Bourdieu grenzt die Doxa allerdings vom Begriff der Ideologie ab, da dieser zum einen im Laufe einer langen Interpretationsgeschichte nicht mehr präzise sei und zum anderen selber ideologisch werde, weil ideologiekritische Stimmen die Wahrheit über die Abgrenzung von wahr und ideologisch für sich reklamieren würden, besonders Althusser.25 Das Konzept der Doxa hat ebenfalls Ähnlichkeiten mit Ideen eines kulturellen Unbewussten. Das Unbewusste ist bei Bourdieu eine theoretische Beschreibung für 25 Bourdieu fasst seine Kritik an dem Begriff der Ideologie folgendermaßen zusammen: „In fact, I tend to avoid the word ,ideology’ because […] it has very often been misused, or used in a very vague manner.“ und konkret: „indeed, one of the reasons why i don’t like the word ,ideology’ is because of the aristocratic thinking of Althusser.“ (Bourdieu 1992b: S. 266–267)
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alle nicht bewussten Praxen des Akteurs. Bourdieu spricht, besonders in Bezug zur Herrschaft, von einem kulturellen Unbewussten, in dem spezifische Herrschafts-, Klassen- und Geschlechtermuster reproduziert werden. Obwohl Bourdieu immer wieder eine Nähe zu Freud erkennen lässt, arbeitet er keine genaue Definition des Unbewussten aus. Daher ist eine präzise Einordnung von Bourdieus Begriff des Unbewussten schwierig. Bei Bourdieu oszilliert der Begriff zwischen nicht-bewusst und unbewusst. (Vgl. King 2014: S. 7–9) Im Schutze des Unbewussten findet zum einen die Inkorporierung statt, zum anderen dessen Verschleierung sowie Verinnerlichung der Geschichte. Unbewusstsein ist für Bourdieu vor allem Nicht-Bewusstsein: „Bourdieu verwendet den Begriff des Unbewussten in ungewohnter Weise, denn er versteht ihn nicht als Bezeichnung für eine seelische Grund- oder Tiefenschicht (wie die psychoanalytische und tiefenpsychologische Denktradition). Das Unbewusste liegt nicht als Dunkles und Unbekanntes im einzelnen Menschen, sondern das ‚kulturelle Unbewußte‘ bildet die Grundlage der doxa, ist alles das, was unbeachtet und unproblematisiert die Erfahrung der Wirklichkeit strukturiert. Das Unbewusste ist jener Bereich, der in historischen Quellen keine Spur hinterlässt und der deshalb von den Historikern am leichtesten übersehen wird, weil er für die Menschen der jeweiligen Epoche selbstverständlich war bzw. ist.“ (Fuchs-Heinritz/König 2005: S. 206)
Der Ort der Illusio ist der Leib, der sich über Habitus und Hexis bemerkbar macht. Da die Grenzen im Leib verankert sind, glaubt Bourdieu auch nicht an Widerstandsmomente durch das Bewusstsein: „I think the capacity for resistance, as a capacity of consciousness, was overestimated.“ (Bourdieu 1992b: S. 268) Im Körper-Leib-Komplex wirkt die Doxa, als sei sie das ureigene Gefühl, ein Instinkt oder Affekt. Wenn sich gesellschaftliche Verhältnisse gewissermaßen richtig anfühlen, dann nicht, weil sie richtig sind, sondern weil die Doxa sich in den Akteuren verdoppelt hat. Widerstand hat so keinen Ansatzpunkt mehr, weil symbolische Herrschaft unsichtbar ist: „In a sense it is easy to revolt against discipline because you are conscious of it. In fact, I think that in terms of symbolic domination, resistance is more difficult, since it is something you absorb like air, something you don’t feel pressured by; it is everywhere and nowhere, and to escape from that is very difficult.“ (Ebd.: S. 270)
Bourdieu beschreibt aber auch ein nicht-bewusstes Wissen als praktisches Körperwissen. Dieses kann sprachlich nur schwer erfasst werden, womit Bourdieu die Kategorie des (fehlenden) Bewusstseins durch die Sprache doch wieder einführt und als Ursache die arbeitsteilige Gesellschaft angibt, die Trennung von Hand- und Kopfarbeit:
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„There is a sort of de facto division of labour of social production with respect to major varieties of experience. Very often the persons who are able to speak about the social world know nothing about the social world, and the people who do know about the social world are not able to speak about it. If so few true things are said about the social world, the reason lies in this division. For example, doxa implies a knowledge, a practical knowledge. Workers know a lot: more than any intellectual, more than any sociologist. But in a sense they don’t know it, they lack the instrument to grasp it. To speak about it.“ (Ebd.: S. 273)
Bei Bourdieu gibt es dementsprechend zwei verschiedene Wissensformen. Widerstand kommt nicht zustande, weil sich beide nicht überschneiden: Der Intellektuelle hat nur ein bewusstes Wissen, aber kein praktisch-körperliches, das die Lage der Arbeiter erfassen könnte, während der Arbeiter das entscheidende praktische Wissen nicht bewusst im Körper mit sich trägt und es daher nicht reflektieren kann. Dadurch kann er kein Klassenbewusstsein ausprägen. Bourdieu expliziert, dass nur in Krisen des Feldes, in denen Selbstverständlichkeiten sich offensichtlich als falsch herausstellen, Inkonvergenzen entstehen, die eine Transformation des Habitus oder des Feldes erzwingen. Ist die Doxa des Feldes nicht mehr zu halten, entstehen Para-doxa26 (vgl. Bourdieu 2003: S. 620), die das Feld in Frage stellen können und damit im ursprünglichen Sinne zum Paradoxon werden. Gelangt der Habitusträger hingegen zu einer reflektierten Denkweise, kann er als Häretiker das Nicht-bewusste in heterodoxer Form in den sprachlichen Diskurs einführen. Dies behält Bourdieu den kritisch-reflektierten Intellektuellen gegenüber den unkritischen Intellektuellen (die er als Doxosophen bezeichnet) vor: „Ich verteidige zuallererst die Möglichkeit und Notwendigkeit des kritischen Intellektuellen und vor allem die Kritik an der von den Doxosophen abgesonderten intellektuellen Doxa.“ (Bourdieu 1998a: S. 19) Einen Ausweg aus der Doxa sieht Bourdieu daher wie Marx in der kritischen Reflexion der (eigenen) Verhältnisse und der daraus resultierenden Erweiterung von Denk- und Verhaltensweisen. Diese Aufgabe liegt dann wieder beim kritischen Intellektuellen, womit Bourdieu vergisst, seine Kritik der aristokratischen Wissenschaft (die er u. a. an Adorno und Althusser expliziert) auf sich selbst, als kritischen Beobachter, anzuwenden. Auch wenn sich Bourdieu dieses Problems offensichtlich bewusst ist, muss er es letztlich übergehen, um seine Theorie plausibel zu halten. Er stößt hier an ein allgemeines epistemologisches Problem von Ideologiekritik, welches auf die Frage hinausläuft: Wo ist die neutrale Erkenntnisposition und wie ist 26 Paradoxa (plural, altgriechisch) bedeuten so viel wie para, daneben stehend, und doxa, Meinung. Sie weisen auf unauflösliche Verstrickungen zwischen Ansichten hin, die alleine, aber nicht zusammen, logisch erscheinen und theoretisch wie praktisch selbstverständliche Hintergrundannahmen erschüttern können.
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diese einzunehmen? Dieses Problem kann Bourdieu zuletzt nicht lösen und gerät in die unangenehme theoretische Situation eines ideologiekritischen Selbstbezugs. Außerdem verwendet Bourdieu den Begriff Doxa meist in Bezug auf die Erklärung von Reproduktion, nicht aber in Bezug auf Transformation. Er verengt so unnötig seine Konzeption von Doxa. Beinhaltet sie doch ausdrücklich eine Möglichkeit der Transformation, diese wird aber an keiner Stelle ausgearbeitet. So wird klar, wie Bourdieu die Reproduktion, nicht aber wie er Transformation denkt. Hier verweist er auf subjektive Strukturen (kritischer Intellektueller, Häretiker) oder plötzliche objektive Änderungen von außen (Entstehung von Paradoxa). Des Weiteren ist auch die Konzeption von Doxa als kollektivem FeldUnbewusstsein unpräzise. Zum einen orientiert sich der Ansatz an Marx und der Klasse an sich, die erst durch das Klassenbewusstsein zur Klasse für sich werden kann und die heimlich im Hintergrund die übermächtigen Strukturen erschafft. Darüber hinaus sind Bezüge zu Freud deutlich. Hier ist die Übertragung von individuellen psychoanalytischen auf kollektive Kategorien ohnehin schwierig. (Vgl. Busch 2001a) Die empirische Analyse der Praxis macht die Doxa, als Grenze der möglichen Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungsmuster, offensichtlich. Wie dies allerdings im Inneren passiert, darüber kann Bourdieu wenig präzise Auskunft geben. Dadurch, dass der Habitus respektive die Hexis als Vermittlungsinstanz eingesetzt werden, werden auch die Vorgänge von Speicherung, Naturalisierung und Praxisanweisung in Bezug auf Interesse, Illusio und (soziale) Libido unscharf. Hieraus lässt sich auch der Focus auf Reproduktion verstehen. Reproduktion der Strukturen ist beobachtbar. Wie Akteure allerdings unbewusst, nicht-bewusst, kognitiv, leiblich aufbegehren, lässt sich nur schwer aus der Außenperspektive verstehen. 2.1.8 Zusammenfassung und Kritik Trotz der Betonung, keine Philosophie betreiben zu wollen, sind normative Grundannahmen, welche einer Reflexion der Theorie und Philosophie bedürften, bei Bourdieu hintergründig wirksam. Aus der Ablehnung von Philosophie als scholastischer Übung, und daher als vermeintlich realitätsverkürzend, entwirft und reformuliert Bourdieu analytische Begriffe inkonsistent und unscharf. Dabei immunisiert er gleichzeitig seine Begrifflichkeiten gegen Kritik. Ohne die Reflexion auf den eigenen normativen Gehalt seiner Theorie, die in der Anwendung als Kritik am Neoliberalismus zutage tritt, schwächt er diese unnötig. Es wird unklar, worauf Bourdieu letztlich abzielt: Seine normativen Absichten (besonders in den Schriften zum Neoliberalismus) können, ohne Bezugnahme auf einen Habitus mit einem subjektiven Surplus, nicht plausibel gemacht werden.
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Die Sozialtheorie Bourdieus wird dadurch ungenau, aber anschlussfähig. Daher sind Theoriefragmente auch vielfach zum Bestand eines Baukastens geworden, dem die Bausteine für je eigene theoretische Überlegungen entnommen wurden. Bourdieus Theorie ist entsprechend in vielfacher Weise interdisziplinär rezipiert worden. Steigt auch die Gefahr der Beliebigkeit, muss, um mit Bourdieus Theorie weiterzuarbeiten, eine bestimmte Lesart einer anderen vorgezogen werden. Es ist daher unvermeidlich, den offenen Charakter der Theorie Bourdieus im Blick zu haben und die Begriffe für die eigene Analyse jedes Mal neu zu schärfen und konsistent zu halten, ohne dabei die Begriffe stärker zu belasten, als es Bourdieu selber bereits tut. Überhang des Objektivismus Bourdieus Theorie ist dem Objektivismus näher als dem Subjektivismus. Der Versuch der Überwindung beider Ansätze bleibt unvollendet und tendiert weiterhin zum Objektivismus, wie auch Robin Celikates feststellt: „Der Versuch der Vermittlung zwischen Objektivismus und Subjektivismus, Struktur- und Handlungstheorie bricht letztlich unter dem Übergewicht der sozialen Strukturen zusammen. Mit der Annahme, die soziale Welt, in deren Kontext Menschen ‚handeln‘, bestehe aus Relationen, die nicht im Sinne von interaktiven oder intersubjektiven Beziehungen zu verstehen sind, sondern als objektive Verhältnisse, die unabhängig vom Bewusstsein und Handeln der Individuen existieren, läuft Bourdieu Gefahr, den sozialen Raum als in seiner Beharrlichkeit durch Handeln nicht signifikant zu verändernde und von kritischen und selbstreflexiven Praktiken unabhängige Struktur zu hypostasieren.“ (Celikates 2009: S. 72)
Bourdieus Standpunkt ist maßgeblich vom Strukturalismus (Gebesmair 2004: S. 199) geprägt, der, bei ihm wie bei anderen Vertretern des Strukturalismus, deterministisch wirkt. In der Tat verortet Bourdieu menschliche Praxis in die Relationen zwischen den Akteuren und reduziert Subjektivität dadurch zu bloßen Effekten der Relation. Eine weitere Folge der Objektivismusnähe ist der universale Klassenkampf um das universale Kapital. Kapital wird zur Universalkategorie menschlicher Interaktionen und Verhaltensweisen. Soziale Verhältnisse werden damit grundsätzlich zu Kampfverhältnissen. Genauer: Da die menschliche Praxis auf die Verbesserung oder Erhaltung der Klassenposition reduziert ist, werden alle Handlungen nur als Kampf denkbar, selbst ein freundschaftliches Gespräch oder ungezwungene Freizeitaktivitäten. Bourdieu vertritt die Auffassung, dass das Relationale das Wahre sei, was ihn in einen Soziologismus führt, der ihn die rein sozialen Momente verständlich erklären lässt, jedoch geraten ihm die Auswirkungen auf die Akteure und die Wirkungen der Akteure jenseits von strukturierenden Strukturträgern aus dem Blick. Durch die Fo-
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kussierung auf die Relation verengt Bourdieu den Blick auf die soziale Welt: Er kann zwar plausibel machen, dass sich der Habitus analog dem Feld herausbildet, nicht aber ausreichend erklären, dass im Akteur Widersprüche, Brüche und Devianz gegenüber dem Feld auftreten. Er tendiert daher auch zu einem Paradigma der Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse und vermag kaum Phänomene von Abweichung und Widerstand herauszuarbeiten. Es bleibt außerdem unklar, wo für Bourdieu der Ausgangspunkt der Dialektik zwischen Habitus und Feld liegt, d. h., wo eigentlich die Dialektik der Primärerziehung ansetzen soll. Er kann nicht ausführen, worin der zweite Ausgangspunkt der Dialektik, neben dem Feld, besteht. Mit aller Konsequenz müsste man Bourdieu so verstehen, dass sich der Habitus nur dem primären Feld nachbildet und sich dann mit anderen sekundären Feldern in Dialektik verstrickt. Warum das primäre Feld sich mit dem Kind nicht auch schon dialektisch vermittelt, klärt Bourdieu nicht ausreichend.27 Die Dialektik findet jedoch auch schon primär zwischen dem Habitus und dem Feld statt, mit einem Ansatzpunkt im Subjekt. Bourdieu verwendet Dialektik in keinem explizierten Modus, sondern als Begriff, der das Zusammenlaufen zweier Strukturen begreiflich machen soll. An dieser Stelle wäre mit einem elaborierten Dialektik-Konzept, in dem die Pole Subjekt und Objekt deutlich werden, Schärfe in Bezug auf Sozialisierung bzw. Habitualisierung möglich. Dieser Überhang des Objektivismus betrifft außerdem die Frage nach Handlungsfreiheit und Determinismus Denn mit dem Abschied vom aristotelischen Substanzdenken verschiebt Bourdieu den Gedanken der Freiheit in die Grenzen des Habitus und bestimmt jede Form subjektiven Freiheitsempfindens als Illusion, damit entwirft er eine deterministische Subjekttheorie, wie auch Beer formuliert: „Bourdieu wird nicht müde zu betonen, dass die dem Passungsverhältnis zugrunde liegende Wahlentscheidung die Sozialposition bestätigt. Er gesteht zwar zu, dass diese Entscheidung subjektiv als freie Wahl erlebt werden könne, bezeichnet dieses Erleben jedoch als Illusion und behauptet, dass aus einer Beobachterperspektive eine objektive Übereinstimmung von Praxis und Sozialposition besteht. Die Habitustheorie ist damit aber nicht nur eine Handlungstheorie, sie ist auch Subjekttheorie. Das heißt, sie legt ein bestimmtes Verständnis des Subjektiven nahe, das die Willensfreiheit als Schein und die Handlungsfreiheit als beschränkt enttarnen möchte. Bourdieu ist daher zu Recht wiederholt der Vorwurf des Determinismus gemacht worden […]. Zwar insistiert Bourdieu darauf, dass die kulturellen Inhalte des Habitus sich im Zuge der Klassenauseinandersetzungen verschieben. Dies vermag jedoch nicht zu plausibilisieren, dass den Subjekten eine Autonomie zukommt. Die habituellen Dispositionen modifizieren sich schließlich nicht aufgrund von intrasubjektiven Überlegungen oder Entwicklungsprozessen, sondern aufgrund einer veränderten Kulturlandschaft […] Mit anderen 27 Trotz wiederkehrenden Hinweisen auf psychologische und psychoanalytische Konzepte.
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Worten: Modifikationen des Habitus werden von außen angeschoben, so dass nicht einsichtig wird, welche Aktivitäts- und Freiheitsspielräume den Akteuren dabei zukommen sollen.“ (Beer 2007: S. 138)
Handlungsfreiheit besteht dann nur innerhalb eines begrenzten Habitus, seiner Wahrnehmungs- und Praxismöglichkeiten. Wandel und Eigensinn werden bei Bourdieu nicht klar, sein Augenmerk richtet sich auf die Reproduktion von Feldern. Ein Wandel nur durch die Felder, die sich aus internen oder externen Gründen transformieren können, degradiert die Akteure zu Charaktermasken, die sich allenfalls gut oder schlecht den neuen Feldbedingungen anpassen. Auch dass der Habitus als offenes Dispositionssystem gedacht ist und daher dynamisch und nicht statisch ist, ist nur ein schwaches Argument. Ideologie(kritik) Bourdieu verfällt wiederkehrend in das Schema einer hintergründig waltenden Welt, deren Schleier es zu zerreißen gilt, wozu allerdings nicht die Akteure, sondern nur der kritische Sozialwissenschaftler, von einem autonomen Standpunkt aus, in der Lage ist. (Vgl. Celikates 2009: S. 60–75) Der Habitus ist der leibliche Träger der Ideologie. Zwar vermeidet Bourdieu den Begriff der Ideologie und kritisiert ihn als zu kognitiv, gleichzeitig betreibt er Sozialwissenschaft als Kritik an den Anerkennungen und Verkennungen der sozialen Welt, welche die symbolische Ordnung konstituieren, und fügt damit ein eigenes Ideologiekonzept ein, bei dem er selber den Überblick für sich reklamiert.28 Da der Habitus als Speicherung, Naturalisierung und Praxisanweisung fungiert, ist es schwer, Ideologie darin genau zu lokalisieren. Allerdings wird klar, dass Ideologie sich bei Bourdieu von einer Sache des falschen Bewusstseins zu einer Sache der falschen Praxis wandelt, ohne Berücksichtigung einer hintergründigen Ethik von richtig und falsch. Da Bourdieu Bewusstsein und Sein als dualistisches Modell ablehnt und stattdessen eine Praxis beobachtet, kann Ideologie nur falsche Praxis bzw. eine falsche symbolische Ordnung der Welt sein. Ohne eine ethische Auseinandersetzung kann er dem aber keine richtige Ordnung der Welt entgegensetzen und ohne eine Konzeption des Subjekts kann er keine Ethik entwickeln. Daher kann er seine ethischen Hintergrundannahmen nur polemisch verteidigen. Ähnlich wie beim Marx des „Kapitals“ entwickelt Bourdieu eine Ideologietheorie, in der unsichtbare Machtstrukturen aufgedeckt werden sollen, er verzichtet je28 Er kritisiert die marxistische Ideologiekritik als Immunisierungsstrategie gegen Kritik, in der immer nur die anderen ideologisch verblendet seien, und gleichzeitig wendet er diesen Trick mit seiner eigenen Ideologiekritik wieder an, ohne sie so zu nennen, was den Effekt noch verstärkt.
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doch gleichzeitig darauf, eine subjekttheoretische Analyse der Entfremdung vorzunehmen, wie Marx es in seinen Vorarbeiten in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ tut und die implizit noch im „Kapital“ verhandelt werden. Bourdieu fordert hingegen eine schonungslose Sozio-Selbstanalyse, in der die eigenen sozialen Bedingungen beständig hinterfragt werden, um die Handlungsspielräume des Habitus zu erweitern. Habitus Bourdieu benutzt sein Habituskonzept als Universalkategorie für alle Vorgänge der Tiefenstruktur. Dadurch erscheint, aus objektivistischer Perspektive, Inkorporierung, Naturalisierung und Praxisanweisung verständlich. Bei genauem Hinsehen übergeht Bourdieu aber eine Subjektanalyse und verpackt die darin enthaltenen theoretischen Probleme im Habituskonzept: Daraus resultiert dann auch seine Reduktion des Individuums auf Gesellschaft. (Vgl. Schwingel 2011: S. 64–65) Er kann daher keinen idiosynkratrischen Einfluss der Individuen auf Gesellschaft ausarbeiten, außer den Einfluss von Eigenschaften, den der Habitus bereits aus anderen Feldern erworben hat, eine kreative Entwicklung des Habitus z. B. aus Bewusstseinsvorgängen ist nicht möglich. Das Subjektive im Habitus gerät zum ausschließlichen Resultat der objektiven Sozialisation durch die Felder: „Der Habitus ist [daher bloß, J. W.] sozialisierte Subjektivität.“ (Bourdieu/Wacquant 1996b: S. 159) Bourdieu erarbeitet qualitativ und quantitativ die Dialektik von Feld und Habitus, ohne jedoch auf der Seite des Habitus weiter in die Tiefe zu gehen, auch wenn der Habitus als „innere generative Tiefenstruktur“ (Fröhlich 1999: S. 100) bezeichnet werden kann. An diesem Punkt bleibt er stehen: Die Frage, wie der Habitus aber in das Individuum einwandert, wie er zur inkorporierten sozialen Geschichte wird, erklärt er nicht ausreichend. Einverleibung bzw. Inkorporation dienen als Brückenbegriff, können den eigentlichen Vorgang aber nicht greifen, was Bourdieu selber erkennt und daher eine „strukturale Sozialpsychologie“ (Bourdieu 2011: S. 87) fordert. So dringt er, trotz seiner Nähe zur Psychoanalyse, hier nicht weiter vor, was er für seinen Ansatz im Sinne einer arbeitsteiligen Analyse menschlicher Praxis auch nicht unbedingt tun muss. Damit muss er aber den Anspruch aufgeben, eine Theorie zu entwickeln, welche menschliche Praxis alleine erfassen kann. An den entscheidenden Stellen, an denen die Analyse der subjektiven Struktur anzusetzen hätte, verweist er auf psychoanalytische Modelle. So kann der Habitus als „‚Kompromissbildung‘ (im Freud’schen Sinn) beschrieben werden.“ (Bourdieu 2001b: S. 211) Wie das allerdings genau aussehen soll, beschreibt Bourdieu nicht. Das Habituskonzept setzt aber eine psychoanalytische oder psychologische Fundierung voraus, da es erst unter Einbezug psychologischer/psychoanalytischer Komponenten aussagestark wird, wie auch Vera King bemerkt:
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„Dafür erscheint in einigen Hinsichten eine präzisere Sichtweise auf die Genese und Dynamik individueller Dispositionen notwendig, als es ein mitunter schematisch angewandtes Habituskonzept zulässt. Das Verhältnis von Habitus und Psyche kann genauer und systematischer gefasst respektive die im Kontext der Habitusbildung stattfindenden Prozesse der Verinnerlichung, der Interiorisierung oder Inkorperierung können – mit Bezug auf psychische Entwicklung und Dynamik – genauer beschrieben werden (etwa hinsichtlich der Bedeutung von Identifizierungen, von zentralen Beziehungen, Emotionen und Qualitäten von Interaktionserfahrungen im Prozess des Aufwachsens).“ (King 2014: S. 23)
Denn was Bourdieu mit dem Konzept des Habitus aus den Augen verliert, ist eine wie auch immer geartete innere Natur, die das theoretische Dilemma eines subjektlosen selbstreferenziellen Habitus lösen könnte. Mit der Ausblendung von innerer Natur in der individuellen Subjektivität blendet Bourdieu gleichzeitig das Problem nach der Frage menschlicher Freiheit aus und damit auch die Frage nach Emanzipation. Der Habitus interessiert Bourdieu in seiner Regelhaftigkeit, allerdings nicht in seiner individuellen kreativen Abweichung: Individuelles Verhalten ist für ihn nicht von Belang. (Vgl. Knoblauch 2003) Bourdieu vergisst darüber hinaus, die objektive Analyse wieder an die subjektive rückzukoppeln, um ein kohärentes Gesamtbild zu erhalten. Zur Analyse menschlicher Praxis gehört die Objekt- und die Subjektseite, die beide aufeinander bezogen werden müssen, wie Loïc Wacquant in Bezug zu Bourdieu treffend bemerkt: „Die Tatsache, daß sie kontinuierlich unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen leben, schlägt sich in den Individuen als ein Ensemble von dauerhaften und übertragbaren Dispositionen nieder. Diese sind die verinnerlichte Notwendigkeit ihrer sozialen Umwelt und die Gestalt, in der die strukturierte Trägheit und die Zwänge der äußeren Realität in ihren Organismus eingehen. Sind aber die Strukturen der Objektivität zweiter Ordnung (der Habitus) die inkorporierte Version der Strukturen erster Ordnung, dann findet die Analyse der objektiven Strukturen ihre logische Fortsetzung in der Analyse der subjektiven Dispositionen und hebt damit die falsche Antinomie auf, die gewöhnlich zwischen Soziologie und Sozialpsychologie hergestellt wird […] Eine adäquate Wissenschaft von der Gesellschaft muß daher zugleich die objektiven Regelmäßigkeiten und jenen Prozeß der Verinnerlichung der Objektivität umfassen, aus dem die von den Akteuren in ihrer Praxis angewandten überindividuellen und unbewußten Aufteilungsprinzipien hervorgehen.“ (Wacquant 1996: S. 32)
Bourdieu gebraucht sein Habituskonzept, um seine gesamte Theorie zu plausibilisieren, und er benutzt es, um theoretische Widersprüche zu verpacken und damit zu invisibilisieren. So verzichtet er auf tiefenstrukturelle (psychoanalytische) Analysen. Damit wird der Habitus bei ihm zur unantastbaren Dreifaltigkeit seiner Soziologie: Speicherung, Naturalisierung und Praxisanweisung in einem. In dieser Funktion immunisiert sich das Konzept gegen Kritik, da alle psychischen und somati-
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schen Vorgänge unter einem Begriff subsumiert werden können. Damit geht die innere Natur in der Feld-Habitus-Dialektik unter. Feingliedriger würde das Habituskonzept unter der Berücksichtigung einer inneren Natur werden. Mit dem Habitus erklärt Bourdieu die Reproduktion der sozialen Strukturen. Devianz, Widerstand und idiosynkratrische Verhaltensweisen interessieren ihn wenig. So gibt er zwar an, dass es etwas wie einen „spezifische[n] Sinn der Organismen“ (Bourdieu 1993: S. 193) wohl gibt, führt dies aber nicht weiter aus, was in Anbetracht relationaler Sichtweisen konsequent ist. Daher legt Bourdieu auch keine explizite Theorie der Habitualisierung vor. (Vgl. Liebau 1987; Cicourel 1993) Entfremdung bei Bourdieu Bourdieu kann Entfremdung aus einer objektiven Strukturanalyse deutlich machen, auch wenn er zumeist den Terminus Leid oder „gespaltener“ (Bourdieu/Wacquant 1996b: S. 161) bzw. „zerrissener“ (Bourdieu 2002b: S. 113) Habitus verwendet. Bourdieu beschreibt die inneren Widersprüche eines „Habitus clivé“ (Bourdieu zit. nach Krais/Gebauer 2002: S. 72): „Wenn es richtig ist, dass der Habitus eines Menschen geformt und geprägt wird durch die sozialen Verhältnisse, in denen sie oder er in der Gesellschaft als handelndes Subjekt hineinwächst, dann ist anzunehmen, jedenfalls für die moderne Gesellschaft, dass die Habitusprägenden Erfahrungen der Heranwachsenden durchaus heterogen und widersprüchlich sind und sich nicht bruchlos oder gar harmonisch ineinander fügen. Mit der Komplexität ihrer Strukturen und Kriterien sozialer Differenzierung legt die moderne Gesellschaft – anders als eine traditionale Gesellschaft wie die der Kabylen – zugleich Sprengsätze im Habitus der Subjekte an, Konflikte zwischen unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen und Verhaltensweisen, die die Selbstverständlichkeit der Praxen immer wieder ein Stück in Frage zu stellen vermögen.“ (Ebd.: S. 72)
Leider wird auch hier nicht klar, von was sich der Habitus gespalten hat, außer von sich selbst, durch das Leben in verschiedenen Feldern. Weitergehend gibt Bourdieu an, dass er an eine emanzipative Wirkung des gespaltenen Habitus glaubt, der durch Irritation die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage stellen kann. Dennoch bleibt Entfremdung für Bourdieu ein Randterminus, der nicht systematisch verwendet wird. Er legt dementsprechend keine eigene Entfremdungstheorie vor: Das Denken in Relationen verunmöglicht es ohnehin, Entfremdung an den Subjekten ansetzen zu lassen. Einen Zugang zu Entfremdung gewinnt Bourdieu nur über die Betrachtung der Objektseite. Aus dieser Perspektive ist Entfremdung eine praktische Entfernung von den realen Verhältnissen: Die Doxa des Feldes verschleiert die objektiven Strukturen und damit die symbolische Herrschaft. Das Körperwissen der Akteure kann von diesen nicht artikuliert werden (im Gegensatz zu den kritischen Soziologen, die nicht über das geeignete Körperwissen verfügen,
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aber dieses artikulieren können) und daher entfremden sie von den realen Verhältnissen. Die Folgen sind Apathie und Indifferenz: Entfremdung ist hier aus der Bourdieu’schen Variante von Ideologie, der Doxa, abgeleitet, die sich aus objektiven Analysen ergibt. Eine zweite Annäherungsweise an ein Entfremdungsverständnis bei Bourdieu ist der gespaltene Habitus in Folge der Hysteresis: Habitus und Feld geraten in ein Ungleichheitsverhältnis durch räumliche oder zeitliche Verschiebungen des Habitus (biographische Veränderung, Altern usw.) oder des Feldes (Veränderung als Resultat von Klassenkämpfen, Fusion mit einem anderen Feld usw.). Bourdieu extrapoliert soziales Leid aus dem Auseinanderdriften von einem alten und einem neuen Habitus. Damit bekommt er allerdings reale Verhältnisse, die in der Tiefenstruktur des Habitus verankert sind, nicht in den Blick. Soziales Leid reduziert sich auf Anpassungsprobleme und den Mangel an Ausdrucksmöglichkeiten. Bourdieu kann sich Entfremdung daher nur auf der Objektseite, nicht aber auf der Subjektseite annähern. Er reflektiert gerade nicht auf den Eigensinn der Subjekte, wie er vorgibt. Denn der Akteur reagiert mitunter eigensinnig über das Inkorporierte der Felder hinaus. Dass es eine mentale und körperliche Eigensinnigkeit von Handlungen jenseits des Habitus gibt, ist mit der Theorie von Alfred Lorenzer sinnvoller zu beantworten. So lässt sich mit Bourdieu soziale Regelmäßigkeit und Reproduktion durch objektive Feldstrukturen erklären und mit Lorenzer die Eigensinnigkeit und das nichtidentische Verhalten der Subjekte gegenüber dem Feld. 2.1.9 Habitus ohne Eigensinn? Geburtshelfer des Habitusbegriffs bei Bourdieu ist ein Paradox. Dieses entsteht aus der Beobachtung, dass das Verhalten der Akteure immer wieder von ihrem Bewusstsein abweicht, sie verfolgen Ziele, die sie sich teilweise gar nicht gesteckt haben: „Verhalten kann auf Ziele gerichtet sein, ohne bewusst auf sie hinorientiert, durch sie geleitet zu sein. Der Begriff des Habitus ist erfunden worden, wenn ich so sagen darf, um diesem Paradox gerecht zu werden.“ (Bourdieu et al. 1986: S. 150) Die Antwort auf die Frage, warum Akteure handeln, ist für ihn nur in Bezug zum spezifischen Feld sinnvoll beantwortbar, denn „zwischen den Akteuren und der sozialen Welt herrscht ein Verhältnis des vorbewussten, vorsprachlichen Einverständnisses“ und weiter: „Die Akteure wenden in ihrer Praxis ständig Thesen an, die als solche gar nicht aufgestellt werden. […] Was für ein höchst sonderbares Verhältnis zur sozialen oder zur natürlichen Welt ist das also, in dem die Akteure nach Zielen streben, die sie sich gar nicht zum Ziel setzen?“ (Bourdieu 1998b: S. 144)
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Im Habitus ist daher ein Paradox eingeschweißt, welches mit einer Analyse der Erzeugungsmodi von Praxis gelöst werden soll. An dieser Stelle bedarf es aber nicht nur einer praxeologischen Beobachtung der Praxis und der Analyse des Feldes, sondern auch einer Analyse der nicht-bewussten Intentionen, wie sie mit Alfred Lorenzer zu leisten wäre. Denn bei Bourdieu fehlt die genaue Analyse einer nichtbewussten Intention bzw. sozialen Libido, die sich aus einem undifferenzierten Trieb ergibt. Dessen ist sich Bourdieu bewusst und er fordert sogar die Analyse der Tiefenstruktur von der Soziologie ein: „Eine der Aufgaben der Soziologie besteht darin, zu bestimmen, wie die soziale Welt aus der biologischen libido, dem undifferenzierten Trieb, die soziale, spezifische libidio macht. Es gibt nämlich ebenso viele libido, wie es Felder gibt: Ist doch die Arbeit der Sozialisation der libido genau das, wodurch Triebe in spezifische Interessen verwandelt werden, in sozial begründete Interessen, die nur im Zusammenhang mit einem sozialen Raum existieren, in dem bestimmte Dinge wichtig und andere gleichgültig sind, und auch nur für Akteure, die so sozialisiert, so konstituiert sind, daß sie die Unterschiede, die den objektiven Unterschieden in diesem Raum entsprechen, auch tatsächlich machen.“ (Ebd.: S. 143)
Die Beweggründe menschlichen Handelns verortet Bourdieu daher in letzter Begründung in der Formung dieses sozialen Triebs bzw. dieser sozialen Libido. Diese klare Forderung, nach den Bedingungen der Umwandlung von biologischer in spezifische Libido zu suchen, löst Bourdieu selber nicht ein. Allerdings wäre diese Analyse umso wichtiger, um Vorwürfe eines heimlichen Utilitarismus und Ökonomismus zu entkräften.29 Nur mit einer Tiefenbegründung des Habitus lässt sich gegen die utilitaristische Variante des rational entscheidenden Subjekts einerseits und gegen das nur gewinnorientiert handelnde Wesen andererseits argumentieren. Wird die Tiefenstruktur der Intention menschlicher Praxis nicht analysiert, müssen die Beweggründe letztlich doch wieder utilitaristisch begründet werden. Was Bourdieu auch tut, denn für ihn ist jede Handlung bewusst oder unbewusst als Investition mit der Hoffnung auf eine bessere Position im Feld und damit einen Aufstieg in der Klassenmatrix begründet. Bourdieu treibt sich selber in diese theoretische Enge, weil er mit dem Konzept einer letztlich selbstreferenziellen HabitusFeld-Dialektik keinen anderen Antriebsmodus sozialen Handelns denken kann. Die soziale Welt wird daher bei Bourdieu tendenziell auf Herrschaft und Konkurrenz reduziert. (Vgl. Dreyfus/Rabinow 1993) Ergänzt man allerdings die nahezu unendliche Plastizität des Leibes bei Bourdieu um einen unhintergehbaren Rest – ein Ein-
29 Zum Beispiel mehrfach erhoben von Axel Honneth im Gespräch mit Pierre Bourdieu, Hermann Kocyba, Bernd Schwibs. (Vgl. Bourdieu et al. 1986)
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gedenken innerer Natur in die Dialektik menschlicher Entwicklung – dann wird Interesse, (soziale) Libido und der praktische Sinn im Feld psychoanalytisch fundiert. Mit einer solchen Theorie kann stärker deutlich gemacht werden, wie der gesellschaftlich hergestellte Trieb, die soziale Libido, handlungsanleitend wird, ohne in ökonomistische und utilitaristische Kurzschlüsse zu geraten. Dialektik setzt Differenz voraus, die mit Lorenzers Theorie wesentlich expliziter wäre. Lorenzers Theorie der Interaktionsformen könnte hier helfen, das Subjekt zu verorten und die Dialektik zwischen Feld und Habitus in seine analytischen Einzelteile zu zerlegen. Eine tiefenstrukturelle Analyse des Habitus ist treffend mit der Theorie von Alfred Lorenzer zu leisten. Die blinden Flecken Bourdieus resultieren maßgeblich aus dem Überhang des Objektiven. Bourdieu verweist an einigen Stellen explizit auf psychoanalytische oder subjekttheoretische Ansatzpunkte, geht diesen allerdings nicht nach. Das Denken in Relationen eröffnet neue Perspektiven auf soziale Verhältnisse, die jedoch ohne die Bezugnahme auf die Eigensinnigkeit der Subjekte nur einen Teil menschlicher Praxis erklären können: Das eine kann nicht ohne das andere als eine Theorie menschlicher Praxis gedacht werden. Die Inkorporierung setzt in der Primärsozialisation ein. Wenn hier das Primat des Strukturerzeugenden durchgehalten werden soll, muss von Anfang an eine innere Natur mitgedacht werden. Mit dieser sind Abweichung, Widerstand und Veränderung zu integrieren. Diese Perspektive fehlt bei Bourdieu und ist mit Lorenzers Theorie auszugleichen. Es lässt sich deutlich machen, dass die erste Bezugsperson eines Kindes das Feld, gebrochen durch die eigene Sozialisation, an das Kind weitergibt. Daher ist der Mensch, der Habitus, nie deckungsgleich mit einem Feld oder bloß das Produkt einer Ansammlung von Feldern, sondern immer auch eigensinnig durch innere Natur: Dadurch erst werden Lust und Leid 30 plausibel.
2.2 LORENZER 2.2.1 Kritische Theorie des Subjekts Alfred Lorenzer und Klaus Horn entwickelten in den 1970er Jahren die Kritische Theorie des Subjekts. Ihr theoretischer Ausgangspunkt und gleichsam der aufzuhebende Zustand war subjektives Leid, das in einem psychoanalytischsozialpsychologischen Verfahren analysiert werden sollte, womit sich die Hoffnung einer Veränderung der Gesellschaft verband. Lorenzer reformulierte dafür die klassische Psychoanalyse Freuds mit einer gesellschaftskritischen Perspektive im Sinne 30 Und erst durch die Analyse von Lust und Leid lassen sich normativ-ethische Kategorien bilden.
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der Frankfurter Schule und entwickelte so eine Theorie der Interaktionsformen, die Psychoanalyse als kritisch-materialistische Gesellschaftstheorie lesbar machen sollte. War die Psychoanalyse in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg in weiten Teilen bloß eine therapeutische Psychotherapie, wurde sie in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren so auch mehr und mehr für die Sozialwissenschaften fruchtbar. Lorenzer arbeitete demzufolge an einer Verknüpfung von Sozialisationstheorie und Gesellschaftsanalyse, um Freud und Marx neu zusammenzudenken, nachdem die freudomarxistischen Diskurse der 1930er Jahre zum Erliegen gekommen waren. Er hielt dabei am Physiologen Freud fest, um die materiell-leibliche Verankerung der sozialen Praxis zu bewahren: „Eine geschichtsmaterialistische Lesart Freuds hat aber noch einen anderen dringenden Grund, am ‚Physiologen Freud‘ festzuhalten: Wir müssen auch in der Psychologie die idealistische Position überwinden und auf dem Boden eines materialistischen Praxisbegriffs kommen. Es geht darum, die Persönlichkeitsstruktur begründet zu sehen in der materiellen Auseinandersetzung des Menschen mit der ‚inneren Natur‘, die er ist.“ (Lorenzer 2002: S. 85–86)
Die dabei entstandene materialistische Sozialisationstheorie vermittelt handlungstheoretische, subjekttheoretische und gesellschaftstheoretische Aspekte. Lorenzer findet so einen theoretischen Zugang, um diese Punkte möglichst unverkürzt zu verbinden und Einseitigkeiten zu umgehen, wie etwa bei der Rollentheorie oder der Theorie des Sozialcharakters. Er begreift dementsprechend Subjektivität als sozial hergestellt im dialektischen Prozess aus innerer und äußerer Natur. In Lorenzers Metatheorie ist so das Verhältnis von Leib und Sozialität an die Stelle von deren verkürzenden Einzelbetrachtungen getreten. Er überwindet damit Freuds Biologismus einerseits und rein intersubjektivistische31 Ansätze andererseits: Damit aktualisierte er das Freud’sche Projekt einer Metapsychologie. Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft werden daher auch nicht in ihrer Begrenzung gedacht, sondern in ihrer Überwindung zu einer Theorie menschlicher Praxis, die Natur und Soziales als einen untrennbaren Zusammenhang beinhaltet. Die handlungsanleitende Struktur wird von Lorenzer auf zwei Ebenen thematisiert: einer bewussten und einer unbewussten, die beide für sich lebenspraktisch sind und deren Verknüpfungspunkt die Sprache ist. So kann Bewusstes unbewusst bzw. vorbewusst werden und umgekehrt kann Un- und Vorbewusstes sprachlich eingefangen werden. Eine kritische Theorie des Subjekts soll beide Ebenen und ihre Vermittlung analysieren.
31 Besonders diskutiert in der Debatte Whitebook/Honneth und dem Vermittlungsansatz Buschs. (Vgl. Busch 2003)
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2.2.2 Hermeneutik des Leibes Lorenzers Metamethodologie einer Kritischen Theorie des Subjekts zur Analyse beider praxisgebenden Sinnstrukturen ist die Hermeneutik des Leibes: „Der Mensch als ein von zwei Sinnstrukturen bestimmtes Wesen, das ist der entscheidende Beitrag der Psychoanalyse zur Anthropologie. […] Die Lebensentwürfe des Unbewußten aber, das sind jene Einheiten von Körperfunktion, Körpergestalt und leiblich-basalen Sehnsüchten, die wir Triebwünsche nennen. Im Blick auf diese lebensursprünglichen Wünsche erweist sich Psychoanalyse als ‚Naturwissenschaft‘ oder, methodologisch genauer ausgewiesen, als Hermeneutik des Leibes.“ (Lorenzer 2002: S. 224–225)
Diese Hermeneutik des Leibes ist Lorenzers Antwort auf die Frage, ob Psychoanalyse eine Naturwissenschaft oder eine Kulturwissenschaft sei: „Indem Freud an der naturwissenschaftlichen Ausrichtung unnachsichtig festhielt, hob er auf eine lautlose, aber folgenreiche Weise die Grenze zwischen Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften auf, stiftete er das neue Paradigma einer Wissenschaft, die man mit dem Titel einer ‚Hermeneutik des Leibes‘ versehen kann.“ (Ebd.: S. 59)
Lorenzer verweist darauf, dass die Psychoanalyse von Beginn an naturwissenschaftlich gedacht wurde und idealerweise physikalisch-physiologisch bestimmt werden sollte. (Vgl. ebd.: S. 201–229) Für Lorenzer war daher klar, dass „[…] im Triebbegriff die Sozialität der menschlichen Persönlichkeit in der Tiefe des Körpers verankert wird.“ (Ebd.: S. 132) Der psychoanalytische Gegenstand war allerdings bereits für Freud nur schwer mit herkömmlichen naturwissenschaftlichen Methoden greifbar, wodurch nur eine hermeneutische Methode in Frage kam, um das Verhältnis Arzt – Patient zu deuten und zu dechiffrieren. Die Spuren der Lebensgeschichte, die sich im Leib verewigt haben, sollen so durch das Herstellen einer Beziehung (zwischen Analytiker und Analysand) sichtbar gemacht werden. Lorenzer nennt das „szenisches Verstehen“. Mit diesem Festhalten an der Freud’schen Verschränkung von psychologischen und physiologischen Momenten stellt sich Lorenzer auch gegen Habermas’ Befund, der Freud ein „szientifstisches Selbstmißverständnis“ (Habermas 1973: S. 300) vorwirft, und reklamierte im Gegenteil eine unauflösliche Einheit von Natur und Sozialität im Leib. Diese sei daher gleichzeitig natur- wie sozialwissenschaftlich zu betrachten. Eine Einzelbetrachtung in der einen oder anderen Disziplin hätte eine Verkürzung zur Folge: Lorenzer entwickelte daher, von der Metapsychologie ausgehend, eine hermeneutische Naturwissenschaft von Kultur und Natur. Diese konsequente Verschränkung ist nicht zuletzt Folge einer materialistischen Herange-
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hensweise in Bezug auf Marx und dessen Ausarbeitung bei Alfred Schmidt. (Vgl. Görlich 2003: S. 26) Darin war auch immer schon ein Widerstandspotential von innerer Natur mitgedacht, die sich nicht vollständig durch gesellschaftliche Strukturen assimilieren lässt. Der Trieb wird in Lorenzers Theorie endgültig aus seiner gesellschaftsunabhängigen biologistischen Verankerung gelöst und als Interaktionsform sozialwissenschaftlich umgedeutet. Lorenzer bewahrt so das leiblich-körperliche Triebkonzept, aber als sozialisierte innere Natur, die das Unbewusste als eigenständige Sinnstruktur strukturiert. Diese erste unbewusste Sinnstruktur ist durch die frühen sinnlichunmittelbaren Interaktionsformen gekennzeichnet. Da das Soziale menschliche Natur ist und das Natürliche sozial, müssen auch die Begriffe einer Theorie der Interaktionsform beide Bereiche übergreifend beschreiben können. Lorenzer rekonstruierte daher die Freud’sche Metapsychologie als Hermeneutik des Leibes auch, um begriffliche Sackgassen zu überwinden, die durch die Trennung von Kultur- und Naturbetrachtung hervorgetreten waren. „Die beiden nicht aufeinander reduzierbaren Erkenntnisperspektiven, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, überschneiden sich in den metapsychologischen Begriffen. Die frappierende Eigenheit der entscheidenden metapsychologischen Begriffsfiguren ist, daß sie sowohl eine beziehungspsychologisch-sozialwissenschaftliche wie auch eine naturwissenschaftlichphysiologische Bedeutung haben und in beiden Richtungen lesbar sind.“ (Ebd.: S. 59)
Damit fällt auch die Diskussion um soziale Eigenschaften als angeborene oder erworbene in sich zusammen: „So stellt sich uns die Alternative ‚anlagebestimmt oder sozial bestimmt‘ längst nicht mehr. Die Gleichsetzung von ‚vererbt und angeboren‘ ist angesichts der sozialen Prozesse, die erkennbar in der intrauterinen Entwicklung schon sich abzeichnen, nicht mehr haltbar. Andererseits ist auch in unserer Sicht der Leib keine bloße Wachstafel, in der sich die sozialen Figuren einschreiben. Unsere Rede von der Einzeichnung der Szenen in Erinnerungsspuren, die sich im Körper niederschlagen, war stets zu ergänzen um den Zusatz: Die soziale Einwirkung, zwischen der Körperlichkeit und der Sozialität des Menschen.“ (Lorenzer 2002: S. 131)
Das Anwenden individual-psychoanalytischer Begriffe auf gesellschaftliche Phänomene war für Lorenzer dementsprechend zu reduktionistisch. Darüber hinaus strebt er eine Rekonstruktion an, in der Psychoanalyse im Spannungsfeld einer nicht-szientistischen Naturwissenschaft und einer Sozialwissenschaft bestehen bleibt und somit zum Gelenk zwischen beiden wird. Dafür war es notwendig, die Psychoanalyse sprach- und symboltheoretisch umzuformulieren, ohne dabei den
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Leib zu vergessen oder ihn gar in Sprache und Symbolen32 vollends aufgehen zu lassen. Festzuhalten bleibt: Lorenzer rekonstruiert die Freud’sche Metapsychologie, um die starren sozialwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Methoden in einer Hermeneutik des Leibes aufzulösen. Der Leib wird bei Lorenzer zum zentralen Erkenntnisgegenstand, der weder allein sozialwissenschaftlich noch naturwissenschaftlich zu fassen ist. Er konzipiert die Metapsychologie gewissermaßen in einer Konnexion von linguistic und body turn. Das Konzept des Leibes überwindet die Trennung von Bewusstsein (linguistic) und Sein (body), Psyche und Körper oder, wie Lorenzer es ausdrückt: von „sinn-stiftende(m) Bewußtsein“ und „sinnlose(r) Natur.“ (Ebd.: S. 211) Konkret wird die Hermeneutik des Leibes als theoretischer Überbau der materialistischen Sozialisationstheorie. 2.2.3 Materialistische Sozialisationstheorie Lorenzer entwickelte eine materialistische Sozialisationstheorie, in der ein psychoanalytischer Subjektivismus und ein soziologistischer Objektivismus überwunden werden sollen. Lorenzer nennt als Beispiele für idealistisch-subjektivistische Annahmen die Theorien Piagets und Chomskys. Kritik an strukturalistischobjektivistischen Theorien übt er an Althussers Marxrezeption. (Vgl. Lorenzer 1981: S. 8) Die Analyse menschlicher Praxis und Geschichte ist demnach für Lorenzer nur unter der Berücksichtigung äußerer wie innerer Natur als materielle Substanz zu gewährleisten, ohne idealistische Vorannahmen über eine Natur des Menschen. Subjektivität aus der Perspektive einer Kritischen Theorie des Subjekts ist daher nur als eine in den Leib eingeschriebene Dialektik aus inneren Anlagen und Gesellschaft zu begreifen: „In dieser Arbeit [Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, J. W.] soll gezeigt werden, daß es keinen Ansatz von Subjektivität außerhalb der praktischen Dialektik der Auseinandersetzung des ‚Gesamtarbeiters‘ mit äußerer Natur wie auch innerer Natur (des Kindes) gibt und daß das Subjekt in ‚materiellen‘ Prozeßschritten aus eben dieser Dialektik herauswächst. Subjektivität ist voll und ganz auf objektive Bedingungen zurückzuführen. […] Wie wird die ‚innere Natur‘ des Kindes so in menschliche Praxis eingefädelt, daß kindliche Entwicklung in vollem Umfang zugleich als Naturgeschichte wie auch als soziale Bildungsgeschichte aufgrund objektiver politisch-ökonomischer Prozesse gelesen werden kann, ohne an irgendeiner Stelle vorgegebene, geschichtsunabhängige subjektive Kompetenzen und Strukturen unterstellen zu müssen“ (Lorenzer 1972: S. 10–11)?
32 Wie es im Zuge des linguistic turn teilweise der Fall war.
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Das Herz dieser materialistischen Sozialisationstheorie ist die Neufassung des Triebes als Ensemble von Interaktionsformen. Diese sind zu verstehen als die Synthese aus der Dialektik von Anlagen und gesellschaftlichen Bedingungen. Das Subjekt ist für Lorenzer immer in die Geschichte, die herrschende Gesellschaftskonstitution, eingeflochten. Gesellschaft ist dabei aber nicht etwas Fremdes über dem Subjekt Stehendes, sondern schreibt sich in Auseinandersetzung mit den Anlagen materiell in den Leib ein und bildet so den menschlichen Organismus: „[…] erstens wird das sich einspielende Funktionieren in einem unablässigen Bau-, Umbauund Abbauprozess zur festen Gestalt, dem Organismus. Der Organismus ist nichts anderes als ein Funktionsspiel in langsamen Verlaufsformen bei zunehmender Festlegung zur Gestalt; zweitens aber stehen sich im Funktionsspiel erbgenetischer Anlageplan und Umwelteinwirkungen nicht als starre Faktoren gegenüber. Der Wechselprozess ‚vermittelt‘ beide Positionen in einem flüssigen Bildungsprozess, dessen Grundgesetz lautet: Die ‚Anlage‘ ist ein Set von Möglichkeiten, die nicht nur im Wechselprozess Schritt für Schritt verwirklicht werden, sondern ihrerseits in diesem Wechselprozess einem gegenseitigen Anpassungsprozess unterworfen werden, um so Schritt für Schritt verwirklicht zu werden zu einem Netz von Funktionsspielen. Aus diesen Funktionsspielen geht dann die organismische Gestalt hervor. Funktion und Bedürfnisbefriedigung gehören von Anfang an zusammen, das macht das Wesen des Triebes aus, wobei sofort anzufügen ist: Beides, Körperfunktion wie Bedürfnisbefriedigung, werden ‚in bestimmten Formen‘ (man kann sie auch Interaktionsformen nennen) zur ‚Erinnerungsspur‘. Der Trieb ist ein System von ‚Erinnerungsspuren‘, die als ‚Niederschlag‘ abgelaufener Ereignis- bzw. Erlebnisfolge die ‚innere Lebensgeschichte‘ von Anfang an ausmachen.“ (Lorenzer 2002: S. 220–221)
Die Interaktionsformen sind dementsprechend inkorporierte Praxismuster. Jede vergangene Interaktion schreibt sich in den Leib ein, verfestigt sich und wird Ausgangslage für das zukünftige Wahrnehmen, Denken und Handeln. Lorenzer fasst die Theorie der Interaktionsformen folglich in der Formel: (Ursprüngliche) „Interaktion (I) – Interaktionsform (If) – Interaktion (I)“ (Lorenzer 1981: S. 88) zusammen.33 Die Interaktionsformen sind weder bereits im Leib vorhanden noch bloße Übernahme der gesellschaftlichen Vorgaben. Sie bilden im Leib „eine soziale Struktur.“ (Ebd.: S. 60): „Die Triebwünsche sind also – psychophysische Grundmuster 33 An dieser Stelle wird auch deutlich, dass das Habituskonzept hier als Dreiteilung in Erscheinung tritt, die der impliziten Dreiteilung bei Bourdieu gleicht. Zunächst findet eine sinnliche Inkorporierung (Speicherung) statt, diese wird dann zur (zweiten) Natur und ermöglicht schließlich ein Ensemble von Praxismöglichkeiten. Der Habitus kann so in analytische Einzelteile zerlegt werden.
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Resultate der gesellschaftlichen Formbildung des Körpers.“ (Ebd.: S. 133)
Um die materialistische Perspektive innerer und äußerer Natur zu verschränken, muss Lorenzer für Psychoanalyse und Sozialisation einen gemeinsamen Begriffskanon finden, den er mit der Theorie der Interaktionsformen bereitstellt. Im Folgenden werde ich auf einzelne Aspekte, die für diese Arbeit wichtig sind, genauer eingehen, wie die Mutter-Kind-Dyade oder die Welt der Symbole. Abschließend beschreibe ich die Begriffe Symptom und Sprachschablone sowie die dritte Stufe der Vergesellschaftung. Mutter-Kind-Dyade Das primäre Beziehungsfeld zwischen erster Bezugsperson und Kind (von Lorenzer Mutter-Kind-Dyade genannt34) bildet die frühesten Interaktionsformen aus, auf die sich die gesamte spätere Entwicklung bezieht. Der Embryo und der Mutterleib bilden zunächst eine „totale Einheit“ (Lorenzer 1981: S. 85): „Die Aktionen und Reaktionsweisen der Mutter gehen bestimmend in das Zusammenspiel zwischen Embryo und mütterlichem Organismus ein, und dieses Zusammenspiel schlägt sich in seinen konkreten Einzelschritten nieder in sensomotorischen, organismischen Formeln. Jede ablaufende Interaktion prägt die Form der zukünftigen Interaktionen […]: Die Interaktion schlägt sich nieder in einer Interaktionsform.“ (Ebd.: S. 85–86)
Diese Einheit von Bezugsperson und Kind teilt sich nach der Geburt: Mutter und Kind entwickeln sich dann auseinander, trennen sich jedoch nicht vollständig voneinander ab, denn ein Wechselspiel tritt an die Stelle der ursprünglichen Einheit. Das heranwachsende Kind entwickelt infolgedessen seine Eigenständigkeit in Abhängigkeit zur Bezugsperson. Von Geburt an verlangt der Bedarf des Kindes nach Befriedigung. Die Interaktionsformen werden in dieser Befriedigungssuche gebildet und modifiziert. Das Kind erlernt verschiedene Interaktionen, um die Bedürfnisse der Realität entsprechend befriedigen zu können, es passt sich so an die objektiven Verhältnisse an und somatisiert diese. Mit jeder erlebten Interaktion wird daher das Muster zukünftiger Interaktionen geschrieben,35 organisiert nach den Parametern Lust und Unlust. So
34 Lorenzer verweist auf die Modellsituation der Mutter-Kind-Dyade, die stellvertretend für eine Konstellation zwischen dem Kind und einem primären Beziehungsobjekt steht, gleich ob Mutter, Vater etc. (Vgl. Lorenzer 1972: S. 26) 35 Lorenzer beschreibt das auch folgendermaßen: „[...] daß schon in der Welt der anorganischen Materialien, erst recht jedoch in der Welt der Organismen jede einzelne Bewegung
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entwickeln sich komplexere Interaktionsmuster, nach denen Bedürfnisbefriedigung strukturiert abläuft und sich durch Wiederholung verfestigt. Siegfried Zepf macht deutlich, dass Erfolg und Misserfolg des kindlichen Interagierens die Erfahrungen und damit die Praxisanweisung korrigieren: „Entstanden aus realem, vergangenem Interagieren stellen sie ein inneres, neuropsychologisches Modell des künftigen Interagierens dar, welches immer wieder durch praktische, am Erfolg und Mißerfolg orientierte Erfahrung korrigiert.“ (Zepf 1997: S. 44) Das Kind entwickelt dementsprechend eine je individuelle Art, sich auf die Welt zu beziehen und die eigenen Impulse mit den vorgezeichneten objektiven Strukturen (das Realitätsprinzip) in Einklang zu bringen. Es lernt so, seine subjektiven Belange in einer objektiven Umwelt zu befriedigen, wodurch sich aus dem unspezifischen Bedarf das spezifische Bedürfnis entwickelt: „Das Erleben baut auf dem sinnlichen Wechselspiel des Interagierens auf, ist Resultat eines realen Interaktionsspiels, wobei die sinnliche Erfahrung der Interaktionssituation Schritt für Schritt das sensomotorische organisierte Substrat des Erlebens verändert. Daraus folgt, daß jede abgelaufene Interaktion in die Struktur der Interaktionsformen eingeht, die als Erwartungsmodelle künftigen Interagierens fungieren. Der embryonale und frühkindliche Bedarf wird auf diese Weise zum spezifischen Bedürfnis geformt [...]. Die Verwandlung vom diffusen Körperbedarf in das spezifische Körperbedürfnis ist vielmehr vor allem Bildung von Erlebnisfiguren als Niederschlag real erlebter Szenen.“ (Lorenzer 1981: S. 86)
Die erlebten Szenen schlagen sich infolgedessen im Organismus nieder und die erfahrene Realität wird zur Erwartung an die Realität somatisiert. Das Kind entwickelt den sozial geformten Trieb (Interaktionsform). Dieser ist physiologisch in den Leib eingeschrieben und verfügt zunächst über keine Reflexionsform (Sprache) respektive kein Bewusstsein. Das Kind erwartet daher immer die Wiederholung der erlebten Szene, in der es Lust verspürte und bei deren Nichterfüllung es mit Wut, Aggression und Ablehnung reagiert. Die Situation wird vom Kind als ganze Szene wahrgenommen, ohne dass es die Bezugsperson oder andere Akteure dabei ausdifferenzieren kann: „Die Interaktion ist das primäre: Das szenische Zusammenspiel bildet die Grunderfahrung des Kindes, aus der sich allmählich erst die Akteure ausgliedern. […] Mama bedeutet die Situation als Ganzes, und zwar in ihrer doppelten Verflochtenheit als –
Interaktion, Miteinander von Mutter und Kind und
eines Wechselspiels ihre Spuren hinterläßt (das heißt, das Spiel beeinflußt), indem sie jeweils die Ausgangslage für die nächste Spielsituation festlegt.“ (Lorenzer 1981: S. 85)
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als Szene in ihrer sinnlichen Vielfältigkeit, als Ensemble von Sinneseindrücken.“ (Lorenzer 2002: S. 161)
Das Kind wird so in die Triebregulation eingeführt. Die abgelaufene Interaktion bestimmt seine Reiz-Reaktions-Verhaltensweise. Nach und nach entwickeln sich so komplexere Interaktionsmuster, denn die Interaktionsformen werden beständig geordnet, abgeglichen, summiert und aktualisiert. Die Erfahrungen von Lust und Unlust werden dementsprechend zum Antriebsmodus menschlicher Entwicklung, in dem sich individuelle Triebstrukturen einspielen: „Die lustvolle Befriedigung verlangt eine Beseitigung des Mangels in denjenigen Formen, die der eigenen Erwartung entsprechen.“ (Ebd.: S. 143) Hunger wird beispielsweise nicht durch geschmacklose Nahrung vollständig befriedigt, sondern durch spezifische Speisen. Die Interaktionsmatrix formt sich dementsprechend nach dem Muster von Befriedigung und Versagung: „Die, im Beginn noch organismische, Lebensgeschichte des Kindes ist ein Vorgang zunehmender Kanalisierung der kindlichen Bedürfnisse. Die Brechung oder, milder ausgedrückt, die Beeinflussung der originären Bedürfnisse nimmt einen Weg, bei dem jeder Schritt den nachfolgenden determiniert. Umsetzung dieser Wünsche in Realität verändert das Profil der Bedürfnisse und biegt so eine Entwicklungslinie zunehmender Formung der Körperbedürfnisse zurecht.“ (Lorenzer 1972: S. 33)
Die Unterscheidung zwischen einem natürlichen und einem sozialen Prozess wird damit unhaltbar, es gibt für Lorenzer nur einen Prozess menschlicher Praxis, in dem beide Bewegungen eingeschlossen sind. Damit wird auch klar, dass die Bezugsperson nicht Kultur über ein natürliches Kind stülpt oder das Kind einen rein naturwüchsigen Charakter entwickelt. Vielmehr ist festzuhalten, dass das Kind sich aus dem Wechselspiel von innerer Natur und äußerer Kultur entwickelt. Kultur wird dabei über die Bezugsperson und deren eigene Sozialisationsgeschichte vermittelt. Das Bilden der Interaktionsformen über die Bezugsperson (und ihre eigene Sozialisierung) und die Gegenstände (als Teil der kollektiven Praxis) sind daher „zugleich Sozialisation wie Individuation.“ (Lorenzer 2002: S. 181) Lorenzer beschreibt den Prozess der Triebbildung streng materialistisch. Das sinnlich-unmittelbare Spiel zwischen dem Kind und der Beziehungsperson wird zum Verhaltensentwurf, eingeschrieben in die Bereiche des Leibes, die für Motorik und Sensibilität verantwortlich sind. Die Welt der Bezugsperson (ihre eigene Lebensgeschichte aus innerer und äußerer Natur) tritt in die Welt des Kindes und wird dort, unter dem mütterlichen Primat, inkorporiert, daher ist das Kind auch kein Abdruck der Bezugsperson. Damit setzt der biogenetische Ausgangspunkt innerer Na-
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tur einen Widerstandspunkt, der sich bestimmten undialektischen36 Sozialisationsmustern verweigert: „Das Kind führt im Annehmen der mütterlichen Befriedigungsangebote – bewußtlos zunächst – seine Auseinandersetzung mit der inneren Natur. Die biologischen Bedürfnisse bilden den point de résistance im Kind.“ (Lorenzer 1972: S. 32–33) Nach den ersten leiblich-unmittelbaren Interaktionsformen in der Mutter-KindDyade beginnt das Kind mit der Aneignung der Welt. Es tritt so aus der MutterKind-Dyade heraus und in einen interaktionalen Kontakt mit anderen Personen und Objekten. Die Interaktionsformen, die aus der Interaktion mit der primären Bezugsperson entstanden sind, treffen auf neuere Interaktionen, die sich mit den alten verschränken. Das Kind formt von nun an aktiv die Umwelt, um darin seine Lust selbstständig realisieren zu können. Es tut dies, weil die unmittelbaren Interaktionsformen nicht beständig aktualisiert werden können, sondern diese in der Realität an ihre Grenze stoßen. So kann die Bezugsperson nicht beständig alle Interaktionen exakt wiederholen, um das Kind in der Mutter-Kind-Dyade zu belassen. Die Versagung durch die Bezugsperson drängt das Kind daher zur ersten Eigenaktivität. Die Welt der Symbole Die Versagung der Interaktionsformen drängt das Kind zur eigenständigen Inszenierung der Szene. Diese Inszenierung lässt sich aber nur unter der Zuhilfenahme von Symbolen bewerkstelligen. Wenn das Kind die Objekte der Welt zur bildlichen Reinszenierung der erfahrenen Szenen nutzt, markiert dies daher die ersten Symbolbildungen. In einer kreativen Aneignung ersetzt das Kind eine unmittelbarsinnliche Interaktionsform aus der Mutter-Kind-Dyade durch eine symbolische Interaktionsform. Lorenzer verweist zur Verdeutlichung auf das Garnrollenspiel als Beispiel. Hierbei ersetzt das Kind das Weggehen und Wiederkommen der Mutter symbolisch: „[D]ie Verschmelzung von ‚Interaktion mit der Mutter‘ und ‚Interaktion mit der Garnrolle‘ ergibt eine sinnlich-symbolische Interaktionsform.“ (Lorenzer 1981: S. 164) Die Angst vor dem Verlust der Mutter (die Verarbeitung des Weggehens) und die Affektarmut der vorgefundenen Situation lassen das Kind die Szene mit der Mutter symbolisch reinszenieren, um die Affekte, die es in der Originalszene erfahren hat, wiederzubeleben. Das Kind erweitert seine Eigenständigkeit durch den Eintritt in die Objektwelt. Die Objekte erweisen sich als widerständig und müssen vom Kind erst mit Leben erfüllt werden, es muss die Gegenstände bearbeiten und sich aneignen. Im Erleben 36 Mit undialektisch sind hier vor allem die Formungsmomente gemeint, die für den biogenetischen Apparat so überstrapazierend sind, dass es zu keiner synthetischen Einigung kommt.
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des Kindes findet so eine radikale Veränderung statt. Waren zunächst die Bezugspersonen das Primat der Interaktionsbildung (sie konnten über die Lust und Unlust nach Belieben entscheiden), kann das Kind nun Herr werden und sich mit den Dingen aktiv auseinandersetzen: „Im Umgang mit den Gegenständen fällt die situationsdominierende Aktivität nun durchaus dem Kinde zu, doch wird sein Verhalten auch weiterhin durch das Gegenüber – hier: den Gegenstand – geformt.“ (Ebd.: S. 155) Denn die Gegenstände verlangen eine ganz bestimmte Art und Weise, sich ihnen gegenüber zu verhalten. Das trifft auf die gemachten Dinge (Spielzeug, Kindersitze, Löffel etc.), aber auch auf Naturstoffe zu. So verlangt jedes Stück Holz bestimmte, ihm spezifische Arten, es zu greifen. Die Handhabbarmachung des Gegenstands bezeichnet Lorenzer als Aneignung: „Im aktiven Manipulieren des Gegenstandes gewinnt die Übernahme der Formen nun eindeutig den Charakter selbstständiger Aneignung […]. Indem die Verhaltensanweisung der Gegenstände befolgt, d.h. angeeignet wurden, betritt das Kind unmittelbar das Feld der kollektiven Praxis. Die verhaltensanweisende Form der Gegenstände ist überfamilial.“ (Ebd.: S. 156) Das Kind bekommt daher noch vor der Einführung der Sprache „einen ersten unmittelbaren Kontakt der Persönlichkeitsbildung mit dem Feld kollektiver Bedeutungen. Nicht nur Sprachfiguren, sondern auch Gegenstände fungieren als Träger kollektiv vereinbarter Bedeutungen, die in und mit den Gegenständen nun sinnlich-unmittelbar an das Kind herantreten.“ (Ebd.: S. 157) Diese so entwickelten sinnlich-symbolischen Interaktionsformen bilden die erste Persönlichkeitsstruktur, in ihr bilden sich Vorlieben und Abneigungen als symbolisches Muster, die im Laufe der Lebensgeschichte immer wieder eine Rolle spielen werden. Daher konstituieren die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen die erste Ich-Struktur. Diese Struktur steht den leiblich-unmittelbaren Interaktionsformen nah: „Die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen sind der Tiefenschicht, d.h. den Interaktionsformen und den daran gehefteten Emotionen unmittelbar ‚benachbart‘. Denn die sinnlichsymbolischen Interaktionsformen sind die erste Ich-Struktur, in der die Interaktionsformen organisiert werden zum Zweck der Selbstverfügung der Individuen. Das heißt aber auch, die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen stehen den leiblichen Prozessen entscheidend näher. Die sichtbaren, hörbaren, tastbaren schmeckbaren Eindrücke der sinnlich-symbolischen Interaktionsformen sind leibhaftige Szenen – das Soziale rückt uns hier näher auf den Leib.“ (Ebd.: S. 162)
Diese Symbolschicht kann dementsprechend im Laufe des Lebens auch in Tanz, Gestik, Musik, Ästhetik und Bewegung ihre Entsprechung finden. Sie bildet außerdem die Grundstruktur alltäglicher Gestik und nonverbaler Praxis.
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„Sie [die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen] bilden nicht von ungefähr das Terrain des Gestisch-Atmosphärischen, das die Basis sowohl menschlichen Zusammenlebens als auch der Arbeit – zumal kreativ-produktiver – ist. In der Liebe wie in der Arbeit umlagert das benennbare Handeln mit ausweisbaren strategischen Operationen ein ungleich größeres Feld von Gesten und szenischen Figuren, ohne die die intentionale Handlung dürr und leblos verliefe.“ (Ebd.: S. 162)
Die Symbole dieser Tiefenschicht nennt Lorenzer, in Bezug auf Susanne K. Langer, präsentative Symbole. Sie sind nonverbale Bedeutungsträger. In Freuds Topologie strukturiert diese erste Symbolschicht die Ebene des Vorbewussten. Die Aneignungen der Umwelt verleihen dem Kind somit seine erste Struktur der Persönlichkeit und seiner Subjektivität: „Der entscheidende Fortschritt der sinnlich-symbolischen Interaktionsformen gegenüber den vorsymbolischen Interaktionsformen besteht also darin, daß die Stufe der spielerischen Verfügung über die Abbildung von Situationen qua ‚Lebensentwürfen‘ erreicht wird. Die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen sind die erste Schicht dieser Subjektivität. Sie sind die Basisschicht der Subjektivität, die Grundlage von Identität und Autonomie und insofern die Schaltstelle der Persönlichkeitsbildung überhaupt.“ (Ebd.: S. 163)
Eine weitere Symbolschicht eignet sich das Kind mit dem Erlernen von Sprache an. Mit der verbalen Kommunikation wird die unbewusste Triebmatrix bzw. das Ensemble von Interaktionsformen mit Sprachsymbolen verknüpft. Mit dieser Verbindung entstehen sprachsymbolische Interaktionsformen. (Vgl. ebd.: S. 90) Dadurch werden die Interaktionsfiguren bzw. Praxisanweisungen bewusst zugänglich, es entsteht so eine „bewußte Praxisfigur.“ (Ebd.: S. 90) Diese Symbolschicht „lässt sich auch als zweite Organisationsform des Ichs begreifen.“ (König 2014: S. 61) Das Ensemble von Interaktionsformen (die Szene) wird dem Kind in Bezug zur Mutter mit dem Wort Mama lautbar gemacht. Das Kind tastet sich langsam an das Wort Mama heran und lernt es nachzuahmen. Es bildet sich ein erster Ansatz sprachlicher Kommunikation, die zur gestischen Kommunikation hinzutritt. Folglich verknüpfen sich im Leib physisch „Interaktionsengramm und Lautengramm.“ (Lorenzer 1981: S. 90)37
37 Die Einführung von Sprache über die bildliche Vorstellung wird auch durch zahlreiche Studien belegt, exemplarisch sei hier die Studie von Gabrielle Simock und Harlene Hayne (Hayne et al. 2015) zu erwähnen, nach der Zwei- bis Dreijährige doppelt so viele Ereignisse erinnern können, wenn sie diese nonverbal erklären.
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Von diesem ersten Schritt ausgehend vervielfältigt sich der Wortschatz des Kindes und immer mehr Situationen können adäquater benannt werden. 38 Die Situationen sind nun nicht mehr unmittelbar mit einer gestischen Anweisung verknüpft, sondern mittelbar über die Sprache. Mit sprachlichen Mitteln können Situationen so als Probehandlung durchgeführt werden. Mit den sprachsymbolischen Interaktionsformen eröffnen sich daher die Möglichkeiten der Reflexion, des Handlungsaufschubs oder des Handlungsverzichts: Praxis wird dementsprechend an Reflexion gekoppelt. Das Kind wird mit der Verknüpfung von unbewusst und bewusst in die Lage versetzt, die eigenen Handlungen und Neigungen zu versprachlichen und darüber autonom zu verfügen. Zukunft und Vergangenheit, geplante sowie die Erschaffung phantastischer Situationen werden so möglich. Sprachsymbolische Interaktionsformen sind somit die Grundbedingung der Reflexivität. Allerdings verknüpft sich der Sprachkomplex auch mit allen Normen, Tabus und spezifischen Handlungsanweisungen der Gesellschaft. Die Geschichte tritt so doppelt an das Kind heran: einmal über die kulturgeprägten Verhaltensweisen der Mutter und einmal über das kulturelle System der Sprache.39 Das Kind entwickelt folglich seine Persönlichkeit durch die Kultur (vermittelt über die primäre Bezugsperson) und danach, als eine zweite kulturprägende Instanz, durch die gegebenen Grenzen der sprachlichen Vernunft der jeweiligen gesellschaftlichen Normsysteme. Diese doppelsinnige Praxisintention bildet die Basis neurotischer Konflikte. Es werden nämlich nicht alle Praxisfiguren in Sprache eingebunden. Vor allem wenn Sprache und die Interaktionsmatrix im Konflikt stehen. Es kann daher dazu kommen, dass beide Sinnsysteme konträr handlungsanweisend sind. Die Sprache ist das Reich des Objektiven. Erst durch Sprache wird die Welt in einem logischen Symbolsystem mit anderen bewusst kommunizierbar. Wie aber be38 Die Verbindung von Sprachfigur und Praxisinhalten „ermöglicht es, daß wir denkend und mit Absicht auf eigenen wie fremden Befehl hin unseren Körper bewegen können und (worauf die Hypnosebeispiele Freuds schon so nachdrücklich aufmerksam gemacht haben) den Körper selbst zu verändern vermögen.“ (Lorenzer 2002: S. 182) Das Gleiche gilt auch umgekehrt: „Umgekehrt (zur Einwirkung der Sprache auf den Körper) bildet diese Verbindung die Brücke, auf der die tiefen Bedürfnisse ihren Einfluß auf Denken und Handeln ausüben und die Affektivität zum Motor der Lebensäußerung werden kann.“ (Ebd.: S. 182) 39 Selbst die Phantasie ist nach den Regeln der Sprache geordnet: „Noch klarer aber wird dieser Eindruck, zeigt sich die verhaltensbestimmende Funktion der Sprache dann, wenn aus dem generativen Spiel der Sprache mit den Elementen szenischen Erlebens, mit Erinnerungsspuren, fiktive Szenen, nie geschaute Welten zusammengebaut werden. Das Spiel der Vorstellungskraft findet dabei ja seine Grenze weniger an der Realitätsgerechtigkeit der Erinnerungsspuren als an den Gesetzen der Logik, die die Gesetze der sprachlichen Ordnung sind.“ (Lorenzer 2002: S. 187)
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schrieben, gelangen nicht alle subjektiven Interaktionsformen in das Reich des Objektiven, d. h., es können nicht alle Praxisfiguren mit Sprachfiguren verknüpft werden. Aufgrund der prinzipiellen Verschiedenheit und der Unmöglichkeit einer vollkommenen Deckung von Begriff und Sache ist es grundsätzlich nicht möglich, Sprache exakt nach dem Muster der Interaktionsformen zu gestalten, oder anders gesagt, Trieb und die Benennung der triebhaften Wünsche stimmen nie ganz überein. Die Sprache als objektives gesellschaftlich-historisches Konstrukt bietet nie die Vielfalt, um die frühesten Interaktionen zwischen Bezugsperson und Kind zum Ausdruck zu bringen. Praxis findet sich in zwei verschiedenen Sinnsystemen im Körper verfestigt: einmal bewusst als sprachsymbolische Interaktionsformen und einmal unbewusst als unverbalisierte Interaktionsformen. Dazwischen bevölkern die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen das Reich des Vorbewussten. Das Es (die sinnlich-unmittelbaren Interaktionsformen) besetzt so die Symbole und verleiht ihnen Bedeutung, wodurch sie für das Subjekt sinnvoll werden. Symbole sind aber nicht nur singuläre Bedeutungsträger, sie sind – im Idealfall – Kommunikationsträger, die von mehreren Gruppen oder ganzen Kulturen verstanden werden. Sinnliche Symbole oder Sprachsymbole bilden daher den Kontext, um sich auf sinnlicher oder sprachlicher Ebene über die Interaktionsformen auszutauschen. Darüber hinaus sind Symbole in der Regel an Funktionen gekoppelt. Ein Stuhl kann beispielsweise eine Bedeutung und gleichzeitig eine Funktion (man kann sich auf ihn setzen) aufweisen. Auch Sprachsymbole haben, in ihrem Kontext, immer eine Funktion. Praxis ohne Bewusstsein und Bewusstsein ohne Praxis: Symptom und Schablone Wie beschrieben, werden nicht alle Interaktionsformen in den Sprachkanon integriert. Einige, weil sie nie sprachlich verknüpft wurden, und andere, weil sie nachträglich desymbolisiert werden: Im letzteren Fall trennen sich das Sprachsymbol und die Interaktionsform im Konflikt wieder auf. Eine Praxisfigur ist daher entweder in einer Sprachfigur symbolisiert und damit bewusst zugänglich, nie im Sprachsystem integriert gewesen oder nachträglich wieder desymbolisiert worden. Im Falle der Desymbolisierung wird die geschlossene Verknüpfung von Körper und Geist bzw. Sinnlichkeit und Bewusstsein wieder gelöst. Die Interaktionsform wird dadurch aus dem Bewusstsein gedrängt und somit auf das frühkindliche ReizReaktions-Schema degradiert, wo sie als sogenanntes Klischee weiter wirksam ist. Interaktionsformen können daher aus dem Bewusstsein exkommuniziert werden. Das Klischee behält dabei aber seine dynamisch-energetische Relevanz. Das klischeehafte Handeln ist dadurch hintergründig wirksam, ohne dass es reflexiv werden kann: Die Triebenergie wird entsprechend ohne die Verzögerungs- und Reflexionsleistung, die sie durch die Symbolisierung vollziehen konnte, entladen. Der Beziehungscharakter des Klischees bleibt dabei bestehen, kann aber nicht mehr, wie
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bei der symbolischen Vermittlung, zwischen Subjekt und Objekt (eigen und fremd) unterscheiden. Weder die Selbst- noch die Fremdwahrnehmung können somit adäquat begriffen werden. Das Klischee führt folglich zu neurotischen Handlungen, die das Subjekt selber nicht begreift, so drängt das Klischee zur Wiederholung und tendiert zum Einschleifen (Wiederholungszwang). Alle Vorzüge der sprachsymbolischen Vermittlung gehen an dieser Stelle punktuell verloren, wodurch auch die subjektive Reflexionsfähigkeit verblasst. Selbsterfahrungspotentiale und Autonomie werden stark eingeschränkt. Das Verhalten folgt nicht mehr der Selbstverfügung, sondern den Imperativen der situativen Reize, auf die dann unkontrollierte Reaktionen folgen. Ohne szenischen Reiz aber bleibt die Reaktion aus. Das Klischee reagiert daher über die Köpfe der Betroffenen hinweg.40 Klischeehaftes Verhalten tritt meist jedoch vermischt mit symbolvermitteltem Verhalten auf. Was aber ist der Grund für die diese Desymbolisierung? Das Tabu, denn es nötigt den Triebwunsch, aus dem Bewusstsein zu schwinden. Freud hat diesen Vorgang Verdrängung genannt. Die herrschende Sprachordnung (und in ihr die Verhaltensordnung) bestimmt Wahrnehmung, Denken und Handeln. Einige Interaktionsformen geraten so in einen Konflikt und werden desymbolisiert. In einem „zweiten Akt der Desymbolisierung“ (Lorenzer 1981: S. 111) kommen diese Interaktionsformen, die verdrängten Triebwünsche, dann wieder zurück in einem „schlechten Kompromiß als Symptom.“ (Ebd.) Während in der gelungenen Einigung der sprachsymbolischen Interaktionsform Triebwunsch und gesellschaftliche Praxis vermittelt werden konnten, lässt sich im Symptom keine Einigung erzielen. Der Triebwunsch setzt sich daher ohne Reflexion durch. „Diese rücksichtslose Durchsetzung ist die Rache der unterdrückten Interaktionsformen, des unterdrückten Triebes an der sozialen Unterdrückung.“ (Ebd.) Der Triebwunsch kehrt somit nicht in seiner eigentlichen Gestalt, sondern in verfremdeter41 Form, zurück. Diese falschen Verhaltensmuster werden dann in sprachlich erlaubter Form zugelassen: „Dem Fehlverhalten des Symptoms entspricht die Fehldeutung der Rationalisie-
40 Die Hysterie ist ein Beispiel. Merkmal der Hysterie ist ein direkter reaktiver Umschlag des Reizes in eine unkontrollierbare somatische Reaktion. 41 Sogar als sein Gegenteil, wie Lorenzer beschreibt: „Der Wunsch muß geopfert werden, die wunschgerecht-glückliche Erfüllung muß sich in dessen unglücklichem Gegenbild verstecken: wie in der Charakterbildung, wo Verschwendungslust in Sparsamkeit, Spontanität in Ordnungsrituale verkehrt werden; wie in der Hysterie, wo Lusterfüllung in Frigidität (und zwar nicht nur körperliche), glückliche Vereinigung in isolierende Krankheit sich wenden; oder wie bei der Paranoia, welche die Selbstverwirklichung nur in der Einsamkeit einer von der Realität verlassenen Wahnwelt gestattet.“ (Lorenzer 1981: S. 112)
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rung. […] Fehlverhalten und falscher Name verschleiern gemeinsam den Konflikt und damit die ursprünglichen Wünsche.“ (Ebd.: S. 113) Da die Sprache einem Kohärenzzwang unterliegt, sie muss ja dem gesellschaftlichen Logos entsprechen, erhält das symptomatische Fehlverhalten in der Ersatzbefriedigung eine sprachliche Rationalisierung. So tritt zu dem Fehlverhalten (Symptom) ein falsches Bewusstsein (Sprachschablone) hinzu. Das Symptom verhärtet sich so mit dem falschen Bewusstsein und der Ersatzbefriedigung: „Der authentische Wunsch, die verdrängten Interaktionsformen dürfen nicht inhaltsgetreu realisiert werden in einer Interaktion. Sie müssen mit dem System bewußten Handelns einen Kompromiß bilden: Unter dem Druck der Klischees, d. h. der verdrängten, wieder unbewusst gewordenen Interaktionsformen, kommt es zu einer Ersatzbefriedigung, die nun aber Ersatzbefriedigung ist, da sie sich mit dem Bewußtsein unter Zwang arrangieren muß. […] Aber dies ist nur die Hälfte der Entmündigung. Der Konsistenzzwang des Bewußtseins, der Drang alles lückenlos zu erfassen, kann kein namenloses Verhalten dulden. Das Symptom wird in absurder Karikierung der verbotenen Verbindung von Interaktionsform und Sprachfigur mit einem Namen belegt, allerdings einem – gegenüber dem ursprünglichem Bedürfnis – falschen Namen (die Psychoanalyse hat dies Rationalisierung genannt), einem ‚falschen Namen‘, der den Platz des richtigen Namens einnimmt (des richtigen Namens, der bei der Desymbolisierung verschwunden ist).“ (Ebd.: S. 112)
Beide Handlungssysteme, das sprachsymbolische wie das symptomatische, sind gleich aufgebaut, denn Klischee wie Symbol können mit psychischer Energie besetzt werden (vgl. Lorenzer 1976: 115), sie sind also strukturell homolog. Im Vergleich lassen sich beide Formen folgendermaßen beschreiben: – Sprachfigur/Symbol + Interaktionsform = sprachsymbolische Interaktionsform (echtes bedürfnisorientiertes Ich) und – Verhalten (falsches ersatzbefriedigungsgeleitetes Ich)42
42 Zur Unterscheidung von echtem und falschem Ich schreibt Lorenzer: „Betrachtet man die Bildung von sprachsymbolischen Interaktionsformen, die Symbolbildung und die Symptombildung rein formal, so sind beide nach dem selben Muster gebaut: Wortvorstellung/Sprachfiguren plus Sachvorstellungen/Interaktionsformen gleich Bewußtsein/Ich. Aber wiederum zeigt sich, daß die Psychoanalyse sich nicht inhaltsneutral von formalen Figuren her interpretieren läßt und daß ihre Einsichten von der Anerkennung und Durchdringung des Unbewußten her kommen. Klärt man die eben angeschnittene Identität von Symbol und Symptom vor dem Hintergrund der Inhalte des Triebkonfliktes, dann wird klar, daß sich im Respekt vor den Triebbedürfnissen eine folgenschwere Unterscheidung treffen läßt: Der Gegensatz zwischen einem ‚echten‘ und einem ‚falschen‘ Ich.“ (Lorenzer 2002: S. 197)
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Lorenzer beschreibt außerdem, dass beide Systeme gesellschaftlich funktional sein können. (Vgl. Lorenzer 1981: S. 114) Auch das symptomatische Verhalten kann zu einem „Bollwerk so verschweißt“ (Ebd.: S. 114) sein, dass es stabil bleibt.43 So lässt sich mit Lorenzer zusammenfassen: „Betrachtet man die Persönlichkeitsbildung generell in ihren guten und schlechten Karrieren unter dem Aspekt des ‚Zugriffs‘ des sprachlich organisierten kollektiven Handlungssystems, dann zeigt sich der menschliche Bildungsprozeß in zwei qualitativ unterscheidbaren Verläufen: – der Versöhnung von Matrix und Bewußtsein, das heißt der unbewußten Interaktionsformen des Triebes und der Sprachfiguren zu symbolischen Interaktionsformen einer subjektiven Selbstverfügung, oder – der Symptombildung als Einheit von Ersatzbefriedigung und Sprachschablone der punktuellen Subjektlosigkeit. Das ‚eigentliche Bedürfnis‘ ist hier der Selbstbestimmung entzogen, wie die Schablone das Individuum sinnlich abstrakt vereinnahmt. Weder in der Ersatzbefriedigung noch in der Selbstinterpretation ist das Individuum ganz ‚bei sich‘.“ (Ebd.: S. 115)
Dem „echten Ich“ steht eine richtige Bezugnahme auf sich selbst zur Verfügung. Die richtige Selbstinterpretation der eigenen grundlegenden Bedürfnisse ermöglicht daher erst eine subjektive Praxis. Das falsche Ich hingegen erlaubt nur ein symptomatisches Verhalten. Die Bedürfnisse sind verzerrt und treten mit falschen Namen zusammen, wodurch der Zugriff auf die eigene subjektive Matrix verschlossen bleibt.44 In der Desymbolisierung wird aber nicht nur die Interaktionsform zum Klischee degradiert, auch auf Seiten des Symbols kommt es zu einer Veränderung, denn das (Sprach-)Symbol wird zum Zeichen. Das Zeichen steht für die subjektlose Objektivität ehemaliger Symbole. Als Zeichen verliert das Symbol seine Anziehungskraft bzw. seine affektive Wärme. Es dient dem Menschen somit nicht mehr als Reprä-
43 In der Psychoanalyse entspricht dieses Phänomen der Charakterbildung. Ersatzbefriedigung und Rationalisierung vereinigen sich zu einer schwer zu durchdringenden Charakterform des Patienten. 44 In der psychoanalytischen Praxis hangelt sich der Analytiker an den entstehenden Symptomen der Desymbolisierung entlang, um die Sinnebenen zu rekonstruieren. Dieses Aufarbeiten der individuellen Geschichte nennt Lorenzer szenisches Verstehen. Es bezeichnet ein Verfahren, das Lorenzer auch für Kulturanalysen anwendet. Die Praxisform des Unbewussten (die geronnenen Szenen) soll wieder mit Sprache aufgeschlüsselt werden. Diese Interpretation der frühesten Interaktionen hat immer die lebenspraktische Veränderung zum Ziel.
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sentation seiner Interaktionsformen.45 Das Symbol steht gewissermaßen zwischen Klischee und Zeichen. Während das Klischee Praxis ohne Bewusstsein ist, ist das Zeichen Bewusstsein ohne Praxis. Erst mit der Symbolisierung verbinden sich beide sinnvoll. Die leeren Zeichen wiederum können, frei geworden von ihrer eigentlichen Besetzung, als Schablonen für die verzerrten symptomatischen Triebwünsche dienen. Neben diesen Sprachschablonen, in die die verzerrten Wünsche sich nahtlos einpassen, sind auf der Ebene der sinnlich-symbolischen Interaktionsformen auch Erlebnisschablonen bzw. ästhetische Schablonen zu nennen. Auch sie stehen im Dienste des symptomatischen Verhaltens. Der verzerrte Triebwunsch erscheint hier in unreflektierten und zugelassenen ästhetischen Formen: „Was für Sprachschablonen gilt, trifft auch für die ästhetischen Formschablonen zu. Läuft bei der ‚Sprachzerstörung‘ durch Desymbolisierung sprachsymbolischer Interaktionsformen die Persönlichkeitsdeformation aber als Trennung von sinnlicher Erfahrung (einsozialisierten Interaktionsformen) und Bewußtsein (Sprachfiguren) ab, so ist die Defizienz der Bildung sinnlich-symbolischer Interaktionsformen durch eine Verkürzung von Erlebnisbereichen gekennzeichnet.“ (Ebd.: S. 168)
Als Beispiel sei an die Werbung (vgl. ebd.) erinnert, hier besonders an die ästhetische Schablonisierung von Gebrauchsgegenständen zu Waren, die „Triebbefriedigung und Bewußtsein über ‚ästhetische Symptome‘ […] zu einem dauerhaften Knoten zusammen[bindet]. (Ebd.: S. 173) Sprachliche und ästhetische Schablonen sind daher ideologiebildend, da sie die verzerrten Triebwünsche aufnehmen und in den gesellschaftlichen Nexus reintegrieren. Der eigentliche Wunsch (die Interaktionsformen) werden hingegen nicht mehr mit Symbolen dargestellt. Das Subjekt verliert somit seine Reflexionsfähigkeit. Es ist aber nicht nur, dass sich die Welt vom Inneren abkoppelt, das Innere wird in einem zweiten Schritt auch falsch in die Welt zurückgekoppelt. Institution und Subjekt: Irritationen zwischen Reflexion und Mystifikation Neben der Vergesellschaftung in der Mutter-Kind-Dyade und der Spracheinführung beschreibt Lorenzer eine dritte Phase der Vergesellschaftung in der „nachinfantilen Sozialisation“, in der ein „Doppelzugriff aufs Individuum“ stattfindet, erstens über
45 Eine ausgeprägte Benutzung der Zeichenwelt zeigt sich im Abwehrmechanismus des Intellektualismus.
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die „Lebenspraxis“46 und zweitens das „kollektivspezifische Bewußtsein.“ (Lorenzer 1981: S. 115)47 Beide Formen können wiederum an den (sprach-)symbolischen Interaktionsformen oder am symptomatischen Verhalten ansetzen. Bei den sprachsymbolischen Interaktionsformen befindet sich das Individuum zwar im sprachlichen Netz des kollektiven Bewusstseins, bewahrt aber seine Irritationsfähigkeit, da die Anteile des Unbewussten und Vorbewussten noch einen symbolischen Ausdruck finden können: Die Erinnerungsspuren bleiben offen und werden nicht gänzlich verstellt, sie machen sich durch Irritationen bzw. spontane Verwunderungen bemerkbar. Im Fall eines gesellschaftlichen Zugriffs auf die sprachsymbolischen Interaktionsformen bewahrt das Individuum daher seine Irritationsfähigkeit. Denn die Widersprüche zwischen Kultur und zugänglicher Interaktionsform bewahren ein Unbehagen, das sich in Gruppen sogar zu einem gemeinsamen „Problembewußtsein verdichten“ (Ebd.) könnte. Das kann gelingen, wenn die Irritation nicht in der Einheit von Ersatzbefriedigung/Symptom und Schablone aufgefangen, sondern zum Ausgangspunkt für die Reflexion gemacht wird. Was für die individuelle Therapie gilt, gilt für Lorenzer auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Auf dieser könnte eine gemeinsame Rekonstruktionsarbeit zu einer gemeinsamen Gegensprache führen, die es ermöglicht, die Verhältnisse neu zu gestalten. So könnte ein gemeinsames Bewusstsein (Symbolsystem) entstehen, mit dem idealerweise jeder auf seine individuelle Triebmatrix zugreifen kann. Die Irritationen sind daher Ansatzpunkt für Reflexionen, aber auch für Mystifikationen. Sie eröffnen dem Subjekt entweder die Möglichkeit, über die gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten nachzudenken, die sich über die Erinnerungsspuren gelegt haben, oder sie werden als religiöses Ritual oder spirituell-esoterisches Gefühl verstetigt. So bleibt die Triebmatrix wirksam, ohne sich dabei zu erfüllen, sie besteht in fortwährender Spannung in seiner mythologischen Form fort.
46 So werden bestimmte Interaktionen von Institutionen verlangt: dem Arbeitgeber, dem Staat, Freundeskreisen, Bekannten etc. Es wird daher eine bestimmte Seinsweise verlangt, die zum Funktionieren der Institutionen vonnöten ist: Der fordistische Fließbandarbeiter ist eine der einträglichsten Beispiele einer verlangten lebenspraktischen Interaktion, welche sich nicht aus der Interaktionsform bildet. 47 Hier wirken sich kollektive Sprachfiguren, ein sprachlich vermitteltes Bewusstsein „des jeweiligen kulturellen Systems“ (Lorenzer 1981: S. 116) aus. In diesem sprachlichen System entwickelt sich das Bewusstsein analog den kollektiven Sprachanweisungen: „Es sind dies Vergesellschaftungen, die den Einzelnen in seiner Persönlichkeitsstruktur ‚auffädeln‘ zu einer ‚Gemeinschaft‘ mit gemeinsamem, alltagspraktisch bedeutsamem Bewußtsein.“ (Lorenzer 1981: S. 116)
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„Der Drang nach Selbstverwirklichung, nach Erfüllung des eigenen Glücksverlangens, nach Verwirklichung der Utopie in der Unmittelbarkeit sinnlicher Welterfahrung bleibt in der mythischen Form […] bewahrt. Es wird nicht ausgelöscht wie in der Liaison von Ersatzbefriedigung und Schablone eines verselbständigten Bewußtseins.“ (Ebd.: S. 117)
So bleibt im Mythos die Irritation bewahrt, wenn auch festgestellt und falsch kultiviert. Die Verbindung von Ersatzbefriedung und Sprachschablone hingegen exemplifiziert Lorenzer anhand des Nationalsozialismus. Denn diese Verbindung öffnet einer politischen Organisation die Möglichkeit der Gruppenbildung. Da die eigentlichen Bedürfnisse der Triebmatrix noch wirksam sind, aber der Selbstverfügung entzogen, wirken sie als Nährboden für die Besetzung einer Gruppe, die es vermag, infantile Sozialisationsmuster/Interaktionsformen anzusprechen. In der Gruppe gerinnt die Ideologie dann zur vermeintlichen Wahrheit. Der sprachlichpropagandistische Diskurs ermöglicht dem Individuum, seine Ansicht zu festigen, sie bestätigen zu lassen und sie anderen zu bestätigen. Diese Gruppe bedarf eines „objektiven Organisators“, eines „Wortes“ bzw. einer „Idee“ (Ebd.: S. 119), um die Irritationen falsch aufzulösen. Hierin sieht Lorenzer einen weiteren Unterschied zu den mythologischreligiösen Vergesellschaftungsformen. Diese machen einen Unterschied von Diesseits und Jenseits. Sie teilen die Welt in eine irdisch-rationale und eine überirdischirrationale. Die Irritation wird in diesem Widerspruch bewahrt und kultiviert. Während das Beispiel des Nationalsozialismus die Auflösung der Irritationsmöglichkeit in der fatalen Einheit von Ersatzbefriedigung und Schablone aufzeigt, sind die „Pseudomythen“ (Ebd.) des Nationalismus rational bzw. rationalistisch angelegt. Daher wurde auch der absurdeste Gedankengang der Nationalsozialisten von ihnen zur Wissenschaftlichkeit erhoben. Aus diesem Grund ist die „Persönlichkeitsirritation“ (Ebd.: S. 121) der Punkt, an dem die nationalsozialistische Ideologie ansetzen konnte, als „schlechte, symptomzentrierte Verarbeitung dieser Irritation.“ (Ebd.) Lorenzer fasst zusammen: „Der ursprüngliche Triebimpuls, der allemal libidinös ist in der Sehnsucht, geglückte Interaktionsformen in befriedigende Interaktionen umzusetzen, geht in die Ersatzbefriedigung ein. Die Verschiebung der Befriedigung spaltet diese dabei merkwürdig auf. Der libidinöse Anteil bewirkt jene Massenbindung, die Freud ausführlich beschrieben hat: die ‚Bruderhorde‘, deren Bezugspunkt die idealisierte Autorität ist. Ersatzbefriedigung aber ist das Symptomziel: die autoritätsgefügige Vernichtung Fremder, Verfremdeter, Ausgegrenzter. Darin kommt die eigene aggressive Reaktion gegen die zugemutete Versagung zur Geltung. Die Rechtfertigung der Aggression aber leistet in der nachinfantilen Vergesellschaftung dem Individuum angebotene Weltanschauung: Die Symptomschablone wird weltanschaulich gefüllt. Der Feind wird benannt: der Jude darf/muß vernichtet werden, weil er schuld ist an unserem/meinem Unglück.“ (Ebd.)
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Die Weltanschauung bemächtigt sich so des sozialen Konflikts und bietet eine Scheinlösung an: „Objektive Verblendung und individuelle Pathologie treten zueinander zu einem stabilen Kurzschluß: Die falsche Antwort aufs soziale Problem wird mit dem falschen Namen für den Triebkonflikt verbunden in Schablonen als dem Kern eines falschen Ich. Die Funktion dieser Entsprechung von Weltanschauung und Psychopathologie ist es also nicht, die Irritation zu interpretieren, um den Grund der Irritation aufzudecken, sondern die Irritation mit der Antwort zu erledigen. […] Damit diese Umpolung gelingt, bedarf es eines Anknüpfungspunktes im Individuum, eines präformierten Persönlichkeitsdefektes, der das Merkmal von Subjektivität, nämlich die Fähigkeit zu rational-reflektiertem Urteil, bereits durch Desymbolisierung zerstört hat.“ (Ebd.: S. 122)
Das gemeinsame Bewusstsein des sprachlichen Diskurses stabilisiert das Individuum und bindet es so an die Gruppe: „Das dient sowohl der Immunisierung gegen Einsprüche der Vernunft als auch der Abschirmung von den Irritationen aus der Tiefe der unbewußten Matrix.“ (Ebd.: S. 123) Das System des Bewusstseins verwaltet dementsprechend die Sinnlichkeit, diese wird so in den Dienst für die Weltanschauung genommen. Lorenzer plädiert daher für eine Analyse des Subjekts und der gesellschaftlichen Verhältnisse, welche die Irritationen auf ihren Ansatz an symptomatischen und sprachsymbolischen Interaktionsformen hin prüft: „Von unserer Analyse der subjektiven Struktur her haben wir abzutasten, welcher Ansatzpunkt – Symptom/Schablone oder symbolische Interaktionsform – von den jeweiligen Entwicklungsprozessen in Anspruch genommen wird, welches Wechselverhältnis aktualisiert wird und ob dieses Wechselverhältnis die Irritation des Alltagslebens kritisch zugänglich macht und kollektive Auseinandersetzungen in Gang bringt, oder ob bloße Einübung ins Abwehrgefüge der Alltagspraxis mit einer Egalisierung des stumpf hingenommenen Leidens stattfindet, oder ob gar eine Abriegelung gegen alle Irritation betrieben wird [...].“ (Ebd.: S. 130–131)
Lorenzer sieht nur in einer sprachsymbolischen Vermittlung gesellschaftlicher Verhältnisse die Chance der emanzipativen Praxis einer gemeinsamen Verarbeitung der Irritationen.
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2.2.4 Entfremdung als heteronome Praxis durch verzerrte Narration Mit der Theorie Lorenzers lässt sich Entfremdung materialistisch präzise formulieren. Denn da die Unterscheidung zwischen Naturprozess und Sozialprozess bei der Genese von Subjektivität in der materialistischen Sozialisationstheorie keine Rolle mehr spielt, ist auch die Frage danach, wovon sich etwas entfremdet, eindeutig zu beantworten: Entfremdung ist weder als Entfremdung von einem Naturwesen noch von einem Strukturwesen48 allein zu denken, stattdessen ist sie in heteronomer Praxis begründet. Damit lassen sich sowohl essentialistische als auch objektivistische Verkürzungen vermeiden. Was heteronome Praxis als Entfremdung genau ausmacht, wird im Folgenden dargestellt. Hierzu interpretiere ich Lorenzers Theorie der Interaktionsformen und nehme auch die Definition von Identität als Narration von Anthony Giddens zu Hilfe. Die Unterscheidung von Subjektivität und Identität49 lässt sich mit Lorenzer kohärent erschließen. Subjektivität ist, basierend auf der dialektischen Auseinandersetzung der Bezugsperson mit der inneren Natur des Kindes, die erste tiefenstrukturelle Sinnebene des Menschen. Subjektive Praxis, diese tiefenstrukturelle Sinnebene (die Interaktionsformen) berührend, ist nur durch eine symbolische Vermittlung möglich. Denn Symbolisierung ermöglicht eine unverzerrtere Bezugnahme auf die eigene Praxis: Das Subjekt erlangt so Autonomie, da es die eigenen Affekte und Emotionen verstehen und mit der Welt vermitteln kann, im Gegensatz zum klischeevermittelten Handeln, das sich gerade durch das Abtrennen von Affekten und Bewusstsein auszeichnet und unverstanden bleibt. qua symbolischer Selbstreflexion kann der Mensch daher seine Subjektivität verstehen. Subjektivität ist aber keine feststehende Entität. Sie befindet sich vielmehr im dialektischen Prozess fortwährender Anpassung. Denn Ontogenese und Phylogenese sind dynamische Prozesse, d. h. historisch bedingt und veränderbar. Ebenso wie Identität, die zweite Sinnebene des Menschen, die durch gesellschaftliche Muster, Anforderungen, Tabus und Freiheiten in Form von Narrationen vermittelt wird. Subjektivität beschreibt daher die Tiefenstruktur der eingeschriebenen Praxismatrix, während Identität die äußere Struktur des Individuums meint. Die Narration kann durch Symbole einen richtigen Zugang zur Subjektivität erschließen. Die These von Identität durch Narration entnehme ich Giddens:
48 Mit Strukturwesen meine ich an dieser Stelle Subjektkonstruktionen aus Theorien, die Subjektivität als Abdruck der gesellschaftlichen Struktur deuten. 49 Wie in „Resümee: Subjekt und Entfremdung“ (1.3) erläutert.
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„The existential question of self-identity is bound up with the fragile nature of the biography which the individual ,supplies’ about herself. A person’s identity is not to be found in behaviour, nor – important though this is – in the reactions of others, but in the capacity to keep a particular narrative going. The individual’s biography, if she is to maintain regular interaction with others in the day-to-day world, cannot be wholly fictive. It must continually integrate events which occur in the external world, and sort them into the ongoing ,story’ about the self. As Charles Taylor puts it in order to have a sense of who we are, we have to have a notion of how we have become, and of where we are going.“ (Giddens 2013[1991]: S. 54)
Diese, auf Lebensereignissen basierende, narrative Identität konstituiert das Selbstverständnis des Individuums, seine Vorstellung von dem, wie es geworden ist und wie es entsprechend sein wird. Die Praxis, die sich an der Identität orientiert, basiert dementsprechend auf den Narrationsangeboten (kulturellen Vorgaben) des Feldes. Diese präformierten Kultur-Gegebenheiten schreiben daher die individuellen Lebensgeschichten. Die individuellen Selbstnarrationen sind daher in die großen Erzählungen der Kultur eingebettet. Zu Giddens lässt sich hinzuzufügen, dass die Narration nicht zwangsläufig stimmig sein muss, sie kann im Gegenteil auch stark verzerrt sein. Lorenzer nennt dies Sprachzerstörung oder Sprachverwirrung. 50 Eine solche falsche Narration führt zu einer Identität, die nicht mit der Subjektivität homogen ist und daher zu einer falschen bzw. verzerrten Praxis führt. Auf einer Metaebene ist Identität außerdem immer die Gleichheit zweier Einzelheiten, die aber nicht gleich sein müssen. Identität bedeutet daher für das Subjekt, mit Gesellschaft punktuell identisch zu sein. Nichtidentität hingegen fokussiert auf die Differenz gegenüber gesellschaftlichen Vorgaben. Verzerrte Praxis ist aus diesem Grund eine heteronome Praxis, orientiert an einer Identität, die die Subjektivität nicht berührt. Die heteronome Praxis ist daher nicht bedürfnisbefriedigend. Das Gegenteil ist eine autonome Praxis: Eine Praxis, die vom Subjekt verstanden und angeeignet werden kann. Die Folge der heteronomen Praxen sind u. a. Apathie, das Gefühl der Sinnlosigkeit in der Tätigkeit oder das neurotisch-repetitive Wiederholen der falschen Praxen, die Befriedigung versprechen, aber nicht einlösen können, wie bei Adorno und Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ im Kapitel zur Kulturindustrie, beschrieben. (Adorno/Horkheimer 2003[1944]: S. 141–191) Ich fasse zusammen: Die falsche Narration bedingt Entfremdung in einer heteronomen Praxis. Eine unentfremdete Praxis ist demgegenüber nur durch eine adäquate Narration des Selbst möglich, d. h. eine Identität, in der die eigenen Interaktionsformen symbolisiert werden können. 50 Exemplarisch ist eine falsche Narration bzw. Sprachverwirrung am Beispiel der Krankengeschichte des kleinen Hans zu sehen. (Vgl. Lorenzer 1976: S. 127–137)
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Dieser Sachverhalt lässt sich mit der Terminologie Lorenzers vertiefen: Das Verdrängte kommt im Klischee wieder zurück, wo es sich in Sprach- und Ästhetikschablonen zum falschen Ich verschweißt. An dieser Stelle wird die falsche Narration rationalisiert und damit von einer Selbstreflexion ausgeschlossen.51 Das Subjekt schafft sich daher einen von Reflexion ausgeschlossenen falschen Selbst- und Weltbezug. Denn die Schablonen der Gesellschaft strukturieren immer einen zusammenhängenden Erzählstrang, dem dann auch ein falsches Ich folgen kann. Der rote Faden der Selbsterzählung bildet so eine konsistente rationalisierte Lebensgeschichte, in der aber die Interaktionsformen nicht mehr repräsentiert sind, sondern als Klischee durch die Schablonen wirken. In der psychoanalytischen Praxis ist nicht umsonst die Auflösung der falschen Selbsterzählung das Ziel. Entfremdung ist in diesem Schema nicht gleichzusetzen mit psychischem Leid, sie ist als der vorangehende Prozess zu verstehen: Denn Entfremdung ist zunächst der Verlust von Handlungsautonomie. Das falsche Selbstbewusstsein erteilt Praxisanweisungen, die zur funktionalistischen Tätigkeit werden und in denen Interaktionsformen nicht oder nur verzerrt realisiert werden, wodurch dann erst Leid entsteht. Ein weiterer Aspekt der Entfremdung ist die Bildung von Subjektivität in der Primärsozialisation. Denn erst durch Entfremdung gewinnt das Kind die Möglichkeit, sich zu entwickeln und eine Ich-Struktur aufzubauen: Subjektivität und Entfremdung sind dialektisch aufeinander bezogen. Das Kind wird durch den Verlust ununterbrochener Bedarfserfüllung in die Notwendigkeit (den Mangel) des Lebens geworfen. Diese bedingt den ersten Bedarf des Kindes, in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt. Die Verbindung von Bezugsperson und Kind stellt dann nicht mehr physisch ein Wesen, sondern psychisch zwei eigene Wesen dar. Der zwangsweise Verlust der totalen Einheit spaltet das Kind nach und nach in Subjekt und Objekt. Das aktive kindliche Subjekt muss seine Fähigkeiten entfalten, um sich die objektive verlorene Welt wieder aneignen zu können. Interaktionsformen verstetigen dieses Subjekt-Objekt-Muster. Doch Subjekt und Objekt können nicht wieder dauerhaft zusammenfallen, nur die Realisierung der Interaktionsform stellt die dialektische Synthese kurzfristig wieder her. Im Symbol wird die libidinöse Energie veräußert, um diese dann wieder anzueignen. Dem automatischen Fluss der Bedarfsstillung in der totalen Einheit folgt daher die Dialektik aus Spannung und Entspannung. Der gleichmäßige Strom der Energie wird zu einer Speicherung und Entladung: Energie sammelt sich als Spannung der unerfüllten Interaktion und entlädt 51 So kann beispielsweise eine Nationen-Erzählung mit ihren Gründungsmythen eine Narration bereitstellen, die das Individuum übernimmt, darin dann aber keine individuellen Triebwünsche erfahren kann. Denn die nationale Identität schließt unter Umständen ganz bestimmte Praxen aus.
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sich in der entaktualisierten Interaktionsform. Entfremdung vom Objekt ist daher Voraussetzung für Subjektivität und Ich-Bildung. Erst durch Entfremdung bewahrt sich Energie und fließt nicht sofort durch die ursprünglichen Interaktionsformen ab. Diese aufgestaute Energie ist Motor persönlicher und kultureller Entwicklung, durch das, was Freud Sublimierung nannte. Versiegt das Wechselspiel von Entfremdung und Aneignung dauerhaft, dann entfernen sich Subjekt und Objekt permanent, da die Praxisanweisung durch die Identität auf keine Übereinstimmung mit den subjektiven Bedürfnissen trifft. In der ersten Phase der Subjektwerdung liegt allerdings keine Narration des Kindes vor, wodurch sich keine verzerrte Identität über das Subjekt legen kann. Von Entfremdung im Sinne eines gesellschaftlichen Phänomens kann in dieser Phase daher nicht gesprochen werden, wohl aber von Entfremdung als entwicklungs- und bildungspsychologische Voraussetzung. Entfremdung ist allerdings nicht nur auf der entwicklungspsychologischen, sondern auch auf der kulturellen Ebene von Bedeutung. Das kollektive Scheitern der Vermittlung von Sprachfiguren und Interaktionsformen schafft Bedingungen gesellschaftlicher Entfremdung, in der eine bestimmte Entfremdung so zum Phänomen wird, dass diese Teil der Kultur wird, wie zum Beispiel die Kulturindustrie oder der Massenkonsum. Scheitert hingegen die Verbindung nur individuell, äußert sich Entfremdung in ihren neurotischen Auswirkungen: „Sofern es sich um ein kollektives Scheitern und d. h. um ein Scheitern der Vermittlung von Sprachfiguren und Interaktionsformen bei den Individuen ganzer Stämme, Völkerschaften und Sprachgemeinschaften handelt, nennen wir die Resultate eines solchen Scheiterns ‚Kultur‘ (im Sinn einer allgemein gültigen Lebensordnung), sofern das Scheitern Einzelne, viele Vereinzelte trifft, heißen wir es Neurose.“ (Lorenzer 2002: S. 180)
Lorenzer weist so darauf hin, dass Kultur die Anerkennung kollektiver Neurosen darstellt. Demgegenüber besteht eine wünschenswerte Kulturentwicklung in der „gelungenen Verbindung von Wortvorstellungen und Interaktionsformen“ (Ebd.: S. 181), welche die Subjekte durch innere Kompromissbildung der Autonomie befähigt. Das Subjekt kann seine Wünsche und Begehren selbstreflexiv einordnen und verstehen. Falsche Begehren (genauer: falsch symbolisierte Begehren) können sich so auflösen und den ursprünglich verdrängten Wunsch greifbarer werden lassen. Autonomie heißt aber nicht, dass Wünsche ungehindert befriedigt werden können, sondern nur, dass diese bewusst sind und dadurch auch erst freiwillig beschränkt werden können.52 Erst durch die Symbolisierung der inneren Wünsche lassen sich diese in Probehandlungen erwägen und gegebenenfalls sublimieren. Die Kompro52 Erst wenn die Wünsche bewusst sind, lassen sie sich gesellschaftlich verhandeln und kann über ihre Zulassung, Verbote und Verteilung auf ethischer Ebene diskutiert werden.
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missbildung verweist auf die Fähigkeit, innere Interaktionsformen mit der Außenwelt zu verknüpfen. Dort allerdings, wo das falsche Ich herrscht, setzt Lorenzer Hoffnung in die Irritationen, welche die Identitäten erschüttern können und damit zum Ausgangspunkt von individueller und kollektiver Aneignung der Narration werden.53 Die Irritationen setzen für Lorenzer an jenen Stellen an, an denen Klischee und Schablone noch nicht gänzlich verschmolzen sind. Hier erhellen sie wie Blitze in der Nacht die individuelle Geschichte der Subjektivität und ermöglichen so eine tastende Spurensuche nach ihren Ursprüngen. Irritationen dienen daher der Introspektion und damit der Narrationsrekonstruktion. Diese Hermeneutik des Leibes bedarf zunächst einer unverstandenen Irritation, um von dort aus die eigenen Einschreibungen tiefergehend zu verstehen. Die Irritation setzt an der Entfremdung an, macht sie spontan spürbar, indem sie am manifesten Objekt (z. B. einem Kunstwerk) etwas vom latenten Sinn verrät. Diese Alltagsirritation schlägt aber erst dann Funken, wenn eine verborgene Interaktionsform beim Kontakt mit einem kulturellen Objekt eine Konnotation auslöst. Irritationen weisen daher auf Entfremdung hin und evozieren eine Reflexion, was eine andere nichtentfremdete Praxis im Sinne sprachsymbolischer Interaktionsformen ermöglicht. Die Selbst-Erzählung ist erst dann nicht mehr fremd, wenn sie durchdrungen wird oder, um es psychoanalytisch auszudrücken, durchgearbeitet wird, wodurch die falsche Aneignung gelöst und so eine richtige wird. So bildet die Rekonstruktion der Narration (das szenische Verstehen) eine Methode, um die verborgene Lebenspraxis aufzudecken und damit wieder Handlungsautonomie zu gewinnen: „[…] die hinter dem Sprachschleier, dem falschen, sozial angepaßten Gerede verborgene Lebenspraxis, die sozial verbotene und deshalb verdrängte Lebenspraxis aufzuspüren. Das szenische Verstehen ist eine entscheidende Voraussetzung der gesellschaftskritischen Praxis der Psychoanalyse.“ (Ebd.: S. 68)
Irritationen zeichnen sich durch das Berührtwerden aus. Sie machen die Entfremdung spürbar und bewahren so nichtidentische Teile der Subjektivität. Entfremdung im Sinne Lorenzers lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Mensch entwickelt seine Subjektivität in der Dialektik von Entfremdung und Aneignung der Welt. Auf der entwicklungspsychologischen Ebene werden so spezifische Interaktionsformen konstituiert. In einem nächsten Schritt bildet der Mensch 53 Dieses Motiv findet sich bereits bei Hegel. In seiner Theorie findet ein beständiger Wechsel zwischen Identität und Zusammenbruch der Identität statt, eine Dialektik aus Identität und Nichtidentität.
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Identität auf Grundlage seiner Selbst- und Weltnarration. Diese ist geprägt durch das kulturelle Symbol- und Zeichenangebot. Die Selbsterzählung und mit ihr die Identität kann dabei durch bestimmte Symbole den individuellen Erfahrungen gerecht werden, aber auch in Schablonen aufgehen. Die Identität reproduziert daher entweder symbolische oder symptomatische (verzerrte) Praxis. Durch die Symbole kann das Subjekt dementsprechend seine Subjektivität erfahren, verstehen und kompromisshaft vermitteln, wodurch es Autonomie erlangt. In der symbolischen Praxis vermag sich das Subjekt in den Interaktionsformen am Objekt zu realisieren. So eignet sich das Subjekt durch Symbolisierung das Objekt an. In der symptomatischen Praxis hingegen kann es sich das Objekt nicht mehr richtig aneignen. Ein falsches Ich (aus Ersatzbefriedigung und Schablone) lässt nur eine rationalisierte falsche Narration zu, was dazu führt, dass das Subjekt sich nicht verstehen und erfahren kann, seine Praxis ist dann nicht mehr autonom, sondern heteronom – der Subjektivität entfremdet. An den Stellen, wo die heteronome Praxis aber noch nicht gänzlich zu Klischee und Schablone in einer festen Identität verschmolzen ist, bleiben Möglichkeiten der Irritation, hier kann sich die Nichtidentität in der Identität bemerkbar machen. 2.2.5 Entfremdung in der Kritischen Theorie des Subjekts und der Kritischen Theorie der Gesellschaft Da Lorenzers Kritische Theorie des Subjekts elementar für die vorliegende Arbeit ist, untersuche ich im Folgenden, wie sich die bisher herausgearbeitete Theorie der Entfremdung mit den wichtigsten Begriffen der kritischen Theorie der Gesellschaft koppeln lässt. Damit soll das Fundament meiner Entfremdungstheorie gestärkt werden. Außerdem werden elementare Begriffe, die sich um Entfremdung gruppieren lassen, in ihrer subjektiven Perspektive verständlich: Fetisch, Ideologie, Ästhetik. Im ersten Abschnitt wird zudem die subjektive Grundlegung des Entfremdungsbegriffs bei Marx näher beleuchtet. Marx kann als Wegbereiter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule verstanden werden, auf dem Adorno, Lorenzer und andere aufgebaut haben. Im nächsten Abschnitt werden sodann Fetisch und Ideologie als vergessene Narration interpretiert. Daran anschließend folgt eine Analyse der Negativen Dialektik Adornos in Bezug auf Lorenzer. Der darauffolgende Teil ist der Verbindung zwischen Adorno und Lorenzer gewidmet, hier anhand der ästhetischen Erfahrung. Im letzten Abschnitt erfolgt ein Exkurs über die Ethik von Entfremdung und Anerkennung. Da die vorausgegangene Darstellung von Marx bereits die in sein Werk eingeflossenen verschiedenen Entfremdungstheorien (Aristoteles, Rousseau, Hegel u. a.) mit umfasst hat, verzichte ich nachfolgend darauf, alle vorgestellten Theorien mit Lorenzer zu verknüpfen, und beschränke mich vor allem auf die für diese Arbeit
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zentrale Achse Marx – Adorno – Lorenzer, um Entfremdung genauer zu analysieren. Ich werde bereits hier Ansätze von Pierre Bourdieu mit aufnehmen, um spätere Wiederholungen möglichst zu vermeiden. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird dann die subjektive Entfremdungsanalyse mit der Habitus-Feld-Theorie von Bourdieu tiefergehend verschränkt. Entfremdung bei Lorenzer in Bezug zu Marx: Entfremdung als fehlende Selbstverfügung Das Phänomen Entfremdung lässt sich im Werk Lorenzers nicht nur auf der abstrakten Ebene herausarbeiten, sondern auch konkret auf die Entfremdungstheorie von Marx beziehen. Lorenzer bezieht sich häufig auf Marx und sieht sich in seiner materialistischen Tradition. Er fordert daher auch, den Entfremdungsbegriff analytisch fassbar zu machen: „Psychoanalyse [als kritische Theorie des Subjekts] hat die Aufgabe, die aus der Analyse objektiver gesellschaftlicher Prozesse abstrahierten Begriffe wie z. B. ‚Entfremdung‘ inhaltlich zu präzisieren in einem kritischen Verfahren, das von dem sinnlich-erfahrbaren Leiden der Subjekte ausgeht.“ (Lorenzer 1972: S. 15)
Da Lorenzer hier beansprucht, Begriffe zu verwenden, die von zwei Seiten (subjektiv und objektiv) her lesbar sind, muss auch der Marx’sche Begriff von Entfremdung, der im sozial-ökonomischen Kontext (objektiv) entwickelt wurde, doppelseitig begreifbar sein. Daher muss die materialistische Sozialisationstheorie einen Zugang zum Phänomen der Entfremdung auf Subjektebene herstellen, der mit den Begriffen einer objektiven Analyse vereinbar ist. Wie sieht dieser Entfremdungsbegriff aus, der aus der Innenperspektive der Subjekte zum objektiven Begriff der Entfremdung bei Marx passt? Lorenzer wie Marx folgen in ihrer Theorie dem normativen Imperativ der Aufklärung, wonach Menschen sich die äußeren und inneren Strukturen aneignen sollen, um Leid mindern zu können. Daher sollen die Menschen die objektive Welt so einrichten, dass darin subjektive Anlagen erfahren und entfaltet werden können. Voraussetzung der Aneignung objektiver Strukturen ist die Bewusstmachung beider Strukturen. Innerhalb der materialistischen Sozialisationstheorie werden die inneren Strukturen und innerhalb der materialistischen Gesellschaftstheorie die äußeren Strukturen analysiert. Aufklärung im Sinne kritischer Theorien ist daher vor allem ein kritischer Selbst- und Weltbezug. Der Weltbezug wird in der marxistischen Geschichtsphilosophie genauer erläutert und ist auch mit Lorenzer fassbar, wie ich im Folgenden erläutere. Der jeweilige Stand der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse ist in jeder Epoche ein anderer, wodurch sich unterschiedliche Formen von Subjektivität ausprägen. Bedürf-
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nisse und Befriedigung sind so an historische Bedingungen gekoppelt, wie Marx bemerkt: „Zum Leben gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere. Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst, und zwar ist dies eine geschichtliche Tat, eine Grundbedingung aller Geschichte, die noch heute, wie vor Jahrtausenden, täglich und stündlich erfüllt werden muss, um die Menschen am Leben zu erhalten. […] Das Zweite ist, dass das befriedigte erste Bedürfnis selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon erworbene Instrument der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen führt.“ (Marx 1990 [1846]: S. 28)
Die historischen Verhältnisse prägen somit immer die lebensgeschichtlichen Verhältnisse. Marx fasst Subjektivität entsprechend in seinen Begriff des Gattungswesens, der durchaus dynamisch gedacht ist. Realisierung der Subjektivität als Wunscherfüllung ist daher immer nur in der spezifischen Form möglich, in der sie in ihrem historisch Kontext entstanden ist, wie auch Lorenzer argumentiert: „Die lustvolle Befriedigung verlangt eine Beseitigung des Mangels in denjenigen Formen, die der eigenen Erwartung entsprechen.“ (Lorenzer 2002: S. 143) Allerdings fehlt Marx die Perspektive auf eine zweite Sinnebene, wodurch seine Entfremdungstheorie teilweise wieder essentialistische Züge annimmt und so in einen Dualismus von Wesenskern und Gesellschaft zurückfällt.54 Diesen Widerspruch kann er nicht auflösen. Die zwei Sinnstrukturen des Menschen, die Lorenzer beschreibt, sind bei Marx nicht vorhanden. In Marx’ Subjektkonstitution überwiegt die Annahme, dass Arbeit (die Produktionsverhältnisse) den Menschen ausmacht. Wovon dieser dann schließlich entfremdet, bleibt unklar. Die andere Variante, dass das Gattungswesen vorgeschichtlich strukturiert sei, scheidet ebenfalls aus. Mit Lorenzers Theorie der Interaktionsformen wird Marx’ frühe Beschäftigung mit Entfremdung aber wesentlich schlüssiger. Denn Lorenzer betrachtet allgemeiner als Marx nicht bloß Arbeit, sondern alle Formen der Praxis als entscheidend für die Bildung des Subjekts, wodurch erst zwei Sinnebenen theoretisiert werden können.55 Zusätzlich unterscheidet er die primäre und die sekundäre Sozialisation. Das Wechselspiel von innerer Natur und Bezugsperson (und mit ihr der Gesellschaft) bestimmt die Interaktionsformen. Diese Subjektkonstitution bzw. die beiden Sinn54 Wie in der Theorie von Rousseau u. a. 55 Lorenzer reduziert zwar seine Begriffe teilweise unnötig auf Kategorien der Arbeit, was ihm zu Recht Kritik eingebracht hat, wie von Reimut Reiche. (Reimut Reiche 1995: S. 246) Der subjektiven Analyse Lorenzers steht das aber nicht im Weg, es leidet nur die Verknüpfung mit der objektiven Strukturanalyse.
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strukturen gestalten sich daher in jeder Epoche unterschiedlich, sie können homogen oder heteronom (entfremdend) verlaufen. Marx wie Lorenzer nehmen an, dass die Kultur die subjektiven Fähigkeiten und Bedürfnisse hemmt. Erst durch Bewusstmachung und Aneignung (bei Marx Revolution) kann die Kultur gattungsgerecht/subjektgerecht gestaltet werden. Diese objektiven Kulturkräfte sind ebenfalls historisch verschieden und schränken die Wesenskräfte bzw. Entfaltungspotentiale spezifisch ein. Wesenskräfte sieht Lorenzer in der körperlich-leiblichen Verhaltensstruktur, in der die Natur-Möglichkeiten und soziale Prozesse dialektisch eingeschrieben sind: „Der Körper seinerseits aber ist das Resultat einer Auseinandersetzung zwischen erbgenetischer Anlage und sozialen Prozessen. Geschichtsmaterialistisch können wir es noch genauer sagen: Körper und Verhalten erwachsen aus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit ‚innerer Natur‘. Das Erbgut ist nur ein Set von gattungsgeschichtlich gewordenen NaturMöglichkeiten, die durch die menschliche Praxis der Mutter-Kind-Einheit in einer sozial bestimmten Form verwirklicht werden. Es ist die konkrete Praxis der jeweiligen Mutter-KindEinheit, die den menschlichen Körper und das menschliche Verhalten herstellt.“ (Ebd.: S. 131)
und weiter: „Der Aufbau der Verhaltensstruktur resultiert aus dem Aufbau der Körperfunktion und der Körpergestalt. Körperfunktion und Körpergestalt aber erwachsen aus dem Wechselspiel zwischen Anlagepotential, also dem von den Chromosomen gesteckten Feld der Möglichkeiten des Individuums, und den Szenen der prä- und postnatalen Interaktion zwischen Mutter und Kind.“ (Ebd.: S. 139)
Die Verhaltensstruktur des Menschen ist daher keine bloß individuelle, sondern sie ist auch gesellschaftlich und daher auch nur mit anderen entfaltbar. Der Mensch kann seine Fähigkeiten und Bedürfnisse (Wesenskräfte, Verhaltensstruktur) dementsprechend nur in Gemeinschaft vollständig entfalten. Die Entwicklung des Einzelnen ist so an den Stand der Entwicklung aller geknüpft. Erst wenn die zugelassenen Interaktionsstrukturen (Kulturkräfte bzw. Identitäten) einer Gesellschaft genug Freiraum zur Integration der individuellen Interaktionsgeschichten bieten, ist es möglich, dass eine Mehrzahl der Menschen ihre Subjektivität entfalten kann. Marx erkennt, dass durch die Kultur eine Abstraktion von Arbeit56 stattfindet. Denn die Produktion ist nicht mehr direkt, sondern indirekt bedürfnisorientiert. Erst 56 Die gemeinsame Produktion von Gütern und Produktionsmitteln erst schafft ein gesellschaftliches Abstraktionsniveau, in dem die Interaktionsformen der Individuen kaum
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durch Arbeitsteilung wird die Produktionsleistung gesteigert und eine gemeinsame Produktion möglich, was aber zur Folge hat, dass die soziale Beziehung im Produktionsprozess verschleiert wird. Auch an dieser Stelle muss die marxistische Fokussierung auf Arbeit und Produktion gelockert werden, denn Kultur wird nicht alleine durch Arbeit definiert. Sie wird auch durch Sprache, Sublimierungen oder Kompromisse auf einer abstrakten Ebene strukturiert, welche die direkte Wunscherfüllung verschieben, verzögern und umstrukturieren.57 Diese Abstraktionsleistung der Kultur auf einer zweiten Sinnebene ermöglicht die Organisation der Gesellschaft, gleichzeitig kann sie Wunscherfüllungen aber auch gänzlich verhindern oder verzerren. Marx wie Lorenzer fordern, dass die gemeinsame Abstraktionsleistung durchschaut wird,58 um sie so umzugestalten, dass sich darin der Einzelne frei entfalten kann: „Erst in der Gemeinschaft [mit Andern hat jedes] Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden; erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich.“ (Marx 1990[1846]: S. 74) Diese Freiheit realisiert sich dann in der Selbstentfaltung. Selbstentfaltung ist somit Realisierung der Subjektivität und dadurch Wunscherfüllung: „Das Repertoire der Wünsche ist aber nicht willkürlich zerstückelt. Auch wenn das Gefüge der Wünsche, und d. h. Sachvorstellungen und d. h. Interaktionsformen, nicht jene zwingende Systematik hat, die von der Sprache schließlich dem Verhalten auferlegt wird, so bilden die Wünsche doch einen Zusammenhang. Und zwar in doppelter Hinsicht: Sie bilden eine Synmehr Berücksichtigung finden. Die Interaktionen werden in der kapitalistischen Gesellschaft weniger konkret, sondern abstrakt im Tauschhandel mit Waren und Geld koordiniert. Das soziale Verhältnis ist verschleiert. Triebenergie fließt immer mehr in Kapital, in die tote Arbeit, häuft abstrakte Werte an, ohne dass konkrete Bedürfnisse gestillt werden können. Die Produktion der objektiven Welt erhebt sich allmählich über die Subjekte. Die objektiven Strukturen verlangen bestimmte Interaktionen, um die Bedürfnisse des Kapitals zu befriedigen; Subjekt und Objekt haben ihre Plätze getauscht. Das Gegenteil der abstrakten Arbeit ist die Projektion des Urkommunismus: Im von Marx beschriebenen Urkommunismus sind die Bedürfnisse und deren Befriedigung einfach. Die Interaktionsform verläuft mehr oder weniger direkt. Der Marx’sche Urkommunismus ist die gesellschaftliche Projektion dessen, was Freud im primären Narzissmus für das Individuum annimmt. 57 Eine Kritik, die auch Habermas in „Erkenntnis und Interesse“ (vgl. Habermas 1973) anführt. Kritik an Habermas kommt von Ingo Elbe, der Habermas eine falsche Interpretation von Marx vorwirft (vgl. Elbe 2014) und wiederum eine kurze Entgegnung von Habermas erhält. (Vgl. Habermas 2014) 58 Wiederum Lorenzer auf der subjektiven Ebene im Sinne der Psychoanalyse und Marx auf objektiver Ebene im Sinne der sozioökonomischen Strukturen.
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chronizität; der Einzelwunsch korrespondiert mit anderen, benachbarten, oder wie Freud gesagt hätte, ‚assoziierten‘. Das ist die eine Perspektive. Weil die Einzelwünsche aber aus den Szenen einer Lebensabfolge hervorgingen, bilden die Wünsche auch ein diachrones Gewebe. Die Lust jeder Wunscherfüllung steht also am Schnittpunkt der je eigenen Lebenssituation und der je eigenen Lebensgeschichte. Wunscherfüllung ist so Selbstentfaltung.“ (Lorenzer 2002: S. 144)
Diese geschichtsphilosophischen Ansichten zur Selbstentfaltung sind bei Lorenzer und Marx, wie beschrieben, zusammenhängend und daher aus objektiver wie subjektiver Strukturanalyse her zu begreifen. Weitergehend prüfe ich die Zusammenhänge zu Vergegenständlichung, Aneignung und Entfremdung bei Marx und Lorenzer im Konkreten. Zur Realisierung der Subjektivität müssen zunächst die eigenen Anlagen bzw. entwickelte Bedürfnisse und Fähigkeiten in die Welt entäußert werden. Der Mensch vergegenständlicht59 sich daher in die objektiven Verhältnisse, was nichts anderes heißt, als dass er durch seine Tätigkeit die Welt (die Kultur) produziert und reproduziert: ihre Strukturen, Verhältnisse, Kulturen, Rituale, Dinge usw. Diese Welt soll dann dem Menschen seine eigene Subjektivität spiegeln, so der normative Anspruch. Um es anders auszudrücken: Die Abstraktion soll das Konkrete reflektieren können. Lorenzer beschreibt diese philosophische Grundlegung der Vergegenständlichung, wenn er annimmt, dass Symbole mit libidinöser Energie besetzt werden. Denn die Symbolisierung bietet genau die Möglichkeit, Selbst- und Weltverhältnisse zu reflektieren. Durch sinnliche und sprachliche Symbole erst wird Reflexion und subjektive Praxis möglich. Symbole sind daher Objektivationen, die individuelle und kollektive Bedeutungen haben, weil darin eigene und kollektive Bedürfnisse vergegenständlicht werden. Vergegenständlichung als Voraussetzung von Reflexion wird so auf einer gesellschaftlichen und einer individuellen Ebene sichtbar. In einem zweiten Schritt muss die Vergegenständlichung wieder angeeignet werden, wodurch subjektive Praxis oder Entfremdung entstehen können. Denn wenn Symbole verzerrt sind, dann dienen sie nicht mehr der Aneignung von Subjektivität. In diesem Fall wird das Vergegenständlichte unabhängig 60 vom Subjekt. 59 Vergegenständlichung ist eine anthropologische Konstante, um die Welt durch Tätigkeit nach eigenen Bedürfnissen gestalten zu können. Energie muss in die Welt entäußertet werden, um sie so zu verwandeln, dass in ihr die eigenen Interaktionsformen vollzogen werden können. 60 Dazu Marx: „Der Gegenstand, den die Arbeit producirt, ihr Product, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von d[em] Producenten unabhängige Macht gegenüber.“ (Marx 2009[1932]: S. 84) Die Handlungen der Menschen materialisieren sich und treten als eigenmächtig den Menschen gegenüber: So vergegenständlichen sich nicht nur Dinge, son-
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Die Welt wird so zu einer Welt aus abstrakten Zeichen, ohne subjektiven Bezug. Die Narration der eigenen Geschichte ist dementsprechend verzerrt und reflektiert nicht die richtige Lebensgeschichte und ihre frühen Szenen. Eine gelungene Aneignung bedeutet im Gegenteil, dass Vergegenständlichungen der eigenen Bedürfnisse in Symbolen angemessen reflektiert werden können und dadurch Erfahrung der Subjektivität und subjektive Praxis/Selbstentfaltung ermöglichen. Misslingt diese Aneignung, da eine falsche Narration zu einer falschen Identität geführt hat, kommt es zur Entfremdung. Die Strukturen, Verhältnisse, Kulturen, Rituale, Dinge können dann nicht mit der subjektiven Welt vermittelt werden. Im Kapitalismus erfährt sich der Arbeiter dann selbst als Ware, als Tauschwert und verkümmert zum einseitigen Produzenten von Waren: „Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert.“ (Marx 2009[1932]: S. 84) Scheitert die Aneignung, dann scheitert die Reflexion der eigenen Bedürfnisse, was Selbstverfügung prinzipiell verunmöglicht. Aber es scheitert nicht nur das Selbstverständnis, denn gleichzeitig dient das Symbol auch als kollektiver Bedeutungsträger, wodurch gesellschaftliche Kommunikation zurückgeworfen wird auf eine funktionalistische Verwendung von Zeichen. Eine Kommunikation, die subjektive Wünsche einschließt, wird dadurch unmöglich.61 dern auch Strukturen, Prozesse und Verhältnisse in „Tatsachen“. (Vgl. Quante 2009: S. 260) 61 Auch in den Metaphern der toten und der lebendigen Arbeit ist bei Marx das vorgezeichnet, was sich mit der Theorie der Interaktionsformen aus der Perspektive des Subjekts erhellen lässt. Die tote Arbeit ist die akkumulierte vergegenständlichte Arbeit, die nicht im Genuss des Produzenten wieder verzehrt wird. Die lebendige Arbeit ist die konkrete menschliche Tätigkeit, die Interaktionen. Die lebendige Arbeit ermöglicht die Verwirklichung der Anlagen. Im Kapitalismus dreht sich dieses Verhältnis als Subjekt-ObjektVerkehrung um. Die vergegenständlichten Interaktionen/Tätigkeiten schaffen eine Objektwelt, in der die Triebenergie aus dem Es beständig in die objektive Welt abfließt, ohne sich in den Interaktionsformen realisieren zu können. Die vergegenständlichten Verhältnisse bieten die Infrastruktur der Entfremdung im Prozess des „Einsaugens der lebendigen“ (Marx 2009[1941]: S. 67) Arbeit. Die kapitalistische Organisation der Interaktionen wird so strukturiert, dass die Triebenergie sich akkumuliert vergegenständlichen lässt, sie kann nun nicht mehr der Realisierung der Interaktionsformen dienen. Dies macht auch klar, dass der Kapitalismus beschädigte Subjektivität nicht nebensächlich produziert, sondern entscheidend darauf angewiesen ist. Marx beschreibt, wie das Kapital dadurch an Eigensinnigkeit gewinnt, dass die verausgabten Energien der Individuen eine ihnen fremde übermächtige Kraft produzieren, deren Herkunft sie nicht nachvollziehen können, obwohl sie eigentlich die Produzenten dieser Macht sind: „Das Rohmaterial, überhaupt der Arbeitsgegenstand, dient nur dazu, fremde Arbeit einzusaugen, und das
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In den „Ökonomisch-philosophischen Frühschriften“ beschreibt Marx die vier Formen der Entfremdung genau. Hierzu gehört als Erstes die eben analysierte grundlegende Entfremdung vom Produkt: Die Vergegenständlichung durch die Tätigkeit des Arbeiters produziert eine Ware, die sich dem Arbeiter als fremd gegenüberstellt. Die darin veräußerten Wesenskräfte (subjektive Anlagen) führen nicht zur Schaffung einer Welt die den Interaktionsformen entspricht. Somit wird der Widerspiegelungsakt zur Ausprägung von Selbst-Bewusstsein durch Erfahrung verunmöglicht. Im zweiten Fall der Entfremdung entfremdet sich der Arbeiter von seiner Tätigkeit, wodurch die Entäußerung scheitert. In der Tätigkeit des Arbeiters ist nicht mehr der subjektive Zweck (die Schaffung einer interaktionsgerechten Welt), sondern nur noch der objektive Zweck (die Aufrechterhaltung der Produktionsweise) enthalten. Die Handlung ist daher nicht mehr – den Interaktionsformen entsprechend – subjektgeleitet, sondern eine fremde Handlung, in der sich der Arbeiter nicht mehr wiedererkennen kann. Der Arbeiter folgt daher nicht mehr den eigenen Interaktionsformen, sondern fremden Interaktionsanforderungen. Marx beschreibt daher, wie die Energie des Arbeiters für eine fremde Tätigkeit missbraucht wird. Daher wird Energie sublimiert, nicht, um das Bedürfnis später zu befriedigen, sondern um die Produktion zu sichern: „Dies Verhältnis ist das Verhältnis des Arbeiters zu seiner eignen Tätigkeit als einer fremden, ihm nicht angehörigen, die Tätigkeit als Leiden, die Kraft als Ohnmacht, die Zeugung als Entmannung, die eigne physische und geistige Energie des Arbeiters, sein persönliches Leben – denn was ist Leben [anderes] als Tätigkeit – als eine wider ihn selbst gewendete, von ihm unabhängige, ihm nicht gehörige Tätigkeit.“ (Ebd.: S. 88–89)
Die dritte Kategorie ist die Entfremdung vom Gattungswesen. Der Mensch entmenschlicht durch seine Entfremdung. Der Begriff des Gattungswesens hat einen essentialistischen Beigeschmack, dem Marx jedoch widerspricht: „In der Art der Lebensthätigkeit liegt der ganze Charakter einer species, ihr Gattungscharakter, und die freie bewußte Thätigkeit ist der Gattungscharakter d[es] Menschen. […] Der Mensch macht seine Lebensthätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins.“ (Ebd.: S. 88–89)
Arbeitsinstrument dient nur als Konduktor, Leiter für diesen Einsaugungsprozeß. Indem das lebendige Arbeitsvermögen den gegenständlichen Bestandteilen des Kapitals einverleibt ist, wird dies zu einem belebtem Ungeheuer.“ (Ebd.: S. 88)
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Die Lebenstätigkeit/Praxis bildet dementsprechend die Grundstruktur lebensgeschichtlicher Entwicklung. Sie ist das dialektische Spiel aus innerer Natur und Gesellschaft. Die Praxis schafft den Gattungscharakter der jeweiligen gesellschaftlichen Epoche, die frühen Tätigkeiten bilden daher die Struktur des Es, die Interaktionsformen. Marx wird normativ, indem er anschließend behauptet, die freie bewusste Tätigkeit mache das eigentliche Menschliche aus. Mit anderen Worten: Der Mensch soll Herr sein über die Praxis. Sie soll keine Zwangstätigkeit sein, und weil sie bewusst sein soll, muss sie mit den Wortvorstellungen verbunden werden, die Interaktionsformen müssen sprachsymbolische Interaktionsformen werden. In der Entfremdung kehrt sich aber die Bewusstheit, die Sprache als bloße Rationalisierung, gegen den Menschen: „Die entfremdete Arbeit kehrt das Verhältnis dahin um, daß der Mensch eben, weil er ein bewußtes Wesen ist, seine Lebensthätigkeit, sein Wesen nur zu einem Mittel für seine Existenz macht.“ (Ebd.: S. 90) In der vierten Dimension von Entfremdung entfremdet der Mensch von anderen Menschen. Denn das Produkt ist nicht auf die Bedürfnisse eines anderen abgestimmt, sondern nur abstrakt für einen Markt produziert. Der Markt tritt mit seinen Waren an die Stelle der direkten menschlichen Interaktionen. Die tätige Interaktion zwischen Menschen wird durch Produktion, Ware, Geld und Konsumtion verschleiert. Die Interaktionsformen zwischen den Menschen werden dementsprechend nicht mehr richtig realisiert. An die Stelle der ersten konkreten sensomotorischen Erfahrungen in den frühesten Szenen treten abstrakte Waren als Ersatz. Diese Formen der Entfremdung, verursacht durch Störungen im Prozess von Vergegenständlichung oder Aneignung, sind außerdem konstitutiv für eine falsche Aneignung. Die verzerrten Wünsche (Klischees) und die falschen Symbole (Zeichen) führen zu einer Aneignung, die nicht den subjektiven Wünschen entspricht, sondern Ersatzbefriedigungen sind. Nach der Entäußerung subjektiver Qualitäten scheitert so die Rückholbewegung. Die Ersatzbefriedigungen erhalten die Spannung in den Interaktionsformen aufrecht, ohne jedoch zu entspannen. Diese führt Marx zufolge zum Sinn des Habens (vgl. Abschnitt 1.2.3). Es ist nun aber nicht so, dass der Mensch im Kapitalismus bloß einem Konsumismus ausgeliefert wäre. Denn Subjekt und Objekt verkehren sich. Es kommt also hinzu, dass die Objekte und Strukturen wirkmächtig werden, diese werden daher nicht mehr verstanden und kontrolliert, sondern werden selber zu Subjekten, beginnen autonom zu agieren. Autonom heißt nicht, dass die Objekte und Strukturen ein eigenes Bewusstsein oder Unbewusstsein besäßen. Sie sind aber unabhängig vom Willen der Subjekte und dadurch eigenmächtig. Dieses komplexe Verhältnis nennt Marx den Fetischcharakter. Fetisch und Ideologie als vergessene Narration Im „Kapital“ von Marx und auch in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule nimmt die Kategorie des Fetischs einen nicht zu unterschätzenden Platz ein. Denn
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der Fetisch ist das theoretische Gelenkstück zwischen Entfremdung und Ideologie. Entfremdung geht dem Fetisch voraus und ist damit seine Bedingung. Die Folge des Fetischs ist dann eine falsche Praxis und eine ideologische Bezugnahme auf diese Praxis. Bevor diese Einordnung von Entfremdung – Fetisch – Ideologie, in Bezug auf Lorenzer und Bourdieu, differenziert wird, bietet sich eine allgemeine Definition des Fetischbegriffs an. Diese bietet Robert J. Stoller: „Ein Fetisch ist eine Geschichte, die sich als Gegenstand ausgibt.“ (Stoller 1985: S. 155) Ich gehe von dieser allgemeinen Behauptung aus, um von dort die Analyse zu beginnen. Dass der Fetisch eigentlich eine Geschichte sei und sich dann aber als Gegenstand ausgebe, gilt es zu überprüfen. Nähert man sich der Aussage mit der sozialpsychologischen Subjekttheorie Lorenzers, wie ich sie bis hierher dargelegt habe, lässt sich festhalten: Die gemeinsame Geschichte von Subjekt und Objekt, ihr lebenspraktischer Zusammenhang, wird durch Entfremdung zerrissen. Subjekt und Objekt werden so zu zwei voneinander getrennten Dingen, obwohl sie durch eine gemeinsame Geschichte gebildet worden sind. Dem Subjekt wird die gemeinsame Geschichte aber unbewusst: Die Lebensgeschichte des Subjekts ist durch die Objekte (von der ersten Bezugsperson bis zu den Gegenständen) seiner Umwelt geprägt. Diese in der Entfremdung zerrissenen Zusammenhänge dauern aber auf unbewusster und vorbewusster Ebene fort. Dadurch, dass die gemeinsame Narration von Subjekt und Objekt vergessen (desymbolisiert) wird, kann sich der Mensch nicht mehr richtig zu seinen Objekten verhalten, er kann sie sich nicht mehr aneignen. Ohne ihre Aneignung aber erscheinen die Objekte als eigensinnig und naturhaft ontologisch – sie werden zu gegenständlichen Fetischen, ihrer Geschichte beraubt erscheinen sie daher als selbstständige Dinge. Die Dinge erhalten dadurch also ihre übersinnlichen Eigenschaften, in dem ihr Zusammenhang mit dem Subjekt verschleiert wird, obwohl dieser fortbesteht. Diese allgemeine Bestimmung gilt es tiefergehend zu erläutern. Subjekt und Objekt geraten durch Interaktionsformen in einen lebensgeschichtlichen Kontext, denn sie entstehen durch die Bezugnahme des Subjekts auf Objekte, wodurch sie die Interaktionsmatrix des Subjekts bilden. In dieser Matrix sind daher spezifische Wünsche zu bestimmten Objekten prädestiniert. In der (sprach)-symbolischen Interaktionsform sind Subjekt und Objekt entsprechend verbunden, da das Subjekt über das Symbol ein Bewusstsein des Objekts hat. Allerdings verliert sich dieser Zusammenhang in der Entfremdung. Das heißt aber nicht, dass sich der Zusammenhang zwischen Subjekt und Objekt auflöst, im Gegenteil, er bleibt unbewusst/vorbewusst bestehen, ist aber nicht mehr bewusst zu verstehen. Daher bleibt das Objekt auch weiter wirksam (löst als Klischee Affekte aus), wird aber nicht mehr verstanden, denn der eigentliche lebensgeschichtliche Zusammenhang wird nicht mehr durchschaut.
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Mit dem Objekt bleibt daher auch die Interaktionsform und mit ihr das Subjekt selbst unverstanden, schließlich braucht das Subjekt das symbolisierte Objekt, um sich zu verstehen. Die so vergessene Narration führt dazu, dass das Subjekt sich selbst verdinglicht, also keinen Zugang zur eigenen Lebensgeschichte mehr hat. Die eigene Geschichte wird daher dinglich, d. h., der Mensch nimmt sich nur als das wahr, was er gerade äußerlich ist, nicht aber, wie er dazu geworden ist: Er nimmt sich nur als Gegenstand wahr, nicht als Resultat seiner individuellen Lebensgeschichte, da er ja seine innere Struktur nicht mehr reflektieren kann. Während das Subjekt sich auf diese Weise selber zum geschichtslosen Gegenstand verdinglicht, wird das Objekt, als der andere Teil der Geschichte, selbstständig und eigensinnig. Zum Fetisch wird das Objekt also einerseits dadurch, dass es nicht mehr verstanden und angeeignet wird, und andererseits dadurch, dass es durch seine unbewusste Beziehung zum Subjekt noch affektiv wirkt. Die magische Kraft des Fetischs besteht genau aus dieser nicht-bewussten Affektnähe.62 Das Gegenteil wäre eine Aneignung des Objekts, wenn der vergessene lebensgeschichtliche Zusammenhang von Subjekt und Objekt wieder erinnert (bewusstwerden) würde, vermittels einer Erfahrung derselben. So wird mit Lorenzer klar, warum sich Objekte verdinglichen können und dadurch a) ihren geschichtlichen Zusammenhang zum Subjekt verlieren und b) als eigensinnig erscheinen und so zu Fetischen werden. Bezieht man, zu dieser allgemeinen Bestimmung des Fetischs, die Marx’sche Fetischkategorie mit ein, wird zusätzlich eine Herrschaftskomponente deutlich. Denn das Subjekt leidet nicht nur an der Entfremdung vom Objekt, sondern es produziert hinter seinem eigenen Rücken, ohne sein Wollen und Wissen, ein Herrschaftsverhältnis, das ihm dann als natürlich erscheint: Das Subjekt produziert dementsprechend übermächtige Objekte, wie Waren, Geld und Kapital, die nicht mehr vom produzierenden Subjekt selbst angeeignet werden können. Diese Objekte hingegen ergreifen ihrerseits das Subjekt und eignen sich dieses an. Dieser Aspekt der Fetischtheorie lässt sich ebenfalls mit Lorenzer weiter verdeutlichen. Denn Entfremdung wird vom individuellen zum gesellschaftlichen Problem, wenn das kollektiv unverstandene Objekt als Fetisch eine eigenständige unkontrollierbare Macht über die Subjekte erlangt. Die Objekte erscheinen dann in verschiedenen Feldern als Gegenstand ohne Geschichte. Die soziale Struktur eines Feldes (Kapitalqualität und -quantität, Rituale, Interaktionsmuster, Kultur, Dinge) bleibt so 62 Genauer: Das Ding bewahrt seine realwirksame Kraft aufgrund der Anstrengung des Subjekts, an ihm Befriedigung zu erfahren. Zur Erinnerung: Die Objekte sind fremd geworden und in ihrer falschen Aneignung kann der ursprüngliche Zusammenhang nur schwach repräsentiert werden. Der Fetisch als unpassendes Objekt kettet das Subjekt umso mehr an sich, je mehr das Subjekt sich durch das Objekt nicht befriedigen kann.
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in ihrer historischen Genese unerkannt und darüber hinaus erscheint sie dem Subjekt als natürliche Struktur. Die bestehende Ordnung des Feldes erscheint dann als Norm und nicht als entstanden und veränderbar. Der Fetisch verfügt in diesem Fall über die Strukturen (die feldspezifische Organisation der Interaktionen) und Dinge (konkrete Objekte). Daher lässt sich festhalten, dass bestimmte Felder bestimmte Formen des Fetischs bedingen. Denn das Subjekt bildet sein Narrativ über das Feld, nimmt so nur die wahrnehmbare Struktur in seine Identität auf, versteht aber nicht die Geschichte des Feldes, obwohl diese seine Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen prägt. Die hier dargelegte Analyse passt zum Fetischbegriff Stollers: Objekte können zum Fetisch werden, wenn nur das Resultat der Geschichte in einer dinglichen Form erscheint, nicht aber seine Genese, denn diese wird verdrängt bzw. vergessen. Ähnlich argumentieren auch Adorno und Horkheimer: „Alle Verdinglichung ist ein Vergessen.“ (Adorno/Horkheimer 2003[1944]: S. 263) Dieses Vergessen der Narration ist allerdings nicht zufällig, sondern durch spezifisch kulturelle Eigenschaften prädestiniert. Für die Frankfurter Schule und für Marx waren die besonderen Eigenschaften des Kapitalismus ausschlaggebend. Dem gehe ich auf den Grund, zunächst mit einer allgemeinen Beschreibung von Desymbolisierung in unterschiedlichen Feldern, anschließend mit einer genauen Sicht auf spezifisch kapitalistische Felder. Eine vergessene bzw. verdrängte Narration beruht immer auf einer Desymbolisierung. Jedes Feld hat eigene Tabus (die die Grenze der Doxa markieren) und damit eine eigene Form, auf die Subjekte zu wirken, in einer je individuellen Symbolisierung oder Desymbolisierung. Aufgrund der verschiedenen Biographien entstehen dementsprechend verschiedene Desymbolisierungen bzw. Nicht-Symbolisierungen. Diese sind individuell, da die Feldtabus ja auf individuelle Subjekte mit je eigenen Erfahrungen bzw. individuellen Wünschen treffen. Diese individuelle Verkennung eigener Wünsche korrespondiert aber dann mit einem gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang. Denn durch die Feldtabus gibt es in einem Feld nur bestimmten erlaubte Diskurse (Sprache und Handlungen), innerhalb derer sich die soziale Welt reproduziert. Es handelt sich dann jedoch nicht um die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit (Erdheim 1984), sondern eher um ein kollektives Bewusstsein im Feld mit mannigfaltigen individuellen Unbewussten.63
63 Das kollektive Bewusstsein ist hier allerdings keine eigene Substanz, sondern bloß eine Sammelbezeichnung einer gemeinsam im Feld geteilten Bewusstseinsstruktur. Es ist außerdem zu erwähnen, dass es sich immer um spezifische Felder und nicht die gesamte Gesellschaft handelt. Dazu überlappen sich die Felder, und auch die Subjekte sind in verschiedenen Feldern zuhause. Das Un- und Vorbewusste der Subjekte ergibt sich aus der
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Nun liegen im vergessenen Zusammenhang nicht einfach willkürliche Interaktionsformen durch ebenso willkürliche Tabus begraben. Denn es werden bestimmte Machtverhältnisse verschleiert und so reproduziert. Diese Machtverhältnisse werden unter der fetischisierten Logik, die sich verselbstverständlicht hat, nicht bewusst. Das verborgene soziale Verhältnis wäre nur individuell, durch die Erinnerung der Narration, auszumachen.64 Das soziale Verhältnis ist die verborgene Lebensgeschichte der Subjekte bzw. das Ursprungsverhältnis ihrer Interaktionsformen. Die Lebensgeschichte wird so verdeckt und es bleibt ein verdinglichtes Verhalten zurück, oder, mit Lorenzer ausgedrückt, eine Ersatzbefriedigung im Symptom: Das heißt, dass die (Sprach)-Symbole nicht mehr ausreichen, um die Narration des sozialen Verhältnisses repräsentieren zu können (Desymbolisierung) und sich diese nur noch verzerrt, als neurotisches Symptom, bemerkbar macht. Ohne seine Geschichte aber verliert das Subjekt seine Autonomie und gerät unter die Logik des Fetischs. Marx behauptet, dass es spezifisch in einer kapitalistischen Gesellschaft zum Fetisch kommt. Er erklärt das aus der Warenproduktion selbst. Hierbei wird das soziale Verhältnis in der Produktion durch die eigentümliche Produktionsweise von Waren verschleiert. Denn den Waren ist zu eigen, dass sie als Tauschwerte und nicht als Gebrauchswerte produziert werden. Die Menschen beziehen sich daher über diese Tauschwerte aufeinander, sie spiegeln ihnen das gesellschaftliche Verhältnis der Waren als ihr eigenes Verhältnis wider. Das eigentliche soziale Verhältnis wird dabei verdeckt und das Verhältnis der Warenproduzenten erscheint als das natürliche. Als Folge begegnen sich die Menschen selber nur noch im Tauschwertprinzip, als Waren. Erweitert man an dieser Stelle Marx um Bourdieu und Lorenzer, wird klar, warum es in Feldern zu Fetischen kommt, weit über die Produktion von Gütern hinaus. Denn diese Selbst-Kommodifizierung ist nicht nur auf die Warenproduktion zurückführbar.65 Wie die Menschen sich zueinander verhalten, in welcher Beziehung sie zu den anderen stehen, ist nämlich nicht nur vom Stand der Produktionsverhältnisse der Warenproduktion abhängig, sondern von der Produktion des gesamten Lebens: also den Lebensverhältnissen der frühen Interaktionsformen und denen der sekundären Sozialisation in den gesellschaftlichen Feldern.
Teilnahme in den verschiedenen Feldern, der eigenen Biographie und den reflexiven Ressourcen. 64 In der klinischen Psychoanalyse wäre das ein Erzählen, um vom Symptom zur Wurzel zu gelangen. 65 Allein, weil Menschen ohne Lohnarbeit ja nicht frei von Entfremdung sind. Außerdem sind die menschlichen Tätigkeiten ja weitreichender als bloß Warenproduktion.
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Mit Bourdieu wird deutlich, dass der Tausch und der Tauschwert Funktionsprinzip der Felder ist. Die Interaktionen im Feld müssen von den Menschen als wertvolle Interaktionen anerkannt und getätigt werden. Die Intention der Subjekte ist dann immer ein Feldvorteil, nicht aber direkte Wunscherfüllung. Tätigkeiten werden daher nicht in Bezug auf die individuell-unbewussten Biographien abgestimmt, sondern unter feldspezifischen Wertkategorien verschiedener Kapitalmuster. Das heißt, dass Praxis nach einem Tauschwert strebt und den Gebrauchswert vernachlässigt. Da Bourdieu Praxis nur eindimensional denkt, gerät ihm der Unterschied zwischen bewusst und unbewusst aus dem Blickfeld,66 wodurch er nur die beobachtbare (oft fetischisierte) Praxis in Augenschein nimmt, nicht aber die dahinterliegende verborgene Praxisstruktur und ihre Konflikte. So verfällt er in einen Ökonomismus, in der alle Praxis letztlich ökonomisches Kalkül ist, um die Position im Feld zu verbessern. Denn er beschreibt nur die beobachtbaren ökonomischen Tauschprinzipien, wodurch andere Sozialbeziehungen (freundschaftliche, solidarische usw.) aus dem theoretischen Rahmen fallen. Die Warenfetisch-Theorie verlöre damit aber ihre kritische Komponente, weil der Fetisch nichts mit den Menschen machen würde, sondern tatsächlich natürlich wäre: Jede Struktur wäre dann eine ontologisch-natürliche, weil der Mensch vollständig darin aufgeht und seine gesamte Praxis nur Ausdruck derselben wäre. Woran der Mensch dann aber eigentlich leidet, bliebe vollkommen unklar, denn ein Unbehagen als Differenz von (sozialisierter) Natur und Kultur wäre undenkbar. Diese ökonomistische Sichtweise Bourdieus lässt sich mit Lorenzer aufweichen, der die verborgenen Praxisstrukturen in den Blick nimmt. Mit Lorenzer sind Interaktionen denkbar, die gerade nicht durch ihren Tauschwert, sondern durch ihren Ge66 Bei Bourdieu fehlt eine konsistente Kategorie des Unbewussten und damit einer zweiten Praxisebene. Der Habitus ist zwar ebenfalls Produkt der Geschichte, allerdings drückt er sich strukturell immer nur nach einem einzigen Praxismuster aus. Auch wenn Bourdieu eine vergessene Geschichte ebenfalls als konstituierend für den Habitus ansieht: „Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat.“ (Bourdieu 1993: S. 105) Im Habitus wird Geschichte also dadurch vergessen, dass sie zur Natur wird. Ähnliche wie in der Theorie Lorenzers, bei der ein dialektischer Prozess von innerer und äußerer Natur, als gemeinsamer Praxiszusammenhang, das Subjekt konstituiert. Bei Bourdieu wird die Geschichte vergessen, inkorporiert und handlungsanweisend. Bei Lorenzer hingegen ist die Erinnerung an die Geschichte ausschlaggebend für die Wiedererlangung von Autonomie. Durch die Ausdifferenzierung Lorenzers in zwei Praxisebenen wird deutlich, dass der Fetisch aufgrund eines Missverhältnisses beider Ebenen zustande kommt, wohingegen die Habituskategorie nur die beobachtbare Praxisebene feldspezifischer Praktiken in den Blick bekommt. Der Habitus folgt daher nur einer Logik, während der Mensch in der Theorie Lorenzers eine innere und eine äußere Praxislogik verfolgt.
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brauchswert, getätigt werden, wie die Praxis nach (sprach)symbolischen Interaktionsformen. Denn Praxis, die den eigenen Interaktionsformen folgt, hat einen Gebrauchswert für das Subjekt. Es gibt aber zwei Praxisanweisungen, zwei rivalisierende Sinnebenen: Eine lebens- bzw. triebgeschichtliche und eine kulturelle bzw. eine nach Identität. Diesen Doppelcharakter kann man, analog zu Marx, auch in eine Praxis nach Gebrauchswerten und eine Praxis nach Tauschwerten (speziell im Kapitalismus) differenzieren. Die Anerkennung für eine bestimmte Praxis bestimmt den Tauschwert und vermittelt so Identität, denn gesellschaftlich anerkannte Praxis wird in der Regel in das selbstnarrativ aufgenommen. Demgegenüber hat die Realisierung von (sprach-)symbolischen Interaktionsformen einen Gebrauchswert im glücklichen Genuss realisierter Interaktionsformen. Wenn im Feld daher andere Kapitalstrukturen gelten, mit denen die Interaktionsformen nicht korrespondieren, muss das Subjekt sich dem anpassen. Welche Praxis das Subjekt ausübt, steht grundsätzlich in einem Gewaltzusammenhang: Die Tätigkeiten im Kapitalismus müssen als Waren produziert werden, den Wert der Waren bestimmt das Feld, und darin kann sich der Wert beständig verändern. Die Menschen beziehen sich daher in einer besonderen Weise auf ihre Interaktionen, nämlich als Waren – sie produzieren sich selber zum Tausch, ihre Veräußerungen werden marktförmig. Sie haben keine andere Wahl, wenn sie im Feld bestehen wollen. Dazu kommt, dass sie die Wertegegenständlichkeit ihrer Tätigkeiten in den Feldern in der Regel als Naturnotwendigkeit wahrnehmen. So auch in einem idealtypischen Verlauf von Ideologie. Mit Bourdieu und Lorenzer wird an dieser Stelle klar, wie verschiedene Felder mannigfaltige Fetische produzieren. Unterschiedliche Felder verlangen spezifische Dinge und Strukturen (mit eigenen Tauschwerten), um im Feld anerkannt zu werden, d. h. die richtigen Kapitalsorten und -mengen zu besitzen. In jedem Feld besteht ein anderer Druck, sich selber, die Dinge und Strukturen als Waren zu produzieren, sie tauschbar und damit anerkennbar zu machen. Mit Lorenzer und Bourdieu lässt sich die Fetischtheorie von Marx dementsprechend erweitern. Der Fetischcharakter wird durch die Theorie der Interaktionsformen von seiner Subjektseite begreifbar. Der Fetisch entsteht dann nicht nur aus den Produktionsverhältnissen, sondern aus der Produktion des gesamten Lebens, aus der Lebenstätigkeit, die, unter dem Aspekt der erweiterten Kapitaltheorie Bourdieus, grundlegend einen Warencharakter annimmt, abhängig vom Feld. Der Fetisch entspringt also den entfremdenden Produktionsverhältnissen des Lebens. Zu Beginn des Abschnitts habe ich außerdem den Zusammenhang des Fetischs mit Ideologie behauptet, was ich nun nachweisen möchte. Die Verrücktheit des Fetischs ist nicht offensichtlich, sondern zeigt sich erst in seiner Analyse und ist für den Alltagsverstand nicht zu begreifen. Im Bewusstsein ist die Welt zunächst genauso, wie sie erscheint, Normalität und damit Norm. In den jeweiligen Feldern mit ihren Strukturen spiegeln sich die Menschen und richten ihre Narration und damit
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ihre Identität bzw. ihren Habitus danach aus. Die angenommene Natürlichkeit des Feldes ist der angenommenen Natürlichkeit der eigenen Identität daher reziprok. Da die Menschen im Kapitalismus einander nur noch als Tauschwertbesitzer begegnen, werden sie auf dem Markt zu Charaktermasken, so die Kritik von Marx: „Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten.“ (Marx 1973[1867]: S. 100) Marx geht also davon aus, dass die Identität bloß eine Charaktermaske sei, hinter der die Subjektivität zurücktrete. Die Kategorie der Charaktermaske macht deutlich, wie zwei Subjekte sich zueinander als Waren verhalten und eben nicht unter Rücksicht auf ihre Interaktionsformen. Die Marx’sche Idee der Charaktermasken wird hier daher mit Lorenzer gedeutet: Um eine sprachsymbolisch vermittelte Interaktionsform zwischen Menschen zu realisieren, muss die Maske abgelegt werden bzw. muss Besonderes 67 sich zu Besonderem verhalten. Die Interaktionsformen brauchen, um sich zu realisieren, ein passendes Objekt, welches das Gegenüber bereitstellen muss. Im anderen Menschen als Objekt muss das Subjekt Anknüpfungspunkte finden, um Interaktionsformen realisieren zu können. Das Besondere muss angeeignet werden können. Aneignung ist die Durchdringung des Objekts, die Perzeption der eigenen Bezugnahme auf das Objekt und damit das Wiedererkennen eigener Interaktionsformen, um diese reflektieren und realisieren zu können. Im spielerischen Umgang, im sinnlichen und sprachlichen Probehandeln, werden die eigenen Interaktionsformen am Objekt ausprobiert, um die besonderen Anknüpfungspunkte für eine beidseitige Entaktualisierung der Interaktionsformen zu bestimmen: Das Subjekt verwirklicht sich so im Genuss des Objekts, welches ein anderes Subjekt sein kann. Bilden sich aber keine (sprach)symbolischen Interaktionsformen, welche über Kommunikation (symbolische Vermittlung) die hinter den Masken liegenden Besonderheiten verraten, dann erscheinen die Verhältnisse als naturgegeben. Diese Ideologie bleibt nicht folgenlos, sie führt zu Ersatzbefriedigungen. „Freilich ist der Betroffene [einer Symptombildung] ja nicht bewußtlos. Ja, er kann sogar Deutungen seines Handelns abgeben. Allerdings sind diese falsch. Es sind Rationalisierungen, falsches Bewußtsein. Aber falsch ist […] ja nicht nur das Bewußtsein, auch die Impulse sind verfälscht. Die wahren Bedürfnisse dürfen sich ja keineswegs äußern, die Triebbefriedigung darf sich allenfalls im Krankheitsgewinn regen. Einem falschen Bewußtsein korrespondiert also auch eine falsche Befriedigung, eine Ersatzbefriedigung.“ (Lorenzer 2002: S. 197)
67 Mit Besonderem sind hier spezifisch sozialisierte Muster/individuelle Eigenschaften gemeint.
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So bedingt der Fetisch Ersatzbefriedigungen, an die sich die Subjekte heften. Daher erhalten die Objekte reale Kräfte und verwandeln die Objektwelt in eine Welt, in der die Dinge und Strukturen eine eigensinnige, mitunter zwingende, Eigenmächtigkeit erhalten. Man denke nur an den Antisemitismus, der eine so große Befriedigung versprach, dass ein industrieller Massenmord möglich wurde. Die Felder stellen bestimmte Objektangebote bereit, in denen sich das Subjekt wiederfinden soll. Diese Angebote führen entweder zu geglückten sprachsymbolischen Verbindungen oder symptomatischen Ersatzbefriedigungen. Es lässt sich zusammenfassen: Mit der Theorie der Interaktionsformen und der Habitus-Feld-Theorie können Marx’ Überlegungen zum Fetisch in einem umfassenderen Sinne theoretisches Potential entfalten. Der Fetisch braucht die Entfremdung als Vorbedingung und gleichzeitig verhindert er beständig eine qualitative (Wieder-)Aneignung des Objekts. Die objektiven Strukturen des Feldes spiegeln dem Subjekt seine Identität, diese ist daher mit dem Feld identisch. Da das Subjekt aber nicht die Geschichtlichkeit des Feldes und damit seiner Identität begreift, bestimmt es seine Identität fälschlicherweise als naturwüchsig, als Ware. Außerdem kann die Ökonomismus-Kritik an Bourdieu zur kritischen Beobachtung gewendet werden: Die praxeologische Beobachtung, nach der die soziale Welt nur nach den Spielregeln der Kapitalakkumulation funktioniert, wird dann zur Beobachtung eines universellen Fetischcharakters, wie ihn Adorno vermutet. Hinter diesem liegen aber, als zweite Sinnebene, die Interaktionsformen. In der Realität tauchen sprachsymbolische oder desymbolisierte Interaktionsformen in unterschiedlichen Konstellationen, je nach Feld und Position im Feld auf. In den Feldern finden sich daher immer auch emanzipative Potentiale sprachsymbolischer Interaktionsformen. Dennoch erschweren Felder, die Interaktionen überwiegend über den Tauschwert organisieren, Selbsterfahrungen der inneren Strukturen. Wobei zu ergänzen ist, dass je nach Feld und Biographie die Potentiale von Erfahrung andere sind. Erfahrung ist ja dann erst Selbsterfahrung, wenn sie es schafft, dass das Besondere wahrgenommen wird, nicht das Allgemeine. Felder müssten daher objektiv so eingerichtet sein, dass sie das Besondere des Subjekts spiegeln können. Erst mit Selbsterfahrung wird dann Autonomie und das Potential von Freiheit möglich. Genau diese Reflexion weisen Lorenzer und Adorno der Kunst zu, die allerdings durch Kulturindustrie bedroht ist. Wie lässt sich dieses Besondere retten? Dieser Frage geht Adorno in der Negativen Dialektik nach. Negative Dialektik in Bezug zu Lorenzer Präzisiert man die Verwendung von Dialektik im Werk von Lorenzer mit der Negativen Dialektik Adornos, so lässt sich damit das Phänomen Entfremdung weiter erhellen. Lorenzer verwendet den Begriff Dialektik, um die wechselseitige Beziehung zwischen Kind und Mutter, Kind und Gesellschaft etc. zu erläutern. Dialektik wird so als Wechselverhältnis interpretiert, wodurch sich Interaktionsformen in der Aus-
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einandersetzung von Mutter und Kind bilden. Mit der Negativen Dialektik wird den verborgenen Interaktionsformen nachgespürt, denjenigen die durch das Allgemeine verdrängt wurden, den subjektiv-besonderen Interaktionsformen. Diese werden durch den Fetischcharakter bzw. Bann verdeckt: „In der menschlichen Erfahrung ist der Bann das Äquivalent des Fetischcharakters der Ware. Selbstgemachtes wird zum An sich, aus dem das Selbst nicht mehr hinausgelangt; im dominierenden Glauben an Tatsachen als solche, in ihrer positiven Hinnahme verehrt das Subjekt sein Spiegelbild. Als Bann ist das verdinglichte Bewußtsein total geworden. Daß es ein falsches ist, verspricht die Möglichkeit seiner Aufhebung: daß es nicht dabei bleibe, daß falsches Bewußtsein unvermeidlich sich über sich hinaus bewegen müsse, nicht das letzte Wort behalten könne. Je mehr die Gesellschaft der Totalität zusteuert, die im Bann der Subjekte sich reproduziert, desto tiefer denn auch ihre Tendenz zur Dissoziation. Diese bedroht sowohl das Leben der Gattung, wie sie den Bann des Ganzen, die falsche Identität von Subjekt und Objekt, dementiert. Das Allgemeine, von welchem das Besondere wie von einem Folterinstrument zusammengepreßt wird, bis es zersplittert, arbeitet gegen sich selbst, weil es seine Substanz hat am Leben des Besonderen; ohne es sinkt es zur abstrakten, getrennten und tilgbaren Form herab.“ (Adorno 2000[1966]: S. 336–337)
Dieses dichte Zitat von Adorno werde ich im Folgenden genauer analysieren und im Kontext Lorenzers bewerten. In der Negativen Dialektik verwendet Adorno den Begriff Bann, um die Erfahrungslosigkeit des Menschen mit dem Fetischcharakter der Ware gleichzusetzen: „In der menschlichen Erfahrung ist der Bann das Äquivalent des Fetischcharakters der Ware.“ Adorno verweist hierbei auf den universellen Charakter des Fetischs als Bann, der über die Warenproduktion hinausgeht. Dabei argumentiert Adorno in dem ebenfalls von mir favorisierten Verständnis eines Fetischs: „Selbstgemachtes wird zum An sich, aus dem das Selbst nicht mehr hinausgelangt; im dominierenden Glauben an Tatsachen als solche, in ihrer positiven Hinnahme verehrt das Subjekt sein Spiegelbild.“ Diese Verehrung des Spiegelbilds (Zurückspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse sind wohl gemeint) diagnostiziert Adorno als die Grundbedingung des Fetischs; eine selbstgeschaffene Struktur, die das Bestehende spiegelt und so eine (falsche) Identität vermittelt. Der Bann wird dadurch zur gesellschaftliche Totalität: „Als Bann ist das verdinglichte Bewußtsein total geworden. Daß es ein falsches ist, verspricht die Möglichkeit seiner Aufhebung: daß es nicht dabei bleibe, daß falsches Bewußtsein unvermeidlich sich über sich hinaus bewegen müsse, nicht das letzte Wort behalten könne. Je mehr die Gesellschaft der Totalität zusteuert, die im Bann der Subjekte sich reproduziert, desto tiefer denn auch ihre Tendenz zur Dissoziation.“ Adorno wählt hier mit Dissoziation einen psychologischen Begriff und macht damit auf die subjektiven Auswirkungen der Entfremdung aufmerksam. Außerdem verweist er auch auf die vage Hoffnung einer Aufhebung des verdinglichten Bewusstseins, gleichzeitig betont er aber
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dann, dass die fortgeschrittene Dissoziation gattungsbedrohend wird und ideologisch verhärtet: „Diese bedroht sowohl das Leben der Gattung, wie sie den Bann des Ganzen, die falsche Identität von Subjekt und Objekt, dementiert.“ In dieser falschen Identität wird das Besondere durch das Allgemeine beschädigt: „Das Allgemeine, von welchem das Besondere wie von einem Folterinstrument zusammengepreßt wird, bis es zersplittert, arbeitet gegen sich selbst, weil es seine Substanz hat am Leben des Besonderen; ohne es sinkt es zur abstrakten, getrennten und tilgbaren Form herab.“ (Ebd.) Für Adorno wie für Lorenzer schränkt der Bann/Fetisch also Erfahrungsmöglichkeiten ein. Durch die Verbindung von Klischee und Schablone tendiert das Denken zum total verdinglichten Bewusstsein. In ihm verfangen sich die Sprachund Denkstrukturen. Analog zum Fetischcharakter der Ware schaffen die Menschen eine Struktur, die ihnen das Gegebene (falsch) widerspiegelt. Das gegebene Allgemeine strukturiert so die narrative Identität, die allerdings subjektive Besonderheiten überstrahlt, eine Erfahrung des Besonderen wird somit unmöglich. Der Gegenbegriff des Bannes/Fetischs ist das Nichtidentische. Wie in Abschnitt 1.2.8 (Nichtidentität als Entfremdung) dargelegt, verbindet der Zentralbegriff Nichtidentität drei Ebenen der Kritik: 1. Sprach- und Denkstrukturen, 2. Erkenntniskritik und 3. Kapitalismuskritik. Diese Ebenen sind hier im Einzelnen in der Verbindung Adorno – Lorenzer nachzuzeichnen. 1. Das falsche (Selbst-)Bewusstsein ist auf Sprach- und Denkstrukturen zurückzuführen: Adorno nimmt an, dass wir den bezeichneten Objekten (Gegenständen, Strukturen, Menschen) dadurch Gewalt antun, dass wir sie sprachlich identifizieren und damit entscheidende Eigenschaften nicht begreifen können. Dabei ist das Denken aber gleichzeitig nur im Medium der Sprache möglich: „Denken heißt identifizieren.“ (Ebd.: S. 15) Sprache wird so zum gesellschaftlich-dialektischen Moment schlechthin. Sie ist gleichsam Mittel der Aufklärung wie Mittel der Verschleierung68 bzw. Verdrängung. Sprache und damit Bewusstsein sind bei Lorenzer ganz im Sinne Adornos gedacht: Sie präkonstruieren und reduzieren die Erkenntnismöglichkeiten des Objekts. So kann der leiblich-sinnliche Bezug zum Objekt immer nur teilweise symbolisiert werden. Aber auch die entmythologisierende Funktion der Sprache ist bei Adorno und Lorenzer ähnlich. Denn erst durch einen reflexiven Gebrauch der Sprache lassen sich die Begriffe und damit auch materielle Besonderheiten enttarnen. Das unendliche Probehandeln der Sprache ermöglicht daher eine hermeneutische Deutung, die sowohl für den tiefenhermeneutischen (Lorenzer) als auch den philosophischen 68 Je enger das Sprachkorsett, desto mehr verschleiert die Sprache. Die Definition steht für Adorno daher symptomatisch für eine verdinglichte Sprache, sie ist rationalisierend und damit tabuisierend: „Definitionen sind rationale Tabus.“ (Adorno 1993[1973]: S. 24)
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Prozess (Adorno) notwendig ist. Der Sprache ist zu eigen, dass sie über Begriffe funktioniert, also Gegenstände begreift. So verrät der Wortsinn von Be-griff die Komponente der Aneignung. Adorno und Lorenzer verweisen darauf, dass es nicht nur Aneignung und Nicht-Aneignung gibt, sondern auch falsche Aneignung durch Sprache. Denn Sprache verschleiert durch falsche Aneignung (falsche Identifizierung), wodurch der Prozess (die Geschichte) nur als Ding begriffen wird. Es geht beiden Autoren daher um eine falsche gedankliche Ergreifung der Gegenstände, die dadurch zugerichtet werden. Die Identifikation eines Gegenstandes mit dem falschen Begriff verstellt den Blick auf die Besonderheiten des Gegenstandes. Lorenzer nennt das Rationalisierung. Wenn ein Gegenstand nur in einer reduzierten Einseitigkeit erkannt und begriffen wird, dann kann das Subjekt sich auch nur in dieser Einseitigkeit dem Gegenstand gegenüber verhalten, die volle sinnlich-leibliche Bandbreite der Bezüge bleibt verschlossen. Daher versteht Lorenzer Psychoanalyse als Sprachrekonstruktion und damit als eine Methode, mit deren Hilfe die freie Assoziation „den Zwang zur Systematisierung der Symbole […] zu lockern“ (Lorenzer 1976: S. 94) imstande ist. Adorno und Lorenzer verfolgen ebenfalls eine verwandte Erkenntnismethode: Lorenzers Hermeneutik des Leibes und Adornos kritische Hermeneutik ähneln sich.69 Lorenzer entwirft eine psychoanalytisch geprägte Hermeneutik, die dann als Tiefenhermeneutik konkretisiert wurde, während Adorno ein Denken in Konstellationen entwickelte. In beiden Fällen soll das Besondere durch die hermeneutische Spurensuche erschlossen werden. Für Adorno ist die Hermeneutik eine solche Spurensuche: „Die Analyse ist als eine ‚tastende Spurensuche‘ durchzuführen, die von der Analyse des Besonderen ausgeht, um darin Spuren eines vernünftigen Lebens zu entdecken, das sich hinter dem Verblendungszusammenhang des Ganzen verbirgt. Denn ‚nur in den Spuren und Trümmern‘ gewähre die Wirklichkeit ‚die Hoffnung einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten‘.“ (König 1996: S. 316–317)
Mit Lorenzer lässt sich hinzufügen, dass die Analyse eine Suche nach den verborgenen Erinnerungsspuren ist, die sich in den Trümmern der zerstörten Sinnlichkeit entdecken lassen. 69 So auch König: „Die von Lorenzer entwickelte psychoanalytische Kulturanalyse ist ganz im Sinne von Adornos methodologischem Selbstverständnis eine hermeneutische Erfahrungswissenschaft, der entsprechend der Forscher die eigene Subjektivität als Erkenntnisinstrument einsetzt, um sich eine lebendige Erfahrung des Gegenstandes zu erschließen.“ (König 1996: S. 351)
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Es geht Adorno aber nicht darum, das Denken in Begriffen durch eine begriffslose Form der Erkenntnis zu ersetzen, sondern durch die Kritik an den Begriffen ihr Unerschlossenes (das Nichtidentische) aufspüren. Da ein Verzicht auf sprachliche Identifikation unmöglich ist, bemüht sich Adorno mit Begriffen gegen Begriffe zu denken: „Die Entzauberung des Begriffs ist das Gegengift der Philosophie. Es verhindert ihre Wucherung: daß sie sich selbst zum Absoluten werde.“ (Adorno 2000[1966]: S. 24) Das Nichtidentische markiert die Leerstelle der Desymbolisierung, die stetig von neuen falschen Identifikationen bedroht ist, da das Denken nach Konsistenz strebt, wie Lorenzer es beschreibt: „Der Konsistenzzwang des Bewußtseins, der Drang alles lückenlos zu erfassen, kann kein namenloses Verhalten dulden. Das Symptom wird in absurder Karikierung der verbotenen Verbindung von Interaktionsform und Sprachfigur mit einem Namen belegt, allerdings einem – gegenüber dem ursprünglichen Bedürfnis – falschen Namen (die Psychoanalyse hat dies Rationalisierung genannt), einem ‚falschen Namen‘, der den Platz des richtigen Namens einnimmt (des richtigen Namens, der bei der Desymbolisierung verschwunden ist).“ (Lorenzer 1981: S. 112)
Es ist festzuhalten: Sprache und Begriffe sind bei Adorno und Lorenzer dialektisch: Denn Sprache kann den unbewussten Interaktionsformen Ausdruck verschaffen und sie einordnen, Autonomie und Selbstreflexivität ermöglichen aber auch, gesellschaftliche Moralvorstellungen und Normen umzusetzen. (Vgl. König 1996: S. 338–339) Sprache ist somit gleichzeitig Mittel und Gegenstand der Erkenntniskritik. 2. Die Erkenntnismethode ist nicht von der Erkenntniskritik an der verdinglichten Sprach- und Denkweise zu trennen. Adorno arbeitet mit der negativen Dialektik ein Konzept aus, das nicht klar zwischen praktischer und theoretischer Philosophie trennen lässt, woraus sich der Vorteil ergibt, dass die erkenntnistheoretische Reflexion über Dialektik materiell wird und damit praktisch wirksam ist: „Die Analyse begrifflicher und die Analyse gesellschaftlicher Praktiken fallen bei Adorno mehr oder weniger zusammen.“ (Seel 2006: S. 72) In ihrem Kern ist die Negative Dialektik daher eine Theorie der Begriffsreflexion, bei der Begriffe gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten. Auch hier zeigt sich eine Ähnlichkeit zu Lorenzer, der das Zurechtrücken der Sprachverwirrung als entscheidendes Moment individueller und gesellschaftlicher Veränderung betrachtet. 3. Die dritte Ebene der Negativen Dialektik ist die Kapitalismuskritik, die ebenfalls mit Lorenzer differenziert werden kann. Im universellen Äquivalententausch werden die Besonderheiten und mit ihr die „Vielfalt des Verschiedenen“ (Adorno 2000[1966]: S. 16) dem Allgemeinen geopfert. In der Totalität der bürgerlichen Gesellschaft erkennen sich die Subjekte nur in der Spiegelung des allgemeinen
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Tauschwerts und damit als Ware bzw. als Funktion, so die marxistische Kritik Adornos. Mit Lorenzer lassen sich die Interaktionsvorgaben der Zeichenwelt bestimmter Felder in diesem Sinne deuten. Interaktionen sind dementsprechend an die leeren Zeichen und Ersatzbefriedigungen gebunden, die durch die ökonomischen Strukturen im Feld vorgegeben werden. Zieht man Bourdieu in die Überlegung mit ein, verdeutlicht sich die Kritikachse Adorno – Lorenzer: Die ökonomische Struktur des Feldes (symbolisches Kapital) gibt die Interaktionen zur Kapitalakkumulation vor, nach denen die Menschen ihre Interaktionen ausrichten und verinnerlichen. Mit den drei Ebenen der Kritik wird auch die normative Komponente deutlich. Das Objekt soll seine unreduzierte Entfaltungsmöglichkeit bewahren. Erst wenn der Mensch einem Objekt die Möglichkeit gibt, alle seine Eigenschaften darzustellen, kann dieses Objekt in seiner Besonderheit erfasst werden. Ist das Objekt ein anderer Mensch, dann kann dieser seine Lebensgeschichte (Narrativ) unverkürzt mitteilen und reflektieren, ohne auf Geschlecht, Rassenkonstrukt oder andere Vergesellschaftungskategorien (Identitäten) reduziert zu werden. Der zentrale Begriff dieser normativen Ebene ist das Nichtidentische. Er steht für das Anliegen von Adornos Philosophie: „Es handelt sich um den Entwurf einer Philosophie, die nicht den Begriff der Identität von Sein und Denken voraussetzt und auch nicht in ihm terminiert, sondern die gerade das Gegenteil, also das Auseinanderweisen von Begriff und Sache, von Subjekt und Objekt, und ihre Unversöhntheit, artikulieren will.“ (Adorno 2007: S. 15–16) Nichtidentität ist daher explizit auf die Achtung vor dem Nicht-Erfassbaren gerichtet. Begriff und Sache lassen sich auch als Sprache und Interaktionsform lesen. Die Sache / die Interaktionsform deckt sich nicht mit dem Begriff / der Sprache. Die Interaktionsform ist nicht oder nur unzureichend in der Sprache symbolisiert, sie fällt heraus und bildet das Nichtidentische. Das Nichtidentische ist in diesem Fall keine leere Kategorie bzw. etwas, das bloß fehlt, sondern etwas durch die falsche Identität Ausgeschlossenes, aber wirksames Besonderes. Das Nichtidentische soll daher vom Subjekt bewahrt werden: „Das Subjekt muss am Nichtidentischen wiedergutmachen, was es daran verübt hat“ (Adorno 2000[1966]: S. 149), ohne es als Klischee falsch in den Schablonen zu identifizieren. Das Besondere ist für Adorno zu bewahren. Mit der Perspektive auf Lorenzer wären das die individuellen Lebensgeschichten, die Narrative, in denen die je eigenen Interaktionsformen bewahrt und realisiert werden können, ohne in den sprachlich vermittelten Anforderungen der Welt an das Allgemeine ausgeliefert zu werden. Wie Hegel will auch Adorno den Begriff reflexiv zum größtmöglichen Erkenntnismittel machen. Das Wissen endet aber nicht in der Synthese des absoluten Wissens, sondern in der Rücksichtnahme des Ausgeschlossenen aus der Dialektik. Nur wenn Dialektik negativ gedacht wird, vermag sie Denken und damit Identität unabgeschlossen zu halten und bewahrt das Besondere in ihr auf, sie verwahrt sich so der Einigung mit dem falschen Begriff.
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Die Negative Dialektik verfährt auf der philosophischen Ebene ähnlich wie die tiefenhermeneutische Methode auf der psychoanalytischen Ebene. Beide Methoden üben Kritik an sprachlichen Fehlinterpretationen. Außerdem ist das Ziel beider Methoden die unreduzierte Erfahrung des Besonderen, der Blick hinter das Allgemeine. Adorno kritisiert zwar die Psychoanalyse, jedoch zu Unrecht, wie Hans-Dieter König zeigt. Er macht einsichtig, wie Lorenzer die Freud’sche Kulturkritik rekonstruiert, und damit, wie Adorno irrt, wenn er Psychoanalyse als subsumtionslogisch kritisiert. Freud hat ein Verfahren entwickelt, in dem das Nichtidentische gerade dadurch zugänglich gemacht wird, dass Rücksicht auf das Besondere genommen wird. Der Analysand bewahrt ja den Eigensinn der Lebensgeschichte dadurch, dass er diese nicht erklärt, sondern verstehen will. (Vgl. König 1996: S. 331–332) Die Differenz zwischen Lorenzer und Adorno besteht hier zwischen Resymbolisierung und Bewahrung. Lorenzer macht sich in der psychoanalytischen Theorie für eine Resymbolisierung stark, bei der die Interaktionsformen mit den richtigen Sprachsymbolen verknüpft werden sollen. Bei Adorno liegt der Fokus auf der Bewahrung des Nichtidentischen durch eine nichtbegriffliche Annäherung. Diese Theorie des Nichtidentischen verweist auch auf einen gesellschaftlichen Zusammenhang, da durch das verdinglichte Denken des einen Gewalt auf den anderen ausgeübt wird, wie Adorno schreibt: „Während das Denken dem, woran es seine Synthesen übt, Gewalt antut, folgt es zugleich einem Potential, das in seinem Gegenüber wartet, und gehorcht bewußtlos der Idee, an den Stücken wieder gutzumachen, was es selber verübte.“ (Adorno 2000[1966]: S. 30–31) Denn die besonderen Eigenschaften des anderen sind weder erkennbar noch realisierbar, solange der Andere nur als Abdruck der objektiven Welt wahrgenommen wird. Wenn im anderen keine Besonderheiten wahrgenommen werden können, können sie auch im Eigenen nicht erfahren werden. Andere Kommunikationsverhältnisse, die das Besondere des Gegenübers begreifen helfen, sind daher Voraussetzung einer anderen gesellschaftlichen Praxis, in der die entfremdeten Interaktionsformen begriffen werden und sich als gesellschaftliche Praxis, soweit möglich, entfalten können. Die Wahrung des Gegenübers als Subjekt wird so zu einer Voraussetzung befreiender gesellschaftlicher Verhältnisse überhaupt. Diese Wahrung des Gegenübers, die Anerkennung einer fremden Subjektivität, die nicht bloß Objekt ist, drückt sich für Adorno im Namen aus. Die Benennung eines anderen mit einem besonderen Begriff bewahrt den anderen vor dem Schicksal der Gegenstände, die mit einem Selbstverständnis der identifizierenden Begriffe auf ein abstrakt Gleiches zurechtgestutzt werden. Im Namen sieht Adorno daher ein Beispiel für eine Identifizierung, die das Nichtidentische bewahrt, da der Name zumindest theoretisch ein unbestimmter Begriff ist, der alle Eigenschaften zunächst möglich erscheinen lässt und dessen Vorstellung sich zunächst am Sinneseindruck nachbilden muss. Der Name lässt also grundsätzliche alle Eigenschaften des Ge-
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genübers offen, deckt nichts zu und erlaubt die Ausbildung besonderer Eigenschaften. Mit dem Begriff der Nichtidentität verweist Adorno sehr genau auf das Problem einer falschen Identität, wie es im Laufe dieser Arbeit auch für Lorenzer herausgearbeitet worden ist. Das Subjekt soll dieser falschen Identität entkommen, in dem es die objektiven Bedingungen reflektieren und verändern kann: „Das Subjekt ist die Lüge, weil es um der Unbedingtheit der eigenen Herrschaft willen die objektiven Bestimmungen seiner selbst verleugnet; Subjekt wäre erst, was solcher Lüge sich entschlagen, was aus der eigenen Kraft, die der Identität sich verdankt, deren Verschalung von sich abgeworfen hätte.“ (Ebd.: S. 272) Ein solches Abwerfen der Verschalung unter Bewahrung der Nichtidentität vollzieht sich ganz im Sinne der hier entwickelten Thesen zur Entfremdung. Denn die Entfaltungspotentiale wären so nicht mehr gänzlich von der Identität bestimmt, sondern würden immer auch das Nichtidentische einbeziehen. Adorno weist jedoch darauf hin, dass das zu erreichende Selbst nicht als Rückkehr zu einer Substanz bzw. Essenz wiederzuerlangen ist. Entfremdung liegt für Adorno wie für Lorenzer nicht in der Rückkehr zu einer substanziellen Essenz, sondern in der Realisierung einer bisher nicht realisierten Subjektivität, so Adorno: „Das Substantielle, das nach jener Ideologie der Person ihre Würde verleiht, existiert nicht. Die Menschen, keiner ausgenommen, sind überhaupt noch nicht sie selbst. Mit Fug dürfte unter dem Begriff des Selbst ihre Möglichkeit gedacht werden, und sie steht polemisch gegen die Wirklichkeit des Selbst. Nicht zuletzt darum ist die Rede von der Selbstentfremdung unhaltbar. Sie ist, trotz ihrer besseren Hegelschen und Marxischen Tage, oder um ihretwillen, der Apologetik anheimgefallen, weil sie mit Vatermiene zu verstehen gibt, der Mensch wäre von einem Ansichseienden, das er immer schon war, abgefallen, während er es nie gewesen ist und darum von Rückgriffen auf seine archaí nichts zu hoffen hat als Unterwerfung unter Autorität, gerade das ihm Fremde.“ (Ebd.: S. 274)
Gleichzeitig verweist Adorno hier darauf, dass Würde nicht in einer Substanz liegt und schon gar nicht in einem Zurück zur archaischen Natur, sondern in der Bewahrung freier Entfaltungsmöglichkeiten und autonomer Handlungssubjektivität. Adorno sucht daher einen dritten Weg und verortet gelingende Subjektivität weder bei einer Substanztheorie (zurück zu einer Essenz) noch bei einer Rollentheorie (Aufgehen in einer Rolle), vielmehr sucht er zwischen Subjektivismus und Objektivismus einen Ausweg, wie auch Lorenzer und Bourdieu: „Negative Dialektik hält ebensowenig inne vor der Geschlossenheit der Existenz, der festen Selbstheit des Ichs, wie vor ihrer nicht minder verhärteten Antithesis, der Rolle, die von der zeitgenössischen subjektiven Soziologie als universales Heilmittel benützt wird, als letzte Be-
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stimmung der Vergesellschaftung, analog zur Existenz der Selbstheit bei manchen Ontologen.“ (Ebd.: S. 272)
Adorno stellt sich ein nichtentfremdetes Individuum vor, das sich weder in falscher Identität noch in blinder Rollenerfüllung erschöpft, sondern als autonomes Subjekt, als Ich im Freud’schen Sinne, agiert: „Das befreite Ich, nicht länger eingesperrt in seine Identität, wäre auch nicht länger zu Rollen verdammt.“ (Ebd.: S. 273) Es lässt sich zusammenfassen: Adorno unterscheidet, wie Lorenzer, zwischen einer richtigen und einer falschen Identität, vermittelt durch Sprache/Bewusstsein. Der Fetisch/der Bann in den kapitalistischen Verhältnissen zwingt das Subjekt in einen Zustand abstrakter Identität, die einige besondere (konkrete) Interaktionsformen verdrängt: „Der gegenwärtige Zustand ist zerstörend: Identitätsverlust um der abstrakten Identität, der nackten Selbsterhaltung willen.“ (Ebd.: S. 275) Das besondere Subjektive hingegen, das nicht in der Synthese zum Ausdruck kommt, sondern von ihr unterdrückt wird, ist das Nichtidentische. Es ist dem Subjekt entfremdet und damit anfällig, in falschen Begriffen rationalisiert bzw. identifiziert zu werden. Negative Dialektik hingegen will das von Sprache ausgeschlossene Nichtidentische bewahren und ist damit ganz im Sinne Lorenzers eine Theorie der Achtung der ausgeschlossenen Interaktionsformen. Ästhetische Erfahrung als anerkennende Praxis bei Lorenzer und Adorno Adorno sieht in der Kunst eine alternative Erkenntnispraxis durch ästhetische Erfahrung, diese ist dem philosophischen Denken der Negativen Dialektik verwandt. Das Verfahren dieser Praxis ähnelt der Kulturanalyse Lorenzers. In beiden Verfahren wird versucht, das Nichtidentische zu ertasten. Mit der Negativen Dialektik als Theorie und der ästhetischen Verhaltensweise als dessen praktische Forderung bietet Adorno eine ähnliche Zugangsweise zum Nichtidentischen wie die Tiefenhermeneutik Lorenzers an. (Vgl. König 1996: S. 347) Der Forscher und der Kunstrezipient sollen hierbei „auf ihre eigene Subjektivität zurückgreifen.“ (Ebd.: S. 347) Der Fetisch/der Bann soll durch diese Herangehensweise brüchig werden. Die identitätsstiftende Rückspiegelung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse soll so durch Kulturobjekte (wahre Kunst) gebrochen werden. In Adornos ästhetischer Theorie verweigert sich die Kunst, durch eine gänzlich andere Vermittlungsform von Erfahrung, den sprachlich-identifizierenden Erkenntnismethoden. Kunst muss dafür eine nicht in der Identität aufgegangene Besonderheit bewahrt haben. Kunst wie Negative Dialektik teilen so ein Erkenntnisinteresse, so auch Gerhard Schweppenhäuser: „Es geht kritischer Philosophie [Negativer Dialektik, J. W.] und authentischer Kunst nach Adorno darum, das Sein der Sachen selbst gewaltlos zu übersetzen in Medien, in denen wir es
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erkennen und erfahren können. Mit Hegel geht Adorno davon aus, daß Kunst selbst in Erkenntnis übergeht.“ (Schweppenhäuser 2003: S. 134)
Im Gegensatz dazu werden in der Kulturindustrie die Kunstwerke zu „Reizsystemen“ (Adorno 1993[1973]: S. 395) und damit zu einem organisierten System von Reiz-Reaktions-Verhaltensweisen. Kulturindustrielle Produkte, die zur massenhaften Vermarktung hergestellten Kulturprodukte, zielen so auf das Niveau einer vorbewussten Triebmatrix. Das heißt, dass sie an der unreflektierbaren Tiefenstruktur des Subjekts ansetzen. Kulturindustrie ist daher auf Desymbolisierungen angewiesen. Sie setzt am Klischee an, das sich genau in dieser Form von Reiz und Reaktion zeigt und ohne bewusste Reflexionsebene ist. Kulturindustrie reproduziert so Erfahrungslosigkeit im Gegensatz zur ästhetischen Erfahrung. Ästhetische Erfahrung ist Adorno zufolge nicht durch eine Projektion von Vorannahmen an das Kunstwerk möglich, sondern, im Gegenteil, in der Entäußerung an das Kunstwerk. Adorno meint damit ein interesseloses Anschmiegen an das Kunstobjekt durch Mimesis, denn diese gilt ihm als „die Sphäre der Sinnlichkeit, der Gefühle, der unbewußten und vorbewußten Phantasietätigkeit […], die sich gleichsam unterhalb sprachlich organisierter Rationalität erhalten hat.“ (SchmidNoerr 1990: S. 151) Das mimetische Vermögen soll daher so eingesetzt werden, dass sich das Subjekt ans Objekt (Kunstobjekt) anschmiegen kann, so die praktischästhetische Verhaltensempfehlung von Adorno. Kunstgenuss ist daher ein Sichüberwältigen-Lassen. Das Mimetische rekurriert dementsprechend auf die Interaktionsform bzw. das sozial geformte Vorgeistige: „Mimesis ist in der Kunst das Vorgeistige, dem Geist Konträre und wiederum das, woran er entflammt.“ (Adorno 1993[1973]: S. 180) Das Bewusstsein soll daher über das Unbewusste verändert werden. Künstlerische Mimesis umgeht so die rationale Ebene des Bewusstseins, um dieses von unten zu entflammen. Mit Lorenzer wird das Sich-Einlassen klarer: Ohne die Blockade des falschen Bewusstseins soll sich das Subjekt dem Objekt anvertrauen und seine Interaktionsformen möglichst veräußern, d. h. an das Objekt überlassen. So soll der Kunstrezipient seine eigenen Vorannahmen durch die entstandenen Irritationen reflektieren. Er muss sich in gleichschwebender Aufmerksamkeit überraschen lassen, um etwas Neues hinter dem Bekannten zu finden. (Vgl. König 1996: S. 332) Kunstwerke sind, wie kulturindustrielle Produkte, bewusst hergestellte Produkte, allerdings werden bei ihrer Produktion unbewusste sinnliche Regungen eingearbeitet, die über das „Reizsystem“ hinausgehen. Daher muss, wie beim Genuss, auch in der Herstellung der sinnlich-mimetische Impetus bewahrt werden: „In den Kunstwerken ist der Geist zu ihrem Konstruktionsprinzip geworden, aber genügt seinem Telos nur dort, wo er aus dem zu Konstruierenden, den mimetischen Impulsen, aufsteigt, ihnen sich anschmiegt, anstatt daß er ihnen souverän zudiktiert würde.“ (Adorno 1993[1973]: S. 180) Adorno verlangt vom Künstler daher, die Impul-
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se nicht zu zensieren, sondern im Gegenteil ihnen zu folgen und sie sorgsam zu objektiveren: „Form objektiviert die einzelnen Impulse nur, wenn sie ihnen dorthin folgt, wohin sie von sich aus wollen.“ (Ebd.: S. 180) Im Kunstwerk werden, so hofft Adorno, dann diese latenten Sinninhalte aufbewahrt, wodurch dem Kunstrezipienten Erfahrungen ermöglicht werden. Adorno verlangt vom Künstler daher, dass er seine mimetischen Impulse sorgsam reflektiert und in den künstlerischen Gegenstand integriert. Qualitativ hochwertig ist das Kunstwerk dementsprechend, wenn der Künstler es schafft, seine Subjektivität in den Gegenstand zu veräußern. Ihm stehen nur allgemeine Mittel, Materialien und Strukturen zur Verfügung, mit denen er ein Kunstwerk, also einen besonderen Gegenstand, erschaffen muss. Besonders ist der Gegenstand daher dadurch, dass er subjektive Anteile in eine objektive Form integriert, die der allgemeinen Struktur der Gesellschaft entgegensteht. Das Paradox ist es also, ein subjektives Objekt bzw. ein besonderes Allgemeines zu schaffen. Dieses Paradox bildet den Rätselcharakter, wodurch sich im Kunstgenuss idealerweise eine Gänsehaut einstellt, ein Gefühl der Unstimmigkeit. Durch diese irritierende Erfahrung von Entfremdung erschließt sich ein neuer Zugang zu den Interaktionsformen unterhalb der diskursiven Zeichenangebote der Felder. Für Adorno ist beispielsweise die moderne Kunst eine solche Kunstform, um Erfahrung machen zu können. Was dabei erfahren wird, ist aber nicht der verborgene Inhalt des Kunstobjekts direkt, sondern die Erfahrung der eigenen Verdinglichung. Erfahrung wird daher über Ähnlichkeit und nicht über Differenz vermittelt. Im Spiegel dieser Erfahrung ist Irritation (Lorenzer) bzw. der Schauer (Adorno) oder die Gänsehaut (Adorno) möglich. Der Schrecken wird im Schauer nicht durch das Schreckliche im Objekt manifest, sondern durch die Ähnlichkeit mit der eigenen Beschädigung. Das Subjekt erkennt daher auch an sich nicht die eigene Nichtidentität, sondern die eigene (falsche) Identität. Adorno macht das an einem Beispiel der Dichtung Baudelaires deutlich: „Modern ist Kunst durch Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete; dadurch, nicht durch Verleugnung des Stummen wird sie beredt; daß sie kein Harmloses mehr duldet, entspringt darin. Weder eifert Baudelaire gegen Verdinglichung noch bildet er sie ab. Er protestiert gegen sie in der Erfahrung ihrer Archetypen, und das Medium dieser Erfahrung ist die dichterische Form.“ (Ebd.: S. 39)
Dadurch, dass sich das Subjekt auf ein kulturelles Objekt einlässt, erfährt es an ihm nicht seine Lebensgeschichte (richtige Narration), sondern das Negativ der Lebensgeschichte. Dies ist eine Erfahrung der Erfahrungslosigkeit bzw. die Erfahrung des Fetischs, der die eigene Geschichte in Form eines geschichtslosen Dinges verschleiert. Kunstwerke sind daher Repräsentanten der eigenen Negativität:
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„Ihre Gebilde überlassen sich mimetisch der Verdinglichung, ihrem Todesprinzip. [...] Während sie [die Kunst, J. W.] der Gesellschaft opponiert, vermag sie doch keinen ihr jenseitigen Standpunkt zu beziehen; Opposition gelingt ihr einzig durch Identifikation mit dem, wogegen sie aufbegehrt.“ (Ebd.: S. 201)
Das Medium dieser Erfahrung der Erfahrungslosigkeit ist die Mimesis, sie geht der sprachlichen Zurichtung voraus und bildet die sinnliche Schicht, welche dem kulturellen Gegenstand anvertraut wird. Der Modus der Aneignung funktioniert bei Kunst durch ein Moment der Schwäche und nicht der Stärke. Der Akteur setzt seine Subjektivität dem Objekt aus. Dieses Prinzip ist bei Adorno und Lorenzer gleich, wie auch König bemerkt: Der Betrachter muss sich mit der arrangierten Lebenspraxis probehalber identifizieren, bis er sich selber überfallen fühlt. (Vgl. König 1996: S. 354) Das Gegenmodell zu der teilnehmenden Kunst-Erfahrung ist der Erfahrungsverlust, der mit einer Verdrängung der Mimesis, der Triebmatrix, einhergeht. In der Kulturindustrie kommt daher auch das leichte Vergnügen als Ersatzbefriedigung ins Spiel: „Der gegenwärtige Erfahrungsverlust dürfte, nach seiner subjektiven Seite, weithin mit erbitterter Verdrängung der Mimesis, anstelle ihrer Verwandlung, koinzidieren. Was heute in manchen Sektoren der deutschen Ideologie immer noch musisch heißt, ist jene Verdrängung, zum Prinzip erhoben, und geht über ins Amusische.“ (Adorno 1993[1973]: S. 489)
Mit Verwandlung meint Adorno den Erhalt des Sinnlichen in einer reflektierten Praxis, allerdings nicht als bloßes Reiz-Reaktions-Verhalten. Mit Lorenzer ausgedrückt: eine Praxis in sprachsymbolischen Interaktionsformen statt durch klischeebestimmtes Verhalten. Das Sinnliche soll nicht verdrängt, sondern in eine reflektiert-sublimierende Form verwandelt werden. Verwandlung der Mimesis zielt daher auf die Bewahrung der sinnlichen Interaktionsform im Medium der Muße. Wie Aristoteles, und in Bezug auf ihn Marx, bezieht sich auch Adorno auf das Musische als unentfremdete Praxis. Hier kritisiert er die Kulturindustrie, in der das Musische zum Amusischen übergeht. Adorno vermutet, mit Lorenzer ausgedrückt, dass die Interaktionsform nicht als reflektierte musische Praxis an Kunst zum Ausdruck kommt, sondern dass die Interaktionsform als Klischee zum bloßen Reiz-ReaktionsSchema in der Kulturindustrie verkommt. Das Kunstwerk wird für Erfahrung so bedeutsam, weil in ihm ein latenter und ein manifester Sinn zusammengeschmolzen sind. Adorno beschreibt das mit dem
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Terminus Rätselcharakter70, der für ihn Voraussetzung eines Kunstwerks ist. Kunst verfährt nicht in diskursiver Symbolik, sondern in präsentativer Symbolik.71 Dadurch ist in ihr Erfahrung möglich. Kunst erhält, durch den rätselhaften Doppelcharakter, eine innere Zerrissenheit, die als der Spiegel eigener Erfahrungsarmut wirkt. (Vgl. König 1996: S. 340) Das Kunstwerk zeichnet sich für Adorno und Lorenzer daher gerade dadurch aus, dass es etwas Rätselhaftes zurückspiegelt, was die Identität nicht bestätigt, sondern in Frage stellt und damit Nichtidentisches sinnlich spürbar macht – Das Kunstwerk ist damit das Bruchstück im Fetisch/Bann. Der manifeste Inhalt des Kunstwerks ist dabei nicht immer mit erlaubt und der latente Inhalt nicht immer mit verpönt gleichzusetzen, wie König an Lorenzer kritisiert: Kunst kann auch genau umgekehrt verfahren. Gerade das macht ihren Rätselcharakter aus. (Vgl. ebd.: S. 343–344) Die Rätsellösung interpretiert König im Sinne von Adornos Methodologie und Lorenzers Tiefenhermeneutik: „Die Tiefenhermeneutik stellt ganz im Sinne von Adornos Methodologie eine Methode der Rätsellösung dar, die im Rückgriff auf eigene lebenspraktische Vorannahmen die im Text arrangierte Lebenspraxis auf eine so lebendige Weise vergegenwärtigt, daß dessen Besonderheit wie ein ‚Feuerwerk‘ aufblitzen und irritieren kann. Die Analyse dieser Irritation, die uns ‚erschauern‘ lässt, erschließt einen Zugang zu einem hinter dem manifesten Sinn verborgenen latenten Sinn.“ (Ebd.:S. 356) Durch die Mimesis, den Einbezug der sinnlichen Subjektivität, wird das eigene Besondere tangiert und dadurch sichtbar bzw. kurz spürbar. Die eigene Entfremdung wird so zur Methode gewandt, in dem sie provoziert wird und sich dadurch verrät. Affekte werden so durch einen Moment eigener Schwäche berührt. Was bei Adorno dieser Schauer ist, ist bei Lorenzer die Irritation. Beides tritt an den Bruchstellen der verwalteten Welt auf, an denen Reflexion beginnen kann. Es sind die Bruchstellen, die Natur in Gesellschaft hinterlässt. (Vgl. Ebd.: S. 353) Der Schauer vermittelt sich durch das Wiedererkennen eigener beschädigter (sozialer) Natur, im Wechselspiel von Verdrängung und Nähe: Der ferne Praxisentwurf kann durch Kunst plötzlich so nah erscheinen: „Das Kunstwerk lässt uns erschauern, weil wir vor den dort arrangierten Lebensentwürfen erschrecken, die uns fremd und doch zugleich vertraut sind.“ (Ebd.: S. 355) Verdinglichung hingegen verunmöglicht tendenziell den Schauer und tendiert zur Fetischisierung. Wenn nicht die eigene Lebensgeschichte reflektiert wird, erscheint das Gewordensein als unveränderliches ontologisches Sein. Das Bewusst70 So beschreibt Adorno: „Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache.“ (Adorno 1993[1973]: S. 182) 71 Wobei auch diskursive Symbole präsentativ wirken können, wie ein Gedicht etc.
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sein erscheint als einzige Möglichkeit des Selbstbezugs und wird dadurch selbstreferenziell: „Bewusstsein ohne Schauer ist das verdinglichte.“ (Adorno 1993[1973]: S. 490) Für Adorno ist das die totalitäre Rationalisierung der Welt, ohne ein Durchkommen zu der latenten Sinnlichkeit im Inneren. Ein Blick auf die Kunstinterpretationen von Adorno und Lorenzer offenbart die Ähnlichkeit beider Methoden, um das verdinglichte Bewusstsein zum Erschauern zu bringen, wie König bemerkt: „Die Tiefenhermeneutik ist ganz im Sinne der Adornoschen Methodologie eine Verfahrensweise, die auf einem Deuten in Konstellationen beruht. Sie erhebt das abduktive Schließen zur Methode, indem sie von szenischen Versuchsanordnungen auf die Konstellation der Sache und von exemplarischen Fallrekonstruktionen auf deren allgemeine Bedeutung schließt. Das bedeutet, daß die Eigenart der Interpretationsergebnisse mit Hilfe begrifflicher Versuchsanordnungen gefaßt wird, die sozialisationstheoretisch fassen, was die Fallkonstruktion erhellt.“ (König 1996: S. 367)
Getrennt sind die beiden Verfahrensweisen, der Tiefenhermeneutik und der Negativen Dialektik / der ästhetischen Verfahrensweise, durch die praktische Anwendung, einmal als Denken in Konstellationen (Negative Dialektik) / Ästhetisches Verhalten und einmal als (gruppenanalytische) Tiefenhermeneutik. Das Kunstwerk wirkt auf der unbewussten Praxisebene, hier kann es Erfahrungen vermitteln, die über feldspezifische Diskurse hinausgehen: „Funktion der Künste, d. h. auch der Literatur, ist es, die unbewußten Praxisfiguren und Erlebniserwartungen in sinnlich-unmittelbare Symbole zu überführen, um so neue Lebensentwürfe in der sinnlichen Erfahrung zur Debatte zu stellen.“ (Lorenzer 1986: S. 60) Therapeut und Kunstwerk teilen daher ein gemeinsames Interesse. Dem Therapeuten kann das gelingen, was dem Kunstwerk, so Adorno, vorbehalten ist: „Sich nämlich mit Hilfe des Analytikers der verdrängten Natur zu erinnern und sie so weit zur Sprache zu bringen, daß eine Versöhnung zwischen den bislang unterdrückten Leidenschaften und dem Bewußtsein möglich ist.“ (König 1996: S. 333) Adorno wie Lorenzer sehen in der Kunst einen Stachel, um verfestigte Feldstrukturen zu lösen. Kunst erhält dadurch die Kraft, gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. So weist Adorno der Kunst die Aufgabe zu, „Chaos in die Ordnung zu bringen“ (Adorno 2003[1951]: S. 253), und Lorenzer lässt sich als Zusatz lesen: Unter „Umständen kann eine Reorganisation nur durch die Zerschlagung der verkrusteten Zeichensysteme gelingen, […] also auf der Organisationsebene der präsentativen Symbole“. Aufgabe der Kunst ist daher ein „schöpferische[r] Akt der Symbolzertrümmerung, das heißt der Sprengung eines bisher gültigen geschlossenen Zeichensystems, die sich in einem umschriebenen schöpferischen Augenblick abspielt, und zwar auf der Ebene der Primärorganisation.“ (Lorenzer 1970: S. 84– 85)
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Die Symbolzertrümmerung ist für Kunst und Wissenschaft in kreativen Prozessen unerlässlich. Denn das Symbol, das zum bloßen verkrusteten Zeichen degradiert ist, ist sinnentleert und nur noch eine denotative Abstraktion. Kreativität ist dadurch nicht mehr möglich, da das Bewusstsein nicht mehr mit inneren Impulsen sich verschränkt, sondern nur selbstreferenziell bleibt. Die Sprache in einem bestimmten Feld kann zum Beispiel aus abstrakten diskursiven Zeichenketten bestehen, bei der Interaktionen diskursiv präformiert werden, ohne dass diese zwangsläufig mit den inneren Wünschen der Subjekte zusammenhängen. Die Auflösung dieser Zeichenketten kann über den irritierenden Schauer von Kunst gelingen: „Am Ende wäre das ästhetische Verhalten zu definieren als die Fähigkeit, irgend zu erschauern.“ (Adorno 1993[1973]: S. 489) Dadurch kann das Subjekt auf die Ebene der präsentativen Symbole und/oder auf die Ebene der Sprachsymbole zurückkommen. Das Subjektive wird in der Tiefenhermeneutik wie in der ästhetischen Verhaltensweise zum Ausgangspunkt von sinnlicher Erkenntnis. Einer Erkenntnis, die eigene Wünsche und unbewusste Praxiszusammenhänge einbezieht. Das Subjekt ästhetischen Verhaltens, so fordert Adorno, soll nicht das Kunstobjekt mit neuen diskursiven Zeichen in das Sprachsystem der Gesellschaft eingliedern, sondern die ästhetischen Gehalte des Objekts wirken lassen: „Jener, darin Subjektivität sich regt, ohne schon zu sein, ist aber das vom Anderen Angerührtsein. Jenem bildet die ästhetische Verhaltensweise sich an, anstatt es sich Untertan zu machen. Solche konstitutive Beziehung des Subjekts auf Objektivität in der ästhetischen Verhaltensweise vermählt Eros und Erkenntnis.“ (Ebd.: S. 490) Grundsätzlich plädieren beide Autoren für einen Rekurs auf die verborgene zweite Sinnebene, um Denken und Sinnlichkeit zu verschränken. Das blinde Bewusstsein als Zeichensystem ohne innere Entsprechung verkommt hingegen zur Ratio ohne Mimesis: „Die unterm Begriff des Gefühls subsumierten Reaktionsweisen werden zu nichtig sentimentalen Reservaten, sobald sie der Beziehung aufs Denken sich sperren, gegen Wahrheit blind sich stellen; der Gedanke jedoch nähert sich der Tautologie, wenn er vor der Sublimierung der mimetischen Verhaltensweise zurückzuckt. Die tödliche Trennung von beidem ist geworden und widerruflich. Ratio ohne Mimesis negiert sich selbst. Die Zwecke, raison d’etre der raison, sind qualitativ und das mimetische Vermögen soviel wie das qualitative.“ (Ebd.: S. 489)
Adorno argumentiert hier außerdem für eine Vernunft jenseits der instrumentellen Vernunft. Die Ähnlichkeiten zu Lorenzer sind offensichtlich: Beide Praxismuster sollen versöhnt werden, Ratio und Mimesis bzw. bewusste und unbewusste Verhaltensweisen. Zudem macht Adorno deutlich, dass für ihn Kunst über die diskursive Symbolik hinausgehen muss:
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„Begriffen wird einzig, wo der Begriff transzendiert, was er begreifen will. Darauf macht Kunst die Probe; der Verstand, der solches Begreifen verfemt, wird Dummheit unmittelbar, verfehlt das Objekt, weil er es unterjocht. Kunst legitimiert sich innerhalb des Bannes dadurch, daß Rationalität unkräftig wird, wo die ästhetische Verhaltensweise verdrängt ist oder unterm Zwang gewisser Sozialisationsprozesse gar nicht mehr sich konstituiert hat.“ (Ebd.: S. 488)
Der letzte Satz des Zitats verdeutlicht die Argumentation Adornos, dass im Sozialisationsprozess eine ästhetische Verhaltensweise verdrängt (desymbolisiert) oder gar nicht erst symbolisiert wird. Gegen eine solche Sozialisation ist nur eine veränderte Verhaltensweise fruchtbar, welche eigene Subjektivität als Mittel einsetzt. In einer Reflexion, d. h. einer Rückübersetzung in Bewusstsein bzw. Sprache, kann die eigene lebenspraktische Erfahrung so in neue sinnlich-symbolische und sprachsymbolische Interaktionsformen übersetzt werden. Damit kann es gelingen, durch eine ästhetische Verhaltensweise die verdinglichten und fetischisierten Strukturen zu durchbrechen. Exkurs: Ethik einer anerkennenden Praxis nach Lorenzer und Adorno Die vorausgegangenen Abschnitte tragen bereits eine implizite Annahme in sich, die aber noch nicht geklärt ist und die die gesamte Diskussion zu Entfremdung begleitet hat: Die Annahme besagt, dass Entfremdung auch ein ethisches Problem ist, denn Entfremdung versperrt die Möglichkeit der Selbstverfügung und hemmt damit die Entfaltung von Subjektivität. Der kategorische Imperativ kritischer Theorien lautet dementsprechend: Wo Entfremdung war, soll Subjektivität sein. Diese Annahme wird hier mit Lorenzer und Adorno nachholend reflektiert. Für Adorno wie für Lorenzer ist eine falsche Identität72 die Ursache eines entfremdeten Lebens. So ist für beide Autoren evident, dass die objektive bzw. gesellschaftliche Struktur den Menschen ergreift und beherrscht. Das Subjekt geht jedoch nicht in der objektiven Struktur unter, sondern geradezu auf.73 Das Subjekt ist somit nicht Opponent der Gesellschaft, sondern in ihr (falsch) aufgehoben. Denn das Subjekt (der Mensch) und das Objekt (die gesellschaftliche Struktur) sind auf der Praxisebene weitgehend identisch.74 Das bedeutet, dass die menschlichen Handlungen objektiven und subjektiven Strukturen entsprechen, ohne dass eine Differenz deut72 Falsche Identität ist immer mit subjektivitätsgerechter Identität verschränkt. Es gibt keine reine richtige oder falsche Identität. 73 Es befindet sich dementsprechend nicht mehr in einer „Souveränitätsgesellschaft“, sondern in einer „Disziplinargesellschaft“ (Foucault). 74 Deviantes Verhalten wird reintegriert oder gesellschaftlich sanktioniert.
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lich wird. Der Mensch handelt daher nicht gegen gesellschaftliche Vorgaben, sondern im Einklang mit diesen bzw. im Rahmen des Möglichen bestimmter Felder. Seine Identität wird ja durch die Spiegelung der Verhältnisse gestiftet. Diese Identität ist jedoch eine falsche (verdinglichte) und gefährliche (fetischisierte), so die Kritik. Denn unter der herrschenden gesellschaftlichen Praxis liegt ein Anteil von subjektiver Praxis begraben, der nicht oder nur unzulänglich realisiert werden kann. Das Subjekt wähnt sich also nur in dem Gefühl selbstbestimmter Verfügungsgewalt über sich, während es gleichzeitig den gesellschaftlichen „Ersatzbefriedigungen“ (Lorenzer) und dem kulturindustriellen „Amüsement“ (Adorno) folgt. Das Subjekt ist dementsprechend in einer falschen Identität mit den objektiven gesellschaftlichen Strukturen verfangen, die eine Praxis verlangt, welche nicht mit der Subjektivität zusammenfällt. Der Vorwurf eines heimlichen oder offenen Essentialismus verfehlt bei beiden Autoren sein Ziel. Denn die Konzeption von Subjektivität lässt sich nicht auf ein ursprüngliches oder feststehendes Gattungswesen reduzieren, sondern ist Produkt eines Verhältnisses aus erbgenetischen Anlagen und gesellschaftlicher Umwelt. Eine falsche Identität betrifft dementsprechend nicht ein ungeschichtliches, ungesellschaftliches Wesen und eine ihm fremde Kultur, sondern ein sozialisiertes eigensinniges Subjekt und seine gesellschaftliche Umgebung. Aus dieser Kritik an einer falschen Identität zwischen subjektiver und objektiver Struktur ergibt sich die ethische Annahme, dass der Mensch sich eigentlich nach seiner Subjektivität frei entfalten soll und dazu mit selbstreflexiven Ressourcen (Bildung) ausgestattet werden muss, um den totalitären Verblendungszusammenhang (Adorno) zu durchschauen, der ihn in der Struktur gefangen hält. Der Mensch soll also in die Lage versetzt werden, sich die objektiven Strukturen anzueignen und diese lebenswert, d. h. nach seinen subjektiven Besonderheiten zu gestalten. Das gute (und damit das richtige) Leben hängt vom Gelingen dieser Aneignungstätigkeit ab. Gesellschaftskritisch wird dieser Imperativ dann, wenn man annimmt, dass die objektive Struktur nicht so organisiert ist, dass Menschen sich frei darin entfalten können. Dieser Ethik eines selbstmächtigen Subjekts geht allerdings eine weitere ethische Einordnung voraus: die Kritik des Leides. Der Entfremdungsbegriff wäre für eine ethische Fragestellung in der Tat weitgehend irrelevant, wenn er nicht begreiflich machen könnte, dass Entfremdung eine Ursache von Leid ist. Die Annahme ist daher, dass die fehlende Selbstverfügung des Subjekts Leid evoziert, da die Praxis keine richtige sein kann, also keine befriedigende. Würde der Entfremdungsbegriff Leid nicht plausibel machen, dann würde er seine gesellschaftskritische Qualität einbüßen und auf einen reinen deskriptiven Begriff reduziert werden. Woher also kommt dieses Leid der Entfremdung? Mit Lorenzer lässt sich hier argumentieren: Es entsteht aus den unrealisierten Triebwünschen (den Interaktionsformen). Dazu lässt sich mit Marx und Adorno
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erweitern, dass es dem Subjekt gerade im Kapitalismus schwerfällt, seine eigenen Bedürfnisse zu realisieren, weil dieser durch den Zwang zur Kapitalakkumulation Tauschwerte statt Gebrauchswerte produziert. Es ist also besonders die kapitalistische objektive Struktur, die eine leidvolle falsche Identität vermittelt. Einerseits verlangt sie eine strikte Anpassung an die Logik der Profitmaximierung und andererseits bietet sie eine schier unendliche Flut an „Ersatzbefriedigungen“ und „Amüsement“ an. Adorno fasst das im Kulturindustriekapitel der Dialektik der Aufklärung zusammen: „Immerwährend betrügt die Kulturindustrie ihre Konsumenten um das, was sie immerwährend verspricht.“ (Adorno/Horkheimer 2003[1944]: S. 161) Das Leid entsteht daher aus der Divergenz von Interaktionsformen und erlaubter Praxis. Weil die Wünsche, die in den Interaktionsformen zum Ausdruck kommen, nicht realisiert werden können, müssen Ersatzformen an ihre Stelle treten. Leid entsteht also durch eine verfehlte Praxis, die eine falsche Identität aus Subjekt und Objekt zum Grund hat. Lorenzer verdeutlicht die falsche Identität anhand des Zwangscharakters, der eine Folge von einer widersprüchlichen Identität mit divergierenden Praxisanweisungen ist: „Der Zwangscharakter demonstriert geradezu lehrbuchhaft die unterschiedlichen Zugriffsweisen der beiden verhaltensdeterminierenden Instanzen: der aus der kulturellen Objektivität herkommenden Sprache, die hier sich ganz und gar als Besatzungsmacht aufspielt, und den unbewußt einsozialisierten Interaktionsformen, die sich subversiv in den Leib zurückgezogen haben. Der Leib ist ihre Domäne.“ (Lorenzer 2002: S. 194)
Das Nichtidentische ist der Schnittpunkt, an dem Adorno und Lorenzer sich treffen. Lorenzer fasst mit dem Begriff, wie Adorno, das Unrealisierbare der Interaktionsformen in der gesellschaftlichen Praxis.75 „Auch der Trieb ist geschichtlich. Das Konkrete ‚Es‘ ist als reale Triebpotenz ein Komplex hergestellter Interaktionsformen, in denen das Nichtidentische mit Gesellschaft in der körperlichen Ausgangslage steckt. Nur im Zusammenhang mit den real eingeübten Interaktionsformen entwickelt sich das Organismisch-Bewußtlose des ‚systematisch Unbewußten‘. Da Interaktionsformen ihre Formbestimmung immer im praktisch-dialektischen Prozeß der Sozialisation erhalten, ist der Trieb selbst geschichtlich.“ (Lorenzer 1974: S. 120)
75 Klaus Horn hat es ähnlich gefasst: „Psychoanalytische Sozialisationstheorie hebt das materielle Substrat, das Körperliche menschlicher Natur als eine Größe hervor, die gesellschaftlich (in der Sozialisation) bearbeitet wird und doch in diesen Formen der Bearbeitung nicht aufgeht.“ (Horn 1974: S. 168)
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Das durch Sprache verdeckte Nichtidentische gilt es zu rekonstruieren,76 liegt darin doch die verlorene Praxis eines gelungenen Lebens, welche durch eine falsche Identität verdrängt und vergessen wurde. Alfred Lorenzer entwickelt daher seine Tiefenhermeneutik, um verdrängte Interaktionsformen sichtbar zu machen, und Adorno entwickelt seine Negative Dialektik / ästhetische Verhaltensweise als eine Methode der Bewahrung des Nichtidentischen. Mit Marx, Adorno und Lorenzer kann daher die Ethik eines nichtentfremdeten Lebens formuliert werden als Imperativ, die Gesellschaft so einzurichten, dass alle Triebwünsche realisiert werden und nicht unentdeckt in der Sphäre des Nichtidentischen verschollen bleiben. Dieser ethische Grundsatz gerät aber ins Wanken. Denn die Objekte, die das Subjekt sich aneignen muss, um Interaktionsformen zu realisieren, sind oft selber Subjekte. In der Aneignung des anderen erlangt das Subjekt Verfügungsmacht über den anderen und beraubt ihn so seiner Subjektivität. Es droht, dass der Triebwunsch gleichzeitig die Negation des Triebwunsches des Gegenübers wird. An dieser Stelle lässt Hegel seine berühmte Herr-Knecht-Dialektik einsetzen, wohingegen Adorno noch einen anderen Gedanken ins Spiel bringt. Das positive Zentrum seiner negativen Philosophie liegt in einer kontemplativen Praxis, in der Anerkennung des Besonderen, die eine Ethik nicht-instrumenteller Verhaltensweisen ermöglicht, so die Interpretation Martin Seels (vgl. Seel 2004), der ich folge. Adorno fordert eine kontemplative Praxis als einen „Sinn für die Besonderheit des Daseins von Menschen und Dingen.“ (Ebd.: S. 13) Seel versteht Adorno so, dass er nicht möchte, dass die Objekte vollständig einverleibt werden. 77 Adorno fordere eine Distanzierung, um den Objekten die Möglichkeit der Entfaltung einzuräumen. Dazu zieht Seel einen Aphorismus aus der Minima Moralia heran: „Die reine Tathandlung ist die auf den gestirnten Himmel über uns projizierte Schändung. Der lange, kontemplative Blick jedoch, dem Menschen und Dinge erst sich entfalten, ist immer der, in dem der Drang zum Objekt gebrochen, reflektiert ist. Gewaltlose Betrachtung, von der alles Glück der Wahrheit kommt, ist gebunden daran, daß der Betrachtende nicht das Objekt sich einverleibt: Nähe an Distanz.“ (Adorno zit. nach ebd.: S. 33)
Hier wird Adornos Bezug auf Hegel und Kant deutlich, in dem eine gegenseitige Anerkennung sich dadurch vollzieht, dass man den Menschen und Dingen Zeit und 76 In diesem Sinne Lorenzer: „[…] die hinter dem Sprachschleier, dem falschen, sozial angepaßten Gerede verborgene Lebenspraxis, die sozial verbotene und deshalb verdrängte Lebenspraxis aufzuspüren. Das szenische Verstehen ist eine entscheidende Voraussetzung der gesellschaftskritischen Praxis der Psychoanalyse.“ (Lorenzer 2002: S. 68) 77 Wie auch in der Anerkennungstheorie Hegels.
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Raum einräumt, sich zu entfalten, ohne dass sie bereits mit Begriffen bzw. dem instrumentellen Denken auf ein bloßes instrumentelles Mittel reduziert werden. Adornos kontemplative Praxis ist eine Praxis der Achtung und Anerkennung der Freiheit des Objekts, es soll sich frei entfalten können und seine Besonderheit soll durch Erfahrung erkannt werden: „In solchen zweckfreien Beziehungen zu anderem und anderen sieht Adorno den ‚Erfahrungskern‘, der seine Kritik am Zustand moderner Gesellschaften motiviert und trägt.“ (Ebd.: S. 34) Subjektivität kann also nie alleine durchgesetzt werden, sondern muss sich mit anderen zusammen zweckfrei entwickeln und realisiert werden, so auch Adorno: „Wir werden nicht dadurch freie Menschen, daß wir uns selbst, nach einer scheußlichen Phrase, als je Einzelne verwirklichen, sondern dadurch, daß wir aus uns herausgehen, zu anderen in Beziehung treten und in gewissem Sinn an sie uns aufgeben. Dadurch erst bestimmen wir uns als Individuen, nicht indem wir uns wie Pflänzchen mit Wasser begießen, um allseitig gebildete Persönlichkeiten zu werden.“ (Adorno 1969: S. 145–146)
Für Adorno kann der Mensch sich nur in Gesellschaft vereinzeln (sich nach subjektiven Kriterien entfalten), genauso wie auch Marx vor ihm die Idee der Freiheit des Subjekts gedeutet hat: „Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein zoon politikon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.“ (Marx 1990[1860]: S. 616) Wie aber stellt sich Adorno eine intersubjektive Praxis vor, die Rücksicht auf die Besonderheiten aller Praxisteilnehmer nimmt? Er argumentiert, dass zunächst nicht die Praxis das Entscheidende ist, sondern das Bewusstsein über diese Praxis: „Die praktischen Ordnungen des Lebens, die sich geben, als kämen sie den Menschen zugute, lassen in der Profitwirtschaft das Menschliche verkümmern, und je mehr sie sich ausbreiten, um so mehr schneiden sie alles Zarte ab. Denn Zartheit zwischen Menschen ist nichts anderes als das Bewußtsein von der Möglichkeit zweckfreier Beziehungen, das noch die Zweckverhafteten tröstlich streift.“ (Adorno 2003[1951]: S. 45)
Adorno verweist hier auf das Bewusstsein, dass eine Interaktion auch nichtinstrumentell sein kann. Instrumentell ist eine Interaktion im Profitstreben,78 bei dem das Gegenüber zum Tauschwert degradiert wird. Glück liegt dann nicht mehr alleine in der Realisierung der Praxis, sondern im Bewusstsein darüber. Das Bewusstsein über die Möglichkeit der vom Zweck befreiten Praxis birgt das Glück der Erkenntnis und befähigt das Subjekt zur freiwilligen Selbstbeschränkung. Das Sub78 Profitstreben wird hier erweitert verstanden, durchaus im Sinne von Bourdieus Kapitaltheorie.
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jekt erlangt über die (Selbst-)Erfahrung den Zustand der Selbsterkenntnis, der Autonomie ermöglicht. Erst die Autonomie bietet die freie Entscheidung der Beschränkung von Interaktionsformen. Die erkannten (symbolischen) Interaktionsformen bieten so die Möglichkeit ihrer Beschränkung und Sublimierung. Dieser Innenblick wird bei Lorenzer ebenfalls mit der Möglichkeit der Selbstbegrenzung, in einer Rechenschaft über das eigene Tun, verknüpft: „Vor allem aber erlaubt die Verbindung von Sprachfiguren und Interaktionsformen den Blick nach innen, ermöglicht, daß Selbstreflexion sich der eigenen Praxis versichern und Rechenschaft über das eigene Tun geben kann.“ (Lorenzer 2002: S. 182)
Lorenzer und Adorno entwickeln getrennt voneinander so den Horizont einer Ethik, die aus dem Gegenbild der Entfremdung entwächst. Das individuelle Glück liegt in der Realisierung der Interaktionsformen, der gelungenen Praxis, und das gesellschaftliche Glück79 in der Autonomie, die Selbstbeschränkung und Sublimierung ermöglicht, wo sie geboten ist. Das Subjekt soll sich frei entfalten können, ohne den Zwängen der verwalteten Welt Folge zu leisten, und es soll sich durch die Kraft der Selbstreflexion für Momente befreien können, wie Martin Seel zusammenfasst: „Das Gravitationszentrum der gesamten Philosophie Adornos bilden Zustände nichtinstrumentellen Verhaltens, die als solche eines zwanglosen subjektiven und intersubjektiven Selbstseins beschrieben werden. Es handelt sich dabei um Situationen, die um ihrer selbst willen bejaht werden können, weil sie nicht länger (nur) Mittel sind, um wieder in andere, vermeintlich bessere zu gelangen. Bei diesen Gelegenheiten ist es den Subjekten möglich, sich Zeit für den Augenblick zu nehmen und damit für die Gegenwart ihres Lebens frei zu sein. Sie sind in der Lage, von der bloßen Wahrnehmung ihrer Interessen zu einer erweiterten Wahrnehmung der Welt zu gelangen. Diese Zustände sind für Adorno alles andere als Utopie. Inmitten der ‚verwalteten Welt‘ gibt es sie. Sie können real erfahren werden, wie verstellt ihre orientierende Kraft auch sein mag. Es sind jene ‚Spuren und Splitter‘, von denen es in der Antrittsvorlesung von 1931 heißt, dass sie die Hoffnung gewähren, ‚einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten‘.“ (Seel 2004: S. 35)
In den Momenten der Befreiung von der Last der objektiven Gesellschaftsstruktur soll das Subjekt für sich sein, ohne Entfremdung. Glück ist hier durch das Erkennen und Erfahren eigener Subjektivität, Intersubjektivität und die Subjektivität des anderen gekennzeichnet. Durch das Erkennen und Erfahren, den Splitter als Vergrößerungsglas (Adorno 2003[1951]: S. 55), bewahrt sich die Möglichkeit eines unent79 Gesellschaftliches Glück meint hier die Akkumulation des Glücks für die Gesellschaftsmitglieder.
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fremdeten Lebens, welches für den Moment seiner Entdeckung eine „Gänsehaut“ (Adorno) bzw. die „Irritation“ (Lorenzer) auslöst, die die falsche Identität zu erschüttern vermag. Diese Erschütterung soll die intersubjektive Praxis vom Zwang eines bloß instrumentellen Verhaltens befreien, so die Hoffnung. Adorno und Lorenzer sind sich hier nahe. In der Kontemplation liegt das Glück der Erfahrung. Selbstentfaltung ist erst möglich, nachdem die Besonderheit der Subjektivität erkannt bzw. erfahren ist. Selbsterkenntnis ist durch die Entfremdung in einer falschen Identität verstellt. Im Wahrnehmen der eigenen subjektiven Besonderheiten liegt der Schlüssel der Achtung der Besonderheiten des anderen. Erst die Aufmerksamkeit für die besonderen Qualitäten des Gegenübers erlaubt es, dass diese sich frei entfalten können. Mit Lorenzer kann man sagen: Erst dadurch, dass meine Interaktionsformen und die der anderen Zeit und Raum zu ihrer Realisierung gewinnen, in der eine Reflexion über sie möglich wird, lässt sich eine Welt einrichten, in der sich eine gegenseitige Anerkennung der Interaktionsformen zum Primat über die instrumentellen Verhaltensweisen erhebt. Entfremdung als Folge einer falschen Identität mit objektiven Strukturen einer instrumentell eingerichteten Welt versperrt die Möglichkeit der Erfahrung, Anerkennung und Realisierung subjektiver Qualitäten. Das Subjektive soll eben nicht in der objektiven Struktur aufgehen, sondern bewahrt werden in einer nichtinstrumentellen Praxis der Aufmerksamkeit für das Besondere. Eine so verstandene Praxis ist im Sinne der hintergründigen Ethik von Lorenzer und Adorno, in der Subjektivität an die Stelle von Entfremdung treten soll. 2.2.6 Resümee Alfred Lorenzer gelingt der Entwurf einer Theorie, mit der sich Subjektivität denken lässt, ohne essentialistisch oder interaktionistisch zu sein. Die Theorie der Interaktionsformen ist anschlussfähig, um einen materialistischen Zugang zu Entfremdung und deren mögliche Aufhebung bzw. Minderung zu theoretisieren. Subjektivität ist sozial hergestellt und bewahrt dennoch Aspekte von Natur. Mit der hermeneutischen Methode hebt Lorenzer die Grenze zwischen Natur- und Kulturwissenschaft genauso behutsam auf wie die Grenze zwischen psychoanalytischem Subjektivismus und soziologischen Objektivismus. Die materialistische Sozialisationstheorie ist mit marxistischen Begriffen konzipiert worden. Lorenzer verengt mit diesen Begriffen teilweise seine eigene Theorie unnötig. So sind Begrifflichkeiten wie Mutter als Gesamtarbeiter (vgl. Lorenzer 1972: S. 136) irreführend. Lorenzer reduziert damit die objektive Welt begrifflich auf ökonomische Kategorien. Er kann daher nicht genau beschreiben, wie die Welt, vermittelt über die Mutter, dialektisch interaktionsformbildend wird. Die Sozialisation der Mutter ist ja selber vom Feld und spezifischen Erfahrungen in diesem ab-
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hängig und kann nicht auf marxistisch-ökonomische Kategorien reduziert werden. Nachhaltig beschädigt wird die Theorie dabei aber nicht. Dennoch müssen andere Ansätze gefunden werden, damit objektive Strukturen besser in die Theorie integriert werden. Das wird im nächsten Kapitel durch die Verknüpfung der Theorien von Lorenzer und Bourdieu ausgearbeitet. Mit der Umformulierung des Triebs als Interaktionsform und der Analyse von Symbolen und Zeichen hat Lorenzer aber das Fundament gelegt, die innere Welt angemessener zu interpretieren. Lorenzers implizite Annahmen zur Entfremdung konnten entsprechend explizit gemacht werden. Entfremdung ist zu verstehen als Differenz von Subjektivität und Identität bzw. inneren und äußeren Strukturen im Menschen, die zu heteronomen Praxisanweisungen führen. Subjektivität wird dialektisch aus der Mutter (Beziehungsperson)-Kind-Dyade gebildet, wobei über die Mutter bereits Gesellschaftlichkeit in den Subjektbildungsprozess eingeflossen ist. Identität hingegen wird über Selbst-Narrative vermittelt, die eng an gesellschaftliche Vorgaben geknüpft sind und zumeist sprachlich repräsentiert werden. Identität und Subjektivität werden dann heteronom: „Das Individuum unterwirft sich dem sprachlich repräsentierten sozialen Konsens. Es paßt sich den Regeln der sozialen Ordnung an. Es unterdrückt nicht nur seine Bedürfnisse im Dienst dieser Anpassung, sondern verliert an diesem Punkt seine subjektive Selbstverfügung. Es verliert alle die Vorzüge, die ihm bei der Einigung von Sprache und Interaktionsformen zugefallen waren. Selbsterfahrung und Einsicht in die eigenen Verhaltensgründe schwinden ebenso wie die Fähigkeit zum Planen und Probehandeln. Statt dessen verfällt das Verhalten wieder dem situativen Reiz/Reaktionszwang, ohne doch der Selbstkontrolle zu entgehen und die alte Unbeschwertheit wieder zu gewinnen. Denn die Sprache hält weiterhin das Individuum im Systemzwang gefangen. Die Sprachlosigkeit ist ja nur punktuell. Das verpönte Verhalten ist zwar unterdrückt, da der unstatthafte Lebensentwurf – die Interaktionsformen – aus dem Denken getilgt und der freien bewußten Verfügung durch die Individuen entzogen wurde, aber das reißt keine Lücke ins Bewußtsein. Oberhalb der verpönten Interaktionsformen wird der Denk- und Handlungszusammenhang mit einem ‚falschen Namen‘, den Freud ‚Rationalisierung‘ genannt hat, abgedeckt. Der Denkzusammenhang bleibt gewahrt, die Weltansicht erscheint so vollständig wie eh und je. Daß Handlungsmuster aus dem eigenen Handlungsrepertoire getilgt worden waren, bleibt um so unbemerkter, als diese Muster als abstrakte, dem eigenen Streben fremde so durchaus gedacht werden können. Die Sprache behält oder erhält an diesem Punkt zurück, was sie vordem war: subjektlose Objektivität. Nur scheinbar ‚subjektiv angeeignet‘, nehmen diese Sprachfiguren wie Angehörige einer fremden Besatzungsmacht ihren Platz im Denken, Planen des Betroffenen ein ohne Bezug zu den verdrängten Interaktionsformen und d. h. den verpönten Lebensentwürfen. Sie beherrschen die Situation um so ungestörter, als sie nun keine Rücksicht auf unbewußt einsozialisierte Lebensentwürfe nehmen müssen. Sie können ihre Gegnerschaft ausspielen.“ (Lorenzer 2002: S. 188– 189)
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Diese Entfremdung als Verlust subjektiver Selbstverfügung korrespondiert dementsprechend mit der Rationalisierung und macht den Menschen anfällig für Fetisch und Ideologie. Hier skizzierte Anschlusspunkte an Marx, Adorno, Horkheimer und Giddens fügen sich in eine kohärente Entfremdungstheorie. Mit Giddens lässt sich Identität als narrative Struktur deuten. Diese Identität besteht immer aus falschen und richtigen Anteilen, einem falschen und einem richtigen Ich. In der vergleichenden Analyse hat sich Entfremdung, Fetisch und Ideologie bei Marx widerspruchsfrei mit der herausgearbeiteten Entfremdungsthese bei Lorenzer verknüpfen lassen. Darauf aufbauend war es möglich, den erweiterten Begriff des Fetischs als Bann bei Adorno plausibel zu machen und mit dem Zentralbegriff der Negativen Dialektik, der Nichtidentität, in ein sinnvolles Gesamtkonzept zu integrieren. Weitergehend wurden auch Kunst und ihre Antagonistin, die Kulturindustrie, in das entwickelte Konzept eingebunden. Abschließend wurde in einem Exkurs das Verhältnis von Entfremdung und Subjektivität als ethisches Konzept diskutiert und mithilfe von Seels Adornoanalyse für die Arbeit interpretiert.
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Das entfremdete Subjekt im Feld
In diesem Kapitel werden die beschriebenen Theorien von Pierre Bourdieu und Alfred Lorenzer theoretisch tiefergehend zusammengeführt. So soll das Phänomen der Entfremdung in einer subjektiven und einer objektiven Strukturanalyse gleichsam begreifbar werden. Zunächst werden dafür die metatheoretischen Ebenen von Bourdieu und Lorenzer auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht (3.1). Unterhalb dieser gemeinsamen abstrakten Metatheorie der menschlichen Praxis werden dann konkrete subjektive und objektive Strukturanalysen zueinander ins Verhältnis gesetzt. Im Abschnitt 3.2 arbeite ich heraus, wie eine innere Natur im Kontext des Habitus zu verstehen ist und warum diese wichtig ist, um Entfremdung zu verstehen. Im darauffolgenden Abschnitt (3.3) entwickle ich dann eine allgemeine Analyse von Aneignung und Entfremdung im Feld. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels (3.4) entwerfe ich fünf fiktive Szenarien der Anwendung meiner theoretischen Überlegungen zum entfremdeten Subjekt.
3.1 METATHEORIE DER MENSCHLICHEN PRAXIS Die Skizzierung einer Metatheorie der menschlichen Praxis dient der Rückversicherung, dass die Theorien von Bourdieu und Lorenzer auf abstrakter Ebene miteinander kompatibel sind. Gemeinsamkeiten lassen sich hinsichtlich der Forschungsfrage, der Überwindung von Subjektivismus und Objektivismus, der Interdisziplinarität, des materialistischen Leibes als theoretischem Bezugspunkt und des AntiEssentialismus finden, wie ich im Folgenden darstelle. Bourdieu und Lorenzer verbindet ein gemeinsames Forschungsinteresse: die Suche nach den Erzeugungsprinzipien der Praxis. Oder, als Frage formuliert: Was ist die Praxis und wie wird sie konstituiert? Bourdieu beantwortet diese Frage mit seinen Überlegungen zur Dialektik von Feld und Habitus, während Lorenzer die Theorie der Interaktionsformen ebenfalls aus der Dialektik von innerer und äußerer
216 | Die Entfremdung des Subjekts
Natur/Kultur entwickelt. Gemeinsam ist beiden Autoren daher die Annahme einer Praxis-konstituierenden Dialektik und die Überwindung von Subjektivismus und Objektivismus. Denn die Analyse des Sozialen ist weder aus dem Innenleben der Menschen noch aus der Gesellschaftsstruktur alleine abzuleiten. Bei Bourdieu ist diese Idee jedoch expliziter als bei Lorenzer formuliert: „Von allen Gegensätzen, die die Sozialwissenschaften künstlich spalten, ist der grundlegendste und verderblichste der zwischen Subjektivismus und Objektivismus.“ (Bourdieu 1993: S. 49) Daher sollen subjektive Erfahrungen der Akteure und die Analyse objektiver Strukturen in einer Theorie der Praxis aufgehen, die mit der Analyse der Habitus die Praxisdispositionen der Akteure im Feld begreifbar machen will. Auch Lorenzers Theorie der Interaktionsformen lässt sich implizit in diesem Sinne verstehen, als Analyse der Struktur des Subjektiven und seiner objektiven Bedingungen, anhand derer die Praxisdispositionen rekonstruiert werden. So lässt sich zuspitzen: Während Lorenzer die Psychoanalyse aus ihrer subjektivistischen Verankerung löst, bricht Bourdieu mit den tendenziell objektivistischen Theorien seiner Zeit in Frankreich. Aufschlussreich ist eine ähnliche Kritik von Bourdieu und Lorenzer am Beginn ihrer metatheoretischen Schriften, die zu der gemeinsamen (Syn-)These eines Materialismus der Praxis führt, der von einer praktischen menschlichen Tätigkeit und Geschichtlichkeit im Leib ausgeht. So Lorenzer in seinem Vorwort Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie (Lorenzer 1972: S. 7–12) aus dem Jahr 1972: „In dieser Arbeit soll gezeigt werden, daß es keinen Ansatz von Subjektivität außerhalb der praktischen Dialektik der Auseinandersetzung des ‚Gesamtarbeiters‘ mit äußerer Natur wie auch innerer Natur (des Kindes) gibt, und daß das Subjekt in ‚materiellen‘ Prozeßschritten aus eben dieser Dialektik herauswächst. Subjektivität ist voll und ganz auf objektive Bedingungen zurückzuführen. […] Wie wird die ‚innere Natur‘ des Kindes so in menschliche Praxis eingefädelt, daß kindliche Entwicklung in vollem Umfang zugleich als Naturgeschichte wie auch als soziale Bildungsgeschichte aufgrund objektiver politisch-ökonomischer Prozesse gelesen werden kann, ohne an irgendeiner Stelle vorgegebene, geschichtsunabhängige subjektive Kompetenzen und Strukturen unterstellen zu müssen“ (Ebd.: 1972: S. 10–11)?
Lorenzer beschreibt hier die Entstehung der menschlichen Subjektivität und die damit verbundene innere Praxisdisposition als Dialektik von objektiver (äußerer Natur) und subjektiver (innerer Natur) Struktur. Und Bourdieu formuliert in seinem im Original ebenfalls 1972 erschienenen „Entwurf einer Theorie der Praxis“ (Bourdieu 2009)1: 1
Die Rezeption des Buches setzte erst spät ein, vor allem im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von „Die feinen Unterschiede“ 1979 in Frankreich und 1982 in Deutsch-
Das entfremdete Subjekt im Feld | 217
„Um den Strukturrealismus zu entgehen, der die Systeme objektiver Relation derart hypostasiert, daß er sie in jenseits der Geschichte des Individuums oder der Geschichte der Gruppe angesiedelte präkonstruierte Totalitäten verwandelt, gilt es und genügt es auch, vom opus operatum zum modus operandi, von der statistischen Regelmäßigkeit oder algebraischen Struktur zum Erzeugungsprinzip dieser observierten Ordnung überzugehen und die Theorie der Praxis oder, genauer gesagt, die Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen zu entwerfen, die die Bedingung der Konstruktion einer experimentellen Wissenschaft von der Dialektik zwischen Interiorität und Exteriorität, d. h. zwischen der Interiorisierung der Exteriorität und der Exteriorisierung der Interiorität bildet: Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden materiellen Existenzbedingungen), die empirisch unter der Form von mit einer sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten gefaßt werden können, erzeugen Habitusformen, d. h. Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv ‚geregelt‘ und ‚regelmäßig‘ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein; die objektiv ihrem Zweck angepasst sein können, ohne das bewußte Anvisieren der Ziele und Zwecke und die explizite Beherrschung der zu ihrem Erreichen notwendigen Operationen vorauszusetzen, und die, die alles gesetzt, kollektiv abgestimmt sein können, ohne das Werk der planenden Tätigkeit eines ‚Dirigenten‘ zu sein.“ (Ebd.: S. 164)2
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land. Bis heute hält sich „Die feinen Unterschiede“ als grundlegendes Werk Bourdieus im Kanon der Werke zur Einführung in die Soziologie, dabei ist der „Entwurf einer Theorie der Praxis“ grundlegender und wird, vielleicht etwas zu wohlwollend, u. a. als Jahrhundertbuch bezeichnet. (Vgl. Flaig 2000) In Deutschland beschränkte sich die BourdieuRezeption lange auf die Ungleichheitssoziologie. Zu Bourdieus Kritik treffend Ulle Jäger: „Bourdieu konstruiert hier in überspitzter Form eine Gegenüberstellung zweier Pole: Auf der einen Seite wird der Akteur als unabhängig von der Gesellschaft betrachtet. Auf der anderen gibt es eine übermächtige Struktur, die wiederum als mehr oder minder unabhängig vom Akteur gedacht wird. Bourdieu hält diese Alternative für unbefriedigend. So weisen objektivistische Ansätze gegenüber den subjektivistischen zwar den Vorteil auf, mit der unmittelbaren Wahrnehmung der Akteure zu brechen. Doch sie sind nicht in der Lage, den Zusammenhang zwischen den objektiven Strukturen und den praktischen Handlungen der Akteure zu erkennen. Daher gilt es nach Bourdieu, den dialektischen Zusammenhang, der zwischen den objektiven Strukturen und den strukturierten (subjektiven) Dispositionen der Akteure besteht, in den Blick zu nehmen und damit einen Mittelweg zu beschreiten, der zwischen beiden Polen vermittelt und die Gegensätze von Individuum und Gesellschaft, Struktur und Handlung, Freiheit und Notwendigkeit überwindet.“ (Jäger 2004: S. 173)
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Beiden Autoren geht es in ihrer Metatheorie dementsprechend um eine Dialektik zwischen Innen- und Außenwelt, die die materiellen Strukturen menschlicher Praxis erzeugen, sie in den Leib einschreiben. Dabei versuchen sie einen verkürzenden Subjektivismus oder Objektivismus zu vermeiden. Die Begriffe des Habitus und des Subjekts sind daher als Produkte der Dialektik von erster und zweiter Natur gedacht, ohne dass sie als feste Substanzen verstanden werden. In den metatheoretischen Betrachtungen werden die Grenzen der verschiedenen Disziplinen überschritten, im Sinne Bourdieus, wie Michael Zander beschreibt: Die „Interdisziplinarität kann nicht überraschen, meint doch Bourdieu, die Unterteilung der Sozialwissenschaften in ‚Soziologie, Sozialpsychologie und Psychologie‘ gehe auf einen ‚ursprünglichen Definitionsfehler‘ […] zurück.“ (Zander 2010: S. 7) Auch Lorenzer besteht auf der Interdisziplinarität seines Ansatzes, indem er Psychoanalyse als Sozialwissenschaft begreift und diese auch in einen sozialphilosophischen Kontext einordnet. Inmitten der Interdisziplinarität finden beide Theoretiker dann zum Leib, dem Bezugspunkt,3 um Praxis zu analysieren. Mit Bourdieu wird der Außenblick auf den Leib schärfer: Haltung, Gestik, Mimik, Bewegung, Geschmack, Sprache werden so empirisch operationalisierbar. Lorenzer hingegen blickt in die Tiefendimension des Leibes: Gefühle, Begehren, Ängste und Unbewusstes werden materialistisch verständlich. Im Leib treffen sich dementsprechend die beiden Theorien der gemeinsamen Analyse des einen Praxiszusammenhangs, die trotz des Anspruchs der Transgression von Subjektivismus und Objektivismus aber auf jeweils ihrer Seite verharren. Erst mit einer Verknüpfung beider Theorien wird der Eigensinn der Praxis in seiner Gänze beleuchtet und der Anspruch beider Theorien eingelöst. Lorenzer und Bourdieu insistieren außerdem auf einen historischen Materialismus, der an den realen Verhältnissen analysiert werden muss, um die historische Genese der Struktur des Feldes/Habitus (Bourdieu) und des Subjekts (Lorenzer) zu dechiffrieren. Möglich werden damit Analysen, die den Zusammenhang von Struktur, Praxis und Geschichte unter die Lupe nehmen. Beide Theoretiker stellen sich außerdem gegen essentialistische Konzepte. Weder Bourdieu noch Lorenzer rekurrieren auf eine geschichtsunabhängige menschliche Substanz bzw. einen Wesenskern, wie er bei Aristoteles, Rousseau und teilweise Marx u. a. zu finden ist. Diese metatheoretischen Gemeinsamkeiten ermöglichen 3
Ganz im Sinne von Marx’ Auffassung einer materialistischen Theorie der Geschichte: „Die erste Voraussetzung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz lebendiger menschlicher Individuen. [...] also die körperliche Organisation dieser Individuen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur übrigen Natur. [...] Alle Geschichtsschreibung muß von diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Lauf der Geschichte durch die Aktion der Menschen ausgehen.“ (Marx 1990[1846]: S. 21–22)
Das entfremdete Subjekt im Feld | 219
es, die beiden Konzepte in einen Zusammenhang zu stellen und kohärent zu verbinden. Different werden die beiden Theorien vor allem dort, wo Praxis konkret analysiert wird. Entfremdung wird mit der metatheoretischen Verbindung der Theorien von Bourdieu und Lorenzer aus einer materialistisch-leiblichen Perspektive analysierbar, ohne auf essentialistische Konzepte von Natur rekurrieren zu müssen. Mit der Verknüpfung beider Theorien wird der Eigensinn der Subjektivität verständlich und auch seine Abweichung im Feld. Damit dürfte Entfremdung als Problem einer falschen Praxis deutlich werden. 3.1.1 Subjektive und objektive Strukturanalyse, blinde Flecken und Kohärenz Unterhalb der metatheoretischen Ebene beider Theorien verbleiben Bourdieu und Lorenzer in ihrer eigenen Perspektive. Die soziale Welt (für Lorenzer) bzw. die Innenwelt (für Bourdieu) erscheinen im Licht des anderen als blinde Flecken, die aber mithilfe des anderen erhellt werden können. Was im ersten Moment daher als theoretischer Mangel erscheint, offenbart sich in der Reflexion als mögliche Schnittstelle. Während Lorenzer die Praxis vom Subjekt her analysiert, analysiert Bourdieu die Praxis von den objektiven Strukturen her. Die Analysen werden so sinnvoll arbeitsteilig ergänzt. Mit Bourdieus Habitus-Feld-Theorie wird die materialistische Sozialisationstheorie dementsprechend so erweitert, dass Kapital, objektive Struktur (Feld) und Klasse in ihrem Verhältnis zum Subjekt deutlich werden. Die Strahlkraft der Theorie Lorenzers, auf der anderen Seite, kann den Habitusbegriff Bourdieus um den Faktor der inneren Natur und dessen Eingebundensein in die objektiven Strukturen erweitern und so das Habituskonzept ausdifferenzieren. Der blinde Fleck in Bourdieus theoretischen Annahmen zeigt sich vor allem an seiner Konstruktion des Habitus. Dieser ist die Inkorporierung der objektiven Struktur, die Speicherung und die Praxisdisposition. So viel er daher die objektiven Vorgänge zu erklären vermag, so wenig kann er die subjektiven Vorgänge explizieren. Bourdieus Theorie leidet dementsprechend an einer Überbetonung der objektiven Strukturen, wie auch Robert Celikates bemerkt: „Der Versuch der Vermittlung zwischen Objektivismus und Subjektivismus, Struktur- und Handlungstheorie bricht letztlich unter dem Übergewicht der sozialen Strukturen zusammen. Mit der Annahme, die soziale Welt, in deren Kontext Menschen ‚handeln‘, bestehe aus Relationen, die nicht im Sinne von interaktiven oder intersubjektiven Beziehungen zu verstehen sind, sondern als objektive Verhältnisse, die unabhängig vom Bewusstsein und Handeln der Individuen existieren, läuft Bourdieu Gefahr, den sozialen Raum als in seiner Beharrlichkeit
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durch Handeln nicht signifikant zu verändernde und von kritischen und selbstreflexiven Praktiken unabhängige Struktur zu hypostasieren.“ (Celikates 2009: S. 72)
Der Habitus reproduziert sich bei Bourdieu daher, ohne reflexiv bzw. bewusst zu werden. Er ist gleichzeitig das Produkt und der Produzent von Praxis, indem er Wahrnehmungs- und Denkschema blind inkorporiert. Durch die praktische Ausübung werden diese Schemata eingeübt und verfestigt. Die so über die Praxis produzierte Disposition wird dann nicht durch neue Praxismuster überschrieben, sondern diese werden miteinander verwoben, sodass sich ein Ensemble von kohärenten Praxismöglichkeiten (Dispositionen, Vorlieben, Geschmäcker) ergibt. Allerdings erklärt Bourdieu die Funktionsweise des Habitus nur unzureichend. Er gibt zwar sehr genau an, was auf der objektiven Ebene geschieht, aber nicht wie dies geschieht. An den entscheidenden Stellen verweist er meist auf psychoanalytische Modelle, so kann der Habitus als „‚Kompromissbildung‘ (im Freudschen Sinn) beschrieben werden“ (Bourdieu 2001b: S. 211) – wie das allerdings genau aussehen soll, beschreibt er nicht. Bourdieu verwendet das Habituskonzept weitergehend, um seinen tendenziell objektivistisch-strukturalistischen Theorieansatz subjektivistisch zu erweitern, was ihm nicht ganz gelingt, bleibt er doch der Nähe zum Strukturalismus verhaftet. (Vgl. Gebesmair 2004: S. 199) Das äußert sich auch in Bourdieus oft zitiertem Leibniz-Zitat: „daß wir Menschen, laut Leibniz, ‚in Dreiviertel unserer Handlungen Automaten sind‘.“ (Bourdieu 2003: S. 740) Bourdieus Konzept wirkt daher statisch, da er die Dialektik des Habitus mit dem Feld ohne den Faktor einer inneren Natur denkt. Dadurch bleibt unklar, wo denn die Dialektik der Primärerziehung bzw. die primäre Inkorporierung ansetzen soll. Bourdieu führt nicht aus, wo der zweite Pol der Dialektik, neben dem Feld, liegen soll. In aller Konsequenz müsste man Bourdieu so verstehen, dass sich der Habitus primär bloß nach dem Feld abbildet und sich sekundär immer wieder anpasst. Die Dialektik fände dann beständig zwischen dem Habitus und dem sich verändernden Feld statt, ohne dass ein primärer Ansatzpunkt im Subjekt vorhanden wäre. Dialektik setzt aber Differenz voraus, die sich mit Lorenzer wesentlich expliziter darstellt; die Theorie der Interaktionsformen kann hier helfen, das Subjekt zu verorten und die Dialektik zwischen Feld und Habitus theoretisch sinnvoll in seine Einzelteile zu zerlegen. Bourdieu analysiert daher zwar empirisch und theoretisch die Dialektik von Feld und Habitus, ohne jedoch auf der Seite des Habitus weiter in die Tiefe zu gehen, an diesem Punkt bleibt er stehen. Die Frage, wie das Feld sich in das Individuum einschreibt, wie der Habitus zur inkorporierten sozialen Geschichte wird und wie die Inkorporierung sich im Leib auswirkt, klärt er daher nicht. Einverleibung bzw. Inkorporation dienen daher nur als Brückenbegriff, können den eigentlichen Vorgang aber nicht fassen.
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Bei Bourdieu bleibt daher, trotz unzähliger Bezugnahmen auf die Psychoanalyse , eine Leerstelle. Er braucht sein Habituskonzept, um seine gesamte Theorie zu plausibilisieren, und er benutzt es, um theoretische Widersprüche zu verpacken und damit zu invisibilisieren. Der Habitus erscheint bei ihm als die unantastbare Dreifaltigkeit der Soziologie: Speicherung, Naturalisierung und Praxisanweisung in einem. In dieser Funktion immunisiert sich das Konzept gegen Kritik, da alle psychischen und somatischen Vorgänge unter einem Begriff subsumiert werden können. Damit geht aber die innere Natur in der Feld-Habitus-Dialektik unter. Feingliedriger wird das Habituskonzept unter der Berücksichtigung einer inneren Natur, durch die auch Punkte des Widerstands als Grenzen der Vergesellschaftung wieder sichtbar werden. Eine solche mikroanalytische Erweiterung ist anhand der Theorie der Interaktionsform möglich. Ein blinder Fleck findet sich auch auf der anderen Seite. So vermag Alfred Lorenzer zwar sehr plausibel zu machen, wie die Dialektik von innerer und äußerer Natur in der Tiefendimension funktioniert, wie Subjektivität entsteht und damit Praxisstrukturen konstituiert werden, aber er beschreibt nur ungenau die Objektseite. Lorenzer spricht hier zum einen von „kollektiven Praxisfeldern“ (Lorenzer 1981: S. 158), womit er Bourdieu terminologisch nahekommt, und zum anderen vom, heute etwas angestaubten, marxistischen Begriff des „Gesamtarbeiters“. Dieser und andere Begriffe marxistischer Theorie bleiben unscharf und verschwinden in seinem Spätwerk auch zusehends. Seine Theorie büßt dabei nicht an Qualität ein, im Gegenteil, sie öffnet eine Schnittstelle zu materialistischen Strukturtheorien, wodurch Lorenzers Ansatz offen und damit anschlussfähig wird. Die Verkürzungen in beiden Theorien führen zu einem konträren AnalyseFixpunkt. Bourdieu bleibt im Objektivismus gefangen und kann so Reproduktion erklären, während Lorenzer die Eigensinnigkeit der Subjekte erklären kann: Menschliche Praxis ist aber nur mit beiden Aspekten unverkürzt zu analysieren, analog der Geschichtswissenschaft, die ebenfalls mit den beiden Kategorien Struktur und Ereignis arbeitet. (Vgl. Suter/Hettling 2001) 4
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Bourdieu erkennt die Psychoanalyse an. Die Soziologie soll aber die Gegenstände der Psychoanalyse anders analysieren: „Die Soziologie hat nicht vor, die Erklärungsansätze der Psychoanalyse durch ihre eigenen zu ersetzen; sie versteht es lediglich, einige der Daten, die auch Gegenstand der Psychoanalyse sind, auf andere Weise zu konstruieren, indem sie Aspekte der Realität genauer betrachtet, die die Psychoanalyse als sekundär oder unbedeutend aus der Analyse ausschließt oder die sie lediglich als Schutzschilde betrachtet, die es zu durchbrechen gilt, um zum Wesentlichen durchzudringen (zum Beispiel schulische oder berufliche Enttäuschungen, Arbeitskonflikte etc.).“ (Bourdieu 2002a: S. 657)
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Der Habitus (Reproduktion) wird als theoretisches Konzept daher nur schlüssig, wenn er eine innere Natur (Eigensinn des Leibes) miteinschließt. Bourdieu Schüler Loïc Wacquant stellt den Zusammenhang von objektiven Strukturen und subjektiven Dispositionen deutlich dar: „Die Tatsache, daß sie kontinuierlich unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen leben, schlägt sich in den Individuen als ein Ensemble von dauerhaften und übertragbaren Dispositionen nieder. Diese sind die verinnerlichte Notwendigkeit ihrer sozialen Umwelt und die Gestalt, in der die strukturierte Trägheit und die Zwänge der äußeren Realität in ihren Organismus eingehen. Sind aber die Strukturen der Objektivität zweiter Ordnung (der Habitus) die inkorporierte Version der Strukturen erster Ordnung, dann findet die Analyse der objektiven Strukturen ihre logische Fortsetzung in der Analyse der subjektiven Dispositionen und hebt damit die falsche Antinomie auf, die gewöhnlich zwischen Soziologie und Sozialpsychologie hergestellt wird. […] Eine adäquate Wissenschaft von der Gesellschaft muß daher zugleich die objektiven Regelmäßigkeiten und jenen Prozeß der Verinnerlichung der Objektivität umfassen, aus dem die von den Akteuren in ihrer Praxis angewandten überindividuellen und unbewußten Aufteilungsprinzipien hervorgehen.“ (Wacquant 1996: S. 32)
Gerade der letzte Satz verdeutlicht, wie die Theorie von Alfred Lorenzer geeignet ist, eine gesellschaftsanalytische Theorie im Sinne Bourdieus (und Wacquants) zu sein. Denn Lorenzers Theorie beschreibt den Prozess der Verinnerlichung von objektiven Strukturen und gibt Auskunft über die menschliche Praxis bzw. die subjektiven Dispositionen in Bezug zu den objektiven Regelmäßigkeiten. Beide Theorien sind dementsprechend nicht nur auf der metatheoretischen Ebene kohärent, sondern auch in ihrer konkreten Analysetätigkeit kompatibel. Die zweite Natur ist die Schnittstelle, an der Bourdieus und Lorenzers Theorie aneinander ankoppeln können. Bourdieu hat die soziale Welt, die objektiven gesellschaftlichen Strukturen, und die zweite Natur, den Habitus, im Blick. Lorenzer hingegen analysiert die erste Natur im dialektischen Verhältnis zur zweiten Natur. Beiden Theoretikern ist die Praxis in der leibgewordenen zweiten Natur der entscheidende Ansatzpunkt: Bourdieu liest aus der zweiten Natur die soziale Welt und Lorenzer das Subjekt heraus. Die beiden wichtigsten Annäherungspunkte sind an dieser Stelle daher der Habitus und die Theorie der Interaktionsformen: Beide gehen vom Leib als Primat menschlicher Praxis aus. Beide Ansätze können aber nur sinnvoll erweitert und verbunden werden, wenn die verwendeten Begriffe, wie u. a. der Begriff der inneren Natur – besonders an der Schnittstelle – geschärft werden.
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3.2 DIE INNERE NATUR IM HABITUS Beate Krais und Gunter Gebauer behaupten, dass das Habituskonzept auf psychologische/psychoanalytische Fundierungen verzichten kann. (Vgl. Krais/Gebauer 2002: S. 26) Ich nehme das Gegenteil an, denn erst unter Einbezug dieser Kategorien wird das theoretische Konzept des Habitus aussagestark. Bourdieu selber vernachlässigt diese Aspekte aber: „Trotz seiner häufigen Betonung des Leiblichen und der Einverleibung gibt es in Bourdieus Werk kaum Aussagen, die sich auf Emotionen, Gestimmtheit oder Gefühle beziehen. Darüber hinaus spielen Aspekte des Natürlichen keine Rolle. Weder Psychologie noch Medizin oder Neurologie finden Beachtung. Auch die menschliche Umwelt im Sinne der Ökologie wird ausgeblendet.“ (Fröhlich et al. 2009: S. 406)
Bourdieu verliert mit dem Konzept des Habitus daher eine, wie auch immer theoretisierte, innere Natur aus den Augen. Diese könnte allerdings sein Dilemma eines subjektlosen Habitus lösen, der nur Reproduktion zu erklären vermag.5 Das theoretische Konzept einer inneren Natur sollte daher in die Habitustheorie integriert werden, was ich im Folgenden vorzunehmen versuche. Der Habitus wird in den Feldern erworben. Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkschemata werden dementsprechend durch Wiederholung (Gewöhnung) inkorporiert. Aus ihnen leiten sich die Praxisdispositionen ab. Dennoch ist der Habitus fern eines Determinismus oder einer Automatik: „Der Habitus ist nicht das Schicksal, als das er manchmal hingestellt wurde. Als ein Produkt der Geschichte ist er ein offenes Dispositionssystem, das ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und damit unentwegt von ihnen beeinflußt wird.“ (Bourdieu/Wacquant 1996b: S. 176) Bourdieu legt seinen Fokus daher nicht auf den passiv-rezeptiven Leib, der nur die soziale Welt speichert und abruft, sondern auf den aktiv erzeugenden Leib, der das Inkorporierte als soziale Handlungsgrammatik (Krais/Gebauer 2002: S. 32) benutzt.6 Diese Theoretisierung reicht allerdings nicht aus, um die Handlungsgramma5
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Mit der Ausblendung von innerer Natur und individueller Subjektivität blendet Bourdieu gleichzeitig die Frage nach der menschlichen Freiheit und damit auch die Frage nach Emanzipation aus. Der Habitus interessiert Bourdieu in seiner Regelhaftigkeit, allerdings nicht in seiner individuellen kreativen Abweichung. Individuelles Verhalten ist für ihn nicht von Belang. (Vgl. Knoblauch 2003) Zur Verdeutlichung Krais und Gebauer: „Im Zentrum der Grammatik steht nicht eine abstrakte Struktur, sondern das Subjekt und seine Produktion von Strukturen, die weder als unveränderlich noch als unabhängig von den Subjekten gedacht werden können.“ (Krais/Gebauer 2002: S. 33)
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tik vollständig zu erklären. Denn gemachte Erfahrungen können auch verdrängt werden und als unbewusste Dynamik wieder in die praktische Handlungsgrammatik des Habitusträgers hineinwirken. Die Inkorporierung des Sozialen setzt daher bereits in der Primärsozialisation ein, in der die erste Bezugsperson das Feld vermittelt, und dort ist sie grundlagenbildend für Subjektivität. Lorenzer fasst diese Erzeugungsprinzipien der Praxisdispositionen (Bourdieu) in der Theorie der Interaktionsformen in seiner Formel: (Ursprüngliche) „Interaktion (I) – Interaktionsform (If) – Interaktion (I)“ (Lorenzer 1981: S. 88) zusammen. Es wird deutlich, dass diese explizite Dreiteilung von Lorenzer der impliziten Dreiteilung bei Bourdieu gleicht. Zunächst findet eine sinnliche Inkorporierung (Speicherung) statt, diese wird zur (zweiten) Natur und ermöglicht ein Ensemble von Praxismöglichkeiten. Der Habitus kann dementsprechend mit Lorenzer in theoretische Einzelteile differenziert werden. Wenn die sinnliche Inkorporierung (Speicherung) mit den ersten Interaktionen beginnt, dann setzt die Dialektik von äußerer und innerer Natur ebenfalls dort an. Innere Natur geht daher von Beginn an in den Habitus mit ein und ist so auch Teil der Wahrnehmungs-, Denk- und Praxisdispositionen.7 Diese werden aber erst dann Praxis, wenn sie mit den Praxismöglichkeiten des Feldes zusammenfallen. Bourdieu nennt das den praktischen Sinn. Der praktische Sinn für das Spiel auf dem Feld erwächst daher aus den Interaktionen, die im Spiel früh erlernt werden. Der gute Spieler antizipiert dementsprechend das Spiel ohne einen bewussten Akt: „Warum kann er dem Verlauf des Spiels voraus sein? Weil er die immanenten Tendenzen des Spiels im Körper hat, in inkorporiertem Zustand: Er ist Körper gewordenes Spiel“ (Bourdieu 1998b: S. 145) und jede Veränderung des Spiels schlägt sich im Leib nieder, wie Lorenzer schreibt: „[...] schon in der Welt der anorganischen Materialien, erst recht jedoch in der Welt der Organismen [hinterlässt] jede einzelne Bewegung eines Wechselspiels ihre Spuren […] (das heißt, das Spiel beeinflußt), indem sie jeweils die Ausgangslage für die nächste Spielsituation festlegt.“ (Lorenzer 1981: S. 85) Der praktische Sinn ist daher in der primären Sozialisation angelegt. Der praktische Sinn bei Bourdieu erklärt, warum Regelmäßigkeiten, Routinen und stabile Herrschaftsverhältnisse existieren, und vor allem, warum bestimmte Akteure einen besonders guten nicht-bewussten Zugang zu den Regeln des Spiels im Feld haben. Warum es dennoch zu Brüchen, Abweichungen, Widerständen und Veränderungen kommt, die die Regeln des Feldes beeinflussen, erklärt Bourdieu 7
Aber nicht nur die Qualität der inneren Natur, der erste Bedarf des Kindes und seine dispositionellen Eigenschaften gehen mit ein, sondern die gesamte körperlich-genetische Voraussetzung: So sind die menschlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Praxisorgane (Gehirn, Augen, Arme und Beine) ebenfalls an genetische Dispositionen geknüpft.
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nicht ausreichend,8 aber Lorenzer: Da die innere Natur immer in verwandelter Form (sie ist ja in der Dialektik aufgehoben) Teil des Habitus ist, sich aber nicht vollends in ihm auflösen kann, wird sie zum Widerstandspunkt gegen eine totale Vergesellschaftung (Habitualisierung). Damit wird auch das subjektive Surplus des Habitus erst wirklich schlüssig, womit sich folgende Aussage von Krais und Gebauer fundieren lässt: „Die sinnliche, über den Habitus vermittelte Erfahrung der sozialen Welt ist weit mehr als ein passives Aufnehmen, vielmehr wird das Soziale, werden die objektiven sozialen Bedingungen, indem sie über den Habitus inkorporiert werden, in eigene, subjektive Konstruktionen umgeformt“ (Krais/Gebauer 2002: S. 76) – diese subjektiven Konstruktionen sind aber nur mit der Annahme einer inneren Natur plausibel. Das vorsprachliche Verstehen des Spiels durch den praktischen Sinn basiert auf den präsentativ-symbolischen Interaktionsformen, wie sie in der Primärsozialisation entstanden sind. Die „Erfahrungsstruktur“ (Ebd.: S. 88) wird über das spezifische Feld vermittelt und ist somit „sozialer Formungsprozess.“ (Lorenzer 1981: S. 88) In diesem Prozess über die Mutter/Bezugsperson und ihre Felder geht die innere Natur auf, aber sie löst sich nicht auf. Daher ist der Habitus nie deckungsgleich mit einem Feld oder bloß das Produkt einer Ansammlung von Felderfahrungen, sondern immer auch eigensinnig. Dies erst macht Lust und Leid plausibel.9 Mit der Integration von innerer Natur in das Habituskonzept werden einige grundlegende Aspekte menschlicher Praxis deutlich: das Konzept einer (sozialen) Libido (3.2.1), relationale und intersubjektive Beziehungen (3.2.2), der unpraktische Sinn (3.2.3), das Unbewusste im Feld (3.2.4); außerdem der Eigensinn und die Reproduktion des Leibes sowie die damit verbundenen Widerstandsbedingungen des Subjekts (3.2.5). 3.2.1 Soziale Libido Durch den Verzicht, eine eigensinnige innere Natur im Habitus mitzudenken, kann Bourdieu das Antriebsmodell menschlicher Praxis nicht ausreichend erklären. Er kann zwar feststellen, dass Menschen handeln, und auch, dass sie teilweise höchst widersprüchlich handeln: „Die Akteure wenden in ihrer Praxis ständig Thesen an, die als solche gar nicht aufgestellt werden. […] Was für ein höchst sonderbares Verhältnis zur sozialen oder zur natürlichen Welt ist das also, in dem die Akteure
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Die Änderungen von Feldern werden meist strukturell begründet: ökonomische Zwänge etc. Eine ähnliche Diskussion gab es auch in der Debatte Whitebook/Honneth und dem Vermittlungsansatz von Hans-Joachim Busch. (Vgl. Busch 2003)
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nach Zielen streben, die sie sich gar nicht zum Ziel setzen?“ (Bourdieu 1998b: S. 144) Aber er kann nicht ausreichend erklären, warum sie das tun. Von verschiedener Seite wurde Bourdieu daher der Vorwurf des Utilitarismus und Ökonomismus gemacht.10 Demnach sei alle Praxis bei Bourdieu der Nützlichkeit unterworfen, um die Position auf dem Feld zu verbessern, und das heißt: Alle Tätigkeiten dienen nur der Kapitalakkumulation, menschliche Praxis ist voll und ganz auf ökonomische Kategorien zurückzuführen, selbst ein freundschaftliches Gespräch oder altruistische Handlungen. Bourdieu treibt sich selber in diese theoretische Enge, weil er mit dem Konzept einer selbstreferenziellen Habitus-FeldDialektik keinen anderen Antriebsmodus sozialen Handelns denken kann. Die soziale Welt wird daher tatsächlich auf Herrschaft und Konkurrenz reduziert. (Vgl. Dreyfus/Rabinow 1993) Um sich gegen diesen Vorwurf zu wehren, entwickelt Bourdieu das Konzept der sozialen Libido. Er wendet sich so gegen die utilitaristische Variante des rational entscheidenden Subjekts einerseits und gegen das nur gewinnorientiert handelnde Wesen andererseits. Außerdem verwendet er verschiedene Begriffe, um den Antrieb für Handlungen zu beschreiben. Interesse und Investition umfassen ökonomische (im Sinne der für das Feld notwendigen Kapitalsorten) Aspekte, während Illusio den Glauben an die Werte des Spiels ausdrückt (das individuelle Pendant zu Doxa). Soziale Libido hingegen betont die Lust, nach den Regeln des Spiels zu spielen, die feldspezifischen Interessen zu teilen, zu investieren und den Ertrag zu sichern.11 Der Terminus soziale Libido rekurriert auf einen sozio-natürlichen Hintergrund, ohne den Bourdieu scheinbar doch nicht auskommt. Er fordert dementsprechend, dass die spezifische Libido in ihrer Verlaufsform von undifferenziert-biologisch bis hin zu feldspezifisch analysiert wird:
10 Zum Beispiel mehrfach erhoben von Axel Honneth im Gespräch mit Pierre Bourdieu, Hermann Kocyba, Bernd Schwibs. (Vgl. Bourdieu et al. 1986) 11 Bourdieu selber zur Konstellation von Interesse, Libido und Illusio: „Nach der Verteidigung meines Gebrauchs des Begriffs Interesse möchte ich nun zu zeigen versuchen, wie man ihn durch weniger stringente Begriffe wie Illusio, Investition oder auch Libido ersetzen kann. […] Illusio bezeichnet die Tatsache, dass man vom Spiel erfasst, vom Spiel gefangen ist, dass man glaubt, dass das Spiel den Einsatz wert ist oder, um es einfach zu sagen, dass sich das Spielen lohnt. Eigentlich sollte das Wort Interesse in einem ersten Sinne genau das bedeuten, was ich unter dem Begriff Illusio gefasst habe, also die Tatsache, dass man einem sozialen Spiel zugesteht, dass es wichtig ist, dass, was in ihm geschieht, denen wichtig ist, die in ihm engagiert sind.“ (Bourdieu 1998b: S. 140–141)
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„Eine der Aufgaben der Soziologie besteht darin, zu bestimmen, wie die soziale Welt aus der biologischen Libido, dem undifferenzierten Trieb, die soziale, spezifische Libido macht. Es gibt nämlich ebenso viele Libido, wie es Felder gibt: Ist doch die Arbeit der Sozialisation der Libido genau das, wodurch Triebe in spezifische Interessen verwandelt werden, in sozial begründeten Interessen, die nur im Zusammenhang mit einem sozialen Raum existieren, in dem bestimmte Dinge wichtig und andere gleichgültig sind, und auch nur für Akteure, die so sozialisiert, so konstituiert sind, daß sie die Unterschiede, die den objektiven Unterschieden in diesem Raum entsprechen, auch tatsächlich machen.“ (Bourdieu 1998b: S. 143)
Diese Aufgabenstellung an die Soziologie wurde von Lorenzer umgesetzt. Danach entwickelt sich in der Primärsozialisation die spezifische Libido, es entwickeln sich individuelle Interaktionsformen (Triebe) in der Auseinandersetzung von innerer Natur und Bezugsperson. Die Akteure in einem Feld verinnerlichen so ähnliche Praxismuster und besetzten ähnliche Objekte libidinös. Die Entstehung einer sozialen Libido lässt sich mit Lorenzer dementsprechend plausibel in die Habitustheorie integrieren. Lorenzer führt die soziale Libido auf die Dialektik von objektiven Bedingungen (Gesellschaft) und subjektiven Bedingungen (Individuum) zurück. In die Triebwünsche geht daher immer auch die innere Natur mit ein: „Es geht um ‚Triebwünsche‘. Unter der Bezeichnung Erinnerungsspur bzw. Sachvorstellung weist der Triebwunsch auf seine Herkunft aus sozialen Lernprozessen, in der Synthese von gesellschaftlicher Formbildung und jener ‚Anlage‘, die wir auch die ‚innere Natur‘ heißen können.
Unter
der
Bezeichnung
‚Triebwunsch‘
zeigen
die
Sachvorstellungen
/Erinnerungsspuren jenes energetische Potential, das als Trieb kategorisch die Erfüllung der Lebensbedürfnisse in derjenigen Form verlangt, die wunschgerecht ist. In der lebensgeschichtlichen Dimension verweist der Begriff der Sachvorstellung auf die Vergangenheit, die Herkunft aus Realitätseindrücken unterm Begriff des Triebwunsches verweist die Interaktionsformen auf die Zukunft, die Erinnerungsspur soll immer wieder realisiert werden in neuen erlebnisgerechten Interaktionen.“ (Lorenzer 2002: S. 144–145)
Die Erfüllung der Bedürfnisse kann daher nur nach spezifischen Wünschen realisiert werden, die soziale Libido strebt dementsprechend nach ihrer wunschgerechten Verwirklichung. Wunschgerecht heißt feldspezifisch, der spezifische Wunsch entstammt der primären Sozialisation. Diese bedingt daher die Affekte und die libidinösen Bindungen auf den Feldern. So kann die Vaterbeziehung beispielsweise später in religiösen oder politischen Figuren bzw. Feldern wieder erscheinen, wie es auch Bourdieu beschreibt:
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„Die Arbeit an der spezifischen Sozialisation fördert die Umwandlung der ursprünglichen Libido, das heißt der im häuslichen Feld konstituierten, sozialisierten Affekte, in diese oder jene Form spezifischer Libido, und zwar namentlich zugunsten der Übertragung jener Libido auf Akteure oder Institutionen, die dem neuen Feld angehören (für das religiöse Feld zum Beispiel auf große symbolische Figuren wie Christus oder die Jungfrau in ihren jeweiligen historischen Gestalten).“ (Bourdieu 2001b: S. 210)
Was Bourdieu hier mit ursprünglicher Libido meint, kann daher mit Lorenzer als die ersten Interaktionsformen in der Mutter-Kind-Dyade angegeben werden, die ja den Grundstein für die spezifischen Affekte legen. Bourdieu beschreibt außerdem den Lebenslauf des Habitus, um für ein spezifisches Feld vorbereitet zu sein, als eine Abfolge psychischer Anpassungen: „Nur über eine ganze Reihe kaum spürbarer Veränderungen, halbbewußter Kompromisse, sozial bestärkter, gestützter, kanalisierter, ja organisierter psychischer Operationen (Projektion, Identifikation, Übertragung, Sublimierung usw.) und erst am Ende all jener winzigen Anpassungen, die erforderlich sind, um ‚auf der Höhe zu sein‘ oder, im Gegenteil, ‚zurückzustecken‘, und die mit den winzigen oder gewaltigen Umwegen einhergehen, aus denen eine soziale Laufbahn besteht, wandeln jene Dispositionen sich nach und nach in feldspezifische um.“ (Ebd.: S. 210–211)
„Je winzige Anpassungen“ machen den Habitus daher feldkompatibel bzw. statten ihn mit den geeigneten Dispositionen aus, um darin erfolgreich investieren zu können. Bourdieu spielt dann zum einen auf diese geeigneten Dispositionsrahmen an, um „auf der Höhe zu sein“ und zum anderen verweist er auf repressive Anteile, nach denen der Habitus „zurückstecken“ muss. Der Habitus durchläuft also, wie auch Lorenzer stets betont, verschiedene psychische Anpassungsstadien, um im Feld erfolgreich sein zu können. Es dürfte offensichtlich geworden sein, wie sich Bourdieu und Lorenzer zusammendenken lassen, um den Antrieb menschlicher Praxis materialistisch zu begründen. Ergänzt man die nahezu unendliche Plastizität des Leibes bei Bourdieu um einen unhintergehbaren Rest – das Eingedenken innerer Natur in der Dialektik menschlicher Entwicklung – dann wird Interesse, (soziale) Libido und der praktische Sinn im Feld subjekttheoretisch-psychoanalytisch fundiert. Die Theorie der Interaktionsformen macht deutlich, wie der gesellschaftlich hergestellte Trieb, die soziale Libido, Praxis wird, ohne in ökonomistische und utilitaristische Kurzschlüsse zu geraten. Mit Lorenzer lässt sich die Leerstelle bei Bourdieu so stimmig schließen.
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3.2.2 Relation, Szene und Erinnerungsspur Die soziale Welt besteht für Bourdieu aus Relationen (vgl. 2.1.3): „Was in der sozialen Welt existiert, sind Relationen – nicht Interaktionen oder intersubjektive Beziehungen zwischen Akteuren, sondern objektive Relationen, die ‚unabhängig vom Bewusstsein und Willen der Individuen‘ bestehen, wie Marx gesagt hat.“ (Bourdieu/Wacquant 1987, S. 127) Bourdieu setzt sich so von soziologischen Theorien ab, die ein Wesen oder eine Essenz von Menschen oder Gegenständen annehmen.12 Der Habitus ist dementsprechend das Produkt eines Netzes von Relationen im sozialen Raum. Bourdieu verschiebt so den Analyseschwerpunkt der sozialen Welt auf Verhältnisse und Prozesse. Diese objektiven Relationen erklären die Klassenstruktur und die Praxisdisposition der Akteure im sozialen Raum zum Zeitpunkt der Analyse, aber sie erklären mitnichten, hier setzt meine Kritik an, wie die Relationen sich auf die Subjekte auswirken. Auch hier lässt sich die Innensicht auf die Subjekte mit Lorenzer stärken, denn dieser analysiert den Einfluss der sozialen Welt (Relationen) auf die psychische Welt. Das Auffassen der sozialen Welt nur in Relationen reduziert das Subjekt auf einen Akteur, der bloß durch seine Relationen und in seinen Relationen praktisch tätig wird. Bourdieu erhebt die äußere (zweite) Natur zum Primat der Theorie des Sozialen. Auch an dieser Stelle kann die erweiterte Annahme einer inneren/ersten Natur Bourdieus Theorie zurechtrücken. Zwar sind einerseits Relationen auch für Lorenzer entscheidend, andererseits wirken diese Relationen immer materiell auf das Subjekt zurück. In diesem Sinne hat Bourdieu durchaus recht, wenn er in den Relationen die objektiven Strukturen der sozialen Welt erkennt, gleichzeitig geraten ihm aber die subjektiven Strukturen aus dem Blick, was dazu führt, dass er seine Theorie unnötig entzeitlicht. Denn von der Geburt bis zum Tod befindet sich der Mensch in unzähligen verschiedenen Relationen, ohne dass er sich immer sofort darauf einstellen könnte d. h. unmittelbar Produkt dieser Relation werden könnte. Dieser soziale Jetlag ist nur durch eine materiell-leibliche Verankerung des Sozialen zu erklären. So hinterlässt jede Relation Spuren im Leib, die das Subjekt in jede neue Relation miteinbringt. 12 Bourdieu ist hier maßgeblich von Ernst Cassirers Werk „Substanzbegriff und Funktionsbegriff“ (Cassirer 1994) beeinflusst. Cassirer unterscheidet zwischen einer Betrachtung der Welt in Substanzen, wie von Aristoteles, und dem Denken in Relationen. Cassirer, und mit ihm Bourdieu, betrachten die Verhältnisse der Dinge der Welt. Die Erscheinungen der (sozialen) Welt sind nur interessant, wenn sich aus ihnen die Relationen herauslesen lassen. In der sozialen Welt werden diese Relationen offensichtlich, wenn man die Akteure in ihren Positionen und den damit verbundenen Perspektiven und Handlungsschemata betrachtet.
230 | Die Entfremdung des Subjekts
Auch bei Lorenzer besteht die soziale Welt aus objektiven Relationen, die die Subjekte formen. So sind die Szenen konkrete Situationen, in denen die Relationen real zum Tragen kommen und Erfahrungen konstituieren: „Das szenische Zusammenspiel bildet die Grunderfahrung des Kindes.“ (Lorenzer 2002: S. 161) Nun ist es aber ungenügend, die soziale Welt auf die Relationen zu verengen. Die soziale Welt besteht ja ebenfalls aus Materie. Die Effekte der Relation schreiben sich dementsprechend in den materiellen Leib ein, wodurch das Kind die Relation zur Mutter/Bezugsperson als Interaktionsform verinnerlicht. Die objektiven Relationen bleiben daher nicht als idealistische Kraft äußerlich, sondern werden materialistisch subjektiv verarbeitet. Das Kind strebt so, kraft seiner leiblichen Einschreibungen, zur Wiederherstellung der erlebten Relation. Mit Lorenzer lässt sich aus diesem Grund einwerfen, dass die Relationen äquivalent den realen Szenen sind, die inkorporieret werden, wobei Relationen eher abstrakt verstanden werden können (als das gesellschaftliche Verhältnis), während die Szenen die konkrete Situation dieser allgemeinen Struktur beschreiben. Die Szene lässt sich auch noch weiter ausdifferenzieren: Eine Szene ist das Ensemble mannigfaltiger Erinnerungsspuren, oder wie Lorenzer sagt: „Erinnerungsspuren und Szenen verhalten sich zueinander wie Atome zu Molekülen.“ (Ebd.: S. 184) Die Erinnerungsspuren sind daher die konkreten materiellen Einschreibungen der objektiven Relationen. Um es nochmals deutlich zu machen: Die objektiven Relationen sind die abstrakte Ebene der Analyse der sozialen Welt. Die realen Szenen gehören der Ebene konkreter Lebensgeschichten an und schreiben sich als Erinnerungsspuren in den Körper ein. Sie bilden die Erwartungsstruktur zukünftiger Praxis in denselben relationalen Verhältnissen bzw. Symbolisierungen, da die realen Szenen ja nicht reproduzierbar sind. Die Position im sozialen Raum, d. h. die Nähe oder Ferne zu Dingen und Akteuren der sozialen Welt, bestimmt so die Dispositionen des Habitus. Bourdieus und Lorenzers Theorie sind hier homogen: Die Dinge der sozialen Welt sind nicht alleine für sich wirksam, sondern immer nur in Relationen. Erst mit der individuellen Erfahrung (die sich aus der Relation ergibt) ergeben sich Praxisfiguren und subjektive Bedeutungsträger. 13
13 Auch die Sprachfiguren stammen entwicklungsgeschichtlich aus der Kennzeichnung einer Relation, eines Zusammenhangs und wurden erst nachträglich zum bloßen Ding degradiert, wie Lorenzer beschreibt: „Sprachfiguren beziehen sich nach unserer Auffassung nur in abgeleiteter Weise auf Gegenstände. Selbst das Wort ‚Tisch‘, das so eindeutig einen Gegenstand (beziehungsweise eine Gegenstandsart) zu bezeichnen scheint, ist ja ursprünglich die Signierung eines Verhältnisses, eines lebenspraktischen Umgangs, aus dem wir nachträglich erst den Gegenstand ‚Tisch‘ herausisolieren, indem wir den Praxiszusammenhang zwischen Handlungsgegenstand und Handelndem zu verleugnen lernen.
Das entfremdete Subjekt im Feld | 231
Nun ist es aber nicht so, dass die Szene alleine die Subjektivität der Akteure prädestiniert. Eine innere Natur ist ja von Anfang an in den Prozess der Subjektbildung involviert. Ein Akteur betritt nicht voraussetzungslos die Bühne, auf der sich eine Szene abspielt, sondern er betritt sie mit seiner leib-seelischen Konstitution. Der Akteur begibt sich daher unfreiwillig oder freiwillig in Relationen, aus denen bestimmte Interaktionsformen hervorgehen und die er – in einer gelungenen Sozialisation – (re-)symbolisieren kann. Diese theoretische Zusammenführung lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen, das Bourdieu selber wählt: die Konstruktion von sozialen Geschlechtern. Bourdieu hat recht, dass der kritische Blick auf die Relation zwischen sozialen Geschlechtskonstrukten Herrschafts- und Kapitalverhältnisse aufdecken kann. Gleichzeitig kann er aber nicht theoretisch fassen, wie sich diese objektiven Relationen auf die subjektiven Bedingungen auswirken. Die primäre Sozialisation in Geschlechterrollen gibt ein ganz bestimmtes Verhalten in einer Frau-Mann-Relation vor. Dieses Verhalten bleibt aber nicht immer nur objektiv äußerlich, denn es schreibt sich in die Materialität des Leibes ein und bildet, in der dialektischen Auseinandersetzung mit der inneren Natur, Subjektivität. Die Szenen aus der Beziehung Kind – Vater können daher später entscheidend für die Reproduktion von FrauMann-Rollen werden. Spätere Frau-Mann-Relationen können sich ja nur auf die primären zurückbeziehen, weil sie leibliche Substanz geworden sind. So wird erst klar, wie sich Geschlechterverhältnisse und mit ihnen auch Herrschaftsverhältnisse in den Leib einschreiben. Die konkret erlebten Relationen (Szenen) werden, wie beschrieben, zu Erwartungsmodellen somatisiert. Das Subjekt findet daher auch nur in ähnlichen Szenen/Relationen Befriedigung, wie Lorenzer in seiner Bloch-Kritik anhand von Hunger ausführt: „Der materielle Bedarf ist nur ein Teil des sozialen Bedürfnisses. Freilich ist auch mit der sozialen Stillung des Hungers nur die Unlustempfindung beseitigt. Lust verlangt mehr. Es ist nicht nur der Mangel aufzuheben, sondern es sind Wünsche zu befriedigen. Das aber heißt nichts anderes als: Die lustvolle Befriedigung verlangt eine Beseitigung des Mangels in denjenigen Formen, die den eigenen Erwartungen entsprechen. Denn die einzelnen Wünsche sind ja an konkrete Szenen gebunden, sie sind konkrete Szenen. Selbst der Hunger kann allenfalls in seiner rohesten, verzweifelten Form durch ‚Kalorienzufuhr, welcher Art auch immer‘, aufgehoben werden. Lust entsteht dabei nicht. Sie kann erst entstehen, wenn die Sättigung ‚wunschgerecht‘ und d. h. erlebnis-erfahrungsgemäß erfolgt. Schon das Verlangen nach Nah-
Auch Tisch ist ursprünglich der Name eines lebenspraktischen Verhaltenszusammenhangs, einer Praxisfigur.“ (Lorenzer 2002: S. 186)
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rung ist also an eine bestimmte soziale Formel gebunden, als Esswunsch, dessen lebensgeschichtlich sozialen Hintergrund jeder Speisezettel verrät.“ (Ebd.: S. 143–144)
Die konkreten Wünsche können daher nur in den entsprechenden Relationen befriedigt werden. Es lässt sich also zusammenfassen, dass Bourdieu die objektiven Relationen analysiert und Lorenzer entsprechend die subjektiven Bedingungen dieser objektiven Relationen. Bourdieu versteht daher, dass bestimmte Akteure Relationen mit ihrem Habitus reproduzieren, auch wenn sie dadurch Herrschaftsverhältnisse verfestigen. Lorenzer versteht, warum bestimmte Praktiken nicht mehr im Habitus auftauchen bzw. praktisch werden, da sie nicht immer symbolisiert werden können. So wird plausibel, warum Akteure unter ihrer Position im sozialen Raum leiden können, wenn eben die primären Relationen nicht mehr adäquat (symbolisch) reproduziert werden. Auch in der konkreten Erkenntnisabsicht ergänzen Bourdieu und Lorenzer einander. So ist es im szenischen Verstehen nicht der Einzelne, der im Mittelpunkt steht, sondern die Szene und ihre Interaktionen, diese werden analysiert: „Halten wir nur so viel fest: Worauf sich der psychoanalytische Blick richtet, und d. h., wovon die psychoanalytische Erkenntnisbemühung ausgeht, sind ‚soziale Verhältnisse‘ im Medium der ‚inneren Lebensgeschichte‘, also Erlebnisfiguren, Szenen, Lebensentwürfe.“ (Ebd.: S. 214) Das Subjekt wird anhand seiner szenischen Erfahrungen rekonstruiert. Diese Ergebnisse lassen sich dann mit den Ergebnissen aus der Analyse objektiver Relationen korrelieren. Ähnlich wie der analytische Blick von Lorenzer beschreibt auch Bourdieu die Analyse eines wissenschaftlichen Gegenstands als Verstehen der Gesamtheit der Relationen: „Ich muss mich vergewissern, ob nicht das Objekt, das ich mir vorgenommen habe, in ein Netz von Relationen eingebunden ist, und ob es seine Eigenschaften nicht zu wesentlichen Teilen diesem Relationennetz verdankt.“ (Bourdieu/Wacquant 1996b: S. 262) Die Relationen sind ja historisch entstandene und in die Gegenwart hineindauernde menschliche Produkte. Diese sind dadurch tatsächlich reale Verhältnisse. Gleichwohl sind es auch die Menschen, die, durch das Zurückwirken der Relationen auf sie selbst, real geprägt werden. Auch hier sind die Menschen nicht bloß das Abbild der Knotenpunkte dieser Relationen, sondern immer mit diesen in Auseinandersetzung, da sie über eigene subjektive Strukturen verfügen. Es ist daher sinnvoll, die soziale Welt in objektiven Relationen zu analysieren, aber es ist genauso wichtig, die sozialisierte Innenwelt der Akteure in den lebensgeschichtlichen subjektiven Szenen zu analysieren. Bourdieu und Lorenzer verfolgen dieselbe Absicht: eine Strukturanalyse der Relationen. Einmal, wie diese die soziale Welt abstrakt bestimmen (Bourdieu), und einmal, wie sie konkret auf die Subjekte wirken (Lorenzer).
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3.2.3 Interaktionsformen und (un-)praktischer Sinn im Feld Wie bereits angesprochen, gehe ich davon aus, dass materiell-leibliche Einschreibungen nicht immer in den Relationen symbolisiert werden können. Aber erst in der passenden (d. h. symbolisierten) Relation kann eine Interaktionsform praktisch werden. Im sozialen Feld müssen daher Interaktionsformen (Relationen) symbolisiert werden, damit das Subjekt diese verwirklichen kann. Die sozialen Felder bilden die Handlungsebene ab. Sie sind das Spielfeld, auf dem um die beste Position gerungen wird. Die Felder haben ihre eigene Logik, nach der unterschiedliche Ressourcen (Kapitalart und -menge) ausschlaggebend für die symbolische Macht sind. Die Feldteilnehmer kämpfen daher um die jeweiligen knappen Ressourcen auf dem Feld. Die historisch entstandene Logik des Feldes legt die Spielregeln fest, die von den Akteuren und Institutionen im Feld meist unreflektiert angenommen werden. Der Habitus als Produkt des Feldes und seiner Relationen entwickelt und verinnerlicht den praktischen Sinn (Bourdieu), mit dem er spontan, ohne Reflexion und Absicht, die für das Feld passende Praxis ausführt. Oder anders ausgedrückt: Die Teilnahme am Spiel lässt den Habitus die Regeln des Spiels inkorporieren und beherrschen. Der Primärsozialisation kommt dabei eine herausragende Bedeutung zu: „Die Primärerziehung geht mit dem Körper wie mit einer Gedächtnisstütze um. Sie ‚verdummt‘ gleichsam die Werte, Vorstellungen und Symbole, um sie der Ordnung der ‚Kunst‘ zuzuführen, jener reinen Praxis, die bar aller Reflexion und Theorie ist.“ (Bourdieu 2009: S. 199) Der Sinn ist daher immer Eigensinn aus den Primärerfahrungen, und wenn er im Feld auf die richtigen Strukturen trifft, dann wird er zum praktischen Eigensinn. Die Spieler sind daher keine rationalen Entscheider über ihre Handlungen, sondern sie verfügen über das richtige Gespür für die Erfordernisse des Feldes. Der Handelnde ist daher „nie ganz Subjekt seiner Praxis.“ (Bourdieu 2001b: S. 178) Der praktische Sinn wird in der Primärerziehung mimetisch von Praxis auf Praxis übertragen, ohne dass eine bewusste Entscheidung vorliegt, bestimmte Handlungsmuster zu übernehmen: Der Akteur ist somit nicht der Autor seiner Handlungsabsichten, sondern Ausführender einer durch das Zusammenspiel im Feld mehr oder weniger erwarteten Praxis. Der praktische Sinn vermittelt daher das „Gespür für das richtige Anlegen kultureller Investitionen“ (Bourdieu 2003: S. 151), also die Investition der verschiedenen Kapitalsorten und -mengen im Feld. Der praktische Sinn ist das Produkt der Feldsozialisierung und damit verknüpft sich mit ihm Interesse und die soziale Libido für die Besetzung bestimmter Objekte im Feld (vgl. 3.2.1). An dem Konzept des praktischen Sinns kritisiere ich, dass er immer nur das Gespür für die erwarteten Handlungen in einem Feld beschreibt. Allerdings können in einem Habitus auch widersprüchliche Praxissinne in den Körper eingeschrieben sein. Gerade die Habitus-Entwicklung einer primären Sozialisation kann bei Bour-
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dieu zwar das Beherrschen der innerfamiliären Regeln erklären, aber nicht, wie sich diese ersten Sozialisationsprozesse in anderen sozialen Feldern (Kindergarten, Schule, Militär usw.) auswirken.14 Hier werden immer nur die neuen Regeln des Feldes schnell oder weniger schnell inkorporiert. Ein alter praktischer Sinn wird dabei aber durch einen neuen überlagert, der alte Habitus weicht nicht dem neuen, er wird transformiert. Ich argumentiere, dass der Habitus durch die materiellleibliche Einschreibung nie gänzlich zu transformieren ist, es bleibt immer ein (nichtidentischer) Rest. Es ist daher anzunehmen, dass es neben dem praktischen Sinn für das Feld einen unpraktischen (Eigen)-Sinn im Feld gibt. Mit dieser theoretischen Erweiterung werden dann auch Phänomene wie Devianz und Unbehagen deutlicher. Der unpraktische Sinn, den ich an dieser Stelle einführe, liegt in denjenigen Interaktionsformen, die nicht praktisch werden, weil sie im Feld/in den Relationen keine Entsprechung haben. Der praktische Sinn hingegen basiert auf Interaktionsformen, die an die objektiven Relationen im Feld anknüpfen, im Sinne Bourdieus: „Zwischen den Akteuren und der sozialen Welt herrscht ein Verhältnis des vorbewußten, vorsprachlichen Einverständnisses.“ (Bourdieu 1998b: S. 144) Mit Lorenzer argumentiere ich, dass der Mensch zwei Sinnstrukturen verinnerlicht hat: ein unbewusstes und ein bewusstes Sinnsystem: „Der Mensch als ein von zwei Sinnstrukturen bestimmtes Wesen, das ist der entscheidende Beitrag der Psychoanalyse zur Anthropologie.“ (Lorenzer 2002: S. 224–225) Nun kann eine Sinnstruktur im Feld unter Umständen nur eingeschränkt zum Ausdruck kommen. Mit diesem unpraktischen Sinn im Feld fällt dann immer ein Teil der Verhaltensmatrix aus und bleibt unberührt. Der erworbene Sinn/die Interaktionsformen sind dann für das Feld unpraktisch. Diese Interaktionsformen, die weder auf der präsentativen noch auf der diskursiven Ebene im Feld symbolisiert oder symptomisiert werden, werden keine Praxis. Gerade das vorbewusst-präsentative Symbolsystem reguliert die für das Feld richtigen Verhaltensweisen, die affektiven, mimischen, gestischen und allgemein leiblichen Reaktionen. Aber auch, wer das für das Feld passende symptomhafte Verhalten zeigt, kann einen praktischen Sinn für das Feld haben. Das komplexe Verhältnis von praktischem und unpraktischem Sinn lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: Angenommen im schulischen Feld herrscht eine bestimmte hegemoniale Art der Bewegung, der Gestik, der Sprechweise und der Mimik. Eine bestimmte Gruppe von Schülerinnen und Schülern wird einen entsprechenden praktischen Sinn für diese Hexis/Habitus entwickelt haben. Sie können, ohne darüber nachzudenken, die Verhaltensweisen problemlos reproduzieren, 14 Zwar erläutert Bourdieu, wie frühe Erfahrungen in Familie und Schule an Militär und Arbeitswelt angepasst werden, allerdings kann er den Fall widersprüchlicher Erfahrungen (pazifistischer Erziehung zum Beispiel) nicht theoretisieren.
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wodurch sie im Feld hegemonial gegenüber den anderen Jugendlichen werden. Diese können die Verhaltensweisen nicht reproduzieren, selbst wenn sie die Hexis / die Habitus der anderen bewusst analysieren. Der praktische Sinn der Hexis/Habitus basiert auf in diesen hegemonialen Verhaltensweisen symbolisierten oder symptomzentrierten Interaktionsformen. Oder anders gesagt, die orthodoxe Gruppe im Schulfeld verfügt über die passenden Affekte, die sie in früheren Sozialisationsschritten erworben haben und die im richtigen Moment eine unreflektierte Praxis bilden, die ihnen im Feld Anerkennung verschafft. Eine andere häretische Gruppe, die ihre Interaktionsformen nicht in der passenden Art und Weise auf dem Feld einsetzen kann, könnte aber ihre Verhaltensmatrix in anderen Feldern entdecken oder diese bleibt unpraktisch. Letzteres kann zu Apathie, dem Gefühl der Sinnlosigkeit und Fremdheit der eigenen Praxis führen, kurz: zu Entfremdung. Kann die innere Interaktionsmatrix auf keinem Feld symbolisiert oder symptomisiert werden, dann bleibt sie ein unpraktischer Sinn, eine verborgene Praxisanweisung. Sie kann zur Entfremdung werden, wenn sie nicht in symbolisierten (subjektiven) oder symptomzentrierten (verzerrten) Verhaltensweisen Ausdruck findet. Der unpraktische Sinn lässt sich aber nicht mit Entfremdung gleichsetzen. Auch im praktischen Sinn, wenn er auf symptomzentriertem Verhalten basiert, kann es zu Entfremdungserscheinungen kommen: Die eigene Praxis kann dann zwar als adäquat aufgefasst werden, berührt aber die innere Matrix nur in verzerrter Form. Mit der Theorie von Harmut Rosa (Rosa 2016b) lässt sich auch von Resonanz oder Resonanzverlust durch verschiedene Felder sprechen. Wenn der Sinn und das Feld zueinander passen (praktischer Sinn), dann entsteht Resonanz, da Interaktionsformen symbolisch oder symptomzentriert angesprochen werden. Wenn der Sinn und das Feld nicht passen (unpraktischer Sinn) kommt es hingegen zum Resonanzverlust, die Interaktionsformen werden nicht angesprochen. Zu Entfremdung kommt es allerdings, wenn der praktische Sinn symptomzentriert ist oder ganz unpraktisch bleibt. Bleibt er unpraktisch, bewahren sich in ihm irritative Momente, die zu spontanen Resonanzerlebnissen führen können, indem bestimmte Symbole sich mit dem unpraktischen Sinn kurzschließen. Unreflektierte Resonanzerlebnisse können allerdings auch in einem schlechten Kompromiss symptomzentriert verarbeitet werden. 3.2.4 Das Unbewusste im Feld Bourdieu spricht an verschiedenen Stellen seines Werkes von einem kulturellen Unbewussten. Dieses Unbewusste ist Bourdieus Variante eines gesellschaftlichen Unbewussten. Solche Konzeptionen sind jedoch umstritten. Berechtige Zweifel an einem gesellschaftlich Unbewussten werden u. a. von Hans-Joachim Busch geäußert. (Vgl. Busch 2001a) Zunächst stelle ich diese Kritik an einem gesellschaftlich
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Unbewussten dar. Anschließend erläutere ich die Konzeption von Bourdieu. Am Ende des Abschnitts wird die Habitustheorie dann erneut mit einer inneren Natur verknüpft, was ein stimmiges Verhältnis von Unbewusstsein und Feld verdeutlicht. Busch äußert in seinem Aufsatz: „Gibt es ein gesellschaftliches Unbewußtes?“ (Busch 2001a) die an Freud orientierte These: „Ich würde Freud lediglich in dem einen Teil seiner Argumentation voll beipflichten: Die Psychologie der Masse kann nur die Psychologie des einzelnen (in der Masse) sein.“ (Ebd.: S. 394) Diese These erhärtet Busch mit der Kritik an verschiedenen Autoren, für die die Annahme eines kulturellen Unbewussten grundlegend ist. So kritisiert er beispielsweise Erdheim: „Erdheim übersieht, daß gesellschaftliche Prozesse stets in die Ontogenese hineinwirken, die Bildung der Persönlichkeitsstruktur immer interaktiv, familial, institutionell, kulturell erfolgt. Und er übersieht ferner, daß das Unbewußte immer erst in der je individuellen strukturellen Schöpfung in Reaktion auf die gesellschaftliche Situation hervorgebracht wird, daher notwendig spezifisch ist und keinen Allgemeinheitscharakter hat“ (Ebd.: S. 401)
und weiter: „De facto tendiert sein Ansatz stark zu einer Theorie des Mythos als falschen Wissens, falschen Bewußtseins im Sinne bloß kognitiver Unbewußtheit, beruht also auf einer nicht wirklich in die Regionen individueller Verdrängung (und Abwehr) reichenden Argumentationsgrundlage.“ (Ebd.: S. 402)
Dieser Kritik ist zu entnehmen, dass Busch das Unbewusste ausschließlich als spezifisch-biographische Kategorie fasst, die keine gesellschaftliche Qualität eo ipso entwickelt. Busch stellt sich daher auch explizit gegen eine Annahme von Gesellschaft, der eine eigene psychologische Qualität innewohne: „Wo Individuen sozial handeln – und dies tun sie stets –, ist auch Unbewußtes beteiligt. Ein Mißverständnis ist es aber anzunehmen, den vielen einzelnen miteinander verkehrenden Unbewußtseinen wüchse gleichsam automatisch eine eigene überindividuelle, intersubjektive, institutionelle oder gar gesellschaftliche Qualität zu. Daß die einzelnen über ein Unbewußtes verfügen, heißt noch lange nicht, daß ihr Unbewußtes unmittelbar auf die von ihnen gebildete Sozietät übergeht. Gesellschaft ist vielmehr ein von den Kategorien der Persönlichkeitslehre überhaupt nicht erreichbarer struktureller Zusammenhang; sie hat kein Unbewußtes – und genausowenig ein Vorbewußtes und ein Bewußtsein. Bewußtsein, Unbewußtes können Gesellschaften, Institutionen, Gruppen allenfalls in einem übertragenen Sinn haben. Wahrscheinlich sind unsere Auffassungen vom Verhältnis Individuum– Gesellschaft zu mechanisch. Gesellschaftliches ist immer Produkt der Menschen wie ihnen gegenübertretende, äußerliche Struktur. Als Bewußtseinsinhalt existiert es aber nur, sofern es in den Köpfen (und Körpern) der einzelnen Mitglieder repräsentiert ist. Ob es durch herrschaftsfreie Kommunikation, durch
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Hunger, Gewalt, Ausbeutung oder welche Umstände auch immer da hineinkommt, ist prinzipiell zunächst einmal bedeutungslos. Anders, wenn die innere Verarbeitungsform genauer bestimmt wird. Worauf ich hinaus will, ist: Nicht die Gesellschaft hat Bewußtsein, sondern sie ist im Bewußtsein der vielen sie bildenden Individuen. Sie verfügt sicher über die Macht, diese Individuen zu (ver-)formen, aber tut das nicht bewußt, vorbewußt oder unbewußt. Sie tut überhaupt nichts. Vielmehr tun die Individuen sie bewußtlos. Sie ist nicht Akteur, sondern (wenn es das gäbe) so etwas wie ein ‚selbstreflexives Produkt‘, ein auf die Produzenten zurückwirkendes Erzeugnis (wie z. B. eine Stadt, eine Autobahn u. ä.). Ich denke, dieser Eigenschaft der Gesellschaft ist ein Großteil dessen geschuldet, was mit dem Denkgespenst eines ‚gesellschaftlichen Unbewußten‘ eigentlich gemeint wird. Es geht dabei zumeist um die Anonymität sozialer Strukturen und Prozesse und die Kraft, oftmals auch Gewalt, mit der diese sich Geltung verschaffen. Ihnen aber Unbewußtes zuzusprechen, ist eher eine Form magischen Denkens, die von Menschen geschaffene Sozialformationen verpersönlicht.“ (Ebd.: S. 414)
Dieses „selbstreflexive Produkt“ der Gesellschaft ist den Menschen nicht bloß äußerlich, sondern es wirkt auch innerlich. Denn es wirkt auf die Menschen zurück und schafft individuelle Formen von Unbewusstsein und Vorbewusstsein, die aber kein gesellschaftlich Unbewusstes sind. Es sind die Menschen selbst, die Gesellschaft (re-)produzieren, ob bewusst oder unbewusst. Der Mensch schafft sich sein Selbstbild nach der Rückspiegelung objektiver Produkte, die aber keineswegs der eigenen Subjektivität entsprechen müssen. Gesellschaft geht daher von den Menschen aus, sie wird kollektiv gebildet und wirkt dann individuell zurück. So urteilt Busch: „Gesellschaft schafft nicht ein festgefügtes Massenbewußtsein von eigener psychischer Qualität, sondern beeinflußt das Bewußtsein der einzelnen.“ (Ebd.: S. 418) Dem stimme ich zu. Bei Bourdieu verschwimmt die Differenz von Gesellschaft und Individuum gänzlich. Der Habitus und das Feld sind mehr oder weniger identisch oder tendieren zu einem Gleichgewicht, daher nimmt Bourdieu an: „Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure.“ (Bourdieu/Wacquant 1996a: S. 161) Das Unbewusste, von dem Bourdieu ausgeht, müsste daher ein Unbewusstes sein, das identisch im Feld wie im Habitus der Feldteilnehmer existiert. Es müsste sich daher mit Bourdieu eine theoretische Annahme über das Unbewusste machen lassen, die sowohl im Habitus wie im Feld unverkürzt gedacht werden kann. Das kulturelle Unbewusste wäre dann eines, dass im Feld und in den Individuen gleichzeitig existiert, mit all seinen Dynamiken. Da Bourdieu dem Feld aber keine eigene psychische Qualität zuspricht, wird ersichtlich, dass er nur ein strukturelles geteiltes Nicht-Wissen von Feld und Feldteilnehmern annehmen kann. Daraus folgt und das ist auch meine These, dass die Struktur des Feldes auf die individuellen psychischen Apparate einwirkt. Das Nicht-Gewusste (in den Grenzen der Doxa)
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im Feld wirkt auf das Individuum ein. Das Feld vermittelt die Doxa und damit eine spezifische Struktur des psychischen Apparates. Bourdieu selbst bleibt bei seiner Konzeption eines kulturellen Unbewussten vage. Einerseits erscheint das Unbewusste bei ihm als ein Nicht-Bewusstes (ähnlich der Kritik von Busch an Erdheim, vgl. oben) ohne eigene dynamische Anteile oder, andererseits, als ein verabsolutiertes Unbewusstes, nach dem nahezu alle Praxis automatisch nach einem impliziten Körperwissen funktioniert.15 Problematisch ist darüber hinaus, dass Bourdieu den Begriff des Unbewussten in seinen Schriften sehr häufig verwendet, ohne diesen zu systematisieren. An einigen Stellen verweist er auf Freud und bezieht sich auf die dynamischen Kategorien wie Verdrängung, Sublimierung oder Projektion usw. (Vgl. Bourdieu 2001b: S. 208–214) Letztlich wird kaum klar, wie der Begriff des Unbewussten in Bourdieus Werk zu verorten ist. Zwei Aspekte, die ich übernehme, lassen sich aber festhalten: Das kulturelle Unbewusste ist alles das, was hinter den Grenzen der Doxa liegt, wie Fuchs-Heinritz und König beschreiben: „Bourdieu verwendet den Begriff des Unbewussten in ungewohnter Weise, denn er versteht ihn nicht als Bezeichnung für eine seelische Grund- oder Tiefenschicht (wie die psychoanalytische und tiefenpsychologische Denktradition). Das Unbewusste liegt nicht als Dunkles und Unbekanntes im einzelnen Menschen, sondern das ‚kulturelle Unbewußte‘ bildet die Grundlage der doxa, ist alles das, was unbeachtet und unproblematisiert die Erfahrung der Wirklichkeit strukturiert. Das Unbewusste ist jener Bereich, der in historischen Quellen keine Spur hinterlässt und der deshalb von den Historikern am leichtesten übersehen wird, weil er für die Menschen der jeweiligen Epoche selbstverständlich war bzw. ist.“ (Fuchs-Heinritz/König 2005: S. 206)
Das Unbewusste ist daher das Jenseits der Selbstverständlichkeit der Doxa, alles das, was außerhalb der Praxis und Sprache im Feld ist. Dieses Konzept eines kulturellen Unbewussten verbindet Bourdieu, als zweiten Aspekt, dann auch mit Herrschaft, wenn er beispielsweise schreibt: „[…] die ausdrückliche Funktion der Schule besteht darin, das kollektive Erbe in ein sowohl individuell als auch kollektiv Unbewußtes zu verwandeln.“ (Bourdieu 1970: S. 139) 15 Darauf verweis auch Vera King, wenn sie fordert: Es „sind die Relationen und Überlagerungen zwischen den verschiedenen Ebenen der Konzepte von Unbewusstheit bei Bourdieu, des, wie man sagen könnte, sozial wirksamen Nicht-Wissens, genauer zu markieren und zu differenzieren: die Abgrenzungen und Zusammenhänge zwischen der ‚Unbewusstheit‘ der sozialen Ordnungen (als gleichsam historisch sedimentierten Strukturen) und den individuell verinnerlichten, präreflexiv abrufbaren Automatismen sowie dem dynamisch Unbewussten.“ (King 2014: S. 23)
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Bourdieu begreift Herrschaft hier in der Unbewusstmachung herrschender Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata durch bestimmte Felder. Unbewusstmachung ist dabei zu verstehen als Reproduktion der Doxa. Im Feld der Schule wird also Herrschaft in Form kultureller Konversion in die Körper eingeschrieben, ohne dass diese Vorgänge oder ihre Auswirkungen den Trägern dieser verinnerlichten Herrschaft bewusst werden. Hier wird noch einmal deutlich, dass Bourdieu Unbewusstsein nicht im psychoanalytischen Sinn versteht, sondern als unhinterfragte Einschreibung von Kultur in den Leib. Bei diesem Vorgang werden aber tatsächlich auch Inhalte verdrängt und unbewusst/vorbewusst gemacht, wie ich mit Lorenzer annehme. Mit Bourdieu und Lorenzer halte ich daher fest: Das kulturelle Nicht-Bewusste als tabuisierende Selbstverständlichkeit der Doxa im Feld produziert unterschiedliche unbewusste Strukturen in den Individuen. Beim Eintritt in das Schulfeld beispielsweise muss sich der Habitus dem Feld unterordnen und die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsdispositionen des Feldes assimilieren. Bourdieu muss daher eine anpassungstheoretische Überlegung einführen, da er sonst mit seiner Auflösung des Dualismus von Gesellschaft und Individuum in Feld und Habitus (als gleichartiger Doppelstruktur) in eine Sackgasse gerät. Daher greift er in seinem Spätwerk m. E. auf Freud’sche Begriffe zurück: „Dabei gilt gleichermaßen, daß die Akteure sich der von einem Feld gebotenen Möglichkeiten zur Äußerung und Befriedigung ihrer Triebe und Wünsche, gegebenenfalls auch ihrer Neurose, bedienen und sie zur Unterwerfung oder Sublimierung zwingen, damit sie sich den Strukturen und Zwecken des jeweiligen Feldes fügen. Tatsächlich läßt sich in jedem einzelnen Fall beides beobachten, wenn auch je nach Feldern und Akteuren in ungleichem Ausmaß; unter diesem Aspekt könnte jede Einzelform eines spezifischen Habitus (zum Beispiel der eines Künstlers, eines Schriftstellers oder eines Wissenschaftlers) als ‚Kompromißbildung‘ (im Freudschen Sinn) beschrieben werden.“ (Bourdieu 2001b: S. 211)16
Die Anpassung an ein Feld ist daher immer mit der Verdrängung (Desymbolisierung) bzw. Sublimierung bestimmter Interaktionsformen verbunden. So lässt sich
16 Das wird ebenfalls in dem schon angeführten Zitat deutlich: „Nur über eine ganze Reihe kaum spürbarer Veränderungen, halbbewußter Kompromisse, sozial bestärkter, gestützter, kanalisierter, ja organisierter psychischer Operationen (Projektion, Identifikation, Übertragung, Sublimierung usw.) und erst am Ende all jener winzigen Anpassungen, die erforderlich sind, um ‚auf der Höhe zu sein‘ oder, im Gegenteil, ‚zurückzustecken‘, und die mit den winzigen oder gewaltigen Umwegen einhergehen, aus denen eine soziale Laufbahn besteht, wandeln jene Dispositionen sich nach und nach in feldspezifische um.“ (Bourdieu 2001b: S. 210–211)
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die These stärken, dass das Nicht-Gewusste im Feld als Tabu auf die einzelnen Individuen spezifisch einwirkt. Unter Einbezug einer inneren Natur in den Habitus wird diese These systematischer und auch der Blick auf ein sogenanntes gesellschaftliches/kulturelles Unbewusstes noch schärfer. Der Einbezug einer inneren Natur in den Habitus bereichert diesen um den Aspekt seiner Ontogenese und damit seiner Geschichtlichkeit. Die Vielschichtigkeit des Habitus wird dadurch theoretisiert. Innere Natur ist von Beginn an mitzudenken in der Persönlichkeitsentwicklung und ermöglicht den Blick auf ein individuell-Unbewusstes im Habitus, im Lichte einer feldspezifischen Doxa. Für dieses Unterfangen ist die Entstehung des Unbewussten bei Lorenzer kurz zu wiederholen: Lorenzer erkennt im sozial geformten Trieb den Ursprung des Unbewussten, als eigenständiges Sinnsystem. Dieses ist geformt als dialektische Interaktionserfahrung zwischen innerer Natur und primärer Bezugsperson: „Das als Trieb bezeichnete ‚Wirksystem‘ und als ‚Ubw‘ vom Bewußtsein wohl zu unterscheidende Sinnsystem wird sozial hergestellt – in jeder Ontogenese, – in einer praktisch-dialektischen Spannung zwischen erbgenetisch angelegten Möglichkeiten und der gesellschaftlichen Formbildung, die initial über die Mutter-KindDyade abläuft.“ (Lorenzer 2002: S. 152)
Das Unbewusste wird somit nicht durch das Feld hergestellt, sondern in der dialektischen Mutter-Kind-Dyade, oder, wenn man so will, im primären Feld aus Kind und Bezugsperson. Ein Feld kann immer nur auf das Verhältnis von unbewusst (Interaktionsformen), vorbewusst (sinnlich-symbolischen Interaktionsformen) oder bewusst (sprachsymbolischen Interaktionsformen) einwirken, aber es hat kein eigenes Unbewusstes und kann daher auch keines auf die Feldteilnehmer übertragen. Das Feld kann das Wirksystem nur nachträglich (z. B. in der Schule) symbolisieren oder desymbolisieren. Das dialektisch entstandene individuelle Unbewusste kann nicht für alle Feldteilnehmer das Gleiche sein. Aber alle Feldteilnehmer sind mit der gleichen Doxa, also mit den gleichen Selbstverständlichkeiten, im Feld konfrontiert. Ein Feld verlangt daher vom Habitus immer spezifische Desymbolisierungen. Das Feld ist aber nicht als eigenmächtiger Akteur zu verstehen, sondern als kollektives selbstreflexives Produkt im Sinne Buschs. Aber wie genau wirkt das Feld auf den Habitus desymbolisierend? Ein Feld verfügt über eine bestimmte Sprache, ein System dessen, was gesagt wird, und dessen, was nicht zur Sprache kommt, weil ihm im Feld keine Bedeutung zukommt (sprachliche Doxa). Diese Sprache des Feldes wird zur Sprache des Habitus. Es werden also bestimmte Interaktionsformen versprachlicht und damit bewusst und verhandelbar gemacht und es werden bestimmte Interaktionsformen ausgeschlos-
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sen. Dasselbe gilt für praktisch-ästhetische Verhaltensweisen der Hexis, die aber weit weniger reflexiv sind als Sprache. Durch die Übernahme bestimmter Wahrnehmungs-, Denk- und Praxisstrukturen werden bestimmte Wahrnehmungen und Denkoperationen (Bewusstsein), ebenso wie bestimmte Praktiken auf der präsentativen Ebene, desymbolisiert. Nun lebt der Habitusträger nicht nur in einem Feld, sondern in vielen parallel, die er zeitlich und räumlich unter Umständen wechselt. So kann der Habitus in einem Feld bestimmte Dinge nicht sagen, die in einem anderen Feld durchaus willkommen sein können. Daraus ergibt sich, dass ein Feld nicht einen Habitus voll und ganz prägt. Ich gehe deshalb davon aus, dass eine Desymbolisierung ins Unbewusste/Vorbewusste theoretisch nur denkbar ist, wenn die Doxa in allen Feldern bestimmte sprachliche und praktische Schemata exkommuniziert. Ein Habitus der morgens im Familienfeld, mittags im Betrieb und am Wochenende im Fußballstadion mit unterschiedlichen Feldern konfrontiert ist, muss, um zu verdrängen, in allen Feldern das gleiche doxische Tabu vorfinden. Besteht ein bestimmtes Tabu hingegen nur in wenigen Feldern, so werden Teile des Habitus in diesem Feld nicht desymbolisiert. Der Habitus vergisst höchstens temporär bestimmte Sprachsymbole und Praktiken. Diese vergessenen Sprachsymbole drängen in Versprechern, Witzen usw. aber wieder ins Bewusstsein, dann wenn der Habitusträger mit Reizen in Berührung kommt. Wenn diese These stichhaltig ist, dann gibt es auch Felder die sich einteilen lassen, in psychisch entlastende und belastende oder, gesellschaftskritisch, im Sinne Marcuses ausgedrückt: es gibt Felder repressiver Toleranz. Nun ist es aber nicht nur so, dass bestimmte Felder Bewusstseinsinhalte mehr oder weniger intensiv nicht zulassen, sondern auch so, dass bestimmte Felder auf die daraus entstehenden Neurosen, Sublimierungen, Projektionen usw. angewiesen sind. Es ist beispielsweise denkbar, dass das militärische Feld nicht primär Desymbolisierungen produziert, sondern auch, dass dieses Feld auf bestimmte Neurosen aus dem familiären Feld angewiesen ist. Auch das religiöse Feld ist vermutlich ohne den Zusammenhang mit der Vaterfigur im familiären Feld schwer zu erklären. Felder wirken daher zum einen auf die Psyche der Habitus ein und verändern das Verhältnis von erstem und zweitem Praxissinn bzw. bewusster und unbewusster Handlungsdisposition und gleichzeitig sind Felder auf bestimmte Deformierungen auch angewiesen. Das Verhältnis von unbewusst, vorbewusst und bewusst zu den Feldern ist daher ein doppeltes. Gerade die von Bourdieu so herausgehobenen Bildungsinstitutionen stehen im Verdacht nicht nur bloßes Wissen, sondern Einübung in Disziplin und Ordnung zu produzieren. Erst durch diese Prädisziplinierung (Desymoblisierung) ist es unter Umständen möglich bestimmte Felder erfolgreich zu betreten, da bestimmte Neurosen förderlich sein können. Mit dem Eingedenken der inneren Natur in den Habitus wird das Unbewusste im Lebensverlauf im Habitus verortet. Die klare Einteilung beider Sinnsysteme im
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Habitus macht auch das Wirken der Felder auf den Habitus deutlich. Aber es ist nicht nur die diskursive Ebene, die Ebene des Bewusstseins, sondern auch die sinnlich-symbolische (präsentative) Ebene, die für eine Homogenität der Feldteilnehmer sorgt und damit bestimmte Desymbolisierungen auslöst. Das grundlegende Einverständnis der Akteure im Feld (praktischer Sinn, vgl. 3.2.3), mit dem sie sich sinnlich, gestisch und mimisch (kurz: leiblich) aufeinander beziehen, funktioniert vor allem über die Anteile, die dem Bewusstsein verborgen sind. Es sind daher nicht nur die sprachlichen, sondern auch die leiblichen Ausdrucksformen, die im Feld Kapital sind. Der geformte Leib mit seinen Neigungen, Abneigungen und eigensinnigen Verhaltensweisen trägt also maßgeblich zum Erfolg in einem Feld bei. Diese Dispositionen sind vor allem vorbewusst, befinden sich also auf sinnlich-symbolischer Ebene. Die vorbewusste (und auch unbewusste) Disposition ist in den Feldern maßgeblich für Kapitalbildung oder Kapitalverlust. Die Bildung der sinnlich-symbolischen Interaktionsformen trägt daher wesentlich dazu bei, später im Feld Kapital akkumulieren zu können. Das Vorbewusste ist in den Interaktionen der Feldteilnehmer immer vorhanden, es stellt eine entscheidende Komponente von Interaktionen dar.17 Die gebildeten sinnlich-symbolischen Interaktionsformen sind maßgeblich für das nichtsprachliche Einverständnis auf dem Feld, den praktischen Sinn. Den unpraktischen Sinn in der Tiefenstruktur des Unbewussten berührt das Feld hingegen nicht immer. Da sich für Bourdieu der Gegensatz Gesellschaft/Individuum nicht mehr stellt, kann hier ein gesellschaftliches Unbewusstes neu bestimmt werden. Dies wäre dann keine über dem Menschen stehende Entität mit eigener Psyche oder ein prähistorisches Erbe, sondern ein geteiltes Nicht-Bewusstes. Habitus mit ähnlichen Lebens17 So auch Hans-Joachim Busch: „Logisch würde ich das auf diese Weise zum Vorbewußten entmystifizierte ‚gesellschaftliche Unbewußte‘ auf der Ebene im menschlichen Handeln tiefenstrukturell verankerter sprachlicher, kognitiver und interaktiver Kompetenzen ansiedeln. Das sogenannte gesellschaftliche Unbewußte würde dann vor allem solche Bewußtseinsinhalte umfassen, wie sie in Theorien der Rollen und der Identität, der Reziprozität der Perspektiven, des Alltagswissens bereits niedergelegt sind. [...] Mit diesem Bereich wäre der des Vorbewußten weitgehend deckungsgleich. Denn im Spiel der Rollen, in den vielen Erwartungen, zwischen denen wir unsere Identität balancierend einrichten, in den notwendig vorurteilshaften Unterstellungen, mittels derer sich unser Alltagshandeln stabilisiert, wird ja stets ein großer Teil mehr oder weniger bewußtseinsnaher Erinnerungen, Erfahrungen ignoriert oder verkannt, ohne jedoch der Verdrängung anheimgefallen, in die infantilen Tiefenschichten des dynamischen Unbewußten abgesunken zu sein. Sozial unbewußt wären die betreffenden Inhalte allenfalls insofern, als sie einen unreflektierten regulativen Hintergrund sozialen Handelns bilden; nicht aber handelt es sich um Anteile im Sinne eines dynamischen, verdrängten Unbewußten.“ (Busch 2001a: S. 416–417)
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läufen teilen ähnliche Erfahrungen, die sie mit ähnlichen Triebwünschen und Symbolen auf gemeinsame Felder vorbereiten. Solche Habitus haben einen gemeinsamen praktischen Sinn als Ansammlung aufeinander abgestimmter präsentativer Symbole und Ersatzsymbole. Im Bereich des Vor- und Unbewussten liegt daher das Geheimnis der Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse. Darum ist bereits der Einfluss der Felder, in denen die Mutter/Bezugsperson sich aufhält, eine über die Mutter/Bezugsperson vermittelte Vorbereitung des Kindes auf diese Felder. Das Kind entwickelt eine Persönlichkeitsstruktur, die sich später leicht an die Erfordernisse des Feldes anpassen kann. Der hier gemachte Lösungsvorschlag lässt das kulturelle Unbewusste von Bourdieu als ein implizites Körperwissen interpretieren, dass durch die Doxa des Feldes (kognitives Nichtwissen) organisiert wird. Die Felder schreiben dem Habitus ein spezifisches Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster ein. Diese spezifischen Muster im Feld tabuisieren andere Verhaltensmuster dadurch, dass sie verzerrend auf den Habitus / die Identität zurückwirken. Dies tun sie nicht durch eine übergeordnete Entität, sondern durch die mimetische Verhaltensweise gegenüber der Praxis der anderen Feldteilnehmer, die die Selbstnarration prägt. Der Unterschied zu klassischen Konzeptionen eines gesellschaftlichen Unbewussten ist, dass die Gesellschaft nicht ein gemeinsames Meta-Unbewusstsein hat, sondern dass Felder je spezifisch auf die Habitus der Feldteilnehmer einwirken und je spezifische Anteile desymbolisieren (unbewusst machen) – daher bilden sich auch immer individuelle Neurosen. Die Annahme, dass der Habitus in seiner ontogenetischen Geschichte einen Ursprung in der einzigartigen inneren Natur hat, macht plausibel, dass De- und Resymbolisierungen individuell am Habitus ansetzen. Je nach Feld sind diese Neurosen dann zur Akkumulation von sozialem Kapital geeignet oder stören dasselbe. 3.2.5 Eigensinn und Reproduktion des Leibes Der Leib steht im Fokus der Theorien von Bourdieu und Lorenzer. Er fungiert als Medium der ontogenetischen und der phylogenetischen Geschichte, denn er nimmt seine Umwelt in sich auf und reproduziert sie, indem er selber Umwelt für Andere ist. Der Leib reproduziert sich so mimetisch-dialektisch durch die Praxis der anderen Körper. Mimetisch, weil er den anderen Habitus im Feld nachahmt, und dialektisch, weil er dies in der Auseinandersetzung mit seiner materiellen Voraussetzung (seiner inneren Natur) tut. Der Leib ist daher die Schnittstelle, an der Natur und Sozialität zur natürlichen Sozialität und zur sozialen Natur verschmelzen, oder wie Bourdieu es ausdrückt: „Der Leib ist Teil der Sozialwelt – die Sozialwelt Teil des Leibes“ (Bourdieu/Wacquant 1996b: S. 153) bzw. Lorenzer: „[…] im Triebbegriff [wird] die Sozialität der menschlichen Persönlichkeit in der Tiefe des Körpers ver-
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ankert.“ (Lorenzer 2002: S. 132) Daher ist im Leib auch immer schon Herrschaft, Unterwerfung, Reproduktion und Eigensinn eingeschrieben. Bourdieu legt dabei seinen Fokus auf die Herrschaft im Leib, während Lorenzer den Eigensinn im Leib verständlich macht. Beide Theorien ergänzen auch hier wieder die jeweils andere. Lorenzers Theorie der Interaktionsformen wendet die biologistische und unhistorische Triebkonzeption Freuds in eine, in der der Trieb sozial und damit historisch hergestellt wird. Lorenzer erfüllt daher genau die Forderung, die Bourdieu an die Sozialwissenschaften stellt, auf einen Biologismus zu verzichten, aber dennoch die individuelle leibgebundene Subjektivität zu berücksichtigen: „Muß Soziologie zu ihrer Konstitution sich aller Formen von Biologismus verweigern, der tendenziell immer soziale Unterschiede durch Reduktion auf anthropologische Invarianten zu natürlichen erhebt, so kann sie das soziale Spiel in seinem wesentlichen Kern doch nur begreifen, wenn sie einige universelle Merkmale der körperlichen Existenz des Menschen berücksichtigt: sein Dasein als biologisches Einzelwesen, seine Orts- und Zeitgebundenheit, seine Sterblichkeit und sein Wissen darum.“ (Bourdieu 1995: S. 77)
Bourdieu wie Lorenzer stellen sich darüber hinaus gegen die Annahme einer Trennung von physischen und psychischen Vorgängen. Für Bourdieu ist dementsprechend an mentalen Akten stets der Leib beteiligt. (Vgl. Krais/Gebauer 2002: S. 33) So ist auch der praktische Sinn im Feld ein leiblicher Sinn, eine „leibliche Absicht auf die Welt.“ (Bourdieu 1993: S. 122) Ähnlich resümiert Lorenzer: „Die Triebwünsche sind also – psychophysische Grundmuster – Resultate der gesellschaftlichen Formbildung des Körpers.“ (Ebd.: S. 133) Beide Autoren eint außerdem eine Kritik an sozialwissenschaftlichen Theorien, die den Körper außer Acht lassen.18 Diese Kritik wird treffend von Wacquant formuliert:
18 Der Körper ist im Gegenteil wesentlicher Bestandteil der Soziologie Bourdieus: „Der Habitus und die mit ihm verbundene Thematisierung der körperlich-leiblichen Verfasstheit des Menschen übernimmt drei wesentliche Funktionen in seiner allgemeinen Sozialtheorie, und zwar die der unbewussten Speicherung, der Naturalisierung und der Reproduktion sozialer Ordnung. Die Darstellung dieser drei Funktionen macht deutlich, dass mit dem Habitus der körperliche Leib ins Zentrum der allgemeinen Sozialtheorie Bourdieus rückt, denn ohne die körperliche-leibliche Rückgebundenheit des Habitus wäre keine dieser Funktionen zu erfüllen.“ (Jäger 2005: S. 103)
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„Quer durch die Sozialwissenschaften finden wir Konzeptionen des handelnden Subjekts entlang von zwei Gegensätzen. Sie bewegen sich zwischen dem homo oeconomicus auf der einen Seite, also der rationalen Rechenmaschine, die den individuellen Nutzen maximiert – diese Vorstellung vom handelnden Subjekt geht auf Bentham zurück und wurde von der neoklassischen Ökonomie weiterentwickelt – und dem homo culturalis auf der anderen Seite, also dem Symbole handhabenden, durch Moral und Normen motivierten Individuum, das auf Kant zurückgeht und von der Kulturanthropologie hochgehalten wird. Unbeholfen erstreckt die Soziologie sich von einem Pol zum anderen. Die beiden herrschenden Modelle – der ‚rational man‘ und der ‚plastic man‘, wie Martin Hollis (1977) sie einmal charakterisiert hat – sind zugleich verstümmelt und verstümmelnd. Was ist ihnen trotz ihrer Gegensätzlichkeit und darüber hinaus gemein? Beide ignorieren den Körper in dem Sinne, dass sie von Fleisch, Sehnsucht und Leidenschaft als Modalitäten der sozialen Existenz absehen. Genau dies sind die Elemente des Handelns, mit denen William James sich auseinandergesetzt hat und die Sigmund Freuds Tiefenpsychologie erfassen sollte, allerdings nur auf einer ontogenetischen Ebene.“ (Wacquant 2014: S. 94–95)
In die phylogenetische Lücke passt Lorenzers Theorie, beschreibt er doch den Leib in seiner sozialen Einbettung und gibt ihm damit seine Geschichtlichkeit. Die ontogenetische (Habitus) wie die phylogenetische (Felder) Geschichte zeichnet sich durch zwei widerstrebende Pole aus: Stabilität und Veränderung bzw. Struktur und Ereignis. Einerseits neigen Felder zur Reproduktion, andererseits sind die Habitus auch eigensinnig und neigen zur Veränderung. Jeder Leib hat einen Eigensinn, egal ob er praktisch oder unpraktisch wird (vgl. 3.2.3). Er basiert auf den spezifischen Erfahrungen der Subjekte. Der Leib ist bei Bourdieu und Lorenzer das Medium dieser Erfahrung. So verfestigen sich die sinnlichen Erfahrungen im Leib zu Praxisanweisungen. Bei Bourdieu ist die Handlungsmotivation für eine bestimmte Praxis in der Erfahrung vergangener Praxis auszumachen, wie Ulle Jäger beschreibt: „Im belebten und gelebten körperlichen Leib haben frühere Erfahrungen eine aktive Präsenz, da sie sich in Form von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niedergeschlagen haben. Durch die einverleibten Dispositionen hat die Vergangenheit ins Gegenwärtige hinein überdauert und trachtet danach, sich in die Zukunft fortzusetzen.“ (Jäger 2005: S. 103) Bei Lorenzer lässt sich dieser Vorgang noch spezifischer finden. Er stellt fest, dass „jenes Grundgesetz unabweisbar wird, das man so formulieren muß: Der Aufbau der Verhaltensstruktur resultiert aus dem Aufbau der Körperfunktion und der Körpergestalt. Körperfunktion und Körpergestalt aber erwachsen aus dem Wechselspiel zwischen Anlagepotential, also dem von den Chromosomen gesteckten Feld der Möglichkeiten des Individuums, und den Szenen der prä- und postnatalen Interaktion zwischen Mutter und Kind.“ (Lorenzer 2002: S. 139)
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Die Verhaltensmuster sind Resultat der körperlichen Möglichkeiten und der sozialen Interaktionen. Damit wird Bourdieus Ansicht erweitert, dass der Habitus „das Körper gewordene Soziale“ (Bourdieu/Wacquant 1992: S. 161) ist. Es wird deutlich, dass der Habitus nicht nur die Welt in sich aufnimmt und reproduziert, sondern dass der Leib sich als Kompromiss mit der sozialen Welt formt und eine eigensinnige subjektive Verhaltensstruktur ausbildet. Die Ontogenese des Körpers wird daher von Bourdieu wie von Lorenzer in ähnlicher Weise beschrieben. Wobei Lorenzer radikal auf die Eigensinnigkeit hinweist. Wie die sozialen Verhältnisse aber reproduktiv werden, dass lässt sich mit Bourdieu erklären. Er macht klar, dass für ihn der Habitus der Träger der Geschichte ist: „Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat“ (Bourdieu 1993: S. 105) Diese gesamte Vergangenheit reproduziert bzw. vererbt die Herrschaft der Vergangenheit: „Diese Transformation [des Körpers, J. W.] hat um so stärkere Auswirkungen, als sie sich im wesentlichen unmerklich und schleichend, nämlich durch das Vertrautwerden mit einer symbolisch strukturierten Körperwelt und über die früh einsetzende und andauernde Erfahrung von Interaktion durchsetzt, denen Herrschaftsstrukturen immanent sind.“ (Bourdieu 2001b: S. 216)
Der Leib trägt in sich so die ontogenetische und phylogenetische Geschichte der Klassen. Er tritt ja in jeder Epoche in veränderte Felder ein. Bourdieu bezeichnet die Felder daher auch als „Ding gewordene Geschichte“ und den Habitus als „Leib gewordene Geschichte.“ (Bourdieu 1995: S. 69) Im Leib reproduziert sich das Feld dadurch, dass die Feldteilnehmer die Dispositionen der anderen Feldteilnehmer nachahmen. Aber der Leib ist als Produkt und Produzent von Geschichte immer in Herrschaft verstrickt. Bourdieu kann beschreiben, wie diese Herrschaft sich reproduziert und dass sie sich in den Leib einschreibt. So kann er die empirisch messbaren Daten der Außenwahrnehmung zwar festhalten, aber nur die Symptome beschreiben, ohne die innerpsychische Entsprechung zu analysieren: „Diese praktische Anerkennung, durch die die Beherrschten oft unwissentlich und manchmal unwillentlich zu ihrer eigenen Beherrschung beitragen, indem sie stillschweigend und im Vorhinein die ihnen gesteckten Grenzen akzeptieren, nimmt häufig die Form einer körperlichen Erfahrung an (Scham, Schüchternheit, Ängstlichkeit, Schuldgefühl), die nicht selten mit dem Gefühl eines Regredierens auf archaische Beziehungen, auf Kindheit oder familiäre Umgebung, einhergeht. Sie setzt sich in sichtbaren Symptomen wie Erröten, Sprechhemmung, Ungeschicklichkeit, Zittern um: Weisen, sich dem herrschenden Urteil, sei es auch ungewollt, ja widerwillig, zu unterwerfen, Weisen, das unterirdische Einverständnis – wenngleich manchmal in Konflikt, ‚innerlich gespalten‘ – zu erfahren, das einen Körper, der sich
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in den Anweisungen des Bewußtseins und des Willens entzieht, mit der Gewalt der den Gesellschaftsstrukturen inhärenten Zensuren solidarisiert.“ (Bourdieu 2001b: S. 217)
Die Herrschaft ist für Bourdieu tief in den Leib eingeschrieben. Er stellt zu Recht fest, dass diese Herrschaft sich im Leib bemerkbar macht. Im leiblichen Habitus sind die Grenzen (erfahren in den Interaktionen der Felder) naturalisiert und damit vergessen. Erst die Überschreitung macht die Herrschaft wieder sichtbar, da das Tangieren der Habitusgrenzen jene psychischen Symptome hervorbringt, die in den Feldern Grenzen markieren: Scham, Angst oder Schuldgefühl. Die eigensinnige Überschreitung der Grenzen bezahlt das Individuum mit verzerrten Praxen, mit dem temporären Verlust der Subjektivität im Versuch des Zurechtkommens in einer fremden Objektivität.19 Die Herrschaft tritt nicht an das Individuum heran, sondern ist im Leib des Individuums verankert. 20 Daher schreibt Bourdieu, in Bezug auf Pascal, „daß die soziale Ordnung nichts anderes ist als die Ordnung der Körper.“ (Ebd.: S. 215) Dass die Herrschaft im Leib verankert ist, bedeutet auch, dass die Klassenposition im Leib verankert ist. Da Geschichte und Klassenposition sich verändern, muss es aber auch Widerstand geben, sonst wäre Veränderung nicht zu denken. Dieser Widerstand bedarf ebenfalls einer leiblichen Zugrundelegung: Da Bourdieu aber nur den Zusammenhang von Feld und Habitus wirklich ins Auge fasst, nicht aber einen zweiten Praxissinn, der die symbolische Herrschaft 19 Daher versuchen die Beherrschten die fremde Objektivität zu meiden, indem sie dieser ausweichen und sich ihrer Position im Feld fügen: „Bei der Abschätzung des Werts ihrer Position und ihrer Merkmale wie Eigenschaften auf Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata zurückgreifend, die letzten Endes nichts weiter sind als jene inkorporierten objektiven Gesetze, nach denen sich dieser Wert objektiv richtet, tendieren die Beherrschten zunächst einmal dahin, sich das zuzuschreiben, was ihnen qua Distribution ohnehin zugewiesen ist, das abzuwehren, was ihnen ohnehin verwehrt ist (‚das ist nichts für uns‘), sich damit abzugeben, was ihnen aufgezwungen wird, ihre Hoffnungen auf das Maß ihrer Chancen zurechtzustutzen, sich so zu definieren, wie die herrschende Ordnung sie definiert, das ökonomische Verdikt als ihr eigenes zu wiederholen, sich mit dem zu bescheiden, was ihnen ohnehin zukommt […], kurzum: das Bild zu akzeptieren, dem sie zu gleichen haben – ‚bescheiden‘, ‚demütig‘ und ‚dunkel‘.“ (Bourdieu 2003: S. 735) 20 So ist Herrschaft auch nicht durch bewusste Autorität, sondern in der symbolischen Herrschaft des Habitus vermittelt: „Die symbolische Herrschaft (des Geschlechts, der Ethnie, der Bildung, der Sprache usw.) entfaltet ihre Wirksamkeit nicht in der reinen Logik erkennenden Bewußtseins, sondern in dunklen Dispositionen des Habitus, denen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata innewohnen, aus denen vor jeder bewußt getroffenen Entscheidung und willentlichen Kontrolle eine sich selber undurchsichtige Beziehung praktischen Erkennens und Anerkennens hervorgeht.“ (Bourdieu 2001b: S. 218)
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auch gefährden kann, entgeht ihm, dass im Körper auch Widerstandspotentiale verleiblicht sind. Dadurch gelangt Bourdieu zu dem Kurzschluss, dass gegen Herrschaft nicht Reflexion der Herrschaftsstruktur ein Mittel sein könnte, sondern eine Gegendressur, ein Einüben anderer Handlungen zum Verändern des Habitus: „[...] so vermag doch nur eine wahre Arbeit der Gegendressur, die ähnlich dem athletischen Training wiederholte Übungen einschließt, eine dauerhafte Transformation der Habitus zu erreichen.“ (Ebd.: S. 220) Diese Idee kann aber nur sinnvoll unter dem Vorzeichen einer inneren Natur diskutiert werden, es würde sonst nicht klarwerden, welche Art der Gegengewöhnung denn angesetzt werden soll. Mit Lorenzer ist hier einzuwerfen, dass eine Eingewöhnung in andere Verhaltensweisen nicht grundsätzlich Herrschaft bricht, da andere Verhaltensweisen auch neue Herrschaft produzieren können. Ein anderes Verhalten müsste daher an den Interaktionsformen ansetzen. Dieses Verhalten kann jedoch nicht der Sprache vorausgehen. Erst die sprachsymbolische Interaktionsform lässt den Habitus ja die eigenen tiefenpsychologischen Beweggründe verstehen und verhandeln. Auf Basis dieser reflexiven Identität lässt sich richtiges Verhalten bewerten und einüben (habitualisieren). Erst dann kann der Habitusträger, auf Grundlage der eigenen Subjektivität, die eigene Selbstregulation wie die Herrschaft des anderen in Frage stellen. Sprachsymbolische Vermittlung ist daher der Ansatz, um die verborgenen Interaktionsformen wiederzubeleben, zu resymbolisieren. Aber auch Sprache allein kann nicht – etwa in einer rationalen Kommunikation – den Weg zu den verborgenen Interaktionsformen ebnen. Sprache braucht einen leiblichen Anhalt. Der Leib muss sich daher regen, um Irritation und Leid zu äußern. Der Eigensinn des Leibes macht sich so bemerkbar. Diesen Eigensinn erwähnt Bourdieu nur am Rande, als einen „spezifischer Sinn der Organismen.“ (Bourdieu 1993: S. 193) Der Eigensinn des Leibes bei Alfred Lorenzer ist hingegen eine entscheiden Größe, sie bestimmt den Widerstandspunkt, an dem der Leib nicht mehr weiter zugerichtet werden kann. Der Leib wird bei Lorenzer so zur Quelle der Subversion gegen herrschende Strukturen: „Der Zwangscharakter demonstriert geradezu lehrbuchhaft die unterschiedlichen Zugriffsweisen der beiden verhaltensdeterminierenden Instanzen: der aus der kulturellen Objektivität herkommenden Sprache, die hier sich ganz und gar als Besatzungsmacht aufspielt, und den unbewußt einsozialisierten Interaktionsformen, die sich subversiv in den Leib zurückgezogen haben. Der Leib ist ihre Domäne.“ (Lorenzer 2002: S. 194)
Ein Motiv, das sich unter der Bezeichnung „Eingedenken der Natur im Subjekt“ in der Kritischen Theorie verbreitet findet, wie Schmidt-Noerr ausführt:
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„‚Eingedenken der Natur im Subjekt‘ heißt deshalb beides: die Kritik der instrumentellen Vernunft selbst als Funktion der Selbsterhaltung und die Spurensuche nach dem durch sie Zugerichteten und Verdrängten, nach den Ansprüchen der lebendigen Natur im Subjekt, den anarchischen Impulsen des Leibes, die unter repressiven Bedingungen nur in verzerrter Gestalt, symptomatisch, wiederkehren.“ (Schmid- Noerr 1990: S. 26)
Der spezifische Sinn der Organismen ist daher mit Lorenzer klarer als mit Bourdieu zu fassen, ein unbiologistischer, gesellschaftlicher und historischer triebhafter Eigensinn, dem trotzdem die Natur noch eingedacht ist. Es lässt sich zusammenfassen: Der Leib stellt eine unhintergehbare Grenze für gesellschaftliche Einschreibungen dar. Die Interaktionsformen sind immer in Auseinandersetzung mit innerer Natur zu denken und daher bildet die innere Natur die leibliche Grenze gesellschaftlicher Zumutung. Bourdieu bemerkt diesen Eigensinn der Praxis des Unbewussten, geht ihm aber nicht weiter nach. Der Habitus hat die Grenzen seiner Formbarkeit an dem, was aus innerer Natur und Feld im dialektischen Prozess zu Interaktionsformen geworden ist – und diese Grenzen sind in den Leib genauso eingeschrieben wie die Verinnerlichung von Herrschaft. Weil der Mensch nicht ohne seinen Leib auskommen kann, trägt er auch ein Leben lang die Potentiale von Reproduktion und Eigensinn in sich. Darüber hinaus ist der Leib nicht nur Träger der inkorporierten Feldstrukturen, sondern auch immer individuell eingebunden in die Geschichte des Feldes. Dieser Stand der Geschichte bedingt den Eigensinn der Interaktionsformen und gleichzeitig den Möglichkeitshorizont ihrer Erfüllung. In den Theorien von Lorenzer und Bourdieu ist der Leib ist die Schaltstelle des Sozialen, wie sich in fünf Punkten darlegen lässt. 1.
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Die theoretischen Konzepte von Bourdieu und Lorenzer passen einander ergänzend zusammen. Während Bourdieu eher die mimetischen Anteile des Menschen betont, verweist Lorenzer stärker auf die dialektische Entwicklung in konfliktreichen Erfahrungen. Herrschaft wird in der Habitus-Feld-Theorie als eingeschrieben in den Leib verstanden. Diese Sichtweise lässt sich mit der materialistischen Sozialisationstheorie von Lorenzer bestätigen und um das Verständnis der Auswirkung von Herrschaft an den Grenzen des Feldes erweitern. Mit Lorenzer wird darüber hinaus auch klar, wie sich Eigensinn in den Feldern als subjektive Struktur ausbildet und warum der Leib nie mit dem Feld deckungsgleich sein kann. Die innere Natur ist im Habitus immer mitzudenken als Genese individueller Subjektivität. Widerstand kann dann nicht alleine auf „Gegendres-
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sur“ hinauslaufen, sondern bedarf einer Reflexion auf die eigene Subjektivität, den verborgenen Praxissinn, um die Felder passend einzurichten. Die These kritischer Theorien (im weitesten Sinn von Marx bis zur Frankfurter Schule) von unhintergehbaren menschlichen Bedürfnissen wird durch das Konzept des Eigensinns einer inneren Natur aktualisiert. Damit wird Bourdieu ergänzt, der aus soziologischer Perspektive eine innere Natur nicht zu fassen bekommt.
3.3 ANEIGNUNG UND ENTFREMDUNG IM FELD Aneignung und Entfremdung sind die beiden Grundbegriffe der vorliegenden Arbeit. Sie werden hier im Habitus-Feld-Konzept unter Berücksichtigung der inneren Natur herausgearbeitet. Der bisherige Verlauf der Arbeit macht deutlich, dass nur unter dem Einbezug der Genese des Habitus aus den primären Interaktionen dieser als sozialwissenschaftliches Konzept seine Stärke ausspielen kann. Mit der Reintegration des Begriffs der Entfremdung in die sozialwissenschaftliche Theorie Bourdieus wird Leid plausibel und damit auch Konzepte von Widerstand und Aneignung. Kapitel 3.3 stellt die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit dar. In 3.3.1 wird eine grundsätzliche Einordnung der sozialisierten Subjektivität im Habitus vorgenommen. Anschließend wird in 3.3.2 der Mensch in den Feldern zwischen Symbol- und Zeichenwelten beschrieben. In 3.3.3 werden dann die hier entwickelten Grundbegriffe der Entfremdung aus der Sicht des Subjekts beschrieben. In 3.3.4 wird das Unbehagen, das durch die Felder entstehen kann, beleuchtet. Im nächsten Abschnitt wird die Doxa analysiert, die die Felder, trotz Unbehagen, zusammenhält (3.3.5). In 3.3.6 werden abschließend die Möglichkeiten von Irritation und Transformation untersucht. 3.3.1 Sozialisierte Subjektivität, Habitus und Identität Im letzten Abschnitt (3.2) habe ich dargelegt, warum das Konzept einer inneren Natur notwendig ist, um Bourdieus Habitus-Theorie sinnvoll zu erweitern. Mit dem Eingedenken der inneren Natur wird demnach verständlich, warum es im Habitus auch immer Subjektivität gibt. Dieser Abschnitt soll das Verhältnis des Habitus zur Identität unter Berücksichtigung der Subjektivität beleuchten. Denn die Subjektivität im Habitus kann entweder praktisch oder unpraktisch im Feld werden, sie kann daher entfremden oder reflexiv angeeignet werden. Die Begriffe Subjektivität, Habitus und Identität lassen sich zuspitzen: Subjektivität schließt die innere Natur mit ein und umfasst daher die grundlegende Schicht der Wünsche, Begehren und Fähigkeiten (Lorenzer). Der Habitus beschreibt die durch das Feld vermittelte Art des
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Denkens, des Wahrnehmens und der Praxis (Bourdieu). Mit Identität ist die durch Narrative vermittelte Einordnung (Giddens) unter Kollektive zu verstehen. 21 Subjektivität ist dabei doppelt zu verstehen: Einmal als Produkt der individuellen Sozialisationsgeschichte und einmal als Autonomie (als Voraussetzung eines entfremdungsarmen Lebens). Denn einerseits beschreibt sie die grundlegende Konstitution eines spezifischen Menschen, gekennzeichnet durch seine Wünsche, Triebbegehren, Verhaltensweisen und somit seine einzigartigen Interaktionsformen: Subjektivität ist daher im Sinne von Besonderheit zu verstehen. Andererseits ist Subjektivität das Bewusstsein dieser Besonderheit und damit die Möglichkeit einer Reflexion und autonomen Praxis in Bezug auf die eigenen Interaktionsformen. Subjektivität bezeichnet daher einmal, was den besonderen Menschen ausmacht (im Sinne von Individualität) und einmal, wie er sich dazu verhalten kann. Beide Aspekte der Subjektivität sind für diesen Abschnitt entscheidend. Die besondere Subjektivität wird in jeder Lebensgeschichte individuell gebildet, aber sie ist feldbedingt (sozialisiert). Die Möglichkeiten des Bewusstseins dieser Besonderheit sind ebenfalls feldbedingt und eine Frage von Wahrnehmungs- und Denkmöglichkeiten, daher also eine Frage des Habitus. Die besondere Subjektivität eines Menschen ist von zwei Polen bestimmt: den Pol innerer Natur und den Pol gesellschaftlicher Objektivität. Beide sind fortwährend in dialektischer Vermittlung. Die innere Natur (der subjektive Pol) wird als grundlegendes Set von Möglichkeiten verstanden, sie ist das Potential menschlicher Entfaltungsoptionen. In der Sozialisation wird dieses allgemeine Potential dann in ein spezifisch-geschichtliches Set von Möglichkeiten (Fähigkeiten und Bedürfnissen) verwandelt, in Subjektivität. Es ist spezifisch, weil es durch die konkrete Lebenssituation gebildet wird, und es ist geschichtlich, weil es nur diejenigen konkreten Potentiale ermöglicht, die durch die historisch entstandenen Felder vorgezeichnet sind. So entwickelt sich beispielsweise der Geschmack als geschichtlichkonkretes Spezifikum in bestimmten Feldern und bei bestimmten Habitus. Diese Verhältnisse konstituieren, ihrem Stand entsprechend, die individuellen Bedürfnisse und gleichzeitig die gesellschaftlichen Möglichkeiten im Feld, diese zu realisieren. Auch der Habitus ist weiter erklärungsbedürftig. Da ich bereits mit Lorenzer die Unterscheidung von Subjektivität und Identität (vgl. 2.2.4) getroffen habe, wird der Habitus hier als identitätsprägend verstanden. Das Verhältnis von Habitus und Identität lässt sich weiter nuancieren: Der Habitus prägt die Selbstnarration durch sein spezifisches Denken, Wahrnehmen und seine Praxis. Die Selbstnarration konstituiert dadurch die soziale Identität, die wiederrum entscheidend für die Verwirklichung oder Entfremdung der Subjektivität ist. Damit geht einher, dass der Habitus 21 Hier verwendet im Sinne der sozialen Identität nach Lothar Krappmann. (Vgl. Krappmann 2016)
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sich stetig neu konstituiert. Denn die Selbstverständlichungsebene der Narration basiert ja immer auf den herrschenden Denk-, Wahrnehmungs- und Praxisdispositionen im Feld. Oder anders ausgedrückt: Der Rahmen, in dem ich über mich nachdenken kann und in dem ich mir ein Bild von mir selbst mache, ist bestimmt durch den Habitus bzw. das Feld. Wie aber entsteht Subjektivität? Sie wird durch die primäre Sozialisation vermittelt. Denn in dieser beginnt das Kind seinen allgemeinen Bedarf in ein spezifisches Bedürfnis zu transformieren. So schreibt auch Bourdieu von der „Vergesellschaftung der Physiologie, indem physiologische Ereignisse in symbolische verwandelt werden, die ebenso durch konditionelle Stimulierungen wie intraorganische funktionelle Bedürfnisse hervorgerufen werden [zum Beispiel] die Umwandlung von Hunger in Appetit […].“ (Bourdieu 2009: S. 199–200) Der allgemeine Bedarf wird zum spezifischen Triebgeschehen transformiert, so wird aus dem Hunger eine spezifische Form des Triebwunsches, ein konkreter subjektiver Erfüllungswunsch. Die Wunscherfüllung basiert dann nicht auf dem bloßen Sattwerden, sondern auf dem spezifischen Genuss konkreter Speisen. Die Objekte der Wunscherfüllung basieren auf spezifisch ausgehandelte Interaktionsformen, wie Lorenzer beschreibt: „Sozialisation ist im psychoanalytischen Verständnis gekennzeichnet durch das Eintarieren von Lösungsformeln, die bestehende Spannungen nicht total abbauen, sondern in einer bestimmten Einigung aufheben.“ (Lorenzer 1972: S. 29) Es ist aber nicht so, dass die Subjektivität bloß über die Beziehungspersonen einfließt. Denn die Lösungsformen in der Mutter-Kind-Dyade sind auch die ersten Vermittlungen zwischen Feld und Habitus, indem in der Regel die Mutter/Beziehungsperson die ersten Interaktionen bzw. Erlebnisfiguren mit dem Kind einübt. Über das Feld tritt die Geschichte in die Bildung von Subjektivität ein. Der Habitus der Mutter ist ja bereits Produkt ihrer Felder, die sie in die dialektische Auseinandersetzung mit dem Kind einbringt. Der Habitus der Mutter, der als Pol der gesellschaftlichen Objektivität an das Kind tritt, vermittelt die Felder, in denen die Mutter sich befand und befindet, und stellt so eine einzigartige Beziehungssituation dar. In dieser ersten grundlegenden Vermittlung entwickeln sich, durch Versagung der direkten Bedarfsstillung, wie es sie noch im Mutterleib gab, die ersten sinnlichunmittelbaren Interaktionsformen. In der fortlaufenden Entwicklung passen sich diese Interaktionsformen immer weiter an. Das Kind ist dabei auf die Entspannungsangebote der Bezugsperson angewiesen, die die Spannungszustände des Kindes auf ihre eigene (aber feldspezifische) Weise löst. Der Habitus der Bezugspersonen und die innere Natur des Kindes bilden so die Dyade, in dem die innere Natur zu Subjektivität sozialisiert wird. Dass das Wechselspiel einzigartig und doch soziale Struktur ist, beschreibt auch Lorenzer: „Es ist ebenso wahr, daß das Wechselspiel […] von allem Anfang an von der sozialen Struktur, der die Mutter angehört, dem ‚sozialen Ort‘ der Mutter bestimmt ist, wie es wahr ist, daß das reale Wechselspiel
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in der individuierten Eigenart jeder Mutter-Kind-Dyade stattfindet.“ (Lorenzer 1981: S. 88) So wird einsichtig, dass sich Subjektivität durch die Felder der primären Bezugspersonen vermittelt. Verläuft das Leben des Kindes in diesen Feldern der Mutter, dann ist die Subjektivität in der Identität aufgehoben und damit auch praktischer Sinn für das Feld. Gerät das Kind (durch sozialen Aufstieg oder Abstieg etc.) aber in andere Felder als die Mutter, dann kann der Habitus unter Umständen keine Identität narrativ bestimmen, die die Subjektivität des Kindes ausdrücken könnte. Es mangelt ihm in diesem Fall dann an dem, was ich als zweite Ebene der Subjektivität beschrieben habe, an Selbstverfügung. Die Selbstverfügung des Kindes entwickelt sich erst im aktiven Umgang mit den Gegenständen seiner Welt und der Bildung von sinnlich-symbolischen Interaktionsformen: Das Kind beginnt mit der Aneignung der Welt, um seine Bedürfnisse autonom zu befriedigen. In dem Moment, in dem die unmittelbaren Interaktionsformen versagen, beginnt das Kind daher ein Spiel mit den Gegenständen, um die Befriedigung selbstständig zu organisieren. Das Vorbewusste (das Reich der Phantasie) entsteht so aus dem Inszenieren der Interaktionsformen als sinnlichsymbolische Interaktionsformen. Die Gegenstände der Welt, die dem Kind in der Regel begegnen, sind aber immer Produkte bestimmter Felder, d. h. ästhetische, funktionale und handlungsvorgebende Produkte. Das Kind eignet sich daher immer feldspezifische Produkte (jeder Haushalt ist spezifisch, jedoch relativ homolog zu anderen Haushalten ähnlicher Habitusträger) auf seine den sinnlichen Interaktionsformen entsprechende Art und Weise an. In dieser individuellen Bearbeitung der kollektiven d. h. feldspezifischen Bedeutungsträger entwickelt das Kind eine erste Symbolschicht, die Protosymbole bzw. die ersten sinnlich-symbolischen Interaktionsformen und damit eine erste IchStruktur und die Grundlage der selbstverfügenden Subjektivität, wie Lorenzer schreibt: „Der entscheidende Fortschritt der sinnlich-symbolischen Interaktionsformen gegenüber den vorsymbolischen Interaktionsformen besteht also darin, daß die Stufe der spielerischen Verfügung über die Abbildung von Situationen qua Lebensentwürfen erreicht wird. Die sinnlichsymbolischen Interaktionsformen sind die erste Schicht dieser Subjektivität. Sie sind die Basisschicht der Subjektivität, die Grundlage von Identität und Autonomie und insofern die Schaltstelle der Persönlichkeitsbildung überhaupt.“ (Ebd.: S. 163)
Bourdieu beschreibt am Beispiel der kabylischen Gesellschaft ebenfalls, dass die spezifischen Gegenstände und die Aufteilung der Räume den kindlichen Habitus konstituieren. (Vgl. Bourdieu 2009: S. 48–65) Die Räume, die Gegenstände und die ersten sinnlichen Symbolisierungen bilden so die Grundlage der Selbstverfügung.
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Auf diese Weise entstehen die affektiven Gesten, die später in Tanz, Musik, Theater, Kreativität usw. assoziiert werden, immer in Bezug zum Feld des Kindes. Der Habitus wie die Selbstverfügung werden so durch die ersten Felder geprägt. Bis hierhin sind Subjektivität und Identität meist noch nicht geschieden, auch wenn an dieser Stelle schon sinnliche Interaktionsformen aus der Verhaltensmatrix ausfallen können. Die Felder konstituieren dementsprechend zunächst Subjektivität, gebrochen über die Bezugsperson, und dann den Habitus, der Identität vermittelt. Subjektivität ist gewissermaßen die Tiefen- und Zeitstruktur im Habitus. Sie bildet die Grundlagen des Verhaltens, ob als praktischer oder unpraktischer Sinn. Außerdem macht sie verständlich, warum der Habitus nicht unendlich transformierbar ist, da er immer an früheste Sozialisationsgeschehnisse gekoppelt ist. Die Spracheinführung ermöglicht dann die Trennung von Subjektivität und Identität,22 wobei Subjektivität leiblich im Habitus verankert bleibt, auch wenn die Denk-, Wahrnehmungs- und Praxisschemata des Habitus und der darauf aufbauenden Identität, die in den Feldern vermittelt werden, die Subjektivität ausblenden können. Die Sprache, als Denk- und Wahrnehmungsmittel, kann in einer Welt mit Sprachsymbolen schlechter symbolischer Qualität (Zeichen) nicht reflexiv werden. Der Habitus, der in eine Symbolwelt kommt, in der die Symbole für ihn nur Zeichen sind, wird seine Subjektivität darin nicht ausdrücken können, d. h. keine passende Identität finden. Das gilt aber nicht nur für die sprachliche Ebene, sondern auch für ästhetische Ebene. Denn auch auf der nichtreflexiven Stufe des SinnlichSymbolischen kann Subjektivität (Tanz, Bewegung, ästhetischer Genuss) ausgedrückt werden, wenn diese Verhaltensweisen dem Feld entsprechen, oder sie können verpönt sein. Lassen sich subjektive Inhalte auf keiner Ebene ausdrücken, dann können Sie als Klischee in ästhetischen und sprachlichen Schablonen zurückkehren, und auch darin praktischen Sinn finden. So sind bestimmte Neurosen für einige Felder förderlich und damit durchaus praktischer Sinn. Sprache kann aber auch reflexiv auf die Denk- und Wahrnehmungsdispositionen zurückwirken. Sie ist das Mittel, um sich der Subjektivität anzunähern, sie auszudrücken. Sprache ist daher doppeldeutig: einerseits als reflexives Mittel und andererseits als (falsche) Verhaltensanweisung. Der Habitus kann über Sprache somit kohärent oder zerrissen sein. Der Ausschluss der Subjektivität aus dem Sprachkontext erfolgt aber nicht willkürlich, sondern erfüllt in bestimmten Feldern eine Funktion für das Feld, worauf ich im Folgenden am Beispiel der Schule eingehe. Schon vor der Schule bereiten die Bezugspersonen das Kind auf das Schulfeld vor. Indem sie über ihren eigenen Habitus den praktischen Sinn der Felder an die 22 Auf einer abstrakteren philosophischen Ebene lässt sich auch von einer Trennung von Besonderem und Allgemeinem sprechen.
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Kinder vermitteln, konstituieren sie gleichzeitig die Grenzen erlaubter Interaktionsformen über Sprache. Diese Grenzen werden dem Kind innerlich-somatisch. So ergibt es sich, dass sich die Überschreitungen dieser Grenzen dem Kind dann als Schuldgefühl oder Neurose bemerkbar machen, wie auch Bourdieu bemerkt: „Die Gesamtheit der über das Kind gefällten, positiven oder negativen Urteile – performative Behauptungen über das Wesen des Kindes, die das schaffen, was sie behaupten – oder die subtiler und heimtückischer wirkende Gesamtheit der stillschweigenden Zensureingriffe, die die Logik der häuslichen Ordnung als moralische Ordnung durchsetzt: Dieses ganze Familien-fatum hätte nicht so starke, nicht so dramatische soziale Auswirkungen, wäre all dies nicht mit Wünschen überfrachtet und durch den Verdrängungsmechanismus in das Innerste des Körpers versenkt, wo sie als Schuldgefühle, Phobien, mit einem Wort: als Leidenschaft fortleben.“ (Bourdieu 2001b: S. 214)
Der sozialisierte, aber unpraktische Sinn der frühesten Sozialisation wird so sanktioniert, nur ein praktischer Sinn wird zugelassen. Die Leidenschaft von der Bourdieu spricht, markiert diese erste Grenze, die von den ersten Bezugspersonen geschaffen wird. Leidenschaft, als intensive Emotion verstanden, weist dem Kind die Grenze, vermittelt ihm den praktischen Sinn für das Feld. Jede Grenzübertretung wird von außen solange sprachlich sanktioniert, bis sie zukünftig von innen sanktioniert wird. Die sprachliche Vermittlung bestimmter Haltungen und damit die Desymbolisierung bestimmter Interaktionsformen, um feldspezifische Interaktionen zu gewährleisten, ist in Erziehungsformen angelegt, die bereits auf die weiteren Felder (wie Militär, Schule etc.) vorbereiten. Es darf daher keine bewusste, d. h. verhandelbare bzw. reflektierbare Verhaltensweise sein, sondern diese muss somatisiert werden, wie auch Bourdieu bemerkt: „Das derart Einverleibte findet sich jenseits des Bewußtseinsprozesses angesiedelt, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt selbst noch davor, explizit gemacht zu werden: Nichts erscheint unaussprechlicher, unkommunizierbarer, unersetzlicher, unnachahmlicher und dadurch kostbarer als die einverleibten, zu Körpern gemachten Werte – und dies kraft einer Transsubstantiation, die, durch die klandestine Überredung einer impliziten Pädagogik vollbracht, in der Lage ist, eine ganze Kosmologie, Ethik, Metaphysik und Politik vermittels so bedeutungsloser Befehle wie ‚halte dich gerade‘ oder ‚halte das Messer nicht in der linken Hand‘ einzuschärfen.“ (Bourdieu 2009: S. 200)
Die sprachlichen Befehle werden dem Kind so sehr innerlich, dass die subjektive Handlungsmatrix nicht mehr zum Zuge kommt. Ohne die Möglichkeit, Subjektivität zu entfalten, aber tendiert das Kind dazu, Klischees zu entwickeln. Einerseits sind diese Klischees leidvoll und andererseits werden genau diese Klischees für be-
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stimmte Felder gebraucht, sie können einen bestimmten praktischen Sinn ausmachen. In der Sprache wird aber nicht nur eine implizite Pädagogik inkorporiert, sondern auch ein Kapitalsystem. Die Eltern tauschen soziales Kapital (Anerkennung) gegen den Verzicht auf die besonderen Verhaltensweisen (Subjektivität) des Kindes. Für das soziale Kapital erhalten die Eltern das Versprechen, dass die Kinder ihre Affekte in feldgerechte Formen bringen. So bemerkt auch Bourdieu: „Die Arbeit an der Sozialisation der Triebe stützt sich auf einen ständigen Austausch, in dem das Kind Verzicht und Opfer gegen Bezeugungen von Dankbarkeit, Anerkennung oder Bewunderung einhandelt (‚wie brav es ist!‘), um die manchmal ausdrücklich geworben wird (‚Papa, guck mal!‘). Dieser Austausch ist in dem Maße, in dem er die ganze Person der beiden Partner einbindet – vor allem natürlich das Kind, aber auch die Eltern –, in hohem Maße affektgeladen. Das Kind verkörpert Soziales in Form von Affekten, die aber schon sozial gefärbt, qualifiziert sind.“ (Bourdieu 2001b: S. 213)
Anerkennung wird dem Kind durch das Versprechen auf Verzicht seiner Interaktionsformen zuteil.23 Das Kind beginnt so seine Akkumulation von sozialem Kapital, welches es durch Verzicht auf Entfaltung seiner besonderen Subjektivität bezahlt. Das Kind lernt diese Währung zu schätzen, weiß es doch um ihren Wert, damit den Eintritt zu den Feldern der Erwachsenen zu erhalten. Diese Wertschätzung bildet Identität, da sie zur Narration wird. Das Kind sieht sich selber als das, wodurch es wertgeschätzt wird.24 Je früher im Sozialisationsprozess die feldspezifischen Verhaltensmuster erzogen werden (von der Art, das Kind zu halten, bis zu den verbalen Ermahnungen), desto besser wird das Kind auf die Felder des Kindergartens, der Schule usw. vorbereitet. Der Genuss der Wunscherfüllung wird so in ökonomisches Kalkül verwandelt, wie es Bourdieu ausdrückt: „Die Primärerziehung geht mit dem Körper wie mit einer Gedächtnisstütze um. Sie ‚verdummt‘ gleichsam die Werte, Vorstellungen und Symbole, um sie der Ordnung der ‚Kunst‘ zuzuführen, jener reinen Praxis, die bar aller Reflexion und Theorie ist. Sie zieht größtmöglichen Gewinn aus der ‚Konditionabilität‘, dieser Eigenschaft der menschlichen Natur, die Kultur – im Sinne des englischen cultivation –, d. h. die Einverleibung von Kultur möglich macht. […] Der pädagogischen Arbeit kommt die Funktion zu, den ‚wilden Körper‘ und vornehmlich den a-sozialen Eros, der allzeit und auf der Stelle nach Befriedigung verlangt, durch 23 Natürlich ist auch der gegenteilige Fall denkbar, bei dem das Kind Anerkennung für das Ausleben seiner Interaktionsformen innerhalb der Norm erhält. 24 Beispielsweise in der Selbstbeschreibung: „Ich war ja immer brav!“
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einen ‚habituierten‘, d. h. zeitlich strukturierten Körper zu ersetzen: Indem sie im Austausch für den unmittelbaren Verzicht auf direkt sinnliche Genüsse das Versprechen auf hinausgezögerte, aber abwechslungsreiche Genüsse anbieten und alle aufgezwungenen Repressionen und Einschränkungen mit der Münze des Prestiges zurückzahlen, prägen die pädagogische Aktion und die pädagogische Autorität, die unabdingbar ist, damit dieses ‚Affengeld‘ Abnahme findet, auf Dauer und unabhängig von den besonderen Inhalten der Einprägung, jene zeitlichen Strukturen ein, die den Habitus in die Logik des Aufschubs und des Umwegs, folglich des Kalküls, einführen: dieser kultivierte Genuß nun weist eine Ökonomie auf, die die Utilitaristen moralisch und die Ökonometriker mathematisch formulieren.“ (Bourdieu 2009: S. 199)
Die Bildungssysteme haben daher auch ihre strengen Verhaltensanweisungen, ihre Riten und ihre Belohnungssysteme, um aus der Suche nach Realisierung der Interaktionsformen eine Ökonomie der Triebenergie zu machen. „Bei dieser Transmutation [der Umwandlung in feldspezifische Dispositionen, J. W.] spielen die Einsetzungsriten – insbesondere die des Bildungssystems […] – eine entscheidende Rolle, indem sie schon früh die Besetzung des Spiels oder die Investition ins Spiel fördern.“ (Bourdieu 2001b: S. 211)
Daher beschreibt auch Bourdieu, dass der Schule, dem schulischen Feld, die Funktion zukommt, eine gemeinsame Werteorientierung, gemeinsame Lebensführungsund Denkmodelle zu vermitteln. In der sekundären Sozialisation im schulischen Feld werden die grundlegenden Verdrängungsmuster, in der Sozialisation des Habitus, institutionalisiert, um die Kompatibilität (die Fähigkeit zur Kapitalakkumulation) zu darauffolgenden Feldern zu gewährleisten. So sehen auch Görlich und Lorenzer die Schule als den Ort, an dem das System von Anerkennung und Belohnung (soziales Kapital) die Desymbolisierung der Interaktionsformen organisiert: „Dort, wo bereits vorschulisch-familial die Verknüpfung der beiden Schichten, Matrix und Sprache, sich unter eindeutiger Dominanz der sprachsymbolischen Organisationsform abspielte und schon in dieser frühen Phase eine eigentümliche Armut an sinnlichen Erfahrungsmustern erkennbar war, vergrößert die Schule die Dissonanz. Und zwar um so stärker und nachhaltiger, je exklusiver die rein sprachsymbolische Ausrichtung ist, je perfekter die Didaktik der Einpassungsstrategien ausgefeilt wird und je dichter der Schleicher [Sic! Es ist wohl „Schleier“ gemeint, J. W.] der Befriedigung von sekundären Bedürfnissen – als System der Anerkennung und Belohnung – die ursprüngliche Bedürfnisarmut verdecken. Doch diese Gruppe ist die ‚erfolgreichere‘, weil deren Schüler überaus gut funktionieren, denn sie sind freier von der Bürde sinnlicher Erfahrung, freier von der Bindung an andere, und das heißt
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unfähig zu solidarischer Kooperation. Ihr Handeln ist partiell oberhalb der Erfahrung aus sinnlicher Praxis durchinstrumentalisiert – in einer schlechten Übereinstimmung zwischen individuellen Grundmustern des Verhaltens und sozialen Normensystemen. Es versteht sich, dass diese Gruppe der ‚Erfolgreichen‘ nur als die besonders auffällige Ausformung einer viel breiteren Phalanx solcher Störungen anzusehen ist.“ (Görlich/Lorenzer 2013: S. 156)
Lorenzer und Görlich beschreiben hier außerdem, wie das schulische Feld auf die Desymbolisierung bzw. die Zerstörung der Sinnlichkeit angewiesen ist und wie sehr die Sinnlichkeit in der Schule eine unpraktische ist. Unter dem Gesichtspunkt der Reproduktion von Klassen lässt sich erkennen, dass von der Mutter-Kind-Dyade über die Ordnung der Gegenstände und Räume bis hin zu den Feldern der Schule sich die Klassenposition in die somatischen Strukturen einschreibt und die Widerstandspunkte innerer Natur resp. Subjektivität überschreibt. Das Überschreiben ist allerdings nicht als Umschreiben im Sinne von Löschen, Radieren und Neuschreiben zu verstehen, sondern als Palimpsest, als Darüberschreiben, bei dem die eine Schreibstruktur die andere überlagert: Beide Strukturen behalten dabei ihren Sinn, den für das Feld praktischen und einen unpraktischen. Da sich beide Strukturen nie vollständig zur Deckung bringen lassen, verbleibt immer ein Anteil Nichtidentisches in der Identität. So wird zwar die Klassenposition in den Leib eingeschrieben, gleichzeitig aber auch eine nichtidentische Subjektivität, sie definiert den Widerstandspunkt. Entfremdung entsteht dann, wenn der Habitus / die Identität die eigene Subjektivität nur unzureichend ausdrücken kann. Die sozialisierte Subjektivität im Habitus lässt sich zusammenfassen: Die sozialen Felder treten in allen Stufen der Sozialisation in verschiedenen Formen an das Kind heran. Die besondere Subjektivität des Kindes ist das Resultat einer beständigen Dialektik zwischen der inneren Natur bzw. den Interaktionsformen und den Feldern. Nachdem die Dialektik die Besonderheit des Kindes konstituiert hat, beginnt ein zweiter Schritt der Sozialisation, in dem das Feld die Interaktionsformen nicht mehr konstituiert, sondern diese mit Verhaltensanweisungen überlagert. Der Identitätszwang zwischen Habitus und Feld hinterlässt das Nichtidentische als unpraktischen Sinn. Dieser ist nicht wirkungslos, sondern kehrt zurück als Leid und in klischeebestimmtem Verhalten, das als Kapital im sozialen Feld wirken kann. In den pädagogischen Systemen der Eltern und der Schule werden die Grundsteine einer Verhaltensökonomie gelegt, die soziales Kapital gegen Genussaufschub vermittelt. Die sozialisierte Subjektivität im Habitus integriert daher die Möglichkeiten einer Identität der Emanzipation ebenso wie die der leidvollen Anpassung bzw. der Aneignung eigener Interaktionsformen ebenso wie der Entfremdung.
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3.3.2 Das Subjekt zwischen Zeichen und Symbol Die Aneignung der eigenen Subjektivität oder die Entfremdung von derselben spielen sich auf der symbolischen Ebene ab. Für diese These müssen die Symbolkonzeptionen von Bourdieu und Lorenzer verglichen und umeinander ergänzt werden. Für Lorenzer sind Symbole kollektive Objektivationen, die individuelle Bedeutungen haben. Sie sind daher die Schnittstelle zwischen den individuellen Affekten und der Welt. Für Bourdieu sind Symbole hingegen Objektivationen realer Verhältnisse, die von den Akteuren im Feld anerkannt und allgemeingültig durchgesetzt werden. Beide Ansätze verknüpfe ich hier. Bei Lorenzer hat das Symbol ein Doppelcharakter: als Verständigungsformel (Selbstverständigung und Kommunikation) und als Handlungsanweisung. Alle menschlichen Objektivationen (Gegenstände, Beziehungen und Verhältnisse) können diese symbolische Qualität annehmen. Die Symbole können daher den unbewussten Lebensentwürfen der Individuen einen Ausdruck geben, indem sie eine Bedeutung anbieten bzw. sinnvoll sind: „Symbole sind uns alle, in Laut, Schrift, Bild oder anderer Form zugänglichen Objektivationen menschlicher Praxis, die als Bedeutungsträger fungieren, also ‚sinnvoll‘ sind.“ (Lorenzer 1981: S. 23) Dabei bilden die präsentativen Symbole das Reich der Fantasie (des Vorbewussten) und die diskursiven Symbole das Reich des Bewusstseins. Das Ich wird dementsprechend doppelbödig gedacht, wie König differenziert: „Das auch als das Ich bezeichnete Bewusstsein weist eine doppelbödige Struktur auf: Während sich die Fantasie des Individuums auf das Vorbewusste der symbolischen Intelligenz zurückführen lässt, das den inneren Niederschlag der sinnlich-symbolischen Interaktionsformen und damit der sich in Bilder übersetzenden Affekte darstellt, lässt sich die Vernunft des Individuums auf das Bewusste der begrifflichen Intelligenz zurückführen, das der innere Niederschlag der sprachsymbolischen Interaktionsformen und damit der sich an Wörter heftenden Affekte ist.“ (König 2014: S. 68)
Repräsentative wie diskursive Symbole verknüpfen daher auf ihre Weise die inneren Affekte der Menschen mit der Außenwelt (Bilder, Wörter). Symbole aber sind, wie bereits erwähnt, gleichzeitig auch Träger von Handlungsanweisungen: „Unter Symbol sollen menschliche Gebilde verstanden werden, die sozialen Prozessen nicht nur entstammen, sondern hergestellt werden als Regulatoren sozialer Prozesse, [im Original fett gedruckt, J. W.] nämlich als Verständigungsformeln oder Handlungsanweisungen.“ (Lorenzer 1977: S. 143) Symbole haben daher bei Lorenzer unterschiedliche Eigenschaften:
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Symbole sind menschliche Produkte. Symbole haben individuelle und/oder kollektive Bedeutung und sind sinn voll dadurch, dass sie früheste Lebensentwürfe zum Ausdruck bringen. Diese Lebensentwürfe werden durch Symbole verständlich und kommunizierbar. Präsentative und diskursive Symbole verknüpfen die Innenwelt mit der Außenwelt. Symbole (und auch Zeichen) sind handlungsanweisend und regulieren damit soziale Prozesse.
In Bezug auf Marx wird deutlich, wie Symbole reflexiv wirken und damit Selbstund Welterkenntnis vermitteln und so Selbstentfaltung ermöglichen. Symbole spiegeln die Vergegenständlichungen der eigenen Wesenskräfte, wodurch sie die Subjektivität (innen) und Welt (außen) sinnvoll verknüpfen. Im Zuge der Arbeitsteilung entstehen aber kollektive Objektivationen/Vergegenständlichungen, die im Kapitalismus falsch auf die Subjekte zurückwirken und diese entfremden, worauf die Fetischtheorie aufbaut (vgl. 1.2.3). Vergegenständlichungen mit symbolischer Qualität hingegen ermöglichen ein adäquates Selbst- und Weltverhältnis. Gerade Sprachsymbole sind narrationsbildend. Dadurch kann Subjektivität (als Besonderheit) entfaltet und Kommunikation ermöglicht werden, die nicht nur instrumentelle Aspekte umfasst, sondern auch eigene Affekte und Emotionen zu artikulieren vermag. Bisher habe ich das Symbol nur als Mittel der Selbstverständigung und Kommunikation beschrieben. Ein zweiter Aspekt, das Symbol als Regulator sozialer Prozesse, kommt hingegen dem Symbolbegriff von Bourdieu nahe. Für ihn nämlich sind Symbole Merkmal der Unterscheidung und damit ordnende Kraft der sozialen Felder. Denn die symbolische Welt bringt die Unterscheidungen der realen sozialen Welt zum Ausdruck, sie repräsentiert sie. Die reale soziale Welt versteht Bourdieu als „ein Ensemble unsichtbarer Beziehungen.“ (Bourdieu 1992c: S. 138) Diese unsichtbaren Beziehungen werden erst auf der symbolischen Ebene sichtbar, wie von Hülst in Bezug auf Bourdieu beschreibt: „Symbole fungieren innerhalb des semantischen Systems als Ausdrucksformen eines zweiten Systems: Soziale Symbole wirken als distinguierende Zeichen, die sichtbar machen, was auf einer tieferen, sehr realen und an ihren Auswirkungen kontrolliert erfahrbaren Ebene (der gesellschaftlich-strukturellen Ordnung, i.e. vor allem der Ökonomie) gegeben ist, bzw. geschieht. ‚Faktische‘ soziale Unterschiede, die Differenzen im sozialen Raum, werden durch semantische Beziehungen innerhalb eines Symbolsystems ausgedrückt.“ (von Hülst 1999: S. 289)
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Über das Feld werden diese symbolischen Verhältnisse in den Habitus und damit in den Leib eingeschrieben. Die symbolische Welt gibt den realen sozialen Unterschieden somit eine Bedeutung, sie macht sie für die Feldteilnehmer sinnvoll, sie wird dadurch zur Illusio/Doxa (vgl. 3.3.5). Die Symbolwelt repräsentiert so die reale Welt mit ihren Abhängigkeiten. Die symbolischen Formen werden durch die Orthodoxen im Feld legitimiert: Wie jemand zu essen hat, wie man mit Sprache umgeht oder welche Sportart man ausübt, wird so zu symbolischen Klassifikationsmerkmalen, über deren Wertigkeit im Feld die Orthodoxen entscheiden, die sich im Besitz der symbolischen Gewalt befinden. Die Orthodoxen können über die Durchsetzung bzw. Anerkennung bestimmter Symbole entscheiden, und zwar dadurch, dass sie symbolisches Kapital besitzen. So werden die realen Herrschaftsverhältnisse verdeckt, naturalisiert und verstärkt. Erst die Analyse dieser symbolischen Formen kann die realen Beziehungen aufdecken. Bourdieu kommt hier Marx nahe, indem er ein Basis-ÜberbauModell entwirft und zudem immer wieder die wichtige Rolle der realen ökonomischen Struktur betont. Wie lassen sich diese beiden Positionen von Lorenzer und Bourdieu verbinden? Die Antwort lautet: Indem man die symbolische Qualität der Symbole berücksichtigt und diese gleichzeitig als umkämpft betrachtet. Mit Lorenzer wird verständlich, warum Symbole eine Bedeutung haben, und mit Bourdieu wird verständlich, dass diese Bedeutungsträger ungleich zugänglich, damit umkämpft sind und soziale Prozesse regulieren. Mit Lorenzer lässt sich daher beschreiben, dass menschliche Objektivationen eben nur dann eine hohe symbolische Qualität annehmen, wenn sie hinsichtlich der Lebensentwürfe sinnvoll sind, also als Bedeutungsträger im Rahmen von Interaktionsformen dienen. Andernfalls sind sie bedeutungslose Objektivationen, d. h. Zeichen ohne affektive Wärme. Diese können zudem als Ersatzsymbole bzw. Ersatzangebote (Schablonen) fungieren. Die durchgesetzten kulturellen Symbole bilden eine eigene Matrix der Verhaltens- und Beziehungsmöglichkeiten, wie von Hülst schreibt: „Kulturelle Symbole – die Arten, wie Menschen miteinander umgehen, sich begrüßen oder abwenden, aufeinander zugehen oder die Gesten des anderen abwarten – bilden unter der Voraussetzung, daß die Symboldeutungen bekannt sind und verstanden wurden, eine Matrix von Beziehungsmöglichkeiten.“ (Ebd.: S. 277)
Diese Matrix kann dann entweder symbolische Qualität auf der sinnlichen Ebene erlangen, indem Menschen in den Beziehungsmöglichkeiten eigene Lebensentwürfe entdecken und diese kommunizieren, oder aber sie versperrt den Zugang zu den Interaktionsformen. In Feldern, in denen der Zugang zu dieser Matrix erschwert ist, tendieren die Feldteilnehmer dazu, ihrer eigenen Lebenspraxis zu entfremden.
262 | Die Entfremdung des Subjekts
Dieser komplexe Sachverhalt lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: Wird in einem Feld eine bestimmte Begrüßungsgeste bzw. -praxis hegemonial, dann kann diese für die Feldteilnehmer symbolische Qualität annehmen. Sie symbolisiert dann eine Interaktionsform, in denen die Subjekte sich und andere verstehen können. Für manche, etwa neu hinzutretende, Feldteilnehmer könnte diese Praxis jedoch unverständlich bleiben; sie erscheint ihnen sinn-los und ohne affektive Wärme. So haben die fein differenzierten Begrüßungsgesten des Verbeugens in Japan für einen NichtJapaner eine gänzlich andere Symbolqualität. Aber selbst so nebensächlich erscheinende Verhaltensweisen wie die Begrüßung können als Ersatzsymbol (Schablone) dienen. Man denke hier nur an das präsentative Begrüßungssymbol des Hitlergrußes, verbunden mit dem sprachlichen Ersatzsymbol der Begrüßungsformel „Heil Hitler“, die mit dem wiederkehrenden klischeehaften Verhalten zu einem falschen Ich verschmelzen. Das Subjekt ist dem Feld daher doppelt ausgeliefert. Es entfremdet dadurch, dass es keine Anknüpfungspunkte an seine Subjektivität findet, und es muss seine symptomatischen Verhaltensweisen in der legitimen Sprache (und den legitimen Ersatzsymbolen) des Feldes rationalisieren. Dabei ist außerdem zu berücksichtigen, dass 1. die Symbolsysteme auf alle Feldteilnehmer unterschiedlich wirken und 2. die Symbole dieser Systeme ungleich zugänglich sind. 1. Nach Lorenzer hat eine Gemeinschaft (bzw. ein Feld) ein gemeinsames IchIdeal (eine Idee oder eine Person, die diese verkörpert), ein gemeinsames Symbolsystem und ein ähnliches Verhältnis von Ich zu Ich-Ideal, dieses geteilte Verhältnis schafft den sozialen Zusammenhalt. Gemeinschaft wird daher konstituiert durch: „1.
die Identität des Ich-Ideals,
2.
den Besitz eines emotional gleichlautenden Symbolsystems und
3.
die Übereinstimmung in der Haltung, in der Einnahme der Position des Ich dem IchIdeal gegenüber. Diese Zusammenhänge bilden die Grundlage der Gemeinschaftsbildung.“ (Lorenzer 1968: S. 81)
Symbolsysteme sind in Feldern jedoch komplexer, als von Lorenzer dargestellt. Es sind nicht alle Objektivationen für alle Menschen gleich verständlich, so können beispielsweise bestimmte Gegenstände in einem kulturellen Feld symbolische Qualität haben, in einem anderen Feld aber bedeutungslos sein. Und auch innerhalb eines Feldes wird um die Symbole gerungen. Im Feld können dementsprechend nur bestimmte Teilnehmer, mit homologen Sozialisationsverläufen, die symbolischen Begebenheiten verstehen, darin ihre Interaktionsformen reflektieren und dadurch subjektive Praxis erlangen. Für die anderen Feldteilnehmer erscheint die durchgesetzte symbolische Ordnung als Zeichenwelt. Besonders Neuankömmlinge im Feld erleben die Symbolwelt häufig als leer und unverständlich. Sie verstehen die Symbole nicht ausreichend beziehungsweise
Das entfremdete Subjekt im Feld | 263
können sie nicht mit der eigenen unbewussten Matrix besetzen. Wenig in dieser Welt (konkreter: im Feld) kann ihnen dann Selbstbewusstsein (als Kenntnis eigener Wünsche, Bedürfnisse und Triebstrukturen) vermitteln. Die hegemonialen Objektivationen im Feld erscheinen ihnen bedeutungslos. Als Folge dieser Welt, in der sich keine adäquate Erfahrung machen lässt, entfremdet das Subjekt. Was ihm bleibt, und das ist ein falscher Trost, ist das symptomatische Verhalten. Die Bedürfnisse kehren in verzerrter Form wieder und zu diesen falschen Wünschen rationalisiert sich der falsche Name. Dieser falsche Name (Ersatz-Sprachsymbol) findet sich im Bereich der im Feld erlaubten Sprache und hängt ab von der legitimen Sprache der Orthodoxen im Feld. 2. Aber nicht nur, dass bestimmte Symbolsysteme auf feldfremde Akteure keine affektive Wirkung haben, auch das Symbolsystem selbst ist in sich umkämpft. Während beispielsweise städtebauliche Architektur symbolisch wirken kann und vielen zur Verfügung steht, sind knappe Güter von symbolischer Qualität häufig durch private Besitzansprüche restringiert, man denke an Kunstwerke in Privatbesitz. Außerdem bieten die Felder jeweils eigene Schablonensysteme. Gerade in Feldern, in denen Konsum und Kulturindustrie eine starke Rolle spielen, werden Schablonen durch Werbung affektiv aufgeladen, indem Unbedeutendes mit Bedeutsamem verknüpft wird. Ersatzbefriedigungen und Schablone verschmelzen zu festen Strukturen im Feld. Symbol wie Ersatzsymbol können im Feld daher gleichermaßen Anerkennung versprechen und knapp sein. Denn über den Besitz knapper Kapitalsorten wird Anerkennung vermittelt. Diese Distinktionsbestrebung erklärt, warum Menschen nach bestimmten Statussymbolen streben, auch wenn das Symbol für sie nicht sinnvoll ist und keine Lebensentwürfe anspricht. Diese Distinktionsbestrebung macht deutlich, wie Symbole/Zeichen die sozialen Prozesse regulieren können. Bei beiden Autoren repräsentieren die Symbole außerdem eine verborgene Welt: bei Lorenzer die innere Affektwelt der Subjekte und bei Bourdieu die verborgenen Beziehungen bzw. Herrschaftsstrukturen. Lorenzer wie Bourdieu ist gemeinsam, dass sie die eigentlichen Strukturen der sozialen Welt als unsichtbar bewerten. Erst die objektive Welt der Symbole ermöglicht einen Hinweis auf die realen sozialen Verhältnisse. Bei Lorenzer dadurch, dass das Subjekt sich in ihnen reflektieren kann, und bei Bourdieu dadurch, dass einige Akteure, aufgrund ihrer Position im Feld, die Möglichkeit haben, diese symbolische Ordnung zu durchschauen. Die symbolische Macht in den Händen der Orthodoxen im Feld lässt sich als Macht verstehen, die das Ich-Ideal bestimmen kann. Mit dem Ich-Ideal verändert sich auch das Symbolsystem des Feldes. Werden einige Symbole in Bezug auf das Ich-Ideal (eine Person oder eine Idee) aus dem Feld ausgeschlossen, so wird eine Gruppe von Feldteilnehmern über weniger oder mehr Möglichkeiten der Symbolisierung verfügen. Daran entzündet sich die Frage, „ob und inwieweit Ideale und Symbole dem ursprünglichen (lebensgeschichtlich bedingten) Bedürfnis entspre-
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chen, also den einzelnen in seiner personalen Eigenart bestätigen, oder inwieweit sie ihn unter das Joch eines mehr oder minder aufgezwungenen, relativ Ich-fremden Systems beugen.“ (Ebd.: S. 81) Dieser Kampf um Symbolisierung bzw. die Produktion der symbolischen Ordnung ist aber nicht als bewusster Akt zu verstehen. Werden allerdings, von den Häretikern im Feld, gemeinsame Symbolisierungen entwickelt, dann können diese der Zeichenwelt, in der sie nicht aufgehoben sind, entgegengesetzt werden. In diesen Fall kann die ganze Symbol- und Zeichenordnung umgewälzt werden. Im Zuge dessen verändern sich immer auch die Perspektiven auf die realen Verhältnisse und die realen materiellen Ungleichheiten. Damit eröffnet sich der Horizont für reale Veränderungen. Die Unterscheidungen durch die symbolische Ordnung sind letzten Endes Distinktionen der sozialen Klassen (was liest jemand, welche Sportart betreibt er/sie oder welche Gesten verwendet er/sie). Daher ist der Kampf um Unterscheidung durch Symbole und Zeichen auch als Kampf um die beste Position im Feld theoretisierbar. Wie sehr die feldspezifischen Objektivationen/Vergegenständlichungen für die Feldteilnehmer symbolisch werden, zum Zeichen werden oder als Ersatzsymbol dienen, ist von der sozialen Herkunft (Sozialisation im Symbol-/Zeichen-System) abhängig. Im Sinne von Marx müssten die Felder Symbolangebote bereitstellen, in denen die Subjektivität aller Feldteilnehmer von diesen selbst reflektiert werden kann. Damit würden die Herrschaftsstrukturen im Feld offensichtlich und demokratisch verhandelbar werden. Das Symbolangebot des Feldes vermittelt Anerkennung und Distinktion, was soziale Prozesse reguliert. Das Subjekt befindet sich in diesen sozialen Prozessen im Feld zwischen Symbolisierung und Desymbolisierung bzw. zwischen Aneignung und Entfremdung. 3.3.3 Das Subjekt im Feld – Vergegenständlichung, Erfahrung, Reflexion und Entfremdung Die doppelte Bedeutung von Subjektivität als Besonderheit und als Selbstverfügung ist auch auf einer mikrosoziologischen Ebene elementar für die Betrachtung von Aneignung und Entfremdung in sozialen Feldern. Den normativen Rahmen dafür bildet die ethische Annahme, dass über die eigene Besonderheit vom Subjekt selbst verfügt werden soll. Selbstverfügung bzw. Autonomie wird aber erst über Reflexion möglich, wodurch reflexive Ressourcen zu einer Bedingung für Aneignung werden. Reflexion ist nötig, da die entäußerten und vergegenständlichten Wesenskräfte durch das Bewusstsein / die Narration verschleiert (Fetisch) sind und gleichzeitig durch das Bewusstsein entschleiert (soziologisch ausgedrückt) und dechiffriert (psychoanalytisch ausgedrückt) werden könnten. In den vorangegangenen Abschnitten wurden die Sozialisation des Habitus und seine Symbol- und Zeichenwelt
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beschrieben. In diesem Abschnitt betrachte ich den Habitus und die Subjektivität auf einer Mikroebene im Spannungsfeld von Vergegenständlichung, Erfahrung, Reflexion, Aneignung und Entfremdung. Die erste Voraussetzung von Aneignung oder Entfremdung ist Vergegenständlichung. Denn, wie Michael Quante in Bezug auf Marx formuliert: „menschliches Handeln resultiert dem Vergegenständlichungsmodell zufolge in materiellen Objekten (bzw. Tatsachen). Diese haben ein vom Handelnden unabhängiges Bestehen, sind ontologisch unabhängig und können daher dem Produzenten gegenüber Macht entfalten.“ (Quante 2009: S. 260) Daraus folgt, dass der Mensch Tatsachen (Verhältnisse) und Objekte schafft, die er sich danach wieder aneignen muss, um seine Gattungskräfte (Subjektivität) entfalten zu können. Aneignung ist aber nicht als materielles Besitzen zu verstehen, sondern als Anverwandlung, Vertrautmachen und Durchdringen des Objekts. Erst wenn sich das Subjekt die Objekte (und die Verhältnisse) zu eigen macht, nehmen sie für es eine symbolische Qualität an, da sie Inneres und Äußeres verbinden.25 Kollektive und individuelle Vergegenständlichungen können dann dementsprechend auf symbolischer Ebene angeeignet werden (vgl. 3.3.2). Der Mensch kann sich die Objektivationen menschlicher Praxis als individuelle Bedeutungsträger aneignen, er muss dafür seine Veräußerungen sinnvoll in den Symbolen reflektieren. In einer gelungenen Praxis werden Dinge, Wörter und Verhältnisse (Beziehungen) symbolisiert, wodurch das Subjekt sich in ihnen spiegeln kann. So wird die Subjektivität richtig erkannt und, in einem weiteren Schritt, kommunizierbar und realisierbar. Gelingt diese Aneignung, dann lässt sich eine Narration entwerfen, die die eigenen Lebensentwürfe (Interaktionsformen) in die Identität miteinschließt. Bereits das Kind wandelt mit seinen Interaktionsformen die eigene Natur so um, dass es als Subjekt mit den Objekten der äußeren Natur in Beziehung treten kann. Diese Interaktionsform (seine Welt- und Selbstbeziehung) symbolisiert es dann, um sich die reale Welt und damit sein Selbst anzueignen. Es vergegenständlicht seine Bedürfnisse/Interaktionsengramme materiell und symbolisiert sie im psychischen Apparat. Bezugspersonen (aber auch Gegenstände des Feldes) und das Kind produzieren so, durch ihre Interaktionen, die besondere Subjektivität. Diese bleibt dem Kind in seiner weiteren Entwicklung aber möglicherweise dann verborgen, wenn es sich nicht mehr in den Objekten und Tatsachen richtig spiegeln kann, zum Beispiel durch eine Zerstörung der Symbole (Desymbolisierung). 25 So meint Anverwandeln (philosophisch), Vertrautmachen (soziologisch) und Durchdringen (psychoanalytisch) auf verschiedenen Ebenen einen ähnlichen Vorgang. Nämlich die tätige Verbindung von Eigenem und Fremdem, wodurch ein Objekt zum Bedeutungsträger wird.
266 | Die Entfremdung des Subjekts
Die Objekte und Wörter mit symbolischer Qualität verknüpfen die Innen- mit der Außenwelt und ermöglichen so Probehandlungen, die das Subjekt und sein Objekt wieder in ein passendes Verhältnis setzen. So wird erst durch die Symbolisierung der Vergegenständlichungen ein Zugang zu den Interaktionsformen geschaffen. Und erst wenn die subjektiven Besonderheiten auf die passenden Objekte treffen, können sich Interaktionsformen realisieren. Versagt diese Aneignung, dann bleibt das Subjekt den selbstgeschaffenen Tatsachen und Objekten entfremdet – es steht dann einer fremden Welt gegenüber, in der es sich nicht aufgehoben fühlt, die sogar Macht gegenüber seinen Produzenten entfalten kann. Entfremdung ist daher die Störung im Prozess der Veräußerung26 oder Aneignung eigener Subjektivität. Für die Aneignung der Vergegenständlichung auf der symbolischen Ebene sind zwei Erkenntniskategorien ausschlaggebend: Erfahrung und Reflexion. Während sich Erfahrung auf der sinnlich-symbolischen Ebene abspielt (Gesten, Tanz, Bilder, Kunst etc.), liegt Reflexion auf der Ebene des Bewusstseins, der sprachsymbolischen Interaktionsformen. Erfahrungen sind mit Irritationen verbunden, mit Unstimmigkeiten zwischen manifestem und latentem Sinn von Kulturgegenständen (im weitesten Sinn). Die Irritationen verstehe ich als Voraussetzung für Erfahrungen. Aus den emotional-affektiven Widersprüchen können so neue sinnlichsymbolische Strukturen im Subjekt entstehen und sie können als vorbewusste Stufe des Ichs neue Reflexionsressourcen auf der sprachsymbolischen Ebene anstoßen. Erfahrung spielt sich im Bereich des Unbewussten und Vorbewussten ab. Reflexion hingegen ist das bewusste Wiedererkennen eigener Subjektivität. Bewusst ist die Reflexion, da sie auf der sprachsymbolischen Ebene stattfindet, denn erst Sprache ermöglicht reflektiertes Denken. Das Sprachsymbol rekonstruiert daher das Verhältnis von Subjekt und Objekt. Diese Sprachvermittlung bildet die Voraussetzung für die Aneignung und die Kommunikation der eigenen Wünsche und Bedürfnisse: „Vor allem aber erlaubt die Verbindung von Sprachfiguren und Interaktionsformen den Blick nach innen, ermöglicht, daß Selbstreflexion sich der eigenen Praxis versichern und Rechenschaft über das eigene Tun geben kann.“ (Lorenzer 2002: S. 182) Diese Sprachsymbolisierung der Interaktionsformen vermittelt dem Subjekt narrativ seinen Bezug zur Welt und zu sich, wodurch das Gefühl des Fremdsein schwindet. Die gelungene Symbolisierung der eigenen Interaktionsformen ermöglicht daher eine angemessene Beziehung zu sich selbst und zur Welt, wie auch Rahel Jaeggi in Bezug auf die vier Entfremdungskategorien bei Marx beschreibt:
26 Eine Störung im Prozess der Veräußerung führt häufig zu starken psychischen Störungen, wie im Falle des Hospitalismus-Syndroms, wo es bereits im Prozess der Bildung von Interaktionsformen zu Widersprüchen kommt.
Das entfremdete Subjekt im Feld | 267
„Entfremdung liest sich so als die Störung eines Verhältnisses, das man zu sich und zur Welt (sei es die soziale oder die natürliche Welt) hat oder haben sollte. Umgekehrt ist nichtentfremdete Arbeit als eine bestimmte Form produktiver Weltaneignung die Voraussetzung dafür, ein angemessenes Verhältnis zu sich, zur gegenständlichen Welt und zu den anderen entwickeln zu können.“ (Jaeggi 2005: S. 29)
Nichtentfremdete Arbeit ermöglicht dementsprechend ein angemessenes Selbstund Weltverhältnis und damit die freie Entfaltung des Subjekts und ein angemessenes Verhältnis zu anderen. Der Habitus wäre dann in seinen Wahrnehmungs-, Denk- und Praxisdispositionen so vergesellschaftet, dass er annäherungsweise mit der Subjektivität identisch wäre. Die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte (Narration, vgl. 2.2.4) stünde dann im Einklang mit den einsozialisierten Praxisentwürfen. Diese Identität erst macht dem Subjekt die Aneignung des eigenen Körpers, in all seiner Sinnlichkeit, wieder zugänglich – wie auch Marx schreibt: „[D]ie sinnliche Aneignung des menschlichen Wesens und Lebens, des gegenständlichen Menschen, der menschlichen Werke für und durch den Menschen, nicht nur im Sinne des unmittelbaren, einseitigen Genusses zu fassen, nicht nur im Sinne des Besitzens, im Sinne des Habens. Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben.“ (Marx 2009[1932]: S. 121)
Aneignung ist daher Selbstaneignung. Sie setzt voraus, dass etwas Eigenes zunächst veräußert wurde. Denn die Vergegenständlichung ist ja eine der eigenen subjektiven Anlagen gewesen. Das Subjekt lenkt die Besetzungsenergie auf das Objekt, um sich dieses wiederanzueignen. Gelingt diese Aneignung, so ist der Mensch Subjekt in realisierter Beziehung zu seinem Objekt. Das Subjekt kann so durch das Verstehen der eigenen Wünsche und Begehren (Interaktionsformen) diese mit anderen verhandeln. Erst dadurch werden Kommunikation und somit ein demokratischer Austausch tiefergehend möglich. Der Mensch steht in jeder Epoche vor der Aufgabe, sich seine Objekte bewusst (reflektiert) wieder anzueignen. Jeder Mensch veräußert seine Anlagen an das Feld und seine spezifischen zeitgeschichtlichen Besonderheiten und daher kann die Rückaneignung auch immer nur dem Stand der Geschichte entsprechen. Der Mensch muss folglich immer durch die spezifische Entfremdungssituation hindurch, um sich seine Subjektivität selber wieder anzueignen, wie es auch Michael Quante in Bezug auf Marx und Hegel ausdrückt:
268 | Die Entfremdung des Subjekts
„Die in der Vergegenständlichung sich ereignende Entfremdung ist der notwendige Zwischenschritt, um in einem dritten Schritt – Hegels Negation der Negation […] – eine bewußte Aneignung des Gattungswesens zu ermöglichen. Mit anderen, fast Hegelschen Worten: Nicht der unmittelbare Ausgangszustand, sondern erst die aufgehobene Entfremdung, also die durch die Entzweiung hindurchgegangene Aufhebung der Entfremdung ist die Verwirklichung des Gattungswesens Mensch.“ (Quante 2009: S. 258)
Das Subjekt muss so seine eigenen Interaktionsformen in den Feldern resymbolisieren, d. h. bewusstmachen, um sich seine Interaktionsformen wiederaneignen zu können (vgl. 3.3.2). Mit der Aneignung der eigenen Interaktionsformen erlangt das Subjekt die Möglichkeit der Realisierung seiner Wesenskräfte und damit seiner Fähigkeiten und Bedürfnisse. Aber nicht nur, dass das Subjekt sich den objektiven Strukturen (dem Feld) entfremden kann, wenn es sich seine Interaktionsformen nicht aneignet, es kann auch zur Verkehrung von Subjekt und Objekt kommen. Wenn das Subjekt seine Interaktionsformen, sein Begehren, nicht realisieren oder sublimieren kann, dann kehren diese als Klischee zurück. Dieses kann zu einem symptomatische Verhalten führen, wenn das Klischee mit präsentativen und diskursiven Ersatzsymbolen zu einem falschen Ich verschmolzen wird. Die (falsche) Praxis des Subjekts wird dann zum Instrument der Objekte, die sich verwirklichen. So dienen die Handlungen des Subjekts dann bestimmten Feldstrukturen zur Reproduktion. Das Subjekt seinerseits ist dann nicht mehr Zweck der Praxis, sondern nur noch Mittel. Die Entfremdung wird so auf Dauer gestellt, in der Subjekt-Objekt-Verkehrung. Es lässt sich zusammenfassen: 1.
2.
3.
4. 5.
Vergegenständlichung ist eine conditio humana. Durch die Bildung von Interaktionsformen veräußert der Mensch Anteile des Selbst, die er sich über Symbole wieder aneignet. Auf der sinnlich-symbolischen Ebene kommt es zu Irritationen, die sich zu Erfahrungen verdichten. Diese bilden häufig den Ausgangspunkt für sprach-symbolische Reflexionen. Erst die Reflexion der Selbst- und Weltverhältnisse ermöglicht Autonomie. Diese ist die Voraussetzung der Realisierung von Interaktionsformen wie von Kommunikation über die Interaktionsformen, wodurch erst Enttabuisierung wie auch Selbstbegrenzung und Sublimation aushandelbar werden. Besondere Subjektivität kann sich nur entfalten, wenn das Subjekt sich seine Interaktionsformen in den Objektivierungen des Feldes aneignet. Die Interaktionsform vermittelt Subjekt- und Objektrepräsentanz. Wird diese symbolisiert, dann kann sie verstanden und reflektiert werden.
Das entfremdete Subjekt im Feld | 269
6.
7.
Um Entfremdung zu mindern, müssen Habitus und Subjektivität sich annähern. Die Denk-, Wahrnehmungs- und Praxisdispositionen müssen der Subjektivität annährungsweise entsprechen. Entfremdung verfestigt sich in der Subjekt-Objekt-Verkehrung.
3.3.4 Das Unbehagen der Felder Das Unbehagen in der Kultur, das Freud beschreibt, kann mit den entwickelten Ergebnissen um eine Note erweitert werden. Denn es ist nicht die gesamte Kultur, die auf den Menschen lastet. Sondern es sind diffizil verzweigte soziokulturelle Felder, die je eigen auf differente Habitus mit ihren Subjektivitäten treffen und ein ganz individuelles Unbehagen auslösen. Jedes Feld verfügt über ein eigenes Symbolsystem, bestehend aus präsentativen Symbolen und Sprachsymbolen. Dieses Symbolsystem des Feldes kann für ein bestimmtes Subjekt passend sein, sodass es sich in den Objekten und Verhältnissen richtig spiegeln, sie verstehen und sich aneignen kann. Es gibt allerdings auch Subjekte, die in einem Symbolsystem keine Anknüpfungspunkte finden, wenn das Symbolsystem nicht der subjektiven Struktur entspricht. In diesem Fall erscheinen die feldspezifischen Symbole dem Subjekt als bloße affektlose Zeichen, zu denen es nicht in Beziehung zu treten vermag. Die subjektive Struktur kann sich so nicht in der objektiven Struktur aufheben.27 Dadurch bleiben die eigenen Interaktionsformen unverstanden bzw. werden womöglich beim Eintritt in das Feld desymbolisiert. Das Subjekt verliert so sein Aneignungspotential und das Feld bleibt ihm fremd und unverstanden – das Subjekt entfremdet. Es wird dazu genötigt, falls möglich, das Feld zu verlassen. In der Realität erscheint ein solcher Fall nur in Mischformen. Hinzu kommt, dass das Subjekt in der Lage ist, andere Symbolsysteme zu erfahren und zu reflektieren, um sie sich anzueignen. Ist das Subjekt im Feld erwachsen geworden, so ist davon auszugehen, dass es sich (Selbstbeziehung) und die Objekte (Weltbeziehung) darin versteht, sie reflektieren und sich aneignen kann. Der Habitus hat dann einen praktischen Sinn verinnerlicht. Ein Subjekt hingegen, das sich von außen in das Feld begibt, wird wahrscheinlich mit Strukturen konfrontiert, die ihm zunächst fremd sind, wobei es sich nach und nach in das Symbolsystem des Feldes integrieren kann. Jedoch sind dieser Flexibilität Grenzen gesetzt, denn nicht alle Lebensentwürfe werden in jedem Feld 27 Auch hier lässt sich wieder das Beispiel der japanischen Begrüßungsrituale vorbringen. Kommt man als Neuling in ein japanisches Feld mit all seinen Symbolen, so wird man sicherlich Gemeinsamkeiten mit den eigenen Feldern finden, man wird aber auch etliche Symbole nicht verstehen, wie die Verbeugungspraxen, vielleicht wird man die feinen Differenzen nicht einmal bemerken.
270 | Die Entfremdung des Subjekts
angeboten. Bleibt das Symbolsystem unpassend und bleiben die verborgenen Praxisentwürfe bloß unpraktischer Sinn, unpraktische Sinnlichkeit, dann führt dies zu einem Unbehagen in dem betreffenden Feld. Die Orthodoxen im Feld (die das Ich-Ideal verkörpern) entscheiden darüber, welches Symbolsystem hegemonial ist, und damit auch, für wen das Feld eine Ansammlung von Zeichen darstellt und für wen es symbolische Qualitäten annimmt. Das emanzipatorische Potential ist im Feld daher ungleich verteilt: Nur wer im Feld genügend Symbolisierungen zu entwickeln vermag, kann in der Verbindung von Bewusstsein und Körperengrammen über sich selbst verfügen, sich frei selbst begrenzen (sublimieren) und autonom handeln. Aber in jedem Feld bildet das unbewusst Gebliebene ein Reservoir an Widerstandsimpulsen, die ins Bewusstsein drängen. So ist der Kampf zwischen Orthodoxen und Häretikern im Feld stets auch ein Kampf um Aneignung und damit letztlich um das Objekt. Zunächst waren es die Orthodoxen, die ich zu den Hütern über die Symbole und Zeichen erklärt habe. Doch streng genommen ist es das ökonomische Primat, das als Prinzip der Anerkennung über den Kampf von „Herr und Knecht“ um die Symbole des Feldes herrscht. Somit wird die Lebenspraxis im Feld, genauer besehen, nicht in direkter Weise durch die Orthodoxen bestimmt (diese haben lediglich eine hegemoniale Position inne), sondern vielmehr nach ökonomischen Prinzipien in dem Sinne strukturiert, dass die Knappheit der Güter über deren Wert und somit das Maß der über sie vermittelten Anerkennung entscheidet. Dies erklärt den Umstand, dass die Orthodoxen im Feld nicht notwendigerweise am wenigsten entfremdet sind. Denn Anerkennung im Feld wird auch über Defekte, über Klischees, vermittelt. Bestimmte Felder setzen eine falsche Aneignung geradezu voraus. So ist in manchen Feldern symptomatisches Verhalten, wie z. B. fehlendes Mitgefühl, Arbeitssucht oder Gewalt, entscheidend für Anerkennung und, damit verbunden, eine gute Position im sozialen Feld. Die Orthodoxen (und auch die Häretiker) geraten so zu Charaktermasken. Denn sie werden durch die Verhältnisse dazu genötigt, bestimmte Habitus einzunehmen – unabhängig davon, ob diese Befriedigung oder Entfremdung, Befreiung oder Versklavung bedeuten. So kann es zu der Situation kommen, dass ein Habitusträger aufgrund seines klischeebestimmten Verhaltens, welches sich in Aggression, in Gefühlskälte oder Wahn äußern mag, eine außerordentliche gute Position im Feld einnimmt. Die Dynamik des Feldes ist Ergebnis der Dialektik zwischen Orthodoxen und Häretikern im Feld. Innerhalb dieser Dynamik besteht immer die Möglichkeit, dass die Aneignung von Symbolen nicht nur das Verhältnis von Herr und Knecht, sondern auch das ökonomische Prinzip im Feld umwälzt. Gerade aber eine Umwälzung des ökonomischen Prinzips könnte Felder eröffnen, in denen die besondere Subjektivität realisiert werden kann und Selbstverfügung zu einer kollektiven Organisation des Feldes führt, als gemeinsame Produktion sinnnaher Praxisstrukturen.
Das entfremdete Subjekt im Feld | 271
Der starre Gegensatz zwischen Kultur und Trieb muss unter Berücksichtigung der dargestellten Befunde anders bewertet werden. Es ist nicht die gesamte Kultur, die auf den Subjekten lastet. Vielmehr sind es bestimmte Felder, in denen sich jeweils spezifische Formen des Unbehagens ausprägen können. Die Sozialisation bedingt individuelle Lusterfahrungen, die in unterschiedlichen Feldern auf gänzlich verschiedene Strukturen treffen können. Daher verursachen die Felder ein individuelles Unbehagen. Warum Menschen sich trotzdem auf Felder begeben, die ihren subjektiven Wünschen widersprechen und sie daher entfremden, liegt im Bann der Doxa begründet. 3.3.5 Im Bann der Doxa Der Fetisch (Marx, vgl. 1.2.3) bzw. der Bann (Adorno, vgl. 1.2.8)28 bezeichnen einen einzigen Sachverhalt: die Verkennung der gegebenen menschengemachten Strukturen als naturhafte Tatsachen. Das verdinglichte Bewusstsein verkennt die eigenen Denk-, Wahrnehmungs- und Praxismuster (Habitus) dementsprechend als unveränderliche Natur. Das tut es, weil das Feld dem Habitus die Strukturen als seine Strukturen spiegelt, unabhängig davon, ob das Subjekt sich darin wiederfindet oder nicht. Dadurch verschmelzen das Subjekt und die objektiven Strukturen so zusammen, dass der Habitus auf dem Feld kohärent ist (praktischer Sinn). Dabei bleibt aber eine nichtidentische Subjektivität im Habitus unberührt (unpraktischer Sinn). Der Fetisch/Bann verhindert die Erfahrung dieser Nichtidentität dauerhaft und konstituiert dadurch Ideologie.29 Dass dieser Bann nicht durchbrochen wird, liegt an der Doxa der Felder. Die Doxa prägt das Bewusstsein (durch die Spiegelung der Felder auf den Habitus) und legt damit die Grenzen der Sinnlichkeit fest. Mit Doxa meint Bourdieu, dass die Grenzen und Regeln des Feldes als selbstverständlich unreflektiert bleiben, womit er exakt den Fetisch bzw. Bann auf der objektiven Ebene darstellt: „Eine der wesentlichen und primären Auswirkungen der Entsprechung realer Teilung und praktischer Teilungsprinzipien, sozialer und mentaler Strukturen beruht zweifellos in der Durchsetzung der Doxa: Der Verhaftung an Ordnungsbeziehungen, die, weil gleichermaßen 28 Bei Adorno ist der Bann universeller als der Fetisch gedacht. Die Fetischtheorie wird von Marx eng an der Warenproduktion entwickelt, wobei aber Fetische in jeder Lebenstätigkeit entstehen. Daher wird hier der Begriff Bann bevorzugt, auch wenn grundsätzlich der gleiche Sachverhalt gemeint ist. 29 Der Stachel der Nichtidentität im Habitus macht sich gemeinhin als Irritation bemerkbar. Diese kann im Bann/Fetisch jedoch nicht mehr wirksam werden, da sie mit den ästhetischen oder sprachlichen Schablonen falsch versöhnt wurde.
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reale wie gedachte Welt begründen, als selbstverständlich und fraglos hingenommen werden.“ (Bourdieu 2003: S. 734–735)
Die doxische Einrichtung der Felder wirkt stärker als der bloße Glaube, da dieser den Zweifel prinzipiell zulässt, sogar als Gegenspieler voraussetzt. Die Doxa trennt daher Mögliches und Unmögliches und damit auch grundsätzlich Denkbares von Undenkbarem, sie grenzt so bewusste von unbewussten Inhalten ab. Während die Norm zu übertreten noch denkbar ist und als heimliche Leidenschaft auch symbolisierbar, ist die Doxa unhintergehbar; sie beinhaltet das Gebot wie das Verbot. Bei der Doxa sind die Grenzen daher so unreflektiert, dass sich mögliche Symbole jenseits des praktischen und sprachlichen Diskurses befinden, womit sie für die Feldteilnehmer inexistent sind. Bourdieu geht es bei der Doxa daher vor allem „um das gesellschaftlich Ausgeblendete und [in einem zweiten Schritt, J. W.] dessen wissenschaftliche Reflexion.“ (King 2014: S. 25) Diese Grenzen der Doxa sind gleichzeitig auch die Grenzen des Habitus. Denn die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen sind durch die Doxa gespiegelt, sie bilden das Narrativ der Identität. Diese Selbstverständlichkeit der sozialen Ordnung ist nur durch das Para-doxon erschütterbar, also durch offensichtlich werdende Feld-Habitus-Widersprüche. Diese treten meist dann auf, wenn eines von beiden sich verändert. Das Paradoxon bezeichnet bewusst gewordene Widersprüche, während Irritationen sich aus den Widersprüchen von Bewusstem und Unbewusstem ergeben. Doxa ist der Begriff, um die objektive Seite des Feldes zu kennzeichnen. Auf der Seite des Habitus verwendet Bourdieu die Begriffe Interesse, Illusio und soziale Libido. Illusio bezeichnet den selbstverständlichen Glauben an das soziale Spiel im Feld, der einem Fremden als Illusion erscheinen muss (vgl. Bourdieu 1998b: 143), während soziale Libido die Lust am Spiel bezeichnet, durchaus im psychoanalytischen Sinne. Der optimal angepasste Habitus zeigt sich daher in der Illusio (dem Glauben) und einer sozialen Libido, der Lust am Spiel. Illusio ist aus kritischer Perspektive die Doxa und aus positiver Perspektive der praktische Sinn. (vgl. Saalmann 2003: S. 42) Wie aber funktioniert die Doxa genau, die es schafft, ihre Grenzen als Grenzen des Habitus und der Identität zu vermitteln? Mit Lorenzer lässt sich die Doxa beschreiben: Das soziale Feld bedient sich präsentativer und diskursiver Symbole und Zeichen. Es konstruiert so ein Symbol- und Zeichenangebot und schließt gleichzeitig andere Symbole aus (vgl. 3.3.4). Daher werden Gesten, Verhaltensweisen, Bilder genauso wie bestimmte Sprachsymbole ausgespart – im Gegensatz zum Glauben, wo das Gegenteil des Glaubens immer auch symbolisch verfügbar ist. Mit der Doxa übernimmt dann auch der Habitus bestimmte Symbol- und Zeichenwelten und schließt andere Symbole und Zeichen aus. Auch Adorno kritisiert, dass das begriffliche Denken (Bewusstsein) das Nichtbegriffliche (Sinnlich-Symbolische) beständig bedroht. So werden innere leibliche
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Erkenntnismodi durch die falschen erlaubten Begriffe (innerhalb der Doxa) falsch identifiziert. Jedes Feld bietet daher für die individuellen Interaktionsformen andere feldspezifische Begriffe, die jedoch unpassend sein können. Bei jeder philosophischen Analyse, die zwangsläufig begrifflich arbeitet, soll daher das Nichtbegriffliche/Nichtidentische mitgedacht werden: „Philosophische Reflexion versichert sich des Nichtbegrifflichen im Begriff.“ (Adorno 2000[1966]: S. 23) Der Eintritt in das Feld ist daher immer mit der Annahme bzw. Übernahme bestimmter doxischer Grenzen verbunden. Jeder Feldteilnehmer muss die Doxa annehmen und ist so mit unterschiedlichen Konflikten (und Desymbolisierungen) auf dem Feld konfrontiert. Die Doxa des Feldes spiegelt den Habitusträgern ihre Struktur. Daher kann es auch kein gesellschaftliches bzw. feldspezifisches Unbewusstsein geben, sondern nur lebensgeschichtlich-spezifische Inhalte der Verdrängung (vgl. 2.2.4). Auch wenn diese Inhalte sich ähneln können, sind sie doch nicht bei jedem Feldteilnehmer die gleichen. Innerhalb der Doxa sind bestimmte Lebensentwürfe tabu, diese werden daher weder auf der sinnlich-unmittelbaren noch auf der sprachsymbolischen Ebene zugelassen. So können beispielsweise bestimmte familiär entwickelte Interaktionsformen innerhalb des schulischen Feldes keinen symbolischen Ausdruck mehr finden, was eine Desymbolisierung zur Folge hat. Subjektivität wird so durch die Doxa des Feldes punktuell verhindert. Die Illusio der Feldteilnehmer sorgt dafür, dass einsozialisierte Interaktionsformen verdrängt werden, um am Spiel teilnehmen zu können. Die Illusio und die soziale Libido bezeichnen daher den Anteil des Habitus, der die feldspezifischen Handlungsanweisungen (Interaktionsnotwendigkeiten) in objektive persönliche Wünsche transformiert, auch jenseits der inneren subjektiven Triebmatrix. Das Verdrängte der subjektiven Triebmatrix kehrt jedoch in verzerrten Impulsen (oft als ihr Gegenteil, wie in der Charakterbildung) zurück und schlägt sich in Neurosen oder Depressionen nieder. Diese falschen Bedürfnisse können dann vom Feld, in dem sie erzeugt worden sind, oder von einem anderen Feld, instrumentalisiert werden. Das Feld bietet präsentative oder diskursive Schablonen an. Das falsche Bedürfnis und das falsches Bewusstsein verklammern sich so zu einem falschen Ich im Sinne der Doxa bis hin zur Identifikation mit einer Idee, eines Führers oder einer Weltanschauung, es führt vom Fetisch/Bann zur Ideologie. So werden die Affekte über ihren Konsistenzzwang wieder in die Sprache des Feldes eingegliedert. Das Klischee wird so wieder in die herrschende Sprache (und damit in das Denken und Handeln) funktional integriert. (Vgl. Lorenzer 1981: S. 112) Die Doxa bietet auf der ästhetischen wie auf der sprachlichen Ebene erlaubte Schablonierungen/Rationalisierungen für Klischees an. So kann sie gewährleisten, dass die psychischen Beschädigungen in ihren Dienst gestellt werden. Die Doxa kann so die notwendigen Interaktionen, die Organisation der Lebenspraxen herstellen und gleichzeitig das notwendige Alltagsbewusstsein bereitstellen. Sie wirkt da-
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her ganz im Sinne des Banns/Fetischs. Die menschengemachten Strukturen wirken auf die Menschen zurück und erscheinen dabei als dinglich, sie scheinen keine Geschichte zu haben und werden somit fälschlicherweise als unveränderlich wahrgenommen. Diese falsche Rückwirkung bildet die Narration und damit die Identität. 30 Innerhalb der Felder kommt das symbolvermittelte wie das symptomatische Handeln vor. Je nachdem wie die Interaktionsformen gebildet wurden, ob es schon früh zu Beschädigungen kam oder ob beim Eintritt in das Feld bereits eine starke Ich-Struktur vorhanden war, können sich die beiden Handlungstypen unterschiedlich ausprägen. Die Doxa umfasst die sichtbare hegemoniale und die sichtbare unterlegene Sprache im Feld, sie bildet so die Grenze des sag- und handelbaren. Bestimmte Interaktionsformen fallen daher aus der Doxa heraus, da sie nicht bewusst bzw. versprachlicht werden können; „Die Regeln der Sprache bestimmen […] die Regeln des Denkens und Handelns“ (Lorenzer 2002: S. 116) des Habitus. Aus diesem Denken und Handeln fallen dann reflexive Ressourcen (Nachdenken) und bestimmte subjektive Praxen heraus. Ein Merkmal der Doxa ist, dass die Grenzen in der Regel nicht sprachlich formuliert werden, da sie sonst in Frage gestellt werden könnten. Sprachsymbolische Interaktionsformen, die ja offen für Irritationen sind, müssten daher genau dort, an den unsichtbaren Selbstverständlichkeiten der Doxa, ansetzen. Die Sprache im Feld ist daher zum einen Ausdruck der Doxa und zum anderen elementar für bewusste Praxis, wie Lorenzer es auf den Punkt bringt: „Sprache bringt das Erleben auf den Begriff und macht es verfügbar für die kardinale menschliche Funktion symbolvermittelten Handelns.“ (Lorenzer 1973: S. 164) Sprache kann so die Funktion erfüllen, die auch Quante in Bezug auf Marx feststellt: „Der Mensch ist aufgrund seiner kognitiven Fähigkeiten in der Lage, sich sein eigenes Wesen wie auch das aller anderen Dinge qua Begriffe zur Kenntnis zu bringen.“ (Quante 2009: S. 265) Die Erkenntnis der Doxa qua Begriffe eröffnet so die Möglichkeit von „fruchtbaren Irritationen.“ (Lorenzer 1981: S. 130) Diese Irritationen, die zur der Para-doxie des Feldes führen können, ließen sich dann zu einem kollektiven Problembewusstsein verdichten und die herrschende Doxa überschreiten. Irritationen werden der Doxa immer dann gefährlich, wenn Feld oder Habitus Veränderungen durchmachen. Wenn sich das Feld ändert, wenn zum Beispiel im schulischen Feld ein neuer, dem ökonomischen Feld angepasster, Lehrplan entwi30 Ein Beispiel ist hier die soziale Geschlechtskonstruktion. Die westliche Einteilung der Welt in die Kategorien Mann und Frau wirkt auf die Menschen zurück. Diese begreifen sich dann selber in ihrer Identität als Mann und Frau. Im Bann dieser Struktur verschwinden dann zunehmend die Zwischentöne. Transsexualität, Homosexualität etc. können so aus der Doxa fallen. Geschlechtlichkeit wird zum Fetisch.
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ckelt wird oder, im Gegenteil, Eltern mehr musische Freiheiten einfordern, dann ändert sich gleichzeitig das Symbolangebot des Schulfeldes. So können Rationalisierungen plötzlich brüchig werden, aber auch (Sprach-)Symbole könnten verschwinden. Anderseits kann sich auch der Habitus ändern, wenn Kinder in anderen Feldern (zum Beispiel in Theaterkursen usw.) neue Verhaltensweisen erfahren und diese in die Schule mitnehmen. Im radikalsten Fall kann sich die komplette Symbol-/Zeichenlandschaft eines Feldes auflösen, dies kann in künstlerischer Absicht durchaus gewollt sein, wie Lorenzer beschreibt: Unter „Umständen kann eine Reorganisation nur durch die Zerschlagung der verkrusteten Zeichensysteme gelingen, […] also auf der Organisationsebene der präsentativen Symbole“ Lorenzer beschreibt einen „schöpferischen Akt der Symbolzertrümmerung, das heißt der Sprengung eines bisher gültigen geschlossenen Zeichensystems, die sich in einem umschriebenen schöpferischen Augenblick abspielt, und zwar auf der Ebene der Primärorganisation.“ (Lorenzer 1970: S. 84–85)
Mit dieser Sprengung des doxischen Symbol-/Zeichensystems, kann sich auch das Kräfteverhältnis im Feld nachhaltig verändern. Inwieweit die Doxa die Sinnebene der Triebmatrix erlaubt oder tabuisiert, ist eine Frage der historischen Entwicklung des Feldes und damit der vergangenen Kämpfe zwischen Orthodoxen und Häretikern im Feld (vgl. 3.3.4). Am Schulbeispiel beschreiben Lorenzer und Görlich, dass diejenigen Schüler mit dem eher symptomzentrierten Verhalten oft bessere Chancen als diejenigen mit den symbolvermittelnden Verhalten haben. (Vgl. Görlich/Lorenzer 2013) Da die Schule maßgeblich an der gesellschaftlichen Reproduktionsarbeit beteiligt ist (Disziplinierung, Arbeitseifer, Autoritätshörigkeit usw.), spielt die ökonomische Komponente hier eine entscheidende Rolle. Die Doxa im Schulfeld steht daher im Verdacht, besonders durch ökonomische Interessen geprägt zu sein. Es lässt sich zusammenfassen: Die Doxa eines Feldes verschleiert den Prozess ihrer eigenen Entstehungsgeschichte, diese erscheint den Feldteilnehmern als natürliches und geschichtsloses „Ding“ (Verdinglichung). Diese Verdinglichung des Prozesses wirkt zurück auf die Habitusträger, die sich darin falsch erkennen und eine falsche Selbsterzählung zum Narrativ ihrer Identität machen. Der Habitus als Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmatrix erlaubt aber oft nur eine nichtzutreffende Narration. Die Vergegenständlichungen der Subjekte können daher nur defizitär angeeignet werden, woraus der Fetisch/Bann seine Macht zieht. Der Bann wird in den ästhetischen und gedanklichen (sprachlichen) Schablonen zur Ideologie verfestigt. Der Bann der Doxa verhindert damit die Aneignung der eigenen subjektiven Sinne. Die Doxa kann sich nur transformieren oder gar komplett zusammenbrechen, wenn Habitus oder Feld sich ändern und so an den Konfliktlinien Irritatio-
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nen entfalten, die zu Para-doxa werden. Die Doxa in den jeweiligen Feldern verhindert tendenziell die Erfahrung der Entfremdung. Nur in den Momenten der Paradoxa, wenn Symbole und Zeichensysteme brüchig werden, sind Entfremdungserfahrungen und schließlich die Überwindung der Entfremdung möglich. 3.3.6 Von der Irritation zur Transformation In diesem Abschnitt beschreibe ich verschiedene Aspekte der Irritation und Transformation von Habitus und Feld. Zunächst wird das allgemeine Verhältnis von Irritation, Habitus und Identität dargelegt. Daran anschließend geht es um die Frage, wie diese irritierenden Momente zu kollektiven Praxen führen können. Abschließend analysiere ich mit Adorno, wie sich die Irritation zu Kulturindustrie und Kunst verhält. Der irritierte Habitus – brüchige Identität Es dürfte klargeworden sein, wie sich Lorenzer die Wiederherstellung gelungener Praxis vorstellt: „Desymbolisierung ist punktueller Verlust von Subjektivität, Resymbolisierung wiederum ist deren Wiederherstellung. Sie ist punktuelle Bildung von Subjektivität. Bewußtmachung, als Resymbolisierung begriffen, bedeutet die Wiederherstellung von Reflexion, Diskussion und Kooperationsvermögen, Wiederherstellung von bewußter Handlungsfähigkeit in durchsichtiger Auseinandersetzung mit sich und den anderen, in Summa: Wiederherstellung von Praxis.“ (Lorenzer 1974: S. 292–293)
Bourdieu hingegen kann diese verborgene und zu resymbolisierende Praxisstruktur nicht theoretisch auffangen. Eigensinnigkeit, Leid, Devianz und Irritation werden daher bei ihm nicht schlüssig. Gerade aber die Irritation eines widersprüchlichen Habitus kann zum Ausgangspunkt gesellschaftsverändernder Praxis führen. Der gespaltene Habitus ist zu verstehen als vermittelnde Instanz des Widerspruchs von Subjektivität und Identität. Diese Irritation fußt dementsprechend auf Entfremdung als widersprüchlicher Versöhnung von Subjektivität und Identität, bei der das Nichtidentische sich im Leib bemerkbar macht. Das Nichtidentische im Leib, jene dynamisch wirksame Struktur, die aus der Identität herausfällt, ist das, was zum „Habitus clivé“ (Krais/Gebauer 2002: S. 72) führt. In diesem gespalteten Habitus liegen gegenteilige Praxisanweisungen (genauso wie widersprüchliche Denk- und Wahrnehmungsschemata) vor, die die gesellschaftlichen Praxen in Frage stellen können, wie Krais und Gebauer schreiben:
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„Wenn es richtig ist, dass der Habitus eines Menschen geformt und geprägt wird durch die sozialen Verhältnisse, in denen sie oder er in der Gesellschaft als handelndes Subjekt hineinwächst, dann ist anzunehmen, jedenfalls für die moderne Gesellschaft, dass die Habitusprägenden Erfahrungen der Heranwachsenden durchaus heterogen und widersprüchlich sind und sich nicht bruchlos oder gar harmonisch ineinander fügen. Mit der Komplexität ihrer Strukturen und Kriterien sozialer Differenzierung legt die moderne Gesellschaft – anders als eine traditionale Gesellschaft wie die der Kabylen – zugleich Sprengsätze im Habitus der Subjekte an, Konflikte zwischen unterschiedlichen Ordnungsvorstellungen und Verhaltensweisen, die die Selbstverständlichkeit der Praxen immer wieder ein Stück in Frage zu stellen vermögen.“ (Ebd.: S. 72)
Bourdieu versäumt es jedoch, genauer auf diese heterogene Sozialisierung des Habitus einzugehen. Mit Lorenzer hingegen ist eine widersprüchliche Sozialisation in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen. Denn einerseits prägen die Felder, über die Bezugspersonen und die Gegenstände des Feldes, bereits die primäre Sinnebene des Subjekts (die Triebmatrix) und gleichzeitig setzt die Vergesellschaftung im Feld nicht nur (sprach-)symbolisch an, sondern immer auch an frühen psychischen Beschädigungen (symptomatischen Verhaltensmustern). Das Feld tritt doppelt an das Subjekt heran, einmal in einer widersprüchlichen Konstitution der Identität/des Habitus und einmal in der Funktionalisierung dieser Widersprüche für das Feld. (Vgl. Horn 1976) Aber die überschießende Phantasie und die deviante Praxis, die die innere Natur als nichtidentischen Stachel bereitstellt, ist Teil des Leibes und daher nie ganz zu bändigen: Der Leib ist der unhintergehbare Ort der Subjektivität. Daher ist es auch der Leib, der berührt wird, wenn etwas in der objektiven Welt auf die in ihm eingeschriebene unbewusste Matrix hinweist. Das Berührtwerden äußert sich in den Momenten innerer Widerstände, als Schauer, Zurückweichen, Phantasie, in unerwarteten Affekten oder ozeanischen Gefühlen. Kurz gesagt: Die spontanen Erfahrungen liegen quer zur habituellen Gewohnheit und verraten sich im Leib, der auf andere Interaktionswünsche hinweisen möchte. Diese Irritation des Habitus (man könnte auch wörtlich übersetzen: der Gewohnheit) bricht herein, wenn die beiden Sinnebenen im Konflikt stehen. Der Modus der Irritation kann dabei unterschiedlich sein. Irritationen sind aber nicht nur spontaner Art, es haben sich dazu verschiedene Kulturtechniken etabliert, die sie gezielt suchen: beispielsweise die tiefenhermeneutische Analyse an einem Kulturobjekt, die psychoanalytische Praxis oder der Kunstgenuss im Konzert oder Museum, in der Hoffnung, von einem bestimmten Gefühl ereilt zu werden. Bei Letzterem treten die Irritationen auf der Ebene der präsentativen Symbole auf. Zum Beispiel beim Hören von Musik, gegenüber bildlichen Darstellungen, Ge-
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genständen, beim Tanz, in der Architektur. Diese Symbole stehen dem Leib näher als die Sprachsymbole31 und bieten daher einen unverstellteren Zugang zu den eigenen Interaktionsformen, die in der Sprache möglicherweise nicht symbolisiert werden. Gerade der Konflikt mit den sprachlichen Tabus (die auch die Grenzen der erlaubten Interaktionen der Doxa markieren) im Feld löst Irritation aus. Bourdieu beschreibt, dass die doxische Grenze des Feldes zur Grenze der Scham in den Leibern der Feldteilnehmer wird. Eine sinnlich-symbolische Praxis32 kann so gleichzeitig Glück wie Scham vermitteln: eine Verbindung, die auf das Subjekt irritierend wirken muss.33 Die Irritationen, die sich aus den Transgressionen der Grenze ergeben, sind daher mit den herrschenden Meinungen und Zensuren amalgamiert. Die Irritation ist ja oft verbunden mit unerklärlichen und unheimlichen Affekten, die sich in „Erröten, Sprechhemmung, Ungeschicklichkeit, Zittern“ (Bourdieu 2001b: S. 217) äußern. Diese Irritationen ergeben sich vermehrt in den Momenten, in denen die Routinen gebrochen werden (vgl. Beer 2007: S. 144) und der Habitus an die Grenzen des Feldes gestoßen wird oder selber an die Grenzen gerät. So kann sich bei Revolutionen das Feld rasant ändern oder aber der Habitus transformiert sich im Zuge von Emanzipationsprozessen. Bourdieu und Lorenzer sind hierbei ähnlich zu interpretieren, so kann der hier skizzierte Abschnitt von Bourdieu auch in Lorenzers Terminologie wiedergegeben werden: Irritationen treten in der Regel dann auf, wenn Unerwartetes die herrschende Lebenspraxis stört (dauerhafte Störungen sind in den meisten Fällen bereits zu Ersatzbefriedigung und Schablone zusammengeschmolzen und damit für Irritationen unerreichbar). Dies können veränderte Umstände sein, aber auch individuelle Praktiken, wie das Lesen eines Textes, wie Manfred Buchner beschreibt:
31 Aber auch Sprache kann auf den Leib einwirken, wie Manfred Buchner in Bezug auf Jean-Luc Nancy beschreibt: „Mit Jean-Luc Nancy (2007), der sich in seiner Körperphilosophie auf Spuren des Verhältnisses von Sprache und Körper begibt, ließe sich dies auch folgendermaßen formulieren: Es findet eine Berührung statt, ein Berührt-Werden. Dies impliziert, dass sich Sprache an der Materialität, an der Physis, am Gewicht der Körper reibt und bricht. Sprache stößt an die Materialität des Körpers und gibt zugleich Anstoß zu Bewegung und Aufbruch.“ (Buchner 2011: S. 4) 32 Hören von Musik, Tanzen, bestimmte Bewegungen usw., die frühe Erfahrungen symbolisieren können. 33 So kann das selbstversunkene Musikhören, das Aufgehen in Melodie und im poetischen Text eine sinnlich-symbolische Praxis sein, die im unpassenden Feld aber als peinlich empfunden wird und dadurch Scham auslösen kann.
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„Grob gesprochen brechen im Rezeptionsprozess – bei entsprechender existentieller Involviertheit – möglicherweise seitens des lesenden Individuums bisher verpönte Lebensentwürfe auf, die frau oder man sich bisher nicht zu leben, ja vielleicht nicht einmal zu denken gestattete.
Der
Text
stößt
das
Individuum
hin
auf
(noch)
nicht
realisierten
(Be-
friedigungs)Möglichkeiten auf dem Hintergrund der je eigenen biografischen Gewordenheit. Innere, von der Instanz des ‚Über-Ich‘ aufgerichtete, Verbote oder auch äußere Einschränkungen in der momentanen Lebensführung treten plötzlich ins Bewusstsein, was schmerzhaft, unangenehm, verführerisch, lustvoll, usw. sein kann – oder auch all dies zugleich. Blockt nun das lesende Individuum solche Konfrontation nicht ab, sondern lässt sich auf Verunsicherung und Irritation, auf wieder auflebende Sehnsüchte und Wünsche ein, dann eröffnen sich Möglichkeiten individueller Wachstums- und Veränderungsprozesse, deren Folgen vielleicht weit über den ursprünglichen Inhalt des Gelesenen hinaus gehen. Der Körper kommt möglicherweise durch die Berührung wieder in vielfältigere Bewegung, alte Handlungsmuster und eingefahrene Lebenspraxis erhalten die Chance zu Veränderung. Es können wundersame Wandlungsprozesse ausgelöst oder verstärkt werden. Der kondensierte, im Text verdichtete Erfahrungshintergrund der Autorin oder des Autors ‚pflanzt im lebendigen Worte sich fort und wirkt noch nach Generationen‘.“ (Buchner 2011: S. 6)
Wie beschrieben (und das lässt sich verallgemeinern), tritt die Irritation und Reflexion der eigenen Identität dann ein, wenn Subjektivität berührt wird. Auch Bourdieu beschreibt, dass man den Habitus nur spürt, wenn man an die Grenzen des Habitus (an die Grenzen der Verhaltens-, Denk- oder Wahrnehmungsdispositionen) kommt, er setzt daher ebenfalls Bewegung voraus. Irritatives Berührtwerden entzündet sich daher für Bourdieu und Lorenzer an den Grenzen der erlaubten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsräume. Außerdem sind sich beide darüber einig, dass die Irritationen reflexiv behandelt werden sollten, um Praxisräume erweitern zu können. Bei Lorenzer und Bourdieu ist Reflexion eine Reflexion über die eigenen Grenzen zur Erweiterung der Dispositionsmöglichkeiten. Wenn der Habitus mit den Grenzen des Feldes in Konflikt gerät, dann setzt der praktische Sinn des Habitus aus, er funktioniert nicht mehr reibungslos. Der Habitus wird dann gezwungen, sich seiner Praxis zu vergewissern. In dieser Selbstvergewisserungsphase, nach der Irritation, eröffnen sich neue Praxisspielräume. Ist Wahrnehmung, Denken oder Handeln dauerhaft nicht mehr mit den Anforderungen des Feldes kompatibel, dann kann sich der Habitus durch reflexive Akte erweitern und eine andere Identität ermöglichen: „Über die erste Regung vermögen wir nichts, wohl aber über die zweite. Die erste Neigung des Habitus ist schwer zu kontrollieren, aber die reflexive Analyse, die uns lehrt, daß wir selber der Situation einen Teil der Macht geben, die sie über uns hat, ermöglicht es uns, an der Veränderung unserer Wahrnehmung der Situation und damit unserer Reaktion zu arbeiten.“ (Bourdieu/Wacquant 1996b: S. 170)
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Sowohl für Bourdieu wie für Lorenzer ist die Reflexion eine, die die herrschende Praxis in Frage stellt, indem sie versucht, die Grenzen von Wahrnehmung, Denken und Handeln auszuweiten. Für Lorenzer geht es dabei um die Entschlüsselung des Habitus: „Es geht nicht um Lebensgeschichte als Abfolge von Fakten und nicht um Lebensfunktionen. Es geht um die Entschlüsselung der Denk-, Handlungs- und Empfindungsmuster. Es geht auch nicht um die Kausalgesetzlichkeit von Funktionsabläufen, es wird nicht nach den Ursachen, sondern nach dem ‚Sinn der Symptome‘ (Freud) gesucht. Eingeordnet in die Analyse der aktuellen Erlebnisstruktur, richtet sich das Interesse des Psychoanalytikers aufs Vergangene, um die ‚immer-noch-wirksame‘ Erlebnisformel zu finden.“ (Lorenzer 2002: S. 206)
Reflexion ist somit das richtige Wiedererkennen der eigenen inneren Struktur in der äußeren Struktur und nur durch Sprache möglich, da sie den Horizont des Bewusstseins abbildet. Sie muss dabei alle noch so unscheinbaren Alltagspraxen in Augenschein nehmen und auch mögliche aggressive Regungen ernst nehmen, wie Adorno beschreibt: „Soll Erfahrung wieder gewinnen, was sie vielleicht einmal vermochte und wessen die verwaltete Welt sie enteignet: theoretisch ins Unerfaßte zu dringen, so müßte sie Umgangsgespräche, Haltungen, Gesten und Physiognomien bis ins verschwindend Geringfügige hinein entziffern, das Erstarrte und Vermummte zum Sprechen bringen, dessen Nuancen ebenso Spuren von Gewalt sind wie Kassiber möglicher Befreiung.“ (Adorno 1996[1972]: S. 193– 194)
Zwar kann eine Realisierung sinnlich-symbolischer Interaktionsformen Irritationen auslösen oder zu glücklichen Momenten im Tanz, beim Musikhören oder beim Spazieren in angenehmer Umgebung führen, aber sie erreicht noch nicht die Ebene, auf der eine bewusste Reflexion die Praxisvielfalt in der Sprache aufhebt, wie es die gesellschaftskritische psychoanalytische Praxis im geschützten Raum vornimmt. 34 Erst durch die Reflexion, wenn neue Sprachsymbole gewonnen wurden, lassen sich stimmigere Narrative bilden, die eine veränderte Identität ermöglichen, in der dann Nichtidentisches zum Ausdruck kommt. In einer reflexiven Praxis ist das Subjekt nun aber vor die schwierige Frage gestellt, wie man mit Sprache über die herrschende Sprache hinausgehen kann. Oder 34 Dazu Lorenzer: „[…] die hinter dem Sprachschleier, dem falschen, sozial angepaßten Gerede verborgene Lebenspraxis, die sozial verbotene und deshalb verdrängte Lebenspraxis aufzuspüren. Das szenische Verstehen ist eine entscheidende Voraussetzung der gesellschaftskritischen Praxis der Psychoanalyse.“ (Lorenzer 2002: S. 68)
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anders gesagt: Wie kann man mit dem Bewusstsein das Unbewusste einholen, ohne es wieder den sprachlichen Zwängen unterzuordnen? Jürgen Ritsert liest Adorno dahingehend, dass Begriffe (auch Sätze) in hermeneutischer Verwendungsweise Konstellationen erproben, ohne den Grund der Irritation direkt zu benennen: „Statt fest-zustellen und starr-fest-zuhalten soll das begriffliche Denken sich hermeneutisch um die zu erkennende Sache versammeln, sie in immer neuen Perspektiven umkreisen, facettenartig komponieren. Adorno erhebt den (hermeneutischen) Anspruch auf Offenheit einer Erkenntnis für die Vielfalt der konkreten Bestimmungen trotz der gleichzeitigen Notwendigkeit, ‚identifizieren‘, also Fest-Stellungen treffen und Vergleiche ziehen zu müssen. Dem Facettenreichtum und der inneren Geschichtlichkeit von Gegebenheiten soll in Forschung und Darstellung Rechnung getragen werden, ohne Erfahrungsmöglichkeiten zugunsten einer Gleichmachereri abzuschneiden.“ (Ritsert 1997: S. 40)
Davon abgesehen, dass Adorno auch in der Lösung der Irritation eine neue falsche Rationalisierung vermutet, ist diese Herangehensweise hermeneutisch-akademisch und nicht alltagspraktisch wirksam. So sind die Subjekte in den bestimmten Feldern auf Methoden der Irritationsverarbeitung angewiesen, für die sie bestimmte bildungstheoretische Ressourcen benötigen. Damit ist das Potential, der individuellen oder kollektiven Irritation auf den Grund zu gehen, vom Feld, der Position und dem Bildungskapital abhängig. Verfügt das Subjekt nicht über diese Bildungsressourcen, so besteht die Gefahr einer schlechten Verarbeitung der Irritation in Symptom und Schablone. Wenn die herrschende Sprache im Feld so verfestigt ist, dass sprachliche Tabus nicht durchbrochen werden können, dann lässt sich das Nichtidentische aber noch dadurch bewahren, dass es als Erinnerung an das Glück sinnlich-symbolisch (ästhetisch) offengehalten wird. So kann ein Kunstwerk unter Umständen keine Wunscherfüllung ermöglichen, aber dafür die Irritation kultivieren. Ist hingegen das Feld kein total verwaltetes, erscheinen also Möglichkeiten der sprachlichen und praktischen Transformation, dann ist fernab von ästhetischen und philosophischen Herangehensweisen eine psychoanalytische Praxis möglich. Darüber hinaus ermöglicht ein Feld mit hohen selbstreflexiven Ressourcen auch eine gemeinsame Resymbolisierung und damit eine gelungene kollektive Aufhebung der Irritation. Individuelle resymbolisierende Irritationslösungen sind nur innerhalb der Doxa möglich, da diese die sprachliche Grenze des Handelns markiert. Daher bleiben die individuellen Auswege aus der Entfremdung immer nur im Rahmen des Feldes. Eine gemeinsame Praxis, die auf eine Befreiung von Entfremdung ausgerichtet ist, kann dagegen qualitative Veränderungen im Feld ermöglichen und die Felder mit ihrer Doxa transformieren.
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Erfahrung, Widerstand und Transformation Wie aber kann sich die Irritation zu einer gemeinsamen Aktivität verdichten? Dazu ist zu bedenken, dass Erfahrung nicht nur die Erweiterung der eigenen Handlungsdispositionen ermöglicht, sondern auch die Erkenntnis und Anerkennung der Besonderheiten der anderen. Denn erst eine besondere Interaktionsform, an der auch ein anderes Subjekt teilhat, zerreißt den Schleier objektiver Verblendung. Das gilt es näher zu erläutern: Gemeinsame Interaktionen unterhalb der herrschenden Habitusform ermöglichen die Erfahrung, dass nicht nur ich, sondern auch das Gegenüber eine verborgene Subjektivität in seiner Identität, noch eine weitere Sinnstruktur, verinnerlicht hat, die im sozialen Feld nicht zum Ausdruck kommt. Diese Erfahrung einer gemeinsamen Interaktion kann, zum Beispiel auf der Ebene der präsentativen Symbole, ein gemeinsamer Tanz oder auch eine geteilte spontane Regung sein. Die Erkenntnis dieser Erfahrung ist eine doppelte. Einerseits zeigt sie, dass es unter dem Feld der objektiven Verhaltensmatrix eine mögliche gemeinsame Praxis gibt und dass die eigenen Wünsche bzw. Interaktionsformen keine isolierten privaten Verrücktheiten sind. Andererseits werden die gemeinsamen Interessen sichtbar, um es marxistisch auszudrücken: Die Klasse an sich könnte so zur Klasse für sich werden. Die gemeinsame Erfahrung ermöglicht dementsprechend eine Solidarität und auch Widerspruch gegen die organisierten feldspezifisch erlaubten Praxisparadigmen und die entsprechende hegemoniale Sprache. Diese Form des Widerstands als eine gegenhegemonielle Praxis ist ungleich schwerer als eine Praxis gegen augenscheinliche Formen der Repression und Disziplinierungen. So ist es gerade der offensichtliche Charakter einer erfahrenen Repression, die einen gemeinsamen Kampf gegen unterdrückende Systeme wahrscheinlich werden lässt. Die ausdifferenzierten Felder sind in ihrer Herrschaft wesentlich geschickter, da sie mit ihrer Form der Doxa grundsätzlich ein Austreten aus dem Feld ermöglichen, es aber dennoch schaffen, die Habitusträger an sich zu binden, indem diese die Verhaltensweisen als Habitus inkorporieren, so dass die Grenzen des Feldes auch ihre Grenzen sind: „In a sense it is easy to revolt against discipline because you are conscious of it. In fact, I think that in terms of symbolic domination, resistance is more difficult, since it is something you absorb like air, something you don’t feel pressured by; it is everywhere and nowhere, and to escape from that is very difficult.“ (Bourdieu 1992b: S. 270)
Dennoch lässt sich die Doxa mit einer gemeinsamen neuen Praxis im Feld verändern. Das Feld wird dadurch zwar nicht komplett umgewälzt, aber es eröffnet sich die Möglichkeit, die irritierenden Widersprüche kollektiv zu problematisieren und zu reflektieren, wie Lorenzer schreibt:
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„Der Einzelne [ist] zwar befangen im Netz des herrschenden gesellschaftlichen Bewußsteins, des notwendig falschen Bewußtseins der geschichtlichen Stunde. Er wird darin gefestigt über die Gruppenideologie, bleibt aber erreichbar für Irritationen, die sich aus der Erfahrung von Widersprüchen zur Gesellschaft und zur Gruppe ergeben. Allein gelassen, empfindet er die Irritation zumindest als unbehaglich. Mit anderen zusammen kann er das Unbehagen eventuell zum Problembewußtsein verdichten.“ (Lorenzer 1981: S. 117)
Dieses Problembewusstsein thematisiert bestimmte widersprüchliche Praktiken im Feld. Gelingt es dadurch, neue sinnlich-symbolische und sprachsymbolische Interaktionsformen zu ermöglichen, dann ändern sich die Kräfteverhältnisse. So können beispielsweise die Häretiker neue Praxisentwürfe im Feld symbolisieren. Wenn diese Symbolisierungen eine ausreichend große Kraft entfalten, dann sind sie von den Orthodoxen im Feld weder praktisch noch sprachlich zu zensieren. Um das Feld zu erhalten, werden diese neuen lebenspraktischen Entwürfe ins Feld integriert. Bei diesen Prozessen verändert sich dann nicht nur das Verhältnis zwischen Häretikern und Orthodoxen,35 bei dem es zu Auf- und Abstiegen kommt, sondern auch die Zeichen- und Symbolwelt im Feld. Im Idealfall findet in einigen Bereichen des Feldes eine Reorganisation der Zeichen- und Symbolwelt statt, wie Lorenzer beschreibt: Unter „Umständen kann eine Reorganisation nur durch die Zerschlagung der verkrusteten Zeichensysteme gelingen, […] also auf der Organisationsebene der präsentativen Symbole“ Lorenzer beschreibt so einen „schöpferischen Akt der Symbolzertrümmerung, das heißt der Sprengung eines bisher gültigen geschlossenen Zeichensystems, die sich in einem umschriebenen schöpferischen Augenblick abspielt, und zwar auf der Ebene der Primärorganisation.“ (Lorenzer 1970: S. 84–85) So können die emotionsleeren, aber verhaltensstrukturierenden Zeichen durch Symbole ersetzt werden, wodurch andere Lebensentwürfe im Feld Legitimität erlangen. Der unpraktische Sinn im Feld kann so in einen praktischen Sinn transformiert und bis dahin un-praktische Lebensentwürfe können praktisch werden – Nichtidentität könnte Teil einer stimmigen subjektivitätsgerechten Identität werden. Es sei daran erinnert, dass die Symbol- und Zeichenwelt für Bourdieu die Ebene über der realen Welt ist, welche in den Symbolen und Zeichen (Ergänzung durch Lorenzer) abgebildet wird. Die Ergänzung durch Lorenzer besagt, dass eine (Re-) Symbolisierung die realen Verhältnisse im Feld erkennbar machen kann (vgl. 35 Um das Verhältnis von Orthodoxen und Häretikern in den Zeiten von Transformationen zu bewahren, kommt es auch zu enttabuisierten Lebensentwürfen, um zwar eine Veränderung der Symbolwelt zu erlauben, ohne jedoch die realen Kräfteverhältnisse zwischen Arrivierten und Herausforderern zu verändern. Herbert Marcuse hat das repressive Entsublimierung genannt.
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3.3.2). Ein verändertes Kräfteverhältnis und eine Aneignung der Symbole bzw. eine Zeichenzertrümmerung ermöglichen einen reflexiven Zugang zu den eigenen Praxen und ihren Widersprüchen zu den eigenen inneren Interaktionsformen. Und erst dieses veränderte (richtige) Bewusstsein ermöglicht die Transformation der herrschenden realen Verhältnisse. Das Bewusstsein der eigenen realen Wünsche und Bedürfnisse als Folge einer Resymbolisierung in den Feldern ist somit die Vorbedingung realer Transformationsprozesse der Felder und ihrer inhärenten Herrschaftsmuster. Bisher wurde das Verhältnis von Irritation, Widerstand und Transformation in idealisierte Form als ideal dargestellt. Und in der Tat wäre diese Transformation der ideale Verlauf der Geschichte, der in einem herrschaftsfreien Diskurs des kommunikativen Handelns (Habermas) und der materiellen Veränderung herrschender Verhältnisse in der unentfremdeten Weltgesellschaft kulminiert. Offensichtlich gibt es jedoch gesellschaftliche Prozesse, die diese Entwicklung blockieren. Denn die Felder existieren nicht ohne ein grundlegendes Prinzip: das Ökonomische. Das ökonomische Primat ist es auch, das unentwegt Herrschaft durch Kapitalakkumulation erzeugt (vgl. 3.3.4). Damit Symbole als gemeinsames Verständigungsmittel dienen können, müssen sie auch gemeinsam zugänglich sein. Damit sie als Kapital akkumuliert werden können, müssen sie aber gleichzeitig distinktionsfähig sein, d. h. privat angeeignet werden können. Dieser Widerspruch lässt sich anhand eines weit verbreiteten präsentativen Symbols verdeutlichen: das Meer. Dieses ist, über viele Felder hinweg emotional mit Wünschen belegt. Wird nun der Strand privatisiert oder die Uferpromenade kommerzialisiert, dann verschwindet für einige Akteure der reale Zugang zu diesem Symbol.36 Dieser (fehlende) Zugang zum Symbol Meer markiert eine Trennung zwischen Kapitalbesitzern und symbolischem Proletariat37. So bleibt das Meer in den Köpfen der Menschen erhalten, es bleibt ein Symbol, allerdings eines, das nicht angeeignet werden kann, es kann in seiner ganzen Sinnlichkeit nicht erfasst werden. Die Einheit der Mutter-Kind-Dyade könnte im Meer, und das sagt der Name bereits, als ozeanisches Gefühl symbolisiert werden. Verschwindet dieses Objekt jedoch aus den Zugangsmöglichkeiten, dann lässt sich das ozeanische Gefühl, die interaktive Verschmelzung von Mutter und Kind, nicht mehr symbolisieren. Das Gefühl kehrt zurechtgestutzt in den Erlebnisschablonen der Werbung wieder, wo die realen Wünsche mit Waren verknüpft werden. Die Möglichkeit realer 36 In der Reklame der Kulturindustrie taucht das Meer als Ersatzsymbol hingegen wieder auf. Verspricht es dort zwar die Wünsche des im Symbol Aufgehobenen zu erfüllen, so bleibt diese „Erfüllung“ doch unbefriedigend. 37 Ein Beispiel dafür findet sich in der Welt sozialer Medien, in denen ein geteiltes Urlaubsfoto vom Meer offenkundig soziales Kapital verkörpert.
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Interaktion mit dem Meer zur Gewinnung eines Wohlgefühls, im beruhigenden Blick auf den Ozean und im Lauschen der Wellen, wird zu einer Klassenfrage, wenn das Allgemeingut Meer privatisiert wird. So kann ein Verständigungssymbol gleichzeitig ein distinktives Symbol sein, das nicht nur innere Wünsche symbolisiert, sondern auch reale Ungerechtigkeiten verfestigt. Wer den besten Zugang zu den legitimen Symbolen und Zeichen hat, der verkörpert am weitreichendsten das Ich-Ideal des Feldes und prägt es gleichzeitig.38 Die Kapitalbesitzer entscheiden über die legitimen Symbole und Zeichen im Feld, abhängig von der Ökonomie des Feldes (Knappheit der Symbole). Daher besteht fortwährend die Gefahr, dass sich auch unter neuen Herrschaftsverhältnissen wieder neue Ersatzsymbole und Sprachschablonen als legitim durchsetzen, die aber keineswegs mehr die Lebensentwürfe vieler Feldteilnehmer zu symbolisieren vermögen. Die Transformation des Feldes ist deshalb ständig davon bedroht, dass die neuen Bedeutungsträger, die durch Anerkennung der Herrschenden Wert erlangen, ein neues Distinktionssystem im Feld dadurch etablieren, dass allen Feldern die Tendenz zur Kapitalisierung innewohnt. Jedoch liegt auch in allen Feldern der nichtidentische unpraktische Sinn verborgen, der als Stachel gegen das Feld wirkt und der danach strebt, die unpraktische Sinnlichkeit in eine praktische zu verwandeln. So wirken die einsozialisierten Lebensentwürfe immer auch als Gegenentwürfe. Die unterschiedlichen Subjektivitäten und das Feld / der Habitus stehen daher immer in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Nun lässt sich daraus schließen, dass ein besser eingerichtetes Feld eine Illusion ist. Und in der Tat scheinen kaum alle Interaktionsformen in ein Feld zu passen. Die ökonomische Grundlegung der Felder erlaubt immer nur einer bestimmten Gruppe die Symbolisierung oder Ersatzbefriedigung. Aus dieser Aporie der Felder führt zum einen eine bewusste Aufklärung über die Felder (1), um die Mechanismen der Macht beständig in Frage zu stellen, und eine kontemplative Praxis (2), wie sie Adorno denkt. 1. Die gegenhegemoniale Praxis muss mit einer bewussten Aufklärung der Machtverhältnisse korrespondieren, wie auch Lorenzer schreibt: „Im idealen Fall wird es einen Zugriff auf die alten, versteinerten und d. h. menschlich unzuträglich gewordenen Verhältnisse von zwei Seiten geben:
38 Um bei dem Meeresbeispiel zu bleiben: Der Besitzer eines privaten Strandes verkörpert das Ich-Ideal eines Feldes, in dem jeder einen Strand möchte. In einem Feld hingegen, bei dem der Privatbesitz von Strand und Meer verpönt ist, wird dieses Ich-Ideal ins Gegenteil verkehrt: Der Privatbesitzer wird zum Hassobjekt.
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- von der solidarischen Organisierung einer gemeinsamen Praxis, also denjenigen ‚Praxisfiguren‘, die einige, viele – kaum aber alle – miteinander teilen in der Konstitution einer Praxisgemeinschaft, deren Mitglieder in gemeinsamen Lebensentwürfen / Interaktionsformen übereinstimmen, und - in einer korrespondierenden Veränderung des Bewußtseins durch eine Kritik, die den ‚versteinerten Verhältnissen ihre Melodie vorspielt‘.“ (Lorenzer 2002: S. 166)
Lorenzer schreibt, dass erst die Aufklärung über die Mechanismen der versteinerten Verhältnisse39 Felder nachhaltig so gestalten kann, dass darin ein unentfremdetes Leben möglich ist. Reflexion als verändertes Bewusstsein muss daher der Praxis vorausgehen, um die Mechanismen der beschädigenden Praxis zu durchschauen, so sieht es auch Bourdieu: „Im übrigen kann man sich der Kenntnis dieser Mechanismen [der Felder, J. W.] bedienen, um sich ihnen zu entziehen, sich zum Beispiel von seiner Disposition zu lösen.“ (Bourdieu/Wacquant 1996b: S. 170) Das heißt auch, dass Symbole und Zeichen nicht einfach einer anderen Gruppe im Feld zugeschlagen werden, sondern dass bewusst und kollektiv über gemeinsame Praxis und Symbole diskutiert wird. Ein ideales Feld sollte daher viele Lebensentwürfe symbolisieren und praktisch zugänglich machen. Oder wie Adorno es ausdrückt: „Eine emanzipierte Gesellschaft [Feld, J. W.] jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. [...], den besseren Zustand aber denken als den, in dem man ohne Angst [vor Positionsverlust, J. W.] verschieden sein kann.“ (Adorno 2003[1951]: S. 116)
In dieser „Vielfalt des Verschiedenen“ (Adorno 2000[1966]: S. 16) als Idealbild wären die menschlichen Körper in ihrer Sinnlichkeit, befreit von falscher Praxis und Ersatzbefriedigung, wieder ganz bei den unentfremdeten Subjekten: „Ziel des Marxismus ist es, dem Körper die ihm gestohlene Macht zurückzugeben. […] Der Kommunismus ist notwendig, weil wir ohne ihn nicht in der Lage sind, unsere Fähigkeiten entsprechend zu fühlen, zu schmecken, zu riechen und etwas zu berühren.“ (Eagleton 1994: S. 210)
39 Ähnliches meint auch Adorno, wenn er schreibt, dass das Subjekt zunächst seine objektiven Anteile entdecken müsste, um Subjekt zu werden: „Das Subjekt ist die Lüge, weil es um der Unbedingtheit der eigenen Herrschaft willen die objektiven Bestimmungen seiner selbst verleugnet; Subjekt wäre erst, was solcher Lüge sich entschlagen, was aus der eigenen Kraft, die der Identität sich verdankt, deren Verschalung von sich abgeworfen hätte.“ (Adorno 2000[1966]: S. 272)
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Dafür muss das Feld den Feldteilnehmern eine Symbolisierung der Objektwelt ermöglichen. Diese Symbolisierung kann aber erst im kommunikativen Netz einer kollektiven Sprachsymbolisierung diskutiert werden. Wird so der Zugang zu den Symbolen möglich, so dass man darin die Objekte mit seinen ganzen Sinnen erleben kann (riechen, schmecken, anfassen und hören), können auch die Interaktionsformen sich an diesen realisieren. 2. Diese Versöhnung von besonderer Subjektivität und allgemeiner Identität steht nun aber vor dem Problem, welches Hegel als die Herr-Knecht-Dialektik beschrieben hat. Subjekte treffen nämlich nicht bloß auf andere Objekte, sondern sie treffen auf andere Subjekte. Nun können zwei oder mehrere Subjekte mit ihren Interaktionsformen und gegenseitigen Symbolisierungen sich durchaus realisieren und Wünsche befriedigen. Dennoch können die Interaktionsformen auch inkompatibel sein, ja sich sogar kategorisch ausschließen. Der Wunsch des einen muss nicht dem Wunsch des anderen entsprechen bzw. die Realisierung der Interaktionsformen des einen kann die Verhinderung der Realisierung der Interaktionsform des anderen bedeuten, so wird das Subjekt zur Anerkennung genötigt: „In der Begegnung zwischen zwei Subjekten eröffnet sich insofern eine neue Handlungssphäre, als beide wechselseitig genötigt werden, einen Akt der Beschränkung ihrer ‚selbstsüchtigen‘ Begierde zu vollziehen, sobald sie des Anderen ansichtig geworden sind.“ (Honneth 2010: S. 30)
So muss auch miteinbezogen werden, dass es nicht nur Interaktionsformen gibt, die in wechselseitiger Realisierung zur Bedürfnisbefriedigung führen, sondern dass es auch Interaktionsformen gibt, die zwischen zwei Subjekten inkompatibel sind oder gar aggressive Züge tragen. So kann sich der Trieb durchaus auch in destruktiver Weise sozialisieren (oder sich im Klischee destruktiv verkleiden). Ein aufgeklärtes Feld muss nun auch diese destruktiven Triebe bewusstmachen bzw. symbolisieren, damit sie gesellschaftlich verhandelt werden können. Denn erst wenn die destruktiven Wünsche bewusstwerden, lassen sie sich sublimieren und freiwillig beschränken. Dieses Selbstbeschränkungsvermögen ist verwandt mit dem, was Adorno kontemplative Praxis nennt und was sich als Praxis für ein aufgeklärtes Feld anbietet: Die Anerkennung der Besonderheit des anderen, damit der eigene Triebwunsch die Triebwünsche des anderen nicht beschädigt. In dieser Ethik einer nicht-instrumentellen Verhaltensweise (vgl. Seel 2004) wird das Gegenüber nicht unter dem Primat des Ökonomischen (zur Verbesserung der eigenen Position) gefasst, sondern in seiner Einzigartigkeit begriffen.40 40 Es sei nochmal darauf verwiesen, dass hier Idealtypen eines Feldes beschrieben werden. In der konkreten Analyse sind diese immer in Verhältnissen zu betrachten.
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Dazu bedarf es einer Aufmerksamkeit für das Besondere als einer Praxis mit dem „Sinn für die Besonderheit des Daseins von Menschen und Dingen.“ (Seel 2004: S. 13) Menschen und Objekte sollen nicht mit einem instrumentellen Bewusstsein (einem rein ökonomischen Kalkül im Feld) zu bloßen Mitteln degradiert werden, sondern – im Gegenteil – ihre besondere Subjektivität entfalten können. D. h., die Interaktionsformen des anderen sollen sich entfalten können. Das Feld muss daher die präsentativen Symbole und Sprachsymbole anbieten und zugänglich machen, unter denen sich eine Praxis und ein Bewusstsein organisieren können, die nicht instrumentell sind, sondern Aufmerksamkeit für die besonderen Interaktionsformen der verschiedenen Subjekte ermöglichen. Solch eine Einrichtung des Feldes steht dem ökonomischen Primat gegenüber und bildet die Dialektik eines jeden Feldes zwischen Ökonomie und Solidarität. Freiheit eröffnet sich daher erst dann, wenn sich nicht ein Einzelner von den Zwängen befreien kann, sondern wenn das Feld die Freiheit aller ins Bewusstsein bringt, in dem die Freiheit und das Entfaltungspotential des anderen gewahrt bleibt: „In solchen zweckfreien Beziehungen zu anderem und anderen sieht Adorno den ‚Erfahrungskern‘, der seine Kritik am Zustand moderner Gesellschaften motiviert und trägt.“ (Ebd.: S. 34) Die Entfaltung der Subjektivität als verwirklichte Freiheit der Subjekte kann in Feldern nur gelingen, wenn es eine Achtung und Aufmerksamkeit für die Freiheit und besondere Subjektivität der anderen gibt. Gerade im ökonomischen Primat der Felder verkümmert diese Fähigkeit, da der Mensch dazu gezwungen wird, die anderen als Objekte der eigenen Positionierung zu behandeln, so lässt sich mit Adorno einfügen: „Die praktischen Ordnungen des Lebens, die sich geben, als kämen sie den Menschen zugute, lassen in der Profitwirtschaft das Menschliche verkümmern, und je mehr sie sich ausbreiten, um so mehr schneiden sie alles Zarte ab. Denn Zartheit zwischen Menschen ist nichts anderes als das Bewußtsein von der Möglichkeit zweckfreier Beziehungen, das noch die Zweckverhafteten tröstlich streift.“ (Adorno 2003[1951]: S. 45)
Dieses Bewusstsein zweckfreier Beziehungen (kollektiver sprachsymbolischer Interaktionsformen) hält für Adorno die Möglichkeit offen, dass auch die Praxis und die realen Verhältnisse zweckfrei werden.41 Die Interaktionsformen des Anderen sollen geachtet werden, der Andere hat das Recht, diese zu symbolisieren, um daraus eine gemeinsame bewusste Praxis hervorgehen zu lassen. Das ist der kategori-
41 Hier ist deutlich das Motiv einer unentfremdeten Lebensweise von Aristoteles angelegt. Dies zeigt, dass sich Zweckfreiheit der Praxis in der Entfremdungsdiskussion bewahrt hat.
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sche Imperativ der kontemplativen Praxis und die Ethik einer kritischen Theorie des Subjekts. Erst wenn es solche nicht-instrumentellen Felder gibt, lassen sich auch andere Felder dementsprechend vernünftig organisieren. Es gibt Felder, die diesem Ideal näherkommen, und Felder, die davon weit entfernt sind. So bieten einige Felder und Subfelder Entlastungen an und andere Felder belasten die Subjekte. Eine entlastende Praxis etwa stellt sich im Feld der Kunst dar, worin Menschen Interaktionsformen symbolisieren können, während sie in anderen Feldern eine entfremdende Identität in der entsprechenden Doxa erfahren. Gerade die entlastenden Felder bieten den Subjekten also einen Rückzugsort, auch wenn sie prinzipiell bedroht sind. Die kontemplative Praxis der Achtsamkeit (und freiwilligen Selbstbeschränkung) gegenüber anderen Subjekten setzt eine gemeinsame Sprachsymbolisierung voraus. Diese erst vermag auch eine bewusste Pädagogik zu begründen, in der Interaktionsformen ohne große Beschädigung gebildet werden. Die kontemplative Praxis hält daher die Perspektive einer bewusst-gebildeten Organisation von Interaktionsformen und letztlich einer konfliktärmeren Welt offen. Ästhetische Irritation – Spuren des Nichtidentischen Wie in den beiden vorangegangenen Abschnitten beschrieben, ermöglicht der Widerspruch von inneren Interaktionsformen und habitueller Praxis Irritationen, die in der Lage sind, die Felder nachhaltig zu transformieren. Diese Irritationen sind allerdings nicht nur in alltagspraktischen Erfahrungen zugänglich, sondern können als Kunst aktiv hergestellt werden. Das Kunstwerk verdichtet die Widersprüche der verschiedenen Sinnebenen in sich und vermag beim Betrachter die Wirkung des Erschauerns hervorzurufen42: „Das Kunstwerk lässt uns erschauern, weil wir vor den dort arrangierten Lebensentwürfen erschrecken, die uns fremd und doch zugleich vertraut sind.“ (König 1996: S. 355) Kunstwerke wirken, weil sie Lebensentwürfe vermitteln, die durch die Dispositionen des Habitus verschüttet sind. Diese Vermittlung, die selbst die Doxa des Feldes überschreiten kann, setzt aber in der Regel nicht an sprachsymbolischen Interaktionsformen, sondern an den sinnlich-unmittelbaren Interaktionsformen, den präsentativen Symbolen, an. Diese symbolisieren, und das macht ihre künstlerische Dimension aus, nicht-instrumentelle Verhaltensweisen: So zeichnen sich einige Gegenstände dadurch aus, „dass sie exklusiv zweckfrei als Bedeutungsträger benutzt werden. Das sind im engeren Sinne präsentative Symbole, von denen Langer unter dem Stichwort ‚Kunst‘ spricht […]. Ihre Funktion ist es, freigestellt von instrumentellem Gebrauch soziale Verhaltensentwürfe dem Subjekt anzubieten.“ (Lo42 Adorno verwendet statt dem Begriff der Irritation die Begriffe „Schauer“ oder „Gänsehaut“.
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renzer 1972: S. 157) Das Kunstwerk wirkt als Ensemble präsentativer Symbole und bietet dementsprechend den vorbewusst-affektiven Praxismustern eine Entsprechung, sie erhellen so blitzartig einen praktischen Sinn. Diese angebotenen Verhaltensweisen widersprechen in einigen Feldern der Doxa. Sie können daher auch nicht sprachlich vermittelt werden, da innerhalb der Doxa bestimmte Sprachsymbole tabuisiert sind. Die Kunst hingegen umgeht die Sprache im Feld, damit sie von der Entfremdung zwischen Subjekt und Objekt sprechen kann, ohne dabei die tabuisierende Sprache des Feldes zu verwenden: „Paradox hat sie [die Kunst, J. W.] das Unversöhnliche [Subjekt und Objekt, J. W.] zu bezeugen und gleichwohl tendenziell zu versöhnen; möglich ist ihr das nur in ihrer nichtdiskursiven Sprache.“ (Adorno 1993[1973]: S. 251) So kann Kunst das zum Ausdruck bringen, „was die Ideologie verbirgt.“ (Adorno 2003[1958]: S. 52) Auch das Kunstwerk befindet sich innerhalb der Doxa (der Künstler selber ist ja nicht außerhalb der Doxa) und muss daher die für das Feld erlaubten Formen annehmen. Die manifeste Form des Kunstwerks ist daher den Regeln und Normen des Feldes angemessen, während der latente Inhalt auch darüber hinaus geht. Durch diese Doppelbedeutung entsteht Irritation. Das Kunstwerk ist regelkonform, da es ja bewusst hergestellt wurde, und es ist irritativ, weil der gute Künstler in ihm gleichzeitig seine Subjektivität veräußert hat, unter objektiven Bedingungen. Das Kunstwerk zeigt daher gleichzeitig etwas Besonderes und etwas Allgemeines, was es dem Betrachter rätselhaft erscheinen lässt. Das Subjekt, der Betrachter, lässt sich auf das Rätsel ein und erfährt daran seine eigene Entfremdung als Schauer. Der Künstler hat daher die Aufgabe, diese Irritationen, die ja Produkt der gesellschaftlichen Widersprüche und sozialen Kämpfe im Feld sind, zu einem Rätsel zu verpacken. So ist in den Kunstwerken immer auch der Klassenantagonismus verrätselt: „Gesellschaftliche Kämpfe, Klassenverhältnisse drücken in der Struktur von Kunstwerken sich ab.“ (Adorno 1993[1973]: S. 344) Der Künstler, der selber Teil der feldspezifischen Antagonismen ist, kann jedoch nicht aus der Vogelperspektive das Feld überblicken und bewusst ein Rätsel schaffen, welches die Widersprüche integriert, im Gegenteil; er abstrahiert von seinen eigenen Irritationen und Erfahrungen. So sieht Adorno das Konstruktionsprinzip von Künstlern in dem Modus, dass der Künstler seiner eigenen Besonderheit und Entfremdung nachspürt und den mimetischen Impulsen der Selbstwahrnehmung folgend das Kunstwerk nach den Mitteln formt, die dem Bewusstsein zur Verfügung stehen. Kurz gesagt: Der Künstler soll die Leistung vollbringen, Subjektivität und Habitus zu einem Gegenstand zu vergegenständlichen: „Mimesis ist in der Kunst das Vorgeistige, dem Geist Konträre und wiederum das, woran er entflammt. In den Kunstwerken ist der Geist zu ihrem Konstruktionsprinzip geworden, aber genügt seinem Telos nur dort, wo er aus dem zu Konstruierenden, den mimetischen Impulsen, aufsteigt, ihnen sich anschmiegt, anstatt daß er ihnen souverän zudiktiert würde. Form objek-
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tiviert die einzelnen Impulse nur, wenn sie ihnen dorthin folgt, wohin sie von sich aus wollen.“ (Ebd.: S. 180)
Der Rätselcharakter, der sich daraus ergibt, dass der Widerspruch im Gegenstand manifest und latent verschmolzen ist, kann aber nicht einfach zur Irritation genutzt werden, sondern er bedarf des ästhetischen Verhaltens des Betrachters. Erst mit diesem Rätselcharakter können unbewusste Lebensentwürfe ins Feld kommen und dort mithilfe des ästhetischen Verhaltens für Gänsehaut/Irritation sorgen. Die Tiefenhermeneutik ist in diesem Sinn ein wissenschaftliches Verfahren, um die in das Feld gebrachten Rätsel zu lösen und innerhalb des Feldes einen Schauer zu erzeugen, der die Grenzen der Doxa verschiebt: „Die Tiefenhermeneutik stellt ganz im Sinne von Adornos Methodologie eine Methode der Rätsellösung dar, die im Rückgriff auf eigene lebenspraktische Vorannahmen die im Text arrangierte Lebenspraxis auf eine so lebendige Weise vergegenwärtigt, daß dessen Besonderheit wie ein ‚Feuerwerk‘ aufblitzen und irritieren kann. Die Analyse dieser Irritationen, die uns ‚erschauern‘ lassen, erschließen einen Zugang zu einem hinter dem manifesten Sinn verborgenen latenten Sinn.“ (König 1996: S. 356)
Das Kunstwerk spricht daher den unpraktischen Sinn an und ermöglicht eine kurzfristige Identifikation von Habitus und Subjektivität, wenn Wahrnehmungs- und Denkschemata, durch Irritation angestoßen, reflexiv werden. Die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata (Habitus) werden so kurzfristig mit der unbewussten Handlungsmatrix verknüpft. Das resultierende Aufblitzen öffnet einen Spalt zu den unbewussten Entwürfen, diese weisen gewissermaßen der reflexiven Analyse den Weg. Adorno macht deutlich, dass eine problematische Sozialisation des Habitusträgers die ästhetische Verhaltensweise verhindern kann. Und dass die (sprachliche) Rationalität der feldspezifischen Sprachschablonen dem nichtbegrifflichen Denken gegenübersteht: „Begriffen wird einzig, wo der Begriff transzendiert, was er begreifen will. Darauf macht Kunst die Probe; der Verstand, der solches Begreifen verfemt, wird Dummheit unmittelbar, verfehlt das Objekt, weil er es unterjocht. Kunst legitimiert sich innerhalb des Bannes dadurch, daß Rationalität unkräftig wird, wo die ästhetische Verhaltensweise verdrängt ist oder unterm Zwang gewisser Sozialisationsprozesse gar nicht mehr sich konstituiert hat.“ (Adorno 1993[1973]: S. 488)
Die Sprachschablonen des Feldes können in der Tat ein emotionsleeres Bewusstsein konstituieren. Der Träger des Habitus verhält sich dann im Feld überwiegend im Bewusstsein einer Zeichenwelt, die ihn ohne subjektive Schauermöglichkeit zu-
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rücklässt: „Bewusstsein ohne Schauer ist das verdinglichte.“ (Ebd.: S. 490) So ist das ästhetische Verhalten die Bewahrung der Irritationsmöglichkeiten, oder, in den Worten Adornos: „Am Ende wäre das ästhetische Verhalten zu definieren als die Fähigkeit, irgend zu erschauern, so als wäre die Gänsehaut das erste ästhetische Bild.“ (Ebd.: S. 489) Diese ästhetische Praxis des nichtbegrifflichen Denkens bewahrt sich seine Irritations- und Schauerfähigkeit dadurch, dass das Subjekt von Kunst berührt wird, dass Kunst in gewisser Weise nonverbal mit dem Subjekt kommuniziert, jenseits der Doxa und des Fetischs/Banns: „Das sprachähnliche Moment der Kunst ist ihr Mimetisches […]. Die Paradoxie, daß Kunst es sagt und doch nicht sagt, hat zum Grunde, daß jenes Mimetische, durch welches sie es sagt, als Opakes und Besonderes dem Sagen zugleich opponiert.“ (Ebd.: S. 305) Offen für Irritationen und damit für das ästhetische Verhalten ist aber nur das Subjekt, bei dem noch nicht die Klischees und Sprachschablonen zu geschlossenen Weltanschauungen verschmolzen sind. Gerade die Verschmelzung des Klischees mit der Sprach- oder Praxisschablone schließt den Menschen von den Erfahrungsmöglichkeiten aus. Diese Verschmelzung ist besonders in der Kulturindustrie zu beobachten, wo die verzerrten Wünsche in Erfahrungs- und Sprachschablonen Zuflucht finden. Hier wird strukturell die emotionale Erfahrungsfähigkeit abgeschnitten. Die Verdrängung flüchtet in Form des Klischees in das Amüsement der Kulturindustrie: „Der gegenwärtige Erfahrungsverlust dürfte, nach seiner subjektiven Seite, weithin mit erbitterter Verdrängung der Mimesis, anstelle ihrer Verwandlung, koinzidieren. Was heute in manchen Sektoren der deutschen Ideologie Immer noch musisch heißt, ist jene Verdrängung, zum Prinzip erhoben, und geht über ins Amusische.“ (Ebd.: S. 489)
Die Verwandlung der vorgeistigen Mimesis in Symbolisierung bleibt dem Subjekt so verwehrt. Werbung, Warenangebote und Tabus koinzidieren zu einem konsumistischen Weltbild, fernab irritativer Berührungen durch Kunst. Im Schauermoment ist das Selbstbewusstsein des Subjekts als Subjekt vorgezeichnet. Denn in der ästhetischen Irritation/dem Schauer ist das Potential angelegt, dass die Interaktionsformen zum Bewusstsein kommen. Ein Kennzeichen des ästhetischen Verhaltens ist daher die Offenheit für innere Berührung, für den Schauer, der den Affekt symbolisieren kann und damit Selbsterkenntnis (Stimmiges Selbstnarrativ) ermöglicht: „Jener [Schauer, J. W.], darin Subjektivität sich regt, ohne schon zu sein, ist aber das vom Anderen Angerührtsein. Jenem bildet die ästhetische Verhaltensweise sich an, anstatt es sich untertan zu machen. Solche konstitutive Beziehung des Subjekts auf Objektivität in der ästhetischen Verhaltensweise vermählt Eros und Erkenntnis.“ (Ebd.: S. 490)
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Die Vermählung von Eros und Erkenntnis ist die Vermählung zwischen beiden Sinnebenen, zwischen unterbewusster Matrix und Habitus, zwischen praktischem und unpraktischem Sinn und zwischen Identität und Nichtidentitiät. Sie ist die Vorbedingung einer unentfremdeten Praxis.
3.4 DAS ENTFREMDETE SUBJEKT Entfremdung setzt Einheit voraus. Erst die Annahme einer Einheit macht Entfremdung plausibel. Nun ist die Annahme einer Einheit des Menschen aber mit essentialistischen Untertönen besetzt. Die Entfremdungstheorie steht daher grundsätzlich im Verdacht, essentialistischen Überlegungen anheimzufallen. Dass dies auch geschehen ist, zeigen die zu Beginn dieser Arbeit beschriebenen Versuche über Entfremdung von Aristoteles bis Marx. 43 Jaeggi entledigt sich der essentialistischen Konzeptualisierungen (vgl. Jaeggi 2005) in einer von Honneth eingeleiteten Intersubjektivitätswende, die in ihrer Radikalität neben jedem Essentialismus auch das Nicht-intersubjektive Moment wegwischt,44 ähnlich wie es im Französischen Strukturalismus der Fall ist. Gerade das Entfremdungstheorem braucht aber eine Bestimmung von Subjektivität als Besonderheit, die aus der Allgemeinheit hervorgeht, jedoch kein reiner Abdruck derselben ist. Diese Bestimmung ist unter der Hinzunahme des Konzepts einer inneren Natur möglich. Denn erst mit diesem Theoriemodell wird der tendenziell reproduktive Habitus um eine eigensinnige Komponente erweitert. Einen solchen Zugang zur Entfremdung eröffnet die Verknüpfung der Theorien von Pierre Bourdieu und Alfred Lorenzer. So macht Bourdieu die objektive Struktur und Lorenzer die subjektive Struktur als einen gemeinsamen Strukturzusammenhang menschlicher Praxis durchsichtig. Das Subjekt kann sich daher nur verwirklichen, wenn es seine Interaktionsformen in den herrschenden Interaktionen des Feldes (den gesellschaftlichen Praxismustern) wiederfindet. Die Symbol- und Zeichenwelt eines Feldes muss dazu für die mannigfaltigen Subjekte ausreichend (Sprach-)Symbolisierungen bereithalten, um die besonderen subjektiven Wünsche zur Disposition zu stellen und die Symbolwelten so weit wie möglich allen zugänglich zu machen. Dies wäre die Grundvoraussetzung, um die realen Verhältnisse in den Feldern anders zu organisieren, was erst die Realisierung von Interaktionsformen und d. h. die Lusterfüllung im Sinne der sozialisierten Triebmatrix in Aussicht stellt.
43 Wobei es bei Marx zwei divergierende Lesarten gibt (vgl. Kapitel 1.2.3). 44 Hier greift dieselbe Kritik wie von Busch an Honneth. (vgl. Busch 2003)
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Die Sprachsymbolisierung führt aber nicht direkt zur Triebabfuhr, sondern bedingt zunächst die Haltung, die für menschliches Zusammenleben elementar ist: die Achtung vor der Besonderheit des anderen. Diese Achtung bzw. Anerkennung öffnet den Horizont einer kontemplativen Praxis nach Adorno und einer freiwilligen Selbstbeschränkung, die in praktischer Solidarität und kollektiver Freiheit ihr Glücksversprechen hat. Denn erst wenn das Subjekt eigene Wünsche verstehen und kommunizieren kann, wird eine gemeinsame Trieberfüllung möglich, die die Lust des einen und die Lust des anderen zusammenführt. Wenn die Lust des einen jedoch Unlust für den anderen bedeutet, bleibt nur die selbstgewählte Beschränkung und Sublimierung. Erst so lassen sich Felder denken, in denen die Subjekte ihre besondere Subjektivität begreifen und aneignen können. Die sozialisierte Subjektivität ist das Ergebnis der Dialektik von innerer Natur und den Bezugspersonen (die bereits ihre eigene Sozialisation durch die Felder miteinbringen), während der Habitus das Produkt der Dialektik zwischen Feld und Habitus selbst ist. Lassen sich Habitus und sozialisierte Subjektivität nicht konfliktarm verbinden, dann werden die Praxisanweisungen des Habitus fremd. Die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsdispositionen (Habitus per Definition) sind dann nicht mehr an die Triebmatrix gekoppelt, wodurch sich nur Selbstnarrative ergeben, die subjektferne Identitäten erzeugen. Der unpraktische Eigensinn der Subjektivität wird dann zum Nichtidentischen, während der praktischen Sinn das mit dem Feld Identische bildet. Die Folge dieser Aufspaltung (oder psychoanalytisch: Verdrängung/Desymbolisierung) führt zum Verlust der Autonomie. Subjektivität fällt punktuell aus und an ihre Stelle rücken die objektiven Interaktionen und Handlungsanweisungen der Sprache im Feld: Subjektive Praxis wird zur objektiven Praxis. Diese Vertauschung von Subjekt und Objekt begründet nicht nur den Verlust der Autonomie, sondern auch eine heteronome Praxis, indem das Subjekt bei seinen Denk-, Handlungs-, Wahrnehmungs- und Sprechakten nicht ganz bei sich ist. Symptome dieser Entfremdung des Subjekts sind primär: 1.
2.
3. 4.
Indifferenz: der Verlust der Fähigkeit, eigene Wünsche und Begehren zur Disposition zu stellen. Ohne das Bewusstsein eigener Wünsche lassen sich diese nicht realisieren, was zum Verlust von Autonomie führt: Das Subjekt ist nicht mehr in der Lage, Interaktionsformen zu realisieren, da es sie nicht symbolisieren kann. Das Feld ermöglicht keine Handlungsspielräume und so bleibt nur die heteronome Praxis. Kälte: Die Zeichenwelt des Feldes vermittelt keine emotionale Nähe. Die Welt und das Selbst erscheinen kühl und leidenschaftslos. Depression: Wut, Aggression und Ärger, die sich aufgrund der Entfremdung bzw. der nichtrealisierbaren Interaktionsformen entwickeln, wenden sich gegen das Selbst. Daraus entsteht Depression.
Das entfremdete Subjekt im Feld | 295
5.
Gesellschaftliche Entfremdungsphänomene: Ohne das Bewusstsein eigener besonderer Interaktionsformen kann das Subjekt auch nicht die Interaktionsformen der anderen erkennen und achten. Denn dieser Prozess der gemeinsamen Erfahrung einer Interaktionsform, in der beide Interaktionsteilnehmer zugleich Subjekt und Objekt sind, ermöglicht erst Achtung und Aufmerksamkeit für die Besonderheit der Subjektivität des anderen. Die Entfremdung des Einzelnen hängt mit der Entfremdungssituation im Feld ab.
Diese Entfremdungssymptome sind bezogen auf die leidvollen Kategorien von Entfremdung. Dabei muss klar sein, dass Entfremdung auch der Motor für persönliche und gesellschaftliche Entwicklung ist. Zum einen ist das Kind erst durch Aneignungsstörungen der Objekte (z. B. eine ausbleibende Mutternähe) genötigt, sich aktiv zu betätigen, und zum anderen ist Entfremdung der Motor für die Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse und damit von Feldern. So lässt sich Entfremdung und Aneignung auch als permanenter Wechsel von Verstetigung und Aneignung von Strukturen verstehen. Bleibt allerdings die Aneignung aus oder findet sie nur noch in Form von Schablonen statt (falsche Aneignung), dann bleiben die Welt- und Selbstverhältnisse gestört und Entfremdung wird auf Dauer gestellt. Können hingegen Subjekt- und Objekt-Repräsentanzen in einer Interaktionsform symbolisiert und realisiert werden, dann bleibt für den Moment der Wunscherfüllung die Weiterentwicklung aus. Da aber Interaktionsformen nicht permanent realisiert werden können, ist der Mensch auch stetig zur habituellen Anpassung genötigt.45 Kann sich der Habitus nicht an die subjektiven Besonderheiten anpassen, so wird das entfremdete Subjekt seinen Eigensinn im Feld nicht erfahren können. Erst die Erfahrung von Eigensinn bedingt Irritation und damit die Möglichkeit von individueller (Habitus) und kollektiver (Feld) Transformation. Die Irritation verrät latente Lebensentwürfe, die mit dem manifesten Leben nicht identisch sind. Neben der Transformation von Habitus und Feld bzw. der Doxa kann die Irritation aber auch in falscher Praxis aufgehoben werden. Entfremdung führt dann nicht zu Veränderung, sondern zu Verstetigung der Felder. Der verdränge Wunsch kehrt als Klischee in seiner Eigenart (oft als sein Gegenteil) zurück. Er äußert sich in unreflektiertem symptomatischen Verhalten. Diese falsche Praxis als Folge der Entfremdung von Matrix und Bewusstsein kann sich 45 Durchaus zu vergleichen mit der idealisierten Hegel’schen Herr-Knecht-Dialektik. Während der Herr seine Interaktionsformen beständig realisieren kann, bleibt er in der Entwicklung stehen, er genießt nur. Gleichzeitig arbeitet der Knecht für den Herrn, er produziert die Genussgüter. Seine Arbeit ist die ständige Anpassung und Weiterentwicklung, um die Interaktionsformen entwickeln zu können, die ihm Befriedigung vermitteln sollen.
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mit den Sprachschablonen und den Erlebnisschablonen zum falschen Ich verklammern. In dieser schwer zu lösenden Verbindung werden Ideologien, Irrationalitäten und Rationalisierungen im Feld zur vermeintlichen Wahrheit verklärt und die Doxa (Fetisch/Bann) verstärkt. Aufgehoben mit falscher Befriedigung und mit den leeren Zeichen im Feld, bleibt dem entfremdeten Subjekt weder seine Irritation noch seine erfüllende Praxis. In diesem Fall bleibt die subjektive Praxisschicht im Feld bloß unpraktischer Sinn bzw. Nichtidentisches. So wird einsichtig, dass erst die Entfremdung eine Instrumentalisierung im Sinne der Herrschaft im Feld ermöglicht. Die Felder sind nicht neutral, sie sind Spielfelder auf denen sich soziale Kämpfe um die besten Positionen zutragen. Da Symbole im Feld entweder als Bedeutungsträger oder als leere Zeichen fungieren, bieten sie nur einer bestimmten Gruppe von Subjekten Symbolisierungen an, während die andere Gruppe für das Symbol keine symbolische Qualität hat, dieses also nur als Zeichen fungiert. Dennoch sind alle Bestrebungen zu den Objekten, die als Symbole oder als Zeichen fungieren, nicht dem Willen der Subjekte zu verdanken, sondern der herrschenden Idee bzw. den Herrschenden im Feld (bzw. dem Ich-Ideal). Diese bestimmen über den Wert und damit über die Ordnung der Symbole und Zeichen. Sie bestimmen aber nicht bewusst oder willkürlich, sondern aus ökonomischen Gründen. Daher haben die Symbole neben ihrer Eigenschaft als Verständigungsformel auch noch die Eigenschaft als Distinktionsmittel. Symbole/Zeichen haben daher nicht nur unterschiedliche Symbolisierungsqualität, sondern sind auch Unterscheidungsmerkmal. Aufbauend auf den realen Unterschieden bzw. Herrschaftsverhältnissen sind Symbole/Zeichen im Feld verteilt. So sind Symbole oder auch Ersatzsymbole beispielsweise nur einer Gruppe der Orthodoxen im Feld zugänglich, während die Häretiker ebenfalls versuchen, einen Zugang zu ihnen zu bekommen. Erst wenn die Sprache im Feld für eine große Anzahl von Feldteilnehmern sprachsymbolische Qualität erlangt, kann eine Diskussion über die gerechte Verteilung des realen Zugangs zum Symbol gelingen. Auf dieser Grundlage lassen sich dann reale Verhältnisse verändern. Geht man mit Bourdieu davon aus, dass soziales Kapital akkumulierte soziale Energie ist, bedeutet dies, dass Besetzungen von Symbolen, die dem Subjekt nicht gehören, die es aber vielleicht gerne besäße, zur Anerkennung des akkumulierten Kapitals des Besitzers führen. Einsichtig wird dieser Befund, wenn man sich konsumistische Verhaltensweisen anschaut. Die Ersatzsymbole anstelle des wahren Triebwunschs müssen im Feld relativ knapp sein, sonst eignen sie sich nicht als Ware auf dem Markt. Die wahren Wünsche, die im Feld vielleicht sogar für alle zu symbolisieren wären, werden verdrängt und gegen Ersatzsymbole/Erlebnisschablonen eingetauscht: Diese Objekte werden libidinös besetzt. Diese besetzten Objekte können ein Auto, ein Gedicht oder auch eine bestimmte Verhaltensweise sein. In ihrer (Ersatz-)symbolischen Qualität stehen sie in falscher oder richtiger Beziehung zur Triebmatrix. In beiden Fällen wird die psychische Energie zur sozia-
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len Energie, wenn das Objekt nur einem anderen zur Verfügung steht. Derjenige, dem es gehört, dem kommt die Anerkennung zu, die durch die Akkumulation von sozialer Energie zur Herrschaftsposition im Feld führt. Daraus ergibt sich eine Reihe von Annahmen. Einerseits bedingt Entfremdung die Ausbeutung psychischer Energie. Dadurch, dass nicht die realen Wünsche und Bedürfnisse, sondern Ersatzbedürfnisse symbolisiert werden, ist das Subjekt nie ganz bei sich selbst. Es ist unentwegt dabei, Objekte libidinös zu besetzen, welche die Interaktionsform aber nicht so realisieren, wie sie es versprechen. Anderseits brauchen die Felder Ersatzsymbole, um ihre Herrschaftsverhältnisse reproduzieren zu können. Vertieft man sich in die utopische Vorstellung eines herrschaftsfreien Feldes, das keine Symbole/Ersatzsymbole zur Distinktion benötigte, dann könnte dieses Feld durch die Enttabuisierung realer Wünsche und Bedürfnisse die ReSymbolisierung erlauben, die Herrschaft minimieren würde. Entfremdung ist daher eine Bedingung von Ungleichheit und Herrschaft im Feld. Jede Entwicklung des Feldes schlägt sich auf die nächste Generation von Subjekten und ihre Interaktionsformen nieder. So ist die Triebmatrix (das Ensemble von Interaktionsformen) Produkt der Dialektik von innerer Natur und Bezugsperson(en). Das bedeutet, dass die Veränderung der Felder der Bezugspersonen sich auch auf die Bildung der Interaktionsformen der Kinder auswirkt. Daraus ergibt sich, dass die Besonderheit der Subjekte, ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse, immer einem Stand der Geschichte der Felder entspricht. So etwa ist es in den meisten Feldern sanktioniert, dass Kinder geschlagen werden. Daraus ergeben sich gewaltfreiere Interaktionsformen, was zum einen die Beschädigungen der Interaktionsform im Feld langfristig reduziert und zum anderen Konfliktlösungen nicht durch körperliche Gewalt einübt, sondern durch Diskussionen bzw. Kompromissen. Die Triebmatrix ist in jeder Generation eine andere und stets an den Stand der Felder gekoppelt. Die Entfaltung ist dann von den Positionen im Feld abhängig. Lassen sich die Interaktionsformen wunschgerecht realisieren, dann entfalten sich die menschlichen Anlagen, und der Mensch löst sich von der Entfremdung, soweit es die jeweilige Entwicklung des Feldes erlaubt. Jede ontogenetische Entwicklung stößt sozusagen an die Grenzen der phylogenetischen Entwicklung im Feld und erweitert diese. Aber erst wenn der Stand einer kontemplativen Praxis der Achtung und Aufmerksamkeit für die Besonderheit der Subjekte erreicht ist, in der Bedürfnisse realisiert werden und Fähigkeiten zum Wohle der Allgemeinheit eingesetzt werden, ließe sich ein Feld ausmachen unter dem Primat: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach seinen Bedürfnissen.“ (Marx 1987[1875]: S. 19) Somit wäre Entfremdung im Feld überwunden. Unabhängig davon, ob eine solche Einrichtung der Felder möglich oder wünschenswert wäre, bleibt festzuhalten, dass die Subjekte in den Feldern immer mit mehr oder weniger Entfremdung leben. Entfremdung ist darüber
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hinaus nicht nur die Vorbedingung von Kapitalakkumulation und Ungleichheit, sondern auch von Widerstand und Befreiung. 3.4.1 Fünf Beispiele des entfremdeten Subjekts Um das vorliegende komplexe Theoriegebäude anschaulicher zu machen, werden im Folgenden fünf kurze Beispiele der hier entwickelten Entfremdungstheorie dargestellt. Die Beispiele sind an einen fiktiven Lebenslauf gekoppelt. Dieser Abschnitt beginnt daher mit einem Beispiel aus der Kindheit, im Bildungsgang vom Kinderzimmer bis in die Schule, gefolgt von einem Beispiel aus der Stadt und ihrer architektonischen Gebilde, dem politischen Feld, der Kunst und Kulturindustrie und am Ende beschreibe ich, wie Heimat und Entfremdung zusammengedacht werden können. Es gilt zu bedenken, dass die Beispiele idealisiert sind und in dieser reinen Form nicht in der Realität vorkommen, sondern wesentlich komplexer sind. Sie dienen hier lediglich der Veranschaulichung und Festigung des Theoriegebäudes. Kindheit: Vom Kinderzimmer in die Schule In der Mutter-Kind-Dyade vermittelt die Bezugsperson bereits ihre eigene gebrochene Subjektivität, und das heißt ihre eigene Feldgeschichte an das Kind. Das Kind ist daher von Geburt an mit den Feldern der Mutter konfrontiert und bildet dementsprechend seine erste Persönlichkeitsstruktur aus. Die erste Grundstruktur des Es verknüpft so motorische Abläufe mit der sinnlichen Erfahrung der Lebenswelt: „Die Aktionseinheit im mütterlich-kindlichen Reiz-Reaktionsgeschehen findet im embryonalen Organismus ihren Niederschlag in ‚sensomotorischen Engrammen‘, das heißt in motorische Aktivität und sinnliche Erfahrung umgreifenden organismischen Formeln.“ (Görlich/Lorenzer 2013: S. 141) Das Kind bildet diese bestimmten ersten Interaktionsformen, die Basis der Affekte, im Zusammenspiel mit der Bezugsperson, geordnet nach Lust- und Unlusterfahrungen. Dieses gemeinsame Spiel wird aber von der Bezugsperson dominiert. Dem Kind bleibt nur passiv die Annahme oder die Verweigerung der angebotenen Interaktionen. Erst im Umgang mit den Gegenständen wird das Kind aktiv, es eignet sich die eigenen Interaktionsformen spielerisch an, indem es die menscheneigene Fähigkeit zur Symbolisierung einsetzt. Die Gegenstände sind jedoch widerständig, sie verlangen eine spezielle Art der Benutzung, um sich aneignen zu lassen. Aneignung und Symbolisierung sind nur durch ein Einlassen und Überlassen an den Gegenstand möglich. Das Spiel mit den Gegenständen ist ein Wechselspiel, bei dem der aktive Akt der Aneignung gleichzeitig eine Einübung in die Formgebung des Gegenstands verlangt. Die Aneignung der kulturellen Gegenstände ist daher verbunden mit der Übernahme ihrer eigenen Funktionslogik. Der Stuhl verlangt eine bestimmte Haltung des Körpers, der Ball bewegt sich nur auf eine bestimmte Weise und das Gitter
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des Kinderbetts lässt sich anfassen, aber nicht überwinden. Was vom Kind so aktiv mit Bedeutung versehen wird, ist Resultat einer entwickelten „kulturelle(n) Praxis.“ (Ebd.: S. 145) Mit dieser Aneignung vermitteln sich Kultur und Individuum. Subjektivität ist daher nicht nur das Ergebnis einer passiven Subjektivierung, sondern auch ein Prozess der aktiven Objektivierung, beide Seiten der Persönlichkeitsentwicklung werden durch den Prozess der Aneignung geformt. Wie das Kind Dinge zu seinen Objekten macht, wie es sie aneignet, prägt die Entwicklung seiner Subjektivität. Die Gegenstände aber geben die Form der Aneignung vor und bestimmen über die tiefste menschliche Affektschicht die Subjektivität. Die kulturellen Gegenstände sind dabei nicht wahllos vom Kind ausgesucht, sondern abhängig von den Erziehungspersonen und der mit ihnen verbundenen Anordnung der Gegenstände und Personen im Raum, wie auch Bourdieu betont: „Der bewohnte Raum – in erster Linie das Haus – ist der bevorzugte Ort der Objektivierung der Erzeugungsschemata, und durch die Einteilung und Hierarchien, die es unter den Dingen, Personen und Praktiken herstellt, trichtert dieses dinggewordene Rangordnungssystem die Prinzipien für das kulturell Willkürliche konstitutiven Klassifizierung ein und verstärkt sie unablässig.“ (Bourdieu 1993: S. 141)
Die Einrichtung des Kinderzimmers erfolgt nach den pädagogischen und kulturellen Interessen der Eltern. Zum Beispiel schlägt sich der Familienbesitz im Kinderzimmer nieder, so wird die Weitergabe von „Werten, Tugenden und Kompetenzen“ geregelt. Der Raum und das Mobiliar sind in ihrer Größe, Höhe oder Position „gegenständliche Gestalt“ und prägen das Kind „vermittels zutiefst unbewußter körperlicher Empfindungen und Erfahrungen.“ (Bourdieu 2003: S. 137) Die Gegenstände können kindgerecht und pädagogisch wertvoll sein, aber sie können auch bereits in eine bestimmte Genderpraxis einüben, man denke nur an Farben und die Spielzeugauswahl zwischen Puppe und Auto. In der Gestaltung des Kinderzimmers gehen so bereits Vorannahmen an eine Natur des Kindes ein, die einer bestimmten sozialen Ordnung folgt, wie Alberth und Jörges beschreiben: „Die Rede vom Kinderzimmer wird stets begleitet von einer Reihe von Kalkülen im Hinblick auf die Bearbeitung eines Kindes, die ohne bestimmte Vorannahmen über die Natur des sich entwickelnden Kindes keinen Sinn ergäben. So reguliert die Verortung der Kindheit nicht die Kindheit allein, sondern reflektiert weit darüber hinaus die Konstituierung abendländischer sozialer Ordnung.“ (Alberth/Jörges 2008: S. 2702–2703)46 46 Die genauere Ausführung von Alberth und Jörgens lautet: „Mit großem rhetorischem Aufwand wurden besondere Bedürfnisse und Eigenarten des Kindes hervorgebracht. So zum Beispiel seine Unschuld im Allgemeinen und sein Bedürfnis nach ruhigem Schlaf im
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Je nach Feld (vermittelt durch die Bezugspersonen) soll das Kind ungestört seine Natur entwickeln können, gleichzeitig soll es in die gewünschten Felder eingepasst werden: „Seiner bildsamen Natur entsprechend sollte und soll das Kind hier kontrolliert, individualisiert und diszipliniert werden, kraft seiner schöpferischen Natur seinen Geschmack entwickeln und sein Selbst konstituieren.“ (Ebd.: S. 2707) Die Gegenstände des Kinderzimmers sind dementsprechend angeordnet, ausgewählt nach ökonomischen und kulturellen Erwägungen. So wird der Raum gestaltet, in dem das Kind seine ersten Symbolisierungen vornimmt. Kinderzimmer ist im durchaus erweiterten Sinne zu verstehen, da es auch Haushalte ohne Kinderzimmer gibt und Situationen, in denen das Kind seinen spielerischen Aktivitäten außerhalb des Kinderzimmers nachgeht. Das Kinderzimmer umfasst die Räume und Umgebungen, in denen das Kind lebt. Das Kind wird durch den Raum in die kollektive Praxis eingeführt, so ist eine rosa Puppe bereits ein sehr feldspezifischer Gegenstand. Wie alle Gegenstände, so wird auch die Puppe nicht nur als kollektiver Bedeutungsträger und Handlungsentwurf verarbeitet, denn das Kind entwickelt ja seine eigene individuelle Symbolisierung, seinen eigenen Bedeutungszugang. Die innere Lebenswelt (die Interaktionsformen) wird so mit den Gegenständen zu eigenen Handlungsentwürfen verknüpft. Das Kind kann daher aktiv in die äußere Welt eingreifen und diese zur Befriedigung der eigenen Wünsche umgestalten. In den angeeigneten Gegenständen werden so individuelle und kollektive feldspezifische Bedeutungen verknüpft. Das Kind bildet seine erste Schicht von Subjektivität und das Ich beginnt sich zu formen, so entstehen die ersten sinnlich-symbolischen Interaktionsformen. Es wird in die Lage versetzt, die Gegenstände autonom anzuordnen. Es kann dadurch Lebensentwürfe erproben, herstellen, verändern. Kurz: Das Kind spielt, um sich im Spiel in die lustvollen Momente zurückzuversetzen – auf symbolischer Ebene. Das Feld ist von der Geburt an an der Entwicklung des Kindes maßgeblich beteiligt. Seine Bezugspersonen entscheiden über die Bildung bestimmter Interaktionsformen, seine Gegenstände über die ersten Symbolisierungen, die das Kind vorBesonderen, die seinen besonderen Schutz in Rechnung stellen oder seine nicht vorhandene Moralität, die seine sorgsame Zucht und Erziehung auf den Plan ruft [...]. Auf solchen Figuren des Kindes Tabula Rasa oder der Terra Inkongnita fußen nicht wenige aktuelle Debatten um die Natur des Kindes im Sinne seiner altersspezifischen Möglichkeiten, wie seiner zunehmend exponierten Autonomie, seiner selbstkonstituierenden Fähigkeiten oder seines Geschmacks, die sich wiederum stark an die Verortung der Kinder binden [...]. Es werden also insgesamt Vorannahmen über seiner Natur entsprechende Bedürfnislagen des Kindes getroffen, die seine Überstellung in das Kinderzimmer organisieren und dessen Notwendigkeit für die Entwicklung des Kindes bis in die Gegenwart festklopfen.“ (Alberth/Jörges 2008: S. 2704)
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nimmt. Für Bourdieu ist der primäre Raum eine entscheidende Komponente für die Formgebung des Habitus: „Eine der Funktionen der Primärerziehung, und im besonderen des Ritus wie des Spiels, die oft strukturell gleichartig gebaut sind, könnte darin liegen, die dialektische Beziehung herzustellen, die zur Einverleibung eines nach den mythologisch-rituellen Gegensätzen strukturierten Raumes führt. Das Verhältnis zum eigenen Körper ist immer durch den Mythos vermittelt: die fundamentalsten, folglich allgemeinsten Körpererfahrungen […] sind gesellschaftlich bestimmt und dadurch Veränderungen unterworfen.“ (Bourdieu 2009: S. 193)
Dass der Ritus und das Spiel strukturell homolog sind, bemerkt Bourdieu richtig, denn in beiden Fällen wird eine Symbolisierung produziert. Der Unterschied ist, dass das Spiel eine eigenmächtige und das Ritual eine heteronome kulturelle Praxisform darstellt. Im Spiel werden ja vom Kind eigene Symbolisierungen spielerisch entwickelt und verfeinert, während der Ritus eine gesellschaftliche Einübungsform in eine bestimmte Praxis ist. Die gesamte Gestaltung des Kinderzimmers und seiner Objekte ist durchzogen von Verhaltensanweisungen (auch mit Ordnung und Herrschaft), die das Kind durch seine Symbolisierung annimmt und verinnerlicht. Das Kinderzimmer und seine Gegenstände konstituieren so die erste Schicht von Subjektivität. Die Vorlieben, Wünsche und Phantasien bleiben an diese erste Stufe der Subjektwerdung gekoppelt. Habitus und Hexis bilden sich dem Feld der Bezugspersonen entsprechend. An dieser Stelle sind Habitus und Subjektivität noch wesentlich ungeschieden, wenn man davon ausgeht, dass der Sozialisationsverlauf bis dahin unproblematisch verlief. In der Spracheinführung dann verbinden sich Interaktionsformen und Wörter zu einer sprachsymbolischen Interaktionsform, sie bilden eine bewusste Praxisfigur. Das Kind kann so auf einem abstrakten Niveau probehandeln, ohne die Gegenstände dazu bei sich zu haben. Es kann gewissermaßen die Gegenstände vor sein inneres Auge rücken, sie anordnen, damit spielen und schließlich die lustbringenden Situationen situationsunabhängig imaginieren. Alle möglichen Formen von Praxis können so imaginiert werden. Durch diese unendlichen Möglichkeiten der Anordnung wird Subjektivität, im Sinne von autonomem Handeln, möglich. Das Kind erlangt langsam die Fähigkeit, sich selbst abzugrenzen, Folgen des eigenen Handelns zu imaginieren und auch mit anderen Subjekten zusammen zu planen und damit im Sinne seiner eigenen Interaktionsformen Zukunft zu gestalten. Die Sprache der Felder, bzw. die sprachliche Doxa, erlaubt allerdings nur einen gewissen Rahmen bewusster Praxisfiguren, also sprachlicher Muster. Was nicht erlaubt ist, fällt dem Tabu anheim. Und auch hier sind es zunächst die Bezugspersonen des Kindes, die ihre Sprache an das Kind weitergeben, mit all ihren Tabus und Zensuren. Nun ist die Phantasie des Kindes noch eng an die Wünsche gekoppelt, so
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dass unpassende Wörter und Sätze zusammengesetzt werden. Die Bezugspersonen werden, im Rahmen ihres Habitus und damit im Sinne der Doxa, Zensur üben. Die Durchsetzung der sprachlichen Doxa der Eltern erfolgt einerseits über Zwang, wie materielle Gewalt, körperliche Gewalt oder andere Strafen. Die Habitualisierung der Grenzen findet andererseits auch über Anerkennung, wie verschiedene Formen von Lob und Belohnung, statt. Mit der Belohnung sammelt das Kind erstes soziales Kapital bei seinen Eltern, das es auch gezielt zu akkumulieren sucht, etwa wenn es energisch einfordert: „Schau mal, wie ich das gemacht habe!“ So bildet sich das erste Selbstnarrativ des Kindes und damit die erste Form der Identität. Mit der Übernahme der sprachlichen Doxa werden so gleichzeitig die Grenzen des Denkens und Handelns zur Identität. Alle Interaktionsformen, die darin keinen Platz finden, werden vom Kind desymbolisiert. Durch die Einverleibung der sprachlichen und praktischen Grenzen werden alle Grenzüberschreitungen mit Scham, Angst und Unwohlsein verbunden. Bei den desymbolisierten Interaktionsformen wird die Sinnlichkeit demgemäß unpraktisch für das Feld. Das Kind kann keine Übereinstimmung zwischen Identität und Subjektivität herstellen – es bleibt seiner Praxis in bestimmten Punkten fremd. Die Äußerungen, Bewegungen, Phantasien und Wünsche werden tabuisiert und sind damit weder präsentativ-symbolisch noch sprachsymbolisch einzuholen. Die desymbolisierte Interaktionsform spaltet sich in das Klischee (die unbewusst gewordene Interaktionsform) und das Sprachzeichen (das denotierte Sprachsymbol). In der Wiederkehr des Klischees, in der Form der Neurose, wird das symptomatische Verhalten dann mit Sprach- und Erlebnisschablonen verknüpft. Das Nichtidentische bzw. der unpraktische Sinn kehrt so in symptomatischem, merkwürdigem und unreflektiertem Verhalten wieder und wird mit einem falschen Namen in der Doxa rationalisiert. Die Rationalisierung des verzerrten Wunsches als Identifizierung des Nichtidentischen mit einer falschen Identität entspricht der Befürchtung Adornos, mit Begriffen das Nichtbegriffliche falsch zu identifizieren (vgl. 1.2.8). Diese frühkindlichen Entwicklungsschritte und Brüche in der Ausbildung von Subjektivität können vor allem in der Schule, in einem institutionellen Rahmen, verschärft werden. Die Schule erfüllt u. a. drei gesellschaftliche Aufgaben: Disziplinierung, Politisierung und Ökonomisierung. Alle drei Punkte sind miteinander verwoben. So erfüllt die Disziplinierung eine Voraussetzung der ökonomischen Nutzbarmachung von Humankapital, während das ökonomische Feld gleichzeitig Einfluss auf den Unterricht und die Themen nimmt, um ökonomische Ideologien zu vermitteln. Das politische/kulturelle Feld wird hingegen weiter vom ökonomischen Feld zurückgedrängt. Mit dem Rückgang des Einflusses des politischen und kulturellen Feldes verschwimmt auch das Ziel der Bildung im Sinne einer Persönlichkeitsbildung und ihren Merkmalen Toleranz, solidarisches Handeln und Demokratiefähigkeit.
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Die Schule vermittelt daher ein bestimmtes umkämpftes Interesse. Bourdieu sieht die Schule allgemein als Institution zur Produktion von kollektiv unbewussten Handlungsschemata: „In einer Gesellschaft, in der eine Schule das Monopol der Vermittlung von Bildung innehat, finden die geheimen Verwandtschaften, das einigende Band der menschlichen Werte (und zugleich der Lebensführung und des Denkens) ihren prinzipiellen Nexus in der Institution der Schule, fällt dieser doch die Funktion zu, bewußt (oder zum Teil auch unbewußt) Unbewußtes zu übermitteln oder, genauer gesagt, Individuen hervorzubringen, die mit diesem System der unbewußten (oder tief vergrabenen) Schemata ausgerüstet sind, in dem ihre Bildung bzw. ihr Habitus wurzelt. Kurz, die ausdrückliche Funktion der Schule besteht darin, das kollektive Erbe in ein sowohl individuell als auch kollektiv Unbewußtes zu verwandeln.“ (Bourdieu 1970: S. 139)
Bourdieu beschreibt, dass das unbewusste Schema des Habitus, also die unreflektierten Verhaltensweisen, durch die Schule in den Leib eingeschrieben werden. Sieht man von der eigentümlichen Verwendung des Begriffs des kollektiven Unbewussten ab (vgl. 3.2.4), so lässt sich Bourdieu mit Lorenzer konkretisieren. Denn Schule vermittelt nicht eine unbewusste Verhaltensmatrix, sondern eine bewusste, die aber ein individuelles Unbewusstes/Vorbewusstes bedingt. Kommen die Kinder mit ähnlichen Sozialisationsgeschichten in die Schule, wenn zum Beispiel die Eltern ähnlichen Feldern angehören, dann ähneln sich einzelne desymbolisierte und symbolisierte Interaktionsformen, von einem kollektiven Unbewussten kann allerdings nicht gesprochen werden. Die schulische Vermittlung der Disziplin umfasst eine bestimmte Doxa, die in den pädagogischen Zielen des Staates (gebrochen durch die Lehrer/innen und Eltern) begründet liegt. Diese Vermittlung, die vor allem eine sprachliche ist, 47 produziert aber nicht nur Desymbolisierungen, sondern setzt auch an diesen an. Durch die Vermittlung einer bestimmten Doxa fördert das schulische Feld so nicht die freie Entwicklung von Interaktionsformen bzw. die reflexiven Ressourcen der Individuen, sondern die Einpassung in das Feld. Es ist kein Zufall, dass der so vermittelte Habitus bzw. die Identität mit den späteren Feldern oft sehr kompatibel ist. Das schulische Feld ist weniger eigenständig als vielmehr vom politischen Feld verwaltet. Da der Einfluss des ökonomischen auf das politische Feld mehr oder weniger groß ist, sind auch die Wünsche aus dem ökonomischen an das politische Feld in unterschiedlicher Weise in den Schulen repräsentiert. Wenn aus dem ökonomi47 Durch Imperative wie: Im Unterricht wird nicht gequatscht! Sitz gerade! Das sagt man nicht! Wie sagt man? Das hast du gut gemacht! Da müssen wir deine Eltern anrufen! Usw.
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schen Feld etwa die Forderung an die Schulen gerichtet wird, den Lehrplan stärker auf wirtschaftliche Interessen hin auszurichten und diesem Wunsch Folge geleistet wird, dann verändern sich das Wissen und die Kenntnisse der Schüler, auch können andere Fächer in den Hintergrund geraten, die dann keine Interaktionsformen mehr symbolisieren, wie Musik, Theater, Kunst u. a. Beklagen sich allerdings die Orthodoxen im ökonomischen Feld, dass etwa die Kinder zu undiszipliniert sind, dann könnten durch eine Verschärfung der Disziplinierung ganze Praxisformen aus der Symbolisierung herausfallen und eine Verstärkung von symptomzentriertem Verhalten an deren Stelle treten. Schüler/innen wird dann weniger eine solidarische als vielmehr eine egozentrische instrumentell-utilitaristische Praxis vermittelt. Die Schule ist eine Institution, in die die Kräfteverhältnisse des ökonomischen und politischen Feldes einfließen. Vermittelt werden diese aber durch die Akteure im schulischen Feld (Kultusminister/innen, Eltern, Lehrer/innen und Schüler/innen). Die daraus entstandene Doxa gibt die Praxis vor, in denen Unterrichtsmaterial und -Methode vermittelt werden. Diese Ausrichtung der Lehrpläne und die Umsetzung des Unterrichts spielen dann eine entscheidende Rolle bei der Frage, ob eine sinnlich-unmittelbare Praxis mit Sprache verbunden wird, oder ob bereits an Neurosen angeknüpft wird, die das Kind zum guten Schüler oder zur guten Schülerin machen, aber gleichzeitig die Sinnlichkeit verkümmern lassen. Schüler/innen ohne einen sinnlichen Bezug zu ihrer Praxis und zu ihrer Sprache finden sich dann im Feld emotional nicht wieder. Der Lernstoff wird vollständig durch das Mittel Strafe und Belohnung vermittelt, die frühen Bedürfnisse treten in den Hintergrund und kehren allenfalls als Neurosen wieder. Das kindliche Subjekt gerät in eine entfremdete schulische Praxis, obwohl es dabei im Sinne ökonomischer und politischer Feldanforderungen durchaus erfolgreich sein kann. Der Raum und die Stadt Die städtische Architektur wird von ihren Bewohner/innen und Besucher/innen auf der Ebene des Sinnlich-Symbolischen wahrgenommen. Denn die Stadt wird ästhetisch erfahren, und damit ist die Stadtarchitektur an die präsentativen Symbole gebunden. Außerdem, der Stadtbesucher mag das bestätigen, scheint es, dass die Einwohner bestimmte Homologien aufweisen. Dieser Zusammenhang von übergreifendem Habitus bzw. Identitäts-Merkmalen, die sich sicherlich auch bis in einzelne Stadtteile differenzieren ließen, verweist darauf, dass es zwischen der Stadt und seinen Einwohnern eine Wechselbeziehung geben muss. Diese Wechselbeziehung zwischen städtischer Umwelt und seinen Bewohnern prägt das gemeinsame Symbolsystem präsentativer Symbole. Durch das Erleben der Stadt erschaffen die Einwohner immer wieder gemeinsame Symbolisierungen, sie machen sich vertraut und habitualisieren die verhaltensanweisenden Vorgaben der städtischen Architektur. Die Lebenspraxis und der Ort stehen daher in dialektischer Beziehung. Einerseits prägen die Verhaltens- und
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Handlungsvorgaben der Stadtarchitektur früh die Interaktionsmuster, andererseits geben die Einwohner der Stadt und ihrer Architektur eine individuelle und kollektive Bedeutung. Diese Bedeutungen bilden sich in den architektonischen Symbolen, die aber auch zur Regulation sozialer Prozesse dienen. „(A)rchitektonische Gebilde“ (Lorenzer 1977: S. 143) haben demnach eine instrumentelle (Handlungsanweisung) und eine symbolische Funktion (Verständigungsformel).48 Während ein Gebilde immer eine instrumentelle Funktion hat, ist die symbolische Funktion nicht immer gegeben. So kann ein Gebäude eine instrumentelle Funktion (zum Beispiel als Behausung) haben, ohne eine symbolische Qualität zu besitzen. Symbolische Qualität hat das Gebilde nur, wenn es als „Artikulation menschlicher Lebenspraxis“ (Ebd.: S. 144) fungiert. Der Mensch muss seine lebenspraktischen Bedürfnisse, seine innere Interaktionsmatrix, im architektonischen Objekt erleben können. In einer ungestörten Wechselbeziehung von Praxis und Regulierung verläuft das Erleben bruchlos. Lorenzer macht das am IdealBeispiel eines Nomadenzeltes als Ort deutlich: „Das Nomadenzelt ist nicht nur menschliche Behausung in der Weite der Steppe, sondern bringt diese weitschweifende Lebenspraxis selbst in der Bildung eines Ortes zur Darstellung. Das Zelt, in dem sich die Ortsbildung konkretisiert, ist nicht nur das Produkt einer Lebenserfahrung, bei der die Weite dieses Lebensraumes in die Struktur der Behausung eingeht, sondern wird Mittel der Einübung in die Lebenspraxis, wird Handlungsanweisung. Menschliche Lebenspraxis als nomadische Lebenspraxis wird mittels dieser Umweltbildung, genauer gesagt, dieser ‚Ortsbildung‘ einreguliert.“ (Ebd.: S. 144)
Die Lebenspraxis bildet den Ort und dieser wirkt zurück auf die Lebenspraxis. Diese Dialektik macht deutlich, warum in der idealisierten Beispielsituation die Praxis den Interaktionsformen entspricht. Die Behausung hat eine instrumentelle Funktion, eben als Behausung zu dienen, und eine symbolische Funktion als gemeinsamer Ort. Dieser Ort als architektonisches Gebilde vermittelt das SinnlichAtmosphärische mit der instrumentellen Notwendigkeit. Die Lebenserfahrung – die Interaktionsformen – gehen in den gemeinsamen Ort über und der Ort reguliert die Bildung der Interaktionsformen zukünftiger Generationen. Der Ort bildet sich so über Generationen relativ bruchlos als Verständigungssymbol, welches von allen
48 Lorenzer schreibt davon, dass die Stadt immer als Ansammlung aller architektonischen Gebäude verstanden werden muss. Demgegenüber ist anzumerken, dass durchaus auch einzelne Stadtansichten, Innenräume und Plätze eine eigene architektonische Qualität haben können. Das heißt, dass sowohl die Stadt als Ganzes wie auch ihre Teile symbolische Qualität annehmen können. So sieht es auch Gert Kähler. (Vgl. Kähler 1981: S. 17)
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geteilt und verstanden wird. Das Nomadenzelt als Ort dient so als Handlungsanweisung und als Verständigungssymbol. In der modernen Stadt ist dieser Zustand von Ortsbildung wesentlich komplexer, aber auch hier gilt für Lorenzer der ethische Imperativ, dass sinnlichunmittelbare Interaktionsformen ermöglicht werden sollten: „Wenn die gebaute Stadtumwelt angemessen ist, weil sie den Phantasiebedürfnissen der einzelnen entspricht, dann wird ein persönliches, affektiv lebendiges Engagement möglich – dann öffnen sich die Individuen ihrer Umwelt und auch ihrer Mitwelt gegenüber.“ (Lorenzer 1968: S. 72–73)
Für Lorenzer müssen die Gebilde daher gezielt in Verständigung als Symbol hergestellt werden: „Nur diejenigen verhaltensregulierenden Gebilde, die auf dem Niveau von Symbolen und das heißt der Ebene sinnvoller, mit Bewußtsein hergestellter Handlungsanweisungen sich befinden, vermögen individuelle Interessen und Gesamtinteresse, vermögen menschliche Bedürfnisse und Realitätsanforderungen zu vermitteln.“ (Lorenzer 1977: S. 144)
M. E. sind aber auch architektonische Gebilde, die nicht gezielt und bewusst auf das Gesamtinteresse hin errichtet wurden, nachträglich symbolisierbar. Es gilt, dass die Stadtumwelt, egal wie angemessen oder unangemessen sie einst war, angeeignet werden kann. So lassen sich einige nichtsymbolische Gebilde auch wieder symbolisieren, wenn sie durch eine Gruppe in Benutzung genommen werden, die an dem Gebilde neue gemeinsame Bedeutungen erkennt und ihnen so eine neue symbolische Qualität verleiht. Diese Gebilde, zum Beispiel öffentliche Plätze, dienen dann der individuellen Selbstverständigung, indem sie Wünsche und Bedürfnisse vermitteln, und sie dienen kollektiver Selbstverständigung, indem diese Bedürfnisse geteilt und verstanden werden. Kommt es allerdings nicht zur Symbolisierung der architektonischen Gebilde oder produziert die Stadt Desymbolisierungen, so dass Gebilde nurmehr ihre instrumentelle Zweckmäßigkeit besitzen, ohne Ort sein zu können, so kommt es zum Symbolzerfall einer Stadt. Folge sind u. a. eine „[f]ehlende Abstimmung des individuellen Interesses mit dem Kollektiven […]“ (Ebd.: S. 144) und eine „Entfremdung der eigenen Bedürfnisse gegenüber, wie auch Entfremdung der Realität gegenüber im lebenspraktischen Wirkungszusammenhang. Verlust der Vermittlung zwischen Bedürfnis und Notwendigkeit.“ (Ebd.: S. 144) In dieser Situation erlebt das Subjekt die Stadt als leer, emotionslos kalt und bloß funktional. Gerade in Zeiten der kapitalistischen Globalisierung setzen sich Ersatzsymbole und Erlebnisschablonen an die Stelle verlorengegangener bedeutungsvoller Gebilde, um den Verlust auszugleichen. Die Mallisierung (vgl. Prisching 2009: S. 95–107) der Städte und die zuneh-
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menden kulturindustriellen Freizeitangebote sprechen für diese These. Gerade wenn die Stadtarchitektur keine inneren Bedürfnisse mehr, sondern bloß Ersatzbedürfnisse anspricht und den Bewohner/innen zurückspiegelt, werden diese im Bann/Fetisch einer solchen Architektur belassen. Die Nichtbildung der Orte, die Lorenzer beschreibt, korrespondiert mit der Entstehung von Nicht-Orten, wie sie Marc Augé analysiert: „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort.“ (Augé 2010[1994]: S. 92) Augé bezieht sich damit auf einseitig genutzte und rein funktionale Flächen und Gebilde (Malls, Autobahnen, Flughäfen etc.). Dadurch, dass die Nicht-Orte keine Beziehung zum Subjekt herstellen, können sie auch keine Lebensentwürfe anbieten. Wer einen Nicht-Ort betritt, der benutzt ihn in der Regel als Transit und will ihn möglichst schnell wieder verlassen. Der Nicht-Ort wirkt nicht auf das Subjekt zurück, er ist im Sinne von Harmut Rosa ein Ort ohne Resonanz, an dem keine Narration und keine Identitätsbildung stattfinden können. Nun lässt sich fragen, warum die Stadtentwicklung Nicht-Orte hervorbringt und die moderne Stadt einem Symbolzerfall ausgesetzt ist. Warum finden die Subjekte nicht zur städtebaulichen Artikulation und Diskussion ihrer Wünsche? Die Antwort mit Bourdieu wäre: Da das Symbol nicht nur einen Gebrauchswert für die Menschen hat, nämlich sich selber und die anderen zu verstehen, sondern auch einen Tauschwert, ist die symbolischen Ordnung der Stadt umkämpft. Der Tauschwert kann nur den Objekten zukommen, die eine relative Knappheit aufweisen. Wer die Objekte (ob Symbol oder Ersatzsymbol) akkumulieren kann, der akkumuliert ihren Tauschwert und steigert sein symbolische Kapital und seine soziale Position im Feld. So streben die Menschen im Feld nach dem Tauschwert im Symbol/Ersatzsymbol, der ihre soziale Position erhöht, ohne dass darin zwingend unbewusste Wünsche artikuliert werden müssten. Es kommt daher zu der eigentümlichen Situation, dass Menschen ihrem Habitus entsprechend nach Symbolen streben, die ihre unbewussten Wünsche nicht oder nur verzerrt reflektieren. Wenn in der Planung der Stadtarchitektur keine gemeinsamen Symbole mehr ein gemeinsames, von vielen geteiltes Interesse vermitteln, droht der Zerfall einer symbolischen Organisation der Stadt. Die gemeinsamen Symbole werden dann von Ersatzsymbolen verdrängt, die einen höheren Tauschwert besitzen. Ohne die gemeinsame Verständigungsformel im Symbol treten Einzelinteressen in die Stadtplanung ein: „An die Stelle einer aufs Gesamtinteresse ausgerichteten Organisation des allen gemeinsamen Raumes ist buchstäblich und unverhüllt in Stein sichtbar die Anarchie der Einzelinteressen getreten. […] Schon daraus folgt unmittelbar, daß Architektur sich gar nicht mehr auf der Ebene der Symbolbildung bewegen kann: Eben weil partikular interessenorientiere Raumbil-
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dung an die Stelle der Bildung des gemeinsamen Ortes getreten ist, sind die architektonischen Gestaltungsprozesse herabgesunken auf die Stufe nicht-symbolischer instrumentalistisch technischer bzw. dekorativer Gestaltung. Architektur kann schon deshalb nicht mehr Raum zum Symbol „Ort“ bilden, weil ihr die dafür unerläßliche Kraft, nämlich das auf den ganzen Raum ausgerichtete gesamtgesellschaftliche Interesse entzogen ist.“ (Lorenzer 1977: S. 145)
Das Einzelinteresse ist aber kein spontanes und unvermitteltes Interesse, sondern ein an Tauschwerten ausgerichtetes Interesse. Sind in den entsprechenden Feldern Ersatzsymbole kapitalbildend, dann wird sich die Stadt dementsprechend gestalten. Es ist anzumerken, dass das Gesamtinteresse, im marxistischen Jargon von Lorenzer verwendet, auch als Interesse von Gruppen innerhalb eines Feldes gesehen werden kann. Nur so lässt sich erklären, dass bestimmte Gruppen einen architektonischen Ort gemeinsamen symbolisieren können. So dass die Gruppe einen gemeinsamen Ort bilden, der nicht für alle Stadtbewohner der gleiche ist. Nun ist es aber nicht nur so, dass Einzelinteressen die Stadtgestaltung alleine organisieren würden. Verschiedene kommunale, regionale und staatliche Institutionen haben erheblichen Anteil an der Ausgestaltung einer Stadt. Eine Stadt könnte also auch entgegen den Einzelinteressen in den Institutionen organisiert werden. Das Primat der Felder, die für die Stadtplanung verantwortlich sind, ist jedoch ein ökonomisches.49 Da das politische Feld stark an das ökonomische Feld und seine Zwänge gekoppelt ist, stellen die Entscheidungen des Bau-, Verkehrs-, Wirtschafts-, Wohn- und Stadtplanungsdezernats immer ökonomische Abwägungen dar. Wie die Stadtumwelt aussieht, ist daher ein Resultat des Kräfteverhältnisses von Bürgern, denen es gelingt, ihre Wünsche gemeinsam zu artikulieren, und ökonomischen Erwägungen, die von Politikern und Interessenverbänden eingebracht werden.50 Daher sind, wie alle menschlichen Objektivierungen, auch architektonische Produkte umstritten und umkämpft. Das reale Kräfteverhältnis schlägt sich in der symbolischen Ordnung nieder. Somit ist die Stadtgestaltung im Resultat immer Abdruck der realen Positionen und Kräfteverhältnisse, wie Bourdieu beschreibt: „Die Struktur des sozialen Raums manifestiert sich so in den verschiedensten Kontexten in Form räumlicher Gegensätze, wobei der bewohnte (oder angeeignete) Raum als eine Art spontaner Metapher des sozialen Raums fungiert. In einer hierarchisierten Gesellschaft gibt es keinen Raum, der nicht hierarchisiert ist und nicht die Hierarchien und sozialen Distanzen 49 Vor allem in Zeiten knapper Kassen. Genauso gut ist auch das Gegenteil denkbar, die Betonung ästhetischer Kriteren, gegenüber denen das Ökonomische in den Hintergrund tritt. 50 Gerade die Inwertsetzungen der Stadt in einer fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation (Marx) sind für die global cities strukturbildend.
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zum Ausdruck bringt, (mehr oder minder) entstellt und verschleiert durch den Naturalisierungseffekt, den die dauerhafte Einschreibung der sozialen Realitäten in die physische Welt hervorruft: Aus sozialer Logik geschaffene Unterschiede können dergestalt den Schein vermitteln, aus der Natur der Dinge hervorzugehen (denken wir nur an die Vorstellung der ‚natürlichen Grenzen‘).“ (Bourdieu 1991: S. 26–27)51
Der Naturalisierungseffekt schreibt den Habitusträgern eine Tendenz zur Reproduktion ein. Die symbolische Ordnung erscheint als natürliche Ordnung. So werden die realen Machtverhältnisse durch die symbolische Ordnung reproduziert. Die Symbol- und Zeichenwelt der Stadt repräsentiert die reale soziale Ordnung der Stadt. So prägen monumentale Verwaltungs- und Staatsgebäude oft die repräsentativsten Plätze einer Stadt. Es ist kein Zufall, dass zunächst die Gotteshäuser die monumentalsten Gebäude waren, dann die Schlösser, Burgen und Staatsgebäude und schließlich heute die Banken- und Geschäftstürme. Gegenüber den Monumentalbauten gerät man leicht in eine Position, die man in der Kindheit häufig erfahren hat: Man blickt nach oben, kommt sich klein und schutzlos vor. Das Gebäude strahlt Autorität aus und in der Tat übernimmt es die Funktion einer ästhetischen Formschablone. Unbewusste desymbolisierte Wünsche werden ästhetisch in Schablonen eingepasst. Der Blick des Kindes nach oben, die Größe und Stärke der Erwachsenen oder auch die Verlorenheit, wenn das Kind sich zum ersten Mal allein in einem großen Raum befindet. All diese frühen interaktionsformstrukturierenden Erfahrungen können in den Hochhäusern, den Monumentalbauten und großen Plätzen oder Alleen ihre Entsprechung finden. Faszination und auch Gefühle von Einsamkeit, von Schutzlosigkeit oder Angst werden so in einigen Städten produziert und reproduziert. Die Stadtumwelt ist aber nicht nur ein Abbild aktueller Verhältnisse und Auseinandersetzungen, sondern auch historischer Entwicklungen. Entsprechend dem einstmals übermächtigen Feld der Religion, sind es bis heute die Kirchen, die das Bild der Städte in Europa mitprägen. Jedoch stellen diese nicht mehr die höchsten Gebäude dar, in denen sich jeden Sonntag fast alle Einwohner versammeln. Ihre symbolische Bedeutung ist geschwunden, auch wenn die Kirche nach wie vor eini51 Oder auch hier: Die realen Machtverhältnisse (im sozialen Raum) spiegeln sich in den symbolischen Ordnungen: „Der soziale Raum weist die Tendenz auf, sich mehr oder weniger strikt im physischen Raum in Form einer bestimmten distributionellen Anordnung von Akteuren und Eigenschaften niederzuschlagen. Daraus folgt, daß alle Unterscheidungen in Bezug auf den physischen Raum sich wiederfinden im reifizierten sozialen Raum (oder, was auf dasselbe hinausläuft, im angeeigneten physischen Raum) [...].“ (Bourdieu 1991: S. 26)
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gen als „Ort“ dient. Damit Städte ihre symbolische Qualität als Orte behalten oder entwickeln können, bedürfen sie einer Stadtplanung, die die zu artikulierenden sinnlichen Wünsche und Begehren ihrer Bürger/innen einbezieht. Gelingt das nicht, dann kann sich Widerstand gegen die Verschandelung der Städtelandschaft entwickeln, in dem gemeinsame Interessen im Sinne sinnlich-unmittelbarer Interaktionsformen artikuliert werden. Die Auseinandersetzung um die Stadtgestaltung wird in verschiedenen Feldern geführt. Einerseits wird die Stadt den Anforderungen als attraktiver Wirtschaftsstandort angepasst, anderseits kommen Bürger/innen zusammen, um sich die Stadt anzueignen. Die Diskussion um die Gentrifizierung verdeutlicht die Kämpfe um solche Symbolisierungen. In den weniger guten Vierteln kommen oft Migranten, Studenten, Prekäre zusammen, um einen „Ort“ auf sinnlich-symbolischer Ebene zu schaffen. So werden dann verwahrloste Straßenzüge von Künstlern kreativ bereichert, alternative Projekte siedeln sich an und andere Lebensentwürfe werden erprobt. Nach einer Weile steigt die Attraktivität des Viertels, die alte Struktur wird ersetzt und die Symbolwelt des gemeinsamen Ortes droht zu zerfallen. An die Stelle der alten lokalen Struktur rücken dann Ersatzangebote und neue Gebäude, die nicht mehr den Symbolisierungen der Anwohner entsprechen, sondern privaten Interessen. Diese orientieren sich in der Regel an nicht mehr an den symbolischen Gebrauchswerten, sondern an den Ersatzsymbolen, die als Tauschwerten produziert werden. Die Regulation des Raums passt sich so an ökonomische und private statt gemeinschaftliche Interessen an. Die so strukturierte Stadt vermittelt den Anwohnern eine Identität, welche nicht ihren subjektiven Wünschen entsprechen muss, aber gleichzeitig offen für Ersatzschablonen ist. Das Feld, das sich dann in den neu gentrifizierten Stadtteilen einfindet, wirkt auf Alteingesessene und Neuankömmlinge unterschiedlich. Mit seinen neuen Symbol- und Zeichenangeboten können dann einige Stadtteilbewohner nichts mehr anfangen, daher werden einige in symptomzentriertes Verhalten gedrängt, während andere neue Symbolisierungsangebote finden können. Aber auch Widerstand gegen die Neuformierung des Stadtviertels ist denkbar, wenn eine Gruppe von Anwohnern die gemeinsamen Symbolisierungen bewahren möchte oder neue entwickelt. Gelingt dies nicht, wird sich diese Gruppe möglicherweise dem Feld und ihrem Stadtviertel entfremden. Zusammengefasst bedeutet das: Misslingt die Symbolisierung der architektonischen Umwelt, und schafft es ein Feld bzw. eine Gruppe im Feld nicht, zumindest einige Teile einer Stadt zum Ort zu machen, so versteht diese Gruppe die Stadt emotional nicht und fühlt sie sich dieser fremd – sie ist ihr entfremdet. Wenn es gelingt, Gebäuden, Parks, Straßen oder Cafés wieder symbolische Qualität zu verleihen, dann können einzelne Gruppen darin ihre Interaktionsformen verwirklichen. Wenn die Stadt und ihre Gebilde, Parks oder Plätze verstanden werden, lassen sich daran auch ihre Herrschaftsbeziehungen ablesen. Das ist die Vorbedingungen, um diese in Frage zu stellen und langfristig in einen demokratischen Prozess zu
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überführen. Durch die Symbolisierung lassen sich die eigenen Interaktionsbedürfnisse verstehen, was den reflexiven Blick auf den eigenen Habitus (die eigenen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen) und die Identität eröffnet. Gleichzeitig lässt es diejenigen Positionen und ihre Inhaber zu Tage treten, die über privilegierte Handlungspraxen und -positionen verfügen. Wer die Architektur der Stadt versteht, das heißt ihr Symbol- und Zeichensystem Adäquat wahrnimmt, der versteht, wem die Stadt gehört und welche Praxen wem vorbehalten sind bzw. wer aus dieser Praxis ausgeschlossen wird. Die demokratische Persönlichkeit im politischen Feld Wer im politischen Feld erfolgreich sein will, das heißt, seine Position im Feld verbessern möchte, der braucht politisches Kapital. Dieses wird so bezeichnet, wenn es sich um für das politische Feld angemessenes symbolisches Kapital handelt. Hierein fließen alle Kapitalsorten, die im spezifischen politischen Feld für Anerkennung sorgen. Darüber hinaus dienen politische Symbole der Verständigung. Das politische Feld ist relativ unabhängig und kann nur durch eine einflussreiche kritische Öffentlichkeit und Wahlen beeinflusst werden. Politiker/innen und das politische Feld sind in der Regel professionalisiert, wodurch ein Eintritt in das Feld für Laien schwierig ist. Eintritt erlangt man nur mit dem nötigen politischen Kapital, das sich aus der richtigen Verwendungsweise der Sprache, den richtigen Verhaltensweisen, den passenden sozialen Netzwerken (soziales Kapital) und dem Besitz von ökonomischem Kapital zusammensetzt. 52 Das politische Feld neigt dazu, nicht einen demokratischen Interessenaustausch zu organisieren, sondern sich selbst zu reproduzieren: „Ein sehr großer Teil der von den Politikern vollzogenen Handlungen hat keine andere Funktion, als den Apparat zu reproduzieren und sich selbst zu reproduzieren, indem sie den Apparat reproduzieren, der ihre Reproduktion garantiert.“ (Bourdieu 2001a: S. 51) Dadurch werden die Entscheidungen und Handlungen der Herrschenden im politischen Feld nicht mehr am Allgemeinwohl ausgerichtet, sondern an der Reproduktion des Feldes und der eigenen Position im Feld. Die Herausforderer im Feld sind demgegenüber an einer Veränderung im Feld interessiert, jedoch nicht zwangsläufig im Sinne des Allgemeinwohls. Politische Forderungen außerhalb des Feldes können nur ins Feld gelangen und dort umgesetzt werden, wenn Akteure einen Zugang zum Feld erlangen, das heißt über genügend politisches Kapital verfügen, um symbolische Macht auf das Feld auszuüben. Aufgabe des Journalismus ist es, dass die Laien das politische Feld verstehen und daran teilnehmen können. Die Journalist/-innen sollten den Austausch zwischen Laien und Professionellen vermitteln. Allerdings sind sie selber meist Teil 52 Ist das politische Feld allerdings unglaubwürdig, so kann auch das gesamte Feld von politischen Laien umgewälzt werden.
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des Feldes und können diese Vermittlung häufig nicht leisten. Politiker/-innen und Journalist/-innen sind aufeinander angewiesen, ähneln sich in ihren Verhaltens- und Sprechweisen und sind nicht an einer Öffnung des Feldes interessiert. Dieser Effekt verstärkt sich in Krisenzeiten: So schreibt Bourdieu, „daß in einer Zeit knapper Arbeitsplätze die schlimmste Zensur diejenige aufgrund der allgemeinen Unsicherheit ist.“ (Ebd.: S. 63) Bourdieu geht daher davon aus, dass die Journalist/-innen nur insoweit kritisch sind, als es die Grenzen des Feldes zulassen, was eine Kritik durch die Laien erschwert. Nun lassen sich im politischen Feld zwei verschiedene Aspekte näher beleuchten. Zum einen das politische Feld selber, welches durch sein bestimmtes politisches Kapital, und das heißt immer auch den Anerkennungsmodus, bestimmte Sprech- und Verhaltensweisen tabuisiert. Zum anderen die Frage nach der demokratischen Verfasstheit des politischen Feldes. Ersteres bedingt eine interne Analyse des Feldes, Zweiteres eine Analyse des Verhältnisses zwischen Feld und Feldexternen. Zum erstem Aspekt: Durch die spezifische Art und Weise der Symbolorganisation im Feld ist der Zugang denjenigen erleichtert, die bereits mit den (Sprach-) Symbolen vertraut sind, für die diese (Sprach-)Symbole also Sinn machen. Deutlich wird das Symbolsystem, wenn man sich etwa die Symbole konservativer und progressiver Parteien anschaut. So spricht die Nationalflagge als Symbol unterschiedliche Affekte an. Während sie bei Konservativen zum Symbol für Vaterlandsliebe stehen kann, wird sie bei Linken als Symbol des Nationalismus eher abgelehnt. In beiden Fällen könnte dahinter die Autorität der Kindheit stehen, einmal als Identifikationsfigur und einmal als Widerstandsfigur. Jede Flagge symbolisiert etwas anderes und nimmt dementsprechend auf politischen Veranstaltungen ihren jeweiligen Platz ein. Die Symbole der Flaggen sind im politischen Feld umkämpft, mit ihnen werden unterschiedliche Bedürfnisse und damit lebenspraktische Erfahrungen verknüpft. Jede Flagge verbindet so ihre Geschichte mit der individuellen Geschichte desjenigen, der damit bestimmte libidinöse und/oder aggressive Affekte verknüpft. Die legitime Flagge, die sich in der Auseinandersetzung im politischen Feld durchgesetzt hat und die in reifen Demokratien von allen Feldteilnehmern mehr oder weniger akzeptiert wird, kann zum Symbol werden, wenn darin die (politischen) Bedürfnisse unverstellt zum Ausdruck kommen, reflektiert und kommuniziert werden. Sie kann aber auch zur Schablone werden, wenn darin Klischees ihre Zuflucht finden. So kann etwa der Umgang mit der Flagge in nationalistischen Kreisen Züge annehmen, die eine infantile Regression sichtbar werden lassen. Mag das Beispiel eines staatlichen Symbols im Feld vergleichsweise eindeutig sein, so stellt sich die Betrachtung der Sprachsymbole komplexer dar. Innerhalb des Feldes gibt es eine legitime Verwendungsweise der Sprache, die durch Anerkennungspraxen legitimiert oder delegitimiert wird. Eine bestimmte Sprachverwendung wird in der Regel bei den eigenen Anhängern mit Anerkennung belohnt und bei den
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politischen Kontrahenten versucht zu delegitimieren. Die Sprachsymbole sind daher ständig umkämpft und Abdruck der politischen Kräfteverhältnisse im Feld. Sprachsymbole sind, gerade im politischen Feld, wandlungsfähig. So werden sie gezielt eingesetzt, um unliebsame Entscheidungen mit positiv konnotierten Sprachsymbolen zu verkleiden. So ist beispielsweise das Sprachsymbol Reform seit der Agenda 2010 in linken Kreisen kein Symbol für Fortschritt mehr, sondern für Abbau des Sozialstaates, während es gleichzeitig in konservativen Kreisen eine Aufwertung erfahren hat. Kann das Sprachsymbol der Reform so noch eine Verständigungsformel sein? Auf der manifesten Ebene kann Reform durchaus für alle Akteure im Feld verständlich sein. Auf der latenten Ebene können hingegen verschiedene vor- und unbewusste Muster der individuellen Lebensgeschichten reaktiviert werden, die eine gemeinsame Verständigung erschweren. Die politische Debatte im Feld wird dann von unverstandenen Konflikten, Wünschen und Bedürfnissen beeinflusst. Der Begriff Reform ist je nach Bezugnahme und individueller Lebensgeschichte Sprachsymbol oder Ersatzsymbol. Darin können unverstellte oder aber auch neurotische Bedürfnisse ausgedrückt werden. Mit den politischen Kräfteverhältnissen im Feld verändert sich auch die Legitimation der Symbole und Sprachsymbole. Sprachsymbole können Lebenspraxen verbalisieren, die einer Gruppe im Feld Legitimation verschaffen, bei einer anderen Gruppe aber Abwehrreaktionen veranlassen. Gerade bei emotionalen politischen Entscheidungsprozessen, bei denen moralische Gewissensentscheidungen zu Familie, Sexualität oder Sterbehilfe verhandelt werden, sind unbewusste und unterbewusste Prozesse wahrscheinlich. Es wird deutlich, dass die symbolische Verarbeitung und damit die Reflexion des eigenen Bedürfnisses zu einer ausgereiften Entscheidung führen kann. Erst wenn das Bedürfnis innerlich annähernd verstanden wird, kann es auch äußerlich verhandelt werden: Der Akteur wird zum (politischen) Subjekt. Er kann die eigene Lebenspraxis einordnen und dadurch seine eigenen Bedürfnisse mit den Entscheidungshandlungen ins Verhältnis setzen. Diese „demokratische Persönlichkeit“ (vgl. Busch 2007) ist Bedingung einer lebendigen Demokratie. Denn erst wenn die Menschen sich selber verstehen, können sie zu politischen Subjekten werden, können sie ihre eigenen Bedürfnisse verstehen und mitteilen. Erst dann kann Politik auch wieder sprachsymbolisch werden, d. h. kann Resonanz vermitteln und dadurch einen „Draht“ zwischen Politiker/-innen und Bürger/innen herstellen. (Vgl. Rosa 2016a: S. 90) Dann erst können diese Subjekte objektive Verhältnisse schaffen, die für sie offen sind, in denen sie sich richtig wiederfinden. Außerdem können sie sich, wenn es sein muss, selbstmächtig selbst begrenzen, zum Wohle der Gesellschaft. So könnte ein Akteur, der neurotische Angst vor Homosexualität hat, die ihn bis zur Ablehnung alles Homosexuellen treibt, diese Angst durch die Reflexion der eigenen Lebensgeschichte ergründen, verstehen und in ein reifes symbolisches Han-
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deln verwandeln. Andere Beispiele verdeutlichen, dass bestimmte Lebenspraxen gar nicht im Feld vertreten sind und erst durch externe Faktoren in das Feld gelangen. So können die Herausforderer im politischen Feld das Frauenwahlrecht fordern, was bis zu dessen Einführung in Europa heftig umstritten war und bis heute in einigen Ländern gar nicht im politischen Diskurs auftaucht. Dies bringt den zweiten Aspekt ins Spiel, das Verhältnis zwischen politischem Feld und externen Akteuren. Das politische Feld ist über Journalist/-innen und Wahlen immer auf die Laien bezogen. Gleichzeitig versucht sich das politische Feld abzugrenzen. So werden die Sprachsymbole nur dann mit den Laien geteilt, und das heißt verstanden, wenn sie die Lebenspraxen berühren. Eine Wahlkampfrede wird so zugeschnitten, dass darin präsentative Symbole und Sprachsymbole verwendet werden, die Wählerstimmen bringen. Genauso werden Klischees mit Ersatzsymbolen angesprochen. Im politischen Alltag des Feldes hingegen verschließt sich das politische Feld und produziert häufig Zeichen. So sind viele Sprachsymbole und präsentative Symbole für die Laien affektlos und damit bloße Zeichen, die nichts vermitteln und die sie nicht mit ihrer Lebenspraxis in Verbindung bringen. Für die Akteure des politischen Feldes hingegen können diese Symbole mit bewusster oder unbewusster Bedeutung aufgeladen und umkämpft sein. Entfremdung vom politischen Feld entsteht dann, wenn die Bürger/innen sich nicht in politischen Prozessen und Entscheidungen vertreten fühlen. Das politische Feld verfehlt seine Aufgabe, wenn es nicht mehr die Lebenspraxen der Gesellschaftsmitglieder zu einem gemeinsamen Interesse verdichten kann. Für eine lebendige Demokratie ist es aber von herausragender Bedeutung, dass sie nicht nur auf den Stimmen der Wähler/innen beruht. Gerade die sinnlichen Bedürfnisse und Wünsche müssen repräsentiert werden. So wäre eine Technokratie gleichbedeutend mit einer absoluten Entfremdung vom politischen Feld. Die Ausbildung von demokratischer Persönlichkeit macht die Menschen daher zu politischen Subjekten. Erst, wenn sie ihre Bedürfnisse verstehen und kommunizieren können, kann das politische Feld zum Ort des demokratischen Konsenses werden. Werden im politischen Feld allerdings bloß ästhetische und sprachliche Schablonen angeboten, welche die Klischees einfangen, dann verbinden sich beide zu festen politischen Weltbildern (wie in Verschwörungstheorien, im Antisemitismus oder im Populismus). Setzt sich das politische Feld daher nicht die Aufgabe der Förderung demokratischer Persönlichkeit, besteht die Gefahr einer Umwälzung des politischen Feldes durch externe Akteure, denen es gelingt, die passenden Schablonen für die Klischees zur Verfügung zu stellen. Dieses Phänomen lässt sich dann als Populismus beschreiben.
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Im Feld der Kunst – zwischen Irritationsproduktion und Kulturindustrie Der Protagonist dieses Beispiels ist ein Musikliebhaber, der ein Konzert besucht. Intuitiv begibt er sich in eine ästhetische Verhaltensweise (vgl. 2.2.5), die er durch seine Sozialisation erlernt hat, und erschauert beim Musikgenuss. Die Musik hat ihm einen anderen Lebensentwurf gespiegelt, der ihm die eigene Entfremdung hat spürbar werden lassen. Der Künstler, der das Musikstück komponiert hat, hat darin subjektive sinnliche Eigenheiten als Rätselcharakter im Werk vergegenständlicht (objektiviert). Auf den Hörer wirkt die latente und die manifeste Ebene des Musikstückes. Diese Wirkung offenbart sich dem Hörer in der Irritation, die ihn durch das Sicheinlassen auf das Musikstück überkommt, er empfindet eine Gänsehaut. Die im Musikstück angebotenen unbewussten Lebensentwürfe machen sich so in den unbewusst einsozialisierten Interaktionsformen bemerkbar. An der sprachlich-bewussten Verhaltensmatrix vorbei werden bis dato verdrängte Lebenspraxen berührt. Diese Berührung vermittelt dem Subjekt seine eigene Entfremdung. Denn durch die neuen präsentativen Symbole der Musik werden die entfremdeten Anteile der Subjektivität blitzartig erhellt und spürbar. In jenen Momenten, in denen die Subjekt- und die Objektanteile der Interaktionsform in musikalisch-präsentativen Symbolen zusammenkommen, deuten diese ihre Dynamik an, die der Konzertbesucher lange verdrängt hatte. Die Affekte dieser kurzfristig verbundenen Interaktionsformen offenbaren sich nicht in einfachen Formen bzw. Sprachsymbolen, sondern bewahren ihren Rätselcharakter. An diesem Punkt wird die Doxa / der Fetisch der verwalteten Welt (die Spiegelung der immergleichen Verhältnisse) durch die Irritation brüchig. Auf dem Weg nach Hause spürt der Musikliebhaber dieser irritierenden Empfindung nach. In seinem Selbstnarrativ setzt sich fest, dass er jemand ist, dem etwas fehlt. Etwas, das sich im Konzert bemerkbar gemacht hatte. Je intensiver er in Gedanken um den irritierenden Auslöser nachsinnt, desto stärker wird die Entfremdung in seinem Narrativ und damit auch in seiner personalen Identität von einer melancholischen Grundstimmung eingeholt. In den nächsten Tagen forscht der Konzertbesucher, in eine produktive Melancholie versunken, nach dem Auslöser der Irritation. Er versucht sich immer wieder in die irritationsauslösenden Momente zu versetzen, indem er sich dem Kunstwerk erneut entäußert. Entäußerung heißt nichts anderes, als dass der Kunstrezipient sich mit seiner Subjektivität auf das Kunstobjekt einlässt und an sich selbst beobachtet, ob Interaktionsformen berührt werden. Diese praktisch-ästhetische Verhaltensweise ist nicht als Anleitung misszuverstehen, sie ist eher ein intuitiver Prozess. 53 53 Eine angeleitete Form findet eher in der tiefenhermeneutischen Kulturforschung statt.
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Nach und nach kann der Protagonist die vermittelten Affekte deuten. Er verbindet mit der Melodie frühe Erfahrungen, die in ihrer einzigartigen Weise dem Hörer Resonanz vermitteln. Die Denk-, Wahrnehmungs- und Praxismuster des Habitus werden durch diese Erfahrungen erweitert. Mit der Hilfe des Kunstwerks konnte der Kunstrezipient die konfliktgeladene Beziehung zu seiner Mutter resymbolisieren und besser verstehen.54 Hatte die Doxa des Feldes noch eine Abneigung gegen die Mutter tabuisiert, so kann der Protagonist nun seine Verwirrung auflösen und die konfliktreiche Beziehung zu seiner Mutter resymbolisieren. Dieses fiktive Beispiel ist stilisiert und kommt so in reiner Form nicht vor. Genauso wie das Gegenteil, der Konsum von Kulturindustrie. In der Kulturindustrie werden Kulturprodukte konsumiert, die aber wesentlich weniger symbolisierendes Vermögen innehaben. Kunst und Kulturindustrie sind in der Regel nicht zu trennen, gehen ineinander über und treffen auf spezifische eigensinnige Subjekte. Um die unterschiedlichen Verläufe zu charakterisieren, beschreibe ich den angeführten Fall am Beispiel der Kulturindustrie. Die Kulturindustrie setzt an den symptomatischen Praxen an. In der doxischen Einrichtung des Feldes bestätigen und reproduzieren die Produkte der Kulturindustrie den Bann. Der Konsument, der die konfliktreiche Beziehung zu seiner Mutter verdrängt hat und diese nicht mit der Hilfe von Kunstwerken resymbolisieren konnte, verfängt sich in der Kulturindustrie. Der Wunsch, von der Mutter geliebt zu werden, kehrt im Klischee als sein Gegenteil wieder zurück, in Aggression gegenüber Frauen und allem Weiblichen. Dieses symptomatische Verhalten wird durch kulturindustrielle Produkte, die auf eine Abwertung von Frauen hinauslaufen,55 dann in den entsprechenden Schablonen angeboten. In der Kulturindustrie werden die Klischees dementsprechend aufgefangen und mit Rationalisierungen (im Rahmen der Felddoxa) verknüpft. Woraus sich zwei Folgen ergeben: Einerseits wird Klischee und Rationalisierung zu einem festen Weltbild verknüpft, wodurch der Habitus in seinen Denk-, Wahrnehmungs- und Praxisschemata limitiert bleibt. Dadurch ist die Narration und Identität nur schwer für Irritationen zugänglich. Andererseits befriedigen die kulturindustriellen Produkte die Interaktionsformen für das Subjekt nicht erwartungsgemäß. Die Aneignung verläuft daher nur unzureichend. So werden die kulturindustriellen Dinge zwar materiell angeeignet, aber nicht durchdrungen. Innerhalb des Feldes hat das zwei entscheidende Vorteile für das Feld. Es kann sich einerseits leichter reproduzieren, da 54 An dieser Stelle wird etwas holzschnittartig hantiert, um das Beispiel zu verdeutlichen. Selbstverständlich sind in Kunstwerken auch andere Erfahrungen bzw. Symbolsierungen möglich. 55 Ein offensichtliches Beispiel ist die Abwertung von Frauen in Teilen der Hiphop-Kultur. Wobei es in diesem Feld auch Gegenbewegungen gibt.
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es für Irritationen weniger anfällig ist, und andererseits durch die falschen Versprechungen einen hohen Standard von Produktion und Konsumtion aufrechterhalten. Beides ist für eine Ökonomisierung des Feldes notwendig. Der Kapitalismus ist in den Feldern auf diese Produktion falscher Versprechen angewiesen. Ob Kunst oder Kulturindustrie an den Affekten ansetzt, ist vom Feld und der Stellung im Feld abhängig. Aber auch die Unterscheidung beider Kulturarten ist nicht klar differenzierbar, so gibt es durchaus kulturindustrielle Produkte, die als Kunst wirken können und umgekehrt. Ist mit Bourdieu Kunst und Kulturindustrie dasselbe und nur durch das Feld der Konsumenten zwischen Hochkultur und niedriger Kultur zu unterscheiden, so verdeutlicht die hier entwickelte Theorie, dass der entscheidende Faktor, ob die Kulturproduktionen entfremdend oder irritierend wirken, in den subjektiven Konstitutionen zu suchen ist. Entfremdung und Heimat Auch am Beispiel der Erfahrung von Heimat lässt sich die hier entwickelte Theorie darstellen. Heimat ist maßgeblich an präsentative Symbole gekoppelt. An diese werden die Affekte der Kindheit geheftet. Aber auch Sprachsymbole können Heimaterfahrungen vermitteln, so können vom Heimatgedicht bis hin zum Wort Heimat verschiedene Sprachäußerungen symbolische Qualität annehmen. An „Heimat“ wird deutlich, dass es Szenen/Relationen der Primärsozialisation sind, die sich als Erfahrungen in der Kindheit niedergeschlagen haben. Nach den sinnlich-unmittelbaren Interaktionsformen sind es vor allem die Gegenstände der Umgebung, die die Heimat als sinnlich-symbolische Ensemble in den Leib einschreiben. Die frühesten Bedürfnisse, Wünsche und Phantasien werden so materialistisch vergegenständlicht. Das andere Ende dieser subjektiven Vergegenständlichung bilden die symbolisierten Objekte. Diese können etliche Formen annehmen, zum Beispiel: die Berge, das Meer, der Duft von wilden Erdbeeren oder Geruch von Kaminholz im Haushalt, sie können genauso als Heimaterfahrung wirken wie die taktile Berührung von fein geschliffenen Holzspielzeug oder der Teppich des Kinderzimmers. Die Verbindung dieser präsentativen Symbole verdichtet sich zum Heimatgefühl. Die historisch-spezifische Situation des Feldes prägt daher das primäre Heimatgefühl, in dem die innere Natur und die äußere Natur durch die ersten Sozialisationsmomente verwoben werden. Der geschichtliche Stand der Felder mit all seinen Relationen strukturiert so das konkrete innere Praxismuster der Subjekte. Die frühesten Sozialisationsbedingungen konstituieren die Subjektivität (und in ihr die besonderen Heimataffekte) und werden Teil des Leibes. Das Feld prägt in der Auseinandersetzung mit der inneren Natur dementsprechend die innere „Heimatrepräsentanz“ (Busch 1995: S. 84), die dann in verschiedenen Symbolen ausgedrückt werden kann.
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Nachdem die eigenen Wünsche sich in den Leib eingeschrieben haben, streben sie nach Aneignung der passenden symbolisierten Objekte. Das Subjekt sucht daher Symbolisierungen, um seine Interaktionsformen zu realisieren. Die Symbole ermöglichen dementsprechend, dass die frühe Heimaterfahrung sich beständig neu realisieren lässt. Die Berge, das Meer, der Geruch des Sommers werden so zu affektbesetzten Symbolen der Heimat. Diese Symbolisierung verbindet die Heimatrepräsentanz mit den Objekten des Feldes und ermöglicht so die lebensgeschichtlichspezifische Wunscherfüllung. In diesem heimatbildenden Feld mit all seinen Relationen wächst das Kind in den praktischen Sinn für das Feld hinein. Beheimatung ist daher orts- und zeitabhängig. Dieser Sinn auf der gestisch-affektiven Ebene wird dem Akteur auf demselben Feld gegenüber Feldteilnehmern von außen immer einen Vorteil verschaffen, da ihm die Regeln des Spiels in Fleisch und Blut übergegangen sind. Kehrt der Erwachsene daher in die dörfliche Idylle seiner Kindheit zurück, so wird er, wenn das Feld sich nicht verändert hat, die richtigen Gesten, die richtige Sprache, die geteilten Symbolisierungen verstehen. Seinem Begleiter hingegen wird die Szenerie möglicherweise fremd bleiben, sein praktischer Sinn wird in der Fremde unpraktisch, da die Gesten und Sprachäußerungen nicht erkannt werden. Ich bleibe bei dem hier angeführten Beispiel des Erwachsenen, der das Dorf verließ. Angenommen, er ist nun urbaner Großstadtbewohner fern des Feldes seiner Primärerfahrung, dann wird er in neuen Feldern eine neue soziale Identität annehmen, die er aufgrund seiner Narration entwickelt. Die Narration ist Produkt der Spiegelung, die er im Feld erfährt. In dieser Selbsterzählung fehlt ihm dann vielleicht die Kindheit, die er in seinem neuen Feld als rückständig empfindet und die er daher nur unzureichend in sein Selbstnarrativ aufnimmt. So werden bestimmte Erfahrungen, wenn sie nicht in die Doxa des Feldes passen, nicht symbolisiert. Dem Erwachsenen bieten die neuen Felder der Großstadt daher entweder neue Denk-, Wahrnehmungs- und Praxismuster im Habitus, die ihm die Heimatrepräsentanz auf sinnvolle Weise zugänglich machen oder, im Gegenteil, diese verdrängen. Es ist auch nicht auszuschließen, dass die Heimat im neuen Feld vielleicht wesentlich adäquatere Symbolisierungsmöglichkeiten und spezifische Wunscherfüllungen bietet. Wie eine neue Heimat in der Fremde entstehen kann, wird so plausibel. Trifft der Erwachsene dann in der Großstadt einen alten Schulfreund und lassen sich in einem Gespräch die Sprachsymbole der alten Heimat austauschen (die auch in etwas so Spezifischem wie dem Dialekt zum Ausdruck kommen können), dann wird nicht nur das Ensemble von Affekten lebendig in dem, was man Heimweh nennen könnte, sondern das Symbol dient auch der Verständigung zwischen den Freunden. Das Sprachsymbol kann so die Narration und damit die Identität reflektieren und gleichzeitig der Verständigung dienen. Aber auch auf der präsentativen Ebene kann es zu ähnlichen Effekten kommen. So kann der Geruch der Blumen oder des Kaminholzes in der Großstadt spontan eine Irritation auslösen, die im
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Nachdenken über die Narration mündet und vielleicht die Identität der Subjektivität anpasst und so die Entfremdung durch das Altvertraute mildert. Das Gegenteil der Heimat ist die Fremde. Für das Subjekt bedeutet die Fremde, dass es auf die Wunscherfüllung verzichten muss und das Geborgensein in der idyllischen Heimat nicht mehr verfügbar ist. Es kann dann seine innere Gefühlswelt nicht adäquat mit der Welt verbinden, woraus eine Indifferenz der Welt gegenüber entspringt. Wird dieses subjektive Phänomen zum gesellschaftlichen, dann werden Feuilletonbegriffe wie soziale Kälte oder die sprichwörtliche Einsamkeit in den Großstädten theoretisch zugänglich. Ist die Heimaterfahrung bzw. Heimatrepräsentanz hingegen auch in der fremden Großstadt sprachsymbolisch aufgehoben, dann kann das Subjekt mit dem unglücklichen Bewusstsein der Heimatentfremdung umgehen und die Heimat besuchen oder um sie trauern (wenn bestimmte Objekte endgültig verloren sind). Der Erwachsene kann über die Verbindung vom Sprachsymbol Berg mit seinem Interaktionsengramm seine Trauer bewusstwerden lassen, z. B. in dem Satz: Mir fehlen die Berge. Das Subjekt kann dann in Melancholie versinken oder es wird sich neue Symbole suchen. Die Heimatrepräsentanz kann so erneut in Symbolen vergegenständlicht und angeeignet werden. Ist die Heimat allerdings nicht in sprachsymbolischen oder präsentativsymbolischen Formen aufgehoben, wenn sie der Doxa anheimgefallen ist, dann kann das Verdrängte der Interaktionsformen auch in Klischees zurückkehren. Das Verdrängte sucht sich seine Objekte in den fremden Zeichen der neuen Felder. An dieser Stelle kann die harmlose Heimat in gefährliche Ausgrenzung umschlagen. So verfängt sich der Erwachsene möglicherweise in einem rechtsextremen Feld, in dem Heimat als falsches Versprechen zurückkehrt. Das Versprechen ist falsch, da der spezifische Heimatwunsch (Geborgenheit, Sicherheit, Unbeschwertheit usw.) in einem allgemeinen Zeichen (leeres Symbol) aufgehoben wird. Das Klischee verknüpft sich dementsprechend mit einem Zeichen, das dem Subjekt vorher unbedeutend war. So sind plötzlich nicht mehr der Geruch oder andere sinnliche Erfahrungsmuster ausschlaggebend, sondern nur noch das geschlossene Weltbild einer Heimat, die es so nie gab, die eigene Zeichen hat, die aber nicht den subjektiven Bedürfnissen des Subjekts entsprechen. Dieses bindet sein individuelles Narrativ an ein pauschales Narrativ. Diese Befriedigung ist daher trügerisch und kann nicht realisiert werden. Der Wunsch wird ja nicht realisiert, sondern kehrt in fremder Form zurück, so kann der Wunsch nach Geborgensein auch als sein Gegenteil zurückkehren, in einem aggressiven Wunsch nach Zerstörung. Gerade in einem Feld, das durch Aggression geprägt ist, vermischen sich so Sehnsüchte nach Geborgensein und Entfremdung zu Hass und Wut auf das Fremde, auf alles was nicht Heimat ist. Das rechtsextreme Weltbild kann daher nicht befriedigen, es bindet die Menschen nur durch das Ver-
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sprechen an sich und tendiert zur Wiederholung. Dem Versprechen von Glück, wenn der Fremde und das Fremde besiegt ist. In dieser „Pseudoheimat“ (Ebd.: S. 83) werden nicht mehr reale Erfahrungen neu symbolisiert und damit narrativ zugänglich, sondern Mythen und Abstraktionen. Die Narration ist dann keine mehr, die auf das Besondere der eigenen Lebensgeschichte abzielt, sondern Abstraktion. Eine Abstraktion ist zum Beispiel der nationale Gründungsmythos eines Staates. Hier dienen historische Schlachten, mythologische Figuren oder Ereignisse, nicht selten mit übernatürlichen Einflüssen, der Identitätsstiftung. Dabei wird das konkrete Narrativ von einem kollektiven Narrativ überstrahlt. Nicht mehr die konkreten Verhältnisse wirken auf das Subjekt zurück, sondern Abstraktionen. So wird nicht mehr der konkrete Berg der Kindheit zum Symbol für die Heimatrepräsentanz, sondern abstrakte Kategorien wie Nation, Rasse, Religion etc. mit ihren jeweiligen Symbolen. Häufig werden die abstrakten Verhältnisse nicht mehr in ihrer Geschichtlichkeit wahrgenommen, sie erscheinen als Ding. Als naturhafte unveränderliche Verhältnisse. Anfällig für diese abstrakten Narrationen sind Ich-schwache Menschen, die ihre besondere Subjektivität zugunsten der objektiven großen Erzählung aufgeben. Die Urheimat-Repräsentanz prägt aber für die konkrete Heimat wie die abstrakte Heimat das Grundgerüst, auf denen die Symbole aufbauen. Die beiden Kategorien dürfen allerdings nicht als starre Gegenüberstellungen gesehen werden, sie markieren bloß die Endpunkte einer Bandbreite möglicher Beheimatungen. Wobei die abstraktesten Formen der Heimat am anfälligsten für Pseudoheimaten sind. Gerade in der abstrakten Heimatidentität verliert sich das konkrete Nichtidentische, es wird mit der sozialen Identität nicht mehr eingefangen. Aber Heimat ist nicht nur anfällig für Instrumentalisierungen durch die Pseudoheimat, sondern auch Grundbedingung für Widerstand. Die Zerstörung der Heimat-Symbolwelten leitet zum Widerstand und zur Bewahrung der inneren Gefühlswelt und äußeren Umwelt. So spricht auch Adorno davon, dass „was man im Leben realisiert, wenig anderes ist als der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen“ (Adorno 1986: S. 395). Heimat muss daher nicht zwangsläufig auf ein reaktionäres abstraktes und symptomzentriertes falsches Versprechen zusteuern, sie kann auch den Grundimpuls bilden, der – richtig symbolisiert – die Erfahrungen der Kindheit in einer neuen Sinnlichkeit aufbewahrt und zu einer strukturellen Intoleranz gegen Innen- und Umweltzerstörung führt. Die identitätsstiftende Narration muss dafür an der eigenen konkreten Lebensgeschichte ausgerichtet werden, nicht an abstraktmythologischen Geschichten. Dafür muss allerdings die Entfremdung durchschritten werden, um eine solche Heimat herzustellen. So lässt sich mit Ernst Bloch abschließen:
Das entfremdete Subjekt im Feld | 321
„Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (Bloch 2013[1985]: S. 1628)
Resümee – Das entfremdete Subjekt
Entgegen dem in der Einleitung erwähnten Credo von Georges Labica, wonach dem Begriff der Entfremdung nicht mehr zu trauen sei, war es Ziel der Arbeit, dass dem Begriff der Entfremdung im wissenschaftlichen Diskurs wieder mehr Vertrauen geschenkt werden kann. Dies war dringend notwendig, da der inflationäre Gebrauch des Begriffs ihm seine theoretische Schärfe genommen hatte. Ich habe daher zunächst die Ideengeschichte der Entfremdung analysiert und sie in den historischen Kontext eingeordnet. Den daraus entwickelten Begriff der Entfremdung habe ich mit sozialphilosophischen (vor allem Marx und Adorno), soziologischen (Bourdieu) und sozialpsychologischen (Lorenzer) Strängen verknüpft. Die Sozialphilosophie der Entfremdung steht als Metatheorie gewissermaßen im Hintergrund der hier entwickelten Analyse. Als besonders anschlussfähig hat sich die Theorieverbindung von Marx, Adorno und Lorenzer erwiesen, durch die ich einen stimmigen Begriff von Subjektivität und Entfremdung entwickeln konnte. Entfremdung wurde in der Geschichte des Westens immer als Selbstentfremdung von einer eigentlichen Einheit gedacht. Dadurch rückte auch immer die Frage nach Subjektivität und Objektivität ins Blickfeld, oder als Frage ausgedrückt: Was ist eigen und was ist fremd und wie verhält sich beides zueinander? Beide Kategorisierungen haben sich stetig verändert und sich den gesellschaftlichen Vorstellungen über die Welt angepasst. So war in der griechischen Antike das Selbst als Wesenskern nur durch die richtigen musischen Tätigkeiten bei sich selbst (Aristoteles steht hier Pate). Bei den christlich-theologischen Theoretikern war es das Göttliche, von dem aus Subjektivität meist als Ableitung aus dem Ganzheitlichen betrachtet wurde. Entfremdung wurde hier vorzugsweise als Entfernung von Gott und dem objektiv Ganzen gedacht. Erst in der italienischen Renaissance rückte das Selbst wieder in den Mittelpunkt. So leitete dieses Selbst die Emanzipation von der göttlichen Objektivität ein, wodurch es aber anfällig für eine selbstverschuldete Entfremdung wurde. Mit dieser Annahme einer menschengemachten Schuld begannen Theoretiker auch über individuelle oder kollektive Überwindungsmöglichkeiten nachzuden-
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ken, was unter anderem zum Hauptmotiv der Romantik avancierte. Aber erst mit Hegel und Marx rückte das entfremdete Subjekt endgültig in den Kontext soziologischer, politischer und ökonomischer Theorien. Mit Freud wurde dann dem Missverhältnis zwischen objektiven Anforderungen und subjektiven Bedürfnissen auch in der Tiefendimension des Subjekts nachgegangen. Subjektivität war bis dato häufig mit Essentialisierungen und paternalistischen Handlungsvorgaben verknüpft, was Rahel Jaeggi und Hartmut Rosa verworfen haben. Zwar ist dieser Einwand berechtigt, er hat aber gleichzeitig die Subjektivität ganz auf intersubjektive oder soziologistische Konstitutionsbedingungen reduziert (vgl. Wrong 1999), wodurch unklar wurde, wovon sich der Mensch eigentlich entfremdet. Ergebnis der Arbeit ist, dass Entfremdung immer eine Entfremdung von Subjektivität (besonderen Bedürfnissen und Fähigkeiten) ist, wobei sich Subjektivität aus der Dialektik von innerer und äußerer Natur individuell bildet. Die frühesten Erfahrungen konstituieren daher den Eigensinn der Subjekte und verankern die innere Natur im Habitus. Dementsprechend ist erst unter der Berücksichtigung der Theorie der Interaktionsformen eine Entfremdungstheorie denkbar, die weder essentialistisch noch soziologistisch ist. Eine Subjekttheorie ohne Essentialismus ist nicht nur möglich, sondern auch notwendig, um Subjektivität wie Entfremdung zu begreifen. Lorenzers Theorie blieb auf der objektiven Seite jedoch unscharf. Erst unter Berücksichtigung der objektiven Strukturanalyse von Bourdieu werden die entfremdenden Felder dann verständlich. Entfremdung ist daher weder aus objektiver Strukturanalyse (Bourdieu), noch aus subjektiver Strukturanalyse (Lorenzer) heraus ganz zu erfassen, sondern nur in der Verbindung beider Theorien. Alfred Lorenzer und Pierre Bourdieu haben so aus ihrer ursprünglichen Intention der Überschreitung von Subjektivismus und Objektivismus eine theoretische undogmatische Öffnung ihrer Ursprungsdisziplin angestoßen. Das Auslassen der unbeackerten Felder wandelt sich so von einem theoretischen blinden Fleck zu einer Möglichkeit der gegenseitigen Vermittlung von Praxeologie und Subjekttheorie. Der Habitus bleibt bei Bourdieu – trotz seiner wichtigen theoretischen Funktion – abstrakt, er beschreibt alle Eigenschaften menschlicher Praxis (Speicherung, Naturalisierung und Praxisanweisung), ohne die Tiefendimension konkret zu beleuchten. Die Theorie Bourdieus kann mit der Integration einer inneren Natur in das Habituskonzept an Schärfe gewinnen und sich von dem Vorwurf des Determinismus und des Strukturalismus lösen. Lorenzers Theorie hingegen kann durch die Hinzunahme von Feld und Habitus den zweiten (den gesellschaftlichen) Praxissinn wesentlich besser zu fassen bekommen. Die Entfremdungstheorie, die hier mit Lorenzer und Bourdieu neu zusammengedacht wurde, nimmt so die historische Genese des Entfremdungsbegriffs auf und entwickelt ihn weiter. So sind Anteile von Aristoteles über Hegel bis Marcuse und Adorno eingeschlossen. Der wichtigste Taktgeber bleibt aber Marx, der sich selber
Resümee – Das entfremdete Subjekt | 325
von der Antike und dem deutschen Idealismus (v. a. Hegel) zu seiner Entfremdungstheorie hat inspirieren lassen. Von ihm ist die maßgebliche Achse Vergegenständlichung – Entfremdung – Aneignung entnommen und der daraus abgeleitete spätere Fetisch-Begriff. Erst mit Lorenzer werden Entfremdung und Fetisch aber auch in der Tiefenstruktur des Menschen verständlich. Mit Bourdieu hingegen lässt sich Entfremdung und auch der Fetisch wesentlich punktgenauer in Feldern beschreiben. Es ist daher nicht eine totalitäre Gesellschaft, die alle gleich entfremdet, sondern es sind immer spezifische Felder, die auf spezifische Subjekte treffen und spezifische Formen von Entfremdung produzieren. So kann ein Feld für den einen entfremdend wirken und der Andere kann sich glücklich darin entfalten. Vor allem aber ist zu erwähnen, dass Entfremdung nicht nur durch Arbeit entsteht, sondern durch Praxis (in verschiedenen Feldern) allgemein. Felder sind dabei unterschiedlich durch verschiedene Kapitalsorten geprägt, die unterschiedliche Herrschaftsstrukturen reproduzieren. Durch die Einführung des Kapitalbegriffs wird es verständlich, warum Menschen bestimmten Anerkennungsversprechen durch Kapital folgen, auch wenn sie dadurch entfremden. Der Mensch steht in jeder Epoche vor der Aufgabe, seine subjektiven Wünsche und Bedürfnisse mit der Außenwelt in Einklang zu bringen. Er muss diese daher in Objekten der Welt vergegenständlichen, um sie anschließend anzueignen. Er macht die Dinge, Verhältnisse und andere Menschen zu seinen Objekten, um sie mit seiner Subjektivität verbinden zu können. Entfremdung ist daher eine Störung im Prozess der Wiederaneignung von eigenen Vergegenständlichungen. Sie hat zur Folge, dass Menschen ihre inneren Besonderheiten nicht in den äußeren Strukturen realisieren können. Diese Aneignungsstörung kann in unterschiedlichen Lebenspraxen auftreten. Die Betroffenen fühlen sich in der Welt dann indifferent, sinnlos und fremdbestimmt. Diese Entfremdung kann durch Irritationen und ein daraus folgendes individuelles und kollektives Problembewusstsein verändert werden oder aber die Irritationen führen in den Bann (Adorno) bzw. Fetisch (Marx), bei dem die Identität das Nichtidentische nicht mehr berührt und in falscher Praxis sich versteift und falsch versöhnt. Diese falsche Praxis im Feld betrifft Orthodoxe und Häretiker, wobei die Orthodoxen daraus noch eine Anerkennung ziehen können, die über den Verlust der emotionalen Tiefe hinwegtröstet. Bei den Häretikern hingegen erzeugt das symptomatische Verhalten keinerlei Kapital, was zur Apathie führt. Diesen Sachverhalt beschreiben auch Engels und Marx in den Worten ihrer Zeit: „Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohn-
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macht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz.“ (Marx/Engels 1990[1845]: S. 37)
In der vorliegenden Arbeit wird diese Einschätzung in ihrer subjektiven Tiefe bestätigt und auch auf objektiver Ebene analytisch. Denn die „Psychoanalyse des Sozialen“ (Bourdieu 2003: S. 31) und die „Psychoanalyse als Sozialwissenschaft“ (Lorenzer 1971) ermöglichen einen neuen Blick auf das Subjekt und seine objektiven Bedingungen. In diesem Sinne ist die vorliegende Arbeit ein Beitrag zur Kritischen Theorie des Subjekts. Ideengeschichtlich habe ich die beiden Stränge des Marxismus wieder zusammengeführt: Eine subjektive und eine objektive Strukturanalyse werden in einer Theorie menschlicher Praxis wieder anschlussfähig. Die Interpreten des jungen Marx werden gewissermaßen mit den Interpreten des reifen Marx vermittelt. 1 Praxis wird dabei aus zwei Perspektiven lesbar und zu einem kohärenten Gesamtbild zusammengefügt. Daraus entstehen neue Perspektiven auf verschiedene Arbeitsfelder, etwa der politischen Psychologie, der Stadtarchitektur, der Bildung und Erziehung. Die verschiedenen Gegenstände verbindet die Frage: Welche Felder schaffen oder verhindern mit welchen Mitteln einen emanzipativen Freiraum, in dem eine Identität, im Sinne einer geglückten Persönlichkeitsentfaltung, entstehen kann und wie werden Menschen demokratische, friedvolle und – wenn nötig – widerständige Subjekte. Als Ergebnisse der Arbeit sind besonders zu erwähnen: 1.
2.
1
Der Begriff der Entfremdung ist für Sozialpsychologie, Soziologie und Sozialphilosophie unverzichtbar. Einerseits könnte sonst soziales Leid kaum adäquat beschrieben werden und andererseits ist Entfremdung ein historisch wiederkehrendes Gefühl, das für kritische Gesellschaftstheorien nicht zu entbehren ist. Entfremdung markiert außerdem eine ethisch notwendige Größe Kritischer Theorie. Die hier entwickelte Entfremdungstheorie kann auf essentialistische Verkürzungen verzichten, ohne dass sie eine Theorie der Subjektivität preisgeben müsste, die auch eine innere Natur und damit ein nicht-intersubjektivistisches Moment bewahrt. Eigensinn und Reproduktion werden so verständlich und im Leib verortet. Die materialistische Sozialisationstheorie (Lorenzer) und die Habitus-FeldTheorie (Bourdieu) lassen sich verknüpfen. Dadurch werden subjektive und objektive Strukturanalysen möglich, die gemeinsam theoretisiert werden können. Marx’ Theorie lässt sich so durch zwei Neomarxisten neu zu-
Ein Beispiel ist die explizite Vermittlung von Entfremdung und Fetisch, die bei Marx nur implizit ist (vgl. 1.2.3).
Resümee – Das entfremdete Subjekt | 327
sammenführen. Eine neue freudo-marxistische Theorieverbindung wird damit zur Diskussion gestellt. 3. Die blinden Flecken bei Bourdieu und Lorenzer werden sinnvoll von der jeweils anderen Theorie beleuchtet. 4. Entfremdung ist nicht alleine in Arbeitsprozessen zu finden. Entfremdung kann in jeder menschlichen Praxis, in jedem Feld, vorkommen. 5. Jedes Feld wirkt auf jeden Menschen (mit seiner spezifischen Sozialisationsgeschichte) unterschiedlich. So können einige Felder sehr intensiv entfremden, andere können entlastend sein. Es gibt aber kein gesellschaftliches bzw. feldspezifisches Unbewusstsein. Es gibt das Tabu der Doxa, das unterschiedliche Entfremdungsmomente produziert. 6. Bestimmte Felder sind auf symptomatisches Verhalten angewiesen und fördern es. Eine gute Position im Feld kann daher unter Umständen auf neurotisches Verhalten bzw. Entfremdung zurückzuführen sein. 7. Erfahrungen werden zum praktischen Sinn in einem Feld. Erfahrungen, die im Feld keine inneren Praxismuster ansprechen, bleiben unpraktischer (Eigen-)Sinn. 8. Der Habitus mit seinen Denk-, Wahrnehmungs- und Praxisschemata ist entscheidend für die Narration des Menschen und damit seine soziale Identität. 9. Erst wenn Identität und Subjektivität annähernd kohärent werden, kann der Mensch sich selber verstehen und wird Subjekt seiner Praxis. Er kann dann seine Wünsche und Bedürfnisse austauschen, in den demokratischen Prozess miteinbringen und sich selbst beschränken bzw. sublimieren. Das Gegenteil von Entfremdung ist daher Selbstverfügung (Autonomie), das Verstehen eigener Wünsche und Bedürfnisse durch Symbolisierung und die praktische Realisierung von Subjektivität. Allerdings ist der Mensch nie ganz entfremdet oder ganz bei sich. Der subjektive Anteil, der in der Identität keine Entsprechung findet, bleibt nichtidentisch. Das Nichtidentische ist die Quelle von Irritation, Kritik und Devianz. 10. Irritationen können individuell oder kollektiv dazu führen, dass verdinglichte Verhältnisse (Verkennung der sozialen veränderbaren Welt als unveränderliche Natur) hinterfragt und verändert werden. Dadurch können die Doxa und mit ihr die Herrschaft in einem Feld verändert werden. Kultur als Kunst kann Irritationen befördern, Kultur als Kulturindustrie hingegen instrumentalisiert die Entfremdung für den Fetisch/Bann. 11. Entfremdungsprozesse sind in jeder Entwicklung unvermeidlich. Überwindung von Entfremdung gehört daher zur Entwicklung von Subjektivität als anthropologische Konstante. Aber der Mensch ist auch immer gefährdet, Entfremdungen nicht mehr zu überwinden und damit in symptomatische
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Verhaltensweisen zu verfallen, die im Bann/Fetisch als vergessene Narration verfestigt werden können. Entfremdung ist aber auch ein ethisches Thema. Schließlich ist Entfremdung immer verbunden mit der Frage, wie ein besseres Leben den auszusehen hätte. Die Antwort darauf ist von jedem Menschen und seiner einzigartigen Sozialisation und Feldposition nur selber zu beantworten. Entscheidend ist jedoch, dass die eigenen Wünsche und Begehren verstanden werden, damit sie in einem demokratischen Prozess einfließen und verhandelt werden können, d. h. der Mensch Subjekt wird. Dadurch erst lassen sich objektive Verhältnisse herstellen und erhalten, die so zurückwirken, dass die Menschen darin stimmige Selbstnarrative und darauf aufbauend Identitäten ausbilden, in denen sie sich aufgehoben fühlen und die ihrer Einzigartigkeit entsprechen. Erst dann können sie die Verhältnisse gemeinsam so einrichten, dass „man ohne Angst verschieden sein kann.“ (Adorno 2003[1951]: S. 116)
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Soziologie Sighard Neckel, Natalia Besedovsky, Moritz Boddenberg, Martina Hasenfratz, Sarah Miriam Pritz, Timo Wiegand
Die Gesellschaft der Nachhaltigkeit Umrisse eines Forschungsprogramms Januar 2018, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-4194-3 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4194-7 EPUB: ISBN 978-3-7328-4194-3
Sabine Hark, Paula-Irene Villa
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Anna Henkel (Hg.)
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Soziologie Robert Seyfert, Jonathan Roberge (Hg.)
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Andreas Reckwitz
Kreativität und soziale Praxis Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie 2016, 314 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3345-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3345-4
Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)
movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9
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