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German Pages 340 Year 2015
Ute Luise Fischer Anerkennung, Integration und Geschlecht
Ute Luise Fischer (PD Dr. rer pol.) ist Privatdozentin an der Technischen Universität Dortmund. Derzeit vertritt sie eine Professur für qualitative Methoden an der LMU München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Arbeit, Geschlecht, Migration und qualitative Methoden.
Ute Luise Fischer
Anerkennung, Integration und Geschlecht Zur Sinnstiftung des modernen Subjekts
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Technischen Universität Dortmund.
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© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Ute Luise Fischer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1207-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
I N H AL T
Dank
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I. Einführung
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II. Sinnstiftung des modernen Subjekts in seiner Geschlechtlichkeit 1. Subjekt und Sinn – Strukturmodell der Lebenspraxis und der Bewährungsdynamik 2. Moderner Mythos und die Konstitution der Bewährung in der modernen Gesellschaft 3. Geschlecht und Bewährung 3.1 Strukturelle Verankerung der Geschlechterdifferenz in Bezug auf die Sinnstiftung 3.2 Geschlechterdifferenzen in der modernen Lebensführung 4. Untersuchungskonzept und methodische Anlage
23 23 33 51 51 67 74 83 84 85 91
III. Zwei Zentralfälle 1. Scheitern und Werden: Bettina Grebe 1.1 Analyse der biografischen Daten 1.2 Interviewanalyse 1.3 Resümee zur Fallstruktur: Bewährung und Anerkennungsordnung 2. Zaghafter Aktionismus: Frank Blöker-Olbert 2.1Analyse der biografischen Daten 2.2 Interviewanalyse 2.3 Resümee zur Bewährung im Fallvergleich
116 125 125 130 166
IV. Frauen und Männer in den Feldern der Bewährung 1. Bewährungsdynamik in weiteren weiblichen Biografien 1.1 Heimkehr: Sigrun Ziller 1.2 Balance: Anette Spenzel 1.3 Geschlechterbezogenes Resümee im Fallvergleich
169 170 170 195 218
2. Bewährungsdynamik in weiteren männlichen Biografien 2.1 „Nicht nur Leben aus Beruf“: Christoph Schulz 2.2 Entschieden kinderlos: Umberto von Quant 2.3 Geschlechterbezogenes Resümee im Fallvergleich
220 220 245 266
V. Schluss – Sinnstiftung und Geschlecht 1. Ergebnislinien der biografischen Bewährung in der Geschlechterperspektive 1.1 Radikalisierung der Bewährungsdynamik 1.2 Berufliche Bewährung: Vielfalt der Leistungsethik 1.3 Familiale Bewährung: Fürsorge im Schatten der Leistungsethik 1.4 Gemeinwohlbezogene Bewährung: Voraussetzungsvolle kollektive Bindung 2. Bewährungsdynamik und Geschlecht 2.1 Zur Ontogenese des Habitus: Geschlechterdifferenzen verlieren an Eindeutigkeit und Relevanz 2.2 Geschlechtsspezifische Bewährungsmythen zwischen Sachhaltigkeit und Bedeutungsaufladung 2.3 Fazit: Konstitution und Konstruktion der Geschlechterdifferenzierung 3. Bewährungsdynamik und Geschlechterverhältnis in der gegenwärtigen Krisenkonstellation 4. Ausblick
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Literatur Transkriptionszeichen
321 336
275 275 281 284 290 293 296 302 308 310 317
DANK
Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die ich 2008 an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität Dortmund eingereicht habe. Angestoßen wurde die hier behandelte Fragestellung von einem Fundstück. Dabei handelte es sich um einen konzeptionellen Text zum Inhalt unserer Lehre und Forschung innerhalb der betriebs- und volkswirtschaftlichen sowie soziologischen Diplomstudiengänge aus dem Jahre 2000. Darin war von der Entwicklungsdynamik und Krise der so genannten Arbeitsgesellschaft die Rede als verbindende Problemstellung. Es wurde der Bogen geschlagen zu Fragen einer sinnerfüllten Lebensführung, die unter Geschlechterperspektive noch zu durchdenken sei. An der Schnittstelle meiner bisherigen Forschungsinteressen – der Frauenarbeitsforschung, der ökonomischen und soziologischen Krisentheorien, der Fragen nach dem Werden und Sein der Geschlechtlichkeit der Praxis sowie der Verfasstheit des Geschlechterverhältnisses – traf das Konzeptionspapier auf meine Neugierde. Ein entsprechender Projektantrag wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligt und ermöglichte mir die Verwirklichung der Forschungsidee. Der DFG gebührt daher mein Dank für die freundliche Unterstützung. Das gilt auch für ihren Zuschuss zur Drucklegung dieser Studie. Für einen weiteren Druckkostenzuschuss danke ich der TU Dortmund. Die Einbindung am (ehemaligen) Lehrstuhl für Arbeitssoziologie von Hartmut Neuendorff machte auch in anderer Hinsicht aus dem Fund ein Forschungsthema. Die intensiven Materialanalysen in der Forschungstradition der objektiven Hermeneutik mit ihm und den Kollegen Stefan Heckel, Sascha Liebermann und Thomas Loer wurden für mich zur Quelle neuer Erkenntnismöglichkeiten. Ihnen sei an dieser Stelle ge7
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
dankt für geduldiges Erörtern und gemeinsame Analysen meiner Interviews. Ferner sei den Studierenden meiner Lehrveranstaltungen gedankt, die mich beharrlich dazu veranlassten, Argumente zuzuspitzen, die sich engagiert mit den Themen des Projektes auseinandersetzten und wichtige Diskussionspartner für die Interviewanalysen waren. Nicht zuletzt bin ich ein weiteres Mal Hartmut Neuendorff zu Dank verpflichtet, der ebenso wie Michael Meuser und Bettina Dausien diese Arbeit begutachtete.
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I. E I N F Ü H R U N G
„Ist das Leben gut gewesen, so ist es Müh und Arbeit gewesen…“
Dieser christlicher Sinnspruch1, das habe sie schon immer gesagt, sei doch eher ein Grabspruch für ein Pferd als eine Lebensmaxime, die eines Menschen würdig ist. Zu dieser Einschätzung kommt die Gleichstellungsbeauftragte eines Landkreises im Erzgebirge.2 Frau Jahn formuliert hier prägnant eine Kritik an der Zentralität der Arbeit für die Anerkennung eines gelungenen Lebens. Als ehemalige Bürgerin der DDR – die sich in der eigenen Verfassung als „Arbeiter- und Bauernstaat“ auswies – markiert sie damit auch ihre Distanz zu einer gesellschaftlichen Ordnung, die nicht den Bürger als Souverän anerkannte, sondern sich als eine Gemeinschaft der Werktätigen definierte – als ‚Arbeitsgesellschaft‘. Auch im anderen Teil Deutschlands sowie in der gegenwärtigen Diskussion ist der Topos der ‚Arbeitsgesellschaft‘ virulent. In ihrer Thematisierung kommt die Sorge um die Erosion einer institutionellen und sozialpolitischen Ordnung zum Ausdruck, deren tragende Überzeugungen und Regulierungen auf der Leistungsethik fußen. Sowohl die Fragen des sozialen Ausgleichs als auch die Wertschätzung des Einzelnen beruhen auf dem Grundsatz einer Existenzsicherung durch eigene Arbeitsleistung. Der Berufserfolg gilt als Merkmal eines anerkennenswerten Lebens. Insofern ist die Auseinandersetzung mit der ‚Zukunft der 1 2
In der älteren Lutherübersetzung der Bibel, Psalm 90, Vers 10. Die Aussage trifft sie in einem Interview von 1994 aus meiner früheren Studie über die Transformationsfolgen für die Frauenerwerbsarbeit nach der deutschen Wiedervereinigung (Fischer 2001). Der Name ist wie alle Namen in dieser Arbeit anonymisiert. 9
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Arbeit‘ verbunden mit einer Selbstverständigung der Gemeinschaft als Ganzer. Es geht hier auf gesellschaftlicher Ebene um nichts Geringeres als um die Anerkennungsordnung. Sie ist dem Einzelnen nicht nur wegweisend für die Frage, welche Beiträge Anerkennung durch die Gemeinschaft finden, sondern auch wer wodurch in was integriert ist. Für den Einzelnen stehen mögliche, wertgeschätzte Antworten auf die Frage nach dem Sinn seines Lebens zur Debatte, denn der Sinngehalt seiner Entscheidungen steht im Zusammenhang mit der normativen Ordnung. In diesem Komplex der Anerkennung und Integration ist sogleich das Geschlechterverhältnis thematisch. Denn mit den – historisch veränderlichen – Formen geschlechtsspezifischer Verteilungen gesellschaftlich notwendiger Aufgaben, wie denen in der Familie, im Beruf und auf das Gemeinwohl bezogen, sind nicht nur Tätigkeitsdifferenzen verbunden, sondern auch Unterschiede ihrer Wertschätzung. In der Frauen- und Geschlechterforschung war diese Diskrepanz seit ihren Anfängen ein zentraler Gegenstand. Im Spannungsverhältnis von Gleichheit und Differenz standen sich in diesem Zusammenhang zwei feministische Haltungen gegenüber: die Forderung nach Anerkennung der – aus welchen Gründen auch immer – nach Geschlechtern getrennten Tätigkeitsbereiche auf der einen Seite (Gleichwertigkeit in Differenz); und die Forderung nach einer Verallgemeinerung der Tätigkeitsfelder jenseits der Geschlechterdifferenzen auf der anderen Seite (Gleichwertigkeit in Gleichheit). Letztlich geht es beim Anspruch auf Gleichberechtigung, Emanzipation oder Gleichstellung nicht allgemein um die Integration in bedeutsame gesellschaftliche Bereiche, sondern um eine Integration in genau solche Tätigkeitsfelder, die wertgeschätzt werden. Im Selbstverständnis einer ‚Arbeitsgesellschaft‘ ist dies die Integration in den Beruf. Doch wenn Mann und Frau das gleiche tun, bedeutet es nicht dasselbe: Die Teilhabe an zentralen Feldern führt nicht zwangsläufig zur Wertschätzung, da die Anerkennungsordnung nach Geschlechtern differenziert, wie die Ergebnisse der vorgelegten Studie verdeutlichen. Insofern ist mit der zunehmenden Teilhabe von Frauen an qualifizierter beruflicher Tätigkeit nicht auch eine Gleichwertigkeit der Anerkennung verbunden. Verstehen lässt sich dieses Phänomen nur, wenn die wechselseitige Abhängigkeit der gesellschaftlichen Felder vor dem Hintergrund der je konkreten Anerkennungsordnung betrachtet wird. Genau dies ist das Anliegen dieser Studie: Ausgangspunkt ist die These, dass bewährte Antworten auf die Sinnfrage, wie sie etwa im kollektiven Bewährungsmythos der Leistungsethik gegeben sind, ihre Tragfähigkeit verlieren und damit die ‚Arbeitsgesellschaft‘ auch in ihrem Kern erschüttert wird. Daran schließt sich die forschungsleitende Frage an, ob neue Mythen und Formen der Sinnstiftung an deren Stelle treten und worin dieses 10
I. EINFÜHRUNG
Neue bestehen könnte. Anzunehmen ist angesichts der (nachgeholten) Modernisierung der Frauenleben eine Angleichung der Lebensentwürfe und der Lebensführung von Männern und Frauen. Insofern stellt sich die Frage, ob sich die Antworten von Männern und Frauen auf die Sinnfrage überhaupt (noch) unterscheiden. In diesem Fokus lassen sich Konfliktlagen annehmen, die aus Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter hervorgehen, wenn vormals mehr oder weniger korrespondierende Arrangements der geschlechterdifferenzierten Formen der Sinnstiftung auf die Probe gestellt werden. Damit sind unmittelbar Fragen der gesellschaftlichen Kohärenz aufgeworfen, indem veränderte Aufgabenteilungen nicht zwangsläufig dazu führen, dass gesellschaftliche Reproduktionserfordernisse eingelöst werden. Nur in Passung zur je gegebenen kulturellen Ordnung und dem Selbstverständnis der Gemeinschaft kann dies geschehen. Insofern besteht eine enge Verknüpfung zwischen den Ausformungen des Geschlechterverhältnisses, der Anerkennungsordnung und dem spezifischen Verständnis von Integration. Das Sinnthema hat seit Jahren Konjunktur in öffentlichen Debatten. Die Ergebnisse meiner Studie legen den Schluss nahe, dass dies nicht nur so bleiben wird, sondern dass es zunehmend zu einem zentralen Fokus der Auseinandersetzungen sowohl auf der Ebene der Gesellschaft als auch für den Einzelnen in seiner Lebensgestaltung werden wird. Der Einzelne kann sich nur im Handeln, das auf die Sozialität bezogen ist, als Teil eines übergeordneten Ganzen erfahren sowie auch sein individuelles Tun und Unterlassen als sinnvoll erleben. Daher stehen die Fragen der Anerkennung und der Integration des Einzelnen in die Gesellschaft in direktem Zusammenhang. Der Hintergrund für die Aktualität und Brisanz der Thematik besteht allgemein in den Folgen des fortschreitenden Rationalisierungsprozesses, den Weber schon Anfang des 20. Jahrhunderts als die Herausforderung des „Kulturmenschen“ bezeichnete. Dieser müsse über die sinnstiftenden Inhalte seines Lebens und über den Sinn des Weltgeschehens selbst befinden (Weber 1956: 193). Er betrachtete das Schwinden gemeinsamer Lebenserfahrungen und Prägungen durch die Schwächung sozial-moralischer Milieus als Ausgangspunkt von Differenzierungen in den Wertebezügen des Einzelnen (Weber 1980). Entfallen aber Kollektiverfahrungen aus einer geteilten Lebenslage, werde auch die Wertbindung prekär. Andere Autoren sehen in den Entwicklungen insbesondere der letzten 30 Jahre eine neue Qualität der Freisetzung und des Orientierungsverlustes. So spricht etwa Giddens (1991) von Entwurzelung und Entbettung, die forciert werden durch zunehmende weltweite ökonomische Verflechtungen und transnationalisierte Lebensweisen.
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ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Woher also bezieht der Einzelne den Grund für sein Handeln? Gibt es Orientierungen, verbindliche Werte und Deutungsmuster, an denen er sich ausrichten, auf die er sich beziehen kann? Wo nicht mehr der strenge Gottvater, auch nicht mehr der leibhaftige Vater in uneingeschränkter Autorität drohen, wer bietet Kriterien für eine gelungene Lebensführung an? Worin bestehen sie? Von wem werden sie geteilt? Woher beziehen sie ihre Gültigkeit und Verbindlichkeit? Oder ist gerade Unverbindlichkeit ein Merkmal moderner Gesellschaften, wie von manchen konstatiert wird? Haben wir es mit einem allgemeinen Verlust gemeinschaftlicher Normen zu tun, vor dem allein partikulare Gesinnungsgemeinschaften oder spezifische Zweckgemeinschaften schützen? Obgleich ein altes Thema, ist die Rede vom Sinn ein modernes Phänomen. Die Sinnfrage stellt sich jenseits exklusiver philosophischer Zirkel als verallgemeinerte Frage an alle erst, wenn Entscheidungsmöglichkeiten nicht schon durch traditionale Vorgaben weitgehend geschlossen sind. Das Nachlassen der Handlungsvorgaben, wie sie insbesondere durch religiöse Wertbindungen gestiftet waren, ist ebenso einflussreich auf die Lebensführung wie die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die in einer Gesellschaft vorherrschen. Das 20. Jahrhundert hat in dieser Hinsicht in den westlichen Gesellschaften enorme Umwälzungen hervor gebracht: Mehr Zeit steht dem Einzelnen zur Verfügung, die nicht durch berufliche und haushaltsbezogene Aufgaben festgelegt ist. Die körperliche Verausgabung ist in der Mehrheit der Tätigkeiten geringer geworden. Der materielle Lebensstandard ist gewachsen, bis in die 1980er Jahre hinein gilt das in Westdeutschland auch für die Reallöhne. Das Bildungsniveau ist gestiegen ebenso wie die Zeiträume, in denen sich der Lebensentwurf zweckfrei entfalten kann, bevor Verantwortung in Beruf, Familie und für das Gemeinwesen übernommen wird. Das Leben des Subjekts in der entwickelten modernen Gesellschaft ist in dieser Perspektive durch einen Zugewinn an Freiheit geprägt. Damit ist der Radius beschrieben, innerhalb dessen das Subjekt – im Wortsinn der Unterwerfung3 – sich selbst unterworfen ist und die Regie seines Lebens führt. Im fortschreitenden Rationalisierungsprozess kommt das Subjekt zu sich selbst. Und das gilt – so die hier verfolgte These – gleichermaßen für Männer und Frauen. Nun erst stellt sich beiden Geschlechtergruppen die Frage nach dem Sinn des Lebens. Denn sie erwächst aus der Freiheit der Entscheidung, die zwar strukturell immer vorhanden, aber lebenspraktisch in dem Maße vorentschieden ist, in dem die Not der Existenzsicherung und die normativen Vorgaben der Lebensführung kaum Spielräume zur Lebensgestaltung lassen. 3 12
Lat.: das Zugrundeliegende; der Unterworfene (Pfeifer 1993).
I. EINFÜHRUNG
Doch dies ist nur die eine Seite der Medaille, die im Individualisierungsdiskurs als die „Freisetzungsdimension“ (Beck 1986: 206) des Rationalisierungsprozesses bezeichnet wird. Der Freiheitsgewinn ist mit Verlusten verbunden, die unter der „Entzauberungsdimension“ gefasst werden: Es handelt sich um Verluste an Sicherheit, Orientierung und Zusammengehörigkeit. Mit dem Begriff der „Individualisierung“ (ebd.) hat Beck auf die Ambivalenz dieses Prozesses hingewiesen: Mit den gestiegenen Freiheiten zur eigenen Entscheidung gehen auch neue Anstrengungen einher. Der Einzelne kann sich nicht nur freier entscheiden, sondern er muss es auch. Diese dialektische Einheit von „Wahlmöglichkeit und Wahlzwang“ (ebd.: 190) wird noch dadurch gesteigert, dass die Begründung der eigenen Handlungsentscheidungen individuell erfolgen muss, da immer weniger Vorgaben zur Entscheidungsentlastung zur Verfügung stehen. Es ist nicht nur eine Freiheit von etwas, sondern auch zu etwas. Denn der Wegfall vormaliger Gewissheiten – wie etwa der, dass der Sohn des Schusters Schuster wird oder dass die Tochter aus katholischem Hause kirchlich heiraten wird – ersetzt noch nicht die Antwort. Der Wegfall muss positiviert und im Handeln erfüllt werden. Neben die größeren Entscheidungsfreiheiten treten also auch die Anforderungen, sie zu nutzen und bei der Begründung mehr und mehr auf sich selbst gestellt zu sein. Zwischen gewonnener Freiheit und zugemuteter Verantwortung entsteht eine Spannung, die den Einzelnen überlasten kann (Gärtner 2000: 13). Ein zentrales Ergebnis meiner Studie ist, dass nicht zuletzt aufgrund dieses Umstands – der gestiegenen Verantwortung für die eigenen Lebensentscheidungen – der Habitus des Einzelnen immer bedeutsamer wird für die Fähigkeit, dieser Verantwortung im Sinne einer modernen, sinnerfüllten Lebensweise gerecht zu werden. Die soziologischen Interpretationen dieses ambivalenten Prozesses unterscheiden sich in der Einschätzung der Belastungen, die mit der Freisetzung und Entzauberung einhergehen. In der optimistischen Variante wird der Freiheitsgewinn im Sinne größerer Handlungsspielräume für eine autonome Lebensführung betont (z.B. Brose/Hildenbrand 1988; Geissler/Oechsle 1996). Dabei wird auch tendenziell eine schwächer werdende Wirkung von sozialen Ungleichheitsstrukturen erwartet wie etwa Geschlecht, soziale Lage oder Ethnizität. Jenseits dieser Strukturgeber werden erweiterte biografische Gestaltungschancen gesehen. In der pessimistischen Lesart stehen Belastungsmomente im Vordergrund. In der Freisetzung wird vor allem die Gefahr der Überforderung ausgemacht sei es in Bezug auf die Gestaltungskompetenz der eigenen Biografie oder beim Schutz vor Vereinnahmungen durch stärker als je zuvor in die Lebensführung eindringende Vermarktlichungstendenzen, wie sie pointiert in der Figur des „Arbeitskraftunternehmers“ (Voß/Pongratz 13
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
1998) oder des „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) gefasst sind. Ferner wird auf die Beharrlichkeit sozialer Differenzierung im Sinne ungleich verteilter Chancen auf Selbstbestimmung hingewiesen, die nun aber – demütigender als zuvor – der Einzelne sich selber zurechnen müsse. Das Ringen um autonome Lebensführung sei schließlich nur ein Ausdruck einer „biografischen Illusion“ (Bourdieu 1990), bis letztlich auch das Subjekt nur noch als Illusion erscheint (Beck u.a. 2001: 43). Das forcierte Aufkommen der Frage nach dem Lebenssinn ist damit zugleich Ausdruck einer Krise. Es ist nicht nur eine Krise der kulturellen Gewissheiten für die Handlungsorientierung, also eine Sinnkrise im Allgemeinen. Sondern sie findet ihren Niederschlag in den gesellschaftlichen Bereichen, die zentrale Quellen des Lebenssinns darstellen: Beruf, Familie und Gemeinwohl. Alle drei Bereiche sind durch eine hohe Dynamik und einen Struktur- und Bedeutungswandel gekennzeichnet. Diese konkreten, krisenhaften Transformationsprozesse sind es, die die öffentliche Diskussion dominieren, ohne dass deren kulturelle Wurzel sichtbar und thematisiert wird. Insofern muten die Lösungsversuche in den Bereichen der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Familienpolitik hilflos an. Allen voran wird seit den 1980er Jahren eine ‚Krise der Arbeitsgesellschaft‘ insbesondere als Krise des Arbeitsmarktes gedeutet. Nicht zufällig entstanden in jener Zeit die soziologischen Auseinandersetzungen über die Art der Krise und ihre Lösungsmöglichkeiten (vgl. exemplarisch Matthes 1983). Denn das Problem der zunehmenden Massenarbeitslosigkeit bezieht sich nicht allein auf die Frage der Einkommenssicherung und -verteilung, sondern enthält im Kern ein kulturelles Problem: Angesichts der vorherrschenden Sinnstiftung durch den Beruf muss ein befürchtetes ‚Ende der Arbeit‘ als drohender Verlust der bedeutsamsten Sinnquelle erscheinen (Eder 2000; Oevermann 2001a). Die Leistungsethik ist in einer vornehmlich als ‚Arbeitsgesellschaft‘ gedachten Vergemeinschaftung eine Kohärenz verbürgende Kraft. Ihre Tragfähigkeit ist unter Bedingungen von Massenarbeitslosigkeit aber zum einen quantitativ gefährdet. Denn bei steigender Arbeitslosigkeit ist für eine größer werdende Zahl von Bürgern der Zugang zu leistungsethischem Tätigkeitserfolg verschlossen. Das gilt zumindest insofern er nur auf Erwerbsarbeit bezogen definiert wird. Zum anderen erodiert die Leistungsethik auch qualitativ, wenn Erwerbsarbeit als knappes Gut nach Gerechtigkeitskriterien (um- oder gleich-)verteilt wird, wie es den Forderungen aus dem Umfeld der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie (vgl. auch Kocka/Offe 2000) oder Teilen der feministischen Diskussion entspricht (Fraser 1994; Notz 2005). Denn nach Oevermann (2001a: 26) lässt sich eine leistungsethisch motivierte Belohnung von
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I. EINFÜHRUNG
Arbeitsleistung nicht aufrechterhalten, wenn die Zuteilung von Arbeit selbst schon Belohnung ist. Solche Diskussionen um eine ‚Krise der Kultur‘ und eine mögliche Erosion der Leistungsethik als zentralem sinnstiftenden Mythos haben ihre Vorläufer in den 1950er Jahren. Damals wurde auf kulturelle und sozialstrukturelle Wandlungsprozesse aufmerksam gemacht, die als folgenreich für die ethische Legitimationsbasis des kapitalistischen Arbeits- und Entlohnungssystems angesehen wurden. So weisen etwa die Studien von Riesman u.a. (1958) und Bell (1976) darauf hin, dass sich bereits seit den 1920er und forciert seit den 1940er Jahren Entwicklungen in den USA abzeichnen, die einen „Verfall der protestantischen Ethik und des puritanischen Charakters“ anzeigen (Bell 1991: 72). Vor dem Hintergrund eines stetigen Wirtschaftswachstums, das materielle Sicherheit garantiert, entstehe eine Wertverschiebung, die der Existenzsicherung weniger Gewicht beimesse. Doch sieht es für Bell zunächst noch so aus, als fehle „jedwede fundierte neue Ethik“ (ebd.), die an deren Stelle treten könnte. Der internationale Stand der Forschung über einen Wandel der Werte (vgl. Inglehart 1995, 1998), der Arbeitseinstellungen (vgl. z.B. Cannon 1994; Lebaube 1994; Yankelovich 1990) sowie der Formen der Lebensführung (vgl. Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“ 1995; Kudera/Voß 2000; Vetter 1991) deutet inzwischen darauf hin, dass ein „Wechsel der Denkweisen“ (Gorz 2000: 85) bereits stattgefunden hat, nicht aber ein dazu passender Wandel des Politischen auf der Ebene der gesellschaftlichen Institutionen. Immer mehr, so der Tenor dieser Studien, stehe bei den vor allem befragten jungen Erwachsenen der Aspekt der Selbstverwirklichung und der Lebensqualität, die positiv korreliert mit Gesundheit, Freundschaften und sozial nützlicher Aktivität, im Vordergrund ihrer Bedürfnisse und Orientierungen. Riesman u.a. sahen bereits Anfang der 1950er Jahre im Wechsel vom „innen-geleiteten Charakter“ zum „außen-geleiteten Charakter“ sich eine neuartige Lebensweise formieren, in der Berufserfüllung und Lebenserfüllung nicht mehr ineinander greifen, sondern in der sich die „Lebenserfüllung im Umgang mit anderen Menschen“ (Riesman u.a. 1958: 137) vollzieht. Sie vermuteten, dass die Arbeit, der Menschen aus Gründen ihrer Begabung und ihrem Wunsch nach schöpferischem und emotionalem Einsatz nachgehen, für die Mehrzahl nicht mehr mit den Tätigkeiten identisch ist, aus denen sie ein Einkommen beziehen (ebd.: 288). Gerade aber Formulierungen wie, es wachse der Wunsch, „fremdbestimmte Arbeit durch selbstbestimmte Aktivitäten auszugleichen“ oder „Herr seiner Zeit, seines Lebens, der Wahl und Verwirklichung seiner Ziele zu sein“ (Gorz 2000: 89), verweisen auf ein Forschungsdesiderat: Was genau verbirgt sich hinter der beanspruchten Selbstbestimmung und 15
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Selbstverwirklichung? Sind diese Ansprüche auf die Sphäre außerhalb der Erwerbsarbeit bezogen oder ist hier die konsequente Entfaltung einer Leistungsethik gemeint, die gerade in der sach- und problembezogenen Hingabe die Autonomiepotentiale zur Selbstverwirklichung sucht? Wenn also die Erfahrung von Lebenssinn durch Erwerbsarbeit nicht mehr für alle und zunehmend für weniger Menschen möglich ist, was geschieht dann mit dem sozialen Zusammenhalt, der Integration und der Sinnstiftung allgemein? In welchem Verhältnis zur Erwerbsarbeit stehen die übrigen Bereiche wie Familie und Gemeinwohlbeiträge? In welcher Weise lagern hier sinnstiftende Potenziale? Wie sind sie in die Anerkennungsordnung einbezogen? Die krisenhaften Phänomene, die den Anstoß für die Debatten über den sozialen Zusammenhalt und kulturelle Krisenlagen liefern, betreffen nicht nur den Arbeitsmarkt, sondern auch die politische und soziale Ordnung. Seit einigen Jahren gehören die demografische Entwicklung, insbesondere das Phänomen steigender Kinderlosigkeit zu den Dauerbrennern der Berichterstattung und der Reflexion in den Feuilletons. Auch hier geht es nur vordergründig um ökonomische und sozialpolitische Problemlagen. Nicht die wachsende Belastung des Sozialbudgets durch hohe Arbeitslosenquoten und die steigende Anzahl von Rentnern im Verhältnis zu beitrags- und steuerzahlenden Erwerbstätigen markieren die Krise. Sondern die heftigen Auseinandersetzungen zum Zustand der Familie, der Kindererziehung und Kinderbetreuung, sowie der Entwicklung der Geburtenraten beziehen ihre Emotionalität und Verve daraus, dass auch hier grundlegende Lebensentscheidungen und vor allem deren allgemeine kulturelle Anerkennung verhandelt werden. Nicht zuletzt sind damit Fragen geschlechtsspezifischer Lebensentwürfe angesprochen, die nur oberflächlich als Vereinbarkeitsproblem in dieser Debatte erfasst werden. Sie tangieren die Wertschätzung der Lebensführung und damit letztlich die Chance des Einzelnen auf Bewährung seines Lebens. Vor dem Hintergrund einer Dominanz beruflicher Sinnstiftung und schwindender traditionaler Ausdeutungen der Geschlechtlichkeit müssen auch familiale Tätigkeiten und Aufgabenverteilungen nach eigenen Entscheidungen gestaltet werden. Geschlechtsspezifische Lebensentwürfe werden damit begründungsbedürftig und verlieren ihre selbstverständliche Legitimation. Auch diese Entscheidungen stehen im Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung und lassen enorme Belastungen und Konfliktpotenziale erwarten. Tatsächlich sind besorgniserregende Phänomene zu beobachten. Ein hohes Gewaltpotential von Eltern und Heranwachsenden zeugt davon, dass Eltern ihre Erziehungsaufgaben nicht immer verantwortungsvoll wahrnehmen. Familien bilden nicht mehr das stabile Fundament wie es 16
I. EINFÜHRUNG
zu Beginn der Republik – dem „goldenen Zeitalter der Familie“ (Bertram 1997) in der Nachkriegszeit – aussah. Doch welche Art von Krise liegt hier vor? Bertram wird nicht müde anzumahnen, dass der Vergleichsmaßstab für den heutigen Zustand der Familie wohl gewählt sein muss, denn im längeren historischen Vergleich stellt sich das deutsche Familiensystem der 1950er Jahre eher als Ausnahme, denn als Regel dar. Warnungen vor einem ‚Zerfall der Familie‘ relativieren sich dann. Die Familie als Lebensform ist kein Auslaufmodell. Sondern das, was als Pluralisierung oder „Vervielfältigung von Lebensformen“ (Seidenspinner u.a. 1996) bezeichnet wird, lässt sich vielmehr als Ausdruck einer gewonnenen Zeit für das Durchlaufen verschiedener Lebensformen interpretieren. Durch die verlängerte Adoleszenz für Männer und seit einiger Jahrzehnten auch für Frauen ergibt sich eine Chance, die zunehmend auch ergriffen wird: Junge Erwachsene verlassen nach Ende ihrer Ausbildung das Elternhaus, vielleicht ziehen sie in eine Wohngemeinschaft und leben danach mit ihrem Partner ‚apart together‘ oder sind für eine Weile Single. Oder sie leben mit ihrem Partner zunächst ohne, später mit Trauschein zusammen. Letztlich münden die meisten Lebenswege in eine Partnerschaft, die auf die Gründung einer Familie ausgerichtet ist.4 Die Verbreitung der meist Patchworkfamilie genannten oder mit anderen schillernden Begriffen belegten Nachfolgefamilie macht hingegen auf ein anderes Phänomen aufmerksam: Es ist Ausdruck einer gestiegenen Freiheit in der Gestaltung des eigenen Lebens, auch der Partnerschaften und Intimbeziehungen, die zur Auflösung bestehender Familien und zu Neugründungen führt. Pointiert formuliert: Im fortschreitenden Prozess der Freisetzung des Subjekts aus Handlungszwängen kommen Partnerschaft und Familie zu sich selbst. Gerade der Anstieg von Scheidungen und Wiederverheiratungen oder einem Zusammenleben ohne Trauschein kann Ausdruck für ein Streben nach lebendigen Paarbeziehungen sein, indem eine gescheiterte Partnerschaft aufgegeben wird. Der Geburtenrückgang wird in diesem Zusammenhang systematisch überschätzt durch die Art der Datenerhebung, indem zum einen nur eheliche und Erstfamilien in die Statistik einbezogen werden (Dorbritz 2003) und zum anderen die in quantitativen Studien berücksichtigten Jahrgänge zu jung sind, wenn man bedenkt, dass das Alter bei der Geburt des ersten Kindes unter Akademikern auf bis zu 40 Jahren gestiegen ist. 4
Im Abschlussbericht des genannten Projektes (Keddi u.a. 1999) argumentieren die Autorinnen differenzierter und vorsichtiger. Nicht nur geben sie die These einer Pluralisierung der Lebensformen auf, auch der zentrale Stellenwert, den Partnerschaft und Familie für beinahe das gesamte Sample besitzen, wird deutlich herausgestellt. 17
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Auch die Gewalt- und Verwahrlosungssymptome sind in dieser Richtung zu interpretieren. Sie sind weniger das Resultat von Interesselosigkeit und Unvermögen der Eltern und jungen Erwachsenen, von einer hedonistischen Verweigerung von Verantwortung oder einer egoistischen Karriereorientierung, wie in diesem Zusammenhang oft zu hören ist. Sondern diese Phänomene zeugen von einem Überforderungssyndrom. Die Überforderung wäre dabei als direkte Folge der Berufstätigkeit von Müttern, wie es Schelsky (1967) einst vermutete, missverstanden. Stattdessen ist sie Ausdruck der erwähnten Spannung zwischen Freiheit und Verantwortung. Insbesondere im Bereich der Kindererziehung lässt sich diese potenzielle Überforderung leicht als Nährboden vorstellen für extreme, auch sozial monströse Verhaltensweisen. Doch welchen Stellenwert nimmt die Familie im Lebenszusammenhang von Männern und Frauen ein? Inwieweit unterliegt er Veränderungen insbesondere im Verhältnis zum Beruf? Sind hier Geschlechterdifferenzen aufzufinden oder haben sie sich inzwischen aufgelöst oder doch aufgeweicht? Worauf gründet sich väterliche und mütterliche Sinnstiftung und welche Formen nimmt sie gegenwärtig an? Diese Fragen stehen oftmals im Hintergrund einer Vielzahl empirischer Studien aus dem Forschungskontext der Biografieforschung ebenso wie der Frauen-, Familien- und der relativ jungen Väterforschung. Die ihnen unterliegenden sinnstiftenden Potenziale werden aber meist nicht analysiert. Dagegen wendet sich die hier vorgelegte Untersuchung möglichen geschlechtsbezogenen Differenzen im Hinblick auf die Sinnbezüge familialer Tätigkeiten zu. Sie verspricht, das so genannte Vereinbarkeitsproblem grundlegender zu verstehen und seine Konsequenzen für das Geschlechterverhältnis und gesellschaftliche Verwerfungen zu zeigen. Schließlich umfasst die Krisendebatte auch die Gemeinwohlbeiträge wie zahlreiche in Auftrag gegebene Untersuchungen zur ehrenamtlichen Tätigkeit ebenso zeigen wie die öffentlich diskutierte Sorge über eine Politikmüdigkeit oder einen schwindenden Gemeinwohlbezug der Bürger. Kann vor dem Hintergrund der Überforderungsdiagnose einerseits und einer drohenden Entwurzelung andererseits überhaupt eine Gemeinwohlbindung erwartet werden? Worin könnte sie fundiert sein? In welchen Formen könnte sie auftreten? Ist unter einem allgemein befürchteten Sinnverlust zum Beispiel bürgerschaftliches Engagement bedroht als eine spezielle Ausdrucksform sozialer Kooperation? Führt eine Schwächung normativer Kohäsion zu Formen von Entsolidarisierung? Neuere Studien geben Entwarnung hinsichtlich der allgemeinen Sorge vor einem Verlust an Bindungskraft und der Bereitschaft zu einem Engagement, das den Einzelnen übersteigt (Franzmann/Pawlytta 2008). Statt auf einen Zerfall oder ein Nachlassen bürgerschaftlicher Tätigkei18
I. EINFÜHRUNG
ten weisen zahlreiche Untersuchungen auf einen Strukturwandel des Ehrenamtes hin (Beher u.a. 2000; Enquete-Kommission 2002; Klages/ Gensicke 1999; Picot 2001; Rosenbladt 2000; Schüll 2004). Die Fragen aber, welchen Stellenwert gemeinwohlbezogene Beiträge im Komplex der sinnstiftenden Bereiche einnehmen, in welchen Formen und auf der Folie welcher Deutungsmuster einer Gemeinwohlbindung dies geschieht, beschreiben eine Forschungslücke. Im Komplex der einzelnen krisenhaften und sinnstiftenden Lebensund Gesellschaftsbereiche sowie auf der Ebene der allgemeinen Sinnkonstitution sind nun eine Reihe von Fragen aufgeworfen, die Gegenstand der folgenden Kapitel sind. Anerkennung und vorherrschende Werte stehen in einem direkten Zusammenhang. Jede Gemeinschaft bildet Werte aus, in denen solche Handlungen und Beiträge zum Gemeinwesen als anerkannt markiert werden, die für ihren Erhalt wichtig sind. In ihnen, v.a. in der codifizierten Form der Werte in Gesetzen und institutionalisierten Verfahrensweisen – wie etwa die Berechnungsgrundlagen von Renten und anderen Sozialtransfers – konkretisiert sich, in welcher Weise Integration ausgedeutet wird: als Werktätiger oder als Bürger? Welche Gestalt hat nun die gegenwärtige Anerkennungsordnung? Was gilt in welcher Form als wertgeschätzter Beitrag? Was ist der Bezugspunkt von Integration und Ausschluss? In welchem Verhältnis steht dabei gegenwärtig die Fürsorge für Kinder, die Formen, in denen elterliche Aufgaben wahrgenommen werden, zu beruflichen Leistungen? Wie steht dazu bürgerschaftliches Engagement? Gibt es andere, anerkannte Tätigkeitsfelder, die sinnstiftend sind für den Einzelnen? Woher beziehen sie ihren sinnstiftenden Gehalt? Was ist der Maßstab für die Wertschätzung der Beiträge in den einzelnen Bereichen? Und gilt dies für Männer und Frauen in unterschiedlicher Weise?
Ziele der Studie Diese Fragen sind aktuell und gesellschaftlich brisant, werden aber in den öffentlich ausgetragenen Diskussionen meist nur implizit mitgeführt. Mit ihrer Bearbeitung ist das Anliegen verbunden, ein besseres Verständnis der zugrunde liegenden Krisenkonstellation zu ermöglichen und neue Einsichten zur Bewältigung der Krisenlagen hervor zu bringen. Die erwähnten Phänomene, insbesondere die ‚Krise der Arbeit‘ bilden den Ausgangspunkt für die Untersuchung der These einer Krise der Kultur bzw. Krise der Sinnstiftung des modernen Subjekts (Oevermann 2001a). Damit werden die Entwicklungen im Feld der Erwerbsarbeit, der Familie und des Gemeinwohlbezugs in einen inhaltlichen Zusammenhang zur Frage der Sinnstiftung gestellt. Erstmalig werden sie auf diesem Wege sowohl in ihrer Bedeutung für die Lebensführung des Ein19
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
zelnen in seiner Geschlechtlichkeit analysiert als auch in ihrer gesellschaftlichen Relevanz für eine kohärente Lösung von Reproduktionserfordernissen der Vergemeinschaftung. Die gegenseitige Abhängigkeit der gesellschaftlichen Bereiche steht damit im Zentrum und eröffnet einen Blick auf Transformationen ehemals geschlechterdifferenter Aufgabenübernahme und Antworten auf die Sinnfrage in ihren gesellschaftlichen (krisenhaften) Konsequenzen. Im Ergebnis der Analyse wird auch das so genannte Vereinbarkeitsproblem neu gefasst, ebenso wie das Verhältnis von Anerkennung(sordnung) und Integration präziser in seiner Krisenanfälligkeit bestimmt wird. So wird ein Forschungsdesiderat bearbeitet, das Wagner (2004: 287) im Resümee ihrer Studie über gegenwärtige Anerkennungsverhältnisse als offene, empirisch zu untersuchende Frage kennzeichnet: In welcher Weise positionieren sich Männer und Frauen innerhalb gegebener und subjektiv bewerteter Anerkennungsordnungen und wie aktualisieren sie je konkret die Anerkennungsverhältnisse? Damit sind Ziele dieser Untersuchung im Gegenstandsbereich zeitdiagnostischer Klärungen zur gegenwärtigen Gestalt der Anerkennungsordnung und der Integration sowie Formen der Sinnstiftung in der Geschlechterperspektive formuliert. Darüber hinaus verfolgt diese Arbeit grundlagentheoretische Anliegen. Indem die Handlungsspielräume und der Grad der Offenheit von Handlungsentscheidungen des Einzelnen beleuchtet werden sowie die den Entscheidungen zugrunde liegenden Begründungen, geraten auch Bedingungen zur Autonomieentwicklung in den Blick sowie die Möglichkeiten, Autonomiepotenziale jenseits von Geschlechtergrenzen zu entfalten. Das Verhältnis von Emergenz, Beharrlichkeit und Transformation von Sinnbezügen, Deutungsmustern und Handlungsroutinen ist damit thematisch und umfasst auch die Gestaltungsoptionen in den Ausdrucksformen der Geschlechtlichkeit. Mit diesem Zugang wird eine subjekttheoretische Wendung der Geschlechterdifferenzforschung angestrebt, die den Forderungen der Biografie- und Geschlechterforschung sowie sozialisationstheoretischer Ansätze gerecht werden kann, mit einer prozessoralen Analyse der Frage nach dem Werden und Sein von Geschlecht nahe zu kommen, ohne dabei in die Falle ontologisierender Verkürzungen zu geraten. Denn die Blickrichtung auf eine Geschlechterrelevanz für die Lebensführung über die thematische Klammer der Sinnstiftung in den verschiedenen Lebens- und Gesellschaftsbereichen lässt zunächst offen, ob sich Geschlechterdifferenzen zeigen, inwiefern sie Relevanz besitzen bzw. erhalten und auf welchem Wege dies geschieht. Die Ausgangsüberlegung zum Verhältnis von Geschlecht und Lebenssinn ist zunächst: Indem sich jeder und jedem die Frage nach dem Sinn ihres und seines Lebens stellt und sie bzw. er dazu Stellung 20
I. EINFÜHRUNG
beziehen muss, formt sich entlang der je konkreten Positionierung die Geschlechtlichkeit aus. Es sind der Prozess und die Gestalt der Positionierung, anhand derer sich Differenzen erschließen lassen über folgenden methodologischen Dreiklang: Die These einer möglichen Geschlechterdifferenz in den Antworten auf die Frage nach dem Lebenssinn wird über die extensive Ausdeutung vorhandener Sinnbezüge in den biografischen Entscheidungen geprüft. Gegenstand von Strukturgeneralisierungen sind dann Formen möglicher Geschlechterdifferenzen, ihre Bildungsgeschichte und schließlich ihre Relevanz für die Lebensführung, für Möglichkeiten der Autonomieentfaltung und der Selbstverwirklichung. Über diesen Weg, so ist zu hoffen, lässt sich das aus Sorge vor Reifizierungen von Stereotypen weitgehend stillgelegte Thema geschlechtsspezifischer Sozialisation wieder aufnehmen und Erkenntnis gewinnen über die Genese von geschlechtlicher Differenzierung. Die Geschlechterperspektive lässt hier einen Erkenntnisgewinn auch für subjekttheoretische Überlegungen erwarten, indem das geschlechtliche Subjektwerden auf der Ebene der Bildungsprozesse entlang der Herausforderung einer Stellungnahme zu den sinnstiftenden Lebensbereichen verankert wird. Die im Titel dieser Arbeit geführten Großkategorien – Anerkennung, Integration und Geschlecht – ebenso wie die Rede vom Subjekt, von Autonomie(potenzialen) und Authentizität werden im Gang der Untersuchung ihre Berechtigung und Erklärungskraft erst noch erweisen müssen. Im Zuge poststrukturalistischer Delegitimierung solcher Begriffsschemata klingen sie zunächst verdächtig nach unzulässiger Verallgemeinerung und Essentialisierung. Doch wird sich zeigen, dass sich die Erkenntnisprobleme des geschlechtlichen Werdens des modernen Subjekts nicht lösen lassen, wenn diese Fragen nicht mehr gestellt werden.
Anlage und Aufbau der Untersuchung Der hier eingerichtete Fokus der Studie auf die Verschränkung von Subjekt und Kultur wird anhand einer empirisch begründeten Theoriebildung mittels biografischer Interviews bearbeitet. Das stetige Wechselspiel zwischen theoriegeleiteten Vorüberlegungen und empirischer Analyse, von empirisch geleiteter Strukturgeneralisierung zurück zu theoretischen Schlussfolgerungen, wie es den Forschungsprozess charakterisiert, wird in dieser Untersuchung in folgenden Schritten in eine argumentative Ordnung gebracht: Zunächst wird erläutert, warum sich dem Subjekt die Sinnfrage überhaupt stellt. Ein soziologisches Strukturmodell der Bewährungsdynamik (Oevermann 1995a) stellt den Zusammenhang zwischen der Lebenspraxis und der Sinnstiftung her. Von dieser als universell angesehe21
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
nen Struktur rückt die Argumentation weiter vor zu den historisch und kulturspezifischen Ausdrucksformen der Bewährungsdynamik, wie sie sich in modernen Gesellschaften zeigen. Dabei wird insbesondere untersucht, worin sich die Bewährung konstituiert, welcher Stellenwert Familie, Beruf und Gemeinwohlbeiträgen zukommt und ob sich auf dieser allgemeinen Betrachtungsebene Geschlechterdifferenzen in der Antwort auf die Sinnfrage zeigen. Schließlich werden daraus Thesen und Fragen entwickelt, die sich für die materiale Analyse der Interviews stellen. Methodisches Vorgehen und Zusammenstellung des Samples werden in dem Zusammenhang beschrieben. (Kapitel II) Das Untersuchungskonzept dieser Studie basiert im Wesentlichen auf der Rekonstruktion von Habitusformen und Deutungsmustern, die im Zusammenhang zur Erwerbsarbeit und der Lebensführung stehen. Diese werden in den Kapiteln III und IV in sechs Fallrekonstruktionen von Männern und Frauen dargestellt im Hinblick auf die gegenwärtig auffindbaren Formen der Sinnstiftung. Im Mittelpunkt der Interviewanalysen stehen die in den 1960er Jahren Geborenen. Sie haben zum Zeitpunkt der Interviews (2003-2006) zentrale biografische Entscheidungen bereits treffen müssen wie die Berufswahl oder die Gründung einer Familie. In ihren Lebensentscheidungen und Deutungsmustern über diese Entscheidungen gibt die Besonderheit des Falles Aufschluss über die allgemein wirksamen Herausforderungen der Lebensführung und möglichen, kollektiv anerkannten Antworten auf die Sinnfrage. Schließlich werden die Ergebnisse unter folgenden Themen zusammengeführt: Von Interesse sind die aktuellen Formen der Sinnstiftung, wie sie sich in den Deutungs- und Handlungsmustern der Interviewten zeigen. Der Stellenwert der beruflichen Arbeit in den aufgefundenen Ausformungen der Leistungsethik wird im Verhältnis zu anderen Lebensbereichen beleuchtet. Fokussiert wird dabei die Bedeutung der Geschlechtlichkeit der Praxis für die Antwort auf die Sinnfrage. Überlegungen zu einer geschlechtssensiblen Subjekttheorie werden aus der Analyse geschlechtsdifferenzierender Konstitutionsprozesse des Subjekts herausgefiltert. Die gegenwärtige Gestalt der Anerkennungsordnung wird daraufhin beschrieben, wie gesellschaftliche Integration gedeutet und erlebt und gesellschaftliche Kohärenz hergestellt wird. Dabei interessiert insbesondere, mit welchen biografischen Konflikten dies verbunden ist und welche Quellen der Inkohärenz die Krisendiagnose offen legt. Vor diesem Hintergrund wird das so genannte Vereinbarkeitsproblem re-interpretiert, dem derzeit bei der Diskussion um Beruf und Kindererziehung, ebenso wie in der Reform der Sozial- und Arbeitsmarktgesetzgebung große Aufmerksamkeit zukommt. (Kapitel V)
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II. S I N N S T I F T U N G D E S M O D E R N E N S U B J E K T S SEINER GESCHLECHTLICHKEIT
IN
Warum stellt sich dem Einzelnen die Sinnfrage? Eine soziologische Betrachtung richtet sich auf die Handlungsbedingungen des Subjekts, auf ihre Strukturen und ihre Entwicklungsdynamik. Im Folgenden wird dazu zunächst ein theoretischer Erklärungsrahmen eröffnet, in dem sich die Fragestellung dieser Studie verortet (1). Im Anschluss daran werden die konstitutiven Bedingungen der Sinnstiftung in der modernen Gesellschaft ausgeleuchtet und der moderne Bewährungsmythos skizziert (2). Diese Überlegungen führen zu der Frage, inwiefern die Geschlechtlichkeit der Praxis relevant für die Antworten auf die Sinnfrage sein könnte. Auch hier werden zum einen grundlegende Strukturen auf ihre geschlechtsbezogene Relevanz hin betrachtet, zum anderen historischspezifisch für die Lebensführung des modernen Subjekts in seiner Geschlechtlichkeit ausgeführt (3). Diese Vorüberlegungen münden in Thesen, die die empirische Untersuchung leiten. Ihre Umsetzung in ein Untersuchungskonzept und seine methodische Begründung schließen dieses Kapitel (4) ab.
1.
Subjekt und Sinn – Strukturmodell der Lebenspraxis und der Bewährungsdynamik
Jedes Handeln stellt eine Entscheidung dar: Etwas Bestimmtes wird getan oder unterlassen, es wird auf diese und keine andere Weise vollzogen. Aus Alternativen wird ausgewählt, eine Möglichkeit in Erwägung gezogen, andere verworfen. Das geschieht mehr oder weniger bewusst. Der Mensch kann nicht anders als Schritt für Schritt fortzuschreiten, dar23
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
in formt sich seine Eigenart, sein So- und nicht Anders-Sein. Dieser Prozess geschieht nicht willkürlich, sondern er folgt den Notwendigkeiten und je konkreten Bedingungen des Lebens sowie den gegebenen Vorstellungen über akzeptierte Entscheidungen. Der Handlungsraum, in dem sich das eigene Entscheiden vollzieht, bietet die Quelle des Sinns der eigenen Existenz und der Bedeutung des eigenen Handelns. Alle Entscheidungen – von grundlegenden Lebensentscheidungen bis hin zu unscheinbaren, alltäglichen – stehen in direktem Zusammenhang mit der Frage des Lebenssinns. Anders kann der Mensch nicht sein, als sinnvoll in Bezug auf sich selbst und das Ganze zu handeln. Wo dies aus dem Blick gerät, wo Handlungen und die eigene Existenz sinnlos erscheinen, wird es als Problem erkennbar und so auch vom Betreffenden thematisiert: Jemand kommt sich nutzlos oder überflüssig vor, das eigene Tun wird als wertlos wahrgenommen. Die Sinnfrage ist also virulent, sie kann mehr oder weniger bewusst erlebt und bearbeitet werden; sie zu lösen ist für das eigene Leben existenziell bedeutsam. Wie ist das zu erklären und welche Fragen sind dabei aufgeworfen? Oevermann hat den Zusammenhang zwischen den Handlungsstrukturen und der Sinnstiftung mit einem Strukturmodell von Religiosität (1995a) begründet und damit ein kultursoziologisch weit reichendes Erklärungskonzept zur Verfügung gestellt. Es setzt bei den Konstitutionsbedingungen menschlichen Handelns an und fußt auf einem strukturtheoretischen Modell der Lebenspraxis (Oevermann 1993). Beides – das Strukturmodell von Religiosität und der Lebenspraxis – sei hier erläutert.
Sinnstrukturiertes Handeln und seine Konstitution Die Sprachfähigkeit des Menschen markiert nach Oevermann (1995a: 43ff.) eine entscheidende Transformation im Übergang von Natur zu Kultur. Denn mit der Sprache treten Erzeugungsregeln für Bedeutungen in die menschliche Interaktion – unabhängig davon, auf welcher Entwicklungsstufe sprachlicher Verständigung dies betrachtet wird. Der Sprache kommt damit der Status einer universellen, einer die Gattung als Ganze prägenden Struktur zu. Auf den sprachlichen Regeln basieren Regeln des menschlichen Handelns und versehen dieses mit objektiver, nämlich regelgemäßer Bedeutung.1 Dies ist die Basis der Sinnstruktur, die menschliches Handeln charakterisiert. In dieser Verwendung steht Sinn für den Bedeutungsgehalt, der dem Handeln objektiv, gemäß der ihm zugrunde liegenden Regeln zukommt. 1
24
Ausführlich begründet Oevermann dies in seinem „Modell der Prädizierung“ (Oevermann 2004a).
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
Einem solchen strukturalistischen Ansatz stehen inzwischen eine Reihe postrukturalistischer Subjekttheorien gegenüber, deren Grundkritik sich gegen einen unterstellten Universalismus von Regeln, insbesondere der Sprache als objektive Struktur richtet. Demgegenüber betonen sie die inhärente Widersprüchlichkeit sprachlicher Zeichen, ihre kulturelle Instabilität, und vor allem bestreiten sie eine inhaltlich objektiv bestimmbare Kopplung von Signifikant und Signifikat (vgl. Reckwitz 2008: 20).2 Subjektformen erscheinen in poststrukturalistischer Analyse folglich als „schwankende Gestalten“ (ebd.) und fragile, destabilisierte Gebilde. Eine Einheit des ‚modernern Selbst‘, insbesondere ein autonomes, mit sich identisches Subjekt wird dabei als bloßer Effekt sozialer Regulierungen dechiffriert. Oevermann begegnet wissenssoziologischen und konstruktivistischen Einwänden mit dem Argument, dass eine Deutung, also das Repräsentierende (Signifikant), stets in Bezug auf ein deutungsbedürftiges Problem – das sprachlich Repräsentierte (Signifikat) – erst hervor gebracht wird. Die Deutung ist eine Antwort auf ein bereits Existierendes und Bestimmungsbedürftiges. Insofern kann in der Analyse der Deutung das die Deutung hervor gebrachte Problem rekonstruiert werden. Ob die Deutung bzw. die Prädizierung im repräsentierten Wissen sachangemessen oder in der Bedeutung aufgeladen oder misslungen ist, lässt sich methodologisch nur prüfen, indem die Differenz zwischen repräsentierendem und repräsentiertem Wissen zum Gegenstand der Analyse wird und nicht, wie es wissenssoziologisch verkürzt geschieht, Begriff und Sache identisch gesetzt werden (Oevermann 2001d: 52). Somit wird die Kopplung der Sinnstruktur an ihre Prädizierung nicht vorausgesetzt, wie es die poststrukturalistische Kritik unterstellt, sondern ihre Konstitution ist gerade Gegenstand der Rekonstruktion, wird dadurch also methodisch kontrollierbar. Oevermann (2003a: 189) verdeutlicht die konstitutive Bedeutung der objektiven Sinnstruktur am Beispiel der Begrüßung einer Person. Wird die Begrüßung verweigert, liegt eine Verletzung eben jener Regel vor, die die Bedeutung des Begrüßungsaktes konstituiert: Im Gruß und seiner Erwiderung manifestiert sich Reziprozität, es realisiert sich die gegenseitige Anerkennung der Interaktionspartner, und es befestigt sich Sozialität im Handlungsvollzug. Die Verletzung der Regel ist immer noch re2
Es würde den Rahmen und die Ziele dieser Studie sprengen, die poststrukturalistische Kritik weiter auszuführen und zu diskutieren. Vielmehr werden hier die empirischen Analysen dazu genutzt, die Tragfähigkeit von Oevermanns Strukturannahmen und die durch sie eröffneten Erkenntnismöglichkeiten zu prüfen. Insbesondere interessiert mich die Erklärungskraft und Reichweite einer strukturtheoretisch fundierten Subjekttheorie für die Analyse der Geschlechterdifferenzierung. 25
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
gelgeleitet durch ihren Bezug auf die objektive Sinnstruktur. Zu unterscheiden davon ist der normative Sinn einer Handlungsentscheidung. Im Beispiel der Begrüßung stellt die Verweigerung des Grußes eine Normverletzung dar. Praktisch, jedoch nicht regelhaft ist der Handlungsvollzug damit gescheitert. Der normative Sinn wird durch die objektive Sinnstruktur erzeugt, er ist also konstitutionslogisch dem objektiven Sinn nachgeordnet (ebd.: 192). Am Beispiel der Begrüßung wird das unmittelbar deutlich: Ohne die Voraussetzung der Regel (Gruß und Gegengruß eröffnen eine gemeinsame Praxis) wäre die Entscheidungssituation gar nicht erzeugt, die durch die Normierung des Zurückgrüßens spezifiziert wird (ebd.: 194). Beide Bedeutungsgehalte des Sinnbegriffs (regelhaft und normativ) sind im Handeln der Lebenspraxis immer gleichzeitig virulent und stehen in diesem doppelten Verständnis in Bezug zur Themenstellung dieser Arbeit: Der Lebenssinn ist auf der Ebene der normativen Sinngehalte einer Handlung in sofern thematisch, als er sich aus den Handlungsweisen ergibt, die in einer Gemeinschaft als gelungen und wünschenswert anerkannt sind. Dennoch erhebt er sich erst auf der zugrunde liegenden regelerzeugten objektiven Sinnstruktur. Dieses Verhältnis soll nun näher aus der Struktur der Lebenspraxis begründet und in Bezug auf die Fragestellung der Sinnstiftung konkretisiert werden. Denn beide Sinngehalte sind Gegenstand der in den folgenden Kapiteln rekonstruierten Fälle. Welches die objektiven Bedingungen des Handelns sind, hat Oevermann (1993) im Strukturmodell der Lebenspraxis entwickelt. Auf der Grundlage der Sprachfähigkeit und der sprachlich konstituierten objektiven Bedeutung des Handelns tritt die Differenz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ins Bewusstsein. Dies geschieht, indem sprachvermittelt unterschieden werden kann zwischen der empirischen Wirklichkeit des Jetzt, also der gegenwärtigen Handlung einerseits, und einem Optionenraum möglicher Handlungen andererseits. Indem Sprache Bedeutung repräsentiert, gehört auch eine hypothetisch konstruierte Welt von Möglichkeiten zur empirischen Wirklichkeit des Handelnden. Sprache bringt den Dualismus von repräsentierter, gegenwärtiger Wirklichkeit des konkreten Handlungsvollzugs und repräsentierender Wirklichkeit im Sinne hypothetisch konstruierter Möglichkeiten hervor. Durch die Existenz von Handlungsoptionen, entstehen Entscheidungsstellen in prinzipiell jeglichen Handlungssituationen. Mit jeder Wahl einer Möglichkeit werden andere Optionen ausgeschlossen und spezifische Folgen erzielt. Handeln folgt also strukturlogisch einer sequenziellen Abfolge, die als solche nicht nur für das handelnde Subjekt und die Sozialität Bedeutung erlangt, sondern in dieser Sequenzialität auch der Analyse zugänglich ist. 26
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
Im Handlungsvollzug sind nun zwei Dimensionen des Handelns bedeutsam: die in der gegebenen Handlungssituation eröffneten Möglichkeiten und die (fall-)spezifische Auswahl daraus. Es fragt sich also, welche Möglichkeiten wem wodurch zur Verfügung stehen. Wer wählt daraus warum welche Möglichkeit aus? Beides – der Möglichkeitsraum sowie die Handlungsentscheidung – steht im Zusammenhang zur Sinnfrage. Denn in die Konstitution der Handlungsmöglichkeiten, die in einer spezifischen historischen Situation und in einem je konkreten kulturellen Kontext gegeben sind, gehen Strukturen ebenso wie Normen ein. Die objektiven Sinnstrukturen lagern in den Handlungsproblemen der Gattung in ihrer je historisch und kulturell spezifischen Ausdrucksform. Normen entfalten ihre Wirkung auf den Möglichkeitsraum insofern als er durch vormalige Entscheidungen der Gemeinschaft gebildet ist und diesen Entscheidungen normative Gehalte zugrunde liegen. Die Akzeptanz eines Lebensentwurfs ebenso wie einer einzelnen Handlungsentscheidung ist von solchermaßen geprägten Normen bestimmt. Diese These wird im Folgenden theoretisch begründet und anhand der empirischen Untersuchung konkretisiert. Die Analyse der Interviews bewegt sich auf beiden Ebenen (Möglichkeitsraum und Auswahl). Sie gibt Aufschluss über konkrete Ausformungen der Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, wie sie sich sowohl im gegeben Möglichkeitsraum als auch in den realisierten Auswahlen zeigen, und damit auf die gegenwärtig als gültig anerkannten Lösungen von Handlungsproblemen. Das eröffnete Spektrum von Handlungsmöglichkeiten ergibt sich allgemein aus den konstitutiven Regeln des Handelns. Das sind zum einen Universalien der Gattung wie etwa Regeln der Sprache3, der Logik4 sowie der Reziprozität5. Zum anderen gehören dazu auch Regeln von geringerer Reichweite wie etwa Verfahrensregeln, also regulative Regeln, die ihrerseits auf konstitutiven Regeln aufbauen (Searle 1970).6
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4 5
6
Die Annahme einer Universalgrammatik, die Oevermann von Chomsky (1969) bezieht, ist nicht unumstritten, wie sich etwa in der ‚Language Instinct Debate‘ (Geoffrey 2005) zeigt. Zur Begründung dieser als universell angenommenen Struktur bedient sich Oevermann der Herleitung des abduktiven Schlusses bei Peirce. Geht man von Hegels Begriff der Sittlichkeit aus, lässt sich Sozialität der Gattung nicht anders fundieren als in der Notwendigkeit des Austauschs. Empirische Belege dieser These finden sich in ethnographischen Studien von Lévy-Strauss (1981) und Mauss (1968) sowie sozialpsychologisch fundiert durch Piaget (1973). Am Beispiel des Schachspiels wird diese Unterscheidung und die Relevanz der Regeln deutlich (vgl. Loer 2006a: 360). Die Regeln des Schachspiels sind insofern konstitutive Regeln als es das Spiel ohne sie nicht gibt. Als regulative Regel lässt sich demgegenüber die Verfahrensweise mit den 27
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Konkret präformieren zusätzlich historisch und kulturell spezifische Bedingungen des Handelns, in denen die universalen Regeln ihren spezifischen Ausdruck finden, den Möglichkeitsraum. So hat der Stand der technischen Entwicklung, die Ressourcenausstattung, geografische und klimatische ebenso wie soziale und rechtliche Bedingungen Einfluss auf die Gestalt der eröffneten Möglichkeiten. Beispielsweise sind etwa durch rechtliche Regulierungen Frauen im deutschen Reich vor 1907 vom Studium ausgeschlossen. Insofern ist ihr Möglichkeitsraum ein anderer als etwa derjenige von Frauen im Jahr 1980. Die hier ferner bedeutsamen Einflüsse – insbesondere im Bereich der normativen Regeln – genauer zu bestimmen, ist Gegenstand der empirischen Untersuchung.
Handlungsprobleme, Fallstruktur und Bewährungsdynamik Jegliches Handeln geht zurück auf Handlungsprobleme, die dem Handelnden vorgehalten werden. Wie sind diese nun strukturiert? Wodurch werden sie vorgehalten? Zu den objektiven Strukturen, den Lebensbedingungen der humanen Gattung gehört die Notwendigkeit ihrer Reproduktion in dreifacher Hinsicht: zu ihrer Aufrechterhaltung und Fortentwicklung muss erstens die sexuelle Reproduktion sichergestellt werden, zweitens ihre soziale Reproduktion sowie drittens ihre materielle Reproduktion. Die Art und Weise, wie dies geschieht variiert historisch und kulturell. In der fortgeschrittenen Moderne, auf die diese Arbeit fokussiert, haben sich zur Lösung der dreifachen Reproduktionserfordernisse die Bereiche der Familie, der Gemeinwohlbeiträge für die übergeordnete Gemeinschaft (etwa der Nationalstaat) und marktförmig organisierte Arbeitsleistungen ausgebildet. Die Entscheidungen, die der Einzelne zu treffen hat, haben immer einen mehr oder weniger starken Bezug zu diesen grundlegenden universellen Handlungsproblemen in ihren spezifischen Formen. Die Auswahl aus dem Spektrum der möglichen Antworten auf die Handlungsanforderungen vollzieht sich nun weder zwangsläufig noch beliebig, sondern beruht auf der Fallstruktur der jeweils betrachteten Lebenspraxis. Die Fallstruktur zeichnet sich durch die ihren Entscheidungen innewohnende spezifische Gestalt – ihre Fallstrukturgesetzlichkeit – aus. Das Besondere des Falles ist durch drei Momente gekennzeichnet: 1. die konkrete Realisierung der Entscheidung (Auswahl), 2. die Art und Weise der Entscheidungen (der Habitus) 3. sowie die den Entscheidungen zugrunde liegenden Begründungen (Deutungsmuster). Spielregeln unterscheiden: ‚Nicht mogeln‘ wäre eine solche regulative Regel. 28
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
Unter Habitus wird hier – in Anlehnung an frühe Arbeiten Bourdieus – die Haltung zur Welt und zur Lösung von Handlungsproblemen verstanden, wie sie sich im Laufe des Bildungsprozesses des Subjekts, seiner Ontogenese entfaltet hat. Nach Bourdieu gehören zu den „Produktionsbedingungen des Habitus“ (Bourdieu 1976: 170) die sozialen Bedingungen der Erzeugung des Habitus wie auch seine Anwendung. Die habituell bestimmten Praxisformen und Praktiken lassen sich demnach weder als Summe der Handlungsstimuli noch als determiniert durch die sozialen Bedingungen verstehen, auch wenn Bourdieu der ökonomischen und sozialen Lage der Herkunftsfamilie entscheidendes Gewicht in Form von wirksamen „Zwängen“ beimisst (ebd.: 168). Der Habitus bildet sich in der Dialektik von „Entäußerung der Innerlichkeit wie der Verinnerlichung der Äußerlichkeit“ (ebd.). Seine Erzeugungsstruktur liegt in der sich sukzessive entlang der Krisenbewältigung bildenden Praxis selbst. Fokussiert wird damit derjenige Aspekt des Handelns, der die Person charakterisiert – zögerlich, forsch, kontaktfreudig etc. – und mit ihr insofern untrennbar verbunden ist, als er automatisch und weitgehend unkontrollierbar wie eine erworbene Programmierung die Entscheidungen bestimmt (Oevermann 2001b: 45). Im Unterschied zur poststrukturalistischen Auffassung des Subjektes als ‚Effekt sozialer Regulierungen‘ basiert die habituelle Charakterisierung des Subjektes auf der Vorstellung einer ontogenetisch, im Prozess fortwährender Krisenbewältigung konstituierten Erfahrung des Selbst. Diese Erfahrung geht aber nicht allein auf soziale Regulierungen zurück. Der Habitus stellt sich in einem nie endgültig abgeschlossenen Prozess seiner Genese als „Natur gewordene Geschichte“ des Subjektes (Bourdieu 1976: 171) dar. Unter Deutungsmustern sind „krisenbewältigende Routinen“ (Oevermann 2001b: 38) zu verstehen, „die sich in langer Bewährung eingeschliffen haben und wie implizite Theorien verselbständigt operieren, ohne daß jeweils ihre Geltung neu bedacht werden muss“ (ebd.). Sie gehören dem Bereich verfügbarer, dem Subjekt aber keineswegs notwendig bewusster kollektiver Überzeugungen an. Indem sie „aus einer Vergemeinschaftung hervorgegangene Legitimationen einer Lebensweise“ (ebd.) anbieten, dienen sie der Interpretation und Erfassung von Welt durch eine je konkrete Lebenspraxis (ebd.: 40). Unter den Deutungsmustern haben nun die in der relevanten Gemeinschaft geltenden Normen einen zentralen Stellenwert, da sie routinisierte Entscheidungen darstellen. Besonders in einer Hinsicht geben sie bewährte Krisenlösungen ab, nämlich in der Regulation des Verhältnisses der „partikularen Lebenspraxis zu ihrer Bezugs-Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Rollenbeziehungen“ (Oevermann 2003a: 214). Also dort, wo es um das Verhältnis von Eigeninteressen und Gemeinwohl geht, sind Deutungsmuster 29
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
in der spezifischen Form von institutionalisierten Normen(bündeln) verfügbar. Doch auch milieu- oder generationsspezifische Überzeugungen stellen eine Begründung für die Auswahl bereit. Sie dienen damit der Entlastung von Handlungsbegründungen. Von Diskursen als Ort und Modus der Konstruktion von Wirklichkeit (Foucault 1981) unterscheiden sich Deutungsmuster durch ihren inhärenten und konstitutiven Bezug zur doppelten Realität der Wirklichkeit (von Handlungsproblemen) einerseits und der Möglichkeit (ihrer Lösung) andererseits. Anders als in machttheoretischen Konzeptionen wird das handelnde und sein Handeln begründende Subjekt hier nicht aus der Verantwortung der Herstellung von Wirklichkeit entlassen sowie im Verhältnis von Determination und Freiheitsgraden des Handelns keine ‚heimliche Macht‘ des Diskurses angenommen wird, die einen hermetischen Handlungszwang erzeugt. Inwieweit allerdings die Emergenz von Neuem – nicht nur neuartiger Handlungsoptionen, sondern auch ihrer Begründungen und das heißt Legitimationen – reicht, muss sich in den Fallrekonstruktionen erweisen. So sind die genannten Momente des Handlungsvollzugs, die die Besonderheit des Falles kennzeichnen, Gegenstand der Analyse im Rahmen meiner Studie. Sie geben auf der jeweiligen Ebene (Auswahl, Habitus und Deutungsmuster) Aufschluss über die geltenden und akzeptierten (Lebens-)Entscheidungen und ihr sinnstiftendes Potenzial. In ihnen wird sich zeigen, ob sich die eingangs erwähnten Thesen von einer Vervielfältigung und schwindenden Bindungskraft der Welt- und Selbstdeutungen bestätigen, ob die Sorge einer nachlassenden Gemeinwohlbindung, eines Verlustes leistungsethischer Antriebe und der Bedeutung der Familie berechtigt ist. Die Rekonstruktionen geben Aufschluss darüber, ob und in welcher Ausformung gemeinsam geteilte Wertvorstellungen und Deutungsmuster aufzufinden sind und wie der Prozess in der fortschreitenden Moderne mit ihren gestiegenen Freiheitsgraden und der Auflösung sozial-moralischer Milieus funktioniert. Dass dies auch am einzelnen Fall und seiner Struktur erkennbar wird, liegt an der Dialektik von Allgemeinem und Besonderen. Denn in der Fallstruktur manifestiert sich diese Dialektik insofern als nur im je besonderen Handeln des Falles das Allgemeine überhaupt erkennbar wird. Die konkrete Entscheidung ist eine Antwort auf ein Handlungsproblem, das immer ein allgemeines ist, das sich dem Einzelnen konkret stellt. Insofern geben die getroffenen Entscheidungen sowohl Aufschluss über die universellen, sinnlogischen Regeln, die das Handlungsproblem überhaupt erst konstituieren, als auch auf die historisch und kulturell spezifischen Bedingungen des Handelns und schließlich auf die zur Lösung des Handlungsproblems vorrätigen Deutungen. Das
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II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
Besondere des Falles schöpft also aus dem Allgemeinen und lässt dieses in seiner Objektivierung durch die getroffene Entscheidung erkennen. In der so beschriebenen Struktur des Handelns und seiner Entstehungs- und Vollzugsbedingungen, lassen sich nun die Handlungsprobleme, auf die das Handeln eine Antwort gibt, genauer bestimmen und führen zur Bewährungsdynamik als inhärenter Triebkraft menschlichen Strebens. 1. Ich bin jetzt hier, ich könnte aber auch woanders sein. 2. Ich bin jetzt hier, ich könnte morgen woanders sein. Diese Denkoperationen spannen zu zwei Seiten hin Entscheidungsräume auf, die der Mensch nicht umhin kann zu füllen: Im Fall 1) wird das aktuelle Sein auf seine Herkunft befragt: wer bin ich geworden, dass ich jetzt hier bin und nicht woanders? Im Fall 2) wird aus dem aktuellen Sein in die offene Zukunft geschaut. Der Möglichkeitsraum muss geschlossen werden mit der Entscheidung: wohin gehe ich? Welches sind die Gründe, welches die nicht absehbaren Folgen meiner Entscheidung? Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die Strukturdialektik von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung (Oevermann 1993: 178), treffender ausgedrückt als Entscheidungsnotwendigkeit und Selbstrechtfertigung.7 Die Lebenspraxis konstituiert sich im Vollzug von Entscheidungen in die offene Zukunft hinein, die prinzipiell eine Krise darstellt. Diese Krise vom Typ der Entscheidungskrise tritt am offensichtlichsten bei grundlegenden biografischen Weichenstellungen zu Tage wie etwa bei der Frage, ob man eine Familie gründen und welchen Beruf man wählen will. Ebenso aber gilt die Entscheidungsnotwendigkeit in die Offenheit bei der alltäglichen Bewältigung von Handlungssituationen. Denn die Lebenspraxis kommt nicht umhin, sich zu entscheiden, da auch der Verzicht auf eine Entscheidung eine Entscheidung darstellt und Folgen nach sich zieht. Allerdings tritt die Krise als solche nur ins Bewusstsein, insofern keine bewährte Lösungsroutine zur Verfügung steht. Das ist etwa dann der Fall, wenn sich eine Handlungsroutine als nicht mehr angemessen für eine Lösung erweist oder wenn die Handlungsanforderung eine neuartige ist. Für die meisten alltäglichen Ent7
Loer (2007: 33ff.) hat auf begriffliche Unschärfen der Terminologie Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung hingewiesen. Die Bezeichnung „Zwang“ suggeriere, dass es auch anders ginge als sich zu entscheiden. Dies ist für die Lebenspraxis aber prinzipiell nicht möglich. Im Begriff „Verpflichtung“ sei die normative Konnotation irreführend, wird doch im Modell der Lebenspraxis von der Konstitution des Handelns aus objektiven Strukturen ausgegangen, die erst im Ergebnis historisch und kulturspezifisch anerkannter Formen der Begründung den Status einer Norm annehmen, konstitutiv also nachgeordnet sind. 31
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
scheidungen der Praxis liegen solche Routinen bereit. Sie besitzen die Funktion einer Entlastung durch die bereits früher getroffene Krisenlösung. Die prinzipielle Offenheit der Entscheidungssituation ist in dem Fall durch die Handlungsroutine geschlossen. Echte Entscheidungen, die krisenhaft sind, weil für sie keine Routinen zur Verfügung stehen, müssen zudem unter der Bedingung getroffen werden, dass sie sich erst im Nachhinein bewähren oder scheitern. Die Entscheidung bedarf des Glaubens an ihre Aussicht auf Bewährung. Auch wenn die Begründung für eine Krisenlösung jetzt nicht gegeben werden kann, muss sie mit dem Anspruch auf Begründbarkeit getroffen werden. Die Lücke zwischen jetzigem Handeln und späterer Begründung führt zu Handlungsdruck und Begründungsnotstand. Der – meist unbewusste – Bezug der eigenen Entscheidungen auf Deutungsmuster überbrückt eben diese Lücke, beseitigt aber nicht die Entscheidungsnotwendigkeit. Es gehört zum Charakter der fortgeschrittenen Moderne, dass sich die zur Verfügung stehenden Deutungsmuster vervielfältigen8 und an Verbindlichkeit im Sinne einer selbstverständlichen Akzeptanz verlieren. Insofern steigt für das moderne Subjekt die Anforderung, unter einer wachsenden Zahl von Handlungsmöglichkeiten und Begründungen eine dem Selbst entsprechende auszuwählen und die Begründungsnot zu bewältigen. Der Handlungsdruck wird durch das Bewusstsein von der Endlichkeit des eigenen Lebens zusätzlich verstärkt. Mit der Endlichkeit des Diesseits konfrontiert erhebt sich die Frage nach der Hoffnung auf Erlösung oder soziologisch ausgedrückt: auf Bewährung. In der Begründungsnot sucht die Praxis nach Anhaltspunkten dafür, ob das eigene Leben dabei ist zu gelingen. Diese Spannung lässt sich nicht still stellen und wird daher als „Bewährungsdynamik“ (Oevermann 1995a) bezeichnet. Denn weder kann man an irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens endgültig seine Bewährtheit konstatieren, etwa in der Feststellung: „berühmt bin ich nun“. Denn dies wäre gleichbedeutend damit, fortan die prinzipielle Offenheit der Zukunft und die immer wieder kehrende Entscheidungsnotwendigkeit zu leugnen. Noch kann man den Zeitpunkt des eigenen Todes vorher sehen, so dass sich in prinzipiell allen Situationen das bis dahin gelebte Leben als gelingend erweisen muss, da man nicht weiß, wie viel Zeit für die Realisierung noch bleibt. Diese Dynamik der Bewährung lässt sich in der von ihr gestifteten Spannung für den konkreten diesseitigen Menschen nicht ohne einen
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Neben Giddens (1995) weisen auf diesen Effekt der Enttraditionalisierung etwa, wie bereits erwähnt, Beck u.a. (2001) hin, um nur zwei prominente Vertreter dieser Position zu nennen.
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
existenziellen Mythos aushalten, wie er in allen Kulturen zu finden ist. Der Mythos hat die Funktion, die Existenzfragen zu beantworten, die sich aus dem genannten Spannungsfeld ergeben, nämlich: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Gefragt ist also nach einem Bewährungsmythos, dessen Kern die Antwort auf die Sinnfrage darstellt. Dieser muss allerdings allgemein genug sein, dass er verbindlich kollektiv getragen werden kann, ohne die Individuierung zu zerstören. Er darf also keine im Konkreten gültigen Antworten bereitstellen, sondern kann nur in einem Prinzip der Wertschätzung im Sinne kollektiv getragener Akzeptanz bestehen. Damit ergibt sich unmittelbar das Problem der Evidenz des Bewährungsmythos. Ein ‚privater‘ Mythos ist nicht vorstellbar, da allein eine kollektive Vergewisserung die suggestive Kraft besitzt, den Glauben an die Bewährung und die Hoffnung darauf zu verbürgen. Dies kann sich nur in einer vergemeinschaftenden Praxis ausbilden in dem Sinne, dass hier die Evidenz des Bewährungsmythos durch Gefolgschaft versichert wird. Der geteilte Glaube an die Gültigkeit der Kriterien der Anerkennung des Lebensentwurfs, des Ziels und der Wege zu ihm, findet seinen Ausdruck in einer Anerkennungsordnung. Dieser Befund wirft allerdings die Frage auf, ob sich unter Bedingungen der fortgeschrittenen Moderne eine gültige, verallgemeinerte Anerkennungsordnung überhaupt herausbilden kann. Anhand des führenden Bewährungsmythos und der Formen der Bewährung für die Moderne wird dies nun untersucht.
2.
Moderner Mythos und die Konstitution der Bewährung in der modernen Gesellschaft
Die Beantwortung der mythischen Fragen kann sich historisch und kulturell in verschiedenen Formen ausdrücken. Zum Beispiel kann sie die Gestalt eines kollektiven Bewährungsmythos annehmen, wie er sich in den Weltreligionen in Form von Herkunfts- und Erlösungsmythen findet. Dort, wo keine kollektiv verbindlichen Inhalte mehr zur Verfügung stehen, erfordert die Struktur von Religiosität einen individuierten Bewährungsmythos. Säkularisierte Kulturen bedürfen einer auf Autonomie bezogenen Ethik.
Leistungsethik und Sozialität Als historisch-spezifische Ausformung in der Moderne findet sich eine Antwort auf das Bewährungsproblem in der Leistungsethik. Weber (1996) hat deren Wurzeln im Protestantismus, also als zunächst religiös 33
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begründet gesehen. Ihren Ausgangspunkt setzt er bei der Lutherschen Reformation. Luthers Bibelübersetzung führte den Begriff Beruf ein und stellte ihn in den Zusammenhang der Berufung (durch Gott). Indem ein jeder dazu aufgerufen ist, seiner Berufung zu folgen, verallgemeinerte sich die Heilsgewissheit aus der Exklusivität des Klosterlebens auf das weltliche Individuum. Die Berufsarbeit wurde durch diese Ausdeutung aus dem ständischen Korsett der Bewältigung von Mühsal und Not befreit. Damit kam eine Ethisierung der Berufsarbeit in Gang, sie wurde zur Quelle von Wert, Fortschritt und Lebenssinn und verhalf dem Kapitalismus nach Weber zum entscheidenden Erfolg. Gottesgnadentum, Berufsarbeit und methodische Lebensführung gingen Hand in Hand. Auf welchem Weg sich allerdings die Leistungsethik verallgemeinert hat, ist ebenso fraglich wie, inwieweit sich der lutherische oder calvinistische ‚Geist‘ in nationalen Vergemeinschaftungen wie dem konfessionell gemischt geprägten, späteren Deutschland durchsetzte. Im Unterschied zum katholischen Glauben galt es dem Protestanten als unmöglich, sein von Gott vorgesehenes Schicksal zu beeinflussen. Allein seiner Berufung gemäß zu leben, war die einzige, jedoch nicht minder anspruchsvolle Verpflichtung. Sie war im Protestantismus ganz dem Einzelnen auferlegt, während der Katholik durch Ablass und Buße, sowie in kollektiven Ritualen sein Gewissen beruhigen konnte. Dieser Prozess der Verinnerlichung von Normen und der Verallgemeinerung der Verantwortung des Einzelnen gab dem Prozess der Individuierung innerhalb des universalhistorischen Rationalisierungsprozesses entscheidende Impulse. Nach der Calvinschen Lehre bot das irdische Werk als Zeichen einer rechtschaffenen Lebensführung Gewissheit über die Gnade Gottes. Der Berufserfolg wurde zum Ausweis eines gelungenen Lebens und nährte die Hoffnung auf jenseitige Erlösung. Die Luthersche Bibelübersetzung lässt diese Lesart zu, indem hier zum ersten Mal der Begriff Beruf auf die Berufung in weltlichen Berufen in unserem heutigen Verständnis bezogen wurde (Weber 1996: 38). Das Produkt der Reformation war nach Weber „die Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten Inhalts, den die sittliche Selbstbestätigung überhaupt annehmen konnte“ (ebd.: 39). Waren die Antworten auf die Sinnfrage in vormodernen Gesellschaften religiös weitgehend bestimmt, so tritt infolge der Säkularisierung eine immer stärker individuierte Form der Bewährung in den Vordergrund. Die Berufsethik entkleidete sich ihrer religiösen Wurzeln und verselbständigte sich, verlor dadurch aber keineswegs an Bindungskraft. Um Verbindlichkeit in der Ausdeutung zu besitzen, bedarf die Berufsethik einer Evidenz durch das Kollektiv. Der individuierte Bewährungsmythos muss verbindlich anerkannt sein als Ausweis eines gelun34
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genen Lebens. Die Leistungsethik stellte einen solchen Bewährungsmythos bereit und bezieht hieraus ihre enorme Prägekraft für die Lebensführung in der modernen Gesellschaft: Arbeit stiftet Lebenssinn. Hieraus erklärt sich der hohe Stellenwert, den Berufsarbeit als Feld der Sinnstiftung einnimmt. Lässt man als Erklärung für die Genese der beruflichen Bewährung als zentrales Feld der Sinnstiftung gelten, dass sie eine Antwort auf das Bewährungsproblem bereitstellt, so bleibt die Frage offen, wie man ihre Durchsetzung und nachhaltige Bindungskraft erklären kann. Will man nicht auf die charismatische Macht des Erzählers des Mythos allein setzen, also etwa auf Luthers diskursive Praxis und die seiner Nachfolger9, so muss die Durchsetzung der Leistungsethik eine Entsprechung zur realen Bewältigung der Handlungsprobleme aufweisen. Vor allem in den puritanisch geprägten Deutungen einer gottgefälligen Arbeit findet sich eine entsprechende Betonung ihrer Nützlichkeit. Diese richtet sich Webers Studie zufolge (1996: 132) sowohl nach ihrem sittlichen Gehalt (gemeint ist die Mehrung des Wohlstandes aller durch die Steigerung der Arbeitsleistung des Einzelnen) und nach der Wichtigkeit der produzierten Güter als auch – und für den Puritaner nicht minder bedeutsam – nach der privatwirtschaftlichen Gewinnerzielung. Eine solchermaßen entfaltete Bedeutung der gottgefälligen Arbeit trifft nun im Verlauf des 18. und vor allem im 19. Jahrhundert mit der Durchsetzung der Industrialisierung auf einen real bestehenden Bedarf an einer stetig wachsenden Menge von Arbeitskräften mit einem eben solchen Antrieb zur Arbeit. In der Folge entfaltet sich die Produktivität, die das Fundament des heutigen Wohlstandes in den entwickelten Gesellschaften bildet. Entlang der fortwährend wirksamen Rationalisierungsdynamik im umfassenden Sinne einer nicht nur technischen und organisatorischen Effektivierung der Produktionsabläufe und Logistik, sondern auch der Lebensführung, konnte die Bewältigung von Lebensnot und Versorgung durch die Massenproduktion und den Massenkonsum erreicht werden. Im historischen Verlauf besitzt die Berufsidee als Ausweis eines gottgefälligen resp. bewährten Lebens eine innere Notwendigkeit und gesellschaftliche Funktion, indem sie allgemeinen Wohlstand vermehren und sichern half. Die Durchsetzung der Leistungsethik als normativ höchst geschätztem Ausweis eines gelungenen Lebens und ihre anhaltende Prägekraft verdanken sich ihrer Funktionali9
Zu den Wegbereitern und Protagonisten des leistungsethischen Diskurses dürfen auch die Seelsorger und Prediger gelten, von denen Weber (1996: 122) erklärt, dass von deren Einfluss „wir modernen Menschen uns einfach keine Vorstellung mehr zu machen vermögen“. Er charakterisiert sie als „entscheidende Bildner des ‚Volkscharakters‘“ (ebd.). 35
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tät zur Überwindung des Mangels (zumindest in den entwickelten Gesellschaften). Gesellschaftliche Integration ist vor diesem Hintergrund im eingangs erwähnten Selbstverständnis als ‚Arbeitsgesellschaft‘ auch in der Anerkennungsordnung vor allem über den beruflichen Beitrag des Einzelnen verstanden worden. Dass noch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, der herausgehobene Stellenwert der Berufsarbeit – im puritanischen Sinne bis zu dem „von Gott vorgeschriebenen Selbstzweck des Lebens überhaupt“ (Weber 1996: 128) – die Anerkennungsordnung und die Konzeption der Integration im wesentlichen bestimmt, zeigt sich zum Beispiel in den Programmen der großen Parteien.10 Trotz erheblicher Konjunkturschwankungen und struktureller Arbeitsmarktkrisen bleiben die Hoffnungen auf das Erreichen der Vollbeschäftigung als zentralem Wert bestehen. Dabei werden nicht nur wirtschaftspolitische Ziele angestrebt, sondern in ihnen manifestieren sich auch Grundüberzeugungen, wie sie als Normen den zugrunde liegenden Gerechtigkeitsentwurf und darauf Bezug nehmend auch politische Entscheidungen prägen. In dieser Zielformulierung drückt sich daher das Selbstverständnis einer um Erwerbsarbeit zentrierten Ordnung in doppelter Hinsicht aus: Erstens gilt die Erwerbsarbeit als vornehmste Weise, für sich selbst Sorge zu tragen und seine Lebensnot selbstverantwortlich bewältigen zu können. Zweitens stellt eine solche Zielformulierung eine spezifische Ausdeutung des Grundsatzes der Subsidiarität dar (Scherl 1987: 670), indem der Vorrang der individuellen Selbstverantwortlichkeit vor staatlicher Daseinsvorsorge über den individuellen Einkommensbezug durch Erwerbsarbeit definiert wird. Der Volksmund drückt diesen Zusammenhang in Anlehnung an das PaulusZitat (2 Tess 3, Vers 10) aus „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“. Auch in der Verfasstheit der sozialen Sicherungssysteme kommen dieser Gerechtigkeitsentwurf und der Bewährungsmythos der Leistungsethik zum Ausdruck. Die Systeme der sozialen Sicherung speisen sich aus Beiträgen und Steuern, die von der Arbeitsleistung abhängen. Demgegenüber wird die Vergabe von Sozialtransfers aus dem vorgängigen Erwerbsstatus abgeleitet und muss entsprechend als Ausnahme von der Regel interpretiert werden. Die herausragende Bedeutung der Arbeit wird auf diese Weise durch ihre Kopplung an die Einkommenssicherung gestützt. Erwerbsarbeit wird zur vorrangig legitimen – und insofern auch 10 Im Bundestagswahlkampf der CDU/CSU 2005 wurde der herausgehobene Stellenwert auf die griffige Formel „Vorfahrt für Arbeit“ gebracht. Ähnlich war er auch bei allen anderen Parteien aufzufinden wie „Die schönsten Plätze sind Arbeitsplätze“ (SPD), „Brüder, durch Sonne zur Arbeit“ (Bündnis-Grüne), „Arbeit soll das Land regieren“ (PDS), „Arbeit muss sich wieder lohnen“ (FDP). 36
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wertgeschätzten – Einkommensquelle. Eine möglichst kontinuierliche Vollzeit-Beschäftigung ergibt sich daraus als ‚Normalmodell‘ der Lebensführung für alle. Entsprechend finden sich diese Grundüberzeugungen in den aktuellen arbeitsmarkt-, sozial- und familienpolitischen Entscheidungen. In Fortführung der „Agenda 2010“ ist mit der Reform des Sozialgesetzbuches sowohl der finanzielle als auch der normative Druck zur Arbeitsplatzaufnahme verstärkt worden. Mit dem vierten „Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Bundesregierung 2003) sind Sozialtransfers zunehmend an die glaubhaft versicherte Arbeitssuche unter verschärften Kontrollen und Zumutbarkeitsanforderungen gebunden. Die Familienpolitik ist folgerichtig auf die Herstellung oder Verbesserung von Rahmenbedingungen zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit ausgerichtet, wie insbesondere die jüngsten Beschlüsse zum Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen zeigen (Bundesregierung 2007). Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird über den Weg angestrebt, entlastet von Fürsorgetätigkeiten dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen zu können. So stehen zwar der Gerechtigkeitsentwurf, das Selbstverständnis als Arbeitsgesellschaft und die damit verbundenen Konzeptionen von Anerkennung und Integration in Passung. Es lassen sich aber empirische und strukturtheoretische Einwände gegen die Funktionalität des Grundsatzes ‚Vorrang für Arbeit‘ und ‚Arbeit für alle‘ geltend machen und so auch gegen die Dominanz des leistungsethischen Bewährungsmythos. Auf der Ebene der sozioökonomischen Entwicklung zeigt sich im längerfristigen Trend seit 1880 eine stetig zunehmende Arbeitslosigkeit (Schildt 2006), die spätestens mit den Krisen der 1970er Jahre als strukturelles und nicht nur konjunkturell überwindbares Problem wahrgenommen wird. Gleichzeitig ist die Wertschöpfung gestiegen, gemessen etwa an der Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes (Statistisches Bundesamt 2006a). Hier liegt also keine Schwierigkeit in der Sicherung der materiellen Reproduktion im Sinne der Herstellung und Versorgung mit notwendigen Gütern und Dienstleistungen vor. Mit immer weniger Arbeitsstunden kann immer mehr hergestellt werden.11 Die Überwindung des Mangels geht auf eine enorme Steigerung der Produktivität durch Rationalisierung und wissenschaftlich-technischen Fortschritt zurück.12 Die 11 In den letzten 100 Jahren sank das Arbeitsvolumen je Erwerbstätigen auf weniger als die Hälfte (Schildt 2006: 136), während das reale Bruttoinlandsprodukt allein zwischen 1950 und 2000 auf das Neunfache stieg. 12 Den Unternehmer Götz W. Werner veranlasst dieser Umstand zu der Aussage „Wir leben in paradiesischen Zuständen“ (2006: 21), mit der er in der aktuellen reformpolitischen Diskussion auf den durch gestiegene Produktivität überwundenen Mangel hinweist. 37
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Arbeitsleistung eines jeden ist also sachhaltig nicht erzwungen. Insofern verliert die Dominanz der beruflichen Bewährung ihre funktionale Fundierung. Zugleich wird die Leistungsethik durch die Deutung der ‚Arbeit als Selbstzweck‘ ausgehöhlt. Das so entstehende Problem wurde eingangs als im eigentlichen Sinne ‚kulturelle Krise der Bewährung‘ bezeichnet, die der vordergründigen ökonomischen (Arbeitsmarkt-)Krise unterliegt. Denn nur in einem Normalitätsverständnis der individuellen Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit stellt sich massenhafte Arbeitslosigkeit infolge hoher Produktivität als problematisch dar. Für den Betroffenen bedeutet sie eine Stigmatisierung in doppelter Hinsicht: Wer arbeitslos ist, entbehrt sowohl der legitimierten Quelle von Einkommen als auch der vorrangig wertgeschätzten Quelle von Lebenssinn. Eine Entkopplung dieser beiden Momente des Doppelcharakters der Erwerbsarbeit (Einkommen und Sinn) würde eine Analyse der Lösungsmöglichkeiten eröffnen, die den heutigen Bedingungen des Wirtschaftens und der Lebensführung angemessener wäre. Die Einkommenssicherung einerseits und die Sinnstiftung andererseits müssten dann nicht mehr zwangläufig an die Erwerbsarbeit gebunden sein. Was Riesman u.a. (1958: 288) schon in den 1950er Jahren als Tendenz für die USA konstatierten, könnte so gesellschaftspolitisch neuartig beantwortet werden. Solange aber die Art der Krise unbegriffen und ungelöst bleibt, stellt sie sich nicht nur als kulturelle und ökonomische, sondern auch als politische Krise dar, nämlich als Ausbleiben einer sachangemessenen Regulation der sozialen Ordnung und der Anerkennungsordnung. Für die Einschätzung einer fehlenden Funktionalität und mangelnden politischen Rahmung spricht jedoch nicht nur die sozioökonomische Situation in Deutschland, sondern auch eine strukturtheoretische Analyse der modernen Bewährungsfelder legt eine revidierte Einordnung der beruflichen Bewährung und ein umfassenderes Verständnis von Integration nahe als es in der ‚Arbeitsgesellschaft‘ zum Ausdruck kommt.
Gleichwertigkeit in Asymmetrie Eine begriffliche Präzisierung soll die Vermittlung zwischen notwendig zu lösenden Handlungsproblemen, zur Verfügung stehenden Bewährungsmythen und der Stellungnahme des Einzelnen zu konkreten Bewährungsfeldern genauer beschreiben. Die Reproduktionserfordernisse einer jeden Gemeinschaft gehören zu den Existenzbedingungen der Gattung und halten den Individuen wie auch der Gemeinschaft als Ganzer Handlungsprobleme vor. In ihrer grundlegenden Bedeutung konstituieren sie Bewährungsfelder mit „drei eigenlogischen Dimensionen von Bewährungskarrieren“ (Oevermann 2001c: 112). Zum Verständnis erscheint es hilfreich, Bewährungsdimensionen von Bewährungsfeldern zu 38
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unterscheiden.13 Man erkennt dann, dass die Dimensionen in den Feldern unterschiedlich akzentuiert sind. Den Bewährungsdimensionen liegen gattungsspezifische universelle Handlungsprobleme zugrunde, die konstitutiv für das Bewährungsproblem sind. Im Einzelnen sind das: 1. die sexuelle bzw. generative Reproduktion: Über die Paarbildung kommt es zur Zeugung des Nachwuchses, zu seiner Pflege und Sozialisation; 2. die soziale bzw. sittliche Reproduktion: Die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenhalts und die Fortentwicklung der kollektiven, übergeordneten Vergemeinschaftung vollziehen sich über die Ausbildung der Reziprozität, verstanden als sittliche Gegenseitigkeit; 3. die materielle Reproduktion des Individuums und der Gattung: Die selbstverantwortliche Bewältigung der Lebensnot umfasst basal die Nahrungsbeschaffung und reicht bis zur Erzeugung der notwendigen Lebensgrundlagen. In den Bewährungsfeldern vollzieht sich die dreifache Reproduktion in ihren je kulturell- und historisch-spezifischen Ausdrucksformen. In der modernen Gesellschaft haben sich dazu folgende Bereiche ausgebildet: 1. die Familie: Die Primärgemeinschaft ist der vornehmliche Ort einer partnerschaftlichen privaten Lebensform, der Intimbeziehung und der Fürsorge. Zur Elternposition gehört die Haushaltsführung im weitesten Sinne, auch ihrer ästhetischen Ausgestaltung, ebenso wie die Sorge für das emotionale, physische und geistige Wohl und die Erziehung der Kinder; 2. das Gemeinwesen: Die politische Gemeinschaft des Nationalstaats stellt (auch unter Funktionsverlagerungen auf die europäische Ebene) das größte übergreifende Gemeinwesen dar, an dessen Solidaritätsgebote der Einzelne verpflichtet ist. Leistungsbeiträge für weitere Formen abstrakter Kollektive wie etwa der Kommune, Schicksalsgemeinschaften oder öffentliche Institutionen gehen hier von der staatsbürgerschaftlichen Position aus. Sie umfassen die Wahrnehmung von Rechten (z.B. Wahlbeteiligung) und Pflichten (z.B. das Entrichten von Steuern) ebenso wie freiwillige Handlungen als direkter Dienst am Gemeinwesen (z.B. die Übernahme bürgerschaftlicher Aufgaben in Form des Ehrenamtes);
13 Diese Differenzierung verdanke ich einer klärenden Korrespondenz mit Thomas Loer. 39
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3. der Beruf: In der marktförmig organisierten Arbeitsleistung realisiert sich die Verpflichtung zum Tätigkeitserfolg in Form der Herstellung und Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen. In diesen Feldern wird Bewährung in all ihren Dimensionen gesucht. Die Bewährungsdimensionen besitzen aber in den Feldern jeweils eine unterschiedliche Gewichtung. Die Bereiche Familie, Beruf und Gemeinwohl decken sich nicht mit den konstitutiven Handlungsproblemen der dreifachen Reproduktion. Es wäre ein reduktionistisches und verdinglichendes Verständnis, etwa in der Familie die sexuelle Reproduktion gewährleistet zu sehen, im Beruf die materielle und in den Beiträgen zum Gemeinwohl die sittliche. So ist zwar die Familie der entscheidende Ort der sexuellen Reproduktion, der Erziehung und Sozialisation, sie trägt aber auch zur materiellen Reproduktion bei, etwa durch Eigenarbeit. Die Berufsarbeit dient mit ihrem Beitrag zur materiellen Reproduktion mittelbar dem Gemeinwohl durch die erbrachte Wertschöpfung. Sie trägt ferner zur (beruflichen) Sozialisation bei. Unter Berufsarbeit sind zudem Bereiche zusammengefasst, die weitestgehend mit Leistungen in Verbindung stehen, die aber nicht alle marktförmig erbracht werden, etwa in Form abhängiger Erwerbsarbeit. Sondern auch Kunst, Wissenschaft und die Arbeit in den Professionen der Bereiche Gesundheit und Bildung fallen unter berufliche Leistungsverausgabung. Diese dienen nicht der materiellen Reproduktion, sondern prägen vielmehr das Gemeinwesen, sie gestalten Sozialität und Bildungsprozesse des Subjekts. Und schließlich sind staatsbürgerschaftliche Beiträge nicht in eins zu setzen mit der sozialen Reproduktion. Zum einen nimmt diese ihren Ausgang in der Primärsozialisation v.a. durch die Familie. Zum anderen stehen gerade ehrenamtliche Leistungen häufig im Dienst der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die marktförmig nicht hervor gebracht werden. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass in all den genannten Bereichen – den Bewährungsfeldern – alle drei Dimensionen mehr oder weniger eingehen, auch wenn eines der Handlungsprobleme dominiert. In ihrer grundlegenden Bedeutung für die dreifache Reproduktion der Gemeinschaft stehen die Bewährungsfelder der modernen Gesellschaft in einem Verhältnis der Gleichwertigkeit. So sind die drei Bereiche auch objektiv auf gleiche Weise bedeutsam für die Bewährung des Einzelnen. In konstitutiver Hinsicht zeigt sich aber ein asymmetrisches Verhältnis zwischen den gleichwertigen Bereichen wie in Rekurs auf Hegel (1974) deutlich wird. Er bietet eine hilfreiche Systematik, die auch Oevermann (2000a: 38f.) aufnimmt, um den komplexen Zusammenhang und die wechselseitige Verwobenenheit zwischen den Bewährungsdi40
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mensionen und ihrer Realisierung in den Bewährungsfeldern zu erläutern. Die dreifache Reproduktion vollzieht sich demnach in den „Momenten“ (Hegel 1974: 572) der modernen Gesellschaft auf dem Fundament einer ausgebildeten Sittlichkeit. Die Sittlichkeit bildet sich nicht abstrakt als „Idee der Freyheit“ (ebd.: 544), sondern im realen Handlungsvollzug und zwar sowohl in der Familie, als auch in der bürgerlichen Gesellschaft (also der marktförmigen Leistungserstellung) sowie in der staatsbürgerschaftlichen Vergemeinschaftung. Dabei gilt eine ontogenetisch strukturierte Abfolge der Ausbildung der Sittlichkeit. Von Honneth (2003: 114-211) wurde dieser Zusammenhang theoretisch ausgearbeitet: Er beschreibt den Prozess der Subjektbildung mit Rückgriff auf Hegel, gestützt durch die Interaktionstheorie von Mead (1973) und durch die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie14. In der Primärgemeinschaft der Familie erfährt das werdende Subjekt zunächst bedingungslose Anerkennung als Zweck an sich durch den signifikanten Anderen (üblicherweise der Eltern und nahen Bindungspersonen). Die Gegenseitigkeit als Grundstruktur affektiver Sozialbeziehungen richtet sich zunächst in der Fürsorgebeziehung der Eltern zu ihrem Kind auf. In der sozialisatorischen Interaktion erfährt das sich bildende Subjekt geltende Regeln und Normen der unmittelbaren Gemeinschaft, die ihrerseits – in Person der Familienbegründer – in die umfassende Sozialität der nationalstaatlichen Gemeinschaft eingebunden ist. Die Bindung an soziale Normen vollzieht sich durch die gegenseitige persönliche Anerkennung. Anhand der Familie zeigt sich, inwiefern die sexuelle Reproduktion im Sinne der Sozialisation des Nachwuchses eingewoben ist in die Ausformungen der strukturell fundierenden Sittlichkeit der übergeordneten Kollektivität. Die soziale Reproduktion im Sinne der Aufrechterhaltung und Fortentwicklung des Gemeinwesens auf der Basis einer realisierten Reziprozität, einer Bindung an soziale Normen, hat demnach in der Familie ihr Fundament. So wie die Familie ihrerseits ihr Fundament in der vergemeinschaftenden Praxis des Kollektivs hat. Dieses dialektische Wechselverhältnis lässt sich nicht zu einer Seite hin auflösen, denn Kollektivität ist – unabhängig von ihrer jeweiligen entwicklungsgeschichtlichen Ausformung – immer schon die Voraussetzung für die Entfaltung des Einzelnen. Im Prozess der Sozialisation – an der mit zunehmendem Alter des Heranwachsenden neben den engsten Bindungspersonen weitere Bildungsinstitutionen und soziale Gemeinschaften wie Peergroups Anteil haben – bilden sich spezifische Fähigkeiten, Interessen und Neigungen
14 Insbesondere bezieht sich Honneth hier auf Arbeiten von Benjamin (1990) und Winnicott (1984). 41
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aus, die schließlich auch in einen mehr oder weniger kohärenten Habitus münden. Bevor also das Individuum seine Lebensvorstellungen realisiert und Stellung bezieht gegenüber den Bewährungsfeldern, um auch tätig zu werden im Bereich der materiellen Reproduktion im Feld der ökonomischen Leistungserstellung, ist die Fundierung der Sittlichkeit und die Habitusbildung im Wesentlichen bereits vorausgegangen. Die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit, die Bindung an eine Leistungsethik im Beruf beruht auf der vorausgegangenen Sozialisation und Bindung an die kollektive Gemeinschaft. Erst auf Basis der Erfahrung unbedingter gegenseitiger Anerkennung in diffusen Sozialbeziehungen – und zwar sowohl der Primärgemeinschaft mit ihren unmittelbaren persönlichen Formen der Anerkennung als auch in der abstrakteren Weise der Anerkennung durch gültiges Recht und durch den generalisierten Anderen in Form verinnerlichter Normen – vollzieht sich die Vergesellschaftung als Rollenträger in den spezifischen Sozialbeziehungen der zweckgerichteten Produktion. Die erwerbs- und rollenförmige Arbeitsleistung hat also die Sozialität zur Voraussetzung und ist ihr in konstitutiver Hinsicht nachgeordnet. Auch aus einer anderen Blickrichtung zeigt sich das Gelingen des Wirtschaftens als abhängig von einer entwickelten kollektiven Bindung. Damit überhaupt Vertragspartner als Rollenträger aufeinander treffen, bedarf es der vorgängigen Entfaltung der Reziprozität als zweckfreiem Tausch ohne Vorbedingungen. Diese Logik der sittlichen Kooperation ist die Bedingung für die Logik des Äquivalententauschs, also einer zweckgerichteten Kooperation, wie er die ökonomisch rationale Leistungserstellung und -verteilung kennzeichnet (Oevermann 2000a: 38). Ohne Bindung an soziale Normen funktionieren weder marktwirtschaftliche und ordnungspolitische Rahmenbedingungen des Wirtschaftens noch wäre der Einzelne in der Lage, Verträge zu schließen und sie als verbindlich anzuerkennen. Zudem schließt die Ausbildung eines leistungsethischen Habitus die Lücke, die der Arbeitsvertrag in seiner Allgemeinheit für die konkrete Arbeitsleistung (Offe/Hinrichs 1984) offen lassen muss.15 15 Eine Reihe industrie- und arbeitssoziologischer Untersuchungen zeigen für verschiedene Epochen der industriellen Entwicklung die Bedeutung der Arbeitshaltung, des leistungsethischen Habitus sowie der gruppendynamisch zum Ausdruck kommenden Anerkennungsverhältnisse für die Leistungserbringung. Vgl. etwa für die Herausbildung der tayloristischen Produktionsmethoden Taylor (1919), für die Gruppe Roethlisberger (1954) und Etzioni (1967) sowie aktuelle Studien über den gestiegenen Stellenwert der Eigenverantwortung in neuartigen Arbeitsverhältnissen. Dennoch wird meist den habituellen Voraussetzungen der Leistung kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Die hier ausgearbeitete Systematik könnte für 42
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Zusammenfassend stellt sich die Konstitution der Bewährung in den Feldern der modernen Gesellschaft als doppeltes Verhältnis dar erstens prinzipieller Gleichwertigkeit der Bewährungsfelder in zweitens ihrer Asymmetrie hinsichtlich der Konstitution der Entfaltung von Kooperations- und Bindungsfähigkeiten. Zu erläutern ist nun, wodurch die Qualität der Bewährung jeweils gekennzeichnet ist und worin genau sich Sinnstiftung in den einzelnen Feldern vollziehen kann. Der Gleichwertigkeit in Asymmetrie als Grundstruktur der Bewährungsfelder wohnt eine Differenz der Bewährungsmodi inne, die sich aus der Spezifik der Handlungsanforderungen ergibt (vgl. Franzmann/Pawlytta 2008: 22f.; Oevermann 2000a: 38): Das Handeln an den vergemeinschaftenden Orten ist auf die Fortentwicklung der Gemeinschaft gerichtet. Das gilt sowohl in der personalen Bindung der Primärgemeinschaft der Familie oder in der abstrakteren Form einer Bindung an das übergeordnete Kollektiv. In den diffusen Sozialbeziehungen der Vergemeinschaftungsformen handelt der Mensch in seiner Totalität.16 Leitend ist hier das Solidaritätsprinzip der zweckfreien Gegenseitigkeit (Logik der Kooperation). Demgegenüber hat das Handeln im Beruf die Problemlösung von der gegebenen Sache her zum Ziel. Dabei tritt die Person in ihrer Totalität in den spezifischen Sozialbeziehungen des Berufs in den Hintergrund und handelt als Rollenträger. Bestimmend ist dabei die Kalkulation von Aufwand und Ertrag, von Leistung und Gegenleistung (Logik des Äquivalententauschs). Mit den Formen der Bindung – persönliche, kollektive und sachliche – unterscheiden sich auch die Momente der Bewährung. Ein gelungener Handlungsvollzug in der Familie ruht auf einer Lösung in der Logik von Authentizität. In der politischen Gemeinschaft bedarf die Lösung einer Kohärenz zu den kollektiven Vorstellungen von der Gemeinschaft und ihrer Zukunft. Und schließlich in der materiellen Leistungserstellung (von Gütern und Diensten) folgt die Lösung einer sachhaltigen Logik vom Gegenstand her. Eine so bestimmte Differenz der Handlungsanforderungen und der Maßstäbe ihres Gelingens lässt auch die spezifischen Erfahrungsräume der Bewährung des Einzelnen erkennen, die strukturell mit den Bereichen verbunden sind. Sie begründen deren je spezifische Bedeutung für die betriebswirtschaftlich orientierte Forschung ebenso wie für die Arbeits- und Organisationssoziologie wichtige Erkenntnisse eröffnen. 16 Oevermann (z.B. 2001c: 85) übernimmt die Gegenüberstellung der Begriffe diffus und spezifisch von Parsons und verbindet sie systematisch mit dem Begriffspaar der Gemeinschaft und Gesellschaft. Anders als Parsons lässt er allerdings für diffuse Sozialbeziehungen die Annahme von Rollenförmigkeit nicht gelten, sondern unterscheidet die Handlungslogik in der Gemeinschaft als das Handeln ganzer Menschen vom Handeln als Rollenträger in Vergesellschaftungszusammenhängen. 43
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die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten und für den Ausdruck des Selbst im jeweiligen Handlungsvollzug. Und schließlich ruhen auch die Formen der Wertschätzung, die mit einem kollektiv anerkannten Gelingen der Problemlösung verbunden sind, konstitutiv auf den Handlungsanforderungen auf. Aus einer anderen, nämlich nicht der bewährungsdynamischen, sondern einer anerkennungstheoretischen Perspektive hat Honneth (2003) die Anerkennungsformen als dreifache Ausprägungen der Sittlichkeit für die drei von Hegel genannten Bereiche konzipiert: Die Erfahrung von emotionaler Zuwendung gilt ihm als die typische Anerkennungsform in der Primärgemeinschaft, aus der sich Selbstvertrauen entwickelt. Für die Interaktionssphäre der Rechtsverhältnisse (in der Position als Staatsbürger) hält er die Gleichheit vor dem Autonomie gewährenden Recht bzw. rechtliche Anerkennung für charakteristisch, die im Ergebnis zu Selbstachtung führt. Und schließlich bietet die Sphäre der (beruflichen) Leistung die Erfahrung sozialer Wertschätzung der spezifisch eigenen Fähigkeiten und Eigenschaften als Anerkennungsform, die Selbstschätzung (ebd.: 209) hervorbringt. Erst diese drei Anerkennungserfahrungen bilden die Basis für die Selbstverwirklichung, verstanden als „Prozeß der ungezwungenen Realisierung von selbst gewählten Lebenszielen“ (ebd.: 278). Die Bedeutung der drei Bereiche für die Struktur eines gelingenden Lebens wird in Honneths Theorie bestätigt. Aus ontogenetischer Perspektive ist es nachvollziehbar, dass sich Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung des werdenden Subjekts nach einander aufrichten. Aus bewährungsdynamischer Perspektive für den Erwachsenen muss es gewendet werden: In seiner Antwort auf die Bewährungsdynamik kann nicht die Suche nach Anerkennung – der „Kampf um Anerkennung“, wie Honneth es nennt – bestimmend sein. Entscheidend ist vielmehr, die Bewährungspotenziale zu realisieren, die in der Struktur asymmetrischer Gleichwertigkeit verankert sind. Bewährung und Anerkennung liegen dabei systematisch auf unterschiedlichen Ebenen: Bewährung vollzieht sich in den beschriebenen Handlungsmodi der objektiven Bedeutung der Bewährungsfelder, während Anerkennung als Folge des gelungenen Handelns verstanden werden muss. Die Einschätzung als gelungen, als eine angemessene Lösung der Handlungsprobleme beruht aber neben ihrer Sachangemessenheit auf der Anerkennungsordnung, ist also kulturell vermittelt.17 Honneths Konzeption muss daher aus zwei Gründen kritisiert werden. 17 Loer (2006b: 24) veranschaulicht die doppelte Verankerung der Anerkennung erstens in der Sachangemessenheit einer Problemlösung und zweitens in deren kultureller Akzeptanz am Beispiel einer Wasserpumpe, die von Bangladesh nach Kenia transferiert wurde. Während sie an ihrem ers44
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Erstens überspringt Honneth die Vermittlung zwischen der ontogenetischen Begründung der Bedeutung der Anerkennungserfahrung in der Subjektbildung und der Frage der Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern des Erwachsenen. Seine Ausführungen lassen aber den Schluss zu, dass es sich dabei nicht nur um eine Entwicklung bis zur Herausbildung des eigenen Lebensentwurfs handelt, sondern um eine notwendig kontinuierliche Erfahrung. Demgemäß spricht seine Analyse für die Annahme, die dreifache Verankerung in Anerkennungsverhältnissen sei auch Grundlage der Selbstverwirklichung im Sinne der nicht stillstellbaren Bewährungsdynamik. Somit wäre für den erwachsenen Menschen die simultane Verankerung der Anerkennungserfahrung in allen drei Bereichen wichtig und gleichbedeutend mit der Erfahrung eines bewährten Lebens. Dass dies ein analytischer Kurzschluss ist, zeigt sich am zweiten Kritikpunkt: Honneth sieht im „Kampf um Anerkennung“ einen Antrieb des Handelns, was sich hingegen aus einem bewährungsdynamischen Verständnis der Handlungsantriebe als Ergebnis zeigt. Anerkennung ist weniger als Zielpunkt des Handelns zu verstehen, sondern als ein Wechselverhältnis zu begreifen. Anerkennung kann Folge des Handelns sein, nämlich wenn es gelungene Lösungen hervorbringt. Und sie ist zugleich Voraussetzung und Wirkung. Denn Handlungsentscheidungen gründen in Anerkennungsverhältnissen, setzen diese also voraus und bringen sie (transformierend oder reproduzierend) zugleich zum Ausdruck. Anerkennungsverhältnisse in ihrer konkreten Erscheinungsform sind der Niederschlag aus vorgängigen Handlungsentscheidungen und ihren retrospektiven Begründungen. Wäre die Suche nach Anerkennung („der Kampf“) der dominante Antrieb des Handelns, ginge die Eigenlogik der Handlungsfelder und ihr sinnstiftendes Potential verloren. Die explizite Anerkennungssuche verkehrt den Wert der Handlung, der in seiner Problemlösungskapazität und -angemessenheit besteht, zu einem Vehikel der persönlichen Befriedigung. Darin liegt eine Tendenz zur Zweckentfremdung und Instrumentalisierung der Beiträge in den Bewährungsfeldern. Die Interviewanalysen werden sich diesem Aspekt widmen und die Handlungsantriebe konkretisieren, um das Verhältnis zwischen Anerkennung und Handlungsvollzug, zwischen Anerkennungsordnung, Individuierung und Lebensführung sowie die Formen der Anerkennung zu erhellen. Sowohl in anerkennungstheoretischer als auch in bewährungsdynamischer Konzeption wird also eine dreifache Anerkennung und Sinnstiftung des Subjekts deutlich. Dagegen geht eine Vielzahl von Studien von
ten Einsatzort erfolgreich angewendet wurde, stieß ihr Einsatz am zweiten Ort auf kulturelle Barrieren und wurde als Lösung nicht anerkannt. 45
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der besonderen Bedeutung der Arbeit aus. Diese Bedeutung soll hier exemplarisch anhand eines grundlegenden Beitrags von Schelsky (1972) diskutiert werden, um die Interviews auch auf die dort genannten Aspekte hin analysieren zu können. Nicht aus dem Blickwinkel der mythologischen Bedeutung der Leistungsethik und auch nicht bezogen auf ihre gesellschaftliche Funktionalität steht hier die Arbeit zur Diskussion, sondern in ihrer Eigenlogik für die Erfahrung und Entfaltung des Selbst. Die Sonderstellung der Arbeit in ihrer Bedeutung für den Einzelnen wird aus den Spezifika des beruflichen Handelns abgeleitet. So spricht Schelsky in den 1960er Jahren von der Arbeit als „Raum der wesentlichsten Sozialkontakte des modernen Menschen“ (ebd.: 30) und als „wesentlichster Bereich personbildender sozialer Lebensaktivität“ (ebd.: 31), der im Unterschied zur Familie seine Erfahrungen „mit der sozialen Außenwelt verbindet“ und daher den „eigentlichen Realitätsbereich des modernen Menschen“ bildet (ebd.). Konnte Schelsky noch davon ausgehen, dass der Berufsbereich als Erfahrungsraum einen Stabilität stiftenden Charakter hat, so hat dieser Aspekt infolge der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und eines Rückgangs ihrer Beständigkeit an Einfluss verloren. Doch auch die anderen genannten Aspekte – Sozialkontakte und nahräumliche Realitätserfahrung – sind nicht auf den Beruf beschränkt. Wo könnte die Erfahrung des Selbst nahräumlicher und konkreter sein als in der familialen Interaktion? Als Gegenbild zu sozialen Kontakten und der Verbindung zur Außenwelt stellt Schelsky sich offenbar eine isolierte Kleinfamilie vor, deren Mitglieder ohne verbindliche und dauerhafte Beziehungen zur Außenwelt stehen. Doch wie Kramer (1983: 429) es einst pointierte: „Die Isolation der Hausfrau ist aber nicht die Isolation Robinsons.“ Sie verweist in ihrer Kritik an einer Überschätzung der Bedeutung der Arbeit18 auf die zwar fehlende gesellschaftliche Anerkennung der familialen Tätigkeiten in Form einer Bezahlung der Leistung, stellt dem aber die Wertschätzung des sozialen Umfelds gegenüber. Ein weiterer Bedeutungsaspekt der beruflichen Arbeit wird darin gesehen, dass einzig die berufliche Leistung aus der Besonderheit der individuellen Fähigkeiten erwächst. Die Einzigartigkeit des Individuums sei gerade auf dem Gebiet des Berufs am deutlichsten zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen und werde daher Gegenstand der Anerkennung.19 Kurz gesagt: Zur Gründung einer Familie benötigt man keine besonderen Fähigkeiten, auch besteht Gleichheit vor dem Recht, nur in 18 Es handelt sich um ein Koreferat zum Referat von Becker-Schmidt (1983). 19 Honneth sieht die Wertschätzung durch Arbeitsleistung darin begründet, dass Anerkennung auf Leistungen gewährt wird, die man „gerade nicht mit anderen unterschiedslos teilt“ (2003: 203). 46
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
der beruflichen Leistung treten Differenzen hervor, die schließlich zu leistungsbedingter sozialer Ungleichheit führt. Ebenso verankert Schelsky den Grund für soziale Statusunterschiede in der beruflichen Differenzierung, da andere Aspekte in der modernen Gesellschaft verallgemeinert seien. Die Differenzierung und Verschiedenheit der Berufe sei das „einzig ungleichmachende Prinzip“, so würden auch „berufliche Stellung und Leistung zu dem legitimen und fast einzigen Weg des sozialen Aufstiegs“ (Schelsky 1972: 28). Mit dieser Zuspitzung allerdings unterstellt Schelsky, dass der soziale Aufstieg ein Wert an sich und die Verbesserung des sozialen Status ein wesentlicher Antrieb zur Leistung sei. Einer solchen extrinsischen Motivation steht allerdings eine leistungsethische Bewährung gegenüber, für die die Sache der Problemlösung im Vordergrund steht. Mit diesem Aspekt eng verknüpft ist der bereits erwähnte, bedeutende Effekt von Erwerbsarbeit, dass mit dem erzielten Einkommen die eigene Existenz selbstverantwortlich gesichert werden kann und damit im Rahmen der bestehenden sozialen Ordnung auch das als legitim erachtete ‚Normalmodell‘ realisiert wird. Und schließlich besteht ein viel diskutierter Bedeutungsaspekt der beruflichen Arbeit in der Teilhabe an einer entscheidenden Quelle für Gestaltungsmacht und für einen Einfluss auf das betriebliche Geschehen als einem wesentlichen gesellschaftlichen Teilbereich. Die Bedeutungsaspekte der sozialen Kontakte und Außenweltverbindung sowie der – im Marxschen Duktus formuliert – Potentiale zur Vergegenständlichung der eigenen Fähigkeiten finden sich in vielen Varianten in all jenen Studien, die der Arbeit eine besondere Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung und die Selbstbestätigung des Subjekts attestieren. Auch spielt dabei die Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit eine Rolle bei der Beurteilung des Gewichtes der Erfahrung in diesem Bereich gegenüber den anderen. Von Gewicht ist diese Unterscheidung insofern, als die Erfahrung des Gelingens einer Leistung nicht ohne den Spiegel des Gegenübers möglich ist. Denn – wie bereits erwähnt – hängt das Gelingen nicht nur von der Sachebene ab, sondern auch von der kulturellen Wertschätzung der Lösung. Als Fragen an die Interviewanalysen lassen sich jedoch vier Punkte als klärungsbedürftig herausstellen: 1. In welcher Form wird Anerkennung im beruflichen Handeln erfahrbar? Verschiedene Konkretisierungsebenen der Anerkennungserfahrung sind dabei denkbar: So kann sich das Gelingen etwa im Markterfolg nach Entwicklung eines neuen Produktes einstellen, durch eine leistungsbezogene Beförderung bzw. Gehaltserhöhung oder durch die Gewissheit, mit seiner Leistung einen geschätzten Beitrag zur Gemein47
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
schaft vollbracht zu haben. So konstatiert auch Schelsky, dass im beruflichen Handeln eine Lebensverpflichtung gesehen wird, eine der wenigen Selbstverständlichkeiten an „Pflichten, die der Mensch dem Leben schuldet“ (ebd.: 33). Hier ist jedoch nicht der Bereich der konkreten Erfahrung angesprochen, sondern Schelsky bezieht sich auf die Sozialität und ihre Überzeugungen vom guten und richtigen Leben, auf verinnerlichte Normen als innerer Adressat der eigenen Lebensäußerungen. Das spricht dafür, dass es weniger die unmittelbaren Erfahrungen des Zuspruchs im sozialen Kontext konkreter Interaktionspartner sind, die den Beruf so wichtig machen, sondern die Übereinstimmung des Handelns mit den Wertschätzungen, die in der relevanten Gemeinschaft gesetzt werden. 2. Welche Art von Öffentlichkeit – oder soziale Außenwelt in Schelskys Worten – ist gemeint, auf die die Bedeutung der Erwerbsarbeit bezogen wird? Der übergeordnete Bereich der Öffentlichkeit ist das Gemeinwesen in seinen verschiedenen Tätigkeits- und Wirkungsfeldern: demokratische Gestaltung, Meinungsbildung, auf das Gemeinwohl bezogene Beiträge z.B. in ihrer konkreten Form bürgerschaftlichen Engagements. Insofern basiert auch die Einschätzung der Erwerbsarbeit als bedeutsame Gestaltungs- und Einflusssphäre auf der Annahme eines Primats der Ökonomie vor zivilgesellschaftlichen Bereichen der Politik und demokratischen Gestaltung. In welchem Verhältnis stehen also Beruf und Gemeinwesen sowohl für die objektive Bedeutsamkeit des Handelns als auch für die individuelle Erfahrung seines Sinns? 3. Inwiefern stiftet der Beruf die Erfahrung der besonderen Individuierung durch den arbeitsbezogenen Ausdruck der eigenen Fähigkeiten? Strukturtheoretisch betrachtet verhält es sich gerade andersherum als es oben (Schelsky, Honneth) dargelegt wurde: In der beruflichen Leistungserstellung und deren Anerkennung geht es gerade nicht um die Person in ihrer Totalität, sondern in ihrer Eigenschaft als Rollenträger, als Vertragspartner, der in der Zweckgerichtetheit seines Tun prinzipiell austauschbar ist. Demgegenüber verhält es sich in der familialen und der staatsbürgerlichen Position genau entgegen gesetzt: Hier geht es um die Anerkennung der Person als Zweck an sich, in ihrer Einzigartigkeit, hier ist der Einzelne nicht austauschbar gegen ein anderes Mitglied der Gemeinschaft, ohne dass diese sich transformieren würde. 4. In welchem Verhältnis stehen die Bewährungsfelder für die genannten Aspekte der schöpferischen Selbsterfahrung? Die zweckgerichtete Lösung sachhaltiger Problemstellungen ist nicht exklusiv in der beruflichen Arbeit situiert. Zumindest im Feld gemeinwohlbezogener Tätigkeiten finden sich ebensolche Leistungsdifferenzen nach persönlichen Fähigkeiten, selbst Aufstiegsmöglichkeiten sind dort, ebenso wie im Be48
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
ruf, von der Bewährung in der Bewältigung von Aufgaben abhängig. Was genau unterscheidet die Bewährungsmodi der Felder, wenn man nicht allein den fehlenden Marktwert familialer und gemeinwohlbezogener Tätigkeiten als Unterscheidungskriterium gelten lassen will, sondern nach qualitativen Differenzen der Bewährung fragt, die sich bzgl. des Gebrauchswerts der Beiträge zeigen? Zusammenfassend lässt sich die Bedeutung der Arbeit in ihren spezifischen Herausforderungen und ihrer Eigenlogik verankern. Sie eröffnet eine besondere Form der Erfahrung der eigenen Fähigkeiten, des Übersteigens der eigenen Person durch Rückbindung an die Nützlichkeit für die Gemeinschaft. Die genannten Aspekte jedoch – Außen- und Sozialkontakte, Personbildung, Erfahrung der individuellen Fähigkeiten in Abgrenzung zu anderen und damit die Grundlage für Statusdifferenzen – markieren keinen exklusiv auf die Erwerbsarbeit eingrenzbaren Erfahrungsbereich. Als besonders, aber gleichwertig mit je eigenlogischen Sinnstrukturen stehen daneben die Bereiche der Familie und der staatsbürgerschaftlichen Bewährung. Und doch verweist Schelskys Thematisierung abschließend auf einen wichtigen Aspekt: Die Leistungsethik kann als Bewährungsmythos, der sich auf die Sicherung der materiellen Lebensgrundlagen bezieht, die übrigen gesellschaftlich zu lösenden Handlungsprobleme nicht umfassen. Denn es bedarf bereichsspezifischer Mythen, die der jeweiligen Eigenlogik der Handlungsbereiche angemessen sind und die dem dominanten leistungsethischen Bewährungsmythos in Stärke, Verbindlichkeit und Evidenz nicht nachstehen. In diese bereichsspezifischen Mythen gehen kollektive Deutungsmuster ein, die den Möglichkeitsraum der Stellungnahme wesentlich formen. Es ist dieses Wechselverhältnis zwischen den Handlungsentscheidungen des Einzelnen auf der einen Seite und den gesellschaftlich verfügbaren Ausdeutungen der Entscheidungsoptionen auf der anderen Seite, das den häufig als Dualismus interpretierten dialektischen Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft exemplarisch am Bewährungsproblem verdeutlicht. Der Zusammenhang zwischen den bereichsspezifischen Mythen und den Antworten des Einzelnen auf die Sinnfrage verweist auf die Verschränkung und gegenseitige Abhängigkeit der Bewährungsfelder. Ob sich in Bezug auf Familie und Gemeinwesen solche evidenten Deutungen der Wertschätzung finden und in welchem Verhältnis sie zur Leistungsethik stehen oder ob ein übergreifender Mythos wirksam ist, sind empirische offene Fragen und daher Gegenstand der Interviewanalysen. Die universelle Struktur der Bewährungsdynamik erfordert nun von einem jeden, sich gegenüber den Bewährungsfeldern zu positionieren. Niemand kommt umhin, Stellung zu beziehen, ob und wie er seinen Bei49
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
trag zur Reproduktion leistet. Aus dieser konstitutionstheoretischen Betrachtung ergibt sich strukturell eine dreifache Vergesellschaftung des Subjekts20. Integration kann auf der Basis der hier vorgelegten bewährungsdynamischen Überlegungen nur eine vollzogene Sittlichkeit und realisierte Sozialität heißen in all ihren Dimensionen und in den verschiedenen Feldern. In der Rede von der ‚Arbeitsgesellschaft‘ oder auch der in der Arbeits- und Industriesoziologie etablierten These einer ‚Integration durch Erwerbsarbeit‘ wird dieser komplexe Zusammenhang systematisch verfehlt. Weder gründet Sozialität konstitutiv auf Arbeit, noch lässt sich Integration auf die Teilhabe an Erwerbsarbeit verkürzen. Die These erzeugt einen analytischen Fehlschluss, indem sie den historisch-spezifisch dominanten Bewährungsmythos der Leistungsethik, die an den Beruf gekoppelt ist, in eins setzt mit einer vermeintlich auch strukturell vorhandenen Dominanz des Berufs in seiner Bedeutung für die Gemeinschaft wie für den Einzelnen. Dabei werden die Abhängigkeiten der Bereiche untereinander und ihre Asymmetrie getilgt, und Sozialität wird vorwiegend als Vergesellschaftung von Rollenträgern verstanden. Integration kann dagegen in der Moderne nur auf der umfassenden Ebene des Staatsbürgers verstanden werden, denn er bildet das Fundament des modernen nationalstaatlichen Gemeinwesens. Als solcher muss er sich angesichts der Struktur und der historisch und kulturell spezifischen Ausformung der Bewährung positionieren zu den drei grundlegenden Feldern gesellschaftlicher Problemlösung. Ein Ausscheren aus der dreifachen Bestimmung der Bewährung im Kollektiv muss fallspezifisch gut begründet sein. Die Subjektbildung sowie die Ausbildung des Lebensentwurfs samt der darin enthaltenen Stellungnahme zur Bewährungsdynamik stellen nun strukturell Männer wie Frauen vor gleiche Entwicklungsanforderungen. Die zentrale Frage dieser Studie richtet sich nun auf mögliche Differenzen zwischen den Geschlechtern in der Antwort auf die Sinnfrage. Das verspricht insofern besonders aufschlussreich zu sein, als dieser Blickwinkel möglicherweise die Konstitution und das Werden einer Geschlechterdifferenz aus der Handlungs- und Entscheidungslogik in der Bewährungsdynamik neu zu greifen erlaubt.
20 In Erweiterung der Konzeption einer doppelten Vergesellschaftung wie sie Becker-Schmidt (1987) und Knapp (1990) entwickelt haben, spricht auch Lenz (1995: 34f.) von dreifacher Vergesellschaftung und bezieht neben der Familie und dem Kapitalverhältnis auch die nationalstaatliche Ebene ein. Im Unterschied zu der hier vorgelegten Konzeption einer dreifachen Vergesellschaftung thematisiert Lenz den Nationalstaat in der internationalen Dimension als Problem ethnischer Differenzierung und staatsbürgerschaftlicher Ausgrenzung. 50
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
3.
Geschlecht und Bewährung
In welchem Zusammenhang steht die Antwort des Einzelnen auf die Sinnfrage zu seinem Geschlecht? Einige Indizien für die Bedeutung des Geschlechts drängen sich aus dem Alltagsverständnis und durch die Beobachtung auf, dass trotz zunehmender Annäherung der Lebensläufe von Männern und Frauen Differenzen bestehen hinsichtlich der familialen und beruflichen Beiträge, der Gewichtung der Lebensbereiche, der historisch unterschiedlichen Entwicklung von so genannten Männerund Frauenberufen, von weiblicher und männlicher Erwerbsbeteiligung sowie verschiedenen Karrierewegen. Vor dem Hintergrund der universell und für alle unabhängig vom Geschlecht gültigen Bewährungsdynamik soll nun systematisch untersucht werden, wodurch sowohl strukturell die Antworten auf die Bewährungsfrage nach Geschlecht differieren können (3.1) als auch inwiefern in den historisch und kulturell spezifischen Ausdrucksformen Unterschiede zu finden sind (3.2).
3.1 Strukturelle Verankerung der Geschlechterdifferenz in Bezug auf die Sinnstiftung Wie dargelegt wurde, realisiert sich das Bewährungsproblem in den drei grundlegenden Dimensionen der gesellschaftlichen Reproduktion und den dafür ausgeformten gesellschaftlichen Bereichen. Oevermann vertritt die These, dass die Stellung des Einzelnen im Prozess der sexuellen Reproduktion von einer „geschlechtsspezifisch fundamentalen Differenz“ (2003b: 373) geprägt sei. Mutterschaft und Vaterschaft seien grundlegend anders bedingt und strukturiert. Und diese Differenz wirke sich auch auf die geschlechterdifferente Stellungnahme in den anderen Feldern aus, zeitige also „mittelbar geschlechtsspezifische Folgen“ (ebd.) für berufliche und gemeinwohlbezogene Bewährungskarrieren. An dieser Stelle wird das strukturtheoretische Erklärungsangebot von Oevermann nicht übernommen, denn eine solche Differenzbehauptung wirft doch einige Fragen auf: Wie lässt sich eine basale Differenz begründen? Und wie weit wirkt sie sich auf die Ausformung der Antworten auf die Sinnfrage aus? Mit anderen Worten: Schlägt eine Differenz in der Position der Elternschaft überhaupt auf andere Bereiche durch? Inwiefern geschieht dies strukturiert und wie weit reichen Transformations- und Gestaltungsmöglichkeiten? Und für wen trifft dies schließlich
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ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
zu, angesichts der Erkenntnisse der Geschlechterforschung über weitgehend heterogen strukturierte Geschlechtergruppen?21 Oevermann geht davon aus, dass ein jeder sich im Feld der Familie bewähren muss. Tut er es nicht, liegt die Begründungslast bei ihm (Oevermann 2004b: 171). So lässt sich als erster Einwand gegen eine universelle Gültigkeit der Bewährungsdifferenzen zwischen Männern und Frauen vorbringen, dass für all jene – Männer wie Frauen –, die sich gegen eine Familiengründung und unmittelbaren Beteiligung an der sexuellen Reproduktion entscheiden, diese Differenz ohne praktische Folgen ist. Dies ist die erste These der Relativierung der Relevanz der Geschlechtlichkeit für die Ausformung der Bewährungssuche. Die Geschlechterdifferenz wie sie durch die Positionierung von Männern und Frauen in der Elternschaft zunächst einmal konstatiert wird, verlangt zu ihrer Bestimmung die Analyse der Struktur dieser Positionen in der Kernfamilie22. Wie Oevermann an anderer Stelle rekonstruiert hat (Oevermann 2001c: 87ff.) sind in der Kernfamilie drei Strukturpositionen verankert, wie sie sich aus der biparentalen Fortpflanzung der Gattung ergeben: Mutter, Vater und Kind besetzen diese Strukturstellen und bilden die familiale Triade. Dies gilt historisch und kulturell übergreifend. Wie die triadischen Positionen dann je konkret in Erscheinung treten, ob als Onkelehe, Kreuzkusinenheirat, in matrilinearer oder patrilinearer Organisation, ob in Männer- und Frauenhäusern von Sippen, als Harem oder in Form der modernen Kleinfamilie organisiert, dies alles sind Variationen über ein gemeinsames Thema, nämlich das Thema der für die Gattung typischen, für die Reproduktion der Gesellschaft notwendigen Fortpflanzung, der Pflege und Sozialisation des Nachwuchses. Diese Grundstruktur vollzieht und entfaltet sich von Anbeginn an als soziale Praxis in Form von sozialisatorischer Interaktion. Aus soziologischer Perspektive ist die Körperbasis, die die Mutter- von der Vaterposition unterscheidet, nun hinsichtlich ihrer Sinnstruktur innerhalb der Triade relevant. Die differente Körperbasis von Männern und Frauen ist Ausgangspunkt und Ort der Erfahrung der Lebenspraxis und sinnstrukturierte, kulturelle Praxis. Mann oder Frau zu sein, eröffnet bezogen auf das Hand21 Hier ist etwa zu erinnern an den frühen und für die Frauen- und Geschlechterforschung grundlegenden Beitrag von Hagemann-White (1984), in dem sowohl gegen Kurzschlüsse einer Prägung von Frauen durch ihre „Fortpflanzungsfunktion“ (ebd.: 10) als auch gegen ein reduktionistisches Verständnis von physisch vermittelten Einflüssen auf Verhaltensdispositionen argumentiert wird. 22 Mit Kernfamilie ist die Basalstruktur der Familie gemeint, die sich je historisch und kulturell in verschiedener Weise ausformen kann. In der modernen Gesellschaft ist dies typischerweise die Kleinfamilie. 52
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
lungsproblem der Reproduktion der Gattung je eigene Möglichkeitsräume und stellt daher die Lebenspraxis vor differente Entscheidungsanforderungen. In der Auseinandersetzung mit ihnen und mit deren Bewältigung konstituieren sich konkrete Erfahrungen und es bilden sich spezifische Handlungs- und Deutungsroutinen aus. Doch wie weit reicht diese Differenz? Die Struktur der Kernfamilie stellt als Grundmodell eine prototypische Lösung der Handlungsanforderungen der sexuellen Reproduktion dar. Bei genauerer Betrachtung werden die spezifischen Funktionsweisen der einzelnen Positionen innerhalb der Triade sichtbar, ihre Leistungen und ihre sinnstrukturelle Bedeutung für Vater und Mutter.
Mutterposition Nach der biparentalen Befruchtung vollzieht sich zunächst im mütterlichen Leib die Reifung und Geburt des Säuglings. Die Mutter-KindSymbiose nimmt in der leiblichen Symbiose ihren Ausgangspunkt und dauert auch nach der Ablösung durch die Geburt noch an.23 Sie basiert auf der besonderen Beziehungsstruktur zwischen Neugeborenem bzw. Kleinkind und der nährenden und emotional fürsorgenden und schützenden Mutter. Die Sonderstellung der mütterlichen Fürsorge wird bestärkt durch die für die Gattung typischen – im Vergleich zu anderen Säugetieren höherer Gattungen – verlängerten Zeit notwendiger Pflege und Fürsorge, weil das Neugeborene und das heranwachsende Kleinkind vergleichsweise instinktarm und erfahrungslos auf Schutz angewiesen sind. Mit dieser langen Phase der Schutzbedürftigkeit bildet sich eine potenziell starke und individuierte Bindung zwischen Eltern und Kind aus. Diese Bindung – so Oevermanns These, die er aus psychoanalytischen und entwicklungspsychologischen Studien entlehnt24 – bestehe aufgrund der Bedeutung der schützenden Symbiose insbesondere zwischen Mutter und Kind. Strukturtheoretisch ergibt sich daraus für die mütterliche Position in der Elternschaft eine herausgehobene Stellung, ihre Einbindung 23 Oevermann (1995b) geht davon aus, dass die Mutter-Kind-Symbiose ihren Höhepunkt am Ende des ersten Lebensjahres hat, wenn das ‚Fremdeln‘ die Stabilität der Bindung an die Mutter bezeugt und andere Personen als Fremde, außerhalb der Symbiose Stehende erkannt werden. Andauern kann sie bis zum Eintritt in die ödipale Krise – also grob bis zum Alter von drei bis vier Jahren. Weitere Ablösungskrisen nach der Geburt – die Überwindung der oralen Phase im Abstillen und der analen Phase in der Kontrolle des Schließmuskels – gehören der psychosexuellen Entwicklung nach noch in die Phase der Symbiose, deren Strukturlogik die Positivierung der Offenheit in die Formel fasst: Im Zweifelsfall ist die Mutter für einen da und wird für einen sorgen. 24 Insbesondere der Bindungstheoretiker Bowlby (1975) hat auf die Bedeutung einer gelungenen Bindungserfahrung für die weitere kindliche Entwicklung hingewiesen. 53
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
in die Triade ist zumindest in den frühen Jahren der Familie unmittelbarer und bedeutsamer auch für die weitere Entwicklung des Kindes. Denn von der Art und Güte der Bindungserfahrung ist in starkem Maße die Ausbildung des fallspezifischen Habitus geprägt. Er entfaltet sich entlang des Maßes an gelingender Krisenbewältigung des Kindes in seinem Bildungsprozess. Die Krisenerfahrung kann dabei zwischen den Extremen einer Überforderung durch einen Mangel an Fürsorge und Begleitung in altersgerechten Krisenlagen auf der einen Seite und einem Ausbleiben der Erfahrung, Krisen bewältigen zu müssen, durch die Abwehr von Krisenkonfrontationen durch die Eltern auf der anderen Seite gestaltet sein. Je nach Stärke und Qualität der Bindung und je nach Dosierung der Krisenerfahrung, vollzieht sich die Subjektbildung entlang der Bewältigung von Scheiternserfahrungen und gelungenen Lösungen. Die Erfahrung des Kindes, selbstständig Krisen gelöst und Widerstände überwunden zu haben, ist die Grundlage der entstehenden Autonomie (Oevermann 2004b: 170), die diesen ersten schutzbedürftigen Jahren der Ontogenese eine so entscheidende Bedeutung für die Ausbildung des fallspezifischen Habitus verleihen. Je nach dem Grad der Erfahrung gelungener Krisenbewältigung entfaltet sich in Folge eine mehr oder weniger zuversichtliche oder aber resignative und ängstliche Haltung, um auf neue Anforderungen und potentielle Krisen zu reagieren. Die Fähigkeit, sich neuen Erfahrungen zu öffnen, sich der Offenheit der Zukunft in der konkreten Gestalt der selbst bestimmten Realisierung von Lebensentwürfen optimistisch zu stellen, geht letztlich auf die prägenden Erfahrungen der ersten Lebensjahre und die dort angebahnte Ausprägung des Habitus zurück. So lässt sich die Bedeutung der frühen Sozialisation beschreiben und der besondere Stellenwert der mütterlichen Position darin. Dies ist der argumentative Zusammenhang, mit dem Oevermann die „fundamentale Differenz“ zwischen Männern und Frauen in der Positionierung der familiären Bewährungskarriere begründet. Nun ist die Bedeutung der Bindung für das Gelingen der Sozialisation sicherlich unstrittig. Eine Kontroverse besteht allerdings seit einigen Jahrzehnten über begünstigende und hinderliche Einflüsse auf die Entstehung einer hohen Qualität der Bindung. Dabei spielt die Frage nach der Stellung der Mutter im Bindungsprozess sowie nach den Folgen frühkindlicher Betreuung durch andere als die Bindungspersonen eine große, auch gesellschaftspolitische Rolle. Damit zusammenhängend steht seit einigen Jahren die Position des Vaters stärker im Fokus der Betrachtung. Beide Stränge (Fremdbetreuung und Vaterposition) führen zu weiteren Relativierungen der Relevanz der strukturellen Geschlechterdifferenz in der Elternschaft. 54
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
In der Bindungsforschung selbst wird die Sonderstellung der mütterlichen Symbiose zwar grundsätzlich vorausgesetzt, aber differenziert betrachtet. Bereits Bowlby (1975: 279ff.) konstatierte, dass für die Entwicklung einer sicheren Bindung auch andere Hauptbindungspersonen als die leibliche Mutter fungieren können. Entscheidend sei, dass sich eine verlässliche Beziehung auf eine konkrete Person richten kann. Wird diese Bindung als zuverlässig, kontinuierlich, feinfühlig und angemessen erfahren, können ferner weitere Bindungspersonen zusätzliche Bedeutung erhalten. Forschungen im Anschluss an Bowlby haben sowohl förderliche und hinderliche Einflüsse der Mutter-Kind-Interaktion auf die Bindungsqualität untersucht als auch die Bedingungen und Folgen väterlicher und durch andere Bindungspersonen (etwa Verwandte oder Tagesmütter) vorgenommenen Fürsorge sowie Settings der professionellen Kinderbetreuung durch Erzieher in Einrichtungen.25 Im Wesentlichen bestätigen diese Untersuchungen, dass aus der leiblich vermittelten Mutter-Kind-Symbiose ein struktureller Bindungsvorsprung zwischen Mutter und Kind resultiert, aber keine zwingende Notwendigkeit der hauptsächlich mütterlichen Bindung und Fürsorge abzuleiten ist.26 Ohne die kindliche Entwicklung zu gefährden, eignen sich andere Personen wie etwa der Vater als Hauptbindungsperson, aber auch einfühlsam interagierende Tagesmütter. Ist die Bindung stabil, erscheinen auch institutionelle Betreuungssettings dann nicht als Störfaktor für die Familienstruktur und -dynamik, wenn Kinder im Alter unter drei Jahren in Einrichtungen betreut werden. Die Qualität dieser Einrichtungen allerdings, die Länge der Betreuungszeiten und die zugrunde liegende Eltern-KindBeziehung werden als einflussreich für die kindliche Entwicklung ausgewiesen (Lamb/Ahnert 2003). Diese Ergebnisse relativieren Oevermanns Differenzthese in Bezug auf die hier interessierende Bewährungsfrage auf zweifache Weise. Ers-
25 Für einen Forschungsüberblick vgl. die Sammelbände Keller (1997, 2003), Spangler/Zimmermann (1995) und den Überblicksartikel von Dornes (2002). 26 „Es gibt keine ‚Mutterliebe‘ auf den ersten Blick“, so fasst Largo (1999: 118) seine Forschungen zum Bindungsverhalten zusammen. Stattdessen entwickele sich die Bindung zwischen Eltern (sic!) und Kind durch die gemeinsamen Erfahrungen über Monate und Jahre hinweg. Die Sonderstellung der Mutter im Bindungs- und Entwicklungsprozess werde auch durch neuere psychoanalytische Erkenntnisse relativiert etwa bezüglich der Bedeutung des Stillens. Es ist demnach weniger die mütterliche Brust von Bedeutung für das Gefühl von Geborgenheit und Zuwendung, sondern der Körperkontakt (Schaukeln, Streicheln, Körperwärme und -geruch) (Largo 1999: 98). Auch aus dieser Sicht kann der Vater als adäquate Bindungsperson gelten. 55
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tens wird anhand der Untersuchungen deutlich, dass jegliche Form deterministischer Argumentation, die aus der Familienstruktur und der Sinnstruktur der mütterlichen und väterlichen Leibbasis abgeleitet wird, dem Gegenstand unangemessen ist. Das Gelingen der Sozialisation und darin insbesondere der Bindung ist nicht einzig und hauptsächlich auf die Mutter zu beziehen. Eine Sonderstellung familialer Bewährung von Frauen ergibt sich sinnstrukturiert nur aus der symbiotischen Beziehung, die auf Seiten der Mutter aufgrund der Leiberfahrung eine ideale Voraussetzung für die Ausbildung einer starken Bindung bietet. Kann sich eine stabile Bindung entfalten, sichert sie die Hinwendung zum Kind auch über die symbiotische Phase hinaus. Es ist nicht unplausibel anzunehmen, dass aus der leibvermittelten Differenz und dem Bindungsvorsprung auch eine unterschiedliche Qualität und Struktur zwischen väterlicher und mütterlicher Fürsorge erwächst. Die Analyse der historisch und kulturell spezifischen Ausdrucksformen der Beziehungsgestaltung muss jedoch klären, ob sich daraus eine mindere bzw. vermitteltere Bedeutung der beruflichen und gemeinwohlbezogenen Bewährungskarrieren von Müttern ergibt. Zweitens erweisen sich mit Blick auf die Strukturdynamik der Familie und der familialen Sozialisation zusätzliche Differenzierungen der Mutter-Kind-Beziehung als nötig. Sie werden unmittelbar ersichtlich, wenn die Vaterposition genauer betrachtet wird, insbesondere hinsichtlich ihrer Bedeutung für die sozialisatorischen Ablösungskrisen.
Vaterposition Die Bedeutung der Vaterposition lässt sich ebenso wie die der Mutterposition aus der Struktur der familialen Triade rekonstruieren. Im Anschluss an die Beschreibung der Mutter-Kind-Beziehung in Bezug auf ihre Leibbasis und die darin begründete Symbiose muss nun ergänzt werden, dass von Anfang an, mit der Zeugung und auch während Schwangerschaft und Geburt alle drei Strukturpositionen existent sind (vgl. von Klitzing 2000).27 Allerdings gestaltet sich die Vaterschaft ohne leibliche Erfahrungsbasis, wenn man vom Zeugungsakt und körperbasierter Interaktion absieht. Insofern vollzieht sich die Familialisierung des Vaters abstrakter und erfordert eine Initiierung der Zuwendungsbereitschaft, während die mütterliche Fürsorge die leibbasierte Bindungserfahrung nur aktualisieren muss. Die Triade vereint zwischen ihren Mitgliedern drei Dyaden (Mutter/Vater, Mutter/Kind und Vater/Kind), 27 Schleske (2007: 13) berichtet von vorgeburtlichen Bildern bzw. Phantasien über das künftige Kind auch bei Vätern sogar noch vor der Konzeption und verweist auf deren Bedeutung für den Verlauf der Schwangerschaft und die Entwicklung der Vater-Kind-Beziehung. 56
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
die untereinander in einer widersprüchlichen Einheit stehen (Oevermann 2001c: 87ff.). Die Gattenbeziehung und die Beziehung der Eltern zum Kind treten jeweils in ihrem Anspruch auf Unteilbarkeit in Konkurrenz zueinander. Dadurch ist eine Dynamik konstituiert, die die Entwicklung des Kindes erzeugt und befördert (vgl. Allert 1980: 5ff.; H.-J. Wagner 2004: 55ff.). In dieser ödipalen Struktur ist systematisch eine Transformation im Sinne des allmählichen Ablösungs- und Individuierungsprozesses angelegt. Indem das Kind verschiedene Ablösungskrisen durchläuft – angefangen mit der Geburt, weiter über die Lösung aus der Symbiose, die Überwindung der ödipalen Krise bis hin zur Adoleszenzkrise –, entfaltet sich dessen Autonomie entlang der Krisenbewältigung.28 In jeder der Ablösungskrisen kommen der Vater- und Mutterposition Bedeutung zu, sie übernehmen in der sozialisatorischen Interaktion eine wichtige Funktion. So konstituiert erst die handlungspraktisch realisierte Vaterposition die zwingende Notwendigkeit, dass sich das Kind dem Dritten gegenüber öffnet, aus der Verschmelzung mit der Mutter heraustritt und darüber eine gesellschaftliche Ordnung erkennt und anerkennt. Die ödipale Krise entfaltet sich am unmittelbarsten nur angesichts beider Eltern und verankert das Realitätsprinzip: Die Erschütterung kindlicher – ödipaler wie auch bisexueller – Allmachtsphantasien hat hier ihren Ausgangspunkt. Wenn aus der Anschauung der Eltern29 in ihren jeweiligen „Geschlechter- bzw. Praxismodellen“ (H.-J. Wagner 2004: 67) die Erfahrung gemacht wird, dass die Begrenzung eine Eröffnung von spezifischen Möglichkeiten und das Gegensätzliche eine solidarische Einheit 28 Die Kritik an einem „Adultismus“ (Wetterer 2003: 5) derjenigen Sozialisationsforschung, die das Kind als auf ein final bestimmtes Ziel des Sozialisationsprozesses hin ‚zuzurichtendes‘ betrachtet, greift in diesem Ansatz nicht. In der strukturtheoretischen Fassung von Oevermanns Subjekttheorie wird die Ontogenese in der Meadschen Tradition als Prozess der Erfahrung und Verarbeitung von Handlungsproblemen verstanden. Der Bildungsprozess des Subjekts ist auf diese Weise aktiv gefasst mittels der reproduzierenden und transformierenden Aneignung sozialer Regeln und Normen. 29 Wenn hier von Vater und Mutter gesprochen wird, sind darunter immer die Strukturpositionen zu verstehen, die auch dann gefüllt werden, wenn das konkrete ‚Personal‘ nicht vorhanden ist. Hildenbrand (2000) hat gezeigt, dass selbst identifikatorisch besetzte Gegenstände (in seinem Fallbeispiel etwa eine Nähmaschine) zur Erfüllung der Position zu finden sind, was deren Bedeutung unterstreicht. Da „es um Beziehungsmuster geht und nicht um zahlenmäßige Vollständigkeit der äußeren Übereinstimmungen mit der Triade“ (Allert 1998: 250), lässt sich auch in Familien, die sich von der Kernfamilienstruktur unterscheiden (etwa Alleinerziehende, Folgefamilien mit Adoptivkindern etc.), die Wirksamkeit der triadischen Dynamik zeigen. 57
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
von Gleichberechtigtem darstellt. Aus diesem konkreten Erleben affektiver Solidarität unter Bedingungen des Gegensätzlichen entsteht die Grundlage für das Kind, Widersprüche auszuhalten und das Getrenntsein als Aufgehobenes in der Sozialität zu erfahren. Hatte sich das Kind in Ablösung aus der Symbiose bereits in Ansätzen als eigenes Selbst in der Abgrenzung erlebt, so ist mit der Lösung der ödipalen Krise eine Entscheidung über die eigene Position zu treffen, die eine erste Form von Autonomie darstellt (ebd.: 68).
Subjektbildung und Kritik Die sinnstrukturierte Differenzerfahrung zum gegengeschlechtlichen Elternteil geht in die Identitätsbildung ein und entfaltet dort in spezifischer Weise ihre Entwicklungsdynamik. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die psychoanalytischen und entwicklungspsychologischen Annahmen zur Bedeutung der geschlechtsspezifischen Ablösungsdynamik v.a. in der ödipalen Krise zu diskutieren. Exemplarisch sei hier auf den Überblick von King (2000a) verwiesen. Aus soziologischer Perspektive muss jedoch auf die Kontroverse zum Sozialisationsparadigma insbesondere unter der Geschlechterperspektive eingegangen werden. Die Kategorien ‚Identität‘, ‚Geschlecht‘, ‚Subjekt‘ und ‚Autonomie‘ geraten ebenso wie das Konzept der Sozialisation unter den Verdacht, dass sie als wissenschaftliche Konstruktionen „alltagstheoretische Typisierungen wiederholen und reifizieren“ (Dausien 1999: 223). Bilden (1991: 279) hat dies auch als Kritik am Konstrukt einer ‚geschlechtsspezifischen Sozialisation‘ aufgeworfen.30 Zweifel am Erklärungsgehalt dieser Konzepte sind im Zuge der Rezeption und Diskussion (de-)konstruktivistischer Theorieangebote in der Geschlechterforschung entstanden und rühren aus dem Unbehagen, mit dem Blick auf Geschlechterdifferenzen in der eigenen Forschung diese erst hervorzubringen. Kritisiert wird insbesondere die Vorstellung von einem mit sich selbst identischen Individuum, das eine stabile Identität in einem auf Integration in eine klar bestimmbare Gesellschaft hinzielenden Sozialisationsprozess ausbildet. Weder könne von einem mit sich selbst identischen Subjekt ausgegangen werden, noch von einem zielgerichteten Sozialisationsprozess, der das Individuum passfähig zur Gesellschaft ma30 Prägend war in der deutschsprachigen Diskussion der Beitrag von Hagemann-White (1984). Nach dessen Erscheinen lösten sich Rezeptionssperren gegenüber dekonstruktivistischen und poststrukturalistischen Ansätzen erst allmählich auf wie etwa die ersten expliziten Diskussionen in Benhabib u.a. (1993) und in den ‚Feministischen Studien‘ (1993) verdeutlichen. Für einen Überblick über die Rezeption insbesondere der Schriften Butlers vgl. Villa (2003, 2004). 58
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
che, noch von einem in klar bestimmbaren Normen und identitätsstiftenden Deutungsmustern sich offenbarenden gesellschaftlichen Ort (Wetterer 2003: 10). Stattdessen sei alles in Bewegung, flexibel, fluide und situativ – sowohl die Gesellschaft mit ihren Identitätsangeboten und Integrationszumutungen, als auch das Individuum auf seiner Suche nach Ort und Heim. Und so erhielten auch die Konzepte, die an die Stelle der Kategorien traten, diese Attribute: „flexibles Subjekt“ (meist in Anlehnung an Sennetts „Der flexible Mensch“ 1998) und „Patchwork der Identitäten“ (Keupp u.a. 1999), um nur diese exemplarisch zu nennen. In der Lebenslaufforschung, die dem Individualisierungstheorem folgt, werden Bestimmungen von Subjekt und Identität vervielfältigt und flexibilisiert. Das souveräne Subjekt wird als Fiktion, als Unmöglichkeit und Unwirklichkeit beschrieben und theoretisch durch ein „Quasi-Subjekt“ (Beck u.a. 2001: 42) ersetzt. Dessen Aufgabe bestehe darin, sich als „Selbstunternehmer“ (ebd.: 44) seines Lebens, als Herr seiner Biografie narrativ, und damit idenitätskonstruierend selbst hervorzubringen. Nun wird nicht nur im hier zitierten Individualisierungsdiskurs davon ausgegangen, dass das Subjekt in seiner Bildungsgeschichte vor der Zumutung größerer Entscheidungsfreiheiten steht. Sondern auch im strukturtheoretischen Zugang Oevermanns stellt sich die Herausforderung für das Subjekt im Zuge des Rationalisierungsprozesses als doppelgesichtig dar. Zur wachsenden Handlungsfreiheit gesellt sich unweigerlich eine steigende Entscheidungsnotwendigkeit. Doch spricht das gegen die Annahme eines mit sich identischen autonomen Subjekts? Warum sollte sich dieses Subjekt angesichts einer Vielzahl von Deutungsangeboten dezentrieren? Ebenso plausibel ist die gegenteilige Annahme, dass sich das Subjekt in seiner Bildungsgeschichte gerade in der Bewältigung größerer Handlungsspielräume als entscheidungsmächtiger Handelnder deutlicher denn je als Selbst erlebt, als die stabile Achse, um die herum es in wechselnde Herausforderungen mit Wort und Tat gestaltend eingreift. Die Kritik am flexiblen Selbst und Quasi-Subjekt als Fiktion lässt sich nicht nur alltagsintuitiv, sondern auch erkenntnistheoretisch begründen. Wer sonst als das gebildete Subjekt sollte sich flexibler mit Handlungsanforderungen auseinandersetzen und die Teil-Identitäten, von denen die Rede ist, beisammen halten? Wer anders als das sich bildende Subjekt sollte die Narration seiner Selbst verfassen und vom welchem Standort aus, wenn nicht von dem des hypothetische Welten konstruierenden, deutenden Selbst?31 31 Für die neu entfachte Kontroverse um Subjektkonzeptionen und einen angemessenen Subjektbegriff vgl. insbesondere die Sammelbände von Grundmann/Beer (2004) und Keupp/Hohl (2006). Darin setzt sich Wohlrab-Sahr (2006) kritisch mit den sozialisationstheoretischen Überlegungen 59
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Das Phänomen, durch Vervielfältigung eine Antwort auf steigende Komplexität zu suchen, zeigt sich in der Geschlechterforschung ebenfalls, wenn von Geschlechterverhältnissen oder von Geschlechtsidentitäten im Plural gesprochen wird oder auch von der Existenz von mehr als zwei Geschlechtern ausgegangen wird. Solche Konzeptionen rühren aus der Einsicht, dass die Geschlechtlichkeit der Lebenspraxis unterschiedliche Ausdrucksformen annehmen kann und in unterschiedlichen Kontexten, auch Lebensbereichen auf verschiedene Weise relevant sein kann. Auch hier beherrschen die Sorge darum, neue Stereotype zu erzeugen, sowie die Absicht, einem Identitätszwang zu entkommen, die Modellbildung, etwa wenn Bilden vom Individuum als „dynamisches System vielfältiger Teil-Selbste“ (Bilden 1997) spricht. Die Auflösung des Subjekts in verschiedene ‚Teile‘ geht allerdings auf ein implizit rollentheoretisch verkürztes Verständnis vom Subjekt zurück. Das zeigt sich im Versuch der Plausibilisierung einer „Vielfältigkeit der Person“ (ebd.: 228), die auf verschiedene „soziale Kontexte“ (ebd.) bezogen und aus ihnen begründet wird. Die Vervielfältigung des Subjekts, die Ablehnung der Annahme einer v.a. habituell geprägten Fallstruktur – in der ein Entscheidungsmuster verankert ist, das die sozialen Kontexte übergreifend wirksam wird – ebenso wie die Verabschiedung von bestimmbaren Geschlechterdifferenzen schütten allerdings das ‚Kind mit dem Bade aus‘ (Fischer 2002). Es ist wenig für das Verständnis von Geschlechterdifferenzen in der Eröffnung und Begrenzung von Handlungsentscheidungen, sowie in ihrer lebensgeschichtlichen Bedeutung gewonnen, wenn diese nicht mehr betrachtet werden aus der Sorge, sie durch die Betrachtung erst hervor zu bringen und Zwänge zu stabilisieren. Aufschlussreicher scheint es mir zu sein, die Konstitutionsbedingungen des Handelns zum Ausgangspunkt zu nehmen und zu fragen, in welcher Form sich Geschlechterdifferenzen ausbilden und Geltung verschaffen – wie es hier bezogen auf die Bewährungsdynamik geschieht. Aus dieser Perspektive zeigt sich der soziologische Gehalt der Konzeption der familialen Triade als Interaktionsstruktur. Mit ihr lässt sich die Entwicklungsdynamik der Subjektbildung beschreiben, in der sich nicht nur ontogenetisch die Geschlechterdifferenzen aufrichten. Sondern auch Oevermanns auseinander und bestreitet den universellen Status des Bewährungsproblems für die Identitäts- und Subjektbildung (ebd.: 83ff.). Sie verwirft die Bewährungsdynamik als Antriebsstruktur als in unzulässiger Weise anthropologisch verallgemeinert und setzt dem eine konsequent historisierte Vorstellung von Identitätsbildung entgegen. Es würde hier zu weit führen, diese Diskussion theoretisch zu vertiefen. In den Fallrekonstruktionen wird der hier aufgeworfenen Frage nach der Wirkmächtigkeit der Bewährungsdynamik als zentrale Struktur für die Subjektbildung nachgegangen. 60
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
die Vater- und Mutterposition wird in ihrer zugrunde liegenden Logik bestimmbar. In dieser Dynamik kommt der Positionierung zu einem Modell der Geschlechtlichkeit im Zusammenhang der Bewährungsfrage insofern Bedeutung zu, als Autonomieentfaltung und Geschlechterpositionierung miteinander verwoben sind und in weiteren Entwicklungsphasen fortschreitend ausgeformt, konkretisiert und unter Umständen revidiert werden. Das geschieht bereits in der Latenzphase, in der die elterliche Interaktion immer weniger, dafür aber Gleichaltrige immer größeres Gewicht in der weiteren Autonomie- und Identitätsentwicklung erhalten. Nun treten Peergroups als geschlechtshomogene Gruppen in Erscheinung und vervielfältigen zum einen die Anschauung von Geschlechter- und Praxismodellen.32 Zum anderen führen sie aus der Primärgemeinschaft als diffuse Sozialbeziehung in Reinform hinaus und in Formen symmetrischer Kommunikation unter Gleichen und universalistischer Solidaritätsbindung hinein sowie in erste Formen spezifischer Sozialbeziehungen, in denen rollenförmige Verhältnisse eingegangen werden wie etwa in der Schule, in Vereinen etc. Die Überlegungen zur Ontogenese des Subjekts in seiner Geschlechtlichkeit sind bis hierher v.a. aus der Position der familialen Triade beschrieben worden, insbesondere im Hinblick auf die mütterliche und väterliche Bewährungskarriere in der Familie. Nun soll die ontogenetische Perspektive auf die Ausbildung einer möglichen Geschlechterdifferenz in Bezug zum erwachsenen Lebensentwurf die strukturtheoretischen Überlegungen zur Relevanz der Geschlechtlichkeit abschließen. Mit Blick auf die Adoleszenz wird die eingangs konstatierte Differenz in der Stellungnahme zur Bewährungsfrage im Sinne der Bedeutung der Leibbasis für die Handlungsmöglichkeiten und Deutungsmuster noch einmal aufgegriffen und in biografischer Perspektive konkretisiert. In dieser Betrachtung ist die Familie in ihrer Struktur nicht Feld der Bewährung, sondern als Ausgangspunkt der Bildung eines individuierten Lebensentwurfs thematisch.
Autonomiebegriff und Autonomieentwicklung „Wer bin ich?“ lautet die zentrale Frage, die in der Adoleszenz beantwortet werden muss (Erikson 1999: 256). Es schärfen sich in dieser Zeit das Selbstbild und der Entwurf des eigenen Lebens, der eigenen Fähigkeiten, Interessen und Wünsche zum ersten Mal reflektiert auf die Bewährungsfrage. Ohne bereits einem Realitätstest unterzogen zu werden, 32 Meuser (z.B. 2006) spricht den homosozialen Räumen insbesondere für die Herausbildung des männlichen Habitus entscheidende Bedeutung zu. 61
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
gehört zur Anforderung der Adoleszenten, sich auch der Frage der Balance zwischen den verschiedenen Lebensbereichen resp. den Bewährungskarrieren zu stellen: Welchen Stellenwert sollen Beruf, Familie und staatsbürgerschaftliche Beiträge einnehmen, welche Formen ihrer Verbindung werden gesucht? Für solche Erwägungen und vorläufige Entscheidungen sind zwei Strebungen auszubalancieren, die die Autonomieentfaltung des Subjekts strukturell prägen. King (2000b: 386) unterscheidet hier Selbstbezug und Bindung als zwei konstitutive Pole der Autonomie. Damit befreit sie den Autonomiebegriff aus seiner Verengung auf die rein selbstbezogenen, narzisstischen Strebungen, die gemeinhin mit dem Verfolgen von Eigeninteressen, der eigentlichen Selbstverwirklichung und nicht zuletzt mit männlich konnotierter sozialer Identität in Verbindung gebracht werden. Demgegenüber kann erst mit der Integration der selbstbezogenen Strebungen einerseits und objektgebundenen, auf Bindung und Fürsorge gerichteten Strebungen andererseits von Autonomie als dialektischer Einheit gesprochen werden. Eine solche dialektische Konzeption der Autonomie wird der Spannung von Individuum und Gesellschaft gerecht, innerhalb derer zwischen dem Verfolgen von Eigeninteressen und der Gemeinwohlbindung vermittelt werden muss. Der Aneignungsprozess von Gesellschaft wird in dieser Fassung zugleich dynamisch verstanden als handelnde und deutende Auseinandersetzung sowohl mit der Geschlechtlichlichkeit als auch mit der Sozialität. Somit greift auch die Kritik am Sozialisationsparadigma hier nicht, der zufolge v.a. die sozialstrukturelle Sozialisationsforschung das Individuum als „Black box“ (Wetterer 2003: 8) behandelt und den Vermittlungsprozess, das Austarieren der Spannung zwischen dem Einzelnen und der ihn aufhebenden Sozialität ausblendet. Diese Autonomiekonzeption überwindet nicht nur die Einseitigkeit einer auf Unabhängigkeit, auf beruflichen Erfolg und auf Selbstbehauptung gerichtete Selbstentfaltung. Sondern sie hebt auch die stereotypisierende Dichotomie konventioneller Geschlechterausdeutungen auf. Mit einer integrierenden Konzeption von Autonomie, die die Pole der Unabhängigkeit und der Abhängigkeit als konstitutive Momente ansieht, wird ersichtlich, dass eine traditionale Ausdeutung der Geschlechtlichkeit, die Selbstbezug und Bindung auf Männer und Frauen und als Deutungen von Männlichkeit und Weiblichkeit polarisiert, nur eine halbierte Modernität von Lebensentwürfen und somit eine eingeschränkte Autonomieentfaltung erlaubt. Die Balancierung beider Strebungen als Aufgabe wird in der Adoleszenz prototypisch für die Subjektbildung für beide Geschlechter aufgerichtet und als Anforderung auch an die weitere Identitätsformung weitergegeben. Die Art und Weise der Integration, ihre 62
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Ausformung und inhaltliche Gestaltung bildet einen wesentlichen Bestandteil des Habitus, der für den Erwachsenen eine fortwährende Herausforderung zur Kohärenzbildung darstellt in dem Sinne, dass die Herstellung von Identität ein lebenslang krisenanfälliger Prozess bleibt (Garlichs/Leuzinger-Bohleber 1999: 67). Die Differenz dieses Ansatzes zur individualisierungstheoretischen Konzeption und deren Kritik am autonomen Subjekt wird nun deutlicher: Die Subjektbildung wird hier nicht statisch verstanden als finale Anpassung an fixierte gesellschaftliche Erfordernisse und Vorgaben, wie es in der Kritik am Sozialisationsparadigma heißt, sondern der Bildungsprozess des Subjekts in seiner Geschlechtlichkeit erscheint als dynamischer und krisenhafter Aneignungsprozess der sozialen Realität. Gerade in dieser Prozessperspektive muss das kohärente Selbst nicht als Fiktion verworfen werden, sondern es wird als das sich Bildende in den Blick genommen und es werden gerade die Anforderungen und Umstände der Habitusbildung beleuchtet. Dass unter Bedingungen einer Enttraditionalisierung erhöhte Anforderungen an die reflektierte Aneignung und Ausbalancierung der Strebungen gestellt werden, steht nicht in Frage, sondern bedarf zu seinem Verständnis der empirischen Erkundung: Wie gelingt es dem Einzelnen, angesichts vervielfältigter Handlungsmöglichkeiten und Deutungsangebote, einen zu seiner Person und seinem Habitus stimmigen Lebensentwurf zu entwickeln und dabei unter neuen Anforderungen und Möglichkeiten über den Lebenslauf eine Kohärenz des Selbst herzustellen? Diese Fragen auf der Abstraktionsebene der sozialen Identität stellen sich für beide Geschlechter gleichermaßen. Strukturell sind auch die widerstreitenden Strebungen der Bindung und des Selbstbezugs für Männer wie Frauen gleichermaßen in eine Balance zu bringen. Der Ansatz von King liefert dennoch eine Begründung dafür, dass es für Frauen zu einer widersprüchlichen, in Analogie zu Becker-Schmidt und Knapp (1987) zu einer „doppelten Vergesellschaftung“ kommt. King verankert diese Differenz der weiblichen zur männlichen Autonomieentfaltung in der Leibbasis. Demnach drängt in der Adoleszenz eine weitere Ebene der Identitätsbildung hervor: Die „inneren Welt von Selbst und Objekten, wie sie schließlich im Körper-Selbstbild verankert sind“ (King 2000b: 389) rückt die Auseinandersetzung mit der Geschlechtlichkeit des Selbst in den Vordergrund durch die körperlichen Veränderungen, die mit der Geschlechtsreifung hervortreten. In diesen sieht King die Adoleszenz als „heiße Phase der Produktion der Geschlechtlichkeit“ (King 2000c: 40) begründet. Die individuelle Verarbeitung und Aneignung der körperlichen Reifungsprozesse verbindet sich dabei mit den „sozialen Prozessen der Vergeschlechtlichung“ (ebd.) und befördert die 63
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Ausbildung eines geschlechtsspezifischen Habitus. Die wesentliche Differenz zwischen den Geschlechtern sieht King durch die leibgebundenen Erfahrungen konstituiert. Zu diesen Erfahrungen gehört für die Mädchen die Menarche, mit der nach King (2000b: 401) eine „psychische Öffnung des genitalen Innenraums“ einhergeht. Der weibliche Körper kann als potenziell Penis und Kind empfangender und als potenziell mütterlicher imaginiert werden, unabhängig von der späteren Realisierung. Damit ist für Mädchen die Spannung zwischen Selbstbezug und Bindung, also die umfassende Anforderung der Autonomieentfaltung innerhalb des weiblichen Körpers ebenso wie innerhalb des weiblichen Körper-Ichs lokalisiert. In diesem Sinne ist das Ringen um Autonomie schon auf der Ebene der Körperbasis und Körperbilder unmittelbar verbunden mit dem Ringen um die Integration von Selbst- und Objektbezug (ebd.: 402). Dieser Entwicklungsdruck stellt sich für den heranwachsenden Mann nicht in dieser Dopplung dar. Die narzisstischen Strebungen finden sich nicht konfrontiert mit der unmittelbaren Objektahnung, die psychische Differenzierung verläuft hier abgebremster. Ob die Integrationskompetenz durch diesen Druck bei Frauen gesteigert wird oder konfliktuell zusammenbricht, ist eine Frage der Entwicklungsräume, die kulturell und familial gegeben sind und kann nur fallspezifisch rekonstruiert werden. Die oben entwickelte These der Konstitution der Geschlechterdifferenz in der leibbasierten Differenz von Handlungsproblemen als Entwicklungsanforderungen findet hier eine Fundierung, noch bevor die reale Elternschaft eine Bewährungsdifferenz erzeugt. Die Integrationskompetenz als originäres Entwicklungsthema der Adoleszenz stellt sich Mädchen unmittelbarer und bildet eine spezifische Erfahrung von Krisenbewältigung aus. Der krisenlösende Habitus bezüglich der Vereinbarkeit beider Pole wird beim Erwachsenen immer wieder aufgerufen, wenn es z.B. bei einer Familiengründung um eine neue Balancierung in der Beziehung von Objekt und Selbst geht, von Liebe und Arbeit, von elterlicher oder professioneller Identität. Auf die Krisenanfälligkeit der Identitätsformung ist schon hingewiesen worden. Hier stellt sie sich nochmals auch für die Selbstdeutung der eigenen Geschlechtlichkeit als Anforderung dar. In Bezug auf die Bewährungsdynamik erfordert sie, eine Kontinuitätserfahrung bzw. einen kohärenten, zum Habitus in Passung stehenden Lebensentwurf unter Bedingungen des Wandels hervorzubringen. Dabei ist die Stellungnahme zu den Bewährungskarrieren von der geschlechtlichen Identität keineswegs determiniert. Denn diese stellt ihrerseits ein Amalgam aus leibvermittelter Erfahrung und fallspezifischer Bewältigung der adoleszenten Entwicklungsaufgaben einerseits
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und den je gegebenen historisch und kulturell spezifischen Möglichkeitsräumen für die eigenen Entscheidungen andererseits dar.
Zusammenfassung: Geschlechterdifferenzen und ihre relativierte Bedeutung für Bewährungskarrieren 1. Das sich in seiner jeweiligen Geschlechtlichkeit bildende Subjekt wird in differenter Weise vor die Frage gestellt, wie es zu den Handlungsmöglichkeiten Stellung nimmt. Geschlechtlichkeit ist in diesem Sinne konkrete Praxis wie sie aus der unmittelbaren Auseinandersetzung mit den (leibbasiert) eröffneten Handlungsoptionen erwächst. Sie ist nicht eine abstrakte, aus normativen Regulierungen konstruierte Kategorie, unter die sich das Subjekt nur subsumiert. Gleichwohl gehen in die vorgelebte Geschlechterpraxis durch die Eltern, von peers, in Medien und im öffentlichen Raum Ausdeutungen der Geschlechtlichkeit ein, die die Stellungnahme des Einzelnen grundieren, wie an kultur- und historisch spezifischen Ausformungen geschlechtsspezifischer Handlungsräume zu erkennen ist. Die basale Geschlechterdifferenz bildet Strukturgesetzlichkeiten, die für die Praxis nicht hintergehbar sind. 2. Dies begründet die Annahme einer relativen Sonderstellung der familialen Bewährung für Mütter, die die leibvermittelte Differenz der Elternschaft und der aus ihr hervorgehenden unterschiedlichen Bindungsqualitäten nicht überspringt, sondern in ihrer spezifischen Funktion anerkennt, aber weder essentialisierende noch determinierende Schlüsse aus der Leibbasis für die Geschlechterdifferenz der Bewährung zieht. In den empirischen Befunden wird sich zeigen, inwiefern sich die strukturtheoretischen Überlegungen als relevant für das Verständnis der Lebensentwürfe und Lebensentscheidungen erweisen. Dabei ist die historische und kulturspezifische Einordnung der Möglichkeitsräume und Deutungsangebote mit zu berücksichtigen. 3. An der Strukturbeschreibung der Mutter- und Vaterposition in der familialen Triade wird deutlich, dass der Familialisierung des Vaters zentrale Bedeutung zukommt. Eine hauptsächliche familiale Bewährung für Mütter lässt sich daraus nicht ableiten. Sondern in einer so konzipierten sozialisatorischen Leistung der Familie treten die charakteristischen Aspekte beider Positionen als notwendige Bedingungen für das Gelingen der Sozialisation hervor: Es bedarf einer affektiven Basis sowie einer auf Dauer gestellten und verlässlichen Beziehung ihrer Mitglieder. Diese ermöglichen die Erfahrung, sich entlang von Widersprüchen, innerhalb der Struktur zweier Generationen sowie zweier Geschlechter zu entfalten, die Herausforderungen der Ablösungen zu bestehen und darin Vertrauen zu gewinnen für das Zurechtfinden in einer fremden, unbestimmten Sozialwelt. Diese Erfahrungen erst bieten die Grundlage für 65
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
das Aushalten der Zumutungen der Moderne, einer Individuierung in Autonomie. Väterliche Fürsorge erscheint damit sowohl aus der Perspektive der psychosozialen Entwicklung des Kindes als auch in bewährungsdynamischer Betrachtung für den Vater als grundlegend. 4. Dabei ist die historisch konkrete Ausformung der Positionen Mutterschaft und Vaterschaft eine Antwort auf das zugrunde liegende Handlungsproblem. Die Spezifik der Ausformung, die mit ihr einher gehenden Restriktionen der Lebensführung und Widersprüche der Handlungsentscheidungen, können nur fallrekonstruktiv zum Beispiel für die Gegenwartsgesellschaft erschlossen werden, wie es sich die hier vorgelegte Studie in Bezug auf die Bewährungsdynamik zum Ziel gesetzt hat. Indem zugleich auch die Probleme der materiellen und sozialen Reproduktion gelöst werden müssen, spannt dieser Komplex von Aufgaben immer schon den Bogen von der Bestimmung der Geschlechterdifferenz über die Analyse der Geschlechterbeziehungen bis zur Bestimmung des Geschlechterverhältnisses. Denn in die Lösung der dreifachen Reproduktionserfordernisse geht je nach Kultur in spezifischer Weise das Verhältnis der Geschlechter als gesellschaftliches Ordnungsschema ein. Der oben skizzierte Zusammenhang der dreifachen Reproduktion der Gesellschaft und der dreifachen Vergesellschaftung des Subjekts stellt sich daher für Männer wie für Frauen gleichermaßen. Er ist in seiner Strukturdynamik auf gesellschaftlicher Ebene aber eingewoben in ein kulturelles Normengefüge. Das, worauf in einer Vergemeinschaftung Anerkennung gezollt wird, steht in unmittelbarem Verhältnis zur Antwort auf die Handlungsprobleme: Wie wollen wir leben? Welche Formen der Organisation dieser Reproduktionsherausforderungen sind unserer Vorstellung vom richtigen Leben angemessen? In welcher Weise deuten wir dabei männliche und weibliche Aufgaben und Bereiche aus? Diese Wertentscheidungen werden täglich neu getroffen, nicht nur in der großen Politik, sondern im praktischen Lebensvollzug des Einzelnen. Die Antworten aber sind keineswegs beliebig, sondern ruhen auf kulturell gebahnten und in institutionelle Formen geronnenen Entscheidungen, die auch in kollektiven Deutungsmustern wirksam sind und verweisen auf jeweils dominierende Bewährungsmythen. Sie eröffnen und restringieren Entscheidungsräume je nach kultur- und historisch spezifischer Rahmung in unterschiedlicher Weise für die Geschlechter. Denn zur strukturalen Handlungsebene tritt die auf ihr aufruhende Ausdeutung der Geschlechtlichkeit hinzu. Und in dieser Bedeutsamkeit sind geschlechtsbezogene Deutungsmuster Gegenstand von analytischer Rekonstruktion, wie sie hier präsentiert werden. Der folgende Abschnitt zeigt zunächst die aus anderen Studien gewonnenen empirischen Erscheinungsformen der Ausdeutung der Geschlechterdifferenz. 66
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3.2 Geschlechterdifferenzen in der modernen Lebensführung Mehrfach ist die Bedeutung der historisch und kulturell spezifischen Ausdrucksformen erwähnt worden, in denen sich die beschriebene Strukturlogik der Bewährungsdynamik Form verschafft. Für die Ausdeutung der Geschlechtlichkeit der Praxis ist dabei das vorne entwickelte Entscheidungsmodell instruktiv. Darin ist zum einen der Möglichkeitsraum relevant, innerhalb dessen Entscheidungen getroffen werden können. Indem das Spektrum an Handlungsmöglichkeiten nicht nur durch konstitutive Regeln, sondern ebenso durch spezifische Bedingungen und kulturelle Deutungsmuster erzeugt und geprägt wird, ist der Möglichkeitsraum selbst eine Realitätsebene, in der sich Geschlechterdifferenzen bilden und zeigen können. Als Beispiel sind gesetzliche Bestimmungen zu nennen, die nach Männern und Frauen differenzieren, wie etwa im Arbeitsschutzgesetz oder im Zugang zu bestimmten Berufen.33 Aus einem solchermaßen – mehr oder weniger – geschlechterdifferenziert präformierten Raum von Handlungsoptionen wählt der Einzelne nun bestimmte Möglichkeiten aus. Die Auswahl selbst beruht auf drei Momenten, wie es vorne bezeichnet wurde: 1. die konkrete Entscheidung (Auswahl), 2. die Art und Weise der Entscheidung (Habitus) und 3. die Entscheidungsbegründungen (Deutungsmuster). Für die empirische Analyse schließen sich daran folgende Fragen an: Inwiefern zeigen sich in diesen drei Momenten – in der Auswahl, im Habitus und in den relevanten Deutungsmustern – Geschlechterdifferenzen? Auf welche Weise bringen die Entscheidungen der Lebenspraxis geschlechtsbezogene Differenzen – reproduzierend oder transformierend – zum Ausdruck? Und schließlich: Wie groß ist der Spielraum der Ausdeutungen der geschlechtlich konnotierten Möglichkeiten? Bevor diese Fragen in den empirischen Analysen genauer untersucht werden, sollen sie zunächst anhand vorliegender Studien skizziert werden. Dabei wird der Möglichkeitsraum in seiner historischen Veränderung ebenso ins Zentrum gestellt wie die getroffene Auswahl daraus. Vor diesem Hintergrund können die Fallrekonstruktionen dann gezielt offene Fragen beleuchten und vorliegende Ergebnisse überprüfen. In der
33 Die Tatsache, dass solche geschlechterdifferenzierenden Bestimmungen und Beschränkungen etwa in der Berufswahl inzwischen beinahe vollständig abgebaut sind (als jüngste Beispiele die Öffnung des Polizei- und Militärdienstes für Frauen) kann als Beleg für die These gelten, dass der Möglichkeitsraum Geschlechterdifferenzen enthält, diese aber einem historischen Wandel unterliegen, da die Ausdeutungen der Geschlechtlichkeit, auf denen solche Bestimmungen beruhen, Transformationen unterliegen. 67
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Darstellung des Forschungsstandes interessiert hier insbesondere die Lebensführung von Männern und Frauen und zwar bezogen auf die Bewährungsfelder der Familie, des Gemeinwesens und des Berufs. Für die Charakterisierung des gegenwärtigen Möglichkeitsraums ist die bedeutsamste sozialkulturelle Entwicklung des 20. Jahrhunderts die Entstehung weiblicher Adoleszenz (King 1999: 37). Sie ist als Moratorium zu verstehen, das zur Auseinandersetzung mit den Ablösungserfordernissen und zur aktiven Aneignung einer Selbst-Objekt-Balancierung auffordert, ja diese überhaupt erst ermöglicht. Erst auf Grundlage einer solchen verantwortungsentlasteten Lebensphase der Erprobung können sich Lebensentwürfe in relativer Loslösung von (traditional) vorgegebenen Ausdeutungen entfalten. Der Möglichkeitsraum vergrößert sich und gleicht denjenigen von Frauen dem von Männern an. Als Beleg kann der seit 100 Jahren stetige Anstieg des Alters bei Erstheirat und Geburt des ersten Kindes dienen. Er spricht dafür, dass auch junge Frauen diese „gewonnene Zeit“ (vgl. BMFSFJ 2006) für die berufliche und persönliche Konsolidierung nutzen (Seidenspinner u.a. 1996). Die veränderten Wohn- und Lebensformen lassen auf eine Vervielfältigung von Handlungsoptionen schließen sowie auf die Verallgemeinerung der schulischen Bildung, auch höherer Abschlüsse und einer Phase von grundständiger Berufsausbildung auf Frauen. Die Ausgangslage zum Ende der Adoleszenzkrise weist so wenige Differenzen zwischen Männern und Frauen auf wie nie zuvor (Wetterer 2003: 14). Die Gleichheit bezieht sich sowohl lauf die Kompetenzentwicklung, auf die Lebenslage und auf das Selbstverständnis (vgl. Geissler/Oechsle 2000; Keddi u.a. 1999). Eine weitere Dynamik entsteht durch das Eintreten der Frauen in den öffentlichen Raum im Laufe des letzten Jahrhunderts, so dass auch die Geschlechterspannung in der Sphäre des Öffentlichen zum Tragen kommt. Dies stellt für das Selbstverständnis der (heranwachsenden) Männer eine historisch neue Herausforderung dar (King 1999: 37). Die Deutung dominanter Männlichkeit, die sich in geschlechtshomogenen Gruppen ausformt und diese zu seiner Selbstvergewisserung braucht, erfährt weitere Irritationen auch durch Veränderungen in der Erwerbsarbeit (Meuser 2001). Der Ausdruck männlicher Dominanz in Formen vertikal segregierter Arbeitsmärkte und homosozialer Räume auch in horizontaler Segregation von Berufs- und Arbeitsfeldern wird dann erschüttert, wenn neue Arbeitsformen und eine verstärkte Erwerbsbeteiligung von Frauen zur tendenziellen Auflösung solcher Zuordnungen führen sollten. Dies hat Auswirkungen auf die Herstellung eines geschlechtsbezogenen Selbstverständnisses. Traditional begründete Polarisierungen etwa in Form von „Geschlechtscharakteren“ (Hausen 1976), männlichen resp. „weiblichen Eigenschaften“ (Bock/Duden 1977) oder „polaren Ge68
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schlechtsrollen“ (Frevert 1986) weichen auf und verlieren ihre kulturell legitimierte Selbstverständlichkeit. Als mögliche Folgewirkungen identifiziert King (1999: 38) drei denkbare Entwicklungspfade der Geschlechterbeziehungen: 1. die fortgesetzte Existenz konventioneller Lösungen in Form polarisierter Aufspaltung der häuslichen und der erwerbsbezogenen Aufgaben nach Geschlecht. Dies entspräche einer Flucht vor den Integrationsanforderungen balancierter Autonomie durch Konvention. 2. Ebenfalls eine Abwehr der Integration stellt eine narzisstische Lösung dar, in der auch Frauen dem vormals männlich bestimmten Modell einer vorrangig auf Selbstbezug und Selbstgenügsamkeit ausgerichteten Biografie folgen. Individuierung wird in dieser Variante als scheinbare Unabhängigkeit v.a. durch die Konzentration auf die berufliche Bewährung von Männern wie von Frauen gedeutet. Kinderlosigkeit ist in dieser Entwicklungsrichtung zugleich Bedingung wie Folge einer solchen Orientierung. Und schließlich ist 3. ein postkonventionelles Modell der Geschlechterbeziehungen denkbar, das auch für Männer die Integration der Bindungselemente einschließt. Autonomie im postkonventionell-integrativen Modell vollzieht sich über Bindung und Selbstbezug als widersprüchliche Einheit jenseits der Geschlechterdifferenz. Die genannten sozialkulturellen Entwicklungen haben nun Folgen für die Bewältigung der Adoleszenzkrise und den Prozess der Individuierung. Der Möglichkeitsraum für eine größere Autonomieentfaltung hat sich auch im weiblichen Bildungsprozess erweitert. Das hat Konsequenzen für die Antworten auf die Bewährungsfrage: Wenn Geschlechterbeziehungen postkonventionellen Charakter erlangen, wenn die Individuierung für Männer und Frauen sich annähert in der Art ihrer Anforderung zur Balancierung von Selbstbezug und Bindung, spricht das auch auf empirischer Basis gegen die Annahme geschlechtsdifferenzierter Bewährungsdynamiken. Bei gleichen Optionen für beide Geschlechter folgt aus der geschlechtsspezifischen Individuierungsdynamik nur, dass die Pfade zur Ausbildung des Lebensentwurfs unterschiedlich verlaufen und insofern auch unterschiedliche Erfahrungen mit sich bringen können. Eine Spezifik biografischer Konfliktthemen und Konfliktpotentiale, die sich auch vor der Folie der hier skizzierten Entwicklungspfade annehmen lassen, sind Gegenstand der Interviewanalysen. Gleichwohl belegen neuere Studien ein widersprüchliches Nebeneinander sowohl der Gleichheit der Lebensentwürfe von Männern und Frauen als auch von Ungleichheiten der Lebensführung (Wetterer 2003: 14ff.). Die Relationen von Veränderung und Kontinuität lassen sich empirisch nicht auf eine eindeutige Tendenz bringen. Mit der gestiegenen Teilnahme der Frauen an Bildungs-, Ausbildungs- und Studienmöglich69
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keiten hat sich zwar die geschlechtsspezifische Segregation des Arbeitsmarktes, der Berufe und der darin eingenommenen Hierarchiepositionen verändert, allerdings nur graduell. Schon mit der Berufseinmündung wird eine erste biografische Schwelle ausgemacht, an der es zu einer Re-Traditionalisierung und Re-Vergeschlechtlichung der Lebenslaufmuster junger Frauen komme (Geissler 1998: 114). In den beruflichen Handlungsentscheidungen der jungen Frauen und Männer findet sich eine Kontinuität „historisch verfestigter Segmentationslinien“ (Krüger 2001: 72). Sie wird einhellig auf segregierte Arbeitsmarktstrukturen zurückgeführt, so etwa auch von Born (2001: 40) und Geissler/Oechsle (2000: 15). An ihnen breche sich die Gleichheit der Bildungschancen und der Wandel im Selbstverständnis. Diese Argumentation kann aus bewährungsdynamischer Perspektive nicht überzeugen, denn vermeintliche Sachzwänge stellen keine Entscheidungsbegründung dar, sondern entheben vordergründig von ihr. Wenn aber im eröffneten Möglichkeitsraum keine Differenz erzeugenden Beschränkungen bestehen, dann ist die an dieser Stelle interessante Frage, welchen Einflüssen solche biografischen Entscheidungen unterliegen. Drückt sich möglicherweise eine Geschlechtsspezifik in habitueller Hinsicht aus? Dies legen die Analysen von Frerichs (1997: 130-140) nahe. Sie verankert auf der Ebene des geschlechtlichen Habitus die Differenzen zwischen einer stärkeren Leistungsorientierung, Kontrolliertheit und Involviertheit in „männliche Spiele“ (ebd.: 139) von Männern auf der einen Seite und einer geringeren Vereinseitigung auf Erwerbsarbeit, einer geringeren Festgelegtheit und größeren Flexibilität, einer stärkeren Affektivität und Bedürfnisbezogenheit von Frauen auf der anderen Seite. Ebenso kann das Konstrukt des männlichen Habitus, wie Meuser (2006) es mit Bezug auf Connells Konzept „hegemonialer Männlichkeit“ (Connell 1999) entwickelt, dafür eine Antwort bieten. Im Zentrum habitueller Männlichkeit stehen hier die Handlungslogiken von Dominanz und Hierarchie, die sich besonders auf das Selbstverständnis des Haupt- oder Alleinernährers der Familie beziehen. Durch die Kopplung des Habitusbegriffs an das Konzept der Hegemonie steht Meusers Analyse des männlichen Habitus in enger Verbindung zur Ebene der Deutungsmuster. Sie sind eine zentrale Quelle für die Konstruktion und inhaltliche Ausformung eines geschlechtsbezogenen Selbstverständnisses. Sind also nach wie vor geschlechtsdifferente Deutungsmuster einflussreich auf die Handlungsentscheidungen? Diese habituellen und deutungsbezogenen Konstellationen lassen sich nur verstehen, wenn auch die übrigen Lebensbereiche, insbesondere die Familie mit berücksichtigt werden. Die gegenseitige Abhängigkeit der Sphären Beruf und Familie hat die Frauenforschung bereits früh zum 70
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
zentralen Gegenstand erhoben und in der Struktur der „doppelten und widersprüchlichen Vergesellschaftung von Frauen“ (Becker-Schmidt 1987; Knapp 1990) beschrieben. Demnach – so hat Krüger diesen Ansatz aufgegriffen – erzeugen erst die Verknüpfungsprinzipien von Beruf und Familie die „Gegenläufigkeit der Ungleichheitsspirale“ im Geschlechterverhältnis: „Das positive Aufaddieren von Geschlecht und Familie im männlichen gegenüber der umgekehrt proportionalen Negativentwicklung im weiblichen Lebenslauf“ (Krüger 1995: 144). Die Relevanz der Verschränkung von Familie und Beruf nicht nur im Lebensentwurf, sondern auch in der Lebensführung bestätigen die aktuellen Studien. Denn die zweite Ungleichheit verursachende Schwelle schließt sich scheinbar logisch an die erste Schwelle an: Mit der Familiengründung durch die Geburt des ersten Kindes verfestigt sich eine geschlechterdifferente Aufgabenteilung, die sich symptomatisch von der traditionalen Lebensführung vorangegangener Generationen nicht unterscheidet. Nun sind es in großer Mehrheit die Mütter und nicht die Väter, die zugunsten der familialen Fürsorge ihren Beruf unterbrechen oder ihre Arbeitszeiten reduzieren und später (oft auf Basis von Teilzeit) in ihren Beruf oder eine andere Erwerbstätigkeit zurückkehren. Frauen begründen ihre Entscheidungen, den Studien zufolge, als Ergebnis ihrer und einer mit dem Partner ausgehandelten Wahl. Dies ist ein interessanter Ansatzpunkt, der eine mögliche Geschlechtsspezifik der Bewährungsdynamik zu untersuchen erlaubt. In den einschlägigen Studien aber wird dieser Strang nicht weiter verfolgt, sondern in herrschaftskritischer Absicht bedauert, dass unter dem Deutungsmuster der Individualisierung die „Thematisierung von sozialer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern“ erschwert sei (Geissler/Oechsle 2000: 17). Dabei zeigt sich an dieser Stelle, inwieweit auch der Gleichstellungsbegriff in der Frauen- und Geschlechterforschung an die Vorstellung einer gleichberechtigten Teilhabe an Erwerbsarbeit geknüpft ist und der Selbstdeutung einer ‚Arbeitsgesellschaft‘ folgt. Die neueren Untersuchungen aus der Geschlechterforschung nehmen eine biografische Perspektive ein, wie es in der hier vorgelegten Studie ebenfalls geschieht und für die Analyse der Bewährungsdynamik auch notwendig erscheint. Das trifft auf die Sonderforschungsbereiche zur Lebenslaufforschung in Bremen und München zu (z.B. Born/Krüger 2001; Geissler/Oechsle 2001; Keddi u.a. 1999; Keddi 2003; Koppetsch/ Burkart 1999; Kühn 2004). Sie fokussieren stärker als die Werke aus den 1980er Jahren die subjektive Deutung eigener Handlungsperspektiven sowie Motive für je spezifische „Typen von Lebensplanungen“. Koppetsch/Burkart (1999) verengen dabei allerdings ihre Analyse herrschender „Geschlechtsnormen“ auf „Prestigegewinn“, die Suche nach 71
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
„symbolischer Anerkennung“ sowie einen „Konkurrenzkampf der Lebensstile“. Das Geschlechterverhältnis gerät so zum Ausdruck von Kämpfen um Statusaufstieg innerhalb gegenwärtiger Herrschaftskonfigurationen (ebd.). Die Autoren unterstellen durch ihren Blickwinkel bereits eine spezifische Entscheidungsmotivation, sowie insgesamt die Anlage der Untersuchung keinen Aufschluss über weitere Sinndeutungen zulässt. Auch Kühn (2004) stellt einen Zusammenhang her zwischen berufsbiografischen Entscheidungen, Typen der Familienplanung und Geschlecht. Da er aber unter einer Berufsorientierung v.a. Aufstiegs- und Karriereambitionen ins Auge fasst, die er bei Frauen mit Plänen zur Familiengründung nur „sehr eingeschränkt“ (ebd.: 174) vorfindet, können seine Ergebnisse insgesamt keine bewährungsdynamisch relevanten Hinweise geben. Weder kann er verschiedene Berufsorientierungen qualitativ unterscheiden, etwa nach Art verschiedener leistungsethischen Antriebsstrukturen, noch analysiert er die Dynamik der Bewährung, also des Prozesses fortwährender Sinnsuche. Gegenüber der geschlechtervergleichenden Forschung von Kühn betrachten die Arbeiten im Forschungszusammenhang von Born und Krüger, von Geissler und Oechsle ebenso wie von Keddi u.a. die Gestaltung ausschließlich weiblicher Biografien. Hier werden bereichsübergreifende Formen der Biografiegestaltung beleuchtet, also die „Verflechtung“ (Born/Krüger 2001) der Sphären Beruf und Familie in Augenschein genommen, auch untersuchen Geissler und Oechsle (2001) explizit die Verflechtungen der weiblichen Lebensläufe mit denjenigen ihrer Partner. Doch sind die unterliegenden Motivationen und Sinnbezüge der jeweils vorherrschenden Orientierung an Zeitordnungen des Erwerbssystems oder der Partnerschaft oder ihre Entkopplung nicht Gegenstand der Analyse. Als „Strukturgeber“ (ebd.: 102) einer gemeinsamen Lebensführung kommt den Zeitordnungen die Bedeutung eines Regelsystems zu, das den Rahmen einer äußeren Passung bietet. Auch für die Fälle der Entkopplung von solchen Rahmen und/oder den Lebensläufen Anderer werden nur schemenhaft Sinndeutungen erkennbar. Für den männlichen Lebenslauf wird gemeinhin eine alleinige Bezugnahme auf den Erwerbsarbeitsbereich konstatiert. Die „Lebensthemen“, wie sie in der Studie von Keddi u.a. als „Bindeglied zwischen individuellen und kollektiven Entwürfen“ mit „handlungsleitender Funktion bei biographischen Entscheidungen“ (Keddi u.a. 1999: 70) zu einer Typenbildung entworfen werden, könnten in ihrer Differenziertheit Aufschluss über gegenwärtige Bewährungsmythen geben. Die zur Auswertung verwendete Inhaltsanalyse vermag jedoch die strukturierende Bedeutung der Lebensthemen für die getroffenen Entscheidungen nicht aufzuschließen. Die Themen stellen als vor der Analyse gewonnene Konstrukte nur ein 72
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
Raster dar für die Zuordnung paraphrasierter Aussagen über Lebensbereiche und subjektive Relevanzen. Aus der Perspektive männlicher Bewährung weisen auch die Studien von Geissler und Oechsle sowie Keddi u.a. eine Leerstelle auf. Anders liegt die Problematik in den zahlreichen Studien zu Vaterschaft und Familienplanung von Männern, die im Zuge der Diskussion um die demographische Entwicklung und steigende Kinderlosigkeit in Deutschland entstanden sind (vgl. exemplarisch Fthenakis u.a. 1999; Kühn 2005; Kurz 2005; Peinelt-Jordan 1996; Tölke/Hank 2005; Vascovics/Rost 1999; von der Lippe/Fuhrer 2003). Hier sind Antworten auf die Frage nach der männlichen Bewährung möglicherweise auch außerhalb der Erwerbsarbeit zu erwarten. Obwohl im Diskurs zur Vaterschaft die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung des Kindes zunehmend präsent ist sowie eine Rhetorik der stärkeren Beteiligung an Belangen der Familie aufzufinden ist, konstatieren diese Studien eher indirekte Motive der Verantwortungsübernahme als einen originären Wunsch nach stärkerer Familientätigkeit. Über die These, die vorherrschende männliche Selbstbestätigung sei als kulturelles Muster an den Berufserfolg gebunden, hinaus liefern die Studien keine Begründungen für vorhandene oder fehlende väterliche Verantwortungsübernahme. Familiale Bewährung bei Männern ist bisher nicht erforscht worden. Beim Thema Kinderlosigkeit stehen demgegenüber stärker die Motive der Handlungsentscheidungen im Mittelpunkt nicht nur des wissenschaftlichen Diskurses. Die faktisch nach wie vor wirksame Polarisierung der Bewährungsfelder zwischen den Geschlechtern wird in den meisten Studien zur Kinderlosigkeit als einer der Beweggründe genannt, keine Familie zu gründen (Carl 2002; Dorbritz 2003; Wirth/Dümmler 2004). Die meist standardisiert verfahrenden Untersuchungen können allerdings über Korrelationsbildungen (etwa sozialstatistischer Merkmale wie der Bildungsgrad und die Fruchtbarkeitsrate) oder Einstellungen und Meinungen hinaus keinen Aufschluss bieten über Begründungen der Handlungsentscheidungen, die schließlich zur aufgeschobenen, verpassten oder abgelehnten Familiengründung führen. Zur Thematik der Gemeinwohlbindung im Allgemeinen und des gemeinwohlbezogenen Engagements im Besonderen haben als einzige Franzmann/Pawlytta (2008) explizit ihren Fokus auf die Bewährungsdynamik gelegt und dadurch auch eine systematische Betrachtung der Verwobenheit dieses Bewährungsfeldes mit den anderen vorgenommen. Zur Konstitution der gemeinwohlbezogenen Bewährung sind hier wichtige Argumente entfaltet worden, die vorne in meine Konzeption eingegangen sind. Das betrifft z.B. die Unterscheidung einer Leistungsäquivalenz von einer Reziprozität auf Gegenseitigkeit, die auf der Anerken73
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
nung einer gegenseitigen Solidaritätsverpflichtung basiert. Sie erlaubt eine genauere Bestimmung der Differenzen der Bewährung in der Sphäre der beruflichen Leistungserbringung und gemeinwohlbezogener Tätigkeit. Doch hier wie auch in anderen Studien, die etwa das „neue Ehrenamt“ (Rosenbladt 2000) oder den „Strukturwandel des Ehrenamts“ (Beher u.a. 2000) beleuchten, fehlt eine geschlechtsdifferenzierende Analyse. Nur in Picot (2001) ist diese enthalten. Aber diese Studie beruht ebenso wie die umfangreichen Untersuchungen von Klages/Gensicke (1999) und Schüll (2004), um nur einige exemplarisch zu nennen, auf standardisierten Erhebungen. Auch diese Forschungen bewegen sich aber auf der Ebene von Einstellungen und subjektiven Orientierungen zum freiwilligen Engagement, die keine Aussagen zulassen über handlungsleitende Motive im Sinne der vorbewusst wirkenden, kollektiven Sinnstrukturen, die für die Bewährungsdynamik aufschlussreich wären.
4. Untersuchungskonzept und methodische Anlage Im Anschluss an die Einbindung der hier vorgelegten Untersuchung an die Bezugstheorien (1), die Ausarbeitung der Fragestellung für die Konstitution der Bewährung in der modernen Gesellschaft (2) und die Verankerung der Geschlechterperspektive auf die Bewährungsdynamik in den theoretischen Kontroversen und in der empirischen Ergebnislage (3) wird nun abschließend die im folgenden präsentierte empirische Analyse vorbereitet. Zu diesem Zweck werden die bisherigen Überlegungen thesenhaft gebündelt, um dann den methodischen Zugang zu beschreiben sowie die Anlage der Untersuchung.
Zusammenfassende Thesen Die Vielzahl von Fragen, die in den bisherigen Ausführungen aufgeworfen wurden, lassen sich in drei Komplexe bündeln: 1. Formen der Sinnstiftung in geschlechtsdifferenzierender Perspektive Die Entwicklungsdynamiken in den gesellschaftlichen (Bewährungs-) Feldern lassen ihre Bedeutung für die Sinnstiftung und ihre Ausformungen zu einer offenen Frage werden. Dabei ist sowohl mit Bezug auf den Individualisierungsdiskurs als auch auf Oevermanns Strukturmodell der Bewährungsdynamik davon auszugehen, dass sich der Bewährungsdruck radikalisiert und konsequenter als je zuvor nach individuierten Antworten auf die Sinnfrage verlangt. Bei gleichzeitig abnehmender Selbstevidenz traditionaler Ausdeutungen sowohl der Geschlechtlichkeit 74
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
der Lebenspraxis als auch der Entscheidungsbegründungen in den Handlungsfeldern, ist die Stellungnahme des Einzelnen zum Beruf, zur Familie und zu Gemeinwohlbeiträgen zu einer Anforderung und Gestaltungsaufgabe geworden, die sich für Männer und Frauen gleichermaßen stellt. Ob damit die gefürchteten Phänomene eines Sinnverlustes infolge einer unverbindlichen Beliebigkeit und einer nachlassenden Bindung an das Gemeinwesen und an familiale und berufliche Aufgaben einhergehen, sind Fragen, zu deren Beantwortung die Fallanalysen beitragen sollen. In diesem Zusammenhang werden im Rückgriff auf das Strukturmodell der Lebenspraxis einerseits der Möglichkeitsraum für Handlungsentscheidungen sowie andererseits die Auswahl daraus in ihrem objektiven und normativen Sinngehalt als relevant betrachtet. Aus geschlechtertheoretischer Perspektive stellt sich die Frage, ob die hier angestellten Überlegungen zu einer sinkenden Relevanz von Geschlechterdifferenzen für die Gestalt des Optionenraums, wie sie sich mit den soziokulturellen Entwicklungen des letzten Jahrhunderts begründen lassen, eine Bestätigung in den Fallanalysen finden. Eine zweite Frage ist, ob es zu einer tendenziellen Angleichung auch der Antworten auf die Sinnfrage zwischen Männern und Frauen kommt. Denn entscheidend ist zwar zum einen der Raum der Möglichkeiten und deren möglicherweise geschlechtsspezifische Öffnung oder Beschränkung. Zum anderen aber, so das hier entwickelte Erklärungsmodell, bietet die Auswahl aus diesem Raum auf zwei Ebenen Ansatzpunkte für geschlechterdifferenzierte Entscheidungen: habituelle Differenzen und geschlechtsbezogene Deutungsmuster. Die vorgestellten empirischen Ergebnisse sprechen in dieser Frage für ein unentschiedenes ‚Sowohl – als auch‘. Doch bleiben dort die Handlungsantriebe und Deutungsmuster offen, die den ausgewiesenen Differenzen in der Lebensführung zugrunde liegen. Ob eine ReTraditionalisierung oder Modernisierung der Frauenleben zu konstatieren ist, lässt sich erst erklären, wenn die Handlungsbegründungen rekonstruiert werden. Denn am Symptom (etwa der Berufsunterbrechung nach Geburt eines Kindes) zeigt sich weder die habituelle Entscheidungsstruktur noch die (deutende) Begründung des Handelns. Beides – Habitus und Deutungsmuster – sind bisher im Zusammenhang der Bewährungsdynamik in ihrer Geschlechterrelevanz nicht geklärt und werden hier in den Fallrekonstruktionen untersucht. Dabei sind nicht nur die konstitutiven Strukturen der Bewährungsfelder von Bedeutung, sondern auch die Bewährungsmythen in ihrer handlungsleitenden Funktion. Der leistungsethische Mythos besitzt dabei nach wie vor großen Einfluss und verhilft der beruflichen Bewährung zu einer Sonderstellung, die ihr weder empirisch noch theoretisch 75
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
zukommt. Die Diskussion der beruflichen Bedeutungsaspekte hat dabei einige Fragen aufgeworfen, die in der empirischen Analyse zu verfolgen sind. Sie betreffen die Differenzen der Anerkennungsmodi in den Bewährungsfeldern, das inhärente Verständnis von Integration und das Individuierungspotenzial, welches der beruflichen Leistung im Vergleich zu anderen Tätigkeiten zugesprochen wird. Zudem tritt die Notwendigkeit bereichsspezifischer Bewährungsmythen hervor, deren Gestalt in den Fallrekonstruktionen noch zu bestimmen ist und die möglicherweise geschlechterdifferenzierende Deutungsbestandteile enthalten. 2. Konstitution von Geschlecht in subjekttheoretischer Perspektive Als Zugang zur Analyse der Geschlechterdifferenz und mit ihr zusammenhängend auch des Geschlechterverhältnisses wird eine doppelte These verfolgt: Zum einen wird angenommen, dass die Stellungnahme von Männern und Frauen zu den Bewährungsfeldern auf einer leib- und praxisvermittelten Geschlechterdifferenz beruht. Diese Differenz verschafft sich zum anderen erst in der Stellungnahme Relevanz für die Lebensentwürfe und für eine geschlechtsspezifische Lebensführung. Es muss dabei von einer nur relativen Relevanz der Leibbasis ausgegangen werden, wie die Diskussion der Reichweite der strukturtheoretisch bestimmten Geschlechterdifferenz in Bezug auf die elterliche Bewährung gezeigt hat. Bereits die Erkenntnisse aus der Geschlechter- und Sozialisationsforschung haben hier Zweifel an jeglicher Eindeutigkeit aufkommen lassen. Interessant ist nun, inwiefern sich in den rekonstruierten konstitutive Strukturen (wie etwa der Bewährungsdynamik und der geschlechtlichen Subjektbildung) als wirksam für das Handeln zeigen. Dabei verdient die Ebene des Habitus in doppelter Weise Beachtung: Sie stellt zum einen das Muster der fallspezifischen Entscheidungsstruktur dar (Art und Weise der Auswahl) und zum anderen ist es nicht unplausibel, Geschlechterdifferenzen auf habitueller Ebene anzunehmen, die eine Geschlechtsspezifik der Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern begründen könnten. Das Spannungsfeld zwischen Emergenz und Determination der Ausdeutung der Geschlechtlichkeit steht damit im Mittelpunkt der Frage der geschlechtlichen Subjektbildung. Es ist nur in der Konfrontation der strukturtheoretischen Annahmen mit den möglicherweise nicht nur bereichsspezifischen, sondern auch geschlechtlich konnotierten Bewährungsmythen zu erhellen. Insofern geht in dem hier verfolgten Ansatz die Frage der Konstitution der Geschlechtlichkeit des Subjekt einher mit der Frage ihrer ‚Konstruktion‘, wenn man die (mythische) Deutungsebene als solche bezeichnen will. Für diese Ausrichtung spricht, dass gerade die geschlechtsbezogenen Deutungsmuster in ihren historisch und kulturspezifischen Ausformungen große Variationen auf76
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
weisen. Für eine Subjekttheorie, die in der Lage ist, die Geschlechtlichkeit des sich bildenden Subjekts zu erfassen, ohne sich in Stereotypisierungen zu verfangen, soll die rekonstruktive empirische Analyse Ansatzpunkte eröffnen. Dabei ist auch die vorgebrachte Kritik an postmodernen und individualisierungstheoretischen Subjektkonzepten zu prüfen. 3. Anerkennungsordnung, Integration und gegenwärtige Krisenlage Die als ‚Krise der Arbeitsgesellschaft‘ verkürzt wahrgenommene Krise der Kultur (der Bewährung) verweist auf die aktuelle gesellschaftliche Brisanz einer Lösung nicht nur der (dreifachen) Reproduktionserfordernisse, sondern auch der Integration. Im Selbstverständnis der Gemeinschaft drückt sich die Vorstellung von Integration aus und ist als kollektive Bindung zu verstehen. Das entwickelte Konstitutionsmodell der Bewährung wirft insbesondere unter den Bedingungen unzureichender politischer Regulierungen und einer hohen Entwicklungsdynamik in den Bereichen der Arbeit, der Familie und der Gemeinwohlbeiträge die Frage auf, inwieweit sich überhaupt eine Bindung an das Gemeinwesen zeigt, worauf sie bezogen ist und woraus sie Evidenz bezieht. Dabei sind Verwerfungen auf zwei Ebenen anzunehmen und in den Fallrekonstruktionen zu untersuchen: 1. Zum einen können Dysfunktionalitäten zwischen den Bewährungsfeldern bestehen. Insbesondere sind hier Krisendynamiken zu erwarten durch Veränderungen in der Erwerbsarbeit und durch Transformationen in der geschlechtsspezifischen Aufgabenverteilung. 2. Die Anerkennungsordnung kann in Widerspruch stehen zu den reproduktiven Erfordernissen auf der einen Seite und dem Selbstverständnis des Einzelnen auf der anderen Seite. Hier hat der Bewährungsmythos und seine – möglicherweise widersprüchlichen – bereichsspezifischen Formen bedeutenden Einfluss. Diese Deutungsebene verdient daher besondere Aufmerksamkeit, da geschlechtsbezogene Deutungen Einfluss nehmen auf möglicherweise geschlechtsspezifische biografische Krisenlagen.
Methodische Vorgehensweise Den hier aufgeworfenen Fragen wird im Folgenden anhand von materialen Interviewanalysen nachgegangen sowie von Analysen der biografischen Daten der ‚Fälle‘.34 Dabei wird die Methode der Sequenzanalyse
34 Bei dem ‚Fall‘ – so ein erwähnenswerter Hinweis von Loer (2007: 87) – handelt es sich um eine analytische Kategorie und nicht um eine verdinglichende Redeweise über Personen, denen wir in der Interviewsituation begegnen. Als Fall tritt hier das Material in Erscheinung, das aus dem In77
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
verwendet, die in der Methodologie der objektiven Hermeneutik (Oevermann 1993, 2000b) begründet ist. Dieser methodische Zugriff liegt insofern nahe, als er in Analogie zum Strukturmodell der Lebenspraxis entwickelt wurde. Die Sequenzialität als Charakteristikum des Handelns erlaubt und erfordert zugleich eine sequenziell vorgehende Analyse, wenn Erkenntnis auf der Ebene der Sinnstruktur des Handelns gesucht wird. Als Sequenzen sind jegliche Entscheidungsstellen aufzufassen, wie sie in der Interviewsituation in Form der vollzogenen Sprechakte auftreten. Dabei sind sowohl der Möglichkeitsraum als auch die Auswahl daraus, die Art der Entscheidung (Habitus) und die Entscheidungsbegründung (Deutungsmuster) Gegenstand der Analyse. Methodisch wird dieses Spektrum dadurch in die Analyse einbezogen, dass an jeder Sequenzstelle zunächst der eröffnete Möglichkeitsraum rekonstruiert wird und sodann mit der tatsächlich getroffenen Auswahl (in Form der sprachlichen Explikation) konfrontiert wird. Die Art und Weise, wie die Lebenspraxis ihre Wahl trifft vor dem Hintergrund der Möglichkeiten, die an jeder Entscheidungsstelle gegeben sind, besitzt Bedeutung und erzeugt das Charakteristische ihrer Entscheidungsstruktur, unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn. Die Fallstruktur und ihre Gesetzlichkeit, die hierin zum Ausdruck kommt, ist die angezielte Erkenntnisebene. Das Material, an dem dieser Erkenntnisvorgang vollzogen wird, besteht aus Protokollen der Praxis, hier der Transkripte der Tonbandaufnahmen von Interviews. Sie erlauben den analytischen Nachvollzug der Sequenzialität des Handelns, der in Textform gegebenen sozialen Wirklichkeit der Abfolge von Entscheidungen. Zum konkreten Vorgehen der rekonstruktiven Analyse vgl. Wernet (2000) und die Erläuterungen in den folgenden Kapiteln. Damit sich die Spezifik der Sequenzialität des jeweiligen Falles in der Interviewsituation entfalten kann, wird ein Interviewtyp gewählt, der eine offene, wenig strukturierte Gesprächsführung zulässt. Zwischen den Polen einer Problemzentrierung und einer freien Narration sind die Interviews für diese Studie anhand einer Themensammlung geführt worden. Die Themenkomplexe stehen in direktem Zusammenhang zu den Bewährungsfeldern und beinhalten Aspekte der Lebensführung und der Bedeutung einzelner Tätigkeitsfelder. Die Gesprächsführung war jedoch durch die Themen nicht strukturiert, sondern folgte dem Thematisierungsfluss, wie er durch den Interviewpartner vorgenommen wurde. Sie dienten v.a. als Erinnerungsstütze während des Interviews. Nur drei Fragen waren explizit Bestandteil aller Interviews: der Eingangsimpuls („Beschreiben Sie bitte Ihre jetzige Le-
terview mit der jeweiligen Person gewonnen wurde und durch dessen Rekonstruktion der Gegenstand der Sinnstiftung erschlossen werden soll. 78
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
benssituation.“), die Abschlussfrage („Habe ich etwas Wichtiges vergessen? Möchten Sie noch etwas ergänzen?“) und eine hypothetische Frage zur Gestaltung der Zukunft („Was würde sich in Ihrem Leben ändern, wenn Sie sich aus irgendeinem Grund nicht mehr um ihren Unterhalt kümmern müssten?“). Mit einem zweiten Protokolltyp verfährt die objektive Hermeneutik ebenso rekonstruktiv: den biografischen Daten.35 Sie werden am Ende des Interviews standardisiert erfragt und stehen am Beginn der Fallanalysen. Ihr analytischer Status besteht darin, dass sie die Ausgangskonstellation, also den Optionenraum der zu untersuchenden Person deutlich werden lassen. Innerhalb dieser Möglichkeiten, die sich in der je konkreten Lebenspraxis bieten, stellt jedes lebensgeschichtlich relevante Datum eine Konkretisierung im Sinne einer spezifischen Stellungnahme dar. Anhand beider Protokolltypen wird zunächst auf der Ebene der Besonderheit des Falles dessen Eigenlogik – die Fallstrukturgesetzlichkeit – analysiert mit Bezug auf die oben entwickelte Fragestellung. Es stehen also Deutungsmuster und Habitusformen im Mittelpunkt, die einen Zusammenhang mit zur Lebensführung aufweisen und darin insbesondere mit der Stellungnahme zur beruflichen Arbeit, zu familialen und gemeinwohlbezogenen Tätigkeiten. Neben der faktischen Auswahl aus dem Raum der in der Analyse zu konkretisierenden Optionen, die ihrerseits bereits eine Antwort auf wertgeschätzte Momente der Lebensführung gibt, geben die Deutungsmuster und der Habitus in den Rekonstruktionen Aufschluss über verfügbare Weisen und kollektiv verbindliche Muster der Begründung. In der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem schließen die historisch konkreten Fälle daher neben dem inneren Kern ihrer einzigartigen Subjektivität auch das Allgemeine auf, das die Besonderheit des Falles gerade erklärt und erzeugt. Insofern besteht der letzte Schritt der Analyse in der Strukturgeneralisierung, die sich aus den durchgeführten Fallrekonstruktionen gewinnen lässt. Die in der Fallstruktur rekonstruierte Gesetzlichkeit stellt eine typische Selektivität dar, die nicht nur die Typik des konkreten Falls zum Ausdruck bringt, sondern auch eine Typik hinsichtlich des allgemeinen zugrunde gelegten Handlungsproblems, hier der Bewährungsdynamik.
35 In der Terminologie der objektiven Hermeneutik werden sie „objektive Daten“ (Allert 1993: 332) genannt, denn zu ihrer Gewinnung sind keine interpretativen Schlüsse notwendig, sondern sie stehen aktenkundlich zur Verfügung (z.B. Geburtsdatum, Geburtsort, Geschlecht, Heiratsdaten, Kinderzahl, Berufsabschluss). Ich nenne sie hier biografische Daten, weil sie ihre Relevanz daraus beziehen, dass in ihnen biografische Entscheidungen einen Ausdruck finden. 79
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Untersuchungskonzept und Anlage der Studie Für die angestrebten Erkenntnisse in Bezug auf die zusammenfassend dargestellten Komplexe 1. der Formen der Sinnstiftung in einer nach Geschlecht differenzierenden Perspektive, 2. der Konstitution des geschlechtlichen Subjekts und 3. der Anerkennungsordnung und Integration im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Krisenlage kommen solche Personen als Interviewpartner in Betracht, die in besonders prägnanter Weise erwarten lassen, dass sich in ihrer biografischen Konstellation zeitdiagnostisch ebenso wie grundlagentheoretisch bedeutsame Themen manifestieren. Mehrere Kriterien lassen sich identifizieren, die die Auswahl der insgesamt 19 Untersuchungspersonen geleitet hat, weil mit ihnen Annahmen über ihren Einfluss auf Habitus- und Deutungsdifferenzen verbunden waren: 1. Geschlecht: Die Differenzierung der Interviewpartner nach ihrem Geschlecht war notwendig durch die angestrebte geschlechterdifferenzierende Analyse der Formen der Sinnstiftung und der Subjektbildung. Die Interviews wurden mit elf Frauen und acht Männern geführt. 2. Qualifikation: Die Interviewpartner entstammen alle einem vergleichbaren Qualifikationsniveau. Sie verfügen über das Abitur als höchsten allgemeinbildenden Schulabschluss und haben ein Fach- oder Hochschulstudium abgeschlossen. Eine solche Konzentration auf die bildungsnahe Mittelschicht hat in der sozialwissenschaftlichen Forschung eine lange und wenig rühmliche Tradition. Der Mittelschichtsbias wird zu Recht ebenso kritisiert, wie eine androzentrische Forschung, die das männliche Subjekt zum Allgemeinen erklärt (Meuser 2006: 191). Empirische Untersuchungsergebnisse mit Rekurs auf spezifische Bevölkerungsgruppen müssen sich der Frage ihrer Reichweite und Gültigkeit der gewonnenen Verallgemeinerungen stellen. Das geschieht hier im Prozess der Strukturgeneralisierung innerhalb der Fallrekonstruktionen selbst und findet im Schlusskapitel Berücksichtigung. Dennoch hat die Konzentration auf hochqualifizierte Männer und Frauen inhaltliche und methodische Gründe. Inhaltlich: Da die Forschungsfrage sich auf mögliche neue Formen der Bewährung in der fortgeschrittenen Moderne richtet, war es notwendig, solche Fälle auszuwählen, in denen eine Wahrscheinlichkeit bestand für das Auffinden auch neuartiger Bewährungsmythen. Im Segment hoch ist die größte Distanz zu traditionalen Orientierungen und die stärkste Nähe zu einer nach Autonomie strebenden Lebensführung anzunehmen. Um die Bedingungen der Möglichkeit der Autonomieentfaltung zu ergründen, verspricht daher gerade diese Gruppe instruktiv zu sein. Ferner lässt der Bildungsweg eine deutlich ausgeprägte Berufsorientierung erwarten, über deren Gestalt diese Studie in Auseinanderset80
II. SINNSTIFTUNG UND GESCHLECHT
zung mit der These der Sonderstellung der beruflichen Bewährung Aufschluss zu erzielen anstrebt. Darüber hinaus liegt die Annahme nahe, dass angesichts einer ausgeprägten Bedeutung des Berufs gerade in dieser Gruppe mögliche biografische Widersprüche hervortreten, wenn es zur Familiengründung kommt, die auch Hinweise auf ein tieferes Verständnis des so genannten Vereinbarkeitsproblems versprechen. Methodisch: Für die Untersuchung einer möglichen Geschlechtsspezifik der Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern ist es zunächst wichtig, homogene im Hinblick auf ihre sozialstrukturelle Verortung Fälle zu berücksichtigen (Becker-Schmidt 1996: 11). Damit kann gewährleistet werden, dass weitere Differenz herstellende Strukturierungen neben der Geschlechtlichkeit, also etwa die Ethnizität oder die soziale Lage bzw. milieuspezifische Einflüsse vernachlässigt werden können. Durch eine so erzeugte relative Homogenität der Untersuchungsgruppe lässt sich die Relevanz der Geschlechtlichkeit klarer fokussieren. 3. Generation: Die Bedeutung des „Generationszusammenhangs“ (Mannheim 1964) der zu untersuchenden Männer und Frauen ergibt sich aus der „Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen dieser historisch-sozialen Einheit“ (ebd.: 542). Es ist davon auszugehen, dass sich das Charakteristische von Praxiszeiträumen, in die man hineingeboren wird, in der Fallgeschichte prägnant niederschlägt. Die historisch konkrete Praxis zeichnet sich durch charakteristische Handlungsprobleme aus, die bestimmte Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Aus diesen wiederum werden nur spezifische Handlungsmöglichkeiten wahrgenommen und selegiert, weil andere durch vorherrschende Deutungsmuster schon ausgeschlossen werden. Diese Handlungsmöglichkeiten gehen in die Bildungsgeschichte des Subjekts ein. Für die hier gewählte Fragestellung sind die in den 1960er Jahren Geborenen interessant. Für diese Fokussierung sprechen folgende thesenartige Überlegungen: Diese Generation kam Mitte der 1970er Jahre in die Adoleszenzkrise, eine Entwicklungsphase, die deshalb für die Ausprägung eigener Deutungsmuster besonders relevant ist, weil in der Ablösung von den Eltern das Subjekt vor die Wahl des eigenen Lebensentwurfs gestellt ist. Zugleich markiert dieses Datum eine gesellschaftliche Krisensituation, in der trotz hohem Bildungsabschluss die berufliche Karriere prekär wird. Für die Frauen dieser Generation gilt bereits ein Nachlassen traditionaler Handlungsbeschränkungen, sie entscheiden sich statistisch häufiger für Kinderlosigkeit und berufliche Karriere, tragen aber in Paarbeziehungen noch die Hauptlast der alltäglichen Reproduktion. Für die Auswahl der Interviewpartner ist zudem wichtig, dass sie in einem Alter sind, in dem sie grundlegende Lebensentscheidungen bereits getroffen haben, wie die Berufswahl, den Berufseinstieg und eine Familiengründung oder deren 81
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Ablehnung. Denn nicht die Vorstellungen über eine hypothetische Zukunft stehen für die Analyse der Bewährungsdynamik in Zentrum, sondern die faktisch getroffenen Entscheidungen und deren Begründung. Alle erhobenen Fälle wurden in ihrer Grundstruktur entlang der biografischen Daten, der Eingangssequenzen der Interviews und ausgewählter Interviewpassagen analysiert. Für vertiefende ausführliche Feinanalysen wurden insgesamt sechs Fälle ausgewählt nach Kriterien, die in den jeweiligen Fallrekonstruktionen in den nächsten Kapiteln erläutert werden. Alle Fälle entstammen den Geburtsjahrgängen zwischen 1963 bis 1969. Die damit verbundenen Charakteristika der Generationenlagerung werden in der Analyse der biografischen Daten des jeweiligen Falles ausgeführt. Zum Zeitpunkt der Interviews waren sie Ende 30 Jahre alt und hatten – sofern eine Familiengründung in Frage kam – bereits Kinder. Die Präsentation der insgesamt sechs Fallrekonstruktionen gliedert sich in zwei Zentralfälle (Kapitel III), in denen in direktem Geschlechtervergleich ein weiblicher mit einem männlichen Fall kontrastiert wird. Der weitere Fall- und Geschlechtervergleich (Kapitel IV) kontrastiert nochmals je zwei weibliche mit zwei männlichen Fällen.
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III. Z W E I Z E N T R A L F Ä L L E
Die ersten beiden Fälle stellen im direkten Geschlechtervergleich biografische Entscheidungen heraus, wie sie sich bei gleichem Generationenzusammenhang und vergleichbarem Qualifikationsniveau (Abitur, Fach-/Hochschulabschluss) erkennen lassen. Anhand dieser Fallrekonstruktionen soll zugleich die Methode in der hier ausführlich dargestellten Analyse nachvollziehbar werden. Die Fälle im folgenden Kapitel bauen darauf auf und werden kürzer präsentiert. Die Darstellung der Zentralfälle gliedert sich in die Analyse der biografischen Daten (1), die Analyse des Interviews (2) und schließt mit einem fallbezogenen Resümee (3) zur Bewährung sowie mit ersten Generalisierungen zu geschlechtsbezogenen bewährungsdynamischen Herausforderungen und ihrer Bewältigungsstruktur ab. Der Prozess der Interviewerhebungen war von dem Ziel geprägt, Interviewpartner zu finden, die aufgrund ihrer Biografie exemplarisch für die Herausforderungen der beruflichen, familialen und gemeinwohlbezogenen Bewährung als aufschlussreich gelten können. Dabei waren folgende Hypothesen leitend: Die Leistungsethik ist der führende Bewährungsmythos der Gegenwartsgesellschaft, die ‚Dimensionen der Bewährungskarrieren‘ zwischen Familie, Beruf und Gemeinwohlbeitrag können zu spezifischen (Vereinbarkeits-)Konflikten führen und insbesondere weibliche Biografien werden zu besonderen Kulminationspunkten der Chancen wie auch der Zumutungen der fortgeschrittenen Moderne. So lag es nahe, unter beruflich erfolgreichen Frauen solche in den Blick zu nehmen, die bereits Mutter geworden sind. Diese beiden Lebensbereiche lassen erhebliche Konfliktpotentiale hinsichtlich der Realisierung der Bewährungsvorstellungen erwarten, insbesondere vor dem Hintergrund relativ stabiler Aufgabenteilung in den Paarbeziehungen, 83
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
wenn nämlich berufliches Engagement für Frauen selbstverständlicher Bestandteil des Lebensentwurfs ist, nicht aber ebenso familiale Aufgaben für Männer. Von hieraus leitete eine weitere Annahme die Auswahl: Angesichts der Dominanz der beruflichen Arbeit im Lebensverlauf qualifizierter Frauen, für die exemplarisch zunächst Frau Grebe betrachtet wird, kann eine Familiengründung insofern als krisenhaft angesehen werden, als die bisher ausgebildeten Routinen nicht zwangsläufig für die Bewältigung der Mutterschaft geeignet sind. Für den kontrastiven Vergleich ist ein männlicher Fall interessant, der neben einer beruflichen Tätigkeit auch väterliches Engagement zeigt. Damit war die Annahme verbunden, dass diejenigen Männer, deren Lebensgestaltung von der vorherrschenden Aufgabenteilung innerhalb der Partnerschaft abweichen, ebenso wie Frauen unter einer besonderen Belastung stehen. Dafür lassen sich zwei Gründen nennen. Zum einen steigt die Anforderung an individuierte Entscheidungsbegründungen, sobald traditionale Muster aufgegeben werden. Zum anderen liegt die Vermutung nahe, dass sich auch im männlichen Lebenszusammenhang biografische Konflikte ergeben, die aus einer Integration von Elternschaft und Berufstätigkeit resultieren. Gerade die Form solcher Konflikte und der Umgang mit ihnen könnte nun interessante geschlechtsspezifische Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisen, die eine Relevanz der Geschlechtlichkeit zu beleuchten erlauben.
1. Scheitern und Werden: Bettina Grebe In einem Artikel einer Wochenzeitung wird Frau Grebe im Jahr 2003 portraitiert als eine der Frauen, die trotz hoher Qualifikation und der Bereitschaft, Vollzeit zu arbeiten, seit der Geburt ihres Sohnes keinen Zugang zum Arbeitsmarkt mehr findet. Über die Autorin des Artikels entstand der Kontakt zu Frau Grebe, die umgehend ihre Bereitschaft zum Forschungsinterview erklärte. Auf Anonymisierung legt sie keinen Wert: „Ich steh dazu, was ich erlebt habe und was ich zu sagen habe“, lautet ihr Kommentar. Frau Grebe1 hadert mit ihrem Misserfolg der beruflichen Integration nicht leise und passiv, sondern geht in die Öffentlichkeit. Sie hat eine ‚Mission‘ und will auf das Verallgemeinerbare an ihren Erfahrungen aufmerksam machen. Damit ist eine Haltung impliziert, die die Ursachen für das von ihr selbst so genannte „Scheitern“ in
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Der Name ist dennoch, wie in allen hier präsentierten Fällen ebenso anonymisiert wie weitere Details der Biografien, die die konkreten Personen identifizierbar machen könnten.
III. ZWEI ZENTRALFÄLLE
einen gesellschaftlichen Zusammenhang stellt. In dieser Zuspitzung der Erfahrungen und in der Selbstdeutung als Gescheiterte verspricht die Analyse der zugrunde liegenden Fallstruktur ebenso wie die Rekonstruktion der Deutungsmuster geschlechtsspezifischer Scheiternspotentiale besondere Einsichten.
1.1 Analyse der biografischen Daten Bettina Grebe ist im Januar 1966 in Krefeld geboren. Ihr Bruder kommt dreieinhalb Jahre später zur Welt. Ihre Eltern sind zum Zeitpunkt ihrer Geburt zwei Jahre verheiratet, der Vater ist damals 26 Jahre alt (geb. 1940) und Geschäftsführer eines Möbelhauses, die Mutter ist 25 Jahre alt (geb. 1941) und als Einzelhandelskauffrau in derselben Firma wir ihr Mann tätig.
Frau Grebes Eltern gehören der Generation der im Krieg Geborenen an, die eine Abwesenheit des Vaters (und bei einem Teil der Generationsangehörigen auch dessen Tod) als gemeinsame Erfahrung der Kindheit teilt ebenso wie die Bedrohung durch das im Kleinkindalter gegenwärtige Bombardement der Städte, Hunger und eine existenzielle Zerrüttung des Alltagslebens. Vor dem Hintergrund dieser Erlebnisse ist es plausibel als zentralen Lebensantrieb dieser Generation (von der sich der Einzelfall unterscheiden kann) anzunehmen, eine lebbare Normalität ohne existenzielle Entbehrungen herzustellen. Dazu steht die Nutzung der durch die Massenproduktion ausgeweiteten Konsummöglichkeiten (Kühlschränke, Autos, neu errichtete und geräumigere Wohnungen etc.)2 in Passung. Die Angehörigen dieser Generation erlebten, wie Fleiß, Anstrengung und langfristige Planung mit größeren Berufschancen und sozialem Aufstieg belohnt wurden (Fend 1988: 208). Ihr Selbstbild ist von der Erfahrung geprägt, durch unermüdliche Arbeit, sich selbst aus tiefer Not befreit und für ihre Kinder eine bessere Startposition erarbeitet zu haben (ebd.). Die leistungsethische Ausformung des Habitus koppelt Leistung an Erfolg über steigende Konsummöglichkeiten. Die Ehe-, Familien- und Berufskonstellation der Eltern entspricht im Wesentlichen der in den 1960er Jahren verbreiteten zwei-Kind-Familie mit zunächst zwei berufstätigen Eltern und einer statushöheren Berufsposition des Ehemannes. Eine hohe Leistungsmotivation kann angenommen werden. Als Geschäftsführer hat Herr Grebe berufsbiografisch
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Für Frankreich liegen konkrete Zahlen vor, die exemplarisch auch für (West-)Deutschland als vergleichbar angenommen werden können: demnach nimmt zwischen 1953/54 und 1980 die Ausstattung von Arbeiterhaushalten mit Automobilen von 8 auf 84 Prozent zu, mit Fernsehern von 0,8 auf 95 Prozent, mit Kühlschränken von 3,3 auf 98 Prozent und mit Waschmaschinen von 8,5 auf 88 Prozent (Hübner 1989: 148). 85
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
früh eine hohe Position erreicht und verspricht, im Bunde mit seiner im gleichen Berufsfeld qualifizierten und berufstätigen Ehefrau die gegründete Familie auf eine solide, finanziell sichere Basis zu stellen. Die Familiengründung zwei Jahre nach der Heirat und der Geschwisterabstand von dreieinhalb Jahren zeugen von einer bedachten Erfüllung der Kinderwünsche und einer Stabilität der Paarbeziehung. Der Geburtsjahrgang von Frau Grebe (1966) liegt am Ende einer Phase wirtschaftlicher Prosperität, die im Wiederaufbau der Nachkriegszeit als ‚Wirtschaftswunder‘ stilisiert wurde. Mit dem Ende der 60er Jahre setzt in Westdeutschland eine erste Rezession ein. Gleichzeitig aber wird das Bildungswesen gefördert. Der Ausbau der Gymnasien und die Neugründung von Universitäten, begleitet von einer Politik der Chancengleichheit der ab 1969 sozialdemokratischen Regierung, führen zu einer steigenden Zahl von Abiturienten und Studenten auch aus bildungsferneren Milieus sowie unter Mädchen.3 Mit einem Abiturientenanteil von 40% des Abitur-Jahrgangs 1985 war das Abitur zum dominanten Bezugspunkt eigener Bildungsambitionen geworden (ebd.: 135). Obwohl seit Mitte der 70er Jahre die strukturelle Arbeitslosigkeit anstieg, waren die Berufsperspektiven und Karrieremöglichkeiten günstig. Denn aufgrund der in den 80er Jahren konjunkturell bedingten und durch die deutsche Vereinigung bis Anfang der 90er Jahre verlängerten Wachstumsphase bestand eine hohe Nachfrage nach qualifizierten Schul- und Hochschulabgängern. Vor diesem Hintergrund bildete sich eine identifikatorische Karriereorientierung aus, zu der die generationsspezifische Habitusformation einer Prätention hoher Urteilsfähigkeit über komplexe Sachverhalte gehört sowie die Ausrichtung der Biografie nach Karrieregesichtspunkten (Loer 2007: 100). Leistungsethisch steht hier zunehmend die Karriere als Ausweis des Berufserfolgs im Vordergrund. In der Unterscheidung von Mannheim (1964) zwischen einer „Generationenlagerung“ (der Geburtskohorte) und einem „Generationenzusammenhang“ als eine soziale Verortung gemeinsam eröffneter Erfahrungen kann diese Charakterisierung als gegebener Hintergrund verstanden werden, vor dem sich der Bildungsprozess – hier von Bettina Grebe – vollzieht. Ob und wie dabei die für einen Generationenzusammenhang typische Herausforderung und typische Art ihrer Bewältigung auch prägend für den einzelnen Fall ist, kann nur die Rekonstruktion konkret zeigen. Nicht als determinierend, sondern als prägend, ist die Typik eines Generationenzusammenhangs zu verstehen. Die möglicherweise
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Ab 1973 überstieg der Anteil der Abiturientinnen unter den Mädchen denjenigen der Abiturienten unter den Jungen (Fend 1988: 135).
III. ZWEI ZENTRALFÄLLE
verschiedenen Arten, die von ihr aufgeworfenen Handlungsprobleme zu lösen, fasst Mannheim im Begriff der „Generationseinheit“ (ebd.: 544) zusammen. Derer kann es innerhalb eines Generationenzusammenhangs mehrere geben, so dass die Frage der Generationsspezifik mindestens in dieser Differenziertheit zu verstehen ist: Der in einem Generationenzusammenhang typische Zeitgeist, in den das Subjekt hineinsozialisiert wird und der die typische Herausforderung der Generationenlagerung zum Ausdruck bringt, kann auf verschiedene Weise gelöst werden. Indem diese Lösungen ebenfalls eine Typik aufweisen, lassen sich Generationeneinheiten erkennen. Nicht unabhängig von der konkreten Gestalt des Generationenzusammenhangs ist der Wohnort des betrachteten Falls als Ausdruck einer Lebensmittigkeit. Es gehört gerade zur Charakteristik der Sesshaftigkeit, dass diese sich an sozialräumlichen Gegebenheiten und dort geltenden Normen ausformt. Krefeld – der Geburts- und Wohnort von Frau Grebe – ist als niederrheinisches Oberzentrum wirtschaftsstrukturell durch mittelständischen Industriebesatz geprägt. Die wichtigsten Branchen sind Chemie, Metallindustrie, Maschinenbau und Textil. Letztere hat eine jahrhundertealte Tradition und legte mit der Seidenindustrie den Grundstein der aufkommenden Industrie. Bereits um 1720 wurde unter preußischer Herrschaft die Seidenwarenproduktion aufgenommen. Handel und weitere Dienstleistungsbranchen sind in der Gegenwart auch in der Nähe zur Landeshauptstadt Düsseldorf angewachsen. Im Agglomerationsraum Duisburg/Düsseldorf gelegen verfügt die traditionsreiche Stadt heute über ca. 240.000 Einwohner. Für die Ausbildung eines enttraditionalisierten Habitus ist die vielfältige Branchenstruktur eher förderlich als die stärker von der Montanindustrie geprägte Struktur des Ruhrgebiets (Loer 2007), weniger stark aber als dies in modernen Metropolen zu erwarten ist. Frau Grebe wird 1972 eingeschult und macht 1986 in Krefeld Abitur.
Sie erfüllt mit dem Abitur die dominant gewordene Voraussetzung für Berufs- und Karrierechancen. Die Wiederholung einer Schulklasse in der Grundschule lässt auf eine Störung schließen, die kaum kognitiv begründet sein kann, wenn Frau Grebe im Anschluss an die Grundschule ohne Verzögerungen das Gymnasium durchläuft. Scheidung der Eltern 1983
Die Ehe der Eltern scheitert nach beinahe 20 Jahren. Bettina Grebe ist zu diesem Zeitpunkt bereits 17 Jahre alt und als Adoleszente auf dem Weg, sich aus der Bindung an die Eltern mit einem eigenen Lebensentwurf abzulösen. So muss ein auf die Autonomieentfaltung sich negativ aus87
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
wirkender Einfluss nur dann angenommen werden, wenn die Scheidung der letzte konsequente Ausdruck einer langjährigen Zerrüttung der Paarbeziehung ist. In dem Fall hätte Frau Grebe kein gelingendes Familienleben zum Vorbild gehabt. Auch ist die Etablierung eines stabilen Selbstwertgefühls in zerrütteten Familien erschwert. Bei den Überlegungen zu den Entfaltungsbedingungen Frau Grebes ist zusätzlich in Rechnung zu stellen, dass ihr Vater aufgrund seiner Geschäftsführungsposition wenig Zeit für die Familie und Aufmerksamkeit für seine Kinder wird erübrigt haben. Die Mutter war bis zur Geburt des Sohnes, also bis Frau Grebe drei Jahre alt war, weiterhin im Geschäft ihres Mannes tätig und nahm die Tochter mit zur Arbeit. Unter diesen Bedingungen kann sich zwar eine emotionale Bindung ausbilden, sie steht aber mit beruflichen Sachzwängen in Konkurrenz. Die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Mutter und Kind sind dadurch eingeschränkt, was die Ausbildung einer stabilen Bindung eher ungünstig beeinflussen kann. Frau Grebe absolviert die Ausbildung zur Handelsassistentin in einem größeren Textileinzelhandelsunternehmen in Düsseldorf im Anschluss ans Abitur (9/1986-8/1989).
Sie entscheidet sich nicht für ein Studium, was ihr das Abitur ermöglicht, sondern für eine qualifizierte Ausbildung. In den Abiturjahrgängen Mitte der 1980er Jahre ist dieser Weg nicht unüblich, und er stellt möglicherweise eine Reaktion auf die deutlich steigende Unsicherheit der Beschäftigungschancen auch von Akademikern dar. Diese Entscheidung korrespondiert zudem sowohl mit ihrer Herkunftsfamilie als auch mit der damaligen Aufstiegsstruktur im Einzelhandel, der noch nicht dominant auf Akademiker setzt. Die Ausbildung zur Handelsassistentin ist qualifizierter als eine einfache Berufsausbildung. Mit ihr erschließt sich Frau Grebe in einer verkürzten Ausbildung zur Einhandelskauffrau in Kombination mit einer weiteren Qualifizierung zur Assistentin die Möglichkeit, direkt auf mittlerer Führungsebene (Substitutin, Abteilungsleiterin) im Einzelhandel Fuß zu fassen. Mit dem Ausbildungsunternehmen ist sie auf den Textilhandel spezialisiert, allerdings in einem großen Unternehmen, das vielfältige Aufstiegsmöglichkeiten und Tätigkeitsbereiche bietet. Für eine Sachbindung, die sich in dieser Entscheidung ausdrücken kann – indem sie sich mehr von ihren Interessen als von angezielten Statushierarchien leiten ließe – spricht die Fortsetzung der elterlichen Tradition des Berufsfeldes Einzelhandel. Ihr gewählter Beruf liegt im Bereich des ihr Vertrauten. Eine Abgrenzungsbewegung von den Eltern, die sich in größerer beruflicher Distanz zu ihnen zeigen würde, ist nicht zu erkennen. Zugleich scheint Frau Grebe wenig Neigung zu haben, beruflich Neues zu suchen. 88
III. ZWEI ZENTRALFÄLLE
Noch vor dem Abschluss der Ausbildung tritt sie in die Position der Einkaufsassistentin in der Zentrale des Ausbildungsunternehmens ein (12/198812/1990).
Der Beschäftigungsanschluss im Rahmen der Ausbildung gelingt, indem das Ausbildungsunternehmen sie im Abschlussjahr übernimmt. Die Arbeitsleistung von Frau Grebe muss also zufrieden stellend gewesen sein. Zu vermuten ist auch, dass sie sich in einem für sie stimmigen Berufsfeld bewegt und die Ausbildung nicht nur die Sicherheit stiftende Grundlage für ein späteres Studium sein sollte. Frau Grebe wechselt das Unternehmen und tritt als Einkäuferin für Damenoberbekleidung bei einem Großhandelsunternehmen einer Nachbarstadt ein (1/1991-12/1992).
Durch den Unternehmenswechsel vollzieht Frau Grebe den Aufstieg von der Assistentin zur Einkäuferin. Ihrem Berufsfeld des Textilhandels (auch der Abteilung Damenoberbekleidung) bleibt sie verbunden. Hier kann eine Sachbindung zum Ausdruck kommen, die ein Interesse am Umgang mit Stoffen und Mode und an der Verantwortung für Einkauf und Belieferung der Filialen beinhaltet. Auch eine Aufstiegsorientierung ist in diesem Schritt erkennbar, sowie eine Leistungsbereitschaft, die Verantwortungsübernahme einschließt. Frau Grebe kündigt und vertieft ihre Englischkenntnisse (Sprachaufenthalt in Florida 1-2/1993, Wirtschaftsenglisch auf Sprachenschule in Krefeld 3/19932/1994).
Frau Grebe verlässt im Alter von 27 Jahren die berufliche Arbeit und den begonnenen Karriereweg. Eine Weiterqualifizierung in Englisch kann unter bestimmten Bedingungen im Dienst des bisherigen Werdegangs stehen, etwa wenn die nächste angestrebte Position besondere Sprachkenntnisse erfordert. Dann aber wäre es wahrscheinlicher gewesen, diese Ausbildung nebenberuflich zu absolvieren. Eher ist hier zu vermuten, dass Frau Grebe sich eine Auszeit von ihrem bisherigen Berufsverlauf nimmt. Motive könnten Überlastung sein, Unzufriedenheit, ein Innehalten zur weiteren Orientierung fußend etwa auf dem Gefühl, etwas Wesentliches zu entbehren. Die Auszeit ist jedoch keine Pause zur Besinnung, sondern eine Qualifizierung, mit der Frau Grebe am Beruflichen orientiert bleibt. Frau Grebe schließt ein Studium der Wirtschaftswissenschaften an der FH Niederrhein an (3/1994-9/1997).
Mit dem Studium kehrt Frau Grebe weitere drei Jahre der Berufspraxis den Rücken und beschäftigt sich mit Theorie. Diese Qualifizierung kann nur im Lichte eines weiteren Moratoriums anstehender Lebensentschei89
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
dungen gesehen werden, denn um den beruflichen Werdegang in Richtung der nächsten möglichen Karriereaufstiege voranzutreiben, ist das Studium nicht nötig. Geeigneter ist in dem Fall der interne Aufstieg onthe-job. Sie bleibt dennoch in ihrem angestammten Arbeitsfeld, wählt also keinen thematisch anderen Studiengang. So wird sie ihre beruflichen Einsatzgebiete nicht vergrößern wollen, sondern ihre Berufstätigkeit allenfalls auf eine breitere Qualifikationsbasis stellen. Es dominiert hier augenscheinlich das Motiv innezuhalten. Nach dem Studium findet Frau Grebe alsbald eine Stelle als Key Account Managerin in einer Weberei im Münsterland (11/1997-7/1999).
Die Berufsunterbrechung von knapp fünf Jahren, die Frau Grebe durch ihre Sprachqualifizierung und das Studium vorgenommen hat, hindert sie nicht am Wiedereinstieg in die berufliche Praxis. Sie wechselt nun die Branche in den dem Textileinzelhandel vorgelagerten Bereich der Herstellung von Stoffen, bleibt aber im weiteren Sinne im Bereich Textil und bekleidet wiederum eine verantwortungsvolle Aufgabe im Management als Vertriebsleiterin. Sie verkauft deutschlandweit Stoffe vom Hersteller an die Textilindustrie. Damit hat sie wiederum einen Aufstieg vollzogen und kehrt nach der Qualifizierungsphase in eine ähnliche Verantwortungs- und Aufgabenstruktur zurück. Sie bleibt in Krefeld wohnen und pendelt täglich zur Arbeitsstelle 140 km pro Strecke. Im September 1998 bringt sie ihren Sohn Joshua zur Welt, sie ist ledig und lebt vom Vater des Kindes getrennt.
Unmittelbar nach ihrem beruflichen Wiedereintritt wird Frau Grebe mit 32 Jahren schwanger, befindet sich aber nicht in einer stabilen Paarbeziehung. Angesichts ihres bisherigen Werdegangs und der darin erkennbaren Karriereorientierung wird die Entscheidung zur Mutterschaft nur verständlich im Zusammenhang mit dem bereits diagnostizierten Bruch ihrer Berufslaufbahn als Orientierungskrise. Als Alleinerziehende ist es nur unter einem großen organisatorischen Aufwand und mit erheblichen Einschränkungen für eine gelingende emotionale Beziehung zum Kind möglich, das berufliche Engagement auf dem erreichten Karriereniveau aufrecht zu erhalten. Auch wird eine finanziell prekäre Lebenssituation in Kauf genommen sowie die Alleinverantwortung für ihren Sohn. Der Kinderwunsch war offenbar stärker als die Fortführung des ambitionierten Berufsweges vor der Unterbrechung durch Sprachschule und Studium. Dies muss umso mehr angenommen werden, als Frau Grebe mit 32 Jahren noch nicht in einem Alter ist, das die letzte Chance zur Mutterschaft bedeuten würde. Angesichts dieser Prekarität muss die Mutter-
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schaft als eine Funktion des Ausbruchs aus dem ‚alten Leben‘ in Verlängerung des Moratoriums durch das Studium gedeutet werden. Frau Grebe ist seit der Kündigung (8/1999) arbeitslos, zum Zeitpunkt des Interviews (7/03) seit fast vier Jahren.
Frau Grebe bleibt auf ihrer Stelle in der Weberei mit dreieinhalb monatiger Unterbrechung durch die Mutterschutzfrist Vollzeit beschäftigt. Als ihr Sohn neun Monate alt ist, kündigt sie. Seitdem hat sie erfolglos zwei Versuche unternommen, sich als Marketing Consultant selbständig zu machen, sowie zahlreiche Bewerbungen geschrieben, um im Angestelltenverhältnis eine neue Beschäftigung zu finden. Dieser Verlauf führt auf das entscheidende Dilemma zu und in die derzeitige, von Frau Grebe als „Scheitern“ bezeichnete Situation. Als Hypothese zur Fallstruktur lässt sich vor dem Hintergrund der bisherigen Analyse festhalten, dass Frau Grebe nach erfolgreichem Beginn einer beruflichen Karriere bereits einige Jahre vor Geburt ihres Sohnes in eine Orientierungskrise geriet, die sie vor die Notwendigkeit neuer Entscheidungen zu ihrem Lebensentwurf stellte. Das heutige Scheitern in der Integration von beruflichen und familialen Ambitionen kann angesichts dessen nicht als bloßes ‚Vereinbarkeitsproblem‘ von Mutterschaft und Karriere gedeutet werden. Es wird statt dessen in der folgenden Interviewanalyse den Fragen nachzugehen sein, welcher Art ihre berufliche Bewährung ist, welche berufs- ebenso wie familienbezogenen Deutungsmuster ihren Entscheidungen unterliegen und welche Art Scheitern strukturell vorliegt. Von besonderem Interesse sind mögliche Generalisierungen aus der Fallrekonstruktion hinsichtlich der Gestalt des Bildungsprozesses des Subjekts sowie des Verhältnisses von ausgebildeter Entscheidungsstruktur (dem Habitus) einerseits und den Möglichkeiten ihrer Transformation angesichts des offensichtlichen Nicht-Gelingens der Überwindung der Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit (dem ‚Scheitern‘) andererseits.
1.2 Interviewanalyse4 Typischerweise wird die Interviewanalyse mit der Eingangssequenz begonnen, da sich hier das spezielle Interviewsetting und die Interaktionspraxis einrichten und prägnant deutlich werden. Die Interaktionspraxis ist bei der Analyse immer zu analysieren, um Einflüsse der Interaktion
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Das Interview wurde von mir und einer Studentin meiner Lehrveranstaltung in der Wohnung von Frau Grebe in Krefeld im Juli 2003 geführt. 91
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
sowohl auf die Äußerung des Interviewpartners (etwa Aussagen, die dem Interviewer gefallen sollen, oder eine Abgrenzung von Deutungsangeboten) als auch auf die Deutung der Sequenz zu erkennen. Zudem wurden die meisten Interviews mit einem mehr oder weniger einheitlichen Eingangsimpuls eröffnet – nämlich der Bitte, die derzeitige Lebenssituation zu schildern –, so dass sich in den ersten Reaktionen der Interviewpartner pointiert erkennen lässt, worin sie gegenwärtig besondere Bedeutung sehen. Der ähnlich gestaltete Eingangsimpuls lässt auch einen prägnanten Vergleich der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Fällen erkennen und wird darauf hin in der Generalisierung der fallspezifischen Ergebnisse nochmals ausgewertet. Im Anschluss an die Eingangssequenz stehen ausgewählte Interviewsequenzen im Zentrum der Rekonstruktion, die besonders aufschlussreich für die Beantwortung der vorne aufgeworfenen Fragen und zur Prüfung der Hypothesen erscheinen. Die Auswahl folgt insbesondere dem Zweck der Falsifikation. Ist eine Hypothese gebildet, werden Stellen miteinander konfrontiert, die geeignet erscheinen, die Hypothese zu Fall zu bringen. Gelingt die Widerlegung an einer solchen Stelle nicht, kann die Hypothese mit einiger Berechtigung als bekräftigt gelten. Die Stellenauswahl im Fall Grebe folgt den inhaltlichen Schwerpunkten: Bedeutung des Berufs und leistungsethischer Habitus (1.2.2), Bedeutung der Mutterschaft und familiale Bewährung (1.2.3), gescheiterte Krisenlösung und Transformation (1.2.4) sowie gemeinwohlbezogene Bewährung (1.2.5). Abschließend wird ein Resümee zur Fallstruktur und zur Gestalt der Bewährung gezogen (1.3).
1.2.1 Eingangssequenz 1 I1 1 Ähm wir würden gerne beginnen mit der Frage ä wie ihre jetzige Lebenssituation aussieht (.) könn sie die mal schildern.
Die Interviewfrage beginnt im Konjunktiv. In der Höflichkeitsform steckt die Frage danach, ob begonnen werden kann. Die Schilderung der jetzigen Lebenssituation5, auf die zunächst angesprochen wird, soll dabei nur ein Einstieg sein (beginnen). Es wird keine Frage formuliert, sondern eine Aufforderung, die jetzige Lebenssituation zu schildern. Lebenssituation bezeichnet auf relativ abstraktem Sprachniveau zeitlich konkrete gegenwärtige Aspekte des Alltagslebens im Unterschied zu Überzeugungen. Im Prinzip wird offen gehalten, ob anhand von sozial5
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Die Darstellung der Interviewaussagen erfolgt in kursiver Schriftart. Die Bezugnahme auf die Äußerungen wird auch in der Analyse kursiv gesetzt. Zum Verständnis der Notierung im Transkript vgl. die Transkriptionsregeln am Ende des Buches.
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statistischen Angaben bzgl. des Familienstandes, der beruflichen Position etc. geantwortet wird oder das praktische Handeln thematisiert wird. 2 BG 1 Ja- ä ich bin im Moment ä arbeitssuchend, (I1: mm gemeldet auch) (.) ich bin arbeitslos gemeldet aber halt erhalte mittlerweile keine (.) ä Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe, vom Arbeitsamt, ä weil mir die Bezüge gestrichen worden sind auf Grund der Tatsache (.) dass ich wohl angeblich ä selbständich bin (.) ich klage im Moment gegens Arbeitsamt (I1: mm mmh (.) ganz schön heftich) ganz schön heftich
Mit Ja bekräftigt Frau Grebe die Bereitschaft zu beginnen. Es stellt also eine Antwort auf die auffordernde Frage dar, aber in dem schwebenden Zustand (ja- ä) auch eine Zäsur. Diese ist überraschend kurz für die doch umfassende Aufforderung, die gegenwärtige Lebenssituation zu schildern. Ihre Lebenssituation steht Frau Grebe also deutlich vor Augen, sie muss sich nicht erst auf sie besinnen. Sofort schließt sie mit einem Zustand an: ich bin. Lebenssituation fokussiert auf einen zeitlich begrenzten, vorübergehenden Zustand, jedoch auf einen wesentlicheren als einen Moment (in dieser Situation, als der bellende Hund auf mich zukam). Hier könnte sich anschließen: ich bin bei Firma XY beschäftigt. Im Moment rekurriert konsistent auf die Frage nach der jetzigen Lebenssituation. Es hat ein Wechsel statt gefunden, doch dieser Moment ist nicht ein situativer, sondern ein derzeitiger Zustand mit wesentlicher Bedeutung für ihr Leben. Frau Grebe fährt mit arbeitssuchend fort. Im Unterschied zu ‚Ich suche gerade eine neue Stelle‘ folgt die Schilderung Kategorien der Arbeitsamtsbürokratie. Abkürzend das Wissen aus dem biografischen Daten vorausgesetzt, ist anzunehmen, dass Frau Grebe sich als Arbeitslose arbeitssuchend gemeldet hat als Voraussetzung für den Bezug von Arbeitslosengeld. Indem sie nicht sagt ‚Ich bin im Moment arbeitslos‘, betont sie die Abweichung, die sie in ihrem Status als Arbeitslose sieht, von der gewünschten und vorherigen Lebenssituation. Es deutet sich ein innerer wie äußerer Konflikt um die Arbeitslosigkeit an: Innerlich widerspricht die Arbeitslosigkeit ihrer normativen Deutung eines gelingenden Lebens, Erwerbsarbeit ist fester Bestandteil ihres Lebensentwurfs. Ihre Aktivität zur Veränderung des Status arbeitssuchend ist aber gebremst, sonst hätte sie formulieren können: ‚Ich suche gerade eine neue Stelle‘. Man ahnt bereits an dieser frühen Stelle einen Rechtfertigungsdruck dafür, dass sie ihren Lebensentwurf nicht realisieren kann. Auffällig ist auch, dass ihre Mutterschaft sie nicht aus der Norm der Erwerbstätigkeit entlastet. Von ihrem Sohn ist in der Eingangssequenz nicht die Rede.
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ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Äußerlich lässt sich ein Konflikt um die Einordnung ihres Status vermuten aufgrund der Selbstetikettierung unter bürokratische Kategorien. In diesem konflikthaften Sinne wird die Sequenz auch fortgeführt: Frau Grebe schildert, wie sie sich um die Anerkennung ihres Status als arbeitslos bemüht und nicht, wie ihr das Amt vorhält, als selbständig. Im Satzteil, den Frau Grebe mit „wohl angeblich“ einleitet, äußert sie ihre Vermutung über die Vorbehalte des Amtes: Mit wohl bringt sie ihr Zugeständnis an einen Sachverhalt zum Ausdruck, der von offizieller Seite anders beurteilt wird als von ihr (da habe ich wohl unrecht getan oder ablehnend: die meinen wohl, ich sei selbständig), die Bewertung der Anklage als zutreffend oder nicht lässt es aber offen. Dagegen drückt sich im angeblich ihre Einschätzung des Verdachts als Irrtum aus, als eine fälschliche Zuschreibung. Im offiziellen Status der Selbständigen (formales Kriterium ist eine Erwerbstätigkeit, die über 15 Arbeitsstunden pro Woche hinaus geht) erhält sie keine finanziellen Zuwendungen. Ihre Lage ist daher existenziell prekär. Mit der Selbstbezeichnung als Arbeitssuchende stellt sie ihre Lebenssituation direkt in den behördlichen Kontext, in dem sie Angeklagte bzw. Klägerin um ihre Rechte (auf Bezüge) ist. Sie thematisiert sich in der Eingangssequenz als Opfer von Zuschreibungen seitens der Bürokratie. Der internen Logik der Institution folgend kämpft sie und klagt, akzeptiert den Entzug des Arbeitslosengeldes nicht. Der Erwerbsstatus ist für Frau Grebe sowohl identifikatorisch als auch aus finanziellen Gründen bedeutsam. Auch die im Anschluss an den ersten Interakt folgende Äußerung bestätigt nochmals beide Bedeutungsgehalte der Erwerbstätigkeit. Thematisch stehen weiter die Auseinandersetzung mit dem Arbeitsamt, die für den Lebensunterhalt fehlenden Einkünfte und ihre Anstrengungen sowohl zur Arbeitsaufnahme als auch zur Anerkennung ihrer Arbeitsbereitschaft im Mittelpunkt. 4 BG 2 [...] ich wollts noch mal versuchen mit der Selbständichkeit (.) weil ich im Angestelltenverhältnis nich vorran kam
Eingebunden in die Erklärung wie es zur Aberkennung des Arbeitslosenstatus kam, ist direkt im Anschluss an die oben analysierte Stelle von Frau Grebes Selbständigkeit die Rede. Es gab für den Verdacht des Arbeitsamtes also einen Grund. Demnach hat sie bereits einmal versucht, sich selbständig zu machen (nochmal), offenbar ohne nachhaltigen Erfolg. Ungeachtet dieses Scheiterns versucht sie es ein zweites Mal. Worin sie sich selbständig zu machen versucht, ist nicht Gegenstand ihrer Ausführungen. Für Frau Grebe ist der Erwerbsstatus an sich bedeutsam. Dabei scheut sie nicht die Risiken der Selbständigkeit und den Aufwand, 94
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den ein Selbständiger eingehen muss im Vergleich zu einem Angestellten, sowohl an Zeit und Arbeitseinsatz als auch an Risiko- und Verantwortungsbereitschaft. Aber der Inhalt der Arbeit scheint nachgeordnet. Auch auf Nachfrage werden das vormalige Scheitern und der Gegenstand der Selbständigkeit nicht genannt. Der Aspekt, der in der Erwerbstätigkeit führend ist, wird im zweiten Halbsatz expliziter: Es geht Frau Grebe darum, voran zu kommen. Ohne die Erkenntnisse aus der Analyse der biografischen Daten kann diese Äußerung nur in der Bedeutungsdimension eines beruflichen Aufstiegs gesehen werden im unmittelbaren Sinne von ‚weiter gehen, voran schreiten‘ in Bezug auf ein Ziel. Berücksichtigt man an dieser Stelle konfrontativ die Kenntnisse aus den biografischen Daten, dass Frau Grebe zum Zeitpunkt des Interviews bereits vier Jahre arbeitslos ist seit ihrer Kündigung, gerät ein weiterer Bedeutungsgehalt in den Blick: Voran kommen kann dann ganz grundlegend die Möglichkeit des Einkommenserwerbs bedeuten. Ohne weitere finanzielle Mittel aus Vermögen, Sparguthaben etc. ist Frau Grebe angesichts der fehlenden Arbeitslosenunterstützung in einer existenziell prekären Situation. Doch davon ist an dieser Stelle nicht die Rede, ihre Einkommenssituation ist für Frau Grebe nicht das vorrangige Problem. Mit voran kommen schildert sie ihre Situation unter der Deutung eines erfolgreichen beruflichen Aufstiegs, der aber ihrer faktischen Situation keineswegs entspricht. Mehr als vor einem Aufstieg steht Frau Grebe real zunächst vor der Konsolidierung ihrer Einkommenssituation. Korrespondierend mit dieser Diskrepanz zwischen ihrer Selbstdeutung und ihrer Situation bleibt die im VoranKommen implizierte Statusorientierung und Karrierevorstellung auch in diesem Nachsatz ohne inhaltliche Konkretisierung. Der berufliche Erfolg bleibt eine ‚leere Form‘, eine Karriereorientierung an und für sich, deren Bestätigung sich im Aufstieg niederschlägt, nicht aber gemessen wird an neuen, konkreten Herausforderungen. Für diese Interpretation spricht auch der Umstand, dass die gesamte Eingangssequenz immer wieder den Erwerbsstatus und die Hindernisse seitens der Arbeitsamtsbürokratie fokussiert, aber Frau Grebe von ihrem Beruf und den Inhalten ihrer Ausbildung und Berufstätigkeit nicht spricht. Weder ihre Qualifikationen, ihr beruflicher Werdegang noch ihr Beruf sind bisher bekannt. Stattdessen ist ihr Ärger mit dem Arbeitsamt die ersten Interakte über weiterhin thematisch, was Ausdruck der Bedrängnis ist, in der sich Frau Grebe befindet. Die Interpretation einer ‚leeren Form‘ der leistungsethischen Bewährung findet dennoch eine Bestätigung. In der nächsten Sequenz ist ein Bewerbungstraining angesprochen, das Frau Grebe in Form einer Trainingsmaßnahme vom Arbeitsamt angesonnen wird. Das Vergabegespräch ist ihr folgendermaßen in Erinnerung: 95
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8 BG 4 […] und dann standen sie dann zu zweit vor mir und meinten ä kucken se mal sie komm hier mit dem Kind an und ä sie wolln doch gar nich Vollzeit arbeiten sie wolln doch nur Teilzeit arbeiten geben ses doch zu. Bin ich auf die Barrikaden gegangen. Ich sach hörn se mal was wolln se eigentlich (.) türlich will ich Vollzeit arbeiten.
Diese Situation begab sich Anfang 2001, ihr Sohn war zweieinhalb Jahre alt und nur an diesem Tag aus Krankheitsgründen nicht in der Betreuung seiner Tagesmutter. Frau Grebe legt hier wie an vielen weiteren Stellen im Interview großen Wert darauf zu beschreiben, wie gut sie ihren Sohn untergebracht hatte. Der Tenor ist durchgehend: Daran scheiterte ihr Arbeitseinsatz nicht. Welche Hindernisse sieht Frau Grebe stattdessen? In anderen Sequenzen macht sie allgemein die speziell deutschen Verhältnisse verantwortlich und meint damit – wie in dieser Sequenz beispielhaft deutlich wird – Unterstellungen und Zuschreibungen durch die Verantwortlichen, seien es wie hier Mitarbeiter des Arbeitsamtes oder Personalverantwortliche von Unternehmen, aber auch politische Entscheidungsträger. In dieser Sequenz, die stellvertretend für die anderen ausführlicher dargestellt wird, setzt Frau Grebe die Situation lebendig in Szene. Dem Zuhörer steht bildhaft vor Augen, mit welcher Vehemenz ihr die Deutungen entgegen gebracht wurden. Die Übermacht in Gestalt zweier Mitarbeiter des Arbeitsamtes verstärkt Frau Grebes Rechtfertigungshaltung. Die Eindringlichkeit, mit der sie aufgefordert wird, ehrlich zu sein (geben ses doch zu), trägt beinahe inquisitorischen Charakter. Wie schon in Bezug auf ihren strittigen Status als Arbeitslose ist Frau Grebe auch in dieser Situation mit der Beschuldigung konfrontiert, etwas anderes vorzugeben als es der Realität entspricht. Aus der Anwesenheit ihres Kindes beim Gespräch wird auf eine mangelnde Bereitschaft geschlossen, vollzeitlich erwerbstätig zu sein. Auffällig ist, dass der Darstellung von Frau Grebe zufolge ihr nicht vorgeworfen wird, sie stünde dem Arbeitsmarkt wegen ihres Kindes nicht in vollem Umfang zur Verfügung, sondern dass dies nicht ihre Absicht sei. Demnach wird ihr nicht die Möglichkeit zur Vollzeit-Erwerbstätigkeit abgesprochen, sondern ihre Bereitschaft (sie wolln doch gar nich). Auf den Vorwurf mangelnder Einsatzmöglichkeiten hätte Frau Grebe mit der Erläuterung der Betreuungsorganisation durch die Tagesmutter reagieren können, aber die Unterstellung der mangelnden Absicht auf der Ebene einer inneren Haltung ist schwer zu widerlegen. Es ist diese Invasion in ihre Überzeugungen, die Unterstellung trügerischer Vorgaben und der daraus resultierende Rechtfertigungsdruck, die sie in Wut versetzen (auf die Barrikaden gegangen). In ihrer Darstellung kontert Frau Grebe und verweist die Vertreter des Amtes in ihre Schranken: Nun sollen sie ihr zuhören und offen 96
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legen, wie sie zu ihrer Unterstellung kommen. Die Situationsschilderung beendet Frau Grebe mit der Bekräftigung ihrer Arbeitsbereitschaft. Wofür steht dieser Schlagabtausch? Deutlich wird in dieser Betonung ihrer Leistungsbereitschaft die Bedeutung, die eine erwerbsförmige Beschäftigung, aber auch die grundsätzliche Bereitschaft dazu für Frau Grebe haben. Sie hat alle Anforderungen bewältigt, die in ihren Handlungsmöglichkeiten liegen (wie die Organisation der Kinderbetreuung), um ungehindert dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Unterstellungen aber steht sie machtlos gegenüber. Daher rührt ihre Wut. Gegenstand der Auseinandersetzung ist die Frage, ob die Arbeitsbereitschaft einer Vollzeit- oder einer Teilzeit-Berufstätigkeit gilt. In welcher Weise ist diese Differenz bedeutsam? Die Vertreter des Arbeitsamtes stehen vor einem Legitimationsdruck, mangelnde Vermittlungszahlen rechtfertigen zu müssen. Eine zeitlich eingeschränkte Verfügbarkeit des Arbeitslosen entlastet die Vermittler. Die Unterstellung fehlender Bereitschaft zu einer Vollzeit-Erwerbstätigkeit kann aber Frau Grebe nicht gelten lassen, denn ihr selbst ist eine Vollzeit-Beschäftigung wichtig. Auch in dieser Sequenz steht der formale Aspekt der Beschäftigung – in voller Arbeitszeit – im Zentrum, während Inhalte und Aufgabenbereiche einer zukünftigen Beschäftigung keine Rolle spielen. In der Darstellung von Frau Grebe gilt dieser Vorrang des Beschäftigungsstatus sowohl für sie selbst als auch für die Amtsvertreter. Indem in deren zitierter Rede „nur Teilzeit“ eine abgewertete Form einer vollwertigen Beschäftigung (Vollzeit) bezeichnet, drückt Frau Grebe aus, dass sie selbst ein reduziertes Arbeitsvolumen abwertet. Die Norm einer dem ‚Normalarbeitsverhältnis‘ entsprechenden Beschäftigung ist ihre eigene. Jede Form, dies in Abrede zu stellen, widerspricht ihren innersten Überzeugungen und kann sie als Grund mangelnder Beschäftigungschancen nicht akzeptieren. Damit wird nochmals die Stärke deutlich, in der Frau Grebe identifikatorisch an eine Vollzeit-Beschäftigung gebunden ist. Wie die innere Verpflichtung zur Erwerbstätigkeit nun inhaltlich gefüllt ist, welcher berufliche Habitus Frau Grebe zu eigen ist, lässt sich zum einen an der Berufswahl konkretisieren, zum anderen an den ihr wichtigen Aspekten ihres beruflichen Handelns und an den Motiven für ihre Beschäftigungswechsel.
1.2.2 Bedeutung des Berufs und leistungsethischer Habitus Berufswahl Nachdem Frau Grebe ausgeführt hat, dass sie „nie ne gute Schülerin war“ und nach dem Abitur für sie feststand, dass sie „was Kaufmännisches“ machen wollte, beschreibt sie ihre Bewerbungsaktivitäten. 97
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
189 BG 95 [...] Ich hab mich dann beworben m nach ä dem Abitur bei ner Bank bei der Stadt (.) unter anderm eben halt bei [Name des Textileinzelhandelsunternehmens]. Da hab ich mich sofort wohl gefühlt da war son (I1: mmh) Gruppengespräch ich weiß das noch ganz genau und irgendwie fühlt ich mich direkt wohl.
Zunächst erscheint das Spektrum möglicher Ausbildungsbranchen weit gestreut und relativ nachgeordnet (eben halt). Doch 17 Jahre nach dem Bewerbungsgespräch ist Frau Grebe die Situation im Ausbildungsunternehmen immer noch präsent. Worauf sie Wert legt, ist nun nicht der Gegenstand der Ausbildung – was im Handel gelernt wird, in der Stadtverwaltung oder im Bereich von Finanzdienstleistungen –, sondern die emotionale Qualität. Das Wohlgefühl konkretisiert sie auf Nachfrage: 195 BG 98 Dass ich merkte dass das was ich da von mir gab (.) äm (.) genau im Grunde das gewesen iss was die auch hören wollten [...] Auch so so ph mental äh ich fühlte würklich mich so mit meinen Vorstellungen docht gut aufgehoben (I1: mmh) das isses.
Frau Grebe fokussiert eine Passung zwischen ihren Äußerungen und Vorstellungen einerseits und den Anforderungen des Ausbildungsunternehmens andererseits. Weniger als der hier anklingende Charakter einer Inszenierung artiger Anpassung – zu sagen, was der andere hören will –, ist das führende Kriterium interessant, nach dem Frau Grebe die Richtigkeit der Entscheidung bemisst. Eine inhaltliche Übereinstimmung ist gekoppelt an ein Gefühl von Geborgenheit (aufgehoben). Sie spricht hier weder von beruflichen Herausforderungen noch von inhaltlichen Interessen am Kaufmännischen, sondern betont ein Motiv, das vorrangig in diffusen Sozialbeziehungen, etwa der Familie, erfüllt werden kann. Irgendwo gut aufgehoben zu sein, bezieht sich auf die Akzeptanz und Anerkennung der ganzen Person und nicht in erster Linie auf ihre berufsbezogenen Eigenschaften und Fähigkeiten. Daraus lässt sich vorsichtig als These formulieren, dass sich hier eine Entgrenzung spezifischer und diffuser Sozialbeziehungen andeutet und den Berufshabitus durchmischt. Im Schutz der Berufsrolle sucht Frau Grebe Geborgenheit und Bestätigung als Person. Der Betrieb hat tendenziell Familiencharakter, eine Sachbindung in Form einer an Problemlösungen orientierten Leistungsethik ist nicht sichtbar und muss als schwach ausgebildet angenommen werden. Stattdessen zeigt eine weitere Stelle im Interview, wie stark die Bedeutung der Berufstätigkeit für ihre persönliche Entfaltung ist. Nachdem Frau Grebe sich als schüchternes Mädchen geschildert hat, das „am Rockzipfel“ der Mutter hing und „in der Schule nie den Mund aufbekommen hat“, kommt sie zu dem Schluss: 98
III. ZWEI ZENTRALFÄLLE
199 BG 100 [...] ich glaube die Wichtigkeit des Berufs war für mich aber ne Möglichkeit (.) ja mich zu behaupten [...] der Beruf machte mir Spaß (.) und ich ich hab gelernt ä (.) dass ich was kann dass ich wer bin
Frau Grebe zieht hier zwei Aussagen zusammen: Einmal will sie sagen, worin die Wichtigkeit des Berufs für sie bestand, zum anderen wofür der Beruf eine Möglichkeit war. So resultiert die Wichtigkeit des Berufs daraus, dass er eine Möglichkeit eröffnet. In dieser Zusammenziehung kommt die schon erwähnte Vermischung der beruflichen Belange mit persönlichen Zielen zum Ausdruck. Denn die Möglichkeit für etwas, die der Beruf bietet, bezieht sich hier auf etwas Außerberufliches, für das der Beruf auch nur eine Möglichkeit unter vielen darstellt (ne). Worum kann es sich handeln? Vor dem Hintergrund der Selbstcharakterisierung von Frau Grebe als schüchtern, anhänglich und ängstlich still ist die Frage der Selbstentfaltung aufgeworfen, eines persönlichen Wachstums in Richtung größerer Selbstsicherheit. Ein ängstlicher Mensch ist in seiner Entfaltung gehemmt, weil Schritte in neue Handlungsanforderungen angstbesetzt sind, denn Angst lässt nur Wohlvertrautes als Handlungsoptionen wahrnehmen. Die Entscheidungsfreiheit ist eingeschränkt. Da Frau Grebe hier von sich als Kind und Jugendliche spricht, erscheint der Wunsch nach Schutz nicht mehr altersgerecht und kann als Ausdruck einer eingeschränkt gelungenen frühen Bindung gesehen werden.6 Was aber in der frühen Entwicklung gefehlt hat und vermutlich im Laufe der Subjektbildung auch auf fortgesetzten Ambivalenzerfahrungen beruht, sucht sie nun auf dem Weg der beruflichen Bestätigung zu kompensieren. Ihr Wunsch ist es zu lernen, sich zu behaupten, also sich aus der Schutzbedürftigkeit zu lösen, sowie zu erkennen, dass sie etwas kann und wer ist. In dieser Reihenfolge, aus dem Können zum Sein zu kommen, drückt sich ihr Wunsch aus, ihre eigene Individualität zu erfahren und ihren Selbstwert entlang ihrer Leistungsfähigkeit zu spüren. Eine so nachwachsende Ich-Stärke bleibt aber gekoppelt an Erfolg und damit labil, der Beruf wird somit vorrangig zum Instrument der Selbstversicherung. Der berufliche Gegenstand, der im Sinne einer Leistungsethik die Hingabe an die Sache erfordert, bleibt hinter dem Antrieb zurück, als ganze Person anerkannt zu sein. Bezüglich der beruflichen Motivation bestätigt sich die These einer Vermischung rollenförmiger mit diffusen, die ganze Person betreffenden Antrieben. 6
Neuen Erfahrungen wird insbesondere dann angstvoll begegnet, wenn die frühkindliche Symbiose nicht als schützend und damit die Welt als prinzipiell wohl gesonnen erfahren wurde. Eine erschütterte Bindungserfahrung muss als gewichtiger Grund für mangelndes Vertrauen in die Welt und für eine mangelnde Offenheit für Neues angesehen werden (vgl. Kapitel II.3.1). 99
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Berufliche Gegenstände Zur Falsifikation dieser These sind auf der Suche nach einer Sachbindung Äußerungen geeignet, in denen Frau Grebe über ihre Tätigkeit spricht. Das geschieht bezogen auf ihre Beschäftigung in dem Großhandelsunternehmen, in dem sie zwei Jahre als Einkäuferin für die Betreuung von 13 Filialen im Bereich Damenoberbekleidung tätig war. Auf die Interviewerfrage, was denn besonders Spaß gemacht hätte an der Tätigkeit, führt Frau Grebe aus: 34 BG 17 [...] is eigentlich dass ich äm nich nur am Schreibtisch sitze ä sondern auch eben halt vor Orcht bin (I1:mmh) das macht sehr viel Spaß den Kontakt zu den Leuten, äm n so sich mit mit ä schönen Sachen zu umgeben (.) son bisschen Marktbeobachtung Trendbeobachtung das is is doch das was was mir immer Spaß gemacht hat (.) äm auch der Umgang dann auch mit Zahlen weil ich eigentlich auch n Mensch bin der doch etwas auch analytisch veranlagt iss
So wie Frau Grebe die Aspekte einführt (is eigentlich), ist eine Bestimmung des Wesentlichen zu erwarten, das Frau Grebe an der Arbeit sieht, allerdings mit einem einschränkenden Aber. Indem sie mit einem Konjunktionalsatz (dass ich) fortfährt, betrachtet sie die Charakteristik ihres Berufs auf sich bezogen. Der Beruf ist nicht an sich, sondern in der Bedeutung für sie etwas Bestimmtes. Die Beschreibung beginnt mit einer negativen Abgrenzung: Eine reine Schreibtischtätigkeit würde ihr nicht gefallen. Dies impliziert eine Abneigung gegen einförmiges, monologisches Arbeiten, gegen verwaltende oder auch gegen räumlich zu stark begrenzte Tätigkeiten. Nun bestimmt die Lokalität der Arbeit noch nicht ihren Gegenstand. Am Schreibtisch lassen sich verschiedene verantwortungsvolle, kreative Tätigkeiten vorstellen. In der weiteren Beschreibung grenzt Frau Grebe die Schreibtischtätigkeit ab gegen eine Tätigkeit, die an wechselnden Orten stattfindet: Schreibtisch und vor Ort-Sein. Im Zentrum steht die Kombination verwaltender, analysierender oder planender Aspekte mit einem direkten Bezug zum Ort des Geschehens. Es geht, wie sich dann zeigt, jedoch nicht um das Geschehen, das vor Ort stattfindet, sondern um den Kontakt zu Mitarbeitern an sich ohne expliziten Bezug zum Geschehens. Mit diesem Motiv könnte sich Frau Grebe ebenso gut als Kriminalkommissarin zum Tatort begeben oder als Architektin zur Baustelle. Eine Sachbindung ist bisher nicht hervorgetreten. Die unterstellten Mitarbeiter werden hier lapidar als Leute bezeichnet. So scheint es beinahe um beliebigen Kontakt zu gehen, Hauptsache unter Leuten sein. Dies aber könnte Frau Grebe auch woanders erleben, insbesondere in diffusen Sozialbeziehungen, etwa unter Freunden.
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Auch die weiteren Aspekte zeigen wenig berufsbezogene Besonderheiten bzw. erscheinen als wenig ernst genommene Aufgaben: sich mit schönen Sachen zu umgeben, könnte auch der Beschreibung einer Vorliebe für hübsche Dekorationen des Eigenheims entstammen. Marktund Trendbeobachtung sowie der Umgang mit Zahlen sind zwar berufsbezogene Komponenten, wirken aber in der Rahmung son bisschen und doch etwas auch eher wie ein spielerisches Element, denn als Beschreibung ihrer Verantwortung als Führungskraft. Welche Form nimmt ihre berufliche Bewährung an? In der mehrfachen Bezugnahme auf Spaß als Kriterium beruflicher Zufriedenheit verschiebt sie die Erfüllung, die der Beruf bringt, auf das unterhaltende Moment und setzt es sowohl gegen eine Pflichtethik ab als auch gegen eine nüchterne, rationale Sachbindung. Hier scheint eine Spezifik des Generationszusammenhangs von Bedeutung zu sein. Bereits die 68er Generation hatte sich gegen die Pflichterfüllung als tragendem Antrieb zu beruflicher Anstrengung abgegrenzt. Eine Pflichtethik war nicht nur als vormodern abgewertet, sondern auch in Gestalt ihrer menschenverachtenden Auswüchse im Naziregime durch die Elterngeneration als positiver Bezugspunkt vernichtet. Nach der Herausbildung einer Verantwortungsethik in ihrer ideologischen Überhöhung, wie sie in der fundamentalistischen Variante der 68er Generation anzutreffen ist, und der am Gehalt beruflicher Aufgaben in jener moralischen Überhöhung zweifelnden „Sinnkrisengeneration“7 gehört nun Frau Grebe einer Generation an, die eine neue Bestimmung des sinnstiftenden Charakters der Arbeit finden muss. Die Chiffre ‚Spaß an der Arbeit‘ ist für die ab Mitte der 60er Jahre Geborenen eine Lösung dieser Herausforderung. Es handelt sich in dieser Weise um eine generationenspezifische Ausdrucksform einer Leistungsethik, die die pflichtethischen Momente dementiert, ohne in die ideologische Überhöhung zu geraten, aber dennoch einen positiven Bezugspunkt des Berufshandelns auszumachen (Neuendorff u.a. 1998: 251). Ein solcher Bezugspunkt zeigt sich hier in der Verbindung von Leistung mit Spaß. Insofern ist die Charakterisierung Spaß nicht zu verstehen als Amüsement, sondern verbindet sich mit einer hohen Leistungsbereitschaft. So treffen auch Bezeichnungen wie „Spaßgeneration“ (Löffler 1996) oder „Spaßgesellschaft“8 nicht zu, wie sie kri7
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Der Begriff geht auf eine von Oevermann entwickelte Generationenskizze zurück, die in Loer (2007: 96-101) in Form von Generationengestalten ausgeführt ist. So verwendet in den deutschen Feuilletons seit Ende der 1990er Jahre, nach den Terroranschlägen am 11.9.2001 in den USA auch entgegengesetzt in der Formulierung „Das Ende der Spaßgesellschaft“ von SchollLatour oder „Schluß mit lustig!“ von Hahne (2004) etwa. 101
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tisch zur Charakterisierung einer Haltung verwendet wird, die einen ausschließlich egozentrischen Lustgewinn suggeriert. Exemplarisch kann an der Deutungsstruktur Frau Grebes gezeigt werden, dass sich Spaß hier auf verschiedene Tätigkeiten bezieht, die eine Herausforderung darstellen, nicht aber Unterhaltung meinen und dies, obwohl bei Frau Grebe keine ausgeprägte Sachbindung vorliegt. In der journalistischen Behandlung des Themas, insbesondere in den kritischen Zeitdiagnosen, werden unter der Formulierung „Spaßgesellschaft“ auch Maßlosigkeit, Gleichgültigkeit und die fehlende Bereitschaft zur Anstrengung subsumiert, das Streben nach Selbstverwirklichung wird als pure Egozentrik missverstanden (Hahne 2004). In dieser verkürzten Sicht erscheint größere Handlungsfreiheit als Einladung zu Beliebigkeit, der Verlust gemeinsamer Werte wird beklagt und – als führe größere Individuierung zwangsläufig zu einer „Ego-Ethik“ (ebd.: 34) ohne Gemeinwohlbindung – nach „neuen Werten“ gerufen. Der Fall Grebe wie auch die weiteren hier präsentierten Rekonstruktionen zeigen dagegen, wie groß die Herausforderung der Individuierung, die Suche nach Lebenssinn für eine weitgehend von traditionalen Vorgaben entkleidete Lebensführung, und der Selbstverwirklichung tatsächlich ist und wie ernsthaft diese Herausforderung angenommen wird. Worin genau der Spaß besteht, ist bei Frau Grebe nachgeordnet, es fallen alle Facetten ihres Tätigkeitsbereichs unter diese Bezeichnung. Führend scheint hier zu sein, dass ein Wohlbefinden innerhalb der beruflichen Tätigkeiten besteht. Darüber hinaus misst sie ihren Berufserfolg in erreichten Karriereschritten, also entlang formaler Statuskategorien. Das ließ die Analyse der biografischen Daten vermuten und bestätigt eine hier aus Platzgründen nicht präsentierte Analyse ihrer Beschreibungen der Aufstiegsmöglichkeiten, die die Ausbildung zur Handelsassistentin ihr eröffnet. Die Zugehörigkeit zu den Erwerbstätigen ist dazu allerdings eine notwendige Bedingung. Ihr momentaner Status als Arbeitslose kann vor dem Hintergrund dieser Antriebsstruktur für sie als Belastung nicht nur für ihre berufliche, sondern auch für ihre gesamte personale Identität gedeutet werden. Die Belastung beruht habituell auf der Vermischung diffuser und rollenförmiger Sozialbeziehungen und sie beruht sozial auf der Relation zwischen ihrem Bestreben, vollzeitlich berufstätig zu sein, und dessen fehlende Erfüllung.
Motivation für Beschäftigungswechsel Die Entscheidungsstruktur Frau Grebes, die sich in ihren Beschäftigungswechseln und beim Eintritt in die Sprachenausbildung und in das Fachhochschulstudium zeigt, kann Aufschluss geben über ihren fallspezifischen Antrieb, um ihr derzeitiges Dilemma zu beleuchten und die 102
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Frage zu beantworten, woran sie gescheitert ist. Insbesondere die in der Analyse der biografischen Daten formulierte These einer Orientierungskrise ist dabei zu prüfen. Unmittelbar im Anschluss an die oben zitierte Sequenz über ihre Tätigkeit in dem Großhandelsunternehmen fährt sie fort: 34 BG 17 mmh und äm ich hatte aber auch Differenzen mit der Chefin das is n Familienunternehmen gewesen und ä irgendwann hab ich dann gesagt also das isses nich äm (.) der Job macht zwar viel Spaß, und ä ich hab aber das Gefühl äm (.) ja da ä ich müsste auch für mich persönlich auch noch mal was machen (I1: mmh) ich hab dann n Studium angefangen eigentlich recht spät mit achtundzwanzich dann (.) BWL Studium
In konsequenter Fortführung der oben begonnenen Formulierung is eigentlich dass ich, wird hier das vorbereitete Aber angeschlossen. Dem Spaß an der Arbeit mit seinen oben geschilderten Quellen stehen Auseinandersetzungen mit der Chefin gegenüber. In Anbetracht der hohen Bedeutung, die das Gefühl, gut aufgehoben zu sein, für ihren Berufserfolg hat, werden solche Auseinandersetzungen für Frau Grebe zum Anlass, das Unternehmen zu verlassen. Diese Haltung bestätigt die Vermutung, dass sie Anerkennung als ganze Person sucht. Ein Familienunternehmen ist zunächst besonders geeignet, um ihr die gesuchte Geborgenheit zu geben allerdings – und das scheint hier der Fall gewesen zu sein – zu Lasten der Rollendistanz. In ihrer Entscheidung wiegt sie den Spaß an der Tätigkeit gegen ein anderes Gefühl auf. Es ist nicht direkt zu benennen (äm (.) ja da ä ich) und bleibt diffus: ich müsste auch für mich persönlich auch noch mal was machen. Zu ergänzen wäre etwa: damit ich zufriedener wäre, müsste ich was für mich machen. Ihre Unzufriedenheit resultiert daraus, dass sie bisher nur als Rollenträgerin agiert hat, und sich jetzt als ganze Person wohl zu fühlen wünscht. Ein Studium, das ihr als Lösung vorschwebt, ermöglicht Bildung im umfassenden Sinne der Subjektbildung und insofern trägt es das Moment, etwas für sich zu tun. Doch findet diese Bildung in der Bindung an eine Sache, nämlich des Studienfaches statt, mit der die Einsozialisierung in eine Berufsrolle verbunden ist. Man stellt sich in den Dienst einer Profession. Ein Studium zum eigentlichen Zweck des Wohlbefindens wäre dagegen egozentrisch, bloßes Amüsement. Diese Stelle markiert einen potenziellen Wendepunkt. Hier könnte die Verwechslung deutlich werden, in der Sphäre des Berufs Bestätigung als ganze Person zu suchen. Dass sie auch noch mal etwas für sich persönlich machen will, impliziert, dass sie dies bereits früher schon einmal unternommen hat. Vor dem Hintergrund der Analyse ihres Leistungsantriebs wundert nicht, dass sie ein weiteres Mal den Weg über berufliche Qualifizierung ein103
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schlägt, um sich zu beweisen, dass sie was kann, bzw. um zu erfahren, dass sie wer ist (s.o.). Persönliche Entfaltung kann nun mit Bildungsphasen einhergehen, vor allem in ihrer Stellung als Moratorium und durch die Entlastung von Entscheidungen mit praktischen Konsequenzen. Dass ein solches Moratorium nach einer Phase erfolgreicher Berufstätigkeit etwas Nachholendes und Korrigierendes hat, verspürt auch Frau Grebe, was in ihrer Einschätzung des relativ späten Studienbeginns mit 28 Jahren zum Ausdruck kommt. Unklar bleibt in ihrer Schilderung aber der Grund ihrer Unzufriedenheit; das was ihr zu fehlen scheint, ist nicht benennbar. Insofern kann die These präzisiert werden: die Orientierungskrise dauert bis zum Zeitpunkt des Interviews an, die nachholende Bildung eines größeren Selbstbewusstseins ist bisher nicht gelungen. Weder das Studium und die Erfahrungen während dieses Moratoriums, noch die daran anschließende weitere Berufstätigkeit und die spätere Mutterschaft haben Frau Grebe zu einer Einsicht dessen gebracht, wer sie ist und was sie will. Auf dieser Ebene scheint das eigentliche Scheitern von Frau Grebe zu liegen: die Entwicklung einer starken Entscheidungsmitte, aus der die Entfaltung eines individuierten Lebensentwurfs hervorgehen könnte. Der potenzielle Wendepunkt ist kein realer geworden. Welche Handlungs- und Entscheidungsmuster stehen ihr zur Bewältigung der Orientierungskrise zur Verfügung? Dazu sind zwei Entscheidungspunkte aufschlussreich: die Begründung ihrer Studienmotivation sowie die letzte Kündigung nach der Geburt ihres Sohnes. Zur Erklärung ihrer Studienschwerpunkte auf die Textilbranche und Marketing begründet Frau Grebe: 180 BG 91 [...] ich bin eigentlich n Mensch der äm (.) sich schon neue Herausforderungen sucht (I1: mmh) aber gerne auf dem aufbaut was er vorher eben halt ä sich an Erfahrungen angeeignet hat.
Diese eigentlich-Konstruktion liefert eine Gegenüberstellung ihres im Grunde genommen offenen Wesens, sich auch mutig neue Aufgaben zu suchen, und einer Einschränkung (aber), die aufgrund des entdeckten Strukturmusters eines immer noch gehemmten Selbstvertrauens konsistent ist. Auch widerlegt diese Sequenz die bisher entwickelte Fallstrukturhypothese einer Scheu vor der Offenheit neuer Anforderungen nicht, denn sie spricht im ersten Teilsatz von sich in der dritten Person und subsumiert sich unter einen Typus. Der Antrieb, sich neuen Herausforderungen zu stellen, erscheint damit eher als Klassifikation denn als treffende Selbstcharakterisierung. Die neue Herausforderung, von der hier die Rede ist, hat Frau Grebe in der Sequenz vor der zitierten auf ihren Entschluss zu studieren bezogen, um ihren „Horizont zu erweitern“ und 104
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nicht „betriebsblind“ (178 BG 90) zu werden nach den ersten Berufsjahren. Hier äußert sich das Motiv, für sich persönlich etwas zu tun als ausschließlich auf ihre berufliche Qualifizierung bezogen. Auch der neue Horizont als Zielpunkt ihres Strebens muss als Klassifikation gedeutet werden, da diese Bezeichnung für das berufsbezogene Studium in ihren angestammten Fachgebieten überzogen erscheint. Die oben als potenzieller Wendepunkt angedeutete Unzufriedenheit als Chance, einen Irrtum zu erkennen, scheint nicht genutzt zu werden. Denn Frau Grebe bleibt ihrer Struktur verbunden, sich über Leistungserfolg Bestätigung als Person zu suchen. Das ihre Suche nach neuen Herausforderungen einschränkende Aber bringt eine in ihrer Fallstruktur vernünftige Routine auf den Punkt: Sie sucht Neues auf der Basis von Erfahrungen entlang des Bekannten. Die Prognose für die Integration der Mutterschaft in ihre gelebte Praxis steht damit noch ungünstiger als es vor dem Hintergrund ihrer Antriebsstruktur, über Berufserfolg Bestätigung zu erlangen, ohnehin zu erwarten ist. Frau Grebe verfügt vermutlich über kein Bewältigungsmuster, eine wirklich neue Erfahrung wie die Mutterschaft zu integrieren. Diese Vermutung bestätigt sich in der Schilderung der letzten Kündigung, als Frau Grebes Sohn neun Monate alt ist. Sie pendelt täglich zwischen ihrem Wohnort und ihrem Arbeitsort 140 Kilometer hin und wieder zurück, die tägliche Fahrtzeit beläuft sich auf drei Stunden. Zusätzlich ist sie deutschlandweit im Außendienst tätig: 48 BG 24 [...] ich hab es genau n halbes Jahr durchgehalten (I1: m) dann hab ich gesagt ich kann nich mehr. (I1: mmh) Ich kann nich mehr. [...] ich hatte es organisiert, (I1: mmh) (.) es hat ä ä n ne Zeitlang n paar Monate eben halt funktioniert, bis ich dann plötzlich eben halt merkte nach m halben Jahr es is nich ne Frage der Organisation, (.) es kostet dich wahn-sinnich viel Kraft.
Frau Grebe nimmt wie selbstverständlich ihre Routine eines hohen Arbeitseinsatzes wieder auf, als ihr Sohn dreieinhalb Monate alt ist. Für seine Betreuung hat sie gesorgt, ihre Mutter kümmert sich tagsüber um ihn. Es geht Frau Grebe in erster Linie um ein Durchhalten eines vertrauten Handlungsmusters, von dem sie annimmt, bei entsprechender Organisation sei dies ebenso machbar wie früher auch. Ihr Kind wird in der Organisation der Betreuungsaufgaben zu einem äußerlichen Faktor für ihre Arbeitsplanung; als eigene Lebenspraxis kommt ihr Sohn nicht zur Geltung. Eine persönliche Bindung ist unter ihrem Maßstab des Funktionierens schwer vorzustellen, ebenso wie unter der zeitlichen Abwesenheit der Mutter von ca. zwölf Stunden täglich. Ausschlaggebend für die Beendigung dieser aufreibenden Lebenssituation ist daher 105
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auch nicht eine Unzufriedenheit mit der Gestaltung und Entwicklung ihrer Beziehung zu ihrem Sohn, sondern ganz basal ein energetischer Zusammenbruch, der Frau Grebe vor Augen führte und regelrecht am eigenen Leib spüren ließ, dass dieses Muster nicht funktioniert. Diese markante Handlungsstruktur bestätigt zwei Thesen, die in den ersten Kapiteln entwickelt wurden: Zum einen wird deutlich, dass Frau Grebe zur Begründung ihrer Entscheidung der Berufsunterbrechung nicht auf traditionale Deutungsmuster zurückgreifen kann. Sie sind delegitimiert und bedürfen eines individuierten Zugriffs. Dieser aber ist ihr zum anderen nicht möglich, denn Individuierung stellt sich hier als eine Herausforderung dar, die umso gravierendere Folgen hat, je weniger Selbstvertrauen eine Praxis ausbilden konnte. Eine schwache Entscheidungsmitte, die auf einem wenig ausgebildeten Selbstvertrauen beruht, wie es bei Frau Grebe der Fall zu sein scheint, erschwert die Individuierung. Auf die Mutterschaft als Bewährungsfeld bezogen lautet die These, dass es Frau Grebe vor dem Hintergrund der bisher freigelegten Antriebsstruktur schwer fällt, die Bestätigungssuche aus dem Beruf zu verlagern in die Sphäre der diffusen Sozialbeziehungen, die ihr mit der Geburt ihres Sohnes als neue Chance gegeben ist. Um die Elternschaft als Bewährungsfeld positiv besetzen, erleben und gestalten zu können, bedarf es einer gewissen Unabhängigkeit von der Bestätigung als Rollenträger und eines Selbstbewusstseins, als ganze Person anerkannt zu sein unabhängig von beruflicher Leistung.
1.2.3 Bedeutung der Mutterschaft und familiale Bewährung Es verwundert nicht, dass Frau Grebe zunächst erklärt, sie hätte bis zu ihrem 30. Lebensjahr keinen Kinderwunsch verspürt, allzu deutlich galt der Berufssphäre ihr Engagement und war sie darin als Person mit ihrer Suche nach Anerkennung verankert. Der Kinderwunsch kommt auf, als sie bereits einige Jahre eine Liebesbeziehung zu dem Vater des Kindes hatte und sie 30 Jahre alt wird. Zu dem Zeitpunkt als sie schwanger wird, ist die Beziehung zu ihrem Freund schon labil, Phasen der Annäherung lösen sich mit Phasen ohne Kontakt ab. In dieser Zeit verhütet sie unregelmäßig und bezeichnet die Empfängnis als „Schicksal“, sie deutet es so: „Es sollte sein“ (215 BG 108). In der Bezeichnung eines Ereignisses als Schicksal wird die Verantwortung des eigenen Handelns an fremde Mächte delegiert. Dies stellt objektiv eine Entlastung aus der Begründungsverpflichtung für die eigene Entscheidung dar. Inwiefern ist die Schwangerschaft legitimierungsbedürftig? Entfallen traditionale Vorgaben zur Lebensgestaltung – also hier: der Mutterschaft als selbstverständlichem Bestandteil einer weiblichen Biografie – muss das eige106
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ne Handeln vor sich selbst gerechtfertigt werden. In diese Begründung gehen kulturell wirksame Deutungsmuster in dem Sinne ein, dass sie einen für das Kollektiv akzeptablen Handlungsspielraum eröffnen. In der Rückbindung ihrer Entscheidung für eine Schwangerschaft an das Schicksal tritt die Unmöglichkeit hervor, vernünftige Gründe anzugeben. Aber auch emotionale Beweggründe, die insbesondere in die Entscheidung für eigene Kinder eingehen, sind demnach nicht benennbar. Der Kinderwunsch ist so diffus und mächtig wie die zu seiner Erfüllung in Anschlag gebrachten unsichtbaren Wirkungskräfte. Diese Bedeutungszuschreibung weist auch die Gegenkräfte als mächtig aus: In der eigenen Fallstruktur ebenso wie in der Ausdeutung ihres Lebensentwurfs steht dem Kinderwunsch der – bis zur Schwangerschaft in ihrem Leben herrschende – Vorrang der beruflichen Bewährung entgegen. Wie an der oben analysierten Sequenz deutlich wurde, war Frau Grebe zunächst davon ausgegangen, es sei nur eine Frage der Organisation, beide Kräfte und Lebensbereiche zu vereinen. Zu ihren Erfahrungen als Mutter erklärt Frau Grebe: 223 BG 112 [...] man erkennt was, was wichtich im Leben is. (.) Mhh- es is son Kind is äm (.) is ne Möglichkeit glaub ich auch auch zu sich selbst zu finden zu dem zu finden was einem selbst wichtich is.
In eine allgemeingültige Regel gekleidet (man) wird das eigene Kind zum Auslöser von Selbsterkenntnis. Der Gegenstand der Erkenntnis ist die Frage nach dem Sinn des Lebens. Damit wird das Kind zum Sinngeber, aber nicht in der Bedeutung, in der Existenz des Kindes selber den Sinn zu sehen, in der Fürsorge und Liebe, die kindliche Entfaltung zu unterstützen, die Erziehungsaufgaben wahrzunehmen, sondern als Stifter von Offenbarung für Frau Grebe selbst. In der Dopplung was, was wichtich is kommt zum Ausdruck, dass es für sie zuvor nicht möglich war, überhaupt etwas Wichtiges zu entdecken. Im Unterschied dazu hätte die Formulierung ‚man erkennt, was wichtig ist‘ ohne die Dopplung (was, was) eine Hilfe zur Prioritätensetzung zum Ausdruck gebracht. Es hätte in der Variante einige Inhalte im Leben gegeben, deren Bedeutung man nur nicht hätte abstufen können. Für Frau Grebe gab es zuvor nichts Wichtiges, sie war diesbezüglich blind und ist durch die Existenz ihres Kindes sehend geworden. Der Grund dafür, im Leben nur Unwichtiges zu sehen, bleibt verborgen. Nun wird ähnlich wie der Beruf (s.o.) auch das Kind zu ner Möglichkeit für eine Erfahrung. Schon für den Beruf galt , dass er zum Instrument für eine sachungebundene, auf die persönliche Entfaltung bezogene Erfahrung wird. Diese Redeweise ist für eine konkrete Lebenspraxis objektiv noch weniger angemessen, denn damit instrumentalisiert sie ein Leben für ihre Selbstfindung und verdinglicht 107
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das Kind, es wird zu einem Anlassgeber unter anderen. In Verbindung mit der abfälligen Formulierung son Kind, wird es zusätzlich zum Objekt, als Muster anstatt als eigene Person behandelt, die man beim Namen nennt. Dies wird im Kontrast deutlich gegenüber einer ebenso möglichen Formulierung z.B. ‚Durch Joshua habe ich erfahren, was mir wichtig ist‘. Gegenstand der Erkenntnis, zu der das Kind verhilft, ist die Selbstfindung. Frau Grebe koppelt das Selbst an die Entdeckung von Wichtigem im Leben. Das entdeckte Selbst ist in der Lage, für sich Wichtiges zu erkennen. Sie spricht hier die Entscheidungsmitte des selbstbewussten Subjekts an, das oben nur sichtbar wurde, indem es sich über den Berufserfolg bestätigte. Hier liegt ein Keim für eine Transformation der Lebenspraxis, Frau Grebes Außenorientierung bewegt sich in die Richtung der eigenen Mitte. Allerdings kann von einer vollzogenen Transformation nicht gesprochen werden, denn auch diese Wendung beruht auf der Indienstnahme eines Instruments: anstelle des Berufs wird nun das Kind zum Gehilfen der Selbstbestätigung. Dieses Muster nimmt bei Frau Grebe die Gestalt einer Umkehrung der elterlichen Fürsorge an, wie die nächsten Sätze in obiger Sequenz zeigen: 223 BG 112 [...] n kleiner Mensch der der einen anlächelt wo man genau merkt der liebt einen (.) auch so wie du bist und (.) der hat es wirklich auch verdient (.) dass dass ä du jetz auch für ihn da bist.
Frau Grebe leitet ihre Bereitschaft, Fürsorge zu übernehmen, von der Vorleistung des Kindes ab, sie selbst als liebenswert zu spiegeln. Was sie im Beruf als Bestätigung und Anerkennung gesucht hat, findet sie im Lächeln ihres Kindes nun gleichermaßen. Damit hat sich ihre Antriebsstruktur nicht wesentlich geändert. So wie der Beruf zuvor funktionalisiert wurde, widerfährt es nun ihrem Sohn: So wenig wie im Beruf ein innerer Antrieb, eine Identifizierung mit einer Aufgabe vorherrschte, so wenig bedingungslos ist ihre Fürsorge für ihr Kind. Diffuse Sozialbeziehungen, wie sie die Familie prototypisch darstellt, sind zwar für die Erfahrung persönlicher Anerkennung und Liebe der strukturadäquate Ort, doch ist Frau Grebes Handeln von einer egozentrischen Haltung geprägt, in der bereits der Antrieb des Handelns auf die Anerkennung gerichtet ist und diese sich nicht als Ergebnis des Handelns einstellt. Die existenzielle Abhängigkeit des Kindes von seiner Mutter, die die Grundlage der asymmetrischen Beziehung bildet, sichert Frau Grebe nun auf ebenso dienliche Weise die ersehnte Anerkennung. Die Integration der Mutterschaft vollzieht sich also entlang ihres Habitus, der auch den Deutungs- und Handlungsstrukturen unterliegt wie sie für Frau Grebes beruflichen Werdegang analysiert wurden. Wie
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ist vor diesem Hintergrund ihre Selbstthematisierung als Gescheiterte zu deuten?
1.2.4 Gescheiterte Krisenlösung und Transformation An einigen Stellen im Interview äußert sich Frau Grebe klagend über die mangelnden "Chancen als Frau in Deutschland", eine ihrer Qualifikation angemessene Beschäftigung zu finden. Anhand einer solchen Sequenz kann die Struktur ihres fallspezifischen Scheiterns verdeutlicht werden. Auf die Frage danach, ob Frau Grebe bei der Geburt eines zweiten Kindes anders handeln würde, resümiert sie in der folgenden Sequenz ihre Erfahrungen. 131 BG 66 Es lohnt sich nich es lohnt sich nich sie machen sich nur selbst kaputt (I1: mmh) und es es lohnt sich nich an dem Beruf zu hängen und arbeiten zu wollen Vollzeit, es lohnt sich einfach nich. (.) Die Gesellschaft erkennt es auch gar nich an. (.) Sie gelten als Rabenmutta, äm- sie haben keine Chance sie ham definitiv keine Chance.
In mehrfacher Wiederholung betont sie das Ergebnis eines Abwägens. Sie zieht Bilanz und ist dabei emotional stark bewegt; dieses Thema trifft in ihr Innerstes. Wenn sich etwas nicht lohnt, stimmen Aufwand und Ertrag nicht überein. Im gleichen Tenor, in dem sie oben den Zusammenbruch als Endpunkt für ihre Routine des Durchhaltens schilderte, erklärt sie auch an dieser Stelle, dass die für eine Durchsetzung beruflicher Ziele nötige Anstrengung nicht nur nicht zu bewältigen ist, sondern auch, dass sie sich im Verhältnis zum erreichbaren Erfolg nicht lohnt. Entweder man leidet (macht sich kaputt) oder man erhält keine Stelle. Interessant ist der Maßstab, mit dem sie das Lohnen misst: Auf der Negativseite des Vergleichs ‚Berufserfolg versus Aufwand‘ verbucht sie neben der Überlastung noch das Kriterium fehlender Anerkennung. Gerade die Anerkennung ist aber Frau Grebes eigentlicher Lohn, wie die bisher offen gelegte Fallstruktur gezeigt hat. Eine normative Abwertung der Vollzeit berufstätigen Mutter (Rabenmutter) führt in der Deutung Frau Grebes zu fehlenden realen Chancen, eine Stelle zu finden aufgrund eines angenommenen Vorbehalts. Hier werden zwei Aspekte zusammengezogen: eine Chance auf Beschäftigung und eine Chance auf Anerkennung, die für Frau Grebe untrennbar miteinander verbunden sind. Ihr Dilemma besteht darin, dass ihr als Vollzeit beschäftigter Mutter die ersehnte Anerkennung im Beruf versagt wird, und dass ihr die Anerkennung, die ihrer Deutung nach nicht (Vollzeit) berufstätige Mütter erfahren, keine vergleichbare Befriedigung verschafft. So scheitert sie in der eigenen Wertschätzung derjenigen Anerkennung als Quelle 109
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
der Selbstbestätigung, die aus diffusen Sozialbeziehungen herrührt. Wozu sie definitiv keine Chance hat, ist, mit ihrer bisherigen Antriebsstruktur Anerkennung als Person zu erfahren. Daher kann auch die oben formulierte These als bestätigt gelten, nach der ihre Wut über die Unterstellung, sie habe nicht den Wunsch Vollzeit zu arbeiten, und der Ärger mit dem Arbeitsamt weniger ihren finanziellen Sorgen geschuldet war als der fehlenden Anerkennung ihrer Fähigkeiten und der fehlenden Möglichkeit, sich im Beruf zu bestätigen. Damit droht sie, sich als Person zu verlieren. Die Mutterschaft aber führt sie nun in einen unauflöslichen Widerspruch: Selbst wenn es ihr gelänge, eine Vollzeit-Stelle zu finden, bliebe ihr die Anerkennung im Beruf versagt, weil dies in Deutschland für eine Mutter als unakzeptabel gelte. Daraus hat sie Konsequenzen gezogen. 137 BG 69 Ich setze mittlerweile auch meine Prioritäten anders. (I1: mmh) (.) Vorher wars (.) wohl vorher habe ich versucht fünfzich Kind (.) fünfzich Prozent Job. (I1: mmh) (.) Diese Einstellung is meines Erachtens (.) so für eine Frau nicht möglich in Deutschland. (I1: m) Auf Grund meiner Erfahrung muss ich definitiv sagen (.) ist es nicht möglich. (.) Mittlerweile (.) ist der Prozentsatz dem jetz mal der jetz meinem Sohn zusteht wesentlich höher geworden (I1: m) wesentlich.
Unter den ihr wichtigen Lebensinhalten (an anderer Stelle sagt sie: „Ich liebe meinen Job genau so wie das Kind“; 111 BG 56) hat Frau Grebe gezwungenermaßen eine neue Gewichtung vorgenommen. Dabei ist sie sich selber nicht ganz sicher, wie die vorherige Verteilung aussah (wars (.) wohl [...] habe ich versucht), meint aber Beruf und Kind als gleichwertig behandelt zu haben (fünfzig, fünfzig). Ein in Prozentpunkten vorgenommener Vergleich braucht eine Maßeinheit, was für die Mutterschaft unmöglich ist, wenn man sie als diffuse Sozialbeziehung ernst nimmt. Teilzeitmutter kann man nicht sein. Gemeint ist mit dieser Bezeichnung meist die für die Fürsorge und Betreuung des Kindes verbleibende Zeit. Auch Zeiteinheiten geben ein ungeeignetes Maß für die Intensität und das Gelingen einer emotionalen Bindung ab. Legt man Zeiteinheiten zugrunde, fragt sich aber, ob die 50-Prozent-Darstellung nicht eine Schutzbehauptung ist, denn Frau Grebe hat ihren Sohn aufgrund der langen Fahrzeiten spätabends bis frühmorgens ‚gesehen‘, also v.a. während der Schlafenszeit. Die Unmöglichkeit, unter diesen Umständen der Hinwendung zu ihrem Kind sowie den beruflichen Aufgaben gleichermaßen gerecht zu werden, schreibt Frau Grebe aber auch an dieser Stelle der (deutschen) Gesellschaft zu. Deutschland grenzt sie an anderer Stelle ab gegen diejenigen europäischen Länder, wie Frankreich und Schweden, die für weit reichende Kinderbetreuungsangebote für Kleinkinder 110
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und eine hohe Müttererwerbstätigkeit bekannt sind.9 Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass es dort sowohl die Möglichkeit für VollzeitErwerbsarbeit von Müttern gibt als auch die ersehnte Anerkennung dieser Lebensweise von der Gesellschaft, die ja solche Regelungen verantwortet und die ihnen zugrunde liegenden Ausdeutungen zur Mutterschaft teilt. Da ihr die deutsche Gesellschaft diese Möglichkeiten vorenthält, hat Frau Grebe die Gewichtung beider Lebensbereiche verschoben und gesteht sie ihrem Sohn einen größeren Anteil zu. Die Prioritätenverschiebung ruht auf einem Scheitern ihrer getroffenen Entscheidung. Diese zweitbeste Lösung ist überhaupt erst möglich, indem sie inzwischen erkannt hat, dass ihr Kind eine ebensolche Quelle der Selbstbestätigung sein kann wie ihr Beruf. An dieser Stelle tritt das komplexe Verhältnis prägnant hervor, das erstens zwischen Habitus bildender und zugleich habituell geleiteter Erfahrung, zweitens ihrer Bewertung auf Grundlage kultureller Deutungsmuster und drittens der damit eröffneten sowie verschlossenen Handlungsmöglichkeiten besteht. Wie emergiert die Sinnstiftung in der Elternposition in der je konkreten Bildungsgeschichte des Subjektes? Und was sagt die lebenspraktische Ausgestaltung und Bewältigung dieser Position über die vorherrschende Anerkennungsordnung aus? Subjektbildung muss – das legt der Fall Grebe nahe – als Prozess der Aneignung kultureller Deutungsmuster und der Auseinandersetzung mit ihnen verstanden werden. In diesem Prozess bilden sich – so eine von hier aus eröffnete und in den nächsten Fällen weiter zu verfolgende Annahme – Handlungsmöglichkeiten, die die Anerkennungsordnung reproduzieren oder transformieren. Erst dadurch, dass Frau Grebes Handlungsroutine in eine Krise geraten ist und sie nicht, wie ursprünglich geplant, trotz ihrer Mutterschaft nahezu unverändert ihrer beruflichen Anerkennungssuche folgen konnte, wurde es notwendig, neue Handlungs- und Deutungsmuster zu entwickeln. Ihr Handlungsmuster ‚Neue Herausforderungen auf der Basis des 9
Seit Anfang der 1970er Jahre hat sich in Frankreich das Leitbild der berufstätigen Mutter durchgesetzt, was sich in einer Erwerbsquote von Müttern von über 80 Prozent niederschlägt (Sachverständigenkommission 2006: 44). Im Jahr 2003 beträgt sie auch dann noch 56 Prozent, wenn ein Kind jünger als zwei Jahre ist, und 67 Prozent für Familien mit drei und mehr Kindern. Unterstützt wurde diese Entwicklung seit den 1960er Jahren von einer Familien- und Arbeitsmarktpolitik, die die Berufstätigkeit von Müttern förderte. Die Arbeitszeitdifferenzen zwischen Männern und Frauen fallen dabei im europäischen Vergleich am geringsten aus. Es handelt sich also um ein Zwei-Verdiener Modell im Unterschied zum Zuverdiener-Modell in Deutschland, in dem berufstätige Mütter mehrheitlich in Teilzeit arbeiten. 111
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Bekannten‘ zu suchen, war für diese neuartige Lebenssituation nicht geeignet. Es musste nun eine neue Lösung gefunden werden. Die Emergenz einer Krisenlösung, die zur Routine werden kann, weil sie sich bewährt, führt zumindest partiell zur Transformation einer Fallstruktur. Wird die Krisenlösung nicht gefunden oder bewährt sie sich nicht, liegt ein Scheitern vor. Wie stellt sich diese Problematik für Frau Grebe dar? 228 BG 115 [...] Und durch die Geburt meines Sohnes ä bin ich im Grunde auch neu geboren worden. [...] Es is nach wie vor noch schwierich (.) das Leben auf die Reihe zu kriegen für mich weil ich wirklich (.) im Grunde ganz ganz vorne anfangen muss. (.) So als als wenn ich grade meine Kindheit beendet hätte mein Abitur gemacht hätte und wieder neu anfangen muss.
Mutter zu werden ist für Frau Grebe der Eintritt in ein neues Leben und nicht eine Veränderung des bisherigen, wie sich in der Parallelisierung der Geburt ihres Sohnes mit ihrer eigenen zeigt. Zur (eigenen) Geburt ist man hilflos und auf die Fürsorge anderer angewiesen. Wie oben deutlich wurde, ist das auch ihr eigentlicher Wunsch: die nötige Stärkung und Lenkung, die zu einer starken Entscheidungsmitte führen kann. In der hier verwendeten Metapher steckt ein realer Kern, der als Bild für sie als Erwachsene jedoch schief ist. In Form der Metapher beschreibt sie ihr ‚neues Leben‘ in den Entwicklungsschritten Geburt, Kindheit, Adoleszenz (Abitur) und dokumentiert hier sprachlich die in den letzten viereinhalb Jahren durchlaufene und wiederholende Entwicklung vom Anfang (ganz vorne) bis zur jungen Erwachsenen mit dem dann anstehenden Schritt in die Autonomie eines authentisch eigenen Lebens. Dies wäre in der Tat ein Neuanfang und nicht die Transformation durch eine gefundene Krisenlösung. Ein realer Neuanfang, der über den sinnbildlichen Gehalt der Metapher hinausgeht, ist für die Lebenspraxis mit ihrer Erfahrungsgeschichte aber nicht möglich. Insofern ist Frau Grebes Selbstthematisierung als Gescheiterte stimmig, wohl aber in einer anderen Bedeutung als sie es selbst deutet. Denn in der Fallrekonstruktion trat eine tief greifende Orientierungskrise bereits vor ihrer Mutterschaft hervor. Der Topos von der ‚Unmöglichkeit, Kind und Karriere in Deutschland zu vereinbaren‘, muss vor diesem Hintergrund als Schutzbehauptung gedeutet werden, die dazu dient, ein grundlegenderes Problem – nämlich das Fehlen einer seiner Selbst bewussten Mitte – zu entschärfen. Die von Frau Grebe vorgenommene Krisenlösung ist eine Reaktion auf etwas, das sie der Gesellschaft zuschreibt, aber nicht auf eigene Antriebe bezieht. Solange sie diese Schuldzuweisungen aufrechterhält, kann sie zum Kern des Scheiterns nicht vorstoßen: die Anerkennung ihres Scheiterns, und die 112
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Anerkennung als Person dort zu finden, wo sie strukturell einen adäquaten Ort hat. Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle Krise immer auch eine Chance zu einer Transformation im Sinne größerer Authentizität der Lebensführung, die sich entlang des fallspezifisch Möglichen entfaltet. Die sich in der spezifischen Fallstruktur zeigenden gesellschaftlichen Widersprüche – hier insbesondere der Anerkennungsordnung – werden unten resümiert. Zuvor aber sollen noch Aspekte betrachtet werden, die auf eine gemeinwohlbezogene Bewährung außerhalb der bisher thematisierten Felder des Berufs und der Familie verweisen.
1.2.5 Gemeinwohlbezogene Bewährung In der vorherrschenden Bedeutung des Berufs und der nachträglichen Einbindung der Mutterschaft in den Lebensentwurf traten Gemeinwohlbeiträge noch nicht deutlich hervor. Die Gemeinwohlbindung von Frau Grebe wird hier im Sinne des Antriebs untersucht, das eigene Handeln an überindividuelle Zwecke zu knüpfen und Anerkennung nicht nur als Person, die etwas kann (s.o.) und leistet zu finden, sondern auch als Teil eines übergeordneten Ganzen. Ist also trotz der zutage getretenen egozentrischen Haltung eine Gemeinwohlorientierung zu finden? Im Anschluss an die Schilderung ihrer erfolglosen Bewerbungserfahrungen und der aus ihrer Sicht ausweglosen Lage kommt Frau Grebe auf ihre Überlegungen zu sprechen auszuwandern. An solchen könnte sich eine mangelnde Gemeinwohlbindung zeigen. 111 BG 56 […] ich hab schon drüber nachgedacht auszuwandern (I1: mmh) weil es is wirklich so man ist so enttäuscht worden man wollte wirklich arbeiten man man hat versucht beides unter einen Hut zu bekommen (.) und man bekommt nuur Steine in den Weg gelegt. […] Es (.) es funktioniert nich. Es funktioniert einfach nich. (.) So. Und das Arbeitsamt sagt mir ja ä (.) sie hängen hier auf der sozialen Hängematte.
Mehr als nur ein flüchtiger Gedanke, aber noch entfernt von konkreten Plänen zur Auswanderung sind ihre Überlegungen. In der unmittelbaren Begründung (weil) zeigt sich, dass Frau Grebe es für unbedingt begründungsbedürftig hält, ihr Land zu verlassen. Es wäre, sollten sich diese Gedanken konkretisieren, kein selbstverständlicher Schritt und auch nicht die erste Wahl. Die folgende Erklärung wird mit einem Verstärker der Glaubwürdigkeit eingeleitet (es is wirklich so) und ihre Erfahrung in eine verallgemeinerbare Regel gekleidet (man). Eine Auswanderung wäre für sie eine Reaktion auf eine Enttäuschung. Sie besteht aus drei Facetten: Zum einen haben ihre Anstrengungen, Arbeit zu finden und Familie mit einem qualifizierten Beruf zu verbinden, keinen Erfolg gehabt 113
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
(es funktioniert nich). Dies bezieht sich auf ihre Desillusionierung, wie sie oben analysiert wurde. Zum zweiten sieht sie sich Hindernissen gegenüber, die sie aufgrund ihrer Erfahrungen personalisiert: es waren verschiedene Instanzen, an denen sie gescheitert ist, nämlich potentielle Arbeitgeber und Vertreter der Arbeitsamtsbürokratie. Die Barrieren (Steine in den Weg gelegt) bestanden im Wesentlichen aus Unterstellungen, Zuschreibungen und Anklagen. Sie verweist hier nicht auf – ebenso nahe liegende – Bedingungen am Arbeitsmarkt, etwa fehlende Arbeitsplätze und massive Konkurrenz auch unter Hochqualifizierten, sondern ihrer Ansicht nach scheitert sie am kulturellen Deutungsmuster der Rabenmutter. Und drittens schließlich sieht sie sich abermals mit einer Abwertung ihrer Bemühungen konfrontiert, die über die fehlende Anerkennung im Beruf noch hinaus geht in Form eines Vorwurfs, sie nutze das Gemeinwesen aus (soziale Hängematte). Dass ihr dies Sorgen bereitet, ist für sich genommen bereits ein Ausdruck einer Gemeinwohlbindung. Es spricht umso mehr dafür, als sie die dem Vorwurf unterliegende Norm teilt, man müsse aus eigener Kraft, aus eigener Arbeitsleistung seinen Unterhalt bestreiten können. Instruktiv dafür, konkrete Beiträge für das Gemeinwesen zu entdecken, war die allen Interviewpartnern gestellte Frage danach, wie sie ihr Leben gestalten würden, wenn sie durch eine Erbschaft oder andere Quellen, nicht mehr auf Erwerbseinkünfte angewiesen wären. „Ich würd mich sofort selbständich machen“ (155 BG 78), antwortet Frau Grebe unverzüglich. Ausführlich und engagiert berichtet sie von ihrer Idee eines „Wohnprojektes für ältere Migranten“ (157 BG 79), für das sie bereits ein ausgearbeitetes Konzept, einige Sponsoren und ein geeignetes Grundstück im Familienbesitz vorweisen kann. Allein die Bedarfsanalyse fehlt noch. Anträge beim Ministerium sind abschlägig beantwortet worden. Auch diese Erfahrung mündet in die genannte Einschätzung der in den Weg gelegten Steine. Engagement ist vorhanden, auch hier geht es Frau Grebe nicht vorrangig um erzielbares Einkommen, sondern um eine Aufgabe, in der sie sich selbst erlebt. Ein Anliegen ist auch, „Privates und Berufliches unter einen Hut zu kriegen“ (159 BG 80). In diesem Kontext bedeutet Privates die Sorge um ihren schwer erkrankten Vater, den sie gemeinsam mit ihrem Bruder betreut, und um dessen Grundstücksnutzung es hier geht. Mit ihrer Vorstellung von Selbständigkeit geht eine sowohl zeitlich wie auch inhaltlich selbst bestimmte Gestaltung ihres Lebens einher, die sich an bestimmte Aufgaben von familiärem wie allgemeinem Interesse knüpft, wie hier der bereits in Ansätzen eruierte Bedarf an betreutem Wohnen für Senioren ausländischer Herkunft. Die realen Bedingungen allerdings sind andere:
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164 BG 83 […] erste Priorität hat momentan dass ich jetz überhaupt ers ma einen Job finde wo ich n bisschen Geld reinkriege weil ich momentan (I1: mmh) wirklich nur von meinem Bausparvertrach lebe, (I1: ja) äm ich muss aber ehrlich sagen ich hab (.) Schwierichkeiten so zum Sozialamt zu gehen. (I1: mmh warum?) Ich m n es is blöd ich weiß […] Sie müssen ihr ganzes Leben so organisieren (.) wie sis eigentlich gar nich haben möchten. (I1: ah ja) Das is für mich das große Problem. (I1: mmh mmh verständlich). Das is das was ich eben sachte (I1: mmh) ihnen wird erst dann geholfen wenn sie nicht mehr sich (.) von alleine aufrichten können und was aus ihrem Leben machen können […] Aber wenn sie (.) wenn sie vom (.) von sich aus noch die Motivation haben etwas etwas aus ihrem Leben zu machen (.) (I1: mmh) dann wird ihnen nich geholfen.
Angesichts ihrer finanziell prekären Situation ist Frau Grebe weit entfernt von der Realisierung ihrer Ideen. Dabei neigt sie gerade nicht einer Haltung zu, den einfachsten Weg zu gehen und verzichtet selbst dort auf Unterstützung, wo sie ihr legal zustehen würde. Diese Diskrepanz unterliegt ihrer Empörung über die ihr entgegen gebrachten Vorwürfe seitens des Arbeitsamtes. Allerdings ist sie unter den gegenwärtigen Bedingungen auch nicht zu Zugeständnissen bereit, die ihr reales Leben in noch größere Widersprüche zu ihrem Lebensentwurf bringen würden, wie ihre Abneigung gegen eine Anpassung an Regelungen des Sozialamtes zeigt. Konkret führt sie in der Auslassung im obigen Zitat die Offenlegung ihres geringfügigen Sparvertrags und die Abmeldung ihres PKW als Beispiele an. Was ihr widerstrebt – das hat die Analyse oben gezeigt – ist ein Rechtfertigungsdruck gegen Unterstellungen, die ihr gegenüber grundsätzliches Misstrauen zum Ausdruck bringen. Derer ist sie nach ihrer wütenden Gegenwehr inzwischen müde. Das Misstrauen entfacht resignative, von Empörung getragene Gedanken, diesem Land den Rücken zu kehren. Wohin es führt, wird in ihrer wiederholten Klage darüber deutlich, dass die gegenwärtigen Bedingungen für die zu treffenden Entscheidungen zu spät greifen und die vorhandene Motivation zur selbst bestimmten Lebensgestaltung (etwas aus ihrem Leben zu machen) gerade nicht unterstützt, sondern versiegen lassen. Das Prinzip der Subsidiarität, dem die Ausgestaltung der sozialpolitischen Maßnahmen folgt, erfährt hier eine notwendige Differenzierung: Der Vorrang der individuellen Selbstverantwortlichkeit vor staatlicher Daseinsvorsorge (Scherl 1987: 670) ist offenbar zu eng gefasst, wenn darunter eine möglichst späte Eröffnung von Handlungsspielräumen verstanden wird. Als tatsächliche ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ wirken die Maßnahmen nur, wenn sie vertrauensvoll die vorhandene Handlungsbereitschaft unterstützen. Trotz der selbstbezogenen Haltung von Frau Grebe und ihrer Deutungsstruktur, Verantwortung zu externalisieren, ist hier nicht eine fehlende Gemeinwohlbindung aufzufinden. Statt dessen treten Bedingun115
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gen für Handlungsentscheidungen hervor, die eine bestehende Bindung an das Gemeinwesen schwächen und die Bereitschaft untergraben, durch berufliche und familiäre Tätigkeiten ebenso wie durch Engagement für soziale Problemstellungen das Gemeinwesen zu stärken.
1.3 Resümee zur Fallstruktur: Bewährung und Anerkennungsordnung Im Interview mit Frau Grebe zeigt sich eine vorherrschende Bedeutung des Berufs. Ihre unbedingte Arbeitsbereitschaft folgt dem Ideal einer Vollzeit-Berufstätigkeit in einer verantwortungsvollen, ihrer Qualifikation entsprechenden Beschäftigung. Allein in der regionalen Mobilität ist sie als Mutter eingeschränkt. Zur Einschätzung der vorliegenden Spezifik der beruflichen, familialen und gemeinwohlbezogenen Bewährungsformen werden in drei Präzisierungsstufen verallgemeinerbare Erkenntnisse herausgearbeitet. Zunächst ist zu fragen, inwiefern die vorgefundenen Handlungsstrukturen, insbesondere die Konfliktlinien der biographischen Bewährung der Fallstruktur zugerechnet werden müssen (1). Wenn das Fallspezifische auf diesem Weg ‚vor die Klammer gezogen‘ werden kann, ist der Blick frei auf diejenigen Strukturen, die dem Kulturellen – Deutungsmustern und die in ihnen zum Ausdruck kommende Anerkennungsordnung – zuzuordnen sind (2). Die Frage, inwiefern die Geschlechtlichkeit der Praxis Relevanz besitzt für die hier zutage geförderte Gestalt der Bewährung und das Konflikthafte der Konstellation (3) führt schließlich zur Zusammenfassung der Ergebnisse (4).
1.3.1 Fallstrukturelle Abschichtung Für die Fallstruktur Frau Grebes ist charakteristisch, dass ihr Handlungsantrieb von einer Sehnsucht nach Anerkennung als ganze Person getragen ist. Der Beruf ist das Feld, auf dem sie dies zu erfahren sucht. Frau Grebe zielt mit ihrem leistungsethischen Antrieb darauf ab, ihre Persönlichkeit (dass ich wer bin) in unmittelbarer Verknüpfung mit ihrer Leistungsfähigkeit (dass ich was kann) zu erfahren. Dabei erscheint der Berufsinhalt als nachgeordnet, wie ihre Ausführungen zu den Aspekten ihrer Tätigkeit, die sie mit Freude erfüllen, gezeigt haben. Vorrangig für die sinnstiftende Erfahrung ist für sie das Gefühl, gut aufgehoben zu sein. Diese basale Sehnsucht einer Anerkennung als Person ist strukturell zunächst in der diffusen Sozialbeziehung der Familie verankert. In der Erfahrung, bedingungslos angenommen zu sein, wurzelt ein Selbstbewusstsein, mit dem sich der Heranwachsende später aus der unmittelbaren Anerkennung durch den signifikanten Anderen herauslösen und 116
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seine spezifischen Fähigkeiten in übergeordneten Zusammenhängen einbringen kann, ohne die je konkrete Bestätigung als Person zu suchen. Im rollenförmig strukturierten Bereich beruflicher Leistung kann das Ergebnis des Handelns, die gelungene Problemlösung, Anerkennung finden, nicht aber die Person über die Rollenförmigkeit hinaus. Wird zudem die Anerkennungserfahrung gezielt aufgesucht, bildet sie also den wesentlichen Handlungsantrieb, führt eine solche Entscheidungsstruktur tendenziell zu einer instrumentellen Haltung, wie sich bei Frau Grebe sowohl im Beruf als auch in ihrer Beziehung zu ihrem Sohn zeigte. Aus dieser fallspezifischen Konstellation – einer persönlichkeitsstrukturell aufgeladenen Bedeutung der Bestätigung im Feld beruflicher Bewährung – speist sich die Vehemenz, mit der Frau Grebe über ihr Scheitern klagt, ihren Wunsch der Vollzeit-Berufstätigkeit bei gleichzeitiger Mutterschaft zu realisieren. Ihr fallspezifisches Deutungsmuster der Beschwichtigung besteht in der Schuldzuweisung an die Gesellschaft in personalisierter Gestalt der Arbeitsamtsmitarbeiter und Personalentscheider in Unternehmen. Damit sucht Frau Grebe die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu erklären und für sich zu beruhigen. Verallgemeinerungsfähig ist an dieser Sachlage nicht, wie nun nähe läge zu vermuten, dass sich die Subjektbildung im Allgemeinen im „Kampf um Anerkennung“ vollzieht, wie Honneth (2003) es als führendes Motiv von Handlungsentscheidungen konzipiert.10 In der fallrekonstruktiven Analyse zeigt sich dagegen, wie eine angezielte Anerkennung die schwach ausgebildete Entscheidungsmitte ausgleichen oder sogar ersetzen muss. Die hier aufgefundene Entgrenzung rollenförmiger und diffuser Aspekte von Sozialbeziehungen geht auf die sozialisatorischen Besonderheiten der Subjektbildung des konkreten Falls zurück. Über deren Konstitution könnte eine stärker sozialisatorisch angelegte Biografieforschung weiteren Aufschluss geben, will man an dieser Stelle keine unbegründeten Vermutungen anstellen über den Verlauf der Sozialisation. Zu sehen ist hier allerdings, dass Schwächen im Selbstvertrauen Folgen nach sich ziehen nicht nur für die Gestaltung der eigenen Elternschaft, sondern auch für die Ausprägung eines spezifischen leistungsethischen Habitus, der hier als eine instrumentelle bzw. kompensatorische Leistungsethik bezeichnet werden kann. Dieses Ergebnis steht solchen Diagnosen entgegen, die Formen der Entgrenzung lebensweltlicher und systemischer Handlungslogiken als Folgen ökonomischer Imperative interpretieren, wie es als prominentes Paradigma in der arbeitssoziologischen Diskussion aufzufinden ist. Eine „Verbetrieblichung der alltäglichen Lebensführung“ (Pongratz/Voß 10 Vgl. zur Kritik an Honneths Konzeption Kapitel II.2. 117
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2003), wie sie im Typus des „Arbeitskraftunternehmers“ aufzufinden sei, wird als Reaktion auf veränderte Arbeits- und Organisationsstrukturen, insbesondere so genannter entgrenzter Arbeitsformen gesehen. Angesichts der Erkenntnisse aus der hier präsentierten Fallrekonstruktion ist dem entgegen zu halten, dass Frau Grebes Arbeitsantrieb nicht aus Anforderungen seitens der Arbeitgeber resultiert. Sondern es ist im Gegenteil ihre Fallstruktur, die allenfalls in Passung steht zu einem ausufernden Arbeitseinsatz. Die innere Verbindung von Arbeitsverhältnissen und Handlungsmustern der Beschäftigten stellt sich auf dieser Ebene der habituellen Passung her und wäre als äußerlich bestimmter Kausalzusammenhang missverstanden. Dass sich die Bindung an eine Leistungsethik aber überhaupt entfalten kann und – wie im Fall Grebe – in einer Vollzeit-Erwerbsorientierung und zudem in einer hohen Arbeitsbereitschaft bis zur Erschöpfung zum Ausdruck kommt, verweist über den konkreten Fall hinaus auf die Anerkennungsordnung, die in Form kollektiver kultureller Deutungsmuster als Bezugspunkte der eigenen Handlungsentscheidungen zur Verfügung steht. Diese wird Frau Grebe zunächst in Gestalt der Lebensausrichtung ihrer Eltern und deren Verkörperung einer allgemeinen Leistungsorientierung als entscheidender Verankerung des Selbstwertes begegnet sein, die diese Verknüpfung wiederum in kollektiven Deutungsmustern ihrer Generation vorgefunden haben.
1.3.2 Kulturelle Anerkennungsordnung Diese kulturellen Wirkungszusammenhänge zwischen Arbeitsantrieb und Anerkennungsverhältnissen werden in der elaborierten Studie von Hochschild (2002) differenzierter beschrieben als es die Entgrenzungsthese vermag. Mit der Formel des „Polsprungs“ konstatiert Hochschild eine Verkehrung – und nicht eine Vermischung – der Strukturlogik des Handelns in der Familie und am Arbeitsplatz. Nicht mehr das Zuhause, die Intimbeziehungen, warten demnach mit Anerkennungserfahrungen als Person und einer inneren Befriedigung auf, sondern während hier Konflikte lauern sei der Betrieb zum Ort der Anerkennung und sogar Erholung geworden. Daraus bezöge er seine Anziehungskraft. Dies korrespondiert auf den ersten Blick mit der Fallanalyse Grebe und könnte ihr Hingezogensein zum beruflichen Feld erklären. Doch Hochschilds Beschreibung liefert keine Erklärung der „verkehrten Welt“ (ebd.: 45), so dicht und anschaulich sie die Lebensgestaltung der Untersuchungspersonen und die Firmenpolitik einer wertschätzenden Unternehmenskultur auch zeichnet. Was sie offen lässt und auch für das Verständnis der im Fall Grebe hervortretenden verallgemeinerbaren Orientierung 118
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vermissen lässt, ist die Frage der Triebfeder für den Attraktivitätswandel der Lebensbereiche. Zwar erkennt Hochschild die Wirksamkeit einer verallgemeinerten Leistungsethik als Maßstab der Bewährung, doch räumt sie selbst ein, dass sich daraus kein Handlungszwang ergibt. Wo Hochschild zu Metaphern aus dem Bereich der Natur greift – etwa mit der Bezeichnung der „kulturellen Umpolung“ (ebd.: 217) als „Wandel der relativen Anziehungskraft in den Gravitationsfeldern“ Betrieb und Familie (ebd.: XXIX) – klafft eine Erklärungslücke, die anhand der hier vorgelegten Fälle geschlossen werden kann. Die Handlungsstruktur, wie sie im Fall Grebe zutage tritt, scheint weit verbreitet zu sein und gibt zu folgender Vermutung Anlass: Eine leistungsethisch grundierte Anerkennungsordnung sowie eine Unternehmenspolitik, die die Bedürfnisse der Beschäftigten nach persönlicher Entfaltung im Blick hat und eine hohe Bindung des Einzelnen an seine Aufgaben befördert, bilden Anziehungskräfte, die von der Familie offenbar nicht ausgehen. Im betrieblichen Kontext ist die erstrebte Anerkennung als ganze Person aber auf die rollenförmigen Aspekte der Persönlichkeit reduziert. Nicht nur für Frau Grebe scheinen diffuse Sozialbeziehungen zu einer Überforderung zu werden. Im Anschluss an die hier präsentierte Fallrekonstruktion ebenso wie an die Studie von Hochschild ergeben sich zwei Fragen: 1. Worin ist die Anziehungskraft der rollenförmigen Anerkennung im Beruf konstituiert? Gibt es also einen Grund in der Sache, der stärker wiegt als die Anerkennungserfahrung in diffusen Sozialbeziehungen, wie es Schelsky (1972, vgl. Kapitel II.2) vermutet? Sind berufliche, abstrakte Formen der Anerkennung durch Statusaufstieg oder sachgebundenen Erfolg bedeutsamer in der Wertschätzung als es die familialen oder freundschaftlichen Formen der Zuneigung und Fürsorge sind? Und 2. könnte gerade die bei Frau Grebe hervor getretene schwache Entscheidungsmitte auch im Sample von Hochschild ein Einflussfaktor dafür sein, dass die Beschäftigten die Anerkennung ihres Chefs derjenigen ihrer Gatten und Kinder vorziehen? Immerhin, so ließe sich vermuten, stellt die Familie insofern eine besondere Herausforderung an die Subjekte dar, als es in den diffusen Sozialbeziehungen keine Pausenräume und kein Schichtende, keine Tätigkeitsbeschreibungen und keine Weisungsbefugnisse gibt. Bindung und Selbstbezug, der Schutz der eigenen Integrität und das Ringen um die gemeinsame Bewältigung von Konflikten, die Gestaltung des Zusammenlebens insgesamt fordern zunehmend individuierte Entscheidungen und zumindest im Nachhinein sinnfällige Begründungen des eigenen Handelns, also ein hohes Maß an Autonomie. In diesem Zusammenhang konkretisiert sich die vorne erwähnte Spannung zwischen
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Freiheit und Verantwortung und – das zeigt sich im Fall Grebe – die darin liegende Gefahr der Überforderung. Die Schuldzuweisungen Frau Grebes an die Gesellschaft bzgl. der Diskrepanz zwischen ihrem Wunsch zu arbeiten und ihrer Chance, diesen Wunsch zu realisieren, zeugen von der herausragenden Bedeutung beruflicher Tätigkeit als kulturell dominantes Muster der Bewährung. Ohne diese verallgemeinert wirksame Ordnung hätte Frau Grebes Leistungsorientierung diese Stärke nicht entfalten können und vor allem hätte sie angesichts der Widrigkeiten ihrer beruflichen und familiären Erfahrungen keinen Bestand gehabt. Die Beharrlichkeit der biografischen Konfliktlinien im Fall Grebe spiegeln allgemeine gesellschaftliche Widersprüche wider. Dabei ist es hier weniger die gegenläufige Entwicklung zwischen einer normativ aufgeladenen Erwerbsarbeit und sinkenden Chancen, diese bei steigender Arbeitslosigkeit zu finden. Frau Grebe thematisiert im ganzen Interview nicht die allgemeine Arbeitsmarktlage, obgleich es sie als kollektives Phänomen aus ihrem individuellen normativen Druck entlasten würde. Sondern sie fokussiert auf die Ebene der kulturellen Barrieren, mit denen sie sich als berufstätige Mutter konfrontiert sieht. Es ist der Widerspruch zwischen der nur für VollzeitBerufstätige gewährten vollen Anerkennung und der versagten Anerkennung in der Chiffre der ‚Rabenmutter‘ für Vollzeit berufstätige Mütter. Eine auf Arbeit zentrierte Lebensführung findet demnach höchste Wertschätzung nur insofern sie sich nicht am Ideal der ‚guten Mutter‘ bricht. Hier tritt eine Ausdeutung von Mutterschaft zutage, die die weitgehende Anwesenheit der Mutter bei ihrem Kind postuliert und die in Widerspruch zu Karriereverläufen steht, die einen hohen Arbeitseinsatz verlangen.
1.3.3 Geschlechterbezogene Bewährung Diese kulturellen Widersprüche sind offenbar geschlechtsspezifisch konnotiert. Die Untersuchung der Relevanz der Geschlechtlichkeit der Praxis für die Ausformung der gegenwärtigen Bewährung soll auf die Frage zugespitzt werden, ob es sich hierbei um einen kulturellen Widerspruch oder um ein Strukturdilemma handelt, das aus der Konstitution der Bewährungsfelder erwächst. Zunächst seien die Konfliktlinien, die im Interview im Zusammenhang der Geschlechtlichkeit hervor treten, zusammenfassend dargestellt. Der Fall Grebe steht exemplarisch für eine Frauengeneration, die in der Selbstverständlichkeit weiblicher Bewährung im Beruf sozialisiert wurde. Noch in deren Adoleszenz versprachen Bildungsanstrengungen die Realisierbarkeit leistungsethischer Ambitionen. Frau Grebe hat auf 120
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ihrem spezifischen Bildungs- und Ausbildungsweg ein hohes Qualifikationsniveau erworben, das ihr eine Karriere bis ins Management von Unternehmen ermöglichte. Weder ihr fallspezifischer Antrieb noch ihre Geschlechtlichkeit konfrontieren sie bis dahin mit Barrieren für eine Gestaltung ihres Lebens nach eigenen Vorstellungen. Erst mit der Geburt ihres Sohnes stößt sie an Grenzen, ihrem Lebensentwurf eines auf qualifizierte Erwerbsarbeit zentrierten Lebens zu folgen. Die Fallrekonstruktion hatte gezeigt, dass ihre Berufsunterbrechung wie auch der Entschluss zur Schwangerschaft unter der Bedingung einer fragilen Partnerschaft auf eine Entbehrungserfahrung schließen ließen. Der Kinderwunsch trat als mächtig in Erscheinung und hat Frau Grebe mit einer neuen Herausforderung konfrontiert, die sie zunächst mit den bekannten Routinen des Durchhaltens und Organisierens zu bewältigen sucht. Dass sich ihr Lebensgefährte einer auch lebenspraktisch erfüllten Vaterschaft entzieht, ist zwar eine extreme, keinesfalls aber selten auftretende Reaktion. Ob in Trennung oder in Partnerschaft, Väter sehen sich an dieser Entscheidungsstelle des Lebens objektiven wie auch normativ akzeptierten Handlungsoptionen gegenüber, die für Mütter weder praktikabel noch legitimiert sind. Wird der Kinderwunsch realisiert, dann ist die Option, das Kind zu verlassen, nicht eröffnet. Die leibliche Bindung bereitet eine emotionale Bindung auch nach der Symbiose vor, die sich Väter aktiv erschließen müssen, da ihre Bindung an das werdende Kind nicht leiblich vermittelt ist. Insofern hält die Entscheidung zur Familiengründung für Frauen eine größere Verbindlichkeit bereit und zeitigt unmittelbare Konsequenzen für weitere Entscheidungen. Als Alleinerziehende hat sich Frau Grebe für die familiale Bewährung unter schwierigen Bedingungen entschieden. Die starke Bedeutung der beruflichen Bewährung dominiert weiterhin ihr Handeln und lässt ihre Fürsorgetätigkeit in den Hintergrund treten. Die Bindung an ihren Sohn ist distanziert. Dass es sich bei der gleichzeitigen Bewährungssuche in beiden Lebensbereichen nicht nur um eine Frage der Organisation handelt, zeigt sich nach wenigen Monaten ihrer Berufstätigkeit nach der Familiengründung. Trotz einer Rundum-Versorgung ihres Kindes durch ihre Mutter, muss sie aus Erschöpfung ihre aufreibende Arbeitssituation aufgeben. Die Lebensweise, die dem Muster des ‚männlichen Normalarbeitsverhältnisses‘ folgt, also einer weitestgehenden Entlastung aus familialen Aufgaben, hat für Frau Grebe andere Folgen als für Männer. Offenbar liegt die Differenz der väterlichen und mütterlichen Bewährung nicht nur auf der Ebene der Strukturierung der Aufgabenteilung, sondern steht im Zusammenhang mit der kulturellen Ausdeutung dieser Differenz. Pointiert ausgedrückt: Ob und in welcher Weise die Struktur mütterlicher Bewährung Konsequenzen hat für die Stellungnahme der 121
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Mütter zu den anderen Bewährungsfeldern, insbesondere zum Beruf, wird auf der Ebene der berufs- und familienbezogenen Deutungsmuster entschieden. In diesen werden Handlungsoptionen als anerkannte eröffnet oder verschlossen, so wie sie auch politische Entscheidungen (z.B. bezogen auf die Familien- und Arbeitsmarktpolitik) und wirtschaftliche Entscheidungen beeinflussen (z.B. bezogen auf die Arbeitsorganisation und Personalrekrutierung). Frau Grebe zieht nicht die Konsequenz, ihre berufliche Tätigkeit zurückzustellen, sondern sucht nach günstigeren Arbeitsbedingungen unter Aufrechterhaltung ihrer Ambitionen. Erst das Scheitern an diesem Ziel führt sie in das beschriebene Dilemma. Eine Abkehr von der dominanten Bewährung im Beruf steht zunächst außerhalb ihres Deutungshorizontes, denn die Bewährungsmöglichkeit in der Mutterschaft ist deutlich schwächer verankert. Von der fallspezifischen Grundierung dieser Ausprägung abgesehen, zeugt diese Gewichtung von der versagten kulturellen Wertschätzung der familialen Fürsorgetätigkeit. Vor diesem Hintergrund entsteht nicht nur für Frau Grebe ein kultureller double bind: Es handelt sich um einen unauflöslichen Widerspruch zwischen der vorrangigen Anerkennung beruflicher Leistung einerseits und der Deutung einer gelingenden Mutterschaft als einer solchen, die die beruflichen Ambitionen zurückstellt, andererseits. Eine Sinnstiftung berufstätiger Mütter in Anerkennung beider Tätigkeitsfelder ist damit unmöglich. Wie sich diese kulturellen Gewissheiten in Personalentscheidungen widerspiegeln und ihrerseits zu einer Ausgestaltung der betrieblichen Organisation der Leistungserstellung beitragen, wird an Frau Grebes Schilderung ihrer Bewerbungserfahrungen deutlich. Sie zeugen von einer weiteren Barriere zur authentischen Ausgestaltung des Lebensentwurfs hochqualifizierter Mütter. Das spezifische Dilemma besteht darin, eine der Qualifikation entsprechende Beschäftigung zu finden, die in Führungspositionen mit einem zeitlichen und energetischen Arbeitseinsatz verbunden ist, der Fürsorgetätigkeiten ausschließt. Frau Grebe konkurriert daher mit Bewerberinnen ohne Kinder („die Frauen die die in dieser Branche arbeiten haben also in diesen Jobs arbeiten ham keine Kinder also definitiv nich. (I1: ja) Weil diese Jobs viel zu sehr mit Reisetätichkeit verbunden sind…“ 84 BG 42), insofern sie sich auf Stellen beworben hat, die eine Reisetätigkeit über die Region hinaus erfordern. Ebenso konkurriert sie mit männlichen Bewerbern, deren Reisetätigkeit durch eigene Kinder nicht eingeschränkt zu sein scheint. Für Stellen, die nur regionale Mobilität erforderten, galt sie als überqualifiziert. Ein potentieller Arbeitgeber schloss aus der angenommenen Unterforderung auf eine längerfristige Unzufriedenheit, die seiner Befürchtung nach über kurz oder lang zur Kündigung ihrerseits führen würde. Im Dilemma 122
III. ZWEI ZENTRALFÄLLE
zwischen faktischer Überforderung und angenommener Unterforderung erweist sich dann keine Stelle als passend für sie.
1.3.4 Zusammenfassung der Bewährungsdimensionen Beides – der herrschende Bewährungsmythos mit der dominanten Stellung der beruflichen Leistung sowie die realen Bedingungen des Arbeitseinsatzes, die wie selbstverständlich von lebensweltlichen Bezügen und den anderen Bewährungsfeldern abstrahieren – ergibt einen Möglichkeitsraum für Entscheidungen, der einer Familiengründung entgegen steht. Dieser Befund verdeutlicht die bestehende Abhängigkeit zwischen den Bewährungsfeldern sowie zwischen den geschlechtsspezifischen Bewährungsdynamiken. Die Vorrangstellung der beruflichen Bewährung hat sich spätestens mit der Generation, der Frau Grebe angehört, auf Frauen verallgemeinert. So ist die Lösung des dreifachen Reproduktionsproblems – der materiellen, der sexuellen und der sittlichen Reproduktion – der Gemeinschaft nicht mehr selbstverständlich durch eine nach Geschlechtern getrennte Aufgabenverteilung gegeben, wie es dem verbreitete Familienmodell in der westdeutschen Nachkriegszeit entsprach. Das im Fall Grebe hervor getretene Dilemma zwischen familialer und beruflicher Bewährung wird von einem zunehmenden Teil gut qualifizierter Männer und v.a. Frauen antizipiert und lässt sie zugunsten des Berufs von einer Familiengründung abgesehen, was sich in sinkenden Geburtenraten infolge steigender Kinderlosigkeit niederschlägt. Die notwendige Kohärenz zwischen der Ausdeutung der Anerkennungsordnung und des Geschlechterverhältnisses bis hin zur Ausgestaltung des Institutionengefüges zur gesellschaftlichen Organisation der reproduktiven Erfordernisse scheint gegenwärtig nicht gegeben, so gibt zumindest der Fall Grebe zu verstehen. Bei Frau Grebe zeigt sich als Ausformung des Bewährungsmythos eine kompensatorische Form der Leistungsethik als dominant auf den Beruf ausgerichtete Suche nach Anerkennung. Demgegenüber hat sich die Bewährungsdimension der Familie erst in resignativer Reaktion auf verschlossene Möglichkeiten der beruflichen Bewährung entfaltet. Nur allmählich konnte die Erfahrung des sinnstiftenden Potentials der Mutterschaft Platz greifen und bleibt doch ebenso instrumentell grundiert wie der berufliche Antrieb. In der an Grebes Ambitionen gemessenen frustrierenden Gesamtkonstellation findet sich aber kein Anzeichen für eine Erosion ihrer Gemeinwohlbindung. Noch die flüchtigen Überlegungen, das Land zu verlassen, verraten eine starke, allerdings gefährdete Bindung an das Gemeinwesen. Ihre Anerkennungssehnsucht bleibt unerfüllt. Sie hofft aber, sie in ihrem Land zu stillen trotz der Klage über die 123
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deutsche Kultur und über das Misstrauen, das ihr entgegen gebracht wird. Sie zeigt sich als verantwortungsvoll sowohl in der Fürsorge für ihren pflegebedürftigen Vater. Unter imaginierten Lebensbedingungen, die frei von Existenzsorgen wären, entfaltet sie eine Vision von einer selbständigen Tätigkeit. Mit ihr verbinden sich familiale, berufliche und gemeinwohlbezogene Aspekte der Bewährung in der Perspektive einer zeitlich wie auch inhaltlich selbst bestimmten Gestaltung ihres Lebens. Unter solchen Idealbedingungen tritt überraschend die instrumentelle Haltung in den Hintergrund und eröffnet die Möglichkeit einer sachhaltigen Bindung an selbst gewählte Aufgaben. Für die Gemeinschaft als ganze ergibt sich aus diesem Ergebnis ein Hinweis auf die hemmenden und förderlichen Bedingungen der Bindung des Einzelnen an das Gemeinwesen. Wenn die traditionalen Lösungsformen einer nach Geschlecht differierenden Übernahme notwendiger Aufgaben keine Entsprechung in den Lebensentwürfen mehr finden, neuartige Lösungsformen aber sowohl faktisch scheitern als auch normativ widersprüchlich sind, schwindet die gesellschaftliche Kohärenz. In welche Konfliktlinien eine solche Konstellation biografisch führen kann, wird bei Frau Grebe anschaulich. Doch selbst wenn der je Einzelne einen Umgang mit den widersprüchlichen Herausforderungen findet – sei es im Verzicht auf eine eigene Familie oder eine berufliche Karriere – gehen Einsatzbereitschaft, Können und letztlich Loyalität dem Gemeinwesen gegenüber verloren, nicht erst wenn der Auswanderungsgedanke in die Tat umgesetzt wird. Frau Grebes Vision zeigt, wie weit der Verlust von Loyalität und Einsatzbereitschaft reicht, wenn Misstrauen und kulturelle Barrieren einer authentischen Lebensführung entgegen stehen: Die kompensatorische Ausprägung der Bewährungssuche erscheint in diesem Licht als zusätzlich zu den fallstrukturellen Einflüssen genährt vom Fehlen der Freiheit zur selbständigen Gestaltung der eigenen Aufgabe. Als müsse die Anerkennung als Zweck ersetzen, was als Zweck an sich sonst in der Sache selbst realisiert würde. Einer Entfaltung von Autonomie steht dies entgegen.
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III. ZWEI ZENTRALFÄLLE
2. Zaghafter Aktionismus: Frank Blöker-Olbert In direktem Kontrast zum Fall Grebe soll diese zweite Fallrekonstruktion eine männliche Biografie in ihrer Genese und Gestalt auch auf diejenigen Aspekte hin als zentralen Fall präsentieren, die sich im ersten als geschlechtsspezifisch generalisieren ließen. Damit wird die Frage untersucht, inwiefern und auf welche Weise der Geschlechtlichkeit der Praxis Bedeutung zukommt für die Ausbildung des Lebensentwurfs. Im Zentrum des Geschlechtervergleichs steht die Frage, ob der Sinn des Lebens nach Geschlecht unterschiedlich entworfen und ergriffen wird. Die Kontaktaufnahme erfolgte durch eine unserem Arbeitszusammenhang weiter entfernte Kollegin, deren Mann hier Interviewpartner wurde. Auf diesem Weg konnte sicher gestellt werden, dass die gesuchte Konstellation einer ‚aktiven Vaterschaft‘ die biografische Situation prägte. Dadurch war das Interview allerdings auch thematisch voreingestellt, was in der Analyse insbesondere der Selbstdeutungen zur Vaterschaft zu berücksichtigen ist. Sollte sich jedoch selbst in einem Fall mit einem ausgeprägten väterlichen Engagement eine deutliche Dominanz der Leistungsethik zeigen, wäre dies ein umso prägnanter Beleg für die These der Vorrangstellung beruflicher Bewährung. In der Rekonstruktion des Falles ist zudem zu berücksichtigen, dass Frau Olbert der Interviewerin nicht fremd ist und insofern delikate Themen durch eine Sorge um Anonymisierbarkeit möglicherweise zurückhaltend beantwortet wurden.
2.1 Analyse der biografischen Daten Frank Blöker-Olbert ist im August 1969 in Uelzen geboren und in Emden aufgewachsen. Er ist der jüngste von drei Söhnen (die Brüder sind 1965 und 1967 geboren, beide Beamte). Seine Mutter ist 1945 geboren, hat Arzthelferin gelernt und war seit der Familiengründung nicht mehr berufstätig. Der Vater ist 1939 geboren und als Zollbeamter tätig.
Herrn Blöker-Olberts Vater gehört der gleichen Generationenlagerung wie die Eltern von Frau Grebe an. Hier kann ein entsprechender Lebensentwurf angenommen werden, der auf eine lebbare Normalität nach den Kriegsverunsicherungen in der Kopplung von Leistung, Erfolg und Lebensstandard ausgerichtet ist. Seine Frau, im Jahr des Kriegsendes geboren, teilt die Kriegserfahrung nicht, die Rückkehr zur Normalität und das Gelingen des Aufbaus des Landes gehören zu den ersten, prägenden Eindrücken. Ebenso wie Frau Grebes Mutter erwirbt auch Herrn BlökerOlberts Mutter eine Facharbeiterausbildung, ebenfalls in einem frauendominierten Beruf. Anders als jene beendet sie ihre Berufstätigkeit je125
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doch zur Familiengründung. Die größere Kinderzahl weist im Fallvergleich auf eine stärkere Bedeutung der Familie hin. Mit dem väterlichen Beamtenstatus vollzieht sich die Familiengründung auf finanziell sicherem Boden. Die Alleinernährerfamilie entspricht der in den 1960er Jahre verbreiteten Familienform (Bertram 2000: 99). In Abgrenzung zu den Lebensbedingungen der Großelterngeneration der Blökers – die Großmutter väterlicherseits hatte bereits eine Ausbildung als Kauffrau, war berufstätig und später bei der Bundeswehr beschäftigt, also ebenfalls im Staatsdienst – zeugt diese Familienkonstellation von einem interessanten Wandel in der weiblichen Erwerbsbeteiligung. Da aber die Eltern und Großeltern hier nicht Gegenstand der Fallanalyse sind, kann über die Beweggründe und Deutungsmuster nichts gesagt werden. Eine mögliche Lesart wäre die Annahme, dass sich hier das Leitmotiv der Versorgerfamilie der 1960er Jahre Ausdruck verschafft, demzufolge es ein Zeichen eines Aufstiegs im Sinne der Annäherung an ein Familienideal wäre (‚meine Frau hat es nicht nötig zu arbeiten‘), das vormals nur dem Bürgertum offen stand. Mit einer Sesshaftigkeit in Ostfriesland über mehrere Generationen ist die Familie Blöker in der Region verwurzelt. Eine große Bedeutung von Sicherheit und Wohlstand zeigt sich auch darin, dass beide Brüder von Herrn Blöker-Olbert der Beamtentätigkeit des Vaters folgen. Diese Werte scheinen fest verankert in der Familie und insoweit positiv besetzt, dass sie den Brüdern als identifikatorische Bezugspunkte für den eigenen Lebensweg offen stehen. Die Brüder haben ebenfalls eigene Kinder, was auch für ein gelungenes Familienleben der Blökers spricht. Hier findet keine negatorische Abgrenzung statt. Es kann angenommen werden, dass auch für Frank Blöker-Olbert die Familie eine von Fürsorge und Unterstützung getragene Ausgangserfahrung darstellt. Als drittes Kind in der Geschwisterfolge kann er zwar nicht die volle Aufmerksamkeit der Eltern auf sich ziehen, doch kann er sowohl von der vorangehenden Erziehungserfahrung der Eltern profitieren als auch davon, im ‚Windschatten‘ seiner Brüder größere Spielräume zu erfahren. Frank Blöker-Olbert gehört der gleichen Generationenlagerung wie Bettina Grebe an. Noch stärker als für sie werden in seiner Adoleszenz (ab Mitte der 1980er Jahre) die ‚Grenzen des Wachstums‘ öffentlich diskutiert und für den Einzelnen als Stagnation auf dem Arbeitsmarkt zum Anlass für die Auseinandersetzung mit persönlichen und beruflichen Zielen. Doch gelten auch für Herrn Blöker-Olbert zunächst noch günstige Bedingungen für die erwartbare Verwertung von Bildungstiteln für karriereträchtige Berufswege. Bis zum Ende der 1980er Jahre weist Emden eine Prosperitätsphase auf, die sich laut der Homepage der Stadt u.a. im Bevölkerungszuwachs durch Zuwanderung manifestiert. Dieser 126
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Umstand bestärkt die generationentypische Erwartung, dass sich Bildungsambitionen auch in Berufsperspektiven verwirklichen können. In den Branchen Tourismus, Fischerei, Landwirtschaft und produzierendes Gewerbe zeigt sich eine traditionaler geprägte Wirtschaftslandschaft dieser westlichsten deutschen Hafenstadt an der Emsmündung als es für den Krefelder Raum angedeutet wurde. Die geringe räumliche und soziale Mobilität der Familie spiegelt dies wider. Herr Blöker-Olbert wird 1976 eingeschult und beendet 1991 das Gymnasium mit Abitur, Nierenerkrankung.
Ohne forcierte Leistungsorientierung wird er regulär als Siebenjähriger eingeschult. Im Laufe der Schulzeit wiederholt er zwei Schuljahre aufgrund seiner Nierenerkrankung. Daher macht er im Alter von 21 Jahren Abitur. Seine chronische Niereninsuffizienz11 zwingt ihn zu längeren stationären Krankenhausaufenthalten. Anzunehmen ist, dass ihm durch die Erkrankung zusätzlich zu seinem Status als Letztgeborener besondere Aufmerksamkeit der Eltern zuteil wird. Intensive Fürsorge kann – je nachdem wie ängstlich die Eltern sind – eine einengende Seite haben und die Autonomieentfaltung behindern. Seine Erkrankung entlastet Blöker-Olbert tendenziell von einem Bewährungsdruck. Der Bewährungsdynamik unterliegt er dennoch, die im Rahmen seiner Möglichkeiten auch von ihm Antworten erfordert. Hier wird aufschlussreich sein, inwiefern sich in der Analyse eine Entlastung zeigt und wie er den Raum seiner Möglichkeiten ausfüllt. Herr Blöker-Olbert jobbt nach dem Abitur bei [Automobilhersteller], nimmt 1992 in Duisburg ein Studium der Politikwissenschaften auf, ab 1996 studiert er Sozialpädagogik an der gleichen Universität.
Wegen seiner Erkrankung ist Herr Blöker-Olbert vom Wehr- und Zivildienst freigestellt, studiert aber erst, nachdem er einige Monate eine angelernte Tätigkeit in einem Montagebetrieb der Automobilbranche verrichtet hat. Die verzögerte Aufnahme des Studiums kann sowohl Ausdruck einer Orientierungsphase sein als auch dem Einkommenserwerb dienen, um finanziell selbständig den weiteren Werdegang gestalten zu können. Die Tatsache aber, dass er nach vier Jahren, also beinahe am Ende des ersten Studiums, das Studienfach wechselt, spricht für eine Unentschlossenheit. Denn wenn ein Studium den eigenen Erwartungen und Interessen nicht entspricht, würde ein früherer Wechsel nahe liegen. In der Umorientierung wechselt er von einem eher gesellschaftstheoretischen Fach ohne konkretes Berufsbild zu einem Abschluss für eine er11 Beim Nierenversagen sind die Blutreinigung sowie die Wasserausscheidung gestört, der Körper vergiftet sich von innen. 127
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zieherisch orientierte Berufstätigkeit. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet er sich im 17. Fachsemester, eine für das sozialpädagogische Studium überdurchschnittliche Studiendauer.12 Es zeigt sich hier eine zögerliche Entscheidungsstruktur, wenn es um das Abschließen von Bildungsetappen und Qualifikationsschritten geht. Eine Orientierung auf ein Berufsziel ist nicht erkennbar. Die Studiendauer kann aber auch im Zusammenhang seiner Erkrankung stehen oder dem Vorrang konkurrierender Interessen geschuldet sein. Seit 1996 geht Blöker-Olbert einer Nebentätigkeit in der Gastronomie als Kellner mit Verwaltungsaufgaben nach.
Schon vor dem Studienwechsel hat Herr Blöker-Olbert eine halbe Stelle inne, mit der er seinen Lebensunterhalt finanziert, auch dieser Umstand trägt zur Verlängerung seines Studiums bei. Er macht ihn finanziell unabhängig, aber hindert ihn auch daran, sich ganz auf den Abschluss zu konzentrieren. Zudem arbeitet er fachfern, das heißt er nutzt die Tätigkeit nicht zielstrebig, um etwa in wissenschaftlicher oder praktischer sozialpädagogischer Arbeit seine Qualifizierung mit dem Einkommenserwerb zu verbinden. Daraus lässt sich folgern, dass die Tätigkeit in der Gastronomie auf einer eigenen Motivierung beruht, die sich nicht strategisch – weder zur Weiterqualifizierung noch finanziell – erklären lässt. Die Bedeutung des Studiums (inhaltlich) sowie des qualifizierenden Abschlusses (berufsperspektivisch) ist hier unklar. Ein leistungsethischer, an der Sache orientierter Antrieb innerhalb des Qualifikationsbereichs der Sozialpädagogik scheint nicht stark ausgeprägt zu sein. 1996 zieht er in ein anderes Studentenwohnheim und lernt dort seine spätere Frau kennen, eine Osteuropäerin, geboren 1976 in Deutschland, Politikwissenschaftlerin (Forschungsinstitut). Die beiden heiraten 1998.
Das Jahr 1996 ist neben dem Studienwechsel und der Aufnahme der Kellnertätigkeit von weiteren Veränderungen geprägt, die lebenspraktische Bedeutung erlangen. In der neuen Wohnstatt – Herr Blöker-Olbert wechselt von einem Studentenwohnheim in ein anderes und zieht damit auch mit 26 Jahren das studentisch institutionalisierte Wohnen demjenigen in einer Wohnung vor – lernt er seine spätere Frau kennen. Zwei Jahre später heiraten sie, mit 22 Jahren geht Frau Olbert vergleichsweise früh eine Ehe ein.13 Beide teilen das Interesse an Politikwissenschaften. Im Unterschied zu ihrem Mann führt sie ihr Studium in diesem Fach zu 12 Die mittlere Studiendauer (Median) im Studienfach Sozialpädagogik liegt im Jahr 2005 bei 8,5 Fachsemestern (Statistisches Bundesamt 2007a). 13 Das Erstheiratsalter von Frauen lag 1999 in den alten Bundesländern bei 28,4 Jahren (BMFSFJ 2003: 65). 128
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Ende und findet eine Stelle als Wissenschaftlerin. Der sich andeutenden Zögerlichkeit von Herrn Blöker-Olbert scheint auf ihrer Seite Entschlossen und Zielstrebigkeit gegenüber zustehen. In der Paarbeziehung zeichnet sich eine Konstellation ab, in der Frau Olbert einer klaren Vorstellung von ihrer beruflichen Tätigkeit folgt und die eheliche Bindung als stützenden Rahmen anstrebt, der Altersabstand von sieben Jahren bestärkt diese Lesart. Komplementär dazu findet Herr Blöker-Olbert seine Zögerlichkeit aufgehoben in ihrem Antrieb. Verglichen mit dem Stereotyp stellt das Paar Blöker/Olbert einen Kontrast dar: In der leistungsethischen Bedeutung des Berufs, der Zielstrebigkeit des Abschlusses und der Einmündung in eine qualifikationsadäquate Berufstätigkeit repräsentiert Frau Olbert eine vormals als männertypisch geltende Haltung, die sich bei ihm nicht findet. Geburt der Tochter 2001, ab dem Alter von 6 Monaten Betreuung in einer Kindertagesstätte
Drei Jahre nach der Eheschließung und kurz nach dem Abschluss des Studiums von Frau Olbert bringt sie ihr gemeinsames Kind zur Welt. Mit 25 Jahren ist sie eine junge Mutter14, Herr Blöker-Olbert liegt mit 32 Jahren im Altersdurchschnitt werdender Väter. Sie entscheiden sich zur Familiengründung vor dem Hintergrund ihrer Berufstätigkeit und seinem noch abzuschließenden Studium mit Teilzeit-Beschäftigung. Naheliegend erscheint es hier, dass Frau Olbert an ihrer Erwerbstätigkeit festhält, um das Einkommen zu sichern, aber zu vermuten ist ebenso ein inhaltlicher Antrieb. Herr Blöker-Olbert kann dabei als Student mit Nebenverdienst auf halber Stelle zunächst flexibel für das Kind sorgen. Dass beide Eltern ihre Berufstätigkeit nicht zurückstellen, zeigt sich darin, dass die Tochter mit sechs Monaten in die Betreuung einer Tageseinrichtung gegeben wird. So kann zwar weiterhin Frau Olbert ihrer Berufstätigkeit nachgehen, aber auch Herr Blöker-Olbert übernimmt nicht vollständig die Fürsorge für die Tochter. Fallstrukturhypothese: Herr Blöker-Olbert zeigt ein Entscheidungsmuster der Zögerlichkeit. Besonders deutlich wird dies in Bezug auf seine berufsqualifizierenden Schritte. Im ‚Windschatten‘ seiner berufsorientierten Frau kann er seinen eigenen Vorstellungen ohne Erfolgsdruck nachgehen. Der Beruf ist bei ihm nicht führend in der Sinnstiftung. Mit der Familiengründung sind Entscheidungen getroffen, die ihn in klare Verantwortlichkeiten einbinden und ein weiteres Bewährungsfeld eröff14 Das Alter der Erstgebärenden liegt im Jahr 2001 bei 29,1 Jahren (Statistisches Bundesamt 2006b), dasjenige der Mütter mit akademischem Bildungsgrad ist noch deutlich höher. 129
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nen. Zu den Erfahrungen in seiner Herkunftsfamilie scheint seine eigene Familiengründung in Passung zu stehen. Die wenig zielstrebige und nicht auf einen Beamtenberuf ausgerichtete Perspektive zeugt dennoch von einer Abgrenzungsbewegung zu seiner Herkunftsfamilie, die Ausdruck eines Selbstbestimmungsstrebens ist, aber, sollte sich diese Entscheidung als Gegenreaktion erweisen, einer autonomen Gestaltung seines Lebens entgegensteht. In der Interviewanalyse ist insbesondere zu erschließen, welcher konkrete berufliche Antrieb ihn auszeichnet, worauf sich berufliche Bewährung richtet und in welchem Verhältnis sie zur familiären steht. Woraus speist sich die Haltung der Zögerlichkeit und welche Konsequenzen hat sie für die Antwort auf die Bewährungsfrage in den Bereichen der Familie, des Berufs und gemeinwohlbezogener Tätigkeiten? Lassen sich im Kontrast zur ersten Falldarstellung geschlechtsbezogene Besonderheiten der Sinnstiftung erkennen? Diese Frage zu beantworten, verspricht insbesondere deshalb Aufschluss auf moderne Geschlechterbeziehungen, weil die Fälle Grebe und Blöker-Olbert gängigen, auch traditionalen Formen der Aufgabenteilung und geschlechtsbezogenen Deutungen entgegenstehen.
2.2 Interviewanalyse15 2.2.1 Eingangssequenz 1 I 1 Gut? Ja!(.) Ich würde gerne einsteigen, mit einer Bitte? Und zwar das siie ihre aktuelle Lebenssituation;(.) schildern.(.)
Die Interviewerin zäsuriert ein offenbar vorher laufendes Gespräch, Eröffnungs- oder Begrüßungsformeln, technische Kontrollen oder ähnliches mit einem um Zustimmung bemühten Gut? Sie vergewissert sich nochmals, zu sich selbst gerichtet oder an die Adresse des Interviewten gerichtet (ja!), sodann eröffnet sie das Interview mit der Einladung zu einer Schilderung. Der Interviewpartner erhält Gelegenheit, selbst seinen Akzent zu setzen, was denn seine aktuelle Lebenssituation ausmacht. Der Anstoß ist konkret und zugleich freilassend. Doch enthält er eine Tendenz zu einem eher nach organisatorischen Gesichtspunkten gestalteten Bericht durch die kategoriale Bezeichnung Lebenssituation. 2 BO 1 (tief einatmend) Aktuelle Lebenssituation ist, dass ich äähm; halbtags arbeite? Das ich äh noch eingeschriebener Student bin? Und äh; mein Studium gerade abschließe? Indem ich meine Diplomarbeit jetzt anfange
15 Das Interview wurde im Januar 2005 in meinem Büro erhoben. 130
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zu schreiben? (I: M mh,) Angefangen habe zu schreiben, und ähm;(1) somit sich also ein; Wandel, oder ein Bruch in der Lebenssituation; ähm;(.) (I:Mmh;) auftun wird in Zukunft? (I: Mmh,) Weil eben halt, n Berufseintritt stattfinden, ein anderer Berufseintritt stattfinden wird? (tief einatmend)
Herr Blöker-Olbert nimmt Anlauf zur Beantwortung der Eingangsfrage mit einem tiefen Atemzug, wie es im gesamten Interview sehr häufig vorkommt. In seiner Sinnstrukturiertheit steht die unwillkürliche Rhythmik des Ein- und Ausatmens für den stetigen Wechsel von Außenund Innenorientierung (Scheid 1999: 96). Während sich beim Ausatmen die Muskelspannung löst, wird sie beim Einatmen erhöht, noch gesteigert im hier vorliegenden Fall eines tiefen Atemzugs. Für seine Antwort auf die Frage wappnet sich Herr Blöker-Olbert also, er spannt sich hörbar an. Bei der Darstellung seiner Lebenssituation wird offenbar sein Innerstes berührt. Die Thematik von Autonomie und Bindung ist hier auf der Ebene der Atmungsfunktion und der mit ihr verbundenen Balance von Innen- und Außenorientierung spannungsreich angedeutet. Zunächst wiederholt er die Erzählaufforderung. Er hat seine Antwort nicht parat, sondern wählt aus. In der elliptisch verkürzten Wiederholung der Interviewer-Formulierung zeichnet sich eine Eile ab, die der Fallhypothese aus den biografischen Daten – einer eher zögerlichen Haltung – zu widersprechen scheint. Die Eile kommt auch in seiner hohen Sprechgeschwindigkeit zum Ausdruck, die in der hier schriftlichen Wiedergabe des Interviews nicht erkennbar werden kann. Dieser Widerspruch wird in der weiteren Analyse zu verfolgen und zu erklären sein. In erster Vermutung kann Eile mit seiner mangelnden Entscheidungsbereitschaft einhergehen – etwa in der Kopplung von Zögerlichkeit und Aktionismus –, indem sie Offenheit unmittelbar zu schließen versucht. Das Ausatmen vollzieht sich hier im Sprechen im Gegensatz zu seinem ausholenden Einatmen beinahe hektisch. Die hohe Sprechgeschwindigkeit steht dann mit Zögerlichkeit in Handlungsentscheidungen in Passung, wenn sie als Hinweis auf ein Ungleichgewicht zwischen Außenund Innenorientierung gedeutet wird. Herr Blöker-Olbert nimmt die Ich-Erzählerperspektive ein, die in der Frage auch angelegt ist. Als erstes Charakteristikum thematisiert er seine Arbeitssituation. Er spezifiziert jedoch nicht einen konkreten Beruf, sondern den Umfang seiner Arbeit (halbtags). An solch einer herausgehobenen Stelle (zu Beginn und dazu betont) wird diese Arbeit damit nicht als dominierend markiert. Sie entspricht möglicherweise dennoch einem Gesamt von Lebensinteressen, in dem Arbeit bzw. diese konkrete Arbeit von Bedeutung ist, aber ihren Stellenwert neben anderem Wichtigen einnimmt. In direktem Vergleich zu Frau Grebe, die stets ihre Be131
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reitschaft zur Vollzeit-Erwerbsarbeit betont, ist diese Kennzeichnung hier besonders auffällig. Nicht nur ist eine Halbtags-Beschäftigung für männliche Arbeitsverhältnisse ein untypisches Beschäftigungsmuster, sondern sie galt Frau Grebe explizit zur Abgrenzung von Biografien, in denen der Beruf nicht die führende Bedeutung hat. Herr Blöker-Olbert hat gegen diesen Bezugspunkt offenbar kein Abgrenzungsbestreben, eine Teilzeit-Tätigkeit ist für ihn dagegen positiv besetzt, wie sich als Schluss aus dieser expliziten und prominenten Nennung aufdrängt. Die aus den biografischen Daten gewonnene Hypothese der wenig auf den Beruf bezogenen Sinnstiftung wird hier zunächst bestätigt. Repräsentiert er einen ‚untypischen Mann‘? Steht diese Bezugnahme für eine selbstbewusste Selbstdarstellung im Rahmen moderner, auch auf die Paargestaltung bezogener Lebensführung? Nun müsste logisch folgen, was denn in der anderen Hälfte des Tages seine Lebenssituation ausmacht. Seltsam formal nennt er seinen Studentenstatus (eingeschrieben) als weiteren Bestandteil statt zu sagen: ich studiere (dieses oder jenes). Offenbar hat er mit dem Studium innerlich abgeschlossen, entweder will er es abbrechen oder beenden, denn er betont in dieser formalen Statusbeschreibung, dass er noch Student ist. Dies wird auch sogleich explizit: Er befindet sich mitten im letzten Abschnitt des Studiums, schreibt an der abschließenden Diplomarbeit. Doch zeigt sich eine Unsicherheit darüber, inwieweit er tatsächlich im Abschluss begriffen ist, denn er benötigt zwei Anläufe, um zu betonen, dass er schon angefangen hat mit der Diplomarbeit und nicht erst mit dem Beenden des Studiums beginnen will. Der Abschluss scheint nur noch formal, nicht inhaltlich wichtig zu sein. Ein Ende zu finden, scheint für ihn von übergeordneter Bedeutung zu sein, an dieser Schwelle steht er derzeit. Mit einer Halbtagsstelle im Hintergrund bedarf dieser Schritt einer klaren Entscheidung, dieses Ende auch wirklich zu erreichen. Sofort wird deutlich, dass hierin für ihn ein Problem besteht: Mit dem Ende des Studiums ist er mit einem Wandel konfrontiert, der sich in seiner Spezifizierung zu einem Bruch dramatisiert. Während Wandel ja fortwährend zum Leben gehört, beschreibt ein Bruch ein Ereignis, dass äußerlich oder innerlich etwas Unverbundenes bezeichnet und zu einer Krisenbewältigung zwingt, indem bisherige Routinen zur Lösung neuer Aufgaben nicht hinreichen. In der zeitlichen Zäsur zwischen einem VorStudienende und einem Nach-Studienende gibt es für Herrn BlökerOlbert keine Linie der Erfahrung, welche das Vorher und Nachher verbinden könnte. Man kann an dieser frühen Stelle des Interviews fast annehmen, dass er seinem Studium nicht aus innerem Antrieb folgt, sonst würde das Studienende nicht zu einem Bruch führen, sondern eine Möglichkeit eröffnen, die selbstverständlich mit dem Erfahrenen zu tun hat. 132
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Das betonte auftun verstärkt den Eindruck des Bedrohlichen noch, wie eine Gletscherspalte, die sich vor dem Bergwanderer auftut. Es könnte aber auch eine Ermöglichung kennzeichnen, die zwar mit dem Bisherigen unverbunden ist, aber sich als etwas völlig Neues auftut, eben als Chance. Den Bruch sieht Herr Blöker-Olbert in seinem erwarteten Berufseintritt. Er spricht hier wieder auffallend distanziert in sozialwissenschaftlichen Kategorien, die Lebensphasen abgrenzen. Da er zuvor schon seine Halbtagsbeschäftigung erwähnt hat, liegt seine Korrektur nahe, dass es sich bei diesem Berufseintritt um einen weiteren handelt. Die Tatsache aber, dass er zunächst von Berufseintritt beim Wechsel vom Studium in den Beruf spricht, bestätigt die Vermutung, dass seine bisherige Erwerbstätigkeit eher der Finanzierung seines Lebens respektive Studiums dient. Dennoch führt er den bevorstehenden Berufseintritt nicht als den eigentlichen ein, denjenigen, wofür er sich durch sein Studium qualifiziert hat, sondern als einen weiteren. Deutlich vorrangig in der Bedeutung scheint der zu erwartende Berufseintritt nicht zu sein. Also war die Halbtagstätigkeit auch nicht nur ein Job, ein Mittel zum eigentlichen Zweck. Eben halt unterstreicht den verharmlosenden Blick, den Herr Blöker-Olbert auf diese neue Etappe wirft: es tut sich eben halt ein Bruch auf, das klingt fast beschwichtigend lapidar. 2 BO 1[…] Meine Frau äh,(.) in X-Stadt arbeitet, und äh; wir natürlich jetzt kucken ähm; wie wir unsern, unsere berufliche Zukunft organisiert bekommen. Ob ich in Duisburg bleib; oder ob wir uns vielleicht auch in Richtung X-Stadt bewegen; oder,(.) (kurz tief einatmend) (I: Mmh;) wie wir uns da?(.) Organisieren? werden, ham eine Tochter, das heißt, die hat; brauch auch natürlich ihre, (tief einatmend) da ham auch natürlich ne Verantwortung zu tragen, und ähm,(.) also es is sehr viel zu tun im Moment.(1) (I: Ja, (schmunzelt)) Sehr viel zu koordinieren, aber es klappt sehr gut, und es macht sehr viel Spaß
Der Ansatz mit meine Frau kann sich im Anschluss sowohl auf das weil beziehen, also in unmittelbarer Verbindung stehen zur Art des Bruches. Zu verstehen wäre dies etwa dadurch, dass der Arbeitsort seiner Frau für seinen Berufseintritt bedeutsam ist. Der Ansatz könnte sich aber auch noch auf den Beginn der Antwort beziehen und einen Anschluss an die Lebenssituation herstellen, in dem Sinne, dass zu seiner Lebenssituation gehört, dass seine Frau in X-Stadt16 arbeitet. Beide Lesarten machen die Berufstätigkeit seiner Frau zu einem äußerlichen Umstand für seine Entscheidungen, weisen aber weder seiner Frau noch ihrer Berufstätigkeit 16 Der Arbeitsort seiner Frau liegt im östlichen Ruhrgebiet und wird hier nicht genannt, um die Anonymisierung zu sichern. 133
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eine für ihn relevante Bedeutung zu im Sinne etwa einer Anteilnahme, eines Interesses. Die Arbeit seiner Frau scheint für ihn organisatorisch relevant zu sein. Daraus muss nicht auf eine unlebendige Paarbeziehung geschlossen werden, denn hier kann sich noch die Ausrichtung der Eingangsfrage auf kategoriale Schilderungen auswirken. Herr Blöker-Olbert fährt jedoch mit dem Hinweis auf organisatorische Erwägungen fort, offenbar studiert er (und lebt die Familie) in Duisburg, so dass sich mit dem Ende des Studiums die Frage nach dem künftigen Wohnort stellt. Dabei betrifft die anstehende Entscheidung zunächst nur die berufliche Zukunft. Auch ist hier wiederum kein inhaltlicher Bezug genannt, sondern im Vordergrund steht die Organisation des beruflichen Lebens, die allerdings selbstverständlich gemeinsam geschieht (wir natürlich kucken). Zwischen Duisburg und X-Stadt gibt es geographische Entscheidungsspielräume. Ohne Zäsur wird nun eine Tochter erwähnt. Zwar passt es, sie in der Rahmung der aktuellen Lebenssituation zu nennen, doch steht sie hier thematisch in der Verknüpfung der Organisationsanforderungen. Das zeigt auch die mit ihr verbundene Relevanz, dass sie nämlich etwas hat (möglich wären etwa eigene Interessen am konkreten Wohnort), korrigiert wird aber in braucht auch natürlich ihre. Dann bricht der Satz ab. Denkbar wäre, Herr Blöker-Olbert hat an ihre Bedürfnisse gedacht (sie braucht ihre Freunde, ihre gewohnte Umgebung etc.). Doch dies führt er nicht zu Ende. Die Tochter erscheint also als ein weiterer zu organisierender Bestandteil seiner aktuellen Lebenssituation, was offenbar nicht so klar zu bestimmen, vielleicht auch zu regeln ist. Sie wird tendenziell als Belastung eingeführt. Herr Blöker-Olbert holt Luft, die Spannung steigt wieder, bevor er nach dem abgebrochenen Satz erneut einsetzt. Doch nun fehlt das Subjekt, als sei unklar, wer die Last tragen kann, die Verantwortung, die er und seine Frau haben. Gemeint ist die Verantwortung als Eltern. Nachgeordnet nach der beruflichen Zukunft muss nun irgendwer auch der Tochter gerecht werden. Zäsurierend (und ähm) und neu einsetzend resümiert er in dieser ersten Sequenz, dass seine aktuelle Lebenssituation davon geprägt ist, viel zu tun zu haben. Dabei bezieht er sich jedoch nicht nur auf die aufgezählten Tätigkeiten (Halbtagsbeschäftigung und Diplomarbeit), sondern vorrangig angesprochen im unmittelbaren Kontext sind die anstehenden Entscheidungen (Berufseintritt, Wohnort, Verantwortung für die Tochter), die ihm als viel erscheinen. Doch statt die Entscheidungen nochmals zu thematisieren und zu erläutern, endet er mit einer abstrakten Charakterisierung seines Handelns als Koordinationsaufgabe. Er beschäftigt sich damit, die anstehenden Entscheidungen aufeinander abzustimmen. So macht er sich zum Manager seines Lebens und dem seiner Familie. Stolz ist er darauf, dass ihm die134
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ses Koordinieren gelingt. Betont (sehr) werden nicht nur das Bewältigen, sondern auch die Freude an dieser Art der Herausforderung (Spaß). Fallstrukturhypothese: Herr Blöker-Olbert betont in dieser Eingangssequenz, dass er sein Leben managt. Er sieht Familie, Paarbeziehung und Beruf als Gegenstand von Organisations- und Koordinationsaufgaben. Ein inhaltlicher Antrieb ist noch nicht zu erkennen. Eine Form von leistungsethischem Antrieb deutet sich darin an, die alltäglichen Entscheidungen zum Gelingen zu bringen. Die Fülle von Aufgaben verschafft ihm Befriedigung, ihr ist die Art der Aufgaben nachgeordnet. Im Maßstab des Funktionierens ist eine manageriale Haltung zu erkennen, die aber nicht den Anschein von trostloser Pflichterfüllung, sondern Freude (Spaß) hat. In seiner Gattenbeziehung und Vaterschaft ist er verlässlich (als Organisator) gebunden. Zur These einer gering ausgeprägten inhaltlichen, leistungsethischen Motivation und seiner Haltung der Familie gegenüber als die eines Organisators werden Stellen zur Falsifikation untersucht. Zuvor aber wird der Habitus von Blöker-Olbert anhand seines Umgangs mit der für seine Handlungsmöglichkeiten charakteristischen Erkrankung rekonstruiert.
2.2.2 „Schlüsselergebnis“ – vom Umgang mit der Krankheit Die Interviewerin fragt nach den Konsequenzen, die die Nierenerkrankung für ihn hat. Dabei verdinglicht sie die Krankheit als Äußerlichkeit, die Herrn Blöker-Olbert gegenübertritt wie eine Leistungsanforderung (durch, diese Krankheit eigentlich, äh(.) gefordert warn), als sei die Gesundung eine disziplinerfordernde Leistung. Im Fortgang der Frage wird die Krankheit gelten gelassen als körperliche Verfassung, die Herrn Blöker-Olbert anhält sich zu spüren. Diese Selbstverständlichkeit, sich selber zu spüren, die nicht nur mit einem kranken Körper gegeben ist, so zu betonen, könnte er zum Anlass eines Widerspruchs nehmen. 102 BO 51 Äh; das das war n Schlüsselergebnis, äh äh ääh Ereignis war,
Das Deutungsangebot der Interviewerin löst eine kurze Irritation aus (äh), doch Herr Blöker-Olbert redet schnell weiter (das das), es gab hier offenbar eine besondere Erfahrung, die ihm vor Augen steht. Aber statt des Begriffs ‚Schlüsselerlebnis‘ für eine grundlegende Erfahrung verwendet er Schlüsselergebnis. Wenn aus einem Erlebnis als einer Erfahrung des Selbst ein Ergebnis wird, dann drückt sich hierin eine Distanz zu seinem Selbst aus. In der Begriffskonstruktion wird der Prozess des Aufschließens im Sinnbild des Schlüssels als Instrument des Öffnens oder als Metapher der Eröffnung von etwas – hier der Eröffnung einer Erfahrung – sofort wieder abgeschlossen im Ergebnis. Das Erlebnis, 135
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auch das zugehörige Handeln, das vor ein Ergebnis treten muss, wird getilgt. So gerät der Schlüssel zum Instrument des Abschließens, als sei das Eröffnen von Optionen der Erfahrung ein Problem. Wie oben schon vermutet, bereitet es Herrn Blöker-Olbert Schwierigkeiten, vor Optionen und Entscheidungen zu stehen. Diese Sequenz zeigt nun darüber hinaus, dass er die Krise einer Eröffnung nicht aushalten kann. Das bestätigt sich nochmals in seiner Umformulierung. Statt sein Selbst im Erlebnis zu thematisieren, spricht er von Ereignis, das sich gänzlich außerhalb seines Selbst vollzieht. Nun beschreibt er das Ereignis. 102 BO 51 […] eigentlich so ähm;(1) irgend son völlich äh;(1) arroganter, Arzt,
Herrn Blöker-Olbert fällt es schwer, ein konkretes Ereignis zu benennen (eigentlich irgend son). Von einem völlig arroganten Arzt fühlt er sich von oben herab behandelt. Er bringt ihn in der drastischen Formulierung auf eine Distanz, grenzt sich nicht nur von ihm und seinem beklagenswerten Auftreten, sondern in dieser Ablehnung zugleich auch von dem Gesagten, also etwa der Analyse, Diagnose und den Therapievorschlägen des Arztes ab. Wenn dieser Arzt nicht ernst zu nehmen ist, kann Herr Blöker-Olbert auch seine Ratschläge ignorieren. 102 BO 51 […] der sachte,(.) sie, sollten-; kein Sport machen, sie sollten einfach aufhören; sich überhaupt körperlich anzustrengen. Weil das, könnte ihr Tod sein.(1)
Nun wird deutlich, dass der Arzt recht zurückhaltend einen Rat formuliert (sollten), nicht aber – wie nach der Einleitung erwartet werden konnte – sachlich unangemessene Maßnahmen verordnet. Sport und körperliche Anstrengung sind dem Krankheitsbild entsprechend aus der Sicht des zitierten Arztes also gesundheitsgefährdend. Es handelt sich um einen ernst gemeinten Rat, der um so mehr angebracht erscheint, als in der Wiedergabe der ärztlichen Äußerung zum Ausdruck kommt, dass sich Herr Blöker-Olbert üblicherweise körperlich anstrengt, womit er aufhören soll. Die Begründung ist existenziell, die Krankheit kann lebensbedrohlich werden, wenn er sein Leben nicht darauf einstellt. Doch solche Bedingungen, überhaupt ein Einstellen auf die Krankheit scheint Herrn Blöker-Olbert zu viel der Anpassung zu sein. 102 BO 51 […] +So da dacht ich mir, (I lacht abgehackt)+ äh; ja, da dacht ich mir, äh ä is ja gerade, ä wieder der größte, Unsinn; dann- (I: Ja,) wenn es denn sowieso- so sein soll,te; dann möchte ich doch wenigstens sagen, aber dann hab ichs auch geno,ssen; bis dahin. Ne? (I: Ja;) Und dann hab ich angefangen Squash zu spieln; und all solche Sachen,
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Herr Blöker-Olbert zieht einen eigenen Schluss (dacht ich mir), der seinen Widerstand schon andeutet (so im Sinne von: jetzt reicht´s, jetzt zeig ich´s euch). Im Lachen der Interviewerin spiegelt sich der ironische Tonfall seiner Darstellung. Lachend unterstützt sie seine Ablehnung der ärztlichen Vorsicht, die hier als Lebensverbot überzogen dargestellt wird. An seinem kommentierenden ja ist zu erkennen, dass Herr BlökerOlbert das Lachen auch als Unterstützung versteht. Er beurteilt die Einschätzung des Arztes als größten Unsinn, den er offenbar schon öfter gehört hat (wieder). Nun könnte sich hier eine starke Selbstbestimmung zum Ausdruck bringen, ein ungeheurer Wille nach autonomer Lebensgestaltung und Entscheidungsfindung. Herr Blöker-Olbert könnte zum Beispiel zu dem Schluss kommen, sich ein alternatives Urteil bei einem zweiten Fachmann einzuholen. Doch er verweigert dem Arzt und seiner fachlichen Urteilsfähigkeit die Anerkennung, indem er sich über ihn hinweg setzt und sich selbst zum Fachmann erhebt. Um seine (fachliche) Überlegenheit plausibel zu machen und seine folgende Entscheidung zu rechtfertigen, müsste er nun seine eigene Schlussfolgerung begründen. Doch er verengt die Äußerung des Arztes darauf, dass ihm die Krankheit sowieso den Tod bringt, lässt dabei aus, dass der Arzt dies nur unter der Bedingung zu befürchten gab, dass Herr Blöker-Olbert sich körperlich anstrengt, und zieht daraus seinen Schluss: Wenn er sowieso stirbt an der Krankheit, dann will er vorher richtig gelebt haben. Leben heißt für ihn in diesem Zusammenhang Genuss, also eine konsumierende Haltung. Genießen lässt sich etwas sinnlich Wahrnehmbares (Essen, Musik, der Anblick einer betörenden Landschaft etc.), das man in sich aufnehmen kann, das man im weitesten Sinne verzehren kann. Das Selbst, das hier so richtig leben will, bedarf der Aufnahme von etwas Äußerlichem. Die gesteigerte Luftzufuhr in seinen Atemzügen steht in diesem Funktionszusammenhang. Darin ist das Thema der Anerkennung virulent: Das Ersatzmittel äußerlich zugefügten Genusses lässt sich als eine Reaktion sehen auf mangelnde Anerkennungserfahrungen, die die Lebenserfüllung von innen her ermöglichen würden. Sein Beispiel Squash ist ein exzessiver Sport, der durch kurze schnelle Antritte beim Ringen um den siegenden Schlag enorme Schnelligkeit und Ausdauer verlangt. Im Zweikampf geht es auch darum, sich selbst zu behaupten als Sieger. Herr Blöker-Olbert scheint sich selbst etwas beweisen zu müssen. Dass er einen physisch stark beanspruchenden Sport beginnt, obwohl ihn der Arzt explizit davor gewarnt hatte, kann nicht als Beleg für eine herausgehoben autonome Entscheidung gelten, denn in der Zuwiderhandlung gegen den ärztlichen Rat ist sie trotzig und bleibt in der Abgrenzung noch bezogen auf den Arzt. Insofern handelt es sich um eine Entscheidung in Abhängigkeit. 137
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104 BO 52 Ja das war irgendwie so; in ner, in so wirklich da war äh pubertä Pubertät, sechzhn(.) sechzehn, und dann hab ich mir einfach gesacht, ok; (I: Jetzt zeig, +ichs denen, ja;) jetzt erst recht,+ jetzt werd ich Schulsprecher? Jetz mach ich das, (I lacht) jetzt tret ich bei den Grünen; ein? (I lacht) Und äh(.) geh saufen, und äh äh oder geh auf Feten, trink doch, Alkohol; in Maßen? Natürlich? Aber ich +(I: Ja; ok, ja?) fang doch an was zu tun,+ (tief einatmend) äh; oder ich mach auch mal ne Nacht durch, und seitdem war? Das halt so? Das ich sachte, oder halt irgendwie halt, meine Eltern sachten, hach je du machst doch nur? (mit hoch verstellter Stimme gesprochen) Du muss zum; sache ja, und jetzt mach ich eben halt,(1) Squash,(.) bums.
Die trotzige Art der Abgrenzung und Entscheidungsfindung, die sich hier nochmals verdeutlicht (jetzt erst recht), passt zu dem angegebenen Alter der Adoleszenz. Der 16jährige ist in der Phase der Ablösung und Suche nach dem eigenen Lebensentwurf. Doch seine Art der Entscheidungsfindung hat sich auch später nicht gewandelt zu einer stärker autonomen, denn sein Versprecher Schlüsselergebnis ist ja aktuell formuliert. Auch seine enorm hohe Sprechgeschwindigkeit macht nicht den Eindruck einer inzwischen vollzogenen Ablösung und größerer Gelassenheit in der Frage eines für ihn angemessenen Verhältnisses zwischen krankheitsbedingter Anpassung und unabhängiger Gestaltung seines Lebens. Sein Redefluss wirkt wie eine Fluchtbewegung. Noch heute scheint er in einer Abwehrhaltung zu verharren und die Krankheit nicht als seine Seinsweise anerkannt zu haben, sondern sie zu agieren. Die Aufzählung seiner Aktivitäten – Schulsprecher, Mitgliedschaft bei den Grünen, gemeinsames Feiern, Alkohol, durchgefeierte Nächte und sein Sport – zeigt seinen Wunsch nach einer Verankerung in der Peergroup, der offenbar zuvor nicht erfüllt war. Auch in der PeergroupVerankerung drückt sich seine Suche nach Anerkennung aus. Geben Alkohol und Feiern noch ein Beispiel für oben genannten Genuss, so steht sein schul- und parteipolitisches Engagement auch für eine programmatische Ausrichtung. Als 16jähriger sucht er hier früh einen Standpunkt und politische Aktivität. Diese ist strukturell gemeinwohlbezogen, also meint er oben entweder Genuss nicht egozentrisch, sondern er genießt die Aktivität im übertragenden Sinne als ein nützliches Tun, oder der führende Antrieb seines Eintretens für eine politische Programmatik speist sich noch aus der vordergründig ichbezogenen Suche nach Anerkennung. Diese These wird unten geprüft.
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2.2.3 Zur Bedeutung des Berufs Berufswahl Zunächst vertieft jedoch folgende Sequenz Herrn Blöker-Olberts Sicht auf seine Krankheit und seine Art Entscheidungen zu treffen. Die Interviewerin bezieht sich auf vorangegangene Stellen, in denen er seinen Studienabbruch des Politologiestudiums erwähnte. Ihre Frage hebt auf Motive ab, die zum Abbruch des Studiums geführt haben, obwohl es für ihn doch passend erschient aufgrund seines politischen Engagements und Interesses. 60 BO 30 (tief einatmend) Da da kams, ich glaub da kams, einfach so auch langfris; was machste; eigentlich damit. Mit diesem, (I: Jaa,) das is ja im sozialwissenschaftliches Studium, is ha, hat ja irgendwie nicht zielgerichtet in der; im im im Abschluss dann.(tief einatmend) Und da, war ich ja wirklich kurz vor der Diplomarbeit, wo ich dann sachte; äh; (.) nee! Is es nich. (leise)
Die Antwort fällt ihm nicht leicht, denn er muss sich zunächst hörbar Luft verschaffen. In kams ist ein äußerlicher Vorgang enthalten. Es kam irgendetwas auf ihn zu oder ihm kam etwas in den Sinn. Doch das Es bleibt unbenannt. Einfach so kommt ihm eine Überlegung, die im Gegensatz zu dem scheinbar einfachen etwas sehr Grundlegendes zur Überlegung gibt: die langfristige Berufsperspektive. Erst zum Ende seines Studiums (kurz vor der Diplomarbeit) macht er sich Gedanken über sein Ziel. Der sozialwissenschaftliche Abschluss qualifiziert nicht für einen konkreten Beruf. Dem Absolventen ist es überlassen, sich selber ein Berufsbild zu entwerfen und ein Berufsfeld zu erschließen. Oft geht dies einher mit zusätzlichen Qualifikationen (Aufbaustudien, Praktika, Praxisprogramme für Berufseinsteiger etc.) oder ‚on the job‘-Kenntnissen in konkreten Praxisfeldern, sei es Beratung, Expertise, Wissenschaft. Die Entscheidung, welchen konkreten Beruf jemand ergreift, fällt also beim sozialwissenschaftlichen Studium nicht bei der Wahl des Faches (wie es etwa bei Medizin oder Jura eher gegeben ist), sondern nach vollzogenem Studium und entsprechend des darin eingeschlagenen Weges, der getroffenen Schwerpunktsetzungen und gesammelten Praxiserfahrungen. Eine inhaltliche Weichenstellung hinsichtlich der späteren Berufspraxis hatte Herr Blöker-Olbert offenbar nicht vorgenommen. Was es nicht ist, bleibt in dieser Passage offen. Es kann entweder dafür stehen, dass die durch das Studium allgemein eröffneten Perspektiven nicht zu ihm passen. Dann müsste er aber konkrete Vorstellungen entwickelt haben, worauf nichts hindeutet. Oder, wahrscheinlicher, die Offenheit an sich ist für ihn ungeeignet. Das bestätigt die oben herausgearbeitete Fallstruktur. Wie unklar ihm dieser Entscheidungsprozess ist, zeigt sich in 139
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den unvollständigen Sätzen, mit denen er sich bruchstückhaft einer Erklärung annähert, ohne einen Grund angeben zu können. Angesichts dessen, dass der Studienabbruch neun Jahre zurück liegt und ihn dieses Studium vier Jahre beschäftigt hat, ist das erklärungsbedürftig. Die Fallstrukturhypothese einer Entscheidungsschwäche und von Problemen im Umgang mit Offenheit, bestätigt sich hier. Und da hat ich wirklich das Glück, das muss; das behaupt ich einfach; das sag, ich auch so; das is auch so gemeint, wie ichs dann meine; als Glück, (tief einatmend) das äh; bei mir Nierenversagen, n gesundheitliches Problem; dazwischen kam, wo ich wirklich, äh; raus,geschossen worden bin; aus allen,
Was Herr Blöker-Olbert hier Glück nennt, ist eine innere Vergiftung. Mit dem akuten Nierenversagen schwebt er in höchster Lebensgefahr. Als müsse er sich selbst davon überzeugen, wiederholt er den Zusammenhang seiner Krankheit mit Glück zweimal. Das Selbstsuggestive zeigt sich insbesondere in der Formulierung das is auch so gemeint, wie ichs dann meine, die eine tautologische Selbstbeschwörung darstellt, unterstrichen darüber hinaus durch die Reihung: das behaupt ich, das sag ich, das mein ich. Das gesundheitliche Problem hat ihm eine Entscheidung abgenommen. Diese Entlastung erlebt er selbst unter Lebensgefahr als Glück. Dass aber die Krankheit nur dazwischen kam, also zwischen seine Unzufriedenheit mit dem Studium und der nötigen Konsequenz daraus, lässt seine Ahnung vermuten, dass für ihn diese Entscheidung bevorstand. Doch es kommt zu dieser Entscheidung nicht, weil ihn die Krankheit rausschießt. So hat die Krankheit ‚entschieden‘. Er nutzt sie als Entlastung aus Entscheidungen. Angenommen als Teil von ihm, als zugehörig zu seinem Leben hat er sie nicht. Vor diesem Hintergrund – des trotzigen Agierens der bedrohlichen Krankheit, ihrer Verfremdung als Entlastung aus Entscheidungssituationen, und des Problems, mit der Offenheit von (Entscheidungs-, Eröffnungs-)Krisen umgehen zu können – ist seine Autonomieentfaltung zu sehen. Die ursprüngliche, direkt nach dem Führen des Interviews entstandene These, Herr Blöker-Olbert könnte möglicherweise gerade wegen der Erfahrung seiner Krankheit einen Fall darstellen, dem es gelingt, sich über geltende Normen – zum Beispiel eines Berufserfolgs als dominierendem männlichen Bewährungsmythos – hinwegzusetzen und zu selbstbestimmten Entscheidungen zu gelangen, sein Leben nach authentischen Maßgaben in seiner Vaterposition ebenso wie als Student, Gastronom, angehender Sozialpädagoge sowie in anderen Feldern gemeinwohlbezogenen Engagements zu gestalten, muss an dieser Stelle als falsifiziert betrachtet werden. Eine leistungsethische Hingabe an selbst 140
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gesteckte Ziele und ausgewählte Aufgaben ist unter dieser Entscheidungsstruktur nur eingeschränkt möglich. Das Allgemeine an dieser spezifischen Fallstruktur zeigt sich als Anforderung an das Subjekt, einen eigenen Lebensentwurf zu entfalten und auch unter erschwerten Bedingungen einer chronischen Krankheit so weit wie möglich die Handlungsoptionen für eine autonome Lebensführung auszuschöpfen. Zwar entlastet Herrn Blöker-Olbert seine Krankheit aus grundlegenden Entscheidungen, doch ist er von diesen nicht enthoben. Obgleich die Nierenerkrankung ihm eine allgemein akzeptierte Begründung erlaubte, die Messlatte seines Erfolgs tiefer zu hängen, ringt er doch um ein hohes Maß an Selbstbestimmung in seiner fallspezifischen Form. Wie weit seine Sachorientierung reicht, soll anhand der folgenden Sequenzen rekonstruiert werden. In einem eigenen „Anspruch“ könnten ein leistungsethischer Antrieb und sein persönlicher Maßstab des Gelingens zum Ausdruck kommen.
„Mein Anspruch“ – leistungsethischer oder äußerlicher Antrieb? Vor der nachfolgend analysierten Sequenz hatte Herr Blöker-Olbert ausgeführt, wie er als Mitglied im Förderverein des Kindergartens seiner Tochter die Elternaktivitäten gestaltet. Die Interviewerin hatte dies als „sehr engagiert“ bezeichnet, worauf er nun erwidert. 216 BO 108 Das is aber auch mein Anspruch; denk ich mir, äh; von von äh, von äh; (tief einatmend) von ganz normaler Mitsprache. +(I: Ja,) Ich ich+ find es nur einfach blödsinnich; mein Kindergartenbeitrach zu überweisen, und so zu sagen, sie machen das schon? (tief einatmend) Und sich dann vielleicht äh über Erzieheer, oder über die Leitung auszukotzenn, äh; weil, sie wiederum; irgendwas nich gemacht haben. Ich denk dann aber ja, und wie,so;(.) weil? Ich mein Beitrach;(.) zahle.(.) Und ähäh weil, ich auch das und das mache, hab ich auch n Recht; Ideen mit einzubring.
Herr Blöker-Olbert reagiert auf das Lob seines herausgehobenen Engagements mit einer Bestärkung und einer relativierenden Vermutung (denk ich mir) über seine eigene Motivation für die Tätigkeit. Er folgt demnach seinem Anspruch. Ein Anspruch kann in zwei Sinnzusammenhängen stehen: Im ersten bezeichnet er einen Rechtsanspruch auf zum Beispiel Rente oder auf einen Verteidiger im Klagefall etc. Er ist gebunden an eine institutionalisierte Ordnung und kodifiziertes Recht als Garant des Individualschutzes und als Ausdruck der Anerkennung der Autonomie des Individuums. Im zweiten Sinnzusammenhang wird Anspruch auf die Lebenspraxis bezogen, entweder als Anspruch an sich selbst oder als Anspruch an andere. Der externe Charakter wie er im Fall 141
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des verbürgten Schutzes durch eine Instanz wie etwa die Justiz, die Sozialpolitik oder allgemein das politische Gemeinwesen sachlich angemessen ist, wird hier aber zum Problem. Das zeigt sich zum einen in dem Fall, wenn Ansprüche an jemand anderen formuliert werden, die nicht Rechtsansprüche darstellen. Wenn etwa jemand gegenüber einem Freund von Ansprüchen spricht (‚es ist aber mein Anspruch, dass du mir beim Renovieren hilfst‘), wird Reziprozität (die sich allenfalls in Erwartungen ausdrücken könnte, die enttäuscht werden können und die man nicht einfordern kann) einseitig aufgekündigt. Das von außen heran getragene Ansinnen kommt einer Forderung gleich, die eine symmetrische Beziehung untergräbt. Auch in der positiv gemeinten Auszeichnung der eigenen Haltung etwa in der Rede von ‚ich habe hohe Ansprüche‘ wirkt der Charakter des Anspruchs als etwas von außen Gesetztes. Das Unlebendige daran wird deutlich beim Vergleich der Aussagen ‚ich habe hohe Ansprüche an meine Vorträge, sie sollen klar formuliert sein‘ gegenüber der Formulierung ‚ich versuche, meine Vorträge klar zu formulieren‘. Im ersten Fall steht ein formales Kriterium im Vordergrund, das an das eigene Handeln angelegt wird, ohne auf das tatsächliche Handeln einzugehen. Im zweiten Fall wird das Handeln unmittelbar qualifiziert und bleibt als Tätigkeit erkennbar. Ein Anspruch bringt eine Regel zum Ausdruck. Die Instanz, die sich hier meldet und die Regel vorbringt, ist jedoch nicht verinnerlicht im Unterschied etwa zum Gewissen, das eine innere Repräsentanz der Sittlichkeit darstellt und in Beziehung steht zu Geboten der Lebensführung wie z.B. der Achtung des Lebens. Hier wird deutlich, dass Ansprüche etwas sind, die jemand von außen als Abstraktum an sich (oder andere) anlegt, sie sind keine vom Selbst hervorgebrachte selbstverständliche Handlungsmaxime. Nur die Entscheidung, sich vom Abstraktum leiten zu lassen, folgt einem inneren Antrieb. Ansprüche zu formulieren, beschreibt damit einen Habitus, der Handeln abstrakten Orientierungen und prinzipiellen, von außen herangezogenen Forderungen folgen lässt. Wie oben für den Topos Genuss thematisiert als äußerlich zugefügtes Surrogat für innerlich erfahrene Anerkennung, die das Selbst stabilisiert, verweist auch der Bezug auf Ansprüche auf eine mangelnde Anerkennungserfahrung des Selbst als Wert an sich. Ansprüche kompensieren hier mit äußerlichen Maßstäben und Orientierungen eine innere SelbstUnsicherheit. Indem Herr Blöker-Olbert hier einen Anspruch von statt einen Anspruch auf (z.B. auf Elternmitbestimmung) nennt, deutet sich der zweite Sinnzusammenhang an, der Selbstanforderung und nicht der Rechtsansprüche. Da ein Anspruch für sich genommen keine Inhalte konkretisiert, sondern Ausdruck einer Wertigkeit, eines Maßstabs ist und damit 142
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einen regelhaften Umgang mit Gegebenheiten jeglicher, erst noch zu spezifizierender Art ermöglicht, muss auch Herr Blöker-Olbert hier erst nach einer genaueren Bestimmung suchen, worauf sich sein Anspruch bezieht und worin er besteht (einige äh). Der tiefe Atemzug deutet darauf hin, dass dieser Aspekt Wesentliches berührt. Das Ansinnen der Interviewerin, sein Engagement lobend zu erhöhen, weist er zurück durch die Betonung, sein Anspruch beziehe sich auf etwas ganz Normales, nämlich auf Mitsprache. Indem Mitsprache ein satzungsgemäß verbürgtes Recht ist, rückt hier die erste Konnotation des Rechtsanspruchs in den Vordergrund, basierend auf seiner Beitragszahlung und dem Betreuungsverhältnis zwischen der Institution und seinem Kind. Er zieht durch den gewählten Anschluss von (statt auf) dennoch beide Sinnzusammenhänge zusammen, denn eine Erklärung seines praktischen Engagements liefert der bestehende Rechtsanspruch noch nicht. Von Anspruch zu reden, ist hier nur verständlich, wenn er damit auch seine Haltung meint: Demnach ist es ihm wichtig, bei der Konzeption und Gestaltung des Kindergartens mitzuwirken und zwar nicht in erster Linie, weil er sich inhaltlich angetrieben fühlt, sondern weil er seinem abstrakten Anspruch folgt. Herr Blöker-Olberts Engagement folgt sowohl satzungsgemäß verbürgtem Recht als auch seiner regelhaften Selbstanforderung. In seiner Aktivität versöhnt sich ein innerer Antrieb, sich selbst auferlegten Ansprüchen zu folgen, mit einem legitimierten Gebot des Handelns. Insofern ist diese Sequenz kein Beleg für ein Engagement, das einer sachgebundenen Motivation folgt. Daran ändert auch seine Abgrenzung von solchen Eltern nichts, denen er unterstellt, sie würden mit ihrer bloßen Beitragszahlung auch ihre Erziehungsverantwortung abgeben. Denn damit weist er nur deren Passivität als Möglichkeit für sich selbst prinzipiell zurück. Hier deutet sich eine schematische Orientierung an Aktivität als Selbstzweck an. Seine Form leistungsethischen Antriebs ist eine abstrakte, sie folgt einer Pflichtethik der Erfüllung von Selbstanforderungen. Insofern ist sie als moderne Pflichtethik zu bezeichnen – in Abgrenzung zu einer traditionalen Pflichtethik (Weber 1980: 361) –, da sie nicht fremden, sondern eigenen Ansprüchen gehorcht. Was kennzeichnet seine Ansprüche konkret und was sagt die Art seiner Pflichterfüllung im Sinne der Selbstverpflichtung aus über das Allgemeine eines Bewährungsmythos, auf den Herr Blöker-Olberts Antrieb Bezug nimmt? In einer weiteren, im Interview der zuerst zitierten vorangehenden Stelle ist ebenfalls sein Anspruch thematisch. Die Sequenz eignet sich sowohl für eine Konkretisierung als auch für einen Falsifikationsversuch, weil hier von einem Wandel des Anspruchs die Rede ist. Zwar bleibt die Haltung – Ansprüchen zu folgen – gleich, doch 143
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zeigt die Veränderung möglicherweise eine Beweglichkeit der Schemata, aus denen die Ansprüche erwachsen. Die Interviewerin resümiert hier ihren Eindruck von Herrn Blöker-Olberts Umgang mit seiner Nierenerkrankung als einem solchen, der sich durch seine Erfahrung als passend erwiesen habe. Der inhaltliche Bezug ist die seine Entscheidung, sich über den ärztlichen Rat einer Zurückhaltung vor Anstrengung hinwegzusetzen und zu tun, was ihm wichtig und richtig erscheint. Einige Sätze mit Beispielen, die Herr Blöker-Olbert darin bestätigen, dass er sich mehr zutrauen kann als es der Ansicht des Arztes oder auch seiner besorgten Eltern entspricht, sind hier ausgelassen. Die Frage der Interviewerin resümiert nun die geschilderte Erfahrung mit einem Impuls auf die Bestätigung seiner Haltung. 113 I 57 Ja. (leise)(2) Klar, und durch die eigene Erfahrung, hat sie, das ja bestäticht; auch in dem Weg. Ne? 114 BO 57 Ja,(.) das mach ich ja, also bis heute; mach ich das auch so. (leise nuschelnd) (tief einatmend) Und äh, dadurch sind, hat sich glaub ich auch so; mein Anspruch; äh glaub ich auch, verändert. Eben halt nich unbedingt, äh (tief einatmend) irgendwo hinzuwollen wo man dann stagniert, und äh sei, es; ä Heimleiter in einer Sozialeinrichtung? Oder?(1) (I: Mmh,) Wo man dann nnur noch; administrativ arbeitet, sondern eben sacht; einfach die Bewegung auch halten; die Forderung auch halten,
Dem Interpretationsangebot einer konsistenten Erfahrung stimmt Blöker-Olbert zu (ja), auch er fühlt sich bestätigt. Statt die angesprochene Erfahrung weiter auszuführen, fasst er sie mit einem schematischen Verweis (das) zusammen. Bis heute folgt er dieser Routine, die unterstellte Kontinuität ist vorhanden und resultiert aus einer konkreten Erfahrung des Gelingens. Doch indem er die Routine im Präsens formuliert, erhält sie einen prinzipiellen Charakter, der den erfahrungsgesättigten Gehalt dominiert. Für letzteres hätte Blöker-Olbert im Perfekt zum Ausdruck bringen müssen, dass er sich bisher (bis heute) so verhalten hat. Über eine aktuelle Entscheidungssituation schon zu urteilen, wie er in ihr agiert, unterstreicht das Regelhafte und fraglos in der Gegenwart Geltende. In der forcierten Bestätigung seiner Routine kommt zum Ausdruck, dass es aber in aktuellen Entscheidungen Fraglichkeiten gibt hinsichtlich der Passung bisheriger Routinen: beschwörend wirkt die wiederholende Unterstreichung, dass er es auch heute so macht. Denn im auch ist zusätzlich zur bisher thematischen fraglosen Kontinuität noch die Bestätigung für eine singuläre, aktuelle Situation gegeben. Die in aktuellen Entscheidungen immer vorhandene Offenheit der zu findenden Lösung wird durch das beschwörende Beharren auf der bewährten Rou-
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tine sogleich geschlossen. Hier liegt die gleiche Struktur vor wie anhand des „Schlüsselergebnis“ rekonstruiert. Nun setzt Herr Blöker-Olbert an, Konsequenzen zu nennen (dadurch). Von sind korrigiert er in hat sich, die Denkbewegung geht also von konkreten Ergebnissen oder Folgen (z.B.: sind mir viele Untersuchungen erspart geblieben) hin zu einer sich reflexiv vollziehenden Einzelerscheinung (z.B.: hat sich mein Selbstbewusstsein entwickelt). Nun wird er zurückhaltend (glaub ich) und vage (auch so), schwächt also das ab, was nun kommt, nennt aber etwas für ihn Zentrales: mein Anspruch. Dieser Anspruch ist nicht entstanden, sondern war zuvor auch schon vorhanden, aber in anderer Form oder mit anderem Inhalt, er hat sich aber verändert. Der Anspruch wird hier wie eine Eigenschaft behandelt (etwa gleichbedeutend mit: meine Beweglichkeit hat sich verändert oder: meine Einstellung hat sich verändert), entspricht aber im Unterschied etwa zum Gewissen nicht realiter einem Teil von sich. Dieser könnte auch keiner Änderung unterliegen, weil er verinnerlicht mit einer Person verwachsen ist. Da der Bezug hier die seiner Routine zugrunde liegende Erfahrung ist, trifft die Bezeichnung Anspruch hier nicht, worum es geht: Was Herr Blöker-Olbert Anspruch nennt, ist seine Haltung. Das wird im Fortgang der Sequenz auch darin deutlich, dass er nun von Zielen spricht, die er gleichwohl als Anspruch bezeichnet, und nicht mehr von abstrakten Maßstäben. Die bedeutsame Veränderung (seiner Haltung) muss also infolge des Schlüsselerlebnisses eingetreten sein. Herr Blöker-Olbert schildert in Abgrenzung zum alten seinen neuen Anspruch, allerdings ebenfalls zurückhaltend (eben halt nicht unbedingt). Schon die Formulierung des alten Anspruchs, fällt ihm nicht leicht (äh, tiefes Einatmen). Früher war er demnach jemand, der unbedingt irgendwo hinwollte. Die räumliche Bestimmung eines unbestimmten Ziels (irgendwo), das aber dringend erreicht werden sollte (unbedingt), weicht in der folgenden Erklärung einer beruflichen Position (Heimleiter einer Sozialeinrichtung). Dieses Beispiel dient BlökerOlbert als Negativfolie seiner Abgrenzung. Aus dem Komplex des Verantwortungs- und Tätigkeitsbereichs eines Heimleiters fokussiert er abwertend auf die Statusposition und die für ihn uninteressante Aufgabe (administrative Arbeit). Die Tatsache, dass er das Erreichen eines beliebigen Ziels mit Stillstand (Stagnation) gleichsetzt, ist aufschlussreich: In seiner Unbestimmtheit muss ihm das Ziel äußerlich bleiben. Ein Gefühl der Stagnation, die bei äußerlichen Zielen daher rührt, dass man sich die Sache, um die es geht, nicht zu eigen gemacht hat, hält Herr BlökerOlbert aber für eine Folge der unbedingten Zielorientierung, in seinem konkreten Beispiel einer Karriereorientierung. Er nimmt an, die Heraus-
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forderung sei vorüber, wenn man auf einer Position angekommen ist, als könne man schon im Vorhinein wissen, wie erfüllend eine Tätigkeit ist. Mit sondern wechselt Herr Blöker-Olbert nun vom negativ abgegrenzten alten zum positiv besetzten neuen Anspruch. An die Stelle seiner früheren Zielorientierung tritt als neuer, allerdings abgeschwächt formulierter (eben, einfach) Anspruch die ewige Bewegung und Anforderung an sich selbst. Wie durch eine Trainerstimme dringt dieser Anspruch an ihn heran (sacht): Bewegung halten, Forderung halten. Das unbestimmte, aber unbedingt zu erreichende Ziel ist nun vollständig ersetzt durch eine ebenso unbestimmte wie unbedingt zu vollführende Aktivität. Die oben schon verdeutlichte Abstraktion wird hier nun offensichtlich: Herr Blöker-Olbert folgt abstrakt seiner Selbstanforderung als Selbstzweck. Das hier virulente Thema ist seine Autonomie. Herr Blöker-Olbert ringt mit einer selbstbestimmten Gestaltung seiner lebenspraktischen Entscheidungen. Dabei macht er sich abstrakte, in Ansprüche gekleidete Maßstäbe zunutze, um einer Fremdbestimmung äußerlicher Zielsetzungen und mit ihnen verknüpfter Stagnation zu entkommen. Die ihnen unterliegenden Deutungsmuster folgen deutlich auf Leistung bezogenen Antrieben, die oben als moderne Pflichtethik bezeichnet wurden. Die Selbstbestimmung steht aber immer im Zusammenhang der herrschenden Anerkennungsordnung, da die getroffenen Entscheidungen einer Evidenz bedürfen, um als gültig anerkannt und wertgeschätzt zu sein. In Blöker-Olberts Anstrengungen, innerhalb der Anerkennung versprechenden Gemeinschaft seine Entscheidungen so zu treffen, dass sie für ihn authentisch – richtig und gut – sind, lassen sich nun Spuren allgemeiner Deutungsmuster über eine sinnstiftende Lebensausrichtung herauskristallisieren. Welche Art Selbstbestimmung ihm vorschwebt und möglich ist, zeigt die folgende Sequenz, direkt im Anschluss an die vorherige. Die Interviewerin fragt nach, warum ihm eine gesicherte Position zu erreichen, die einigermaßen Freude macht, nicht als erstrebenswert erscheint. 116 BO 58 Ich hab, äh; i ig äh ä sch glaube gelernt, oder ich ich habe; gelernt; es dass es sehr wichtich is, ähm;(1) sich selber; sehr ernst glaub ich auch zu nehmen, und zu kucken, äh, (kurz tief einatmend) nich immer nur äh äh; zu kucken, was w was fordert, so das Umfeld, von eim. Welchen Ansprüchen möchte ich gerecht werden, (tief einatmend)
Zunächst scheint Blöker-Olbert darauf eine klare Antwort geben zu können (ich hab), doch erweist es sich als nicht so einfach. Er braucht viele Ansätze, bis er sehr vorsichtig (glaube), dann aber entschieden (betontes habe, ohne glaube ich) von einem Lernergebnis spricht. Er bringt 146
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seinen Lernerfolg auf die Formel, es sei sehr wichtig, sich selber sehr ernst zu nehmen, abgeschwächt durch den Einschub glaub ich auch. Sich selber wichtig zu nehmen, ist aber nicht nur eigentlich selbstverständlich, sondern auch die Grundlage, um überhaupt ein authentisches, autonomes Leben führen und mit anderen angemessen, nämlich im rechten Maß von Einlassen und Abgrenzen (Bindung und Selbstbezug) in Kontakt treten zu können. Erlernen lässt sich eine solche Haltung nicht, denn es handelt sich nicht um eine routinisierbare Fertigkeit (wie etwa die Aneignung von Wissensbeständen), sondern um einen Habitus, der sich durch Erfahrung bildet und zu einer im besten Fall unerschütterlichen Grundhaltung wird, wenn die eigene Bildungsgeschichte die Entfaltung dieser Haltung ermöglichte. Diese Gewissheit scheint ihm zu fehlen. Darauf deutete bereits seine Schwierigkeit hin, die Offenheit auszuhalten (vgl. „Schlüsselergebnis“), die ein Erfahren im Unterschied zu einem Erlernen erfordert. So muss er sich vor Fremdbestimmung im Sinne der Ansprüche anderer durch selbst auferlegte Ansprüche schützen. Diese Ansprüche, die oben als nicht Verinnerlichtes, sondern äußerlich Auferlegtes rekonstruiert wurden, sind das höchste an Selbstbestimmung, das ihm möglich ist. Was steht seinem Selbstbezug entgegen? In dieser fallspezifischen, möglicherweise persönlichkeitsstrukturell bedingten Schwierigkeit interessieren im Hinblick auf generalisierbare Schlussfolgerungen solche Aspekte, die auf den geltenden Bewährungsmythos hinweisen. Herr Blöker-Olberts Beschreibung, was genau Selbstbestimmung für ihn bedeutet, folgt zunächst wiederum negativ der Abgrenzung von einer Fremdbestimmung. Dabei finden sich die gleichen Spuren der Vorsicht wie oben in der Ablehnung seiner alten Ansprüche: Demnach geht es ihm darum, nicht immer nur zu gucken, welche Forderungen an ihn heran getragen werden. Für ihn scheint dadurch schon viel gewonnen, dass er sich manchmal (im Gegensatz zu immer nur) auf sich selber besinnt. Dieser Selbstbezug ist hier wiederum auf seine Ansprüche fokussiert. Indem eigene Ansprüche – wie oben ausgeführt – aber ebenfalls äußerlich sind, bleibt die Fremdbestimmung erhalten, gegen die er so vehement anzugehen versucht. Davon zeugen auch die heftigen Atembewegungen in dieser Sequenz. Die Schwierigkeit seines Selbstbezugs wird in dem Gegensatz, den er nun aufbaut, plastisch: man muss da ja nich so; der, der große Außenseiter werden; indem man sagt, ich habe jetz das alleinige Wissen, oder das, Wissen gepachtet; für mich, und ich weiß was gut is, sondern; (stoßartig tief einatmend) ich brauch einfach, äh äh;(.) für mich, dass das was ich tu, für mich gut; is? (tief einatmend) Und, das meine Familie das mit;trächt?(1) Da bin ich ja 147
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auch kompromissbereit? +(I: Mmh,) Äh+ kompromiss äh, fähich, (tief einatmend) und ähm,(2) ich habe aber, ä halt ni nicht diese bestimmten Ansprüche, die ich erfüllen; möchte, nur weil andere, sie haben. Sondern, äh weiß, das ich noch sehr spät in den Beruf einsteigen werde, aber ich weiß auch, das ich das mache, was(.) (leise) was mir persönlich Spaß, macht?(1) Was von meim direkten Umfeld mitgetragen? Wird? (I: Mmh;) Was,(.) dieses; mein direktes Umfeld auch gutheißt? Oder auch von der Idee, über, überzeucht is? (tief einatmend) Ähm; und ich mach, das einfach
Sofort verteidigt er sich gegen den vorweggenommenen Vorwurf der Besserwisserei, die ihn zum Außenseiter machen würde. Der Versuch, sich auf eigene Ansprüche zu besinnen, gerät ihm in Verdacht, sich damit zu isolieren (Außenseiter). Die Gefahr der Autarkie, der Bindungslosigkeit in völliger Unabhängigkeit, droht schon auf dieser Stufe einer vorsichtigen, beinahe bescheidenen Selbstbestimmung. Die Schwierigkeit besteht hier in der Vermittlung von Selbstbezug und Bindung als zwei Seiten der Autonomie (vgl. Kapitel II.3). Indem er den Gegensatz sehr extrem aufspannt zwischen der fremdbestimmten Heteronomie und einer bindungslosen Autarkie, bleibt für sein Ringen um die Selbstbestimmung ein kleiner Bereich der Selbstbehauptung: Was er tut, soll für ihn gut sein. Er beansprucht nicht, allgemeine Maßstäbe aufzustellen, sondern für ihn selbst gültige. Dabei scheint die Seite der Bindung problematisch. Herr Blöker-Olbert nimmt wahr, dass seine Entscheidungen im Zusammenhang seiner Familie stehen und für alle akzeptabel sein müssen. Hier zeigt sich seine Gebundenheit. Doch ist sie zugleich begrenzt, wie die Formulierung kompromissbereit, kompromissfähig zu erkennen gibt. Einen Kompromiss geht man ein, wenn man gegenüber einem Verhandlungspartner einen Interessenausgleich sucht. Dieser Aspekt erinnert an die Schlussfolgerung aus der Eingangssequenz, Herr Blöker-Olbert habe eine manageriale Haltung seiner Familie gegenüber. Für das Binnenverhältnis der Familie ist aber strukturell die Bindung führend, innerhalb derer Entscheidungen in Verantwortung und Fürsorge getroffen werden, die keinen Kompromiss im Sinne eines Interessenausgleichs darstellen. Sondern diese notwendige gegenseitige Bezugnahme führt als innere Haltung zu Entscheidungen, die in sich und für sich treffend sind, weil die Interessen des Einzelnen nicht zu isolieren sind von den Interessen der Gemeinschaft. Blöker-Olberts Befürchtung einer autarken Bindungslosigkeit hat hier ihre reale Wurzel: In einem schwach ausgeprägten Selbstbezug muss auch die Bindungsfähigkeit eingeschränkt sein, weil jedes bedingungslose Einlassen auf andere in Verdacht gerät, den eigenen Selbstbezug zu gefährden oder zu verlieren.
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III. ZWEI ZENTRALFÄLLE
Bindung scheint für ihn mit Fremdbestimmung einher zu gehen. Schematisch lässt sich dieses Problem wie folgt darstellen. Abbildung 1: Spannungsfeld der Autonomie Autonomie Bindung
Autarkie
Abnehmende Autonomie
x „meine Familie“
Selbstbezug x „eigene Ansprüche“ x „Kompromiss“ x „Ansprüche anderer“
Heteronomie
Sehr deutlich zeigt sich die nicht nur für Herrn Blöker-Olbert schwierige Herausforderung, die eine lebendige Autonomie für den Einzelnen darstellt im Austarieren von Bindung und Selbstbezug und in der Entscheidung über authentische, für sich stimmige Maßstäbe. Das Allgemeine an der Schwierigkeit besteht in der gesteigerten Selbstbestimmung. Diese tritt exemplarisch am Fall Blöker-Olbert nicht nur als Chance für eine authentische Lebensführung hervor, sondern mit ihrer Kehrseite einer bis zur Überforderung reichenden Aufgabe der Bewältigung des gestiegenen Bewährungsdrucks. Welche gültigen Muster sind vorhanden, wenn nun Gewissheiten der Lebensführung, Werte und Normen in modernen, säkularisierten Kulturen ihrer traditionalen Gültigkeitskriterien beraubt sind und Inhalte nicht mehr eindeutig vorgegeben sind, zugleich aber die Lebenspraxis in ihren Entscheidungen auf anerkannte und Anerkennung stiftende Formen und Inhalte der Lebensgestaltung angewiesen ist? In den Deutungsmustern von Herrn Blöker-Olbert wird nun nach diesen Orientierungspunkten gesucht. Seine Berufswahl, hier fokussiert auf seinen aktuellen Berufseinstieg, gilt ihm als Beispiel dafür, wie er von außen – das können konkret seine Eltern oder verallgemeinert geltende Normen sein – mit Ansprüchen anderer konfrontiert wird: Implizit grenzt er sich gegen einen zügigen Ausbildungs- bzw. Studienverlauf und ein früheres Gelingen des Berufseintritts ab. Diese Gegenfolie ist – zieht man die Erkenntnisse aus den biografischen Daten heran – unmittelbar in seiner Herkunftsfamilie verkörpert in der Beamtenlaufbahn seines Vaters und seiner beiden Brüder. In dieser Häufung stellt sie in der Familie Blöker das arbeitsbezogene Deutungsmuster einer gehobenen und zugleich Sicherheit stiftenden Position als Maßstab für eine gelungene Berufsbiografie dar. Herrn Blöker-Olbert aber ist wichtig, das für ihn Richtige zu tun, was er daran bemisst, dass ihm sein zukünftiger Beruf persönlich Spaß macht. Mit 149
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dem Topos ‚der Beruf soll Spaß machen‘ bedient sich Herr BlökerOlbert ebenso wie oben Frau Grebe einer generationentypischen Chiffre für ein akzeptables Maß an Sinnstiftung im beruflichen Tun. Auch hier wird deutlich, dass Spaß trotz seiner hedonistischen Anklänge nicht mit Vergnügung gleichzusetzen ist, sondern mit einer hohen Leistungsbereitschaft und dem Wunsch nach erfüllender Tätigkeit einhergeht. Wie er hier expliziert, hängt die Sinnstiftung unmittelbar mit dem Grad der authentischen Entscheidung zusammen: Der Beruf soll zu ihm persönlich passen, nicht einer von außen aufgedrängten Entscheidung nach ihm fremden Kriterien folgen wie etwa einer Statusorientierung oder Sicherheitserwägungen. Ob eine individuierte berufliche Verwirklichung auch inhaltlich für Herrn Blöker-Olbert gilt, oder eher – wie bisher nahe gelegt – von einer wenig sachhaltigen, dafür aber abstrakt schematischen Berufsorientierung ausgegangen werden muss, wird unten überprüft. Um sich zu dieser Haltung durchringen zu können, braucht er die Akzeptanz durch seine Familie, die sich in der zitierten Sequenz immer weiter steigert von Mittragen über Gutheißen zu überzeugt Sein von seiner Idee. Herr Blöker-Olbert benötigt eine starke Rückendeckung. Ihm reicht nicht die Anerkennung seiner Entscheidungen durch seine Familie, schon gar nicht eine verallgemeinerte Anerkennung durch kulturelle Normen, sondern sein unmittelbares Umfeld muss regelrecht seine Überzeugung teilen oder ihm gar durch dessen Überzeugung seine Entscheidung erst ermöglichen (ich mach das einfach). In die zentrale Frage der Autonomie geht hier das Moment der Anerkennung ein. Die große Sehnsucht danach deutet – ebenso wie bei Frau Grebe – auf frühere Entbehrungen in der bedingungslosen Anerkennung seiner Person hin. Seine vehemente, aber doch so vorsichtige Abgrenzung gegenüber Vereinnahmung oder Fremdbestimmung zeugt von dieser Labilität, die eine ichbezogene Anerkennungssuche vor einer Sachbindung begünstigt. So zeigt sich an dieser Stelle die enorme Bedeutung einer gelingenden Sozialisation als Voraussetzung für ein autonomes Erwachsenenleben, das sich entlang eigener Vorstellungen bewährt und in dem Bindung ebenso wie Sach- und Selbstbezug eingeschlossen sind. Die Bedeutung habitueller Voraussetzungen scheint insbesondere durch den forcierten Bewährungsdruck zu steigen. Diese verallgemeinerte Herausforderung des modernen Subjekts entfaltet sich eindringlich im Ringen von Herrn Blöker-Olbert um seine Selbstbestimmung: Er versucht sich mit äußerlichen Mitteln (Ansprüche) vor äußerlichen Anforderungen und Fremdbestimmungen zu schützen.
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Berufliche Gegenstände Offen ist noch die Frage, worin Herr Blöker-Olbert den Spaß findet, den er als sein Kriterium des Guten und Richtigen anlegt. In einer Sequenz, in der es um konkrete Arbeitserfahrungen geht, schildert er anhand eines Beispiels aus seinem Praktikum als Sozialpädagoge die Betreuung eines an Autismus erkrankten Kindes. Dabei stellt er als Erfolg seiner Arbeit heraus, dass nach beharrlichem Bemühen der Junge auf ihn reagiert. Dieses Ereignis dient ihm zur Beschreibung für sein berufliches Anliegen: anderen Angebote zu machen, durch die sie sich weiter entwickeln können, er will etwas bewirken (312 BO 156). Nun ist mit der sozialpädagogischen Arbeit originär die Aufgabe verbunden, Entwicklung zu ermöglichen. Die Frage aber ist, und in dieser Weise steht die sozialpädagogische Arbeit auch in der Kritik (Kutzner 2004), welches das je führende Moment der Tätigkeit ist: die Eröffnung von Entfaltungsmöglichkeiten oder die bereits vorgefertigte Vorstellung davon, worin sich die Entfaltung ausdrücken soll. Letzteres folgt einer bevormundenden Haltung, die eine Eröffnung schon im Voraus schließt. Nach der Analyse der Sequenz „Schlüsselergebnis“ wäre dies auch für Herr Blöker-Olbert zu erwarten. Auch hier geht es um die grundlegende Thematik der Autonomie und Offenheit. Interessanter Weise spiegelt sich Herrn BlökerOlberts Lebensthema in seinem beruflichen Tun. Welches Verständnis von Wirkung hat er und findet sich darin eine Sachbindung? Die Interviewerin fragt nach, was ihm daran wichtig sei, etwas zu bewirken. 314 BO 157 Ich finde; s(.) wichtich is für mich? Äh eine Arbeit zu haben, die mich m durch äh kleine Ergebnisse; äh äh äh äh wo ich einfach durch kleine, Ergebnisse durch positive, (tief einatmend) äh ähm(.) Er Ergebnisse sage; es is äh es is, es is genau die Arbeit die Spaß macht, und du hast sogar Erfolg damit;
Mit einer schwachen Markierung seiner Position (finde) beginnt Herr Blöker-Olbert, eine allgemeine Aussage zu treffen (wichtig). Er bricht dann aber den Satzplan ab und spricht über seine eigenen Maßstäbe. Der betonte Selbstbezug (für mich) ist hier übersteigert, da die Rahmung seiner eigenen Einschätzung bereits gegeben ist. Darin kommt nochmals die Labilität seiner Orientierung an eigenen Maßstäben zum Tragen. Im Relativsatz wird der wichtige Aspekt seiner Arbeit nun qualifiziert. Der Anschluss könnte sein „eine Arbeit zu haben, die mich erfüllt“ oder „die mich in dieser oder jener Hinsicht fordert/interessiert“. Die erste Variante wäre sehr allgemein und müsste konkretisiert werden, die zweite Variante würde den sachlichen Antrieb verdeutlichen. Herr Blöker-Olbert nennt aber zunächst ein Mittel zu einem Zweck (durch). Es sind die Ergebnisse, auf die sich sein Interesse richtet. Führender Antrieb ist hier 151
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nicht der Inhalt der Arbeit, sein Interesse am Gegenstand, sondern die Wirkung seines Handelns. Sein Interesse an der Tätigkeit wird durch die Ergebnisse erst konstituiert. Ergebnisse bezeichnen Resultate, die am Ende eines Prozesses auf etwas Erreichtes verweisen, darauf dass etwas passiert ist. Ebenso wie in der Sequenz „Schlüsselergebnis“ rekonstruiert, steht auch hier der Abschluss vor der Eröffnung. Mit dem Blick auf das Ende wird die Offenheit der Handlung bezwungen. Nun müsste er anschließen, wofür die Ergebnisse Bedeutung haben, etwa: mich durch kleine Ergebnisse bestätigt in meinem Können. Das Beispiel deutet darauf hin, dass es ihm bei seiner Arbeit um sich selbst geht, sein Antrieb ist ichbezogen. Erneut bricht er den Satzplan ab und braucht einige Anläufe (mehrere äh), um den Gedanken fortzuführen. Der Selbstbezug wird nun verstärkt durch den Wechsel von mich auf ich. Die Ergebnisse bedeuten unmittelbar für ihn etwas. In der Spezifizierung der Ergebnisse als positive wird zudem deutlich, dass es nicht um irgendeine Wirkung, sondern um eine spezielle geht, und es rückt der bilanzierungstechnische Gehalt des Begriffs in den Vordergrund. Als positives Ergebnis würde man auch von einer Jahresabschlussbilanz sprechen, die ebenfalls erst am Ende des Geschäftsjahres berechnet wird, also nachdem Geschäftsideen entschieden, gewagt und umgesetzt wurden. Auch hier tritt der managerielle Aspekt seiner Haltung zutage. Es sind also positive Ergebnisse, die den Spaß an seiner Arbeit verursachen. Da diese aber das Resultat des Handelns, nicht im Vorhinein gezielt anzusteuern und erst am Ende des Prozesses zu bewerten sind, muss man daraus schließen, dass Herr Blöker-Olbert im unmittelbaren Geschehen seiner Tätigkeit den Spaß nicht erlebt, sondern erst bei der Bilanzierung. Nun könnte man annehmen, die Routine lässt ihn schon im Vollzug das positive Ergebnis erwarten und damit den Spaß vorverlegen. Doch genau diese Überlegung verdeutlicht, dass hier ebenfalls erst die Geschlossenheit, die die Routine kennzeichnet im Unterschied zur Offenheit der Krise, den Spaß sicherstellt. Im Nachsatz kommt als zusätzlicher Aspekt des Spaßes der Erfolg noch hinzu. Positive Ergebnisse und Erfolg sind in dieser Verwendung nicht synonym zu verstehen. Sie haben ihren materialen Unterschied darin, dass sich Erfolg erst durch die Bewährung des Handelns einstellt, er ist also reziprok durch den Maßstab des Gegenübers, während ein Ergebnis monologisch, man möchte fast sagen: autark entstehen kann, ohne dass die Bewährung hier im Vordergrund stünde. Worin sieht Herr Blöker-Olbert nun positive Ergebnisse und Erfolge als Grundlage des Spaßes? und wenn mich eben halt dieser Autist nach m halben Jahr angrinst; dann denk ich mir, (tief einatmend) (1) es is ich war mir völlich klar […] 152
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irgendwann werd, wird es einen Erfolg geben. […] Und wenn ich halt acht Jahre; daneben sitze; und mit ihm da acht Jahre? Durchs Wasser marschiere; und +(I: Mmh;) ihm+ äh äh die Füße ins Klo stecke; und die Klospülung anmache. (I: Mh,mh;) (tief einatmend) Irgendwann denk ich mir hat, man einen Erfolg. Und dann (laut) dieses Grinsen zu haben; da denk ich mir das is genau das,(.) das die Arbeit is wertvoll die du machst. Und es seis nur ein Grinsen; dass es geklappt hat;
Der Erfolg seiner Bemühungen besteht in der gelungenen Kontaktaufnahme des Jungen. Eine mimische Reaktion ist für ein an Autismus erkranktes Kind objektiv eine Erweiterung seiner Handlungs- und Empfindungsmöglichkeiten. Doch bleibt in der Schilderung Herrn BlökerOlberts ausgeblendet, ob der Junge grundsätzlich nicht in Beziehung treten konnte oder ob er etwa mit seinen Eltern in Kontakt steht und es bei der hier beschriebenen Reaktion nur darum geht, dass er auch auf Herrn Blöker-Olbert Bezug nimmt. Letzteres würde einmal mehr seine ichbezogene Haltung bestätigen. Dafür sprechen auch seine Formulierungen. Sie sind unverbindlich (eben halt), distanzierend (dieser), abwertend (angrinst) und lassen in der Kategorisierung (Autist) das Subjekt verschwinden. Hier wird eine instrumentelle Bezugnahme auf seinen Klienten deutlich, die sich im Fortgang der Sequenz zu einer manipulativen Haltung verdichtet. Beharrlich (auch wenn es acht Jahre dauern würde) hält Herr Blöker-Olbert an seinem Ziel fest, eine Wirkung hervorzurufen, die ihm den Spaß an seiner Arbeit gewährleistet. Dafür setzt er im Wortsinn alle Hebel in Bewegung: er marschiert, er steckt Füße ins Klo, er betätigt die Klospülung, solange bis der ersehnte Erfolg eintritt (Grinsen), an dem er feststellt, dass seine Maßnahmen funktioniert haben (geklappt). Von dem Jungen, seinen Erfahrungen, von dem Kontakt Herrn Blöker-Olberts zu seinem Klienten, von seinem Interesse am Prozess ist hier nicht die Rede, einzig vom Resultat, das den Wert seiner Arbeit verbürgt. Mag eine solchermaßen ingenieuriale Haltung für technische Abläufe noch angemessen sein, für soziale Arbeit im Arbeitsbündnis mit dem Klienten ist sie in hohem Maße vereinnahmend für eigene Zwecke. Nun zeigt sich eine Konsequenz aus der Bindungsproblematik von Herrn Blöker-Olbert auch für sein berufliches Handeln. Nicht nur auf seine Familie ist er in managerieller Weise bezogen, sondern auch den Inhalten seiner Arbeit gegenüber ist er distanziert. Inwieweit sich dies auf die Binnenstruktur seiner Familie auswirkt, auf seine Weise, die Vaterschaft zu füllen, ebenso wie auf sein gemeinwohlbezogenes Engagement, soll nun dargestellt werden. Aus der bisherigen Analyse ist zu erwarten, dass auch in diesen Feldern der gleiche Habitus wirksam wird. Denn es handelt sich nicht nur um eine berufliche Haltung, sondern um eine fallstrukturelle. Dabei wird die zweite 153
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These aus der Eingangssequenz nochmals geprüft. Sie bezieht sich auf seine Verwirklichung der Gatten- und Vaterposition als zwar verbindlich, aber sich eher als Manager verstehend. Stellen, an denen deutlich würde, dass er sich als ganze Person in diese diffusen Beziehungen einlässt, würden diese These widerlegen. Zugleich wird ein Licht auf diesen Bereich als Bewährungsfeld geworfen.
2.2.4 „Lebensentwurf“ – Paarbeziehung und Vaterschaft Von der Interviewerin auf die Verantwortung angesprochen, die er als Vater auch dann für ihre Tochter übernimmt, wenn sie in die Obhut anderer gegeben ist, schildert Herr Blöker-Olbert die Grundhaltung zu getroffenen Entscheidungen. 218 BO 109 Es liecht, ja auch da dran; dass wir auch grundsätzlich diskussionsbereit sind; also wir eben auch aufmerksam sind. Wir ham uns auch, +(I: Mmh;) wir einfach+ gesacht, (tief einatmend) wir müssten einfach unser unser; unser; Konzept, unser unser; unseren Lebensentwurf den wir jetz so; ähäh (I: Ja,) jetz einfach bis ä aufs weiteres verfolgen? (tief einatmend) Müssen wir notfalls auch völlich umstelln, wenn (laut) es; äh äh für Maja, in der Kita, äh; nich klappt.(.) (I: Nee.) Wir ham uns gedacht, wir ge ge geben sie, Schritt für Schritt, äh führn wir sie da ein, (tief einatmend) und wenns aus irgendwelchen Gründen nich klappt.(1) Dann müssen wir halt kucken; müss mer se halt wieder rausnehm; und unser Leben neu, organisieren; (I: Ja;) dann müss mer halt kucken; wie wir unseren; beruflichen Alltach auch; äh konzipieren, […] da kann,(.) kucken wir hin. Und das iss äh; und und wir lassen uns natürlich auch, wir(.) führen auch die ä die Erziehergespräche; und sagen hier, wo sind die +(I: Mmh,) die+ Defizite; wie fühlt sie sich, in der Kita; (kurz tief einatmend) was macht sie, was macht sie nich; äh wie reagiert sie auf die und die äh; Einflüsse. (tief einatmend) Das fragen wir regelmäßig ab. (I: Mmh; mmh,) Oder nehm wir auch Einfluss drauf;
Eine grundsätzliche Diskussionsbereitschaft und Aufmerksamkeit wie sich Dinge entwickeln, wenn sie einmal entschieden sind, ist für Herrn Blöker-Olbert entscheidende Grundlage, um seiner Verantwortung als Vater gerecht zu werden. Das schließt die Bereitschaft ein, getroffene Entscheidungen zu revidieren, auch solche umfassenden Entscheidungen, die das Lebenskonzept, den Lebensentwurf betreffen. Hier formuliert er ein weiteres Mal in sozialwissenschaftlichen Kategorien und spricht aus einer planerischen Metaperspektive. Es klingt nach einem Leben vom Reißbrett (konzipieren). Herr Blöker-Olbert schildert die Einflussfaktoren der Entscheidung: Im konkreten Fall müsste Maja nicht weiter in den Kindergarten gehen, nur damit ihre Eltern ungestört ihren 154
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Lebensplan verfolgen können. Der Maßstab ist dabei die Angemessenheit der Betreuung für ihre Tochter, die zunächst ebenfalls technisch formuliert wird (klappen). Entsprechend wird die Erwägung dann weiter geführt als Frage der völligen Umstellung des bisherigen Konzeptes, als Neuorganisation bzw. Konzeption auch des beruflichen Alltags. Der Beruf steht hier nicht als solcher in Frage, sondern nur seine alltägliche Organisation. Die berufliche Bewährung sowohl für ihn als auch für seine Frau ist fragloser Bestandteil des Lebensentwurfs. Allerdings beschreibt Herr Blöker-Olbert nicht nur das Organisationsproblem, sondern auch inhaltlich die Art der Aufmerksamkeit bzgl. der Angemessenheit des Kindergartens für seine Tochter als Frage des Wohlbefindens (wie fühlt sie sich?), die sie zusätzlich zur eigenen Beobachtung (kucken wir hin) auch über den Austausch mit den Erzieherinnen zu beantworten suchen. Was Maja in der Zeit erlebt, in der sie im Kindergarten ist, wie sie es erlebt, wie sie reagiert auf Erlebnisse, sind sehr konkrete Fragen, anhand derer die Eltern versuchen, sich ein Bild vom Befinden ihrer Tochter zu machen und gegebenenfalls den Rahmen auch mitzugestalten. Die Weise, in der Herr Blöker-Olbert seine Vaterschaft wahrnimmt und sich hier um die Betreuung seiner Tochter kümmert, so wie er sich für den Förderverein des Kindergartens gestaltend einsetzt, gilt angesichts von Ergebnissen aktueller Studien zu bürgerschaftlichem und elterlichem Engagement als für Männer eher ungewöhnlich. Demnach sind es eher Frauen resp. Mütter, die die Aktivitäten in Kindergarten oder Schule übernehmen (Zierau 2001: 32f.). Doch bereits die Analyse der biografischen Daten sowie der Eingangssequenz ließen vermuten, dass die Paarbeziehung keiner traditionalen Ausdeutung des Geschlechterverhältnisses folgt. Insofern zeigt sich konkret an der Betreuung seiner Tochter sein vaterschaftliches Engagement. Woraus sich dieses Engagement speist, wie sich genau seine familiale Bewährung gestaltet, bedarf der Analyse weiterer Stellen. In der oben schon analysierten Sequenz über die eigenen Ansprüche führt Herr Blöker-Olbert weiter aus: 116 BO 58 […] Weil,(1) und da, kommt dann der Bogen, eben auch;(.) zur zu der familiären Situation? Eben auch; das sich,(.) glücklicherweise so ergeben hat das, äh äh die äh Zielsetzungen, inner Gesamtfamilie eben so is, dass sich das ergänzt. Und äh, eben halt meine Frau, sacht; ja ich möchte ohnehin,(1) in den Maßen arbeiten, und äh sie tut, ja. Sie is angestellt im öffentlichen Dienst in der Uni X-Stadt, und sie tut es. Und sie macht das? (leise) (tief einatmend) Sie is damit zufrieden,
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Wieder wurde er einer Entscheidung enthoben und gleich auf zweifache Weise entlastet. Zum einen hat erneut die ferne Macht des Glücks, also eine nicht zu beeinflussende Fügung (es hat sich ergeben), die familiäre Situation in Passung gebracht. Zum anderen ist er dadurch entlastet, dass seine Frau entschieden hat (meine Frau sacht). Herr Blöker-Olbert betont hier Zielsetzungen als Konkretisierung dessen, was sich ergänzt. Wenn sich Ziele ergänzen, müssen es qualitativ zu unterscheidende Ziele sein. Jeder in der Gesamtfamilie scheint also je eigenen Zielen zu folgen, die ein Ganzes, zueinander Passendes ergeben. In dieser Formulierung ist die Spannung der Moderne zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohlbindung enthalten: zwischen dem je Eigenen, zu sich selbst authentisch Passenden und dem auf der Ebene einer aggregierten Gemeinschaft (hier der Familie) in Beziehung Stehenden. Die Spannung zwischen Selbstbezug und Bindung, die für ihn – wie oben gezeigt wurde – ein Problemfeld darstellt, löst sich hier in der Deutung Herrn Blöker-Olberts als glückliche Fügung. Indem sich die Ziele ergänzen, entsteht kein Konflikt bezogen auf Konzeptionen und Lebensentwürfe. Andernfalls – so lässt sich nach der vorherigen Analyse der Kompromissbereitschaft erwarten – würden Herr Blöker-Olbert und seine Frau wie Verhandlungspartner, also rollenförmig nach einem Zielkompromiss suchen. Die Bindung entspricht in dieser Ausprägung einem Modell verbundener Einzelner. Angesprochen werden nun Lebensbereiche und die Aufgabenverteilung in der Partnerschaft. Im Zitat seiner Frau erscheint der Beruf als führendes Feld in ihrer Lebensgewichtung. Dies stellt nun für Herrn Blöker-Olbert genau dann eine Lösung dar, wenn dadurch der Rahmen für seine eigenen Ziele gesichert ist. Das kann sich auf das verfügbare Einkommen ebenso beziehen wie auf die vorhandene Zeit, aber insbesondere – im hier thematischen Zusammenhang der Lebensziele und eigenen Ansprüche – auf seine eigene Zufriedenheit neben derjenigen seiner Frau. Was aber seine Zufriedenheit ausmacht, was er macht und tut, spart er hier zunächst aus. Die Sequenz geht folgendermaßen weiter: 118 BO 59 [...] dreiviertel Stelle; ja. (tief einatmend) Und ähä ähä es macht ihr Spaß, und äh;(.) von daher kann ich eben halt, äh wir ham unser Einkommen? Und das reicht. (I: Mmh;) Eigentlich letzten Endes. (leise) (tief einatmend) Ich könnte, mir auch vorstelln; äh(2) ähm;(.) ja wenn ich mit irgendner, manchmal muss ich mich einfach auch zwing; einfach auch zu Potte zu komm? Ää weil das is, einfach, wir ham, unser Einkomm; (I: Mmh,) es is einfach so, man denkt dann nich drüber nach, uns gehts gut. Ich hab für meine achtzehn Stundenkraft, verdien ich v mehr als meine Chefin.(1) die Vollzeit arbeitet. (tief einatmend) (I: Ja;) Ähm;
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ü über Trinkgelder; und so weiter, und äh meine, meine; Vertretung auf Kosten des Chefs, und da denk ich mir eigentlich, äh; gehts dir doch gut. Du hast, ä arbeitest halbtags?(.) Kannst dein Dienstplan; selber gestalten? Du bist völlich? Flexibel, du kannst, den ganzen Tach äh; ich kann abends; arbeiten gehn. Achtzehn bis dreiundzwanzig Uhr, da is meine Tochter im Bett?(.) (I: Mmh;) Ab zwanzig Uhr, hab den nächsten Tach äh; äh mit ihr komplett? Sie hat n Ansprechpartner, zu Hause? (I: Ja;) Ich kann mit ihr Remmidemmi, machen?
Frau Olbert bekleidet auch mit ihrer ausgeprägten Berufsorientierung keine Vollzeit-Stelle. Sie ist dennoch offenbar stärker beruflich eingebunden und ambitioniert als ihr Mann. Da er aber auch eine halbe Stelle innehat sowie sein Studium zu Ende bringen will, scheint die Abgrenzung ihrer Zielsetzungen an dieser Stelle keine vorrangig quantitative zu sein. Vor dem Hintergrund ihrer Zufriedenheit kann er nun etwas, das er aber nicht genau benennt. Passend wäre hier ein Anschluss mit einem Verweis auf seine eigenen Interessen im Sinne von ‚ich kann machen, was mir gefällt, solange es im Rahmen der gemeinsamen Interessen liegt‘. Stattdessen stellt er die Verbindung zwischen sich und seiner Frau über ihr gemeinsames Einkommen her. Eine wichtige Grundlage ihres gemeinsamen Lebens ist mit dem ausreichenden Einkommen also gesichert. Doch Herrn Blöker-Olbert fällt es nicht leicht, daraus seinen Schluss zu ziehen. Letzten Endes beginnt er den Gedanken, der einige Zeilen nach diesem Zitat weiter geführt wird, dass nämlich diese Weise, in der sie im Moment leben „bis Mitte siebzig so weiter gehen“ (120 BO 60) kann. Er ist also herausgefordert, einen eigenen Antrieb zu finden für die Beendigung seines Studiums sowie dafür, den sich daran anschließenden „Bruch“, den „Berufseintritt“ zu bewältigen. Die hemmenden Kräfte werden an dieser Stelle überaus deutlich: Er könnte sich etwas vorstellen, das er aber nicht ausführt, sondern es entsteht eine für ihn ungewöhnlich lange zwei Sekunden währende Pause. Sodann nennt er eine Bedingung (wenn ich), die er aber ebenfalls nicht ausführt. Bis er folgert, dass er aus innerem Antrieb keine Veränderung herbeiführen würde. Solange das Einkommen stimmt, gibt es keinen Anlass zum Nachdenken, allerdings unter der Bedingung, dass seine Lebensumstände ebenfalls stimmen. Kann der Fall Blöker-Olbert als Beispiel moderner Männlichkeit gelten, die Männern ermöglicht, sich gegen geltende Normen beruflichen Erfolgs und für eine stärkere Gewichtung der Vaterschaft und anderer Interessen im Lebenskonzept zu entscheiden? Die von Herrn Blöker-Olbert angeführten Konkretisierungen verraten eine relativ gehobene Position im Einkommensvergleich mit seiner Chefin. Nun ist er keineswegs mehr der beruflich seiner Frau Nachstehende, sondern stilisiert sich über den Maßstab des Einkommens als 157
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Top-Verdiener, der mit einer Halbtagsstelle mehr als seine Chefin verdient. Damit ist er erfolgreich im Sinn eines Einkommenserwerbs als Bestätigung der eigenen Leistung. Über die Ressource Geld erschließt er sich die Ressource Zeit und selbstbestimmte Flexibilität, denn sein Berufserfolg ermöglicht ihm einen großen Freiraum im Umgang mit seiner Tochter. Herrn Blöker-Olberts Bewährungsstreben zeigt hier eine Struktur, die mit derjenigen der „Zeitpioniere“ (Hörning u.a. 1990) vergleichbar ist. Die Sinnerfüllung in der beruflichen Arbeit und die Bereitschaft zu starkem Engagement gehen bei ihnen einher mit einer ausgeprägten Bedeutung selbstbestimmter Lebensführung. Darin kommt der freien und flexiblen Verwendung von Zeit ein hoher Stellenwert zu, die Herrn Blöker-Olbert insbesondere die Möglichkeit gibt, in der verfügbaren Zeit für seine Tochter da zu sein. Indem er seine Tochter hier explizit erwähnt, auch konkreter als bisher von Aspekten ihrer Bindung spricht, zeigt sich der große Stellenwert, den seine Vaterschaft im Lebenskonzept und in seiner Realisierung einnimmt: Zwischen Ansprechpartner sein und Remmidemmi machen spannt sich das erzieherische Kontinuum von geschütztem Gewährenlassen und aktivem Spiel auf. Insgesamt gerät allerdings der Versuch, seine Frau als diejenige darzustellen, die sich im Beruf bewährt, und sich selbst als denjenigen, der an eigenen Ansprüchen eines selbstbestimmten Lebens orientiert ist, zu einer Darstellung seines eigenen Erfolgs. Dieser bietet neben einem bei geringen und günstig gelegenen Arbeitszeiten gesicherten Einkommen auch die Privilegien eines Erfolgreichen: ein großer Entscheidungsspielraum für die Gestaltung seines Alltags. Vor diesem Hintergrund ist nun interessant, wie er die privilegierte Position nutzt und worin er Bewährung sucht. In der Paarbeziehung Blöker/Olbert zeigt sich eine charakteristische Passung der Lebensentwürfe, die scheinbar Diskussionen und Entscheidungsprozesse überflüssig machen („wir ham uns nich entschieden [...] es hat sich einfach so entwickelt“ 32 BO 16; „sich so zufälligerweise so ergeben“ 22 BO 11). Damit rekurriert Herr Blöker-Olbert auf die häusliche und berufliche Verteilung der Aufgaben zwischen beiden, dass sich etwa seine Freude am Fensterputzen mit ihrer Aversion dagegen verträgt und ergänzt wird durch ihre Freude am Wäschewaschen. Wie weit reicht die Aufgabenübernahme? Ausschließlich die Kinderbetreuung zu übernehmen, das liegt ihm ebenso wenig wie seiner Frau („als Hausfrau und Mutter, zu Hause sitzen; will sie nich“ 22 BO 11), denn auf die Frage, was ihm als Hausmann fehlen würde, antwortet er: 36 BO 18 Die Aktivität, glaub ich; eben halt noch, f für andere Sachen auch, Verantwortung zu übernehm; oder eben halt,(.) für andere, Sachen; 158
III. ZWEI ZENTRALFÄLLE
auch, Verantwortung übernehm; ok, wenn ich zu Hause wäre, würd ich natürlich vielleicht schon, drauf achten, (stoßartig einatmend) ufsch es schon, wolln;(1) das dann; meine Tochter oder die andern Kinder, die ja nun auch noch da,(.) sind; auch, da sind; und ähm;(.) aber das wär mir halt? Das wäre dann auch wieder Alltag.(1) Wie gesacht; wir machen nebenbei den Förderverein? (I: Mmh,) Diese Brüche; brauch ich einfach auch; ne?
Wie schon in der Analyse der Eingangssequenz deutlich wurde und hier bestätigt wird, besitzt Aktivität für Herrn Blöker-Olbert einen Eigenwert. In der Analyse der Sequenz „Anspruch“ war darüber hinaus ersichtlich geworden, dass Herrn Blöker-Olberts Antrieb zur Aktivität einen Selbstzweck darstellt, der eine fallspezifische Funktion besitzt und zu einer als moderne Pflichtethik zu bezeichnenden Bewährungsdeutung führt. Diese ist hier wiederum thematisch und führt zu dem bereits eröffneten Problemfeld der Autonomie und Anerkennung. Herr Blöker-Olbert charakterisiert die Tätigkeit in Haushalt und Familie durch ein Fehlen von Aktivität. Das ist erklärungsbedürftig, wenn man sich die konkreten und vielfältigen Aufgaben in diesem Feld vor Augen führt, die allein im Umgang mit kleinen Kindern in Aktivität versetzen können. Also muss seiner Deutung fehlender Aktivität etwas anderes unterliegen als diese Vielfalt der familiären Aufgaben. Eine bestimmte Form von Herausforderung hat er im Sinn, die er vorsichtig (glaub ich, eben halt) als die Übernahme von Verantwortung für weitere Sachen bestimmt. Aktivität ist in diesem Zusammenhang mit dem Wechsel von Tätigkeiten verbunden, die sich dadurch auszeichnen, dass sie anspruchsvoll sind im Sinne einer selbst auferlegten Aufgabe und in eigener Regie zu vollziehen. Doch konkreter wird er hier nicht. An der Stelle, wo das oder einen weiteren Aspekt der Aktivität einführen könnte, wiederholt er seine Formulierung wörtlich, statt den Satzplan fortzuführen. Neben Haushalt und Kindererziehung sucht er also weitere Verantwortungen. Doch auch hier wird nicht ein Interesse an bestimmten Tätigkeiten zum Ausdruck gebracht, sondern quantitativ und formelhaft eine Haltung geschildert, die oben als abstrakte Selbstverpflichtung rekonstruiert wurde. Seine Überlegungen, was er als Hausmann tun würde, bleiben in unvollendeten Satzteilen unverständlich. Man ahnt, dass er hier seine Fürsorgetätigkeit vor Augen hat, die sich perspektivisch auf weitere Kinder erstreckt. Doch auf was er achten würde, was er wollen würde oder wie er seine Fürsorgetätigkeit ausfüllen würde, bleibt unbenannt, ganz im Gegensatz zu der zuvor zitierten Sequenz, in der er seine Beschreibung innerhalb seiner Erfolgsdarstellung eingebettet hatte. Hier aber setzt er zweimal an um zu erläutern, was diese (unbenannte) Tätigkeit für ihn bedeuten würde, und kommt dann zu dem Urteil, es sei Alltag. Dieser ist 159
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in Abgrenzung zu den für ihn wünschenswerten Brüchen negativ konnotiert und impliziert Einförmigkeit. Als erfüllend erlebt Herr BlökerOlbert die Aktivität als solche, indem sie einen Schutz vor dieser Einförmigkeit bildet. Zu den Aspekten seines selbst erwählten Aufgabenspektrums gehören neben Haushalt und Kindererziehung, auch Elternverein und Studium, Kellnertätigkeit und weitere Interessen an ehrenamtlichem Engagement und gesellschaftspolitischen Themen: 22 BO 11 […] ich bin jemand, der einfach(.) unterschiedliche Sachen brauch; Einblicke braucht; das heißt, (I: Mmh,) (tief einatmend) darum auch wieder, dieser Gastronomiejob; einfach, ich muss einfach drei Stunden am Schreibtisch sitzen? (tief einatmend) Äh; nebenbei läuft ne Bundestagsdebatte? Dann äh; äh organisier ich noch bei uns im Kindergarten, den Förderverein, mach da wieder noch zwei Stunden was? Und geh dann arbeiten? (stoßartig einatmend) Das is so das was ich auch brauch. Ne? Und daher, ähm;(.) wär auch glaub ich n Vollzeit, Schreibtischjob, wär auch mein Tod. (I: Mmh, mmh,) Denk ich mir; würde mich nich fordern; oder? (leise)
Der Bruch erscheint wiederholte Male im Laufe des Interviews und steht für hohe Vitalität und Lebensfreude. Was in der Analyse der Eingangssequenz noch offen bleiben musste, ob der sich mit dem Berufseinstieg ergebende Bruch als Bedrohung oder Chance gedeutet wird, zeigt sich hier geradezu als Lebenselixier von Herrn Blöker-Olbert. Darunter versteht er unterschiedliche Sachen, die er oben als Möglichkeiten darstellte, um Verantwortung zu übernehmen. In der Analyse seiner beruflichen Gegenstände zeigten sie sich als abstrakte Zielsetzung eines Bewirkens, die eine Tendenz zur Vereinnahmung enthielten. In dieser Sequenz nun tritt ein weiterer Aspekt hinzu: Die wechselnden Herausforderungen geben ihm Einblicke, er kann durch sie etwas aufnehmen. Der ichbezogene Antrieb erscheint hier nochmals und korrespondiert mit der starken Atemtätigkeit gerade beim Einatmen. Herr Blöker-Olbert braucht die wechselnden Tätigkeiten wie die Luft zum Atmen. Er sucht die Anregung, die Anforderung (hier sei an die ‚Trainerstimme‘ erinnert, die ihn die Bewegung halten ließ). Dabei stellen die genannten Felder seiner Aktivität keineswegs bloßen Genuss bereit, sondern es geht um ernsthafte selbst gewählte Anforderungen, die er zu erfüllen trachtet. In der hier vorgenommenen Aufzählung fehlen allerdings die fürsorgerischen und haushaltsbezogenen Aspekte. Sie können Herrn Blöker-Olbert offenbar nicht gleichermaßen als Herausforderung dienen wie die genannten Beispiele aus den Feldern des Berufs und des ehrenamtlichen Engagements. Dieses Phänomen – eine deutlich geringere Anziehungskraft der Familie
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III. ZWEI ZENTRALFÄLLE
als Bewährungsfeld und Quelle von Anerkennung – zeigte sich auch bei Frau Grebe. Kann daraus nun der Schluss gezogen werden, Beruf und gemeinwohlbezogene Tätigkeiten böten strukturell eine stärkere Sinnstiftung als familiale Tätigkeiten, da sie bedeutsamer sowohl im Hinblick auf ihre inhaltlichen, weniger routinehaften Anforderungen als auch in Bezug auf ihren Wirkungsradius seien und damit eine höhere Anerkennung verbürgten? Diese Frage ist in Kapitel II anhand des Konstitutionsmodells der Bewährung verneint worden. In der Struktur der ‚Gleichwertigkeit in Asymmetrie‘ lässt sich keine nachgeordnete Stellung familialer Aufgaben nachweisen. Allenfalls auf der Ebene der kulturellen Ausdeutung der Bewährungsfelder – also der Anerkennungsordnung – können Differenzen dieser Art verankert sein. In Bezug auf Schelsky (1972) wurde die sowohl strukturelle als auch kulturell bedingte Sonderstellung der beruflichen Bewährung dennoch als Frage aufgeworfen und sollte durch die Interviewanalysen geklärt werden. Im Fall Grebe ist bereits deutlich geworden, dass die Entgrenzung diffuser und rollenförmiger Antriebe den entscheidenden Ausschlag für die Bedeutungsaufladung des Berufs gibt. Damit die Fallstrukturspezifik diese Funktion übernehmen kann, bedarf es allerdings der kulturell, über entsprechende Deutungsmuster eröffneten Möglichkeit dazu. Es ist dieser Zusammenhang, der auf die vornehmlich kulturell gestützte Bedeutungsaufladung des Berufs hinweist. Auch der Fall Blöker-Olbert steht für eine fallstrukturelle Konstitution der besonderen Bedeutung des Berufs. Dies kommt in einer weiteren Differenz in der Aufzählung seiner Tätigkeiten zum Ausdruck: Herr Blöker-Olbert braucht Abwechslung auch von der Arbeit am Schreibtisch. Sie steht hier für den Abschluss seines Studiums oder ist perspektivisch mit einer wissenschaftlichen Tätigkeit oder einer im Management der Sozialen Arbeit verknüpft. Obwohl diese Tätigkeiten nun dem Kriterium der übergeordneten Bedeutung nach Schelsky entsprächen, ist es nicht das Kriterium, das für Herrn Blöker-Olberts ausschlaggebend ist, sondern der Wechsel per se. In ihm drückt sich ein Aktionismus aus, eine abstrakte Wertschätzung der Bewegung und Aktivität als Selbstzweck, der mit seinem Verständnis von Spaß verbunden ist: „ich möchte in verschiedenen Bereichen, viel anstoßen und Beri ä viel bewegen; und auch viel machen; (tief einatmend) (40 BO 20). Diese Haltung war oben in ihrer Funktion als Schutz vor der bedrohlichen Offenheit von Entscheidungen analysiert worden. Allgemein aber bedarf diese fallspezifische Lösung ebenfalls einer Anerkennung durch die Gemeinschaft, sonst könnte sie als Lösung seiner Handlungsprobleme nicht funktionieren. Darin drückt sich eine akzeptierte Form der modernen Pflichtethik auf hohem Niveau der Selbstbestimmung aus. Zu ihr 161
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gehört es, nach ausgewählten eigenen Zielen und Handlungsfeldern eine enorme Aktivität aufzuweisen sowohl für die Familie und für die Gemeinschaft als auch innerhalb erfolgreicher beruflicher Tätigkeiten. Im Fall Blöker-Olbert geht also – ebenso wie im Fall Grebe – der Habitus mit der vorherrschenden Anerkennungsordnung eine Passung ein. Dieser Befund ist jedoch kein Beleg für die herausragende Bedeutung des Berufs für die Anerkennung und konstituiert auch nicht die Dominanz der leistungsethischen Bewährung. Denn in beiden Fällen bedingt die Fallstrukturspezifik diese Ausprägungen. Herr Blöker-Olbert findet in seiner Paarbeziehung geeignete Lebensbedingungen für seine anspruchsvolle Antwort auf die Frage der individuellen Sinnstiftung und Bewährung des eigenen Lebens, für das umfangreiche Bündel seiner Selbstanforderungen. Mehrfach schildert er, dass seine Frau „nicht der Typ ist“ (20 BO 11) dafür, sich ausschließlich der Erziehung und dem Haushalt zu widmen. Er beschreibt sie als „ehrgeizig“ (190 BO 95; 232 BO 116), berufliche oder andere Ziele zu verwirklichen. Zutiefst ist er überzeugt von ihren Fähigkeiten, ihrer Zielstrebigkeit, ihrer Qualifikation und ihrer Aktivität. So geht er davon aus, dass sie immer eine Arbeit finden wird, die grundsätzlich ihre gemeinsame Existenz sichert angesichts niedriger Ansprüche an den Lebensstandard. Vor diesem Hintergrund hat er die „Ruhe“, sein „Ding“ zu machen. Dieser eigene Antrieb richtet sich auf die schon genannte Kopplung selbst gesetzter Ziele mit dem Drang, etwas anzustoßen und zu bewirken.
2.2.5 Gemeinwohlbezogene Bewährung Mit diesem Habitus ist es beinahe selbstverständlich, dass ein Engagement für das Gemeinwesen zum Spektrum der selbst gesteckten Ziele und gewählten Aufgaben gehört. Nicht zufällig war eine Trennung der Bereiche Beruf und Gemeinwohlbezug in den zitierten Sequenzen nicht aufzufinden. Der Förderverein der Kindertagesstätte wurde mehrfach erwähnt als Beispiel für seine Haltung, Wirkung erzielen zu wollen. Hier engagiert sich Herr Blöker-Olbert und unternimmt verschiedene Projekte über das eigene Interesse der Einrichtung hinaus mit übergeordnetem Zweck, etwa eine Tombola für die Kindernothilfe. Im Interview werden weitere Pläne der Familie genannt, die sowohl familiäres, als auch berufliches und bürgerschaftliches Engagement berühren: Die Blöker/Olberts tragen sich mit dem Gedanken, ein Kind zu adoptieren oder ein Pflegekind aufzunehmen und haben das Verfahren bereits eingeleitet. Zudem wünschen sie sich mindestens noch ein weiteres leibliches Kind. Dabei beschreibt Herr Blöker-Olbert seine Frau als die treibende Kraft (200 162
III. ZWEI ZENTRALFÄLLE
BO 100), die immer wieder neue Ideen hervorbringt und deren Realisierung vorantreibt. Im Raum des Möglichen ist auch ein Engagement im Ausland, welches mitsamt der Familie in Angriff genommen würde etwa in dem Fall, dass die berufliche Beschäftigung seiner Frau einmal unterbrochen wäre. 196 BO 98 […] ich denke es wird auch äh äh äh in Zukunft so sein; das wir(.) dann halt, das Pflegekind aufgenommen haben werden; oder n Kind adoptiert haben werden; (tief einatmend) dann weiß ich auch dass nach drei Wochen Mara kommt, und was Neues, hat; und sacht(.) und jetz machen wir, weiß ich nich; jetz gehn wir nach Tansania und machen daein, äh(.) Aufbauprojekt in äh, baue Wasserleitungen; oder so was.(.)
Die Paarbeziehung scheint nicht nur im Hinblick auf eine komplementäre Aufgabenteilung zu funktionieren, sondern auch durch einen Gleichklang im Antrieb, sich neuen, selbst gewählten Aufgaben zu stellen und diese tatkräftig in Angriff zu nehmen. Herrn Blöker-Olberts Schwierigkeit, sich der Offenheit von Entscheidungssituationen zu stellen, wird hier nicht nur durch seinen eigenen Aktionismus besänftigt, sondern ebenso durch die Entschlossenheit seiner Frau. Das Setzen eigener Ziele findet in der Haltung beider Eheleute seine Entsprechung, auch den Drang, immer wieder neue Herausforderungen anzunehmen, scheint Frau Olbert zu teilen. Sicherheit und Einigkeit besteht in dieser Haltung, die Gegenstände des Engagements können hingegen wechseln, als sei die Aufnahme eines Adoptivkindes nach drei Wochen bereits zur alltäglichen Routine geronnen. Der rekonstruierten Fallstruktur Herrn BlökerOlberts zufolge droht mit dem Erreichen eines Ziels (hier der Aufnahme eines Adoptivkindes) unlebendige Stagnation und fordert auf zur nächsten Aktivität, bei der nun seine Frau die entscheidenden Schritte einleitet und zugleich seine Sorge um Stillstand beschwichtigt. Die Frage, ob nun Wasserleitungen tatsächlich förderlich sind für das hier im Beispiel nur phantasierte Aufbauprojekt, unter welchen Bedingungen und Vorkehrungen in welcher Dorfstruktur, mit welchen Auswirkungen auf kulturelle Überzeugungen und Handlungsmuster sie zum Fortschritt beitragen und mit welchen Nebenwirkungen sie dies tun, diese Fragen stellen sich Herrn Blöker-Olbert hier ebenso wenig wie bei der Schilderung seiner Betreuung des an Autismus erkrankten Kindes. Aktivität um der Wirkung willen, könnte man die Handlungsmaxime pointiert ausdrücken, die hier wie im Beispiel seines beruflichen Handelns auf einer managerialen Haltung beruht und die Gefahr einer Vereinnahmung der Hilfenehmer birgt. Für diese Art gesinnungsethischer Grundhaltung ist es nachgeordnet, ob sich das Engagement auf eine berufliche Tätigkeit richtet oder auf 163
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gemeinwohlbezogene Tätigkeiten. Entscheidend ist der Sinnbezug der Aufgabe, von dem Herr Blöker-Olbert unterstellt, er sei im Berufsfeld der Sozialen Arbeit ebenso gegeben wie im genannten Beispiel aus der Entwicklungshilfe. Die Tätigkeiten stehen im Dienst des Bewirkens von Fortschritt und Entwicklung und verstehen sich als kleinen Widerstand gegen das große Leid, wie Herr Blöker-Olbert beschreibt: 304 BO 152 […] ich werde nich vielleicht äh äh politisch äh äh äh äh;(.) die äh;(.) Außenpolitik von einem Georg Bush ändern könn, ich denk da hab ich, da bin ich zu n kleines Licht zu; (tief einatmend) werd ich auch nie äh; äh ich glaub nich die Massen mobilisieren könn; (tief einatmend) das Leid gibt es trotzdem was dadurch angerichtet wird, und ich denke mir, man muss es trotzdem wieder abstellen; die äh +(I: Mmh,) vorm+ notfalls geh ich halt vorher hin und mach, bau meine Wasserleitung mit; da denk ich mir ok; du hast halt deine äh äh Raketen geschossen, aber äh (I: Mmh) dann halte ich halt jeden Millimeter dagegen was zu tun;
Nichts Geringeres als die internationale Politik und die Mobilisierung der Massen stehen ihm hier vor Augen, um seinen Beitrag zur Linderung von Leid einzuordnen. In seiner Sicht auf Wirkungszusammenhänge gibt es benennbare Täter, denen nur massenhafter Widerstand Einhalt gebieten kann. Da er hierauf keine Wirkung nehmen kann, besteht seine Einflussmöglichkeit in der Millimeterarbeit. Der beispielhaft eingeführte Bau von Wasserleitungen gerät damit in das Kreuzfeuer militärischer Auseinandersetzungen, dient also nicht nur der vermeintlichen Förderung von Fortschritt, sondern ist zugleich der Versuch, den Folgen der Politik des US-amerikanischen Präsidenten entgegen zu treten. Hinter der Bescheidenheit in der angezielten Wirkung kleiner Beiträge verbirgt sich durchaus eine Phantasie großen Einflusses und großer Erfolge (das Leid […] wieder abstellen). Auch wenn die enorme Aktivität und das Engagement für übergeordnete Interessen, bis hin zur Weltgemeinschaft gedeutet, als fallstrukturell funktional für die Beschwichtigung einer Zögerlichkeit und der Angst vor der Offenheit des Lebens eingeordnet werden muss, so nimmt dieses Ergebnis nichts von der zutage tretenden Macht des Bewährungsdrucks. Boten traditional begründete Schemata der Bewährung, etwa in der Nachfolge des väterlichen Berufs durch den Sohn, eine Schließung von Offenheit, so stellt die fortschreitende Moderne gerade in der Öffnung von Zukunftsoptionen eine besondere Herausforderung dar, die im Fall Blöker-Olbert so deutlich zutage tritt, weil sie auf den wunden Punkt seiner Offenheitsfurcht trifft. Diese Herausforderung gilt aber allgemein und findet ihre Einlösung fallspezifisch entlang des ausgebildeten individuellen Habitus. Doch ginge auch von der Offenheit dieser 164
III. ZWEI ZENTRALFÄLLE
massive Druck nicht aus, bestünde nicht in einer spezifischen Form ihrer Bewältigung ein zentrales Bewährungsmoment. Im Fall Blöker-Olbert tritt gerade der selbstbestimmte Weg, die als moderne Pflichtethik ausgewiesene Bewältigung stetig erneuerter und selbst gewählter Aufgaben als anerkannte Antwort auf die Sinnfrage deutlich zutage. Aus welchem fallspezifischen Antrieb auch immer – z.B. aus der hier vorliegenden Struktur des Aktionismus – er resultiert, der moderne Bewährungsmythos scheint in der Selbstbestimmung zu bestehen, während die je zu wählenden Gegenstände nachgeordnet sind. So fügt sich seine Antwort auf die allen Interviewpartnern gestellte Frage danach, wie sie ihr Leben gestalten würden, wenn ihre Existenzsicherung gewährleistet sei, in die bisher rekonstruierte Fallstruktur: Er nähme ein neues Projekt in Angriff im Rahmen seiner sozialpädagogischen Qualifizierung und würde ein Kinderheim in dem osteuropäischen Land gründen, aus dem die Herkunftsfamilie seiner Frau stammt. In dem Ort, der bereits ins Auge gefasst ist, wohnt ihr Cousin. Entscheidend ist für Herrn Blöker-Olbert dabei ein Arbeiten nach eigener Konzeption mit eigens ausgewähltem Personal. Ihm schwebt eine gemeinschaftliche Arbeit entlang einer von allen Beschäftigten geteilten Zielsetzung vor, eine beinahe eingeschworene Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig antreibt, um gemeinsam die selbst gesteckten Ziele umzusetzen und etwas zu bewirken (418 BO 209). Dies ist die personale Entsprechung einer Gesinnungsgemeinschaft zu seiner gesinnungsethischen Grundhaltung. Als erstrebenswert betont Herr Blöker-Olbert die Freiheit, diese selbst entwickelte Konzeption zu realisieren. Diese Vorstellung findet sich jedoch nicht nur in der Ferne einer Utopie, sondern für die Zeit nach seinem Studienabschluss hat er bereits eine Konzeption für eine Kindertagesstätte entwickelt und das passende Personal, ehemalige Studienkollegen, ausgewählt: eine von männlichen Erziehern geleitete Kindertagesstätte vor allem für alleinerziehende Mütter mit Söhnen (12 BO 6). Auch in der Beschreibung dieser Zielsetzung klingt die Vorstellung über gemeinsam geteilte Ziele und das gemeinschaftliche Verwirklichen an. Auch dieser Konzeption liegt eine spezielle Wirkungsabsicht zugrunde, die von der Bedeutsamkeit männlicher Bindungspersonen für die Entfaltung der Kinder, insbesondere der Jungen ihren Ausgang nimmt. Dies belegt nochmals, dass sein väterliches Engagement für ihn bedeutsam und bewusst gewählt ist, wenn auch in der abstrakten und tendenziell vereinnahmenden Form konzeptioneller Absichten. In der visionierten harmonischen Bindung des Personals an die Konzeption, die hierarchischer Durchsetzung ebenso wenig bedarf wie administrativem Geplänkel und Streit um Zuständigkeiten, kommt die Fallstruktur Herrn BlökerOlberts noch einmal abschließend wie in einem Brennglas fokussiert auf 165
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den Punkt: Die Sehnsucht nach Bindung in Anerkennung und ausgewogenem Selbstbezug. Die selbst gesteckten Ziele und ihre konzeptionelle Realisierung in gemeinschaftlich getragener Aktivität ist die ihm mögliche Form autonomer authentischer Lebensgestaltung, in der Selbstbezug ebenso wie Bindung aufgehoben sind.
2.3 Resümee zur Bewährung im Fallvergleich Die kontrastive Anlage der zentralen Fallrekonstruktionen trägt einen doppelten Charakter: Sie ist zum einen kontrastiv in der Gegenüberstellung einer weiblichen und männlichen Biografie (unmittelbarer Kontrast). Zum anderen stellen sie jeweils kontrastive Fälle dar gegenüber der für die Geschlechtergruppen geltenden ‚Normalbiografien‘, indem Frau Grebe auf eine Vollzeit-Erwerbsarbeit orientiert ist und Herr Blöker-Olbert diese formal betrachtet nicht innehat (mittelbarer Kontrast). In dieser Konstellation lässt sich sowohl die Relevanz der Geschlechtlichkeit der Praxis für die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens untersuchen (im unmittelbaren Kontrast), als auch Aufschluss gewinnen über den Zusammenhang zwischen der vorherrschenden, eventuell geschlechtsbezogenen Anerkennungsordnung und den Freiheitsgraden der Lebensführung. Zwar stellt sich die Bedeutung des Berufs im Lebenskonzept von Herrn Blöker-Olbert auf den ersten Blick als schwächer ausgeprägt dar als bei Frau Grebe. Doch die Analyse hat gezeigt, dass auch für ihn der berufliche Erfolg einen enormen Stellenwert für die Sinnstiftung besitzt. Nicht zufällig beginnen die Eingangssequenzen in beiden Interviews mit dem Bezug auf den Beschäftigungsstatus. Eine erfolgreiche berufliche Bewährung nimmt bei Herrn Blöker-Olbert allerdings andere Formen an als eine formale Vollzeit-Beschäftigung. Es ist gerade die Freiheit zu einem flexiblen, nach eigenen Maßgaben gestalteten Umgang mit seiner Zeit, die er an seiner Kellnertätigkeit schätzt. Ein hohes berufliches Engagement und der deutliche Anspruch auf Selbstbestimmung der Lebensgestaltung finden sich hier gleichermaßen. In der Chiffre ‚Spaß an der Arbeit‘ tritt dieses Motiv bei Herrn Blöker-Olbert ebenso wie bei Frau Grebe hervor und steht im Dienst, auch im beruflichen Feld sicher zu stellen, dass Leistungsbereitschaft nicht in Pflichterfüllung aufgeht, sondern einer Selbstbestimmung unterliegt. Im Fall Blöker-Olbert zeigt sich noch stärker als im Fall Grebe, dass eine Vereinnahmung von Zwängen des Erwerbssystems dem modernen Bewährungsmythos entgegensteht. ‚Lebe authentisch‘, lautet pointiert das kulturelle Muster der Lebensführung, das sich in und trotz der Dominanz beruflicher Bewährung zeigen muss, um Anerkennung zu finden. Von einer „Selbstöko166
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nomisierung“ im Sinne der Handlungslogik des „Arbeitskraftunternehmers“ (Voß/Pongratz 1998) ist dies weit entfernt und verweist statt auf ökonomische Handlungszwänge auf die habituelle Antriebsstruktur. Die Basis für eine authentische Lebensführung ist eine entwickelte Autonomie. In beiden Fällen zeigt sich diese als ‚Nadelöhr‘ der Selbstverwirklichung. Die enorme Schwierigkeit tritt fallspezifisch hervor: Bei Frau Grebe führt die schwache Entscheidungsmitte zu einer instrumentellen Anerkennungssuche. Herr Blöker-Olbert dagegen sucht die Labilität seines Selbstbezugs durch eigene Ansprüche zu kompensieren, um sich vor Vereinnahmungen zu schützen. Das ihm mögliche Maß an Autonomie besteht in der Selbstverpflichtung zu einem Erzielen von Wirkung, ebenfalls mit vereinnahmender Tendenz. Die Geschlechtlichkeit der Praxis konstituiert hier keine Differenzen in der Bedeutung, die der Beruf für die Sinnstiftung im Lebenskonzept einnimmt. Das gilt auch für die Beziehungspartner. Sowohl Frau Olbert als auch der ehemalige Lebensgefährte von Frau Grebe geben der beruflichen Bewährung den Vorrang. Bei ihm verdeutlicht sich dies gesteigert in der Kompromisslosigkeit, für sein berufliches Fortkommen keine familiären Zugeständnisse zu machen17. Eigene Kinder zu haben, steht dabei nicht in Frage, verlangt aber eine Neupositionierung zu den Bewährungsfeldern insgesamt. In beiden Familien wird eine Lösung angestrebt, die die Kinder zu einer ‚Sache der Organisation‘ machen. Das spricht bei Herrn Blöker-Olbert nicht gegen die Wahrnehmung der Fürsorge und führt bei Frau Grebe nachholend zu einer solchen. Die Vorrangstellung der beruflichen Bewährung aber bleibt bei beiden ersichtlich, die Familie rückt in ihrer Bedeutung nicht in den Vordergrund. Dabei ist selbst für Frau Grebe in ihrer prekären Situation die normative Orientierung auf den Beruf prägender als finanzielle Motive. Auch bei den Blöker/Olberts steht nicht die Sicherung oder Steigerung des Lebensstandards im Vordergrund, wie es für die Elterngeneration noch als wichtiger Ausweis des Leistungserfolgs galt. Damit kann zumindest anhand dieser Fälle den Thesen von Meuser (2006), Kühn (2004) und Henninger (2005) widersprochen werden, nach denen es vor allem aufgrund finanzieller Notwendigkeiten zu einer Lockerung einer geschlechtsbezogenen Aufgabenteilung zwischen den (Ehe-)Partnern
17 Er ist aus dem Arbeitermilieu, ausgehend vom Hauptschulabschluss zum Hotelmanager aufgestiegen. Der Darstellung von Frau Grebe folgend, ist die Partnerschaft daran zerbrochen, dass er sich nicht bereit zeigte, Fürsorge für sein Kind zu übernehmen und dafür seine Karriereambition zurück zu stellen. Da er jedoch nicht eigens als Fall analysiert wurde, darf die deskriptive Beschreibung hier nicht überbewertete werden. 167
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kommt. Ganz deutlich besteht die Dominanz der beruflichen Bewährung als geschlechterindifferente Norm. Eine Affirmation des traditionalen Ernährermodells mit ausschließlicher oder hauptsächlicher Erwerbstätigkeit des (Ehe-)Mannes findet sich in diesen Fällen nicht, auch der Re-Traditionalisierungseffekt der Geschlechterpositionen infolge der Familiengründung, wie er in den meisten Studien festgestellt wird, zeigt sich nicht. Frau Olbert gerät aufgrund der Tätigkeitsstruktur ihres Berufs, seiner Einbettung in den öffentlichen Dienst und ihrer Bereitschaft zu einer reduzierten Beschäftigung nicht in das ausgeprägte Dilemma von Frau Grebe. Biografische Konfliktlinien als folgenreiche Konsequenz aus der mütterlichen Bindung, wie sie im Fall Grebe in Erscheinung treten, werden bei den Blöker/Olberts durch eine aktive väterliche Bindung aufgehoben. Gegenstand der Anerkennung ist bei Blöker/Olbert der erreichte Grad an Selbstentfaltung, den Frau Olbert mehr als er auf den Beruf fokussiert und ihrem Mann damit die Möglichkeit gibt, in Ruhe sein Ding zu machen, zu dem die Fürsorge für seine Tochter gehört. Es scheint sich also auch unter der faktischen (und nicht nur wie bei Frau Grebe visionären) Entlastung vom Einkommensdruck die Möglichkeit zu eröffnen, sich auch dem normativen Druck zur Bewährung in beruflichem Erfolg tendenziell zu entziehen und die Motivation sowohl für väterliches als auch für gemeinwohlbezogenes Engagement freizusetzen. Zu den Bedingungen, unter denen es Herrn Blöker-Olbert möglich wird, sich vom Normalmodell des „männlichen Berufsmenschen“ (Hörning u.a. 1990: 91) zu distanzieren, gehört es allerdings, dass ihm seinem Habitus nach eine vorrangig berufliche Zielstrebigkeit nicht möglich ist und sein zögerlicher Habitus in Passung steht zu seiner Orientierung an einer Vielzahl von Aktivitäten und einer Verantwortung für unterschiedliche Sachen. An die weiteren, im folgenden Kapitel präsentierten Fälle richtet sich nun die Frage, ob diese Dominanz des Berufs durchgehend aufzufinden ist und wenn nicht, welche Deutungsmuster zur Begründung alternativer Entscheidungen herangezogen werden. Es werden mit den folgenden Fallrekonstruktionen also zum einen die Anerkennungsordnung weiter ausgeleuchtet wie auch die hier z.T. fallstrukturell begründeten Ergebnisse überprüft. Insbesondere interessiert, ob in der empirischen Ausformung der Bewährungsdynamik tatsächlich die Geschlechtlichkeit der Praxis irrelevant ist und wie sich der geschlechtsspezifische Konflikt zwischen Wunsch und Wirklichkeit, wie er sich zumindest im Fall Grebe gezeigt hat, in anderen Fällen darstellt.
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IV. F R A U E N U N D M Ä N N E R DER BEWÄHRUNG
IN DEN
FELDERN
In diesem Kapitel werden anhand weiterer Fallanalysen die in den beiden zentralen Fällen aufgeworfenen Themen weiter präzisiert und die bisherigen Ergebnislinien kontrastiv überprüft. Die extensiven Rekonstruktionen können an dieser Stelle gestrafft dargelegt werden. Um einen Vergleich zu ermöglichen, wurden auch die weiteren Fälle unter den Hochqualifizierten ausgewählt. Für sie sind eine deutliche Ausprägung der Leistungsethik und entsprechende Konflikte mit der familialen Bewährungssuche zu erwarten. Ein Mittelschichtsbias wird damit in Kauf genommen zugunsten der falsifikatorischen Anlage der Fallauswahl: Sollte sich unter Hochqualifizierten ein Nachlassen der Leistungsethik zeigen, ist dies aussagekräftiger als unter Gruppen, in denen eine niedrige Qualifikation eventuell auf eine schwächer ausgeprägte berufliche Bewährungssuche hinweist. Es stehen hier zunächst (Kapitel 1) zwei Frauen – Sigrun Ziller und Anette Spenzel – im Zentrum, die mit gleicher biografischer Konstellation einer ambitionierten Berufsbiografie in die Familiengründung eintreten wie Frau Grebe. Im zweiten Teil des Kapitels (2) werden kontrastiv zum einführenden Fall Herrn BlökerOlbert zwei weitere männliche Fälle dargestellt. Es handelt sich um Christoph Schulz und Umberto von Quant. Ähnlich wie im vorangegangenen Kapitel werden diese Analysen auch für einen Vergleich der Subjektbildungsprozesse unter der Perspektive der Geschlechtlichkeit der Praxis genutzt und damit die generalisierende Betrachtung im Schlusskapitel vorbereitet.
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ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
1. Bewährungsdynamik in weiteren weiblichen Biografien Die beiden hier ausgewählten Frauen haben nach dem Abitur studiert und bis zur Geburt des ersten Kindes in ihrem Beruf gearbeitet. Danach trennen sich nach äußerlichen Kriterien betrachtet die Wege: Während Frau Ziller ihre Berufstätigkeit beendet, arbeitet Frau Spenzel kontinuierlich in einer Teilzeit-Beschäftigung weiter. Wie sehen die jeweiligen Antriebe, die Genese dieser Bewährungsformen und die damit einhergehenden biografischen Transformationen aus? Auf welche Verfasstheit der Anerkennungsordnung lassen sie schließen und mit welchen Ambivalenzen und Autonomiepotentialen geht dies einher? Die Fallrekonstruktionen werden analog zu den Zentralfällen in vier Abschnitten gegliedert: 1. die Analyse der biografischen Daten, 2. Interviewanalyse (mit den Unterpunkten der Eingangssequenz, der beruflichen, familialen und gemeinwohlbezogenen Bewährung) und 3. Resümee.
1.1 Heimkehr: Sigrun Ziller 1.1.1 Analyse der biografischen Daten Frau Ziller ist im Januar 1967 in einem Dorf bei Menden (Sauerland) geboren. Sie hat zwei ältere Brüder, zu denen jeweils ein Altersabstand von acht Jahren besteht. Beide Brüder sind Ingenieure. Der Vater ist bei ihrer Geburt 39 Jahre alt (geboren 1928) und Bautechniker. Ihre Mutter ist ebenfalls 39 Jahre alt und Hausfrau.
Frau Zillers Eltern gehören einer anderen Generationenlagerung als die Eltern von Frau Grebe und Herrn Blöker-Olbert an. Sie sind zwischen den Weltkriegen geboren und haben als Jugendliche das Geschehen des zweiten Weltkriegs miterlebt. Ihr Lebensentwurf bildet sich in dieser Zeit der schweren Zerrüttung des Alltagslebens aus. Frau Zillers Vater gehört der Generation nach zu den Jugendlichen, die zum ‚Volkssturm‘ als letztes Aufgebot vor der Niederlage des so genannten Deutschen Reiches aufgerufen wurden. Eine Stellungnahme zu den Kriegsverbrechen und die Art der eigenen Beteiligung sind Lebensthemen dieser Generation. Die Familiengründung erfolgt 1951 mit Geburt des ersten Sohnes in der Zeit des Wiederaufbaus, der für den Vater eine beruflich sichere Perspektive bietet. Die junge Familie gründet sich auf ein solides Fundament. Acht Jahre nach Geburt des ersten Kindes folgt die Geburt eines weiteren Sohnes. Die Geschwister können also jeweils mit besonderer Aufmerksamkeit und Zuwendung rechnen, denn der Erstgeborene geht bei Ankunft des Zweiten schon zur Schule. Frau Ziller wird wie170
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
derum acht Jahre später geboren. In der regelmäßigen acht-Jahres-Folge der Geburten zeigt sich zum einen eine große Bedeutung der Familie als stetig erneuertes Bewährungsfeld, vor allem für die Mutter, die als nicht Erwerbstätige hauptsächlich für die familialen Belange zuständig ist. Zum anderen unterliegt der Abfolge etwas Programmatisches. Sie führt dazu, dass die Eltern in einem langen Reproduktionszeitraum Kinder beinahe zweier Generationen versorgen, denn bis auch Frau Ziller zur Schule geht, vergehen von der ersten Geburt an 23 Jahre. Es scheint als müsse die Familie als Feld aktiver Betätigung immer wieder neu belebt werden. Für Frau Zillers Mutter kann auf eine dominierende familiale Bewährung geschlossen werden. Für die Sozialisation von Frau Ziller bedeuten diese Hingabe und eine – nach zwei älteren Geschwistern – große Erfahrung der Eltern in der Kindererziehung eher günstige Bedingungen, wenngleich sich das Programmatische der Familie darin ausdrücken könnte, dass die Kinder zum ‚Projekt‘ werden und dem möglicherweise eine wenig lebendige Erfüllung der Familie innewohnt. Menden ist eine Kleinstadt am nördlichen Rand des Sauerlands, kurz vor der Mündung der Hönne in die Ruhr. An diesem Flusslauf entwickelte sich die bereits 1276 mit Stadtrechten versehene ‚Ackerbürgerstadt‘ im Laufe des 19. Jahrhunderts bis heute zu einer Mittelstadt mit differenziertem Industriebesatz u.a. der Eisenherstellung und Metallverarbeitung. Heute zählt sie knapp 60.000 Einwohner, die sich allerdings zu nicht geringfügigem Teil aus den Eingemeindungen der umliegenden Dörfer zusammensetzen. Familie Ziller wohnt in einem Dorf bei Menden, so prägt ländliches Leben die Kindheit von Frau Ziller. Es sind eher traditionale Lebensformen und -haltungen zu erwarten. Auch die Familie Ziller folgt dem Muster einer geschlechtsspezifischen Aufgabenteilung. Mit der evangelischen Konfession der Zillers gehören sie nicht nur zu einer Minderheit in der Gegend, sondern sie birgt auch eine moderne Tendenz in Sinne einer protestantischen Ethik. Frau Ziller wird 1973 eingeschult (Dorfschule), macht ihr Abitur1986 auf einem Gymnasium in Menden und beginnt im gleichen Jahr ihr Chemiestudium in Y-Stadt1. Nach ihrem Diplom 1991 beginnt sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Chemie, wechselt 1993 auf eine Promotionsstelle im Fachbereich Maschinenbau, den sie nach erfolgter Promotion 1997 verlässt. Nach einer Tätigkeit in einem Chemieunternehmen in Weinheim, ist sie bis zur Geburt ihres Sohnes im Dezember 2001 bei einem Unternehmen mit Hauptsitz in Z-Stad2t tätig, das für das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit Fragen des Technologietransfers und der Betreuung von Forschungspro1 2
Der Studienort liegt im Ruhrgebiet. Der Arbeitsort liegt im Rheinland. 171
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
jekten befasst ist. Vor der Geburt ihres Sohnes heiratet sie den Vater des Kindes im gleichen Jahr, er ist, wie ihre Brüder auch, Ingenieur. Seit der Geburt des Kindes befindet sich Frau Ziller in Elternzeit.
Mit dem Wechsel von der Grundschule zum Gymnasium öffnet sich die Welt Frau Zillers vom Dorf hin zur Stadt. Die Schulzeit durchläuft sie ohne Verzögerung und nimmt umgehend ein Studium auf. Als Studienort wählt sie nicht die nächstliegende Universitätsstadt, aber eine, die in räumlicher Nähe zu ihrer Herkunftsregion liegt. Innerhalb der Regelstudienzeit absolviert sie ihr Diplom in einem naturwissenschaftlichen Fach, das mit einem Frauenanteil von 33,6 Prozent unter den Absolventen im Jahr 1993 (Egeln/Heine 2006) männerdominiert ist. Frau Ziller zeigt in ihrer bisherigen Bildungslaufbahn eine hohe Zielstrebigkeit, zu der auch ihr Eintritt in die Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin passt. Der Wechsel während der Dissertationsphase in den Bereich Maschinenbau fügt sich familiengeschichtlich in die männliche Traditionslinie, wie sie vom Vater vorgelebt auf die Brüder im Ingenieurberuf übergegangen ist. Diese Deutung ist insbesondere dadurch nahe gelegt, dass der Fachbereich Maschinenbau mit einem Frauenanteil unter den Absolventen von 11,7 Prozent im Jahr 1993 noch stärker männerdominiert ist als der Fachbereich Chemie und der Anteil von Frauen mit abgeschlossener Promotion dort im Jahr 1997 entsprechend niedrig bei 8,4 Prozent liegt (ebd.). Hier zeigt sich eine hohe Identifikation nicht nur der Brüder, sondern auch von Frau Ziller mit der männlichen Linie, die durch ihre Aufnahme einer Beschäftigung in der Industrie bekräftigt wird. Auch ihr Ehegatte ist Ingenieur, sie hat ihn während des Studiums an der Universität Y-Stadt kennen gelernt, und verstärkt so auch in der Paarbeziehung das Vertraute und Bekannte der Identifikationslinie. Frau Zillers Wechsel in die Transfer- und Wissenschaftsmanagement-Stelle bringt sie wieder näher an die Forschung (auch an die Heimatregion), verbleibt aber nah am Feld der Praxis. Erst mit ihrer Familiengründung mit knapp 35 Jahren kommt zur beruflichen Aufgabe die familiäre hinzu. Für die Analyse stellt sich die Frage, wie sich die männliche Identifikation paart mit der weiblichen. Frau Zillers Mutter hatte die Familie mit stetiger Verlängerung zu ihrem hauptsächlichen Bewährungsfeld gewählt. Frau Zillers Elternzeit folgt nun diesem Muster. Liegt hier ein Bruch vor, eine konsistente Transformation von der männlichen zur weiblichen Identifikation oder eine perspektivische Verbindung beider? Als Fallstrukturhypothese ergibt sich daraus: Der Raum der Möglichkeiten, der sich für den Bildungsprozess Frau Zillers öffnet, weist trotz der dörflichen und eher traditional eingefärbten Herkunft typische Zeichen der weiblichen Freiheitsgewinne dieser Generation auf. Die Öffnung gehobener Bildungswege und deren selbstverständliche Wahr172
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
nehmung bis zur erfolgreichen Einmündung in qualifikationsadäquate Berufstätigkeit charakterisiert Frau Zillers Lebensweg. Die Entwicklungstypik dieser Autonomieentfaltung weist auf der Ebene der Identifikationslinien allerdings einen Wechsel auf. Weniger ist hier ein Vereinbarkeitsproblem zwischen Beruf und Familie zu erwarten als ein innerer Konflikt in der eigenen Orientierung und der authentischen Begründung der Bewährungsdimensionen für Frau Ziller. Zu fragen ist also, inwieweit der beruflichen Orientierung eine Sachbindung zugrunde liegt oder sie eine schematische Erfüllung eines Familienprogramms darstellt. Die gleiche Frage stellt sich für die familiäre Orientierung.
1.1.2 Interviewanalyse3 Eingangssequenz Auf die Eingangsfrage nach der „derzeitigen Lebenssituation“ antwortet Frau Ziller: 2 SZ 1 Nja- also ich, habe einen siebzehn Monate alten Sohn, und ähh- bin eigentlich gerne, Hausfrau und Mutter, aber aufgrund meiner Ausbildung äh- die doch sehr viel Zeit in Anspruch genommen hat, äh- fühl ich mich denn dann manchmal schon, (.) ja; wie soll ichs ausdrücken; (2) ja n bisschen unwohl in meiner Haut ich bin dann immer hin und hergerissen; auf der einen Seite, möcht ich meinen Sohn nicht vernachlässigen, auf der andern Seite würd ich aber auch gerne wieder was andres sehn, und- auch wieder in meinem Beruf arbeiten.
Frau Ziller beginnt ihre Schilderung mit ihrem Sohn, der im Unterschied zu den bisher dargestellten Fällen, den zentralen Aspekt der Lebenssituation ausmacht. Wie konkret ihm diese Bedeutung zukommt, wird auch in der monatsgenauen Angabe seines Alters deutlich. Frau Ziller ist also nicht allgemein Mutter eines Kindes, sondern hat ein kleines Kind von knapp eineinhalb Jahren zu versorgen. Mit der Altersangabe ist auch ihre derzeitige Lebenssituation zeitlich umrissen, offenbar ist mit der Geburt des Kindes eine Veränderung eingetreten. Nun fährt sie nicht mit einer weiteren Aufzählung von Aspekten fort, die ihre Lebenssituation weiter beschreiben würden, sondern gibt eine Einschätzung der Situation. Sie qualifiziert dabei nicht das Zusammenleben mit ihrem Sohn lebenspraktisch (etwa in der Form: ich bin eigentlich gerne mit ihm zusammen), sondern bewertet ihre Position positiv (gerne), indem sie sich 3
Das Interview wurde ebenfalls im Rahmen der Lehre im Sommersemester 2003 von zwei Studierenden in der Wohnung von Frau Ziller geführt. Der Kontakt entstand durch einen Aushang mit einem Gesuch nach Interviewpartnern. 173
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
in Kategorien der sozialstatistischen Wendung ‚Hausfrau und Mutter‘ bezeichnet. Eine solche abstrakte Perspektive deutet an dieser frühen Stelle des Interviews auf einen Legitimationsbedarf hin, war doch eine Einschätzung ihrer Lebenssituation nicht Bestandteil der Eingangsfrage. Folgerichtig fährt sie mit dem durch das eigentlich vorbereitete aber fort. Ihrer Freude an ihrer jetzigen Situation, die durch ihr Kind und den Haushalt ausgefüllt ist, steht kein konkreter, alltagspraktischer Umstand entgegen (etwa: aber ich habe gar nicht genug Zeit für meinen Sohn, weil ich noch arbeiten muss), sondern ihre Ausbildung. Ohne diese näher zu bestimmen, bezieht sich Frau Zillers Erwägung der Bedeutung ihrer Ausbildung auf die Zeit, die sie dort investiert hat. Eine möglicherweise vorhandene Sachbindung ist ihrer Kalkulation nachgeordnet, die sich in der Berechnung des möglichen Ertrags ihrer Ausbildung zeigt. Unter einem Sachbezug hätte sie ihre Qualifikation näher bestimmt oder ihr Interesse am Gegenstand ihrer Ausbildung ausgedrückt. Auch zeigt sich keine Status- oder Karriereorientierung, denn die Formulierung Ausbildung bezeichnet hier eine formale Statuspassage und keine konkrete Berufsausbildung. Denn aus den biografischen Daten ist bekannt, dass sie keine Berufsausbildung absolviert hat, sondern ein Studium mit angeschlossener Promotion. So steht diese Bezeichnung für ein abstraktes Durchlaufen einer biografischen Phase, die nur kalkulierend gerechtfertigt erscheint, wenn sie nutzbringend eingesetzt wird. Da Frau Ziller derzeit nicht beruflich tätig ist, entfällt der ‚Lohn‘ dieser Anstrengung. Der berufliche Habitus erscheint hier programmatisch und abstrakt einer Pflichtethik zu folgen. Dies spricht zunächst für die aus der Analyse der biografischen Daten gewonnene These einer schematischen Identifikation mit der väterlichen Linie. Angesichts ihrer Übernahme der Fürsorge für ihren Sohn entsteht für Frau Ziller ein ambivalentes Gefühl, da sie die Ausbildung derzeit nicht nutzt. Dieses Gefühl ist allerdings nicht stark (denn dann manchmal schon), lässt sich nicht direkt ausdrücken und bleibt in der Ausprägung vage (n bisschen unwohl in meiner Haut). Die Haut als größtes Organ des Menschen dient der Atmung, der Ausscheidung und der Wärmeregulierung. Sie ermöglicht Kontakt und Berührung ebenso wie Abgrenzung und Schutz. Sie ist Ausdrucks- und Darstellungsorgan, denn mit der äußeren Hülle des Menschen präsentiert er sich nach außen. Sind Innen und Außen nicht im Einklang, zeigen sich situative oder auch anhaltende Reaktionen wie z.B. Erröten, Erblassen oder Erkrankungen der Haut. Mit dem Unwohlsein in der eigenen Haut, ist ein Konflikt zwischen innen und außen angesprochen, zwischen der inneren Haltung und äußeren Umständen. Um den Konflikt zu lösen, muss entweder die Haltung überdacht werden oder die Umstände bedürfen einer Veränderung. 174
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
Wenn diese seltenen Momente (manchmal) auftreten, ist Frau Ziller von der Ambivalenz ergriffen (immer hin und her gerissen). Damit verlagert sie den Konflikt nach innen und schildert zwei widerstrebende Haltungen in sich selbst: Zur einen Seite zieht sie die Fürsorge für ihr Kind, die ebenso stark ist wie das, was von der anderen Seite ‚zieht‘: der Wunsch, etwas anderes zu sehen und die Arbeit in ihrem Beruf. Ihrer Formulierung nach fürchtet sie, ihren Sohn zu vernachlässigen, würde sie ihren Wunsch nach anderen Erfahrungen erfüllen, die nichts mit der Erziehung zu tun haben. Etwas anderes zu sehen als Haushalt, Bauklötze und Windeln (s.u. 189 SZ 91) wörtlich verstanden, erscheint dabei kaum als unvereinbarer Gegensatz zur Fürsorge, wenn nur eine bloße Abwechslung im Sinne eines ‚Tapetenwechsels‘, eines anderen sinnlichen Wahrnehmungsbereichs gemeint ist. Nun wird die andere Seite aber erweitert und konkretisiert als berufliches Tun. Der Beruf bleibt hier ebenso wie zuvor die Ausbildung ein Schema auf gleicher Ebene wie ihre Positionsbezeichnung Hausfrau und Mutter. Was genau sie am beruflichen Tun reizt, welcher Art Abwechslung von was genau sie aufsuchen möchte, bleibt so unklar wie ihre Ausbildung und ihr Beruf bisher sind. Die These zur Fallstruktur, wie sie sich nach der Analyse der biografischen Daten andeutete, bestätigt sich hier: Eine Sachbindung an den Beruf ist bisher nicht zu erkennen, der innere Widerstreit zwischen familialen und beruflichen Ambitionen stellt sich zunächst ebenso schematisch dar wie die Identifikation mit der männlichen Linie. Damit bleibt der hier als innerer Widerspruch konkretisierte Konflikt auch in seiner Ambivalenz zwischen innen und außen bestehen, wie er in der Metapher des Unwohlseins in der eigenen Haut zum Ausdruck kommt. Der innere Widerstreit rührt von einer programmatisch und daher äußerlich bleibenden Orientierung her.
Berufliche Bewährung Die These einer schwachen Sachbindung wird nun überprüft und der berufliche Habitus genauer bestimmt. Die Interviewerin fragt im Anschluss an die oben zitierte Eingangssequenz nach ihrem Beruf. 4 SZ 2 Ja ich bin Chemikerin, und hab äh- im Fachbereich Maschinenbau promoviert, (I1: Hm.) hab auch aufgrund dieser Ausbildung […] meinen derzeitigen und den Job voran gehend, bekommn, äh- ja Studienkollegen hatten da nich so großes Glück, […]aber ich konnte denn dann doch in dem Bereich arbeiten- wo ich dann auch äh studiert habe.
Frau Ziller nennt bekräftigend (ja) ihren Beruf in weiblicher Bezeichnung. Für sie ist es bedeutsam, dass sie als Frau diesen Beruf ergriffen hat. In der Formulierung ich bin drückt sich aus, dass dieser Beruf ein 175
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Teil von ihr ist, ebenso wie oben ihr Mutter- und Hausfrau-Sein. Auf eine Tätigkeit in der chemischen Forschung und Entwicklung ist Frau Ziller nicht festgelegt, in ihrer Rede fügt sich der Wechsel zum Maschinenbau nahtlos an das Chemiediplom an, obgleich der Wechsel der Promotionsstelle faktisch einen zeitlichen Verlust von zwei Jahren mit sich bringt. Vor dem Hintergrund ihrer Kalkulation von Ausbildungsaufwand und Ertrag ist es sowohl überraschend, dass sie diesen Verlust in Kauf nimmt, als auch, dass sie ihn nicht thematisiert. Entgegen der bisher zutage getretenen Stringenz ihres beruflichen Werdegangs, tritt hier eine Verzögerung auf. Diese beiden Phasen ihrer Qualifizierung – Studium und Promotion – fasst sie hier nochmals als Ausbildung zusammen. Sie haben ihre Bedeutung nicht in sich, sondern in Bezug auf ihren Nutzen, wie der nächste Teilsatz nochmals verdeutlicht: Ihre Ausbildung hat ihr einen Job ermöglicht und einen weiteren im Anschluss an den ersten. Mit Job ist hier nicht – ebenso wenig wie zuvor bei Frau Grebe – eine niedrig qualifizierte Tätigkeit mit geringer inhaltlicher Identifikation gemeint oder eine Tätigkeit, die vor allem zum Erwerb des nötigen Lebensunterhalts dient, wie Gorz (2000: 86ff.) es als Kennzeichen der „Job-Holder“ in seiner Interpretation internationaler Studien ausweist.4 Sondern Job meint hier unprätentiös eine Beschäftigungsstelle gemäß der erworbenen Qualifikation. Ihr Augenmerk legt Frau Ziller auch in dieser Schilderung auf den Ertrag ihrer Ausbildung, unterstrichen durch den Vergleich mit ihren Kommilitonen, die ihr Glück nicht teilten und fachfremde Stellen annehmen mussten. Insofern ist Frau Zillers beruflicher Habitus sachgebunden, aber weniger auf eine bestimmte Sache hin als auf den Tatbestand, im Fachgebiet ihrer Qualifikation arbeiten zu können. Neben die Ertragskalkulation als Antrieb ihrer Wahl tritt hier auch eine Konsistenz im Sinne eines ‚roten Fadens‘, denn die Wahl des Studien- und Promotionsfaches ist wohl überlegt und folgt bei Frau Ziller einer familiären Tradition. Frau Ziller beschreibt die familiäre Prägung durch den Vater mit Hilfe einer Geschichte: Eines Morgens ging er mit seinen Söhnen zur Hauptstraße.5 Das erste Mal morgens um fünf Uhr. Hier zeigte er ihnen die Arbeiter, die zur Baustelle oder in die Fabrik fuhren. Das zweite Mal
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Eine Re-Analyse dieser Studien wäre aufschlussreich im Hinblick darauf, ob dort die Rede von „Jobs“ nicht eine Chiffre darstellt und die Interpretation einer veränderten Haltung zur Arbeit (deren sinkende Bedeutung) missverständlich ist. Aufgrund des hohen Altersabstandes der beiden Söhne ist zu vermuten, dass in der Geschichte ein Mythos verstetigt ist, der sich so oder ähnlich zugetragen haben kann. Für die Aussage der Geschichte, die Frau Ziller damit verbindet, ist der Authentizitätsgehalt unerheblich.
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IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
ging er um acht Uhr zur selben Straße und zeigte ihnen die Angestellten, die ins Büro fuhren. Sodann stellte er die Brüder vor die Frage: Wollt ihr nun weiter zur Schule gehen oder nicht? Auf diese Weise, so die Interpretation von Frau Ziller, sei die berufliche Weiche der Brüder in die Richtung Bauingenieurwesen gestellt worden, denn nach ihrer Mittleren Reife und der anschließenden Berufsausbildung haben beide noch studiert. In dieser Geschichte werden zwei Aspekte deutlich: Erstens motiviert der Vater die Söhne durch die Vorzüge, die eine höhere Qualifikation und der Angestelltenstatus im Vergleich zu den Arbeitern für die Lebensführung mit sich bringt. Dieser Aspekt wird hier zugespitzt auf die Frage des Arbeitsbeginns in der Früh mit allen Konnotationen, die mit dem Arbeiter- im Unterschied zum Angestelltenleben mitschwingen und die die Söhne sich durch die eigene Anschauung vergegenwärtigen sollen. Vor allem der Status steht hier im Mittelpunkt, der sich aber im Bild der Geschichte nicht in der Einkommenshöhe widerspiegelt, sondern in Fragen der Lebensqualität. Der zweite Aspekt, der dieser Geschichte inhärent ist, aber nicht expliziert wird, hat mit der inhaltlichen Ausrichtung des Berufs zu tun. Der Vater gibt der Geschichte zufolge keinen speziellen Beruf vor. Das Berufsspektrum ist durch die abgeschlossene Berufsausbildung der Brüder aber schon in der Tendenz konkretisiert. An diese Ausbildung im Bereich des väterlichen Berufs sollen die Kinder nun eine weitere Qualifikation anschließen. Inwieweit gilt diese Orientierung und Führung durch den Vater auch für Frau Ziller? Frau Ziller beschreibt sich im Anschluss an die Schilderung der Geschichte als technikbegeistertes Kind („ich hab als Kind schon Wecker auseinandergebaut“ 134 SZ 66). Mit Stolz ordnet sie sich hier explizit in die männliche Familienlinie ein. In einer früheren Sequenz des Interviews wird sie nach ihrem Berufswunsch gefragt: 37 SZ 17 Also in die Technik (I1: ach so) wollt ich immer also ich hatte die Wahl so zwischen äh Bauingenieurwesen- oder halt hä (.) ja Chemie
Der Bezug zu einem technischen Beruf steht selbstverständlich von Beginn an im Mittelpunkt ihrer beruflichen Suchbewegung. Um technische Gegenstände herum kommen ihr zwei Fachgebiete ins nähere Blickfeld: Bauingenieurwesen und Chemie. In dieser Verbindung zur technischen Ausrichtung ihrer Interessen kann sich unter Chemie nur die Perspektive der praxisnahen chemischen Forschung und Entwicklung verbergen, theoretische Chemie im universitären Forschungskontext käme demnach weniger in Betracht. Frau Ziller beschreibt ihre Wahl, vor der sie steht, wie vorentschieden. Faktisch stellt sich an der Einmündung von der Schule in die weitere Berufsqualifikation das Spektrum um einiges größer dar, aus dem auszuwählen ist. Selbst mit der selbstverständlichen 177
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Orientierung an technischen Berufen, blieben eine Reihe möglicher Ausbildungs- und Studienwege offen. Hier aber verengt sich ihr Blick von vornherein auf zwei Alternativen. Denn die vage Formulierung so zwischen spannt hier kein Kontinuum an möglichen Berufsfeldern auf (etwa im Sinne von: ‚so zwischen Bauingenieurwesen und Chemie‘), da statt eines ‚und‘, welches das Kontinuum erst vollständig macht, Frau Ziller die beiden genanten Fächer durch ein oder als zwei konkrete Wege vor Augen hat, die sich ihr eröffnen. Mit der Wahl des Faches Chemie bewegt sich Frau Ziller in einem eigenen, von den Brüdern unterschiedenen Fachgebiet, begründet hier also sichtbar einen eigenen Weg. Wodurch ist diese Wahl motiviert und wie erklärt sich dann der Wechsel zum Maschinenbau? In der Antwort auf diese Fragen dürfte sich der leistungsethische Habitus konkretisieren lassen. Im Interview begründet sie den Wechsel in den Maschinenbau so: 12 SZ 6 […] nach dem Chemiestudium, Abschluss des Chemiestudiums bin ich zu den Ingenieuren gegangen, weil mir- die Chemie doch son bisschen zu theoretisch war. (I1: Ah.) (2) (I1: Ahja) Die Industrienähe war mir schon immer- recht- (2) nnd recht wichtig.
Auch an dieser Stelle beschreibt Frau Ziller keine inhaltlichen Interessen, sondern hebt noch im Wechsel des Fachgebietes hervor, dass sie zunächst einen Abschluss ihres Studiums vorgenommen hat. Die Zielrichtung erscheint hier personalisiert, als habe sie konkrete Ingenieure vor Augen, zu denen sie geht. In Passung zu dieser Wendung begründet sie die Abkehr von der Chemie mit der Theorielastigkeit, die ihr allerdings spät auffällt (doch), denn zwischen dem Studienabschluss und dem Antritt der Promotionsstelle im Maschinenbau ist sie zunächst zwei Jahre lang wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Chemie. Diese Verzögerung hatte sie oben schon einmal unerwähnt gelassen (4 SZ 2). Insbesondere vor dem Hintergrund von Frau Zillers kalkulierender Haltung zu ihrer Ausbildung ist hier eine Unentschiedenheit zu erkennen, wohin von dieser Stelle aus ihr Weg weiter führen soll. Die längere Pause (zwei Sekunden) zeigt einen Begründungsbedarf, den Frau Ziller nicht so leicht einlösen kann. Darauf deuten auch die zweite Pause sowie ihr zweiter Anlauf zur Begründung hin. Konsistent zu ihrer Technikbegeisterung ist ihre Vorliebe für die Industrienähe ihrer Tätigkeit. Auch hier legt Frau Ziller großen Wert auf den ‚roten Faden‘ (schon immer) ihrer Interessen. Warum aber ihre Wahrnehmung des Spektrums an Wahlmöglichkeiten auf die oben genannten zwei Fächer begrenzt ist, wird hier nicht erklärt. Ein Ingenieurstudium oder eines der Chemietechnik hätte nach den hier beschriebenen Interessen näher gelegen.
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Ihre Promotion bezeichnet sie als „gezwungen“, die sie aus berufsperspektivischen Gründen absolviert hat. Lieber hätte sie „ohne Promotion irgendwo angefangen“ (39 SZ 19). Für Chemiker hält sie die Promotion für unnötig, für sich selbst im Sinne eines weiteren Bildungsschrittes im Rahmen einer wissenschaftlichen Laufbahn strebt sie sie nicht an. Eine Praktikumerfahrung in Dänemark, wo Promotionen von Naturwissenschaftlern offenbar weniger als in Deutschland erwartet werden, bestärkt sie in ihrer Haltung. Dass sie sie dennoch beendet, liegt an den in Deutschland üblichen Qualifikationsstufen, die Frau Ziller in Kommentaren von Kollegen zitiert: „Chemiker ohne Promotion und dann noch als Frau?“ (ebd.) Es sind hier die Berufschancen angesprochen, die den Ausschlag geben: Um als Frau im Bereich Chemie eine adäquate Berufstätigkeit zu finden, und dies heißt in der Entscheidungsstruktur von Frau Ziller immer auch: damit sich der Aufwand der Ausbildung lohnt, ist eine Promotion notwendig. „Also da kam man sich dann irgendwo sehr unvollständig vor. (lacht)“ (ebd.) Erst die Promotion macht Frau Ziller zu einer vollständigen Chemikerin, erst mit diesem Qualifikationsschritt ist ihre Ausbildung damit auch vollständig. Ihre inhaltliche Faszination an der beruflichen Tätigkeit wird in einer Schilderung ihrer Erfahrungen während ihres ersten Jobs deutlich. Das Programm für Führungsnachwuchs, das sie in einer Gummifirma in Weinheim absolviert hat, beschreibt sie so: 45 SZ 22 Man hat dort wirklich von der Pike auf gearbeitet die ersten vier Wochen inner Produktion, mit den Armen bis (I1: lacht) zu den Ellenbogen in Öl, (I1: lacht) also das war sehr interessant; und äh auch die Projekte die man dort hatte(.) warn nich,(.) waren keine typischen Traineeprojekte; kopieren un Kaffee kochen- sondern(.) anspruchsvolle Sachen(.) war ne tolle Sache
Die Teilnehmer des Programms durchliefen verschiedene Unternehmensbereiche, angefangen mit der Produktion. Nachdrücklich fasziniert ist Frau Ziller vom sinnlichen Kontakt mit dem Werkstoff Öl. Das Lachen der Interviewerin spiegelt dabei die Lebendigkeit, mit der Frau Ziller von dieser Erfahrung berichtet. Die weiteren Projekte, die Bestandteil des Programms waren, nennt sie nicht, grenzt sie nur von ungelernten Routinetätigkeiten ab als anspruchsvolle Aufgaben. Es bleibt offen, worin das Anspruchsvolle lag, das sie als tolle Sache erlebt hat. Eine konkrete Sachbindung über das Interesse an Technik allgemein und an einer Praxisnähe der Tätigkeit ist auch an dieser Stelle – die konkreteste im Interview – nicht zu erkennen. Frau Ziller folgt einem programmatischen Leistungsethos.
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Der Wechsel von Weinheim nach Z-Stadt zu einem Unternehmen, das an der Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis agiert, ist familiär bedingt. Ihr Lebensmittelpunkt war weiterhin X-Stadt, wohin sie von Weinheim zum Wochenende pendelte, denn ihr Lebensgefährte arbeitete damals schon auf seiner heutigen Stelle im Ruhrgebiet, ihre Mutter war schwer erkrankt. 47 SZ 23 […] nach ner gewissen Zeit ging das nich mehr und da musste ich mir dann überlegen was ist mir wichtiger. (.) (atmet ein) Klar Karriere war damit denn dann abgeschlossen (lacht)
Es liegt eine ähnliche Entscheidungsstelle vor wie die von Frau Grebe thematisierte Kündigung. Auch hier ist der Hintergrund eine umfangreiche Pendelerfordernis, die mit familiären Beziehungen in Konflikt gerät und nach einer Weile als nicht mehr angemessen empfunden wird. Während Frau Grebe ihre Routine durchhält bis zur physischen Erschöpfung, entscheidet Frau Ziller früher, als sie merkte, dass das nicht mehr ging. Sie entscheidet sich – im Ergebnis wieder vergleichbar mit Frau Grebe – für den nahräumlichen Kontakt zu ihrer Familie. Der Entscheidungsweg allerdings weist einen bedeutsamen Unterschied auf: Frau Ziller bleibt Agens ihrer Auswahl aus dem Raum der Möglichkeiten, sie trifft ihre Entscheidung nach ihren Vorstellungen und macht hier nicht – wie Frau Grebe – äußere Bedingungen verantwortlich (es lohnt sich nicht […] die Gesellschaft erkennt es nicht an, 131 BG 66). Doch ist diese Entscheidung auch für Frau Ziller eine tiefgreifende, was sich am tiefen Atemzug zeigt sowie an der Konsequenz, die der Stellenwechsel mit sich bringt: das Ende eines Aufstiegsweges. Diese Schlussfolgerung ist allerdings nicht so selbst erklärend, wie Frau Ziller sie hier vorträgt (klar). Denn nach der Kündigung sind Stellenwechsel in karriereträchtige Positionen nicht prinzipiell ausgeschlossen, selbst wenn Frau Zillers räumliche Mobilität auf das Ruhrgebiet begrenzt wäre. So zeigt sich in der Schlussfolgerung von Frau Ziller aber eine innere Realität, in der sie an dieser Entscheidungsstelle in ihrem beruflichen Werdegang mit einer weiteren Aufstiegsambition abgeschlossen hat. Dies vollzieht sie nicht unversöhnt, worauf ihr Lachen hindeutet. Zudem kommt in der Formulierung Karriere keine konkrete praktisch gefüllte Berufs- und Aufstiegsperspektive zum Ausdruck, sondern der Begriff ohne bestimmten Artikel bezeichnet eine Formel, er liegt systematisch auf der Ebene der vorher genannten Statuspassagen Ausbildung, Beruf, Hausfrau und Mutter. Womit Frau Ziller zufrieden abschließt, ist also das schematische Programm innerhalb der väterlichen Traditionslinie. Allerdings führt diese Entscheidung nicht zum Ausstieg aus dem beruflichen Feld, sondern sie mündet umgehend in eine Leitungsposition im Bereich Technologie180
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transfer und Forschungsbegleitung, auf der sie sich zum Zeitpunkt des Interviews in Elternzeit befindet.
Familiale Bewährung Von ihrer Aufstiegsorientierung und vornehmlich auf den Beruf gerichteten Bewährung hatte Frau Ziller bereits vor ihrer Schwangerschaft aus familiären Gründen Abstand genommen. Im Folgenden wird die Familiengründung genauer beleuchtet, um die eingangs geschilderte Ambivalenz und die Stellungnahme Frau Zillers zur Bewährung in Beruf und Familie aufzuklären. Sehr ähnlich zur Schilderung von Frau Grebe hält auch Frau Ziller bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr nicht für erstrebenswert, Mutter zu werden. Die Interviewerin fragt, ob die Familiengründung dann geplant war: 53 SZ 26 ja doch (.) doch also bis dreißich (.) wollt ich nie Kinder habn (lacht) Familie war mir ganz fern (.) ja wie gesacht ich hab für die Arbeit gelebt (.) und da dann irgendwann, kams denn dann doch, (.) der Wunsch so nach Familie nach Kindern und das war doch geplant denn ich mein ich bin jetz (.) fümdreißich sechsndreißich ja sechsndreißich bin ich schon (.) und das war dann doch ä mm wurds Zeit, (lacht)
Frau Ziller betont, dass ihr Kind gewollt war, zeigt aber in der Antwort noch Verwunderung darüber, dass sich ihre Absichten so ändern konnten (doch und Lachen). Zuvor war sie überzeugt davon, keine eigenen Kinder zu wollen. Die Vehemenz, mit der sie diese Überzeugung vorbringt (nie Kinder, ganz fern), trägt programmatischen Charakter, eine Familie lehnte sie demnach kategorisch ab. In der Formulierung „war mir ganz fern“ sind die beiden Aussagen ‚lag mir fern‘ und ‚war mir fremd‘ zusammengezogen. Familie, in der Formulierung ohne unbestimmten Artikel – im Unterschied etwa zu ‚eine Familie‘ oder ‚eine eigene Familie‘ – erscheint hier als Schema, da Familie unkonkret bleibt. Es ist dieses Schema, das ihr Familie fremd macht und das sie ablehnt. Die Fremdheit einer Vorstellung von Familie hat einen lebenspraktischen Erfahrungshintergrund, der hier nur vermutet werden kann: Entweder ist Frau Ziller eine lebendige Identifikation mit der mütterlichen Linie nicht möglich, etwa weil ihre Mutter in der Familienposition nicht authentisch gebunden war. Oder ihre Identifikation mit der väterlichen Linie kann nicht in Übereinstimmung mit einer eigenen Familie gebracht werden. In dem Fall läge ein Ablösungsproblem aus der Vaterbindung im Hintergrund. Worin auch immer das Schemenhafte wurzelt, das Frau Ziller hier ablehnt, es zeigt sich in ihrer Haltung zur Familie abermals ein modernes Phänomen, wie es schon bei Frau Grebe zu Tage trat: Eine eigene Familie zu gründen, ist zu einer begründungsbedürfti181
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gen Entscheidung geworden, und für Frauen ist die Mutterschaft kein alternativloser und selbstverständlicher Bewährungsmythos (mehr). „Die Arbeit“, wie Frau Ziller hier ihren zentralen Lebensinhalt beschreibt, wird an dieser Stelle wie auch schon zuvor als Kategorie genannt, wieder bleibt sie unkonkret, die inhaltliche Aufgabe ist nicht erkennbar, eine Begeisterung nicht spürbar. Eine programmatische Leistungsethik bestätigt sich hier. Der Wandel überkommt sie voraussehbar (kams), aber unerwartet (dann doch). In der gedanklichen Abfolge da dann irgendwann wird die zunächst angelegte Konkretion (da dann) wieder zurückgenommen zum unbestimmten irgendwann. Anders als Frau Grebe delegiert Frau Ziller ihren Haltungswandel nicht an ein Schicksal, doch bleibt auch ihr der Kinderwunsch äußerlich: Er kam aus einer anderen Entscheidungsinstanz in ihr. So macht sich Frau Ziller in ihrer Entscheidung etwas Allgemeines (Wunsch so nach Familie nach Kindern) zu eigen, bleibt dabei unklar (so), und Familie und Kinder erscheinen auch an dieser Stelle ohne nähere Bestimmung (unbestimmte Artikel, Possessivpronomen fehlen wiederum) als Kategorie. Was nun geplant war, ist zwar durch die Interviewerfrage als die Familiengründung gerahmt, aber sequenziell bezieht sich diese Erklärung auf den Wunsch. Dieser scheit sie nun dann doch irgendwann zu ereilen (war doch geplant), von innen kommend und als lebendiger Antrieb zeigt er sich hier nicht. Das Schemenhafte durchzieht auch die Ablaufgestalt, in die Frau Ziller die Familiengründung einordnet: Nicht anhand realer Beweggründe von einst, sondern in diskursiv zu klärender, aktuell anhaltender Unsicherheit (ich mein) begründet sie das Aufkommen ihres Wunsches mit ihrem Alter (wurds Zeit). So programmatisch wie bisher ihr beruflicher Werdegang und ihr Leistungsethos erschienen war, so zeigt sich hier auch ihre Haltung zur Familiengründung. Einer authentischen, von innen motivierten Entscheidung scheint in beiden Feldern eine fehlende Identifikation entgegen zu stehen. In der fallspezifischen Entscheidungsstruktur Frau Zillers ist ihre Autonomieentfaltung dadurch eingeschränkt, dass sie sich einem Programm subsumiert. Dieser Befund verweist auf die Bedeutung der in der Herkunftsfamilie oder gegenüber ihr nahe stehenden Personen möglichen Identifikation hinsichtlich beider Felder: der beruflichen sowie der familialen Bewährung. Im Prozess der Identifikation kommt der Geschlechtlichkeit der Praxis eine doppelte Bedeutung zu. Zum einen verkörpert jedes Elternteil sein eigenes Geschlecht in Bezug auf die je eigene Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern mehr oder weniger authentisch und bietet für die Tochter (gleiches gilt für den Sohn) ein daher mehr oder weniger ungebrochenes Identifikationsangebot. Zum anderen ist der Raum der 182
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Möglichkeiten zwar nicht geschlechtsspezifisch determiniert, aber in der je konkreten Generationenlagerung nicht beliebig weit. Mit geschlechtsbezogenen Deutungen und kulturellen, rechtlichen oder politischen Restriktionen sind Männer und Frauen unterschiedlich konfrontiert. An anderer Stelle beschreibt Frau Ziller zum Beispiel, wie noch sie selbst beargwöhnt wurde, als sie als Mädchen von der Grundschule im Dorf zum „Gymnasium in die Stadt“ (33 SZ 16) wechselte. Für ihre Mutter ist in deren Generationenlagerung zu vermuten, dass ihr die Entscheidung für höhere Bildung und einen qualifizierten Beruf weniger offen stand als für Frau Ziller und für die männlichen Angehörigen der Elterngeneration. Die Hochschätzung des Berufserfolgs als Ausweis für ein gelungenes, erfülltes Leben galt zwar bereits damals, war aber noch nicht für beide Geschlechter gleichermaßen realisierbar. Dieser kulturelle Lag führt die weibliche Biografie generationenspezifisch in Widersprüche. Auch wenn Frau Ziller der Bildungsweg zur Promotion offen stand, so ist sie mit der Hypothek ihrer Elterngeneration innerlich belegt. Es muss aufgrund des verfügbaren Materials eine Vermutung bleiben, inwieweit hier für Frau Zillers Mutter eine fehlende authentische Lebensführung auf unerfüllte latente Berufswünsche zurück geht oder ob die Praxis der Eltern miteinander die Erfahrung eines gelungenen Familienlebens eintrübte. Wird jedoch die berufliche und familiale Bewährung in den Bezugspunkten auf Vater und Mutter aufgespalten, wie es in der Familie Ziller gegeben war, dann wird die Konsistenz der eigenen geschlechtsbezogenen Identifikation mit der beruflichen als väterlich konnotierte Linie auf eine Probe gestellt, die sich spätestens mit dem Eintritt in die Mutterschaft als manifester innerer Konflikt zeigt. Mit einem Vereinbarkeitsproblem hat das wenig zu tun, wenn man darunter nur oberflächlich die organisatorischen Fragen einer lebenspraktischen Kombination beider Felder – Beruf und Familie – versteht. Aber auch für das Erklärungskonzept der „doppelten Vergesellschaftung“, das auf die widersprüchlichen Bedürfnisstrukturen abzielt, die aus einer „doppelten Sozialisation“ (Knapp 1990: 27) von Frauen herrühren, ergeben sich aus der oben analysierten Genese des Identifikationskonfliktes aufschlussreiche Hinweise auf die Entwicklungs- und Aneignungsgeschichte der beiden, widersprüchlichen Bezugspunkte des Handelns. Es sind hier nicht unauflösbare Differenzen in den Bewährungslogiken, die bei Frau Ziller zu einem inneren Konflikt und biografischen Widerspruch führen, sondern eine Schwierigkeit in der positiven Identifizierung mit beiden geschlechtsbezogen ausgedeuteten Linien. Je strikter nach Geschlechtern aufgespalten die Bewährungsfelder vorgelebt werden, desto schwieriger ist ihre Verbindung in der eigenen Biografie. Auf dieser Ebene liegt das ‚Vereinbarkeitsproblem‘ und stellt sich hier 183
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
exemplarisch im Fall Ziller als kulturelles Problem der Ausdeutung geschlechtsspezifischer Möglichkeitsräume dar. In der folgenden Sequenz wird dies weiter ausgeführt. Für die Zillers stand vor der Geburt fest, dass Frau Ziller sich um das Kind kümmern würde und in Elternzeit geht. Sie begründet diese Entscheidung mit dem Vorbild ihrer Mutter: 22 SZ 11 Doch also von meinem Elternhaus kenn ichs; weil meine Eltern mn ne ja; n Tacken älter warn, und äh- da war das einfach so. Da war die Mutter zu Hause. (I1: Hm.) Die hat zwar ab und an mal so- soziale ähEngagements gehabt, Essen auf Rädern, oder sonstiges, das war auch ganz interessant für sie, aber- grundlegend war sie zu Hause. Meine Mutter.
In der Generation ihrer Eltern hält Frau Ziller die Aufgabenteilung der männlichen Erwerbs- und der weiblichen Haushalts- und Erziehungstätigkeit für üblich. Eine Begründung ist für die Elterngeneration ihrer Wahrnehmung nach nicht nötig (da war das einfach so). Insofern es eine kulturelle Selbstverständlichkeit war, die entsprechende Anerkennung fand, kennt ihre Mutter auch den Konflikt resp. das Problem nicht, das Frau Ziller zuweilen heimsucht. Eine ungebrochene Identifikation mit ihrer Mutter ist aufgrund der für Frau Ziller entscheidenden Bildungsund Berufskarriere vor dem Hintergrund dieses kulturellen Wandels der Ausdeutungen der geschlechtsspezifischen Aufgabenbereiche nicht möglich und zerreißt sie manchmal innerlich: Es ist die väterliche und die mütterliche Linie, die sie in zwei entgegen gesetzte Richtungen zieht. Doch auch Frau Zillers Mutter möchte über die Familie hinaus etwas leisten von übergeordnetem Zweck. In der Darstellung Frau Zillers liegt die Bedeutung ihres ehrenamtlichen Engagements im Bereich sozialer Dienstleistungen in der zusätzlichen Erfahrung (ganz interessant für sie). Frau Ziller interpretiert es entlang ihres Deutungsmusters etwas anderes sehen, im Sinne des von ihr selbst ersehnten ‚Tapetenwechsels‘. Berufliche Tätigkeit gerät hier nicht in den Blick, sondern Frau Ziller hebt die grundlegende Bewährung ihrer Mutter in der Familie als eindeutig und entschieden gewähltes Feld hervor. Nicht ohne Stolz fügt sie „meine Mutter“ an diese Betrachtung an. Hier findet Frau Ziller ein Vorbild, einen positiv konnotierten Bezugspunkt zur mütterlichen Linie. An anderer Stelle im Interview begründet Frau Ziller ihre eigene Entscheidung, als Mutter zuhause zu sein, mit ihrer Erziehung: „also ich bin da eigentlich ganz gut mit gefahren, dass meine Mutter zu Hause war“ (73 SZ 36). Aus ihrer eigenen Erfahrung als Kind rührt ihre Überzeugung, dass es auch für ihr Kind gut sein wird, wenn sie zuhause ist. Sie schildert in diesem Zusammenhang nicht wie sonst programmatisch, 184
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
sondern lebendig, welche Freude es ihr gemacht habe, mit der Erfahrung aus ihrem Elternhaus anderen Kindern Nachhilfe gegeben und Kinder betreut zu haben. Hier gibt es eine Identifikationslinie, die sie als innerlich konsistent erlebt und die ihren Wert aus sich selbst bezieht. Für ihr eigenes Kind will sie diese Erfahrung nutzbar machen und leitet als ihre Aufgabe ab, für die Kinder da zu sein, „insbesondere dann, ä wenn sie in die Schule gehen“ (ebd.). Hier fließt sowohl ihr eigener Bildungsweg als auch ihre Kindheitserfahrung als Qualifikation für die Erziehung ihrer Kinder zusammen. Besonderes Augenmerk legt sie – anders als zu erwarten wäre, aber konsistent zu ihrem Werdegang – nicht auf die Fürsorge in den frühen Jahren, sondern auf die Bildungsmöglichkeiten ihrer Kinder. So versöhnt sich in dieser Lösung ihr innerer Konflikt der widersprüchlichen Identifikationslinien: Über die Sorge und Unterstützung ihres Sohnes auf seinem Bildungsweg kann sich ihre eigene Ausbildung lohnen. Eher wie ein Reflex auf diese Überzeugung klingt Frau Zillers Begründung, warum ihr Mann die Elternzeit nicht mit übernimmt: Wenn ihr manchmal die Decke auf den Kopf fällt und er ihr vorschlägt, sie solle wieder arbeiten und er bliebe zuhause „so ich denke mal es is mehrn Spaß. (.) Er hätte sicherlich auch n gewissen (.) ja gewisse Freude dran aber äm; ich glaube nicht dass er so richtich der Typ dafür wäre“ (55 SZ 27). Ihr Mann kommt Frau Ziller entgegen mit einer Lösung ihrer inneren Unzufriedenheit, die sie aber nicht ernst nehmen kann (Spaß). Ein Tausch der Tätigkeitsfelder mit ihrem Mann entspricht weder ihrer Überzeugung und Freude an der Sorge für ihr Kind, noch hält sie es für ihren Mann für richtig. Wie ernst es ihm mit der hauptsächlichen Übernahme der Fürsorge ist, muss hier nicht geprüft werden, denn für Frau Ziller kommt dies ohnehin nicht in Frage. Aufschlussreich aber ist diese Stelle insofern als Frau Ziller eine extrem gegenteilige Situation als Abgrenzungsfolie nutzt und nicht, wie es ihrer Haltung nach realistischer gewesen wäre, eine Teilung beider Aufgabenbereiche – Beruf und Familie – für beide Partner. Weiter unten wird dieser Aspekt nochmals aufgegriffen, denn im Zuge dieser Überlegung präsentiert auch Frau Ziller das von Frau Grebe angeführte Argument des konservativen Deutschland. An dieser Stelle ist zunächst festzuhalten, dass Frau Ziller ihren Mann nicht als geeignet für die Übernahme der Fürsorge und die Abkehr von seinem Beruf ansieht (nicht der Typ dafür). So erfüllt diese Deutung für sie hier die Funktion, ihre Position als fürsorgende Mutter zu stabilisieren. Der unterliegende Wandel von einer dominanten Arbeitsorientierung hin zur Wahrnehmung der Mutterschaft, soll als Frau Zillers Weg der Transformation genauer betrachtet werden. Zunächst hat Frau Ziller dar185
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
an gedacht, dass sie nach einem Jahr auf der Basis von drei Arbeitstagen wieder in die Firma zurückgeht. Doch Mutter zu werden, entpuppt sich ihrer Erfahrung nach als ein allmählicher Prozess, der nicht mit der Geburt des Kindes sein Ende findet, sondern seinen Anfang nimmt. 67 SZ 33 […] ich hatte es mir das ganz anders vorgestellt. Ich hatt es mir wesentlich (.) lockerer vorgestellt vor allen Dingen hätt ich (.) hatt ich n wesich wesentlich größeren Abstand zum Kind (.) das is ä dieser diese Nähe, diese Beziehung die is erst gewachsen (.) und am Anfang war ich noch davon überzeugt, in nem Jahr (.) gehste wieder arbeiten das is kein Problem, aber dann irgendwann hat man so diese Beziehung man kann diesen kleinen Wurm doch nich alleine lassen man kann doch da nich einfach (.) son Kind in die Welt setzen und dann sagen mmh jetz geh ich aber wieder arbeiten; das geht nich
In diesem Prozess wird Frau Ziller zunächst mit einem Unterschied (ganz anders) zwischen ihren Vorstellungen und ihrem Erleben konfrontiert. Lockerer hat sie sich das Muttersein vorgestellt. Ihr Kind zu versorgen, macht sie also nicht locker nebenher, sondern das erfordert mehr an Einsatz als sie gedacht hatte. Es ist fester, starrer und im Sinne der alltagssprachlichen Konnotation auch weniger leicht, ernsthafter und anspruchsvoller. Entscheidender aber war für sie ihre Entwicklung, nachdem sie ihr Kind zur Welt gebracht hatte. Hier beschreibt sie einen Wandel von einer anfänglich größeren Distanz hin zu einer allmählich enger werdenden Bindung. Ihr Vorhaben, nach einem Jahr die Erziehungszeit zu beenden, erwächst aus einer Überzeugung, die sie vor der Familiengründung entwickelt hat und die sie in der ersten Zeit nach der Geburt noch aufrechterhält. In der Überzeugung lagert noch eine programmatische Haltung. Denn vor dem Hintergrund ihrer ersten Wandlung – von der kategorischen Ablehnung einer eigenen Familie hin zur Entscheidung für eine Familiengründung – erscheint diese Überzeugung ein programmatischer Zwischenschritt zu einer neuen Überzeugung zu sein. Die Ebene des Programms wird dabei aber nicht verlassen, denn den nächsten Schritt innerhalb dieses Wandlungsprozesses, die Gegenwart, kleidet Frau Ziller in eine allgemeine Regel (man). Zwar vollzieht sich hier die lebendige Erfahrung der realen Beziehung, doch die Begründung für ihren Überzeugungswandel rekurriert auf Formeln (‚man kann doch nicht einfach son Kind in die Welt setzen und dann wieder arbeiten…‘). Allenfalls in der Bezeichnung ihres Kindes als kleiner Wurm ist ihre Anrührung erkennbar, sie erblickt ein schutzloses Wesen, das ihrer Fürsorge bedarf. Diesem Bedarf, ebenso wie dem formelhaften Programm kommt sie nun nach und steckt dabei ihren Handlungsradius klar ab: nicht alleine lassen. An dieser Stelle findet sich eine Wendung 186
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
wieder, die in der Eingangssequenz (Sohn nicht vernachlässigen) als Legitimationsargument gedeutet wurde. Sie baut hier wie dort einen Gegensatz zwischen der wahrgenommenen Fürsorge und einer Sachbindung etwa an berufliche Gegenstände auf. Die Legitimation ihrer Entscheidung wird mit Vehemenz verstärkt, denn niemand, der arbeiten geht, lässt ja im wörtlichen Sinne sein Kind alleine. An dieser argumentativen Anstrengung zeigt sich die Schwierigkeit, mit der Frau Ziller konfrontiert ist: Obwohl für sie selbst diese Wandlung eine konsistente Versöhnung zweier widersprüchlicher – und für sich genommen auch nicht ganz ungebrochener Identifizierungen – darstellt, kann sie sie nach außen nicht ohne Legitimationsdruck und ohne Rekurs auf eine Programmatik positivieren. Diese Schwierigkeit bringt die Stärke des kulturellen Deutungsmusters des herausgehobenen Wertes der beruflichen Bewährung gegenüber fürsorgender Tätigkeit zum Ausdruck. Frau Zillers Vehemenz der Legitimation ihrer Entscheidung wendet sich genau gegen diese gesellschaftlichen Wertsetzungen. Mehrfach kreisen die Fragen der beiden Interviewer um den vermuteten Konflikt, der in der Eingangssequenz angesprochen war. Auf eine dieser Fragen antwortet Frau Ziller: 101 SZ 50 Nein nein nein das is kein Konflikt (.) nur, manchmal hab ich da jetz n Problem dass ich gerne arbeiten möchte (I2:mmh) aber nicht, auf Kosten meines Kindes. Das möcht ich nicht (I2:mmh) als oder ansonsten ist es kein Konflikt für (I1:mmh) mich (.) nur, es is halt (.) wenn ich drüber nachdenke wie ich früher darüber ä gedacht, habe (.) is da wirklich ne ne Wandlung (I2:mmh) von hundertachzich Grad (I2: ja deswegen hab ich jetz nachgefragt ) ne also es is kein Konflikt nein nein.
Mit Nachdruck lehnt Frau Ziller die Bezeichnung ihrer Situation als konflikthaft ab. Da die Interviewer keinen äußeren Anlass geben zu dieser kräftigen Verteidigung, muss für diese Stärke ein Anlass in ihrer inneren Realität bestehen. Ihre Ablehnung eines Konfliktes führt nicht zu einer Beschreibung eines Gegenteils – was der Heftigkeit angemessen gewesen wäre, etwa: ‚nein, nein, es ist kein Konflikt, sondern XY‘ – sondern zu einer Abschwächung: nur manchmal hat sie ein Problem. Ein Problem kennzeichnet eine unklare Krise, während ein Konflikt zwei widerstreitende, zu identifizierende innere oder äußere Kräfte impliziert. Für Frau Ziller erscheint das Problem kleiner (nur), da es sie nur punktuell (manchmal) einholt. Ein innerer Widerstreit konkurrierender Kräfte (wie eingangs formuliert als hin und her gerissen) besteht aber bis zu seiner Lösung dauerhaft. Manchmal kann in diesem Zusammenhang nur verstanden werden als zeitweise Manifestation des dauerhaft
187
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
latenten Konflikts. Das Grundlegende und Dauerhafte wehrt Frau Ziller mit der Vehemenz mehrfacher Verneinungen in dieser Sequenz ab. Der innere Widerstreit besteht hier, wie eingangs und an mehreren Stellen des Interviews immer wieder thematisiert, in ihrem Wunsch zu arbeiten bei gleichzeitigem Antrieb, sich um ihr Kind zu kümmern. In ihrem Wunsch (gerne möchte) drückt sich eine Lust auf die Arbeit aus, deren Gegenstand im Interview zwar abstrakt bleibt, aber mehr als eine Pflichterfüllung ist. Der Wunsch entspricht einer Neigung, er ist also schwächer als ein innerer Drang als er nicht zwangsläufig eine Konsequenz im Handeln nach sich zieht. Im Unterschied zu dieser schwachen Sachbindung stellt sich ihre Fürsorge in den Situationen, in denen sie den Widerstreit spürt (manchmal) als stärker dar. Die Abwägung ‚Arbeit oder Kind‘ geschieht abermals auf der Basis einer Kalkulation (Kosten). Es stellt sich aufgrund ihrer Bildungsanstrengungen auch an dieser Stelle für Frau Ziller die Frage, wie ihre beiden Identifizierungen zusammenzubringen sind. Als Kostenfrage sind sie in einem handhabbaren Rechenmodell zu bezwingen. Die innere Verknüpfung, wie sie sie oben als Bildungsprogramm für ihren Sohn andeutete, ist einerseits noch nicht grundlegend verinnerlicht und stößt andererseits an die Grenzen der äußerlichen Akzeptanz ihrer Entscheidung gegen die weitere Bewährung im Beruf. Als Anerkennungsproblem – etwa im Vergleich zu Frau Grebe – bewegt ihr Hausfrauen-Leben sie nicht, es stellt sich für sie als Legitimationsproblem dar. So ist es nicht verwunderlich, dass sie sich nicht um einen Platz in einer Kindertagesstätte oder um eine Tagesmutter bemüht hat. Auch ihre Anstrengungen, auf ihre Arbeitsstelle zurück zu kehren oder nach einer neuen Beschäftigung zu suchen, haben eher legitimatorischen als absichtsvollen Charakter. Damit bestätigt sich die Entscheidungsstruktur Frau Zillers, dass sie eine innere Versöhnung ihres Konfliktes darin gefunden hat, sich um ihren Sohn zu kümmern. Die manchmal aufkeimende Sehnsucht nach beruflichem Handeln schildert Frau Ziller so: 49 SZ 24 […] nur ausschließlich für die Familie das war auf keinen Fall mein Ziel denn (atmet ein) meine man steckt ja doch ne ganze Menge Kraft und vor allen Dingen auch Zeit in die Ausbildung; und so ganz zu hause bleiben möchte ich nich; (I1: mhmh) so so schön das is und so wichtich mir das auch ist, die Familie ich möchte doch noch (.) nonn ja (.) gewisse Zeit ä meinen Beruf verbringen
Nochmals ist die biografische Kostenrechnung Frau Zillers hier Gegenstand ihrer Überlegungen. Weder hindert sie an einem Ausstieg aus ihrem Beruf ihr Interesse am konkreten beruflichen Tun, noch ist eine Suche nach Anerkennung ihr Antrieb. In der Gegenüberstellung Familie versus 188
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
Beruf setzt sie die Familie mit dem zuhause Sein gleich. In der Entgegensetzung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit erscheint familiäre Tätigkeit als privater Ort. Doch nicht die Privatheit und die hier, so wird es in einem Teil der Frauenforschung diskutiert, fehlende „öffentliche und soziale Anerkennung“ (Becker-Schmidt 1983: 416) sind für Frau Ziller ein Problem, sondern die brachliegende Ausbildungsanstrengung. Dieses Nutzenkalkül treibt ihren Wunsch an, zumindest zeitweise zu arbeiten. Dabei formuliert Frau Ziller ihre beruflichen Absichten so, als sei ihr Beruf etwas, das seinen Zweck aus einer Bindung an Personen bezieht oder als zweckfreie Betätigung gilt: Zeit verbringen kann man etwa mit Kindern, Freunden, mit einem Hobby oder in einem Wochenendhäuschen. Selbst die Formulierung ‚Zeit verbringen mit der Lösung von technischen Problemen‘ würde nicht den berufsgegenständlichen Aspekt in den Vordergrund stellen, sondern wäre angemessener für eine Freizeitbeschäftigung, die dem Charakter nach durchaus ernsthaft, aber eben zweckfrei ist. An einer weiteren Stelle (75 SZ 37) wiegt Frau Ziller die „persönliche Investition“ in ihre Ausbildung gegen den Nutzen daraus auf: „das soll nich einfach so (.) m ja im Sande verlaufen da möchteste auch noch was von haben also (.) das Arbeiten das is iss schon wichtig“. Wieder erscheint ihr Beruf als Kategorie: „das Arbeiten“. Ebenso wie oben „die Familie“ ist die Bedeutung der Bereiche abstrakt. Worin der persönliche Nutzen besteht (was von haben), bleibt an dieser wie an allen anderen Stellen offen. Das Kalkül scheint damit auf einer formalen Aufwandsund Ertragsrechnung zu beruhen. Ohne die Nutzung ihrer Ausbildung scheitert Frau Ziller demnach in der Logik einer betriebswirtschaftlichen Lebensführung. Der zeitliche Rahmen, in dem Frau Ziller den Ertrag aus ihrer Ausbildung erwirtschaften möchte, ist dabei strikt abgesteckt: Mit ihrem Arbeitgeber hat Frau Ziller eine Rückkehr auf ihre Stelle im Umfang von drei Arbeitstagen pro Woche vereinbart. Doch nach ihrer Wandlung, nach ihrer Erfahrung der mütterlichen Bindung und Beziehung, ist sie zu dem vereinbarten dritten Tag pro Woche vor Ort in Z-Stadt nicht bereit. Zwei Tage aber reichen ihrem Chef nicht. Daher hat sich Frau Ziller entschieden, zunächst die Elternzeit zu verlängern. Was hier als relativ kompromisslos erscheint, nimmt Frau Ziller im Interview als Gegenargument direkt vorweg: „Meine- man kann sagen, naja der eine Tag, aber das das kann mman halt nich- nich mnm beurteiln, mein ich mal, wenn man keine eigenen Kinder hat“ (20 SZ 10). Auch an dieser Stelle wird die Anstrengung deutlich, mit der sie sich gegen die verallgemeinerte Norm einer beruflichen Bewährung zur Wehr setzt, die ehemals ihre eigene war. Hier argumentiert Frau Ziller gegen ihre vormalige Über189
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
zeugung an, als sie noch keine Kinder hatte. Auch zum Zeitpunkt des Interviews ist sie aktuell noch immer mit der inneren Überzeugungsarbeit beschäftigt. Ihre Vision beschreibt sie in der Antwort auf die Frage, was sie tun würde, wenn sie ohne Restriktionen ihr Leben so einrichten könnte, wie sie es sich wünscht: 95 SZ 47 da wär ich schon wieder (.) am Arbeiten. (.) Da hätt ich einen (.) Teilzeitjob (.) drei Tage die Woche (.) wobei ich (.) ein bis zwei Tage ins Büro geh (.) und ein Tag (.) in meim eigenen Büro hier im Haus arbeiten würde (.) das Kind, wäre trotzdem bei ner Tagesmutter auch wenn ich den einen Tag zu Hause wäre denn ä ä- wenn das Kind um einen (.) herum- wieselt dann kommt man eh zu nichts (.) und ä; ja doch das könnt ich mir gut vorstellen.
Entscheidend für die Ausgewogenheit ihrer inneren Antriebe sind der zeitliche Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit wie auch der Arbeitsort. Es geht um Nähe und potentielle Erreichbarkeit. Die entstandene Bindung zu ihrem Sohn will Frau Ziller nicht durch ihrem Empfinden nach zu lange Abwesenheit gefährden. Die Delegation der Erziehungs- und Betreuungsaufgaben an eine Tagesmutter kann sie sich prinzipiell gut vorstellen. So fragt es sich, was sie davon abhält, diese Vorstellung zu realisieren. Frau Ziller führt zur Begründung – analog zu Frau Grebe – sowohl Restriktionen aufgrund ihrer Ausbildung an, die sie auf die vorherrschende Arbeitsorganisation und der ihr unterliegende Deutungsmuster zurückführt: Mit ihrer Ausbildung ist Frau Ziller für Führungspositionen oder Sachbearbeitungstätigkeiten mit hoher Verantwortung qualifiziert, für die es wenig Teilzeitangebote gibt. Als Abgrenzung zu ihrer Situation führt sie Beispiele einer Krankenschwester und einer Apothekerin aus ihrem Bekanntenkreis an, deren Berufsfeld eine Teilzeitbeschäftigung zulässt (103 SZ 51). Sie hingegen hat bei einer Bewerbung erlebt, dass ihr ein Mann als Vollzeitarbeitskraft vorgezogen wurde (99 SZ 49), obgleich sich die Tätigkeit von der Aufgabenstellung her als Teleheimarbeit auf Teilzeitbasis geeignet hätte. Als ausschlaggebend für solche Entscheidungen und für ihre mangelnden Berufschancen sieht sie eine Diskrepanz in der Haltung ihres derzeitigen ebenso wie potentieller zukünftiger Arbeitgeber zwischen einer progressiven und innovativen Außendarstellung einerseits und der „nach innen hin n Stock konservativer (.) Haufen ist“ (138 SZ 68) andererseits. Das Kriterium für die Differenz zwischen innovativ und konservativ ist die Bereitschaft, Teilzeittätigkeiten und Arbeitsformen außerhalb der Firma zuzulassen, sofern es von der Sache her möglich ist. An anderer Stelle im Interview führt Frau Ziller als ein gelungenes Bei190
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
spiel für die Realisierbarkeit ihrer Vorstellungen die Niederlande an. Dort gelingt es Bekannten von ihr, dass Vater und Mutter sich die Elternzeit ebenso wie die Arbeitszeiten teilen (22 SZ 11). Nun hat die Rekonstruktion der Haltung von Frau Ziller gezeigt, dass sie mit ihrer Einschätzung darüber, dass ihr Mann nicht der Typ für eine solche Arbeitsteilung wäre, ihre Position der Hausfrau und Mutter stabilisiert und rechtfertigt. Es liegt also auch für sie – ebenso wie im Fall Grebe – der Schluss nahe, dass eine Schuldzuweisung an konservative Arbeitgeber ein Deutungsmuster der fallbezogenen Beschwichtigung darstellt. Mit diesem Deutungsmuster legitimiert sie ihre Entscheidung gegen den beruflichen Wiedereinstieg, die für sie fallimmanent konsistent eine innere Versöhnung der widersprüchlichen Identifikationslinien darstellt. Der Legitimierungsbedarf verweist auch hier auf die vorherrschende Norm der beruflichen Bewährung zumal von Hochqualifizierten. Der Legitimationsgehalt der Konservatismus-Klage zeigt sich auch in einer Sequenz, die den zusätzlichen Reiz einer Teilzeitarbeit im Vergleich zur ausschließlichen Familientätigkeit zum Inhalt hat. Die Interviewerin fragt hier abermals nach vorhandener Unzufriedenheit mit der jetzigen Lebenssituation: 189 SZ 91 ja ja, also es is auf der einen Seite bin ich sehr zufrieden es macht mir Spass, und ich hab auch Freude daran, aber (.) es fehlt mir doch was; (.) es fehlt mir schon (.) mal (.) hier raus zu kommen (I1:mmh) auch was zu machen (atmet ein) ä im Bereich (.) ja Chemie Maschinenbau Technologie irgendwas Technisches halt einfach auch mal nicht, nur Windeln zu wechseln und Wäsche zu waschen und Essen zu kochen (atmet ein) sondern auch mal aktiv zu werden wieder einfach auch mal wieder im Büro (.) zu sein oder (.) meinetwegen bei Kunden bei (.) auf auf ner Dienstreise oder was auch immer was zu tun, was anderes
Trotz der Freude an der Haus- und Erziehungstätigkeit fehlt Frau Ziller was. Rauskommen möchte sie aus der Routine dieser Aufgaben (Windeln zu wechseln und Wäsche zu waschen und Essen zu kochen). Dabei wählt sie zunächst Formulierungen, die – wie in der Eingangssequenz schon analysiert – mehr auf eine Abwechslung zielen (schon mal hier raus zu kommen) als dass sie einen inneren Drang zu ihrem beruflichen Handeln zum Ausdruck bringen. Auch die Spezifizierung ihres Wunsches nach beruflicher Tätigkeit bleibt in der gewohnten Weise abstrakt (im Bereich Chemie Maschinenbau Technologie irgendwas Technisches halt). So dient auch ihre Arbeit dem vorrangigen Zweck der Abwechslung von Routinen des Alltags, die sie als Gegenteil zu Aktivität wahrnimmt. Nun charakterisieren familiale Aufgaben nicht nur Routineverrichtungen, sondern sie erfordern auch ein hohes Maß an Einfühlung, an flexiblem, 191
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situations- und personengerechtem Umgang in der Lösung von Handlungsproblemen und verantwortliches Handeln. Wovon genau sucht Frau Ziller Abwechslung? Sie nennt das Büro und Dienstreisen als örtliche Alternativen zum Zuhause sowie etwas anderes zu tun als Abgrenzung zu den häuslichen Tätigkeiten. Spezifisch auf ihren Beruf zielen diese Alternativen nicht, weder auf den Inhalt der Herausforderung noch auf die besondere Form von Anerkennung, die die Entfaltung und der Einsatz beruflicher Fähigkeiten bereithalten. Dieser Befund widerspricht den Ergebnissen etwa von Becker-Schmidt u.a. (1984), die Bedeutung des Berufs bestünde in der sozialen Anerkennung, in der Erfahrung, etwas zu können und gut zu machen. In dieser Gegenüberstellung häusliche Routine versus aktives Tun kommt nochmals das Schemenhafte zum Ausdruck, das Frau Ziller mit dem Beruf, aber auch mit der Familie verbindet. Werden beide Bereiche aber programmatisch verrichtet, ist weder der Beruf noch die Familie als aktiver Selbstausdruck erfahrbar. Die bewährungsdynamisch konstituierte Frage ‚wer bin ich?‘ beantwortet Frau Ziller für sich nicht. Die besondere Schwierigkeit der Antwort resultiert aus der ebenfalls unbeantworteten Frage ‚wo komme ich her?‘, denn an dieser Antwort hindert sie der nicht gelöste latente Konflikt der inneren identifikatorischen Zerrissenheit. So ist auch die Frage ‚wohin gehe ich?‘ nicht substanziell zu beantworten, sondern bleibt so abstrakt wie das betriebswirtschaftliche Lebensprogramm.
Gemeinwohlbindung In ihrer derzeitigen Lebensphase unternimmt Frau Ziller keine unmittelbaren Anstrengungen für das Gemeinwesen. Als Kind war es ihr aber selbstverständlich, anderen Kindern Hausaufgabenhilfe zu geben oder Betreuungsaufgaben wahrzunehmen. Dass hierbei nicht der finanzielle Ertrag der hauptsächliche Antrieb war, wurde oben bereits erwähnt: Ihr ihrem Handeln erfährt sich Frau Ziller als kompetent, sie kann den anderen Kindern etwas von ihrer Erfahrung und ihrem Wissen weiter geben und sieht in der Begeisterung der Eltern die Anerkennung für ihre Tätigkeit. Daraus schöpft sie Freude (73 SZ 36). Für ihre Mutter war ehrenamtliches soziales Engagement ein interessantes Betätigungsfeld. In der Familie gibt es eine Tradition der gegenseitigen Hilfe, die über die Familiensolidarität hinaus geht und den sozialen Nahraum der Nachbarschaft umfasst. Insofern schließen Frau Zillers Gedanken über zukünftige Aktivitäten an diese Linie an: 69 SZ 34 […] Meine ich hatte mir schon vorgenommen; entweder (.) seis (.) mmh (.) ehrnamtlich irgendwo (.) n bisschen was mitzumachen (.) oder aber in der Politik n bisschen mitzuarbeiten (atmet ein) aber bisher (.) 192
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
vielleicht bin ich auch n bisschen zu faul (Lachen) ich muss ers mal wieder irgendwo wieder reinkommen denk ich dann ä (.) bin ich da n bisschen engagierter
Engagiert zu sein, gehört zu Frau Zillers Selbstbild. Noch in ihrer Rechtfertigung (zu faul) ist dies deutlich. Im Bereich des Denkbaren liegen Aktivitäten allgemein im Bereich des Ehrenamtes oder speziell in politischer Arbeit. Diese Vorstellungen bleiben allerdings ebenso abstrakt wie ihr Bezug zu den übrigen Lebensbereichen. An dieser Stelle erscheint der Zielpunkt für das oben genannte Rauskommen aus dem Zuhause als ein unbestimmter Ort zukünftig möglichen Engagements (irgendwo wieder reinkommen). Der Bezug des Wieder stellt sich über bisherige Aktivitäten her, die in der Zeit vor der Familiengründung vorrangig beruflich vermittelt waren. So stehen ihr berufliche oder gemeinwohlbezogene Aktivitäten gleichrangig als Zielpunkte alternativer Betätigung vor Augen. Im Sinne der ersehnten Abwechslung (was anderes tun) ist dies konsistent und bestätigt die Interpretation ihres Antriebs zum Tätigsein. Dabei schweben ihr keine Leitungsfunktionen vor oder die Übernahme einer Rolle als Initiatorin für eine bestimmte Sache, sondern eine Mitarbeit (irgendwo n bisschen was mitmachen) würde dieses Anliegen befriedigen. Mittelbar ist ihre Gemeinwohlbindung in der unbedingten Bindung innerhalb der Primärbeziehungen erkennbar. Ebenfalls selbstverständlich sorgte sie für ihre im Alter erkrankten Eltern, sowie ihr eine enge Bindung an ihren Sohn und ihren Mann gelingt. Aus diesem Kernelement primärer Solidarität speist sich die Fähigkeit und Bereitschaft, Verantwortung auch über die familiären Beziehungen hinaus zu übernehmen, im Rahmen des Möglichen.
1.1.3 Resümee zur Fallstruktur und zur Bewährung Bis zur Familiengründung steht für Frau Ziller die berufliche Bewährung im Vordergrund. Die Rekonstruktion hat einen programmatischen Leistungsethos in Identifikation mit der männlichen Linie der Familie hervor treten lassen. Als die Erfüllung dieses Programms in Widerspruch zu familiären Verpflichtungen gerät, entscheidet sich Frau Ziller für die Primärbeziehungen. Das war bei ihrer ersten Arbeitsstelle der Fall und wiederholt sich nach der Geburt ihres Kindes. Die Konsequenzen dieser Prioritätensetzung trägt sie bewusst. Über das Ende eines weiteren Aufstiegsweges zeigt sie sich zufrieden ebenso wie über ihr zeitweiliges Ausscheren aus dem Beruf. Ein latenter Konflikt manifestiert sich allerdings punktuell. Dieser tangiert zwei Realitätsebenen: Zum einen tritt er als Identifikationsproblem zwischen der mütterlichen und der 193
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väterlichen Linie hervor, ist also familiengeschichtlich konstituiert. Zum anderen zeigen die Legitimationsargumente einen Rechtfertigungsdruck gegenüber der verallgemeinerten Norm eines Vorrangs der beruflichen Bewährung, er ist in dieser Hinsicht also kulturell konstituiert. Auf beiden Ebenen stellt sich retrospektiv für Frau Ziller die Frage nach der Konsistenz ihrer Lebensentscheidungen. Dies gilt gesteigert durch ihren programmatischen Habitus einer schematischen Realisierung ihrer Antriebe. Im Sinne einer betriebswirtschaftlichen Entscheidungsstruktur verbinden sich beide Konfliktebenen in der biografischen Gestalt im Fall Ziller zu einem kalkulatorischen Problem, dem aber ein komplexes Widerspruchsverhältnis der Anerkennungsordnung zugrunde liegt. In den Begründungsanstregungen, die Frau Ziller für ihre Entscheidungen unternimmt, und im Ringen um eine Konsistenz ihrer Lebensführung wird anschaulich, dass erstens die Herstellung personaler Kohärenz als ein aktiver Aneignungs-, Verarbeitungs- und Interpretationsprozess der erfahrenen Realität verstanden werden muss. Zweitens bestätigt sich die vorne formulierte Kritik an Subjektkonzeptionen, die Identität und kohärente Subjektbildung für Fiktionen halten. Anstelle einer Flexibilität und Fragilität des Subjektes, wie es poststrukturalistische und (de)konstruktivistische Ansätze postulieren, zeigt sich in den besonderen Bemühungen Frau Zillers nicht nur die Bedeutung der Herstellung einer personalen Kohärenz für die Subjektbildung und die Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern, sondern auch deren Notwendigkeit. In der Fallgestalt wird deutlich, auf welchem Weg sich Antriebsstrukturen im Bildungsprozess entfalten. Die sozialisatorische Interaktion in der Familie ist der Ort, an dem sich verallgemeinerte Normen als mögliche Antworten auf die Bewährungsfrage konkretisieren und den Möglichkeitsraum grundieren. Die Geschlechtsspezifik der Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern tritt in den Elternpositionen in Erscheinung und liefert auf je spezifische Weise relevante Begründungsmuster durch Identifikationsangebote. Gehen von hier widersprüchliche Botschaften aus, etwa weil wie im Fall Ziller die weibliche Position in der ausschließlichen Familientätigkeit (mehr oder weniger authentisch) realisiert ist, aber Wertsetzungen auf der männlichen Linie eindeutig den Beruf in der Anerkennung der Lebensführung präferieren, kommt es ebenfalls zu einem kulturellen double bind wie schon bei Frau Grebe entdeckt. Er ist allerdings hier anders gelagert: Er besteht in der Widersprüchlichkeit innerer und äußerer Wertsetzungen, und weniger – wie bei Frau Grebe – in der äußerlichen Widersprüchlichkeit der Anerkennung als Mutter und als Vollzeit-Arbeitskraft. Die fallspezifische Widerspruchskonstellation Frau Zillers weist auf eine Unvereinbarkeit anderer Art: Es ist ihr nicht möglich, ihre Priorität auf die Primärbeziehungen 194
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
und ihre Entscheidung für Intimität und familiale Fürsorge zu positivieren, weil sie in Widerspruch tritt sowohl zur väterlichen Identifikation als auch zur verallgemeinerten Norm beruflicher Bewährung. Die Verkürzung dieses Widerspruchs auf ein kalkulatorisches Investitionsnutzen-Problem stellt das fallspezifische Deutungsmuster der Beschwichtigung dar, das ihre Quelle im programmatischen Habitus hat. Auf diese Weise gelingt ihr, ihre bisherige Ausrichtung auf berufliche Bewährung aufrecht zu erhalten, aber als berechenbares Problem zu bezähmen. Noch in ihren zeitlich und räumlich strikt begrenzten Vorstellungen einer möglichen Berufstätigkeit, in den im Vergleich zur Familientätigkeit relativ schwachen Antrieben für eine Arbeitsaufnahme und schließlich in ihren verhaltenen Anstrengungen, eine berufliche Tätigkeit zu finden und die dazu nötigen organisatorischen Vorkehrungen zu treffen, zeigt sich ihre Entschiedenheit für die familiale Sorge. Diese kann sich aber nicht eindeutig zeigen, da ihr innerer Widerspruch nicht versöhnt ist. So wünscht sich Frau Ziller eine Teilzeitbeschäftigung, die vordergründig den Charakter einer Abwechslung von häuslichen Routinen darstellt. Hintergründig aber würde sie in Form einer gelungenen Kombination den inneren Widerspruch zwischen der väterlichen und der mütterlichen Identifikation beschwichtigen sowie auch innerhalb der Anerkennungsordnung die Wertschätzung der beruflichen Bewährung einlösen.
1.2 Balance: Anette Spenzel Frau Spenzel gelingt lebenspraktisch genau die von Frau Ziller gewünschte Kombination einer Beschäftigung in Teilzeit mit hinreichenden Möglichkeiten, sich um die Kinder zu kümmern. Dieser Fall soll daher die These einer geschlechtsspezifischen Widerspruchskonstellation ausleuchten und aufklären, ob das bei Frau Ziller aufgetretene Identifikationsproblem verallgemeinerbar ist und einen Beweggrund für die Präferenz der Mehrheit der berufstätigen Mütter für eine Teilzeitbeschäftigung darstellt (Sachverständigenkommission 2006: 106).
1.2.1 Analyse der biografische Daten Anette Spenzel ist im Juli 1963 in Hofgeismar (Hessen) geboren. Ihr Bruder kommt gut zwei Jahre später zur Welt und macht nach dem Abitur eine kaufmännische Ausbildung, er ist verheiratet und kinderlos. Ihr Vater ist 1935 geboren, nach einer kaufmännischen Ausbildung arbeitet er in der Güterabfertigung und wird später Beamter der Bundesbahn. Ihre Mutter ist Jahrgang 1938 und bis zur Geburt von Frau Spenzel als kaufmännische Angestellte tätig, danach ist sie Hausfrau.
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ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Die Generationenlagerung der Eltern von Frau Spenzel ist derjenigen der Eltern von Frau Grebe vergleichbar, für die ein Lebensentwurf in der Kopplung von Leistung und Konsummöglichkeiten als charakteristisch herausgestellt wurde. Im sozialen Aufstieg des Vaters zum Bahnbeamten realisiert sich diese prinzipielle Möglichkeit. Auch entspricht die Familienkonstellation dem in den 1960er Jahren verbreiteten Modell mit zwei Kindern und der alleinigen Erwerbstätigkeit des Vaters nach anfänglicher Berufstätigkeit der Mutter auf der Grundlage einer berufsqualifizierenden Ausbildung. Die Stellungnahme der Eltern zu den Bewährungsfeldern Beruf und Familie erfahren Frau Ziller und Frau Spenzel in ähnlicher Weise. Die Geschwisterfolge unterscheidet sich, da Frau Ziller das letztgeborene Kind nach zwei Brüdern, Frau Spenzel die Erstgeborene ist. Die Prägung der väterlichen Linie ist damit für Frau Spenzel als weniger dominant anzunehmen als es sich bei Frau Ziller gezeigt hatte. Das positive Identifikationsangebot beider Eltern schlägt sich im Berufsweg von Frau Spenzels Bruder nieder, der trotz Abitur eine kaufmännische Ausbildung absolviert und im Berufsbereich beider Eltern verbleibt. Frau Spenzel ist ein wenig älter als die anderen Interviewpartner und gehört tendenziell einer anderen Generationenlagerung an (Loer 2007: 98ff.). In ihrer Adoleszenz zeigte sich zwar die Krisenanfälligkeit des deutschen Wirtschaftsaufschwungs der Nachkriegszeit bereits, aber Anfang der 1980er Jahre, als Frau Spenzel sich nach Abschluss der Schule für einen Berufsweg entscheidet, kann die strukturelle Arbeitslosigkeit noch als ein Problem von geringer Qualifizierten angesehen werden. Ihre eigenen Bildungsanstrengungen versprechen noch einen Erfolg, ohne auf Selbstmarketing und eine gezielte Karrieregestaltung der eigenen Biografie angewiesen zu sein. Ein weiterer Unterschied zur nachfolgenden Generation besteht darin, dass sie als letzte Generation das „‚68er“Deutungsmuster einer prinzipiellen Möglichkeit eines traumatisierungsfreien Lebens identifikatorisch übernommen hat. Das Scheitern der Illusion, durch rational begründbare Zwecke das eigene Leben sinnhaft zu gestalten, hat diese Generation in der eigenen Biografie erfahren. Frau Spenzel wächst zunächst in Hofgeismar auf, einer Kleinstadt in Nordhessen im Landkreis Kassel. Obgleich der Landkreis als strukturschwach gilt, wuchs die Kernstadt um 2.000 Einwohner zwischen 1960 und 2005 auf 12.000 Einwohner. Frau Spenzel wird 1969 in Hagen eingeschult und schließt die Schule 1982 mit dem Abitur ab. An der Universität Y-Stadt wechselt sie vom wirtschaftswissenschaftlichen Studium nach einem Jahr in den sozialwissenschaftlichen Studiengang. Zu Studienbeginn lernt Frau Spenzel ihren Mann kennen, den sie 196
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
1987 heiratet. 1992 schließt sie ihr Studium als Diplom Sozialwissenschaftlerin ab und arbeitet im Anschluss in einem sozialwissenschaftlichen Institut in X-Stadt. 1997 bringt sie ihr erstes Kind zur Welt, im Jahr 2000 ihr zweites. Seit dieser Zeit ist sie nach jeweils einem halben Jahr Unterbrechung mit halber Stundenzahl beschäftigt und hat im Jahr 2002 ihr Beschäftigungsvolumen nochmals auf ein Drittel der regulären Arbeitszeit verkürzt. Ihr Mann ist einige Monate jünger als sie, hat das wirtschaftswissenschaftliche Studium mit dem Diplom beendet, an der Universität Y-Stadt in Betriebswirtschaftslehre promoviert und arbeitet seither in einem Energieversorgungsunternehmen.
Die Familie zieht nach der Geburt des zweiten Kindes nach Hagen aus beruflichen Gründen des Vaters. Die südwestfälische Großstadt am Rande des Ruhrgebietes war noch in den 1960er Jahren durch Stahlerzeugung und -verarbeitung geprägt. Hagen besitzt eine frühindustrielle Tradition auch als Verkehrsknotenpunkt. Wie alle Ruhrgebietsstädte bot auch Hagen bis in die 1960er Jahre hinein Arbeit für Zugezogene, steht aber seit den 1980er Jahren unter Modernisierungsdruck, der in Hagen zu einem Strukturwandel mit einem Wachstum der Dienstleistungsbranchen Kultur und Bildung führte. Frau Spenzel wird im Alter von knapp sechs Jahren frühzeitig eingeschult, was dafür spricht, dass sie ein aufgewecktes Kind ist. Für ihre Lernfähigkeit und Auffassungsgabe spricht auch der reguläre Schulabschluss mit Abitur nach 13 Schuljahren. Damit ergreift Frau Spenzel die in ihrer Generationenlagerung sich allmählich durchsetzende Selbstverständlichkeit, als Mädchen den höchsten Schulabschluss anstreben zu können.6 Mit ihrem Universitätsstudium schließt sie den höchst möglichen Bildungsweg an, der ihr durch das Abitur eröffnet ist. Dazu wechselt sie von Hagen nach Y-Stadt, bleibt also in der Region, aber wählt nicht die nächste Universität zum Heimatort, die in X-Stadt das gleiche Fach, allerdings mit stärker sozialwissenschaftlichen Anteilen angeboten hätte. Der Umzug aus dem Elternhaus in eine andere Stadt mag für diese Entscheidung von Einfluss gewesen sein. Denn der Wechsel vom wirtschafts- zum sozialwissenschaftlichen Studium zeigt eine inhaltliche Neigung, der sie in X-Stadt auf direkterem Wege hätte folgen können. Nach der zügig absolvierten Schulzeit fallen am Studienverlauf Verzögerungen auf. Zum einen vollzieht sie mit dem Studienwechsel eine inhaltliche Neuorientierung, zum anderen ist ein zehnjähriges Studium selbst mit dem Fächerwechsel überdurchschnittlich lang und übersteigt die Regelstudienzeit der Sozialwissenschaften um neun Semester, und die durchschnittliche Studiendauer um sechs Semes6
Nach Fend (1988: 135) macht der Anteil unter den Mädchen, die ein Gymnasium besuchen zwischen 1965 und 1975 einen Sprung von 13 auf 24 Prozent und übersteigt erstmals den Gymnasiasten-Anteil unter den Jungen (23,5 Prozent im Jahr 1975 gegenüber 16 Prozent in 1965). 197
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
ter. Die Heirat mit 24 Jahren ist nicht nur für Ende der 1980er Jahre ein früher Zeitpunkt, sondern vor allem unter Studenten eher die Ausnahme. Zwischen der Heirat und der Familiengründung vergehen bei den Spenzels zehn Jahre. Dazwischen liegen der Studienabschluss sowie der Berufseinstieg beider Eheleute. Frau Spenzel ist ebenso wie Frau Ziller 34 Jahre alt bei Geburt des ersten Kindes. Im Unterschied zu ihr gelingt Frau Spenzel eine kontinuierliche weitere berufliche Tätigkeit beim gleichen Arbeitgeber über die Familiengründung hinweg. Fallstrukturhypothese: Die lange Studienphase lässt eine starke Unsicherheit über die Bedeutung und den Inhalt der beruflichen Bewährung vermuten. Umso interessanter ist es, den Hintergrund aufzuklären für die kontinuierliche Berufstätigkeit auch in den ersten Jahren der Familiengründung.
1.2.2 Interviewanalyse7 Eingangssequenz Auf die Einstiegsfrage nach der jetzigen Lebenssituation antwortet Frau Spenzel mit einer Gegenfrage, was die Interviewer darunter verstehen: „ganz allgemein was ich arbeite wie ich lebe, (.)“ (2 AS 1). Hier zeigt sich die Sozialwissenschaftlerin als ebenbürtig im beruflichen Reflexionsgrad, der hier führend vor der alltagsweltlichen Kommunikation hervortritt. Ihr Deutungsangebot der Frage umgreift zentrale Aspekte der Lebenssituation. Dabei nimmt Frau Spenzel eine Gewichtung durch die Reihung vor: Der Gegenstand der Arbeit (was) gerät als erster in den Blick, gefolgt von der Art zu leben (wie). Arbeit und Leben treten damit bereits in der ersten Äußerung als zwei bedeutsame Aspekte hervor. Die Interviewerin bestätigt, dass es um Familie, Beruf und was es da noch so gibt geht. Sie greift die Themen von Frau Ziller auf, kehrt aber die Reihenfolge um und spezifiziert Leben auf Familie, verändert also in der Bestätigung den Fokus. Lachend stellt Frau Spenzel daraufhin fest, darüber könne man ja stundenlang erzählen (4 AS 2). Sie zeigt sich erstaunt und amüsiert über die Offenheit der Frage (Lachen). 6 AS 3 aalsooo ich bin verheiratet, lebe mit meinem Mann zusammen; (.) in einer Wohnung in V-Stadt; (2) mit zwei Kindern; die sind zweieinhalb und fünfeinhalb; (2) und arbeite äääh (.) hier, mit einer eindrittel Stelle, zurzeit.
7
Das Interview wurde von mir und einer Studentin im Juni 2003 an Frau Spenzels Arbeitsplatz geführt. Ein Aushang mit einem Interviewgesuch hat den Kontakt gestiftet.
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IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
Mit einem Anlauf (aalsooo) beginnt sie ihre Schilderung. Im Unterschied zu den anderen Fällen nennt sie als erstes ihre Paarbeziehung. Sie hat demnach vorrangige Bedeutung vor der Arbeitssituation wie auch vor ihrer Mutterschaft. Auch bleibt die Schilderung nicht auf der Ebene der sozialstatistischen Angabe ihres Familienstandes, sondern wird konkretisiert als Zusammenleben. Angesichts der Gewichtung in ihrer Schilderung der Lebenssituation erscheint die relativ frühe Heirat von innen her motiviert. Die konkrete Sesshaftigkeit nimmt ebenfalls einen herausgehobenen Stellenwert ein, nicht nur auf den Wohnort bezogen, sondern auch auf die privaten Lebensverhältnisse. Die Wohnung steht hier in Abgrenzung zu einem (eigenen) Haus. Der Wohnort (V-Stadt) liegt geografisch zwischen dem Wohnort ihrer Eltern, ihrem Studienort und ihrem Arbeitsort. Auch die beiden Kinder sind zentraler Bezugspunkt des konkreten Lebens. Deren Alter charakterisiert die Lebenssituation als eine mit kleinen Kindern, die Familiengründung ist noch präsent. Die Lebenssituation strukturiert sich aus den Primärbeziehungen der Familie. Dem nachgeordnet ist ihre berufliche Situation quantitativ bestimmt, inhaltlich ergibt sie sich aus dem Ort des Interviews (hier) implizit als sozialwissenschaftliche Tätigkeit. Mit ca. 13 Stunden wöchentlicher Arbeitszeit gilt Frau Spenzel sozialrechtlicht betrachtet als geringfügig beschäftigt. Dieser Status ist für Frau Spenzel nicht auf Dauer gestellt (zurzeit), sondern ihrer Lebenssituation geschuldet. 8 AS 4 mh (.) offiziell bin ich halt im Erziehungsurlaub in Anführungszeichen sage ich das immer weil es is natürlich kein Erziehungsurlaub; (atmet ein) (I1: mhm) und ähm das war für mich eben ne ganz gute Möglichkeit (.) Beruf und Familie ähm zu vereinbaren; ich hab lange Zeit auch also im letzten Jahr habe ich auch noch mit ner halben Stelle gearbeitet aber das ist mir dann nen bisschen zu viel geworden; (I1: mhm) um ääh (.) sagen wir mal allen Ansprüchen meinen Ansprüchen und auch den Ansprüchen der Familie äh gerecht zu werden.
Die Unterscheidung von offiziellem Status (Erziehungsurlaub) und der praktischen Lebenssituation einer geringfügigen Beschäftigung ist für Frau Spenzels Selbstverortung ebenso bedeutsam wie für die Bewältigung des Alltags. Im Atemzug kommen die Bedeutung und eine Belastung zum Ausdruck. Die Entscheidung über den Umfang der beruflichen Tätigkeit ist für Frau Spenzel die Lösung für ein Handlungsproblem: die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist ihr wichtig. Die formelhafte Formulierung (Beruf statt etwa ‚mein Beruf XY‘) erinnert an den programmatischen Bezug zum Beruf von Frau Ziller. Ausschlaggebend ist für Frau Spenzel so auch zunächst die Quantität der Arbeit, die ihr eine Verbindung von beruflicher Tätigkeit und weiteren ihr wichtigen Le199
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bensbereichen ermöglicht. Ähnlich wie bei Frau Grebe und Frau Ziller steht die Erwägung des Quantums an Arbeit im Zusammenhang mit Prioritäten. Anders als für Frau Grebe ist Frau Spenzels Entscheidungskriterium aber nicht ihre Grenze der physischen Belastbarkeit, sondern die nötige Korrespondenz mit weiteren Ansprüchen. Zu viel wurde ihre Arbeit auf einer halben Stelle demnach, als sie die Ansprüche nicht mehr erfüllen konnte. Im Fall Blöker-Olbert war der Anspruch ein zentraler Topos. Dort zeigte er sich als eine äußerliche Instanz, die das eigene Handeln unter abstrakte Maxime stellt und den Habitus einer modernen Pflichtethik begründet. Im Fall Spenzel werden die Ansprüche differenziert nach ihren Urhebern, sie unterscheidet zwischen ihren eigenen Ansprüchen und denen der Familie und summiert diese zu einem Gesamtanspruch (allen Ansprüchen). Damit nimmt sie sich selbst als Teil des Ganzen wahr in der Komplexität des Verhältnisses vom Einzelnen und der Gemeinschaft. Der Anspruch als solcher bleibt zwar abstrakt und eine äußerliche Orientierung, doch steht er für Frau Spenzel nicht als Schutz vor Vereinnahmung wie es bei Herrn Blöker-Olbert der Fall war. Die Frage der Autonomie öffnet sich hier also vor dem gleichen Thema, ist aber anders gelagert. Dort wo Herr Blöker-Olbert sich vor Ansprüchen anderer aus Sorge um seine Selbstbestimmung schützen muss, gehen bei Frau Spenzel die Ansprüche der anderen als positiver Bezugspunkt ihrer Orientierung in ihre Entscheidungen ein. Für sie stellt die Bindung an andere keinen Gegensatz zum Selbstbezug dar, der sie in ihrer Autonomie zu gefährden droht. Allerdings zeigt sich diese Bindung in der abstrakten Form des Bezugs auf die Ansprüche anderer. So lässt sich zunächst festhalten, dass auch Frau Spenzel eine moderne Pflichtethik aufweist, in dem Sinne, dass sie danach strebt, selbst gewählten, aber auch sich zueigen gemachten Ansprüchen anderer gerecht zu werden.
Berufliche Bewährung Frau Spenzels Stellenreduzierung hatte inhaltliche Konsequenzen für ihre Arbeit. War sie zuvor zusätzlich zu der redaktionellen Betreuung einer vom Institut herausgegebenen Zeitschrift auch mit Forschungsprojekten befasst, so hat sie die Forschung nun aufgegeben. 34 AS 17 […] ich gebs zu ä es wird mir dann einfach zu viel also (I1: hm) also ich werd dann nich den Ansprüchen; mein eigenen Ansprüchen beziehungsweise ä dem was ich mir auch vom Leben erwarte (.) also dieser hm (.) diese super duper, Frau die äh (schnalzt) mit einem Vollzeitjob ä Haushalt Kinder und noch alles mögliche andere äh geregelt bekommt (atmet ein) das scheint für mich also (lacht) nich ne irgendwie erstre200
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
benswerte Art und Weise zu leben zu sein insbesondere wenn man sich um viele andere Sachen halt noch kümmern muss; (atmet ein) ich bin also auch ehrenamtlich engagiert (I1: mmh) bin auch einige Zeit (2) im Rat der Stadt V-Stadt aber das hab ich dann halt aufgegeben
Ihre Entscheidung für einen gekürzten Stundenumfang zunächst auf eine halbe und später auf eine Drittel-Stelle erscheint Frau Spenzel begründungsbedürftig. Wie ein Geständnis ist ihre Begründung formuliert (gebs zu), als dürfe die Orientierung an eigenen Maßstäben nicht sein. Die Abgrenzungsfolie ist das Normalmodell einer Vollzeit Berufstätigkeit, die den unumstößlichen Bezugspunkt der Leistungsbereitschaft auch für Frau Grebe darstellte. Doch Frau Spenzel spezifiziert ihren Maßstab für den angemessenen Umfang ihrer Arbeit im Verhältnis zu den Ansprüchen. Was zunächst als allgemeine Anforderungen beginnt, konkretisiert Frau Spenzel zu ihren eigenen Ansprüchen. Diese bleiben hier insofern äußerlich als sie einen regelhaften Orientierungspunkt darstellen. Ihre Ansprüche setzt sie sodann mit dem Gesamt ihrer Lebensziele gleich, ohne den Satz mit dem fehlenden Verb (‚gerecht‘) zu vollenden. In der Gleichsetzung wandeln sich die Ansprüche, die Frau Spenzel an sich selbst und ihre Entscheidungen stellt, zu Ansprüchen, die sie dem Leben gegenüber hat: Sie hegt Erwartungen an ihr Leben, die – insofern hier das Verb fehlt – das Leben ihr zu erfüllen hat. Die Äußerlichkeit, die einem Anspruch innewohnt, wird zwar durch diesen Wechsel der Perspektive verstärkt, es bleibt aber ein reziprokes Verhältnis erhalten, indem das Auch eine Gegenseitigkeit ausdrückt: Frau Spenzel hat ihre Ansprüche und erwartet auch etwas vom Leben. Das Leben und ihre Ansprüche müssen korrespondieren, um ihre Ziele zu erreichen. Ihre Erwartungen grenzt sie ab zur Karikatur (schnalzt) einer SuperFrau, die alle Lebensbereiche mit vollem Einsatz bestreitet. Ihr erscheint es so, als sei diese Art zu leben für sie nicht erstrebenswert. Dem zugrunde liegt offenbar eine Erfahrung, der sie aus einer reflektorischen Distanz mit Staunen gegenüber steht, denn sie formuliert nicht: ‚mir erscheint es nicht als erstrebenswert‘, sondern ist sich darin unsicher, was für sie erstrebenswert sein könnte. Mit dem überzeichneten Bild der Super-Frau beruhigt sie ihre Unsicherheit im Selbstbezug (lacht). Denn im Nachsatz, der den Unterschied vergleichend erklärend soll, weist Frau Spenzels Aufgabenprogramm ebenfalls alles mögliche andere auf, nämlich viele andere Sachen. Der Unterschied zwischen ihr und einer SuperFrau konzentriert sich damit auf die Differenz zwischen ihrer geringfügigen und deren Vollzeit-Beschäftigung. Da Frau Spenzel einem Anspruchsprogramm folgt (kümmern muss), das auch ehrenamtliche politische Tätigkeit in einer verantwortungsvollen Position als gewähltes Ratsmitglied umfasst, scheint hier nochmals ein pflichtethischer Habitus 201
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
auf, der bei ihr wie bei Herrn Blöker-Olbert in den eigenen Ansprüchen eine moderne Version darstellt. Innerhalb dessen stellt ihre Abgrenzung gegenüber der Vollzeit berufstätigen Mutter ein Legitimationsargument bereit: Sie dient dazu, die Stellenreduzierung innerhalb ihrer Pflichtethik rechtfertigen zu können. Auch Frau Spenzel hält ihre Entscheidung für eine reduzierte Berufstätigkeit für begründungsbedürftig, obwohl diese Wahl für sie authentisch ist, da sie ihren Erwartungen an ihr Leben entspricht. Die kulturell wirksame Pflichtethik zeigt sich hier als widrig gegenüber den eigenen Entscheidungen. Frau Spenzel gelingt diese Entscheidung durch ihre konkrete Erfahrung: Eine halbe Stelle im Beruf zunächst noch mit Forschungsaufgaben, politisches Engagement und die Fürsorge für ihr Kind wurden ihr zu viel. Dieser Entscheidungsstruktur liegt neben der allgemeinen kulturellen Grundierung eine konkrete Vorstellung von einer angemessenen Qualität ihres Wirkens zugrunde, die in die Ansprüche eingeht: 48 AS 24 […] Sachen die ich mache möchte ich eigentlich auch ganz gut machen also nich irgendwas vorweise sondern eben auch Sachen hinterfrage verstehn, begreife also mich auch entsprechend vorbereiten.
Frau Spenzels Qualitätsmaßstab ist eine gründliche Vorbereitung, zu der das eigene gedankliche Durchdringen des Gegenstandes gehört. Das gilt sowohl für ihre Ratstätigkeit, worauf sich die zitierte Sequenz bezieht, als auch für ihre beruflichen Aufgaben wie für die Sachen insgesamt, die sie in Angriff nimmt. Es geht ihr nicht um irgendein Resultat (irgendwas vorweise), sondern einen eigenen verantwortbaren Beitrag. Diesen Anspruch kann Frau Spenzel nur einlösen, indem sie sich beschränkt und Prioritäten setzt. Aus dieser Überzeugung resultiert die Entscheidung, die Forschungsarbeit abzugeben und sich auf die redaktionelle Tätigkeit zu beschränken, die sie in dem von ihr gewählten Stellenumfang gut machen kann. Für gründlich forschendes Arbeiten fehlt ihr hingegen die Zeit, für die nötige Konzentration und Muße. Diese realistische Einschätzung und Beschränkung ihres beruflichen und derzeit auch des ehrenamtlichen Engagements führt Frau Spenzel nicht in eine innere Ambivalenz wie es bei Frau Grebe und Frau Ziller zutage trat. Die Entscheidung muss also innerlich passend auf ihrem Habitus und ihrer Entscheidungsstruktur aufruhen. Wie diese ausgeformt sind, kann die Rekonstruktion des leistungsethischen Antriebs genauer zeigen. Nach ihren längerfristigen Zielen und Vorstellungen befragt, erwähnt Frau Spenzel schmunzelnd, dass sie eines Tages gemerkt hat, sie habe ihre Lebensziele mit 30 Jahren erreicht.
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IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
128 AS 64 […] ja ich wollte zum Beispiel studieren das war, nich so unbedingt selbstverständlich bei uns in der Familie (I1: ja) weil meine Eltern kommen halt vom Dorf aus der tiefsten Provinz und da (.) äh ä bekam ich eben dann was zu hören äh nach dem Motto Kind du heiratest ja doch (I1: mmh) das fing dann schon an mit der Schulbildung son bisschen aber (.) zog sich dann äh weiter weiter durch, und dann hab ich dann halt studiert, (atmet ein) und ich wollte dann auch (.) wollte, auch in den Rat das hab ich auch geschafft
Ihr Studium stellt sich in diesem Zusammenhang als Schritt zur Lösung aus dem Elternhaus und zur Entfaltung des eigenen Lebensentwurfs dar. Anders als für Frau Ziller, die sich in dieser Frage nicht gegen die Eltern, sondern gegen die traditionellen Deutungsmuster im Dorf zu Wehr setzte, ist Frau Spenzel in der Frage des eigenen Bildungs- und Berufswegs mit dem Widerstand ihrer Eltern konfrontiert. Auch hier stehen traditionale Deutungen anerkannter Lebensentwürfe von Frauen der eigenen Wertsetzung entgegen. Der Antrieb für das Studium erscheint an dieser Stelle nicht inhaltlich motiviert, sondern als prinzipiell eröffnete Möglichkeit stellt es einen Zweck an sich dar und steht im Dienst der Überwindung traditionaler Verengungen weiblicher Lebenswege (heiratest ja doch). Die Motive für das sozialwissenschaftliche Studium und das politische Ehrenamt verdienen einen genaueren Blick, ebenso wie die Frage, welche Transformation der Bewährungsdynamik sich zeigt, wenn Lebensziele bereits erreicht sind. Der These einer prinzipiell nicht stillstellbaren Bewährungsdynamik folgend, müsste sich Frau Spenzel neue Ziele gesetzt haben. Worin sie bestehen, wird unten weiter verfolgt. Als Begründung ihrer Studienwahl sagt Frau Spenzel zunächst: 134 AS 67 […] ich wollte, halt viel wissen; (I1: ja mmh) und äh auch son bisschen über den eigenen Tellerrand hinaus schaun und äh wenn man n bisschen gesellschaftspolitisch engagiert, iss (I1: mmh) dann passt ja auch ein sozialwissenschaftliches Studium ganz gut mit dazu und wenn man son bisschen Dinge verändern möchte (atmet ein) ähh beziehungsweise äh (.) in dem, Bereich aktiv ist das das warn son paar Überlegungen aber (.) s ist jetz auch schon so lange her (lacht)
Es treiben sie Neugierde und Wissensdurst an die Universität. Der eigene Tellerrand markiert hier den begrenzten Horizont ihrer Herkunft, der in Gestalt der traditionalen Ausdeutung der Geschlechtlichkeit bereits bestimmt wurde. Wer über den Horizont hinaus blickt, erkennt weitere Möglichkeiten zunächst als eröffnete, noch nicht als ergriffene Optionen. Was also der Zweck des Studiums über die Befriedigung des Wissensdurstes und der Horizonterweiterung hinaus ist, bleibt zunächst offen. In dieser Unbestimmtheit hat Frau Spenzel eines ihrer Lebensziele mit 30 Jahren, nämlich den Abschluss des Studiums, bereits erreicht. 203
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Die Fächerwahl hat ihren fallgeschichtlichen Hintergrund in Frau Spenzels politischem Engagement, das Studium steht in thematischem Zusammenhang und dient seiner inhaltlichen Fundierung, so wie beides – die Fächerwahl sowie das politische Ehrenamt – auf einen gemeinsamen Antrieb zurückgehen: sie möchte son bisschen Dinge verändern. Dieses Motiv der Gestaltung erinnert an Herrn Blöker-Olberts Antrieb, Wirkung zu erzielen, ist aber in eine andere Fallstruktur eingelagert. Frau Spenzel geht es der bisher rekonstruierten Struktur nach nicht um Manipulation, sondern um eine vage formulierte (bisschen) Veränderung, die inhaltlich (auch an anderen Stellen im Interview) nicht weiter konkretisiert wird. So bleibt ihr Antrieb hier abstrakt im ‚68er‘Duktus der (Welt-)Veränderung. Zu wissen und damit zu verstehen, zu begreifen, ist einem angezielten Ergebnis, das bei Herrn Blöker-Olbert dominierte, bei Frau Spenzel vorgelagert. Dazu passt ihr ursprünglicher Berufswunsch. Sie wollte Historikerin werden (144 AS 72). In der Schilderung ihres Interesses an Geschichte kommt ihr Wissensdurst sinnbildlich physisch zum Ausdruck: „hab also historische Biografien und Abhandlungen ä verschlungen“ (146 AS 73). Dieser Drang nach einem Verständnis von Entwicklungen (ebd.) steht in Passung zum familiengeschichtlichen Hintergrund ihrer eigenen biografischen Entfaltung wie auch der beruflichen Entwicklung ihres Vaters, der von einer Arbeiterposition zum Beamten aufgestiegen ist. Die Notwendigkeit, das berufliche Interesse mit einem Broterwerb verbinden zu müssen, lässt sie von ihrem Berufswunsch Abstand nehmen (brotlose Kunst, ebd.), denn eine Verwertung des Geschichtsstudiums im Lehrerberuf kam für sie nicht in Frage. Ein eigenes Einkommen zu erzielen, geht in die inzwischen fern liegenden Überlegungen (lange her) zum Berufsweg von Frau Spenzel also mit ein. So spricht sie an anderer Stelle von der notwendigen „eigenen Versorgung“ (213 AS 106) und bezieht sich dabei auf unsichere Zukunftsperspektiven. Der finanzielle Aspekt der Entlohnung der Arbeitsleistung ist der inhaltlichen Herausforderung durch die Arbeit aber nachgeordnet. Das verlegene Lachen zeugt in der oben zitierten Sequenz abermals von der Unsicherheit, die Frau Spenzel in ihrer beruflichen Zielsetzung verspürt. Es gibt auch bei Frau Spenzel einen Antrieb zur Gestaltung, der sich nicht in der Wissensvermehrung erschöpft. Worin sie ihn derzeit erfüllt, äußert sie auf die Frage, worin der Spaß im Beruf denn bestehe, den sie vorher als Anspruch nannte. Spaß mache ihr, „wenn man n schönes Heft konstruiert hat mit mitgestaltet hat wo auch die Aufsätze dann ganz gut zusammenpassen“ (158 AS 79). Ein ästhetischer Aspekt bei der kreativen Gestaltung einer Ausgabe der Zeitschrift wird hier als Facette ihrer Freude an ihrer beruflichen Tätigkeit hervorgehoben. Es handelt sich um 204
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
die inhaltliche Passung der Beiträge, die sie mit eingeworben und redaktionell betreut hat. Ferner hat ein sozialer Aspekt Bedeutung: „mit bestimmten Kollegen halt zusammenzuarbeiten das is eben auch ne ganz nette Atmosphäre“ (ebd.). Sowohl die Zusammenarbeit ist hier enthalten als erfüllend – wie auch schon oben in der Mitgestaltung zum Ausdruck kam, dass es um ein gemeinschaftlich erstelltes Werk geht – als auch die Art und Weise des Miteinanders. Ohne dass sie die Atmosphäre näher beschreibt wird hier deutlich, dass es nicht um direkte Anerkennung geht, sondern sich diese im Zusammenspiel des Teams ergibt. Das gemeinschaftliche Tun ist ihr Quelle der Freude. Ebenso „wenn ich dann ein Produkt fertich gestellt hab (.) das macht auch Spaß, wenn man etwas selber geschaffen hat etwas eigenes“ (edb.). Hier wird auf den Gegenstandsbezug des eigenen Wirkens abgehoben. Im fertigen Produkt vergegenständlicht sich die eigene Tätigkeit als Resultat der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Obgleich als Gemeinschaftswerk angelegt, ist Frau Spenzel ihr eigener Anteil erfahrbar und erkennbar. Im Wechsel des Subjekts von ich zu man kommt eine Generalisierung zum Ausdruck: Selber etwas zu schaffen ist die übergeordnete verallgemeinerte Deutung der Sinnstiftung durch die Arbeit, in die sich Frau Spenzels Konkretisierung des fertigen Produktes einordnet. Als weiteren Aspekt nennt sie das selbständige Arbeiten in eigener Verantwortung für die Resultate ihres Wirkens. Schließlich ist es die Gelegenheit, in neue Dinge oder auch alte Dinge wieder reinzulesen (ebd.). Hier schließt sie an ihre Studienmotivation an, sich neugierig Wissen zu erschließen und sich gedanklich damit auseinanderzusetzen. Diesen Antrieb findet sie in ihrem Beruf befriedigt. Im Gesamt ästhetischer, sozialer, gegenstandsbezogener und inhaltlicher Momente des Arbeitsprozesses, die ihr zudem in Eigenverantwortung möglich sind, erfüllen sich ihre Antriebe zur beruflichen Arbeit auch in der geringfügigen Beschäftigung. Dass ihr die Forschungstätigkeit nicht fehlt in ihrer derzeitigen Arbeitssituation, lässt sich bereits verstehen aus ihrer Studienmotivation, sich Wissen anzueignen und Entwicklungen zu begreifen. Nicht explizit enthalten ist der Antrieb, durch eigene Forschungsleistung neue Erkenntnisse hervorzubringen. Ihre Neugierde kann Frau Spenzel befriedigen mit dem Reinlesen in bestehende Erkenntnisse. War sie zunächst nach dem Studium noch son bisschen orientierungslos (130 AS 65), wie bereits die Analyse der biografischen Daten erkennen ließ, stellt ihre Tätigkeit der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse anderer eine Neubestimmung ihrer Ziele dar, die von einer Sachbindung an die Aufgabe getragen sind. Eine weitergehende (wissenschaftliche) Karriere zielt sie nicht an. Sie habe sich eine längere berufliche Perspektive nie so vorgestellt, dass sie gerne Professorin werden, also die typische wis205
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senschaftliche Karriere einschlagen wollte, sondern habe alles mehr oder weniger auf sich zukommen lassen (132 AS 66). Zu der Orientierungslosigkeit, die sie mangels weiter führender Ziele erlebt, gesellt sich hier eine abwartende Haltung gegenüber Möglichkeiten, die aus der Zukunft auf sie zukommen. Eigene Weichenstellungen mit dem Blick auf konkrete Karrierewege haben für sie keine besondere Bedeutung. Der Hintergrund dieser gegenüber einer Status- und Karriereorientierung abgeneigten und eher von inhaltlichen Interessen geprägten Haltung bildet eine konkrete Erfahrung der Grenzen ihrer wissenschaftlichen Kompetenzen. Während ihrer ersten Diplomarbeit ist Frau Spenzel lebensgefährlich erkrankt an einer Eileiterschwangerschaft, die mit einer Notoperation beendet wurde. Zum Ende ihres Studiums war Frau Spenzel zur Familiengründung bereit, was die bisher rekonstruierte Fallstruktur einer nicht vorrangig auf den Beruf ausgerichteten Bewährung bestätigt. Fruchtbares Wachstum an ungeeigneter Stelle, wie es im Fall der Eileiterschwangerschaft8 vorliegt, läuft lebensgeschichtlich parallel zur Abschlussphase ihres Studiums. Auch im zweiten Anlauf zu ihrer Diplomarbeit erlebt Frau Spenzel: „das iss nich so ganz mein Ding längere Sachen zu schreiben […] und da iss die Frage ob ich mir das unbedingt antun muss wenn man Alternativen hat“ (140 AS 70). Der Bezugspunkt ist durch die Interviewerfrage auf eine mögliche Promotion gelegt, die Frau Spenzel hier mit Blick auf ihre Schreiberfahrung während der Diplomarbeit abschlägig beantwortet. Eine längere Zeit an einem Thema zu arbeiten ist, verstärkt durch die Krankheitserfahrung, für sie eine Belastung, der sie sich nicht unbedingt stellen muss, wenn es auch andere Wege gibt, ihre beruflichen Vorstellungen zu erfüllen (Alternativen). Dass sie diese in ihrer jetzigen Tätigkeit auch bei dem gewählten Stellenvolumen realisieren kann, wurde bereits deutlich. Anders als Frau Grebe hat sich Frau Spenzel mit den Möglichkeiten, die ihre Interessen und ihre Fähigkeiten ihr eröffnen, versöhnt und einen passenden Beruf gefunden. Damit ist sie zufrieden, was sich in der Antwort auf die Frage nach den Visionen bestätigt, die sie hat für den Fall, sie müsse nicht aus finanziellen Gründen einer Erwerbstätigkeit nachgehen: „S würd sich nichts ändern […] mein also ich kann mir wirklich nich vorstellen (.) zu Hause zu sein übern längeren Zeitraum“ (166 AS 83). Den Beruf aufzugeben, der ihr aus den genannten Gründen einer ästhetischen, sozialen, gegenstandsbezogenen und inhaltlichen Herausforderung Spaß macht, liegt außerhalb ihrer Vorstellungen. Dabei dient 8
Bei einer Eileiterschwangerschaft nistet sich das befruchtete Ei im Eileiter ein. Lebensgefährlich wird dies, wenn der Eileiter reißt infolge des Wachstums des Eies. Dies war Frau Spenzel bereits geschehen, bevor es zur lebensrettenden Operation kam.
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IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
auch Frau Spenzel als Gegenfolie zum Beruf die Chiffre Zuhausesein für eine Tätigkeit in der Familie. Dies ist umso erklärungsbedürftiger als ihr Bezug zur Öffentlichkeit für sie selbstverständlich in ihrem politischen Engagement besteht. Dennoch ist auch für sie nicht berufstätig zu sein, gleichbedeutend mit häuslichem Rückzug. Das lässt Rückschlüsse auf die Anerkennungsordnung zu. Darin nimmt offenbar, gerade im Vergleich zu staatsbürgerschaftlichem Engagement, die berufliche Arbeit einen herausgehobenen Stellenwert ein. Da er originär nicht in einer materialen Differenz zu den Momenten der Arbeitszufriedenheit von Frau Spenzel wurzeln kann – denn ästhetische, soziale, gegenstandsbezogene und inhaltliche Bestätigung könnte das politische Ehrenamt ebenso bringen – bleibt das Merkmal der Herausgehobenheit beruflicher Arbeit nur die besondere Form der gesellschaftlichen Anerkennung, die durch die Arbeit gestiftet ist. Wie sich der Beruf nun ins Verhältnis setzt zu familialen Tätigkeiten, wird im Folgenden dargestellt. Die Analyse der Eingangssequenz und die bisher rekonstruierte Fallstruktur legen die These nahe, dass ihrer Familie dennoch ein zentraler Bedeutungsgehalt zukommt.
Familie und Beruf Frau Spenzel und ihr Mann haben sich früh für eigene Kinder entschieden. Mit der relativ zeitigen Heirat korrespondierte auch ein Lebensentwurf einer gemeinsamen Familie. Beide wollten zwei Kinder, die Frage sei nur gewesen, wann wir die zwei Kinder halt haben wolln (150 AS 75). Die zwei Kinder werden an dieser Stelle programmatisch eingeführt, denn die Vorstellung von Familie enthält noch vor der lebenspraktischen Erfahrung, Eltern eines Kindes zu werden, das zweite Kind. Zudem erscheinen die zwei Kinder wie ein fertiges Produkt zur Abholung bereit (halt). Allein der Zeitpunkt steht zur Diskussion: 150 AS 75 […] letztendlich äähh, isses auch ne Frage äh, äh wann man sich das beruflich leisten kann in Anführungszeichen sag ich mal (I1: mmh) äm während des Studiums Kinder zu bekomm (.) mhm (.) das erschien mir nich sehr erstrebenswert das dann auch noch mal reflektieren nach dieser Eileiterschwangerschaft für mich persönlich dann; weil, die Frage iss dann äh stellt sich dann noch mal verstärkt (.) wenn ich jetz aufn bestimmtes Ziel, hin arbeite dann möchte ich das gerne konzentriert dann machen (I1: ja) un mit mit eim Kind äh (.) hätt ich mir das auch sehr schwierich vorgestellt (I1: mmh) jetz unabhängich von den (.) Betreuungsmöglichkeiten (I1: hm) Unterbringungsmöglichkeiten und äh. (.) und danach, nach nach dem Studium gings dann erst mal darum in dem (.) ä im Beruf Fuß zu fassen (.) um zu sehn äh (.) ja gut; ein sicheren Job zu bekomm (I1: mmh) (.) und äh irgendwann, stellt sich dann 207
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
auch mal die biologische Frage irgendwann wird man man wird ja auch nich jünger
Als Entscheidungskriterium für den passenden Zeitpunkt einer Familiengründung führt Frau Spenzel den beruflichen Werdegang an, wobei sie die Abwägung nach Effizienzkriterien nicht wörtlich verstanden wissen will (in Anführungsstrichen). Hatte sie zunächst eine Schwangerschaft im Studium zugelassen, stellte sich diese Frage nach ihrer Erkrankung anders. In dieser Sequenz stellt Frau Spenzel die Überzeugung, Kinder während des Studiums zu bekommen, sei nicht das richtige für sie, als ihre grundlegende Haltung dar. Es ist jedoch ihre Erfahrung der lebensbedrohlichen Eileiterschwangerschaft mitten in ihrer Diplomarbeitsphase, die sie zu dem verallgemeinerten Schluss bringt: Sie kann nicht mehrere Ziele gleichzeitig verfolgen, sondern will sich konzentrieren. Es sind nicht die organisatorischen Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Studium oder Familie und Beruf (unabhängig von den Betreuungsmöglichkeiten), die sie von einer Familiengründung während des Studiums abbringen, sondern die Frage der Konzentration auf ein Ziel. Diese Entscheidungsstruktur nach klaren Prioritäten war oben schon thematisch (zu viel geworden, meinen Ansprüchen gerecht werden) und wiederholt sich hier zunächst zugunsten des Studienabschlusses und des beruflichen Einstiegs (im Beruf Fuß zu fassen). Ihre Orientierungslosigkeit im Studium hat sie demnach überwunden durch die Aufnahme ihrer Tätigkeit in dem sozialwissenschaftlichen Institut. Ein sicherer Job ist dabei Teil ihrer Kriterien, nach denen sie weitere Prioritäten setzt. Hier nimmt sie Rücksicht auf die längerfristige Sicherung ihrer Berufsperspektive, die ihr – im Nachhinein betrachtet – heute ermöglicht, auf geringer Stundenzahl dennoch eine für sie interessante Tätigkeit auszuüben. Von der finanziellen Seite des Berufs spricht sie hier nicht, mit sicher ist die perspektivisch gesicherte inhaltliche Konsistenz und Stimmigkeit gemeint. Ähnlich wie für Frau Ziller ist auch für Frau Spenzel die biologische Frage bedeutsam. Die Vorstellung von einem günstigen Gebäralter liegt bei beiden vor ihrem 35. Lebensjahr. Dieses relativ hohe Alter bei Geburt des ersten Kindes ergibt sich in beiden Fällen aus der Dauer der Ausbildung mit anschließendem Berufseinstieg. Deutlich gehen bei beiden Frauen Erwägungen ihrer zukünftigen beruflichen Perspektiven in die Entscheidung über den Zeitpunkt der Familiengründung ein. Mit der Arbeitsmarktsituation hat dies insofern zu tun, als die steigende Unsicherheit der beruflichen Perspektiven auch für Höherqualifizierte ein rationales Abwägen nötig erscheinen lässt, will man seine Beschäftigungsaussichten nicht gefährden. Über die Erwerbschancen hinaus zeigt sich aber ein weiterer, kulturell fundierter Aspekt dieser Entscheidungs208
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struktur: Sowohl Frau Ziller als auch Frau Spenzel hatten – im Unterscheid zu Frau Grebe – keine vorherrschende Bedeutung des Berufs im Gesamt ihres Lebensentwurfs erkennen lassen. War für Frau Ziller die berufliche Tätigkeit aus programmatischen Motiven gespeist, so beruht die berufliche Leistung von Frau Spenzel zwar auf einer Sachbindung, der Beruf steht aber gleichberechtigt neben familialem und gemeinwohlbezogenem Engagement. Dass die Familiengründung dennoch im Zusammenhang zum Beruf gesehen wird, lässt den Schluss zu, dass er seinen eigenen Stellenwert aus der Anerkennungsordnung bezieht: Familie und Ehrenamt können seinen Eigenwert nicht ersetzen. Dies gilt, obwohl in beiden Fällen deutlich wurde, dass die Aspekte von Erfüllung und Zufriedenheit, die dem Beruf zugeschrieben wurden – sei es der ‚Tapetenwechsel‘ und die Einlösung eines Nutzenkalküls der Ausbildung wie bei Frau Ziller, seien es die ästhetischen, sozialen, gegenstandsbezogenen und inhaltlichen Momente des Arbeitsprozesses –, nicht alternativlos mit dem Beruf verbunden sind. Neben dem Beruf kommt der Familie für Frau Spenzel eine ganz eigene Bedeutung zu, so nennt sie auf die Frage, worin sie Spaß finde, neben den beruflichen Aspekten explizit auch ihre Kinder. Als schönes Erlebnis empfindet sie es, die Kinder begleiten zu dürfen bei ihrer Entwicklung (158 AS 79). Dies mache auch Spaß, obgleich es manchmal mit Frusterlebnis verbunden ist aber das gehört auch mit halt mit dazu (ebd.). Das Erfahrungsfeld Familie wird hier nicht einseitig als glücklich idealisiert dargestellt, sondern mitsamt der schwierigen Momente, die es insgesamt ausmachen. Ohne Ambivalenz (halt) erlebt sie das Familienleben als Möglichkeit (begleiten zu dürfen) für ein schönes Erlebnis. Die demütige Haltung, die sich in der Freude über die Möglichkeit ausdrückt, resultiert aus den Folgen der Eileiterschwangerschaft. Es war nicht abzusehen, ob sich der frühe und klare Wunsch nach eigenen Kindern wird erfüllen können. Insofern kann sie sich ungetrübt an der Entwicklung der Kinder freuen. Dabei zeigt eine andere Stelle, dass dies nicht mit einer selbstlosen Begleiterrolle zu verwechseln ist, sondern der Selbstbezug erhalten bleibt: „man erlebt mit den Kindern ja jedes Mal […]die Welt noch mal neu und anders“ (54 AS 27) Das Erlebnis der Welt ist ihr eigenes, die Kinder geben Anlass für dieses Neuerleben, ohne instrumentalisiert zu werden. Die Spannung zwischen Selbstbezug und Bindung, die wie ein roter Faden in allen Fällen als grundlegend für die Autonomieentfaltung auftrat, ist im Fall Spenzel auf spezifische Weise balanciert. Das Entscheidende für die Passung ist kein quantitativ ausgeglichenes Verhältnis von Beruf und Familie, sondern eine Bereitschaft und Fähigkeit zur Bindung. Diese muss sich hier nicht maskieren, weil Frau Spenzel keine Furcht vor Vereinnahmung umtreibt wie es bei 209
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Herrn Blöker-Olbert zutage trat. Die Grundlage für diese Form der Autonomie mag in der Fallstruktur Frau Spenzels in der gelungenen Loslösung von den Eltern, auch im Widerstand zu ihnen den eigenen Studienwunsch durchzusetzen, und zugleich in einer möglichen positiven Identifikation mit der mütterlichen Linie liegen. Über ihre Mutter sagt sie, dass für sie Hausfrau zu sein gestimmt habe, sie habe das eher konservative Weltbild, eine Mutter gehöre ins Haus (278 AS 136). Zugleich gibt es ein inhaltliches Band zwischen den Lebensbereichen, das die Passung zusätzlich stützt: für Frau Spenzel erfüllt sich auch in der Familie ein grundlegender Antrieb: Entwicklungen nachzuvollziehen. Dass bei Frau Spenzel keine Ambivalenz und die bei Frau Ziller auftretende Zerrissenheit aufzufinden ist, liegt auch an der gelungenen Erfüllung ihrer Erwartungen ans Leben. 54 AS 27 […]also ich sehs immer so als Ganzes es gehört halt z mit zu meim Leben (I1: mmh) die Familie und der Beruf ich kann mir also (.) Beides also, ohne Beides nich vorstelln also ich weiß ich weiß es und von daher ergänzt es sich
Beruf und Familie bilden ein Gesamt. Die Korrektur von „gehört halt z“ zu: „mit zu meim Leben“ deutet darauf hin, dass sich das gesamte Leben in diesen Bereichen nicht erschöpft, sondern unter anderem mit dazu gehört. Nach der bisherigen Analyse ist gemeinwohlbezogenes Engagement zu ergänzen. Hier nun wird auf die Lebensbereiche Beruf und Familie fokussiert, die auf besondere Weise eine Einheit bilden: Beides ist so untrennbar verbunden, dass Frau Spenzel sich nicht nur nicht eines ohne das andere vorstellen kann, sondern in ihrer Vorstellung von Beidem nur Beides gemeinsam fehlen würde (Beides ohne Beides), so dass in der Summe nichts übrig bliebe. Als einzelne genommen existieren die Bereiche Beruf und Familie nicht. Hier ist sie sich sicher (wiederholtes weiß ich). Dem Wissen liegt ihre lebenspraktische Erfahrung zugrunde. Dass sich beide Bereiche zu einem Ganzen ergänzen, hat sie insbesondere bei ihrer Rückkehr auf ihre Arbeitsstelle nach der ersten Babypause erlebt: am meisten hab ich mich jemals gefreut zu arbeiten nach dem ersten halben Jahr wo ich zuhause war (ebd.). Sie lässt in den nachfolgenden Äußerungen keine Zweifel daran, dass sie das halbe Jahr mit ihrem Kind schön fand (so toll wie das war n halbes Jahr) sowie an ihrer Überraschung über diese deutliche Freude auf die Arbeit (das hatt ich mir ja auch so nich vorgestellt). Doch ihr Erleben hinterlässt eindeutige (Wissens-)Spuren: Entsprechend der oben rekonstruierten Aspekte der Arbeitsfreude liegt im Zentrum dieser Erfahrung die andere Anregung und auf anderen Gebieten gefordert zu sein (ebd.).
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Dieser Befund rückt in die Nähe der Formulierungen von Frau Ziller, die ebenfalls das Andere im Beruf schätzt (etwas anderes sehen) und mangels beruflicher Beschäftigung entbehrt. In der Fallstruktur Frau Spenzels tritt dieses Andere in seinen Facetten deutlich hervor und lässt auch die Interpretation des ‚Tapetenwechsels‘ als Frau Zillers Motiv korrigieren. Das Andere der beruflichen Erfahrung besteht in der doppelten Bewegung der Wahrnehmung (hier: Anregungen) und des Ausdrucks, letzteres realisiert sich in der besonderen Herausforderung, die die – je nach Beruf unterschiedlich ausgeprägten – ästhetischen, sozialen, gegenstandsbezogenen und inhaltlichen Momente der Arbeit mit sich bringen. In der Wahrnehmung wird das Subjekt genährt; im Erleben der Herausforderung und im günstigsten Fall der Bewältigung der Aufgaben erlebt sich das Subjekt als schöpferisch und gestaltend entlang der erworbenen und ausgebildeten Fähigkeiten. Beide Bewegungen sind eine Analogie auf die Grundbewegungen des Lebens insgesamt, das sich im Rhythmus von Einatmen und Ausatmen, Nehmen und Geben vollzieht. Diese Aspekte von Lebendigkeit und Reziprozität wohnen der beruflichen Arbeit inne. Auch wenn die rollenförmige Struktur der Arbeit auf dem Prinzip der Leistungsäquivalenz in Form der Leistung und Gegenleistung beruht, so zeigt sich an dieser Stelle die Verankerung der Gegenseitigkeit in der konkreten beruflichen Tätigkeit. Hier ist der Bezug der beruflichen Bewährung zu Solidaritätsverpflichtungen in der Gemeinschaft konstituiert, der sich im Prozess des Nehmens (Sozialisation und Ausbildung beruflicher Fertigkeiten) und Gebens (schöpferische Gestaltung) realisiert. Unten wird geprüft, inwiefern für Frau Spenzel dieses Erleben im gemeinwohlbezogenen Engagement eine Differenz aufweist im Sinne einer möglicherweise weniger erfüllenden Tätigkeit. Dass diese Aspekte auch in familialen Tätigkeiten enthalten sind, war anhand der Schilderung von Frau Spenzel schon deutlich geworden in der Doppelbewegung von Erleben (die Welt noch einmal neu) und Begleiten (die Entwicklung der Kinder), das auch immer wieder neue Herausforderungen (126 AS 63) einschließt. So ist an dieser Stelle als Zwischenergebnis festzuhalten, dass zwar von den Momenten der Erfüllung sich die Bereiche im Prinzip gleichen, aber sich dennoch ergänzen in ihrer Andersartigkeit. Im Lebenszusammenhang von Frau Spenzel fügt sich ihre Arbeitssituation nun genau in das gewünschte Ganze: Ihre zwei Tage Berufstätigkeit pro Woche sind für sie optimal (ebd.). Damit einher geht eine Form der Aufgabenteilung mit ihrem Mann, die durch seine Vollzeit Berufstätigkeit bestimmt ist. Zwischen acht Uhr morgens und 19 bzw. 20 Uhr abends ist er beruflich außer Haus. Die Betreuung der Kinder obliegt an den beiden Arbeitstagen von Frau Spenzel den Großeltern, vor211
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mittags ist das ältere Kind in einem Kindergarten. Für die Organisation des Alltags und die Koordination der Termine ist Frau Spenzel verantwortlich: ich ich muss es halt organisieren […] hat sich so halt im Laufe der Zeit ergeben (124 AS 62). Ihre Übernahme der Verantwortung ruht auf ihrem Einverständnis (halt) und gilt ihr selbstverständlich (so halt). Der Hintergrund für die Verteilung der Arbeitszeiten ist angesichts Frau Spenzels Erfahrung einer Ergänzung beider Bereiche zu einem Ganzen erklärungsbedürftig. Gilt die Wahrnehmung beider Bereiche als ganzes für ihren Mann nicht oder gibt es andere Beweggründe für seine Vollzeit Berufstätigkeit? Wenn es möglich wäre, so vermutet Frau Spenzel, dann würde auch ihr Mann seine Arbeitszeit reduzieren (114 AS 57), denn auch bei ihm sieht sie Freude im Umgang mit den Kindern. Sie beschreibt jedoch seinen Bezug zu beiden Lebensbereichen nicht als Ergänzung, sondern als Abwechslung: das Büro gewährt ihm Abstand von einem anstrengenden Zuhause (110 AS 55). Während sich Frau Spenzel unmittelbar nach ihrer Arbeit nicht auf die Kinder einlassen kann, sondern zunächst eine Pause braucht, beobachtet sie bei ihm einen anderen Umgang: er lässt sich dann gleich von den Kindern voll vereinnahmen und hat erst Pause wenn die Kinder dann im Bett sind (106 AS 53). Während Frau Spenzel die Balance von Bindung und Selbstbezug innerhalb der Familie gelingt, tritt ihrer Schilderung nach bei ihrem Mann die Distanzierung erst in der räumlichen Trennung beider Aufgabenbereiche ein. In der Familie selbst steht er den Kindern so weit zur Verfügung, dass er sich dabei aufzulösen scheint (lässt sich voll vereinnahmen). Die Kinder dürfen mit ihm spielen, ihn in Beschlag nehmen, dann steht Papa im Mittelpunkt und dann Papa macht das dann auch immer (110 AS 55). Aus der Perspektive ihrer Kinder (Papa) berichtet Frau Spenzel amüsiert und staunend distanziert, wie intensiv sich ihr Mann den Kindern widmet. Im Resultat, so schlussfolgert Frau Spenzel, sucht er aus dieser Anstrengung, so gerne er sich mit den Kindern beschäftigt, Erholung (lacht) im Büro (lachend). Mit dem Lachen konzediert sie, dass Erholung hier keine treffende Beschreibung seiner Arbeit ist. Herr Spenzel scheint die Zeit nachzuholen, die ihm tagsüber für die Kinder fehlt, durch intensives Spiel und die Beteiligung an den notwendigen alltäglichen Verrichtungen wie die Kinder ins Bett zu bringen. Er hält offenbar ebenfalls seine Elternschaft für einen wesentlichen Teil seines Lebens, gibt ihr aber der Berufstätigkeit gegenüber einen nachgeordneten Rang. Dass er seine Arbeit nicht reduziert, liegt aber nicht nur an ihrem ‚Erholungswert‘, sondern Frau Spenzel hält hierfür die Bedingungen des Unternehmens für ausschlaggebend.
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116 AS 58 genau das iss also das typische Problem (.) was ja nich nur uns, betrifft (.) sondern auch viele andere, (.) mein Mann verdient halt mehr, und iss halt inner (.) äh s äh Position wo sich dann eben (.) mh ne Reduzierung (.) beziehungsweise n Aussetzen dann eben sehr, negativ dann halt auswirken würde mein Mann hat ja schon mal, überlegt (.) rein, theoretisch ich weiß nich ob ers gemacht hätte wenn er anner Uni gewesen wäre hätte er Erziehungsurlaub genomm
Als typisch, im Sinne von weit verbreitet, schätzt sie die Einkommensrelation zwischen Männern und Frauen ein, die zu einer geschlechtsbezogenen Aufteilung der Aufgaben und zum männlichen Hauptverdiener führt. Damit ordnet Frau Spenzel ihre Entscheidung in das Deutungsmuster ein, die Aufgabenverteilung folge der Einkommensrelation: Derjenige der mehr verdient, ist hauptsächlich für die Einkommenssicherung zuständig. Der Bezug auf dieses Deutungsmuster enthält auch ein Legitimationsargument für ihre Teilzeit Beschäftigung, denn als Sozialwissenschaftlerin erzielt sie kein geringes Einkommen und könnte mit einer Vollzeit Berufstätigkeit ebenfalls – wenn auch auf niedrigerem Niveau als ihr Mann – die Existenz der Familie finanzieren. Es muss für die Entscheidung der vollzeitlichen Berufstätigkeit ihres Mannes andere Gründe geben. Wie oben bereits deutlich wurde, liegt ihrer Aufgabenteilung das Selbstverständnis von Frau Spenzel zugrunde, dass das Ganze zu ihrem Leben gehört. Eine quantitativ geringfügige Beschäftigung erfüllt daher unabhängig von Umfang der Berufstätigkeit ihres Mannes ihre Lebensvorstellungen optimal, solange ihre Tätigkeit anspruchsvoll genug ist und die Aspekte ihrer Arbeitszufriedenheit enthält. Dass diese Entscheidung, zugunsten der Kinder von einer umfangreicheren Erwerbstätigkeit abzusehen, dennoch auch für Frau Spenzel begründungsbedürftig ist, zeigt nochmals, wie schon bei Frau Ziller, dass berufliche Tätigkeit als Ausweis eines anerkannten Lebens größeres Gewicht hat als die Fürsorge für Kinder. Als zweiten Grund für die Vollzeit Erwerbsarbeit ihres Mannes spricht Frau Spenzel die Differenz zwischen einer Beschäftigung in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst an. Nicht seine Tätigkeit in einem Energieversorgungsunternehmen an sich ist dabei ausschlaggebend für negative Auswirkungen einer Stellenreduzierung, sondern die Position, die er dort bekleidet. Als promovierter Wirtschaftswissenschaftler wird er Führungsaufgaben innehaben, für die gemeinhin gilt, sie erforderten einen umfangreichen Arbeitseinsatz, der nicht reduzierbar sei oder aus denen ein zwischenzeitliches Ausscheiden nicht möglich sei. So wie Frau Spenzel dieses Argument anführt, stellt sie die Position ihres Mannes in der betrieblichen Führungshierarchie und Aufgabenstruktur als Sachzwang dar, der seinen beruflichen Einsatz und zwar 213
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intensive, aber geringfügige Präsenz in der Familie legitimiert. Insofern erscheint ihr diese Aufgabenverteilung erklärungsbedürftig, und sie mobilisiert entsprechende Gründe. Die Überlegungen ihres Mannes zur Übernahme der Erziehungsaufgaben, die sie anführt, bleiben theoretischer Natur; ebenfalls im Konjunktiv (wäre hätte), im Modus der Unmöglichkeit ist die Vermutung gehalten, auf einer Stelle an der Universität hätte er Erziehungsurlaub genommen. Faktisch hat er mit seinem Arbeitgeber nicht verhandelt über Möglichkeiten einer reduzierten Arbeitszeit. So nimmt sie offenbar an, dass schon die Erwähnung gegenüber dem Arbeitgeber die gefürchteten negativen Auswirkungen nach sich zieht. Indem sie dies als absolutes Tabuthema (118 AS 59) einschätzt, ist für sie die Aufgabenteilung begründet. Zum Glück, möchte man fast sagen, denn ihr selbst steht nicht der Sinn nach einer anderen Aufteilung. Interessant an dieser Stelle ist, dass sie dies nicht unumwunden zum Ausdruck bringen kann. So erhalten auch Frau Spenzels abschließende Bemerkungen zu wünschenswerten Verbesserungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (170 AS 85) einen formelhaften Charakter: die Ganztagsschule solle ausgebaut werden, so dass die Kinder zwei drei Tage Vollzeit betreut sind bzw. Unterricht haben und die Ferien sinnvoller gestaltet sind (174 AS 87). Ihre Vorstellungen, zunächst in großem Bogen (gesellschaftlich) begonnen, entsprechen dann sehr zurückhaltend genau ihrem Rhythmus von zwei ganzen Arbeitstagen auch in den Schulferien. Auch solchermaßen veränderte Rahmenbedingungen der öffentlichen Bildung, Erziehung und Betreuung würden bei Frau Spenzel kein Motiv für eine Veränderung ihres Arbeitseinsatzes erzeugen. Sie ist mit ihrer Lösung zufrieden. Dazu steht in Passung, dass sie auch keine Betreuung durch eine Tagesmutter oder eine Kindertagesstätte gesucht hat, sondern der liebevollen Behandlung (16 AS 8) durch die Großeltern an zwei Tagen in der Woche den Vorzug gegeben hat. Auch hier tritt nochmals ihre Wertschätzung unmittelbarer Bindung hervor. Ihre Vorschläge zur Verbesserung der Situation von Familien – ein anderes Kinderbetreuungssystem (20 AS 10) – stellen für sie selbst keine Lösung dar, die zu ihren Prioritäten und dem Gesamt ihres Lebensentwurfs passen würde. Die Bedeutung dieser Vorschläge liegt daher auf einer anderen Ebene als der ihrer eigenen organisatorischen Vereinbarkeitslösung: Würden solche Vorschläge durchgesetzt, wäre dies Ausdruck einer veränderten Anerkennungsordnung. Verlängerte Tagesbetreuung hieße, dass es als anerkannt gälte, dass Kinder von der Öffentlichkeit erzogen und betreut würden. So wie es in der Klage von Frau Grebe zum Ausdruck kam, dass Deutschland im europäischen Vergleich konservativen Vorstellungen nachhinge. Erst dadurch würde sich in der 214
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Gestalt der Balance von Frau Spenzel eine Veränderung einstellen. Auch wenn dies lebenspraktisch keine Konsequenzen für eine andere Aufgabenverteilung der Spenzels nach sich zöge, weil sie ihre Prioritäten in innerer Stimmigkeit zu ihren Antrieben gesetzt hat, verweist dieser Aspekt doch auf einen wichtigen Punkt. Die Vorstellungen einer Balance oder die Gestaltung von Aufgaben bilden sich zwar entlang der eigenen Lebensgeschichte, diese selbst aber ist geprägt durch die Auseinandersetzung des Subjekts mit gesellschaftlich verfügbaren Deutungsmustern, in denen die Ausdeutungen zur Geschlechtlichkeit zum Ausdruck kommen. Die vorherrschende Anerkennungsordnung spiegelt sich in den Formen der Arbeitsorganisation wie etwa dem Tabuthema reduzierter Arbeitszeiten für (männliche) Führungskräfte ebenfalls wider. Wodurch ist nun die Anerkennung und Sinnstiftung im Bereich gemeinwohlbezogenen Engagements von Frau Spenzel geprägt und worin besteht die Differenz zur beruflichen Arbeit?
Gemeinwohlbindung Die politische Ratstätigkeit war eines der Lebensziele, die sich Frau Spenzel gesetzt und die sie lebensgeschichtlich früh auch erreicht hat. Der besondere Stellenwert, den das politische Engagement im Lebensentwurf der jungen Erwachsenen einnimmt, steht ebenso wie das Studium im Zusammenhang mit der Ablösung aus ihrer Herkunftsfamilie, die über keine Tradition in parteipolitischem Engagement verfügt. Hier verfolgt Frau Spenzel eigene Ziele und folgt eigenen Interessen. Dass sie sich dieses Engagement in der konkreten Form der Mitgliedschaft im Rat der Stadt vorstellt und so auch realisiert, zeugt von einer speziellen Deutung gemeinwohlbezogenen Engagements in verantwortlicher Position, in der sie ihre staatsbürgerschaftlichen Pflichten und Gestaltungsmöglichkeiten interpretiert. Dieses Engagement war dabei Bestandteil eines Aufgabenprogramms, dem sie intrinsisch, inhaltlich gebunden an ihren Antrieb, Dinge zu verändern, und pflichtethisch folgt (kümmern muss). Erst als Frau Spenzel durch die Familiengründung ihre Prioritäten neu setzt und sich für eine Konzentration auf die Kindererziehung entscheidet, gibt sie die Ratstätigkeit auf. Beruf, Mutterschaft und politisches Engagement wurden ihr zu viel: 38 AS 19 […] mein Leben war dann einfach nur noch irgendwie fremdbestimmt und s äh (atmet ein) ähh, ich hab das Gefühl gehabt dass gar nichts mehr so gelaufen wie wie ich das eigentlich wollte und dann muss man halt die Konsequenzen ziehen und die hab ich dann eben auch gezogen; indem ich dann n bisschen reduziert hab, (.) arbeitsmäßich und dann eben äh in der Politik dann eben auch nich weiter kandidiert habe 215
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Zwischen den verschiedenen Anforderungen, mit denen sie durch ihre Aufgabenbereiche konfrontiert ist, entfernt sie sich von ihren Vorstellungen wie sie leben will. Eine Fremdbestimmung setzt bei Frau Spenzel – anders als bei Herrn Blöker-Olbert – nicht durch Ansprüche anderer ein, sondern wenn sie ihre eigenen Ansprüche nicht mehr in der schon rekonstruierten Qualität erfüllen kann (wie ich das wollte). Dies wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus, sodass sie sowohl beruflich als auch ehrenamtlich ihren Einsatz reduziert. Mit der grundsätzlichen Entscheidung für die Familie tritt Frau Spenzel in den anderen Feldern zurück. Hierbei folgt sie ihrer Entscheidungsstruktur klarer Prioritäten, die sie als allgemeine Regel versteht (muss man halt die Konsequenzen ziehen). In Abgrenzung zur Fremdbestimmung durch zu starke Belastung erfährt Frau Spenzel eine Selbstbestimmung durch klare Entscheidungen, die ihr wieder die Möglichkeit gibt, ihr Leben so zu gestalten wie sie es für richtig hält. In ihrem Wertehorizont, in dem sie ihre Prioritäten setzt, nimmt das Gestalten einen wichtigen Platz ein. Für die Form der Gestaltung hat Frau Spenzel Qualitätsmaßstäbe, die auf sorgfältiger Vorbereitung beruhen. Diese Grundhaltung zeigt sich auch in ihrer Antwort auf die Frage, was ihr Leben wertvoll erscheinen lässt. 42 AS 21 also ich möchte gerne, äm (.) ja etwas Sinnvolles tun; wobei? Das jetz ä relativ abstrakt ist ä, das is jetz keine bestimmte Sache die ich äh machen möchte aber (atmet ein) ich möchte schon äh in ner gewissen Form für andere Leute und letztendlich dann auch für mich selber, etwas erreichen was i (.) ä m die Lebenssituation halt zu verbessern zum Beispiel
Die übergeordnete Orientierung für das eigene Handeln bezieht sich auf seinen Sinn (keine bestimmte Sache) und verweist in zwei Hinsichten auf die Bedeutung der Vergemeinschaftung: Zum einen wäre es unterkomplex, das Sinnvolle allein auf sein eigenes Leben zu beziehen etwa in der Art: ich möchte gerne für meine Gesundheit sorgen, meine Wohnung dekorieren o.ä.. Sinn ist also konstitutiv mit den grundlegend zu lösenden Handlungsproblemen der Gemeinschaft verknüpft. Zum anderen kann die individuelle Ausdeutung dessen, was als sinnvoll erachtet wird, nicht ohne positive oder negative Bezugnahme auf die kulturellen Deutungen der Gemeinschaft vorgenommen werden. In Frau Spenzels individueller Antwort auf die Sinnfrage lassen sich daher auch in der Vergemeinschaftung gültige Sinnkomponenten erkennen. Worin bestehen diese nun? Dass diese Antwort bedeutungsschwer ist, zeigt ihr Atemzug an dieser Stelle: Vor dem Wertehorizont des allgemein Sinnvollen erhebt sich für Frau Spenzel keine konkrete Aufgabe. Dies hatte die bisherige Ana216
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lyse gezeigt etwa in ihrer Orientierungslosigkeit nach ihrem Studium beim Auffinden neuer Ziele. Doch als richtungweisend für jeglichen Handlungsvollzug ist eine Wirkung (etwas erreichen), ähnlich wie das Erreichen-Wollen bei Herrn Blöker-Olbert. Der Unterschied zu seiner Freude an der Arbeit durch kleine positive Ergebnisse liegt darin, dass Frau Spenzel sich an Aufgaben orientiert, die für die Gemeinschaft (andere Leute) relevant sind. Analog zur oben rekonstruierten Balance der Autonomie findet sich auch hier die Einheit zwischen ihr und anderen. Sie tritt nicht als selbstlos getriebene Wohltäterin in Erscheinung, sondern als Teil der Gemeinschaft. Als solcher profitiert sie selbst von Verbesserungen der Lebenssituation, die sie als ihren Antrieb nennt. Das Deutungsmuster der politischen Gestaltung von Lebensverhältnissen ist von einer Solidarität mit den Schwachen getragen, nämlich denjenigen, deren Lebenssituation einer Verbesserung bedarf. Diese spezifische aktive Form der Gemeinwohlbindung ist für Frau Spenzel ein unmittelbar sinnstiftender Teil ihres Lebens. Dies ist auch nicht dadurch beseitigt, dass sie einen Teil ihres Engagements aufgibt, denn die Solidaritätsverpflichtung geht neben dem direkten politischen Engagement auch in ihr übriges Handeln ein. Sie widmet sich dem Thema der Arbeits- und Lebenssituationen theoretisch etwa in ihrem beruflichen Handeln durch die Zeitschriftenredaktion, sowie der Topos der Entwicklung (ihrer Kinder) auch familiär ihre Aufmerksamkeit findet (begleiten). Das Verlassen des Feldes bürgerschaftlichen Engagements ist nicht nur einem zeitlichen Engpass geschuldet. Ihrer Prioritätensetzung liegen Erfahrungen zugrunde, die ihre Zielsetzungen verändert haben. Als Frau Spenzel im Alter von 30 Jahren merkt, dass sie ihre Ziele erreicht hat, stellt sie fest, man muss sich neue Ziele setzen das warn dann nur so Zwischenziele (128 AS 64). Die Bewährung anhand eigener Ziele hört nicht mit Erreichen dieser Ziele auf. Die These einer nicht stillstellbaren Bewährungsdynamik findet hier ihre empirische Entsprechung. Es ist dem Subjekt nicht möglich, die Sinnstiftung seines Lebens aus dem bereits Erreichten zu ziehen. Neue Ziele werden nötig. Dabei findet im Bildungsprozess von Frau Spenzel eine Umorientierung statt, denn sie ist mit ihrer politischen Arbeit unzufrieden: Sie sah ihre Hoffnung nicht erfüllt, dass man in ner Politik noch n bisschen mehr verändern kann […] und bestimmte Sachen sind halt auch nich so abgelaufen wie ich mir das gewünscht hab (ebd.). Sowohl das Resultat ihres politischen Einsatzes als auch der Ablauf politischer Entscheidungen entsprechen ihren Vorstellungen nicht. Da ihr Antrieb ist, Dinge zu verändern, die Lebenssituation zu verbessern, ist ihr Handlungsmotiv nach dieser Erfahrung mangelnden Erfolges geschwächt, so dass sie zu dem Schluss kommt: bestimmte Sachen werden dann auch m mh im Laufe der Zeit sind dann 217
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auch gar nich mehr so wichtig (ebd.). Der Bezugspunkt ihrer Prioritätensetzung ist ein praktischer (des Erfolgs) sowie ein normativer (nach ihren Wertmaßstäben). Stimmen weder das Resultat noch das Verfahren der Entscheidungen mit ihren Maßstäben überein (ich möchte auch immer noch in den Spiegel gucken könn wenn ich irgend ne Entscheidung getroffen hab, ebd.), verlieren sie ihren sinnstiftende Gehalt. So setzt sie nach dieser Enttäuschung sowie ihrer Einschätzung einer Fremdbestimmung durch ihre Überlastungserfahrung ihre Priorität neu: 156 AS 78 […] Familie und Beruf stehn immer an erster Stelle also ich weiß für mich jetz in der Zukunft dass das Thema (.) Politik ähh (3) also in der Form wie ich mich äh ne Zeit Zeit zeitlang engagiert habe werd ich das nich wieder tun
Die Entschiedenheit ihrer Priorität für Familie und Beruf (immer an erster Stelle) ist erfahrungsgesättigt, ohne zu einer forcierten Abwehr zu führen. Das politische Engagement hat Frau Spenzel nicht gänzlich aufgegeben, nur für den Rat der Stadt hat sie nicht mehr kandidiert und ihre Verpflichtungen auf ein Maß reduziert, das sie mit einem Termin in der Woche vor der als Fremdbestimmung erlebten Belastung ebenso schützt wie vor Gewissenskonflikten. Ehrenamtliches Engagement bleibt darüber hinaus fester Bestandteil ihres Lebens, indem sie in der evangelischen Gemeinde eine Krabbelgruppe betreut. Der Gemeinwohlbezug ist bei Frau Spenzel deutlich ausgeprägt, sowohl in ihren unmittelbaren Aktivitäten als auch in der zugrunde liegenden Solidaritätsverpflichtung nicht nur ihres ehrenamtlichen – politischen oder kirchlichen – Engagements, sondern auch in ihren beruflichen Aufgaben, die sie im Zusammenhang des Wirkens für Verbesserung sieht sowie in der familiären Tätigkeit.
1.3 Geschlechterbezogenes Resümee im Fallvergleich In allen drei hier rekonstruierten weiblichen Fällen tritt eine deutliche Ausprägung leistungsethischer Antriebe hervor, die die These einer Verallgemeinerung beruflicher Bewährung auf Frauen bestätigt. Die Sachbindung weist dabei unterschiedliche Formen auf und ist als kompensatorische Leistungsethik im Fall Grebe, als programmatische Leistungsethik im Fall Ziller und als sachgebundene Leistungsethik im Fall Spenzel charakterisiert worden. In allen Fällen zeigt sich eine Pflichtethik in modernem Gewand: Der Begründungsaufwand der beruflichen Entscheidungen sowie die Bemühungen, eine Konsistenz der Entscheidungen zu plausibilisieren, verweisen auf die starke Bedeutung personaler Kohärenz. Und das heißt insbesondere individuelle Authentizität. In die218
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sem Ringen um Autonomie wird sowohl das Fragile der modernen Identitätsbildung anschaulich als auch die Bedeutung einer gelingenden Herstellung von Identität. Eine besondere Relevanz kommt diesem Antrieb dann zu, wenn es um die Integration neuartiger Aufgaben in die bisherige Entscheidungsstruktur geht, wie etwa die Mutterschaft der hochqualifizierten Frauen. Es wurde deutlich, dass die Ausdrucksformen der beruflichen Bewährung einen starken Bezug zur Fallstruktur haben, vor allem also habituell konstituiert sind. Eine Geschlechtsspezifik der Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens lässt sich mit alleinigem Blick auf die Bedeutung des Berufs nicht erkennen, es sei denn, die habituellen Strukturen der Entscheidungen selbst verweisen auf geschlechtsbezogene Probleme und Problemlösungen. Auffällig ist in allen drei weiblichen Biografien, dass es nicht die Familiengründung ist, an der sich bis dahin ausgebildete berufliche Ambitionen und Erfolge brechen, auch wenn dies auf den ersten Blick so aussieht. Besonders deutlich wird bei Frau Grebe eine Orientierungskrise bereits während ihrer beruflichen Karriere, die sie zum Innehalten veranlasst. Das Ausbleiben einer grundlegenden Krisenlösung zeitigt in ihrem Fall Folgen für die Schwierigkeiten bei der Übernahme der Fürsorge für ihr Kind. Auch Frau Spenzel zeigt Spuren unsicherer Zielsetzungen, sobald Zwischenziele erreicht sind. Zu einer Familiengründung ist sie schon während ihres Studiums bereit, da sie sich entschieden hat, keine wissenschaftliche Karriere anzustreben. Frau Ziller legt ihre Prioritäten ebenfalls schon vor der Familiengründung auf die Primärbeziehungen, für die sie eine forcierte berufliche Karriere aufgibt. Diese Option, sich für Primärbeziehungen und Fürsorgetätigkeiten zu entscheiden und dem Beruf weniger Gewicht beizumessen im Komplex der sinnstiftenden Bereiche, ist diesen Frauen eröffnet. Die Männer dieser Frauen zeigen äußerlich betrachtet eine solche Option nicht. Die Frage, ob Möglichkeitsräume, die Realisierung von Möglichkeiten, die aufgefundenen Formen der Unsicherheit und die hier aufscheinenden Entscheidungslinien geschlechtsgebunden sind oder etwa ein Ausdruck der Spannung zwischen gestiegener Freiheit und der Verantwortung des Einzelnen für eine individuierte Lebensführung, werden die folgenden Fallrekonstruktionen männlicher Biografien im Kontrast untersuchen. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass das so genannte Vereinbarkeitsproblem in der Zuspitzung auf einen Konflikt zwischen Familie und Beruf zu kurz greift, wie die hier aufgefundenen tiefer liegenden Entscheidungsstrukturen ahnen lassen. Unabhängig von der je praktischen Lösung in Form einer Vollzeit- oder Teilzeit-Beschäftigung oder des zeitweiligen Ausscheidens aus dem Beruf, wird es relevant auf den Ebe219
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nen des Habitus ebenso wie in Bezug auf die kulturelle Ordnung. Das Vereinbarkeitsproblem stellt sich als eines von Ansprüchen und eigenen Wertsetzungen dar, die wiederum auf die Anerkennungsordnung bezogen sind. Dabei zeigt sich besonders klar im Fall Grebe die konfliktsteigernde Wirkung eines kulturellen double bind: der unauflösliche Widerspruch zwischen der Wertschätzung der beruflichen Leistung und der spezifischen Ausdeutung der Mutterschaft. In dieser Form markiert er eine geschlechtsspezifische Konfliktkonstellation, die bei Frau Ziller und Frau Spenzel auf je eigene Weise, aber mit hohem Legitimierungsaufwand gelöst wird.
2. Bewährungsdynamik in weiteren männlichen Biografien In Kontrast zu den Fallrekonstruktionen der weiblichen Biografien und ebenso in Kontrast zum Zentralfall des Herrn Blöker-Olbert werden hier weitere Fälle von Männern vorgestellt. Es war bisher deutlich geworden, dass die familiale Sozialisation mit den dort angebotenen Identifikationsmöglichkeiten einen entscheidenden Einfluss auf die Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern hat. Ob und wie sich im Bildungsprozess des Subjekts geschlechtsbezogene Identifikationslinien Einfluss verschaffen, ist nun im Fallvergleich der bisherigen weiblichen mit den hier präsentierten männlichen Biografien genauer zu untersuchen. Auf diesem Weg wird die Relevanz der Geschlechtlichkeit der Praxis für die Beantwortung der Bewährungsfrage untersucht. Die in diesem Teilkapitel herangezogenen männlichen Fälle weisen ebenfalls eine akademische Qualifikation auf, beide haben Lehramt studiert. Bezogen auf ihre familiäre Einbindung bilden sie einen Kontrast: Herr Schulz ist Gymnasiallehrer und aktuell in Elternzeit, während Herr von Quant sich früh gegen eigene Kinder entschieden hat. Dieser fallbezogene Kontrast verspricht nun, Einflüsse auf die familiale Bewährung in der männlichen Biografie zu identifizieren sowie der Vergleich der Elternschaft im Fall Schulz mit den weiblichen Fallrekonstruktionen biografische Konfliktlinien im Geschlechtervergleich aufdecken soll.
2.1 „Nicht nur Leben aus Beruf“: Christoph Schulz 2.1.1 Analyse der biografischen Daten Herr Schulz ist im März 1967 in Mönchengladbach geboren. Er ist der Letztgeborene von sechs Geschwistern. Mit Abständen von eineinhalb bis vier Jah220
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
ren zwischen den Geburten reicht der Reproduktionszyklus der Eltern von 1954 bis 1967. Die erstgeborene Tochter, sowie die als Vierter und Fünfter geborenen Söhne werden Lehrer, so wie es die Eltern von Herrn Schulz auch sind. Der zweitgeborene Sohn ist Arzt und die als Dritte geborene Tochter Buchhändlerin. Alle bis auf sie haben zwei bis drei Kinder. Sein Vater ist zur Geburt von Herrn Schulz 38 Jahre alt (geboren 1929), er ist Gymnasiallehrer mit den Fächern Latein, Englisch und katholische Religion. Seine Mutter ist 37 Jahre alt (geboren 1930) und arbeitet als ausgebildete Grundschullehrerin damals nicht.
Die Generationenlagerung der Eltern entspricht derjenigen von Frau Ziller. Auch Herr Schulz gehört dem gleichen Jahrgang und damit auch der gleichen Generationenlagerung an wie Frau Ziller selbst. Die Konstitutionsbedingungen des Bildungsprozesses sind, soweit sie durch die Generationenlagerung bestimmt werden, vergleichbar. Für die 1950er und 60er Jahre, in der sich die Familiengründung der Eltern von Herrn Schulz vollzieht, ist eine achtköpfige Familie auch im katholischen Milieu eine Ausnahme.9 Unter Gesichtspunkten der Individuierung bietet eine große Anzahl an dicht aufeinander folgenden Geschwistern eher geringe Möglichkeiten. Für Christoph Schulz schwächt jedoch sein Status als Letztgeborener diese Einschränkung ab, denn ihm wird als ‚Nesthäkchen‘ mit dreijährigem Abstand zu dem vor ihm geborenen Geschwister besondere Aufmerksamkeit im Rahmen der Möglichkeiten zukommen. Drei seiner fünf Geschwister sind bereits in der Schule, die älteste Schwester schon im Eintritt zur Adoleszenz, so dass hier eine Loslösung von der Familie bereits beginnt oder fortgeschritten ist. Die Mutter, studierte Grundschullehrerin, arbeitet zum Zeitpunkt seiner Geburt seit einigen Jahren nicht, später tritt sie in zeitweise Vertretungsstellen ein und arbeitet als Dozentin für die Volkshochschule. Ihr Lebensentwurf ist mit der Entscheidung zu einer großen Familie von einem Vorrang der familialen Aufgaben geprägt, ohne allerdings die eigenen beruflichen Interessen ganz aufzugeben. Auch ihre Mutter (geboren 1901) hatte bereits eine Ausbildung als Kauffrau, was ihre eigene berufliche Tätigkeit identifikatorisch unterstützt. Der Vater sichert als Beamter im Schuldienst den Unterhalt der Familie. Er folgt seinerseits einer väterlichen Linie, da sein Vater als Bahnbeamter tätig und zudem Vater von Sechs Kindern war. Der familiäre Hintergrund von Christoph Schulz ist neben dem katholischen Milieu der Eltern durch deren hohen Bildungsstand geprägt. Sein bildungsbürgerliches Herkunftsmilieu weist ständische und traditi9
Familien mit fünf und mehr Personen machten im Jahr 1967 nur 11,9 Prozent aller Familienformen aus (Statistisches Bundesamt 2004), darunter sind diejenigen mit acht Personen vermutlich geringfügig vertreten. 221
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onale Momente auf, die sich im Werdegang der Kinder als Kontinuität der Orientierungen zeigen. Alle Kinder der Eltern folgen dieser Milieubindung, verbleiben in der Mehrheit sogar im Berufsfeld der Eltern. Nur der Zweitgeborene wird Arzt, die als Dritte Geborene schlägt eine Buchhändler-Laufbahn ein und gründet zudem als einzige keine Familie. Familiendynamisch ist anzunehmen, insbesondere da zwischen dem zweiten und dritten Kind ein Altersabstand von ca. eineinhalb Jahren liegt, dass sich die Bindung an die Familie für die als Dritte Geborene schwächer ausgebildet hat. Mit ihrem Wohnsitz in München bewegt sie sich auch geografisch am weitesten aus dem Herkunftsmilieu fort. Doch auch die anderen Kinder verlassen bis auf den mittleren Sohn Mönchengladbach. Die Milieugebundenheit zeigt sich eher in den eingeschlagenen Lebenswegen als in geografischer Sesshaftigkeit. Mönchengladbach wird, der Homepage der Stadt zufolge, im 11. Jahrhundert erstmalig urkundlich erwähnt. Als größte deutsche Stadt linksseitig des Rheins war Mönchengladbach bis Mitte des 20. Jahrhunderts als Standort von Textil- und Bekleidungsindustrie monostrukturell geprägt. Die Branchenstruktur weist heute eine breitere Mischung auf zwischen Maschinenund Anlagenbau, Elektronik, Logistik, Gesundheit und Medizintechnik neben den verbliebenen Resten der Textil- und Bekleidungsindustrie. Nach der Gebietsreform 1975 wurden die Gemeinden Rheydt und Wickrath zu Mönchengladbach angeschlossen und ließen die Bevölkerungszahl auf 270.000 anwachsen. Herr Schulz wird 1973 eingeschult und absolviert sein Abitur 1986 auf einem Gymnasium in Mönchengladbach. Nach seinem Zivildienst im Bereich kirchlich getragener Altenpflege beginnt er 1988 ein Doppelstudium an der Universität Münster: er studiert katholische Theologie und schließt 1994 mit dem Diplom ab; zugleich nimmt er ein Studium von Latein und katholischer Religion auf Lehramt auf. Dieses Studium schließt er 1996 ab. Er finanziert die letzten beiden Studienjahre als wissenschaftliche Hilfskraft an einem Theologielehrstuhl. Im Chor der Universität und im Theologiestudium lernt er seine spätere Frau kennen, die ein Studium zur Lehrerin für Grundschulen und Sekundarstufe I ebenfalls in Münster absolviert. 1996 heiraten beide. Nach dem Referendariat in einer Schule in A-Stadt (Münsterland) und einer Vertretung an einem Gymnasium in B-Stadt (nördliches Ruhrgebiet) tritt Herr Schulz im Jahr 2000 seine jetzige Stelle als Gymnasiallehrer in C-Stadt (Sauerland) an. Kurz vor der Geburt ihres ersten Sohnes 2001 zieht das Paar Schulz in ein neu gebautes Eigenheim nach D-Stadt (östliches Ruhrgebiet). Bis dahin hatte Frau Schulz in einer Grundschule in E-Stadt (nördliches Ruhrgebiet) gearbeitet. Nun tritt sie für vier Jahre in Mutterschutz und Elternzeit ein. 2004 kommt ihr zweiter Sohn zur Welt. Seit Sommer 2005 übernimmt Herr Schulz die Eltern-
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IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
zeit, während Frau Schulz als Lehrerin in einer Grundschule in F-Stadt (nördliches Ruhrgebiet) arbeitet.
Der schulische Werdegang von Herrn Schulz verläuft ohne Verzögerungen von der Einschulung bis zum Abitur, was angesichts des Bildungshintergrunds der Familie nicht verwundert. Die damalige 20monatige Zivildienstzeit führt zu einem verzögerten Studienbeginn, den er aber in Ablehnung des Wehrdienstes in Kauf nimmt. Zum Studium verlässt er die Heimatregion und zieht nach Münster um. Das katholische Milieu verlässt er damit nicht, auch sein Studium verbleibt darin. Das Studium der katholischen Theologie nutzt er für zwei Abschlüsse (Diplom und Staatsexamen für das Lehramt). An der katholischen Theologie muss ihn mehr interessieren als es für den Schulunterricht notwendig ist, denn das Theologiediplom ermöglicht ihm neben dem Lehrerberuf auch eine Tätigkeit im kirchlichen Dienst. Eine starke religiöse Bindung muss hier vorliegen, wie sie auch in seiner Herkunftsfamilie verankert ist. Diese mündet nun auch für Christoph Schulz in den Lehrerberuf, womit er beinahe mit der gleichen Fächerkombination der väterlichen Linie folgt. Eine starke Identifikation mit seiner Herkunftsfamilie zeigt sich nicht zuletzt in seiner Paarbeziehung: Seine Frau ist ebenso Grundschullehrerin wie es seine Mutter war. In der Interviewanalyse wird u.a. zu beantworten sein, ob diesen Entscheidungen traditionale oder individuierte Deutungen zugrunde liegen. Die Heirat findet statt, nachdem beide ihr Studium beendet haben, sie folgt der rationalen Erwägung, zunächst einen Beruf zu erlernen, bevor eine Familie gegründet wird. Bis zur Geburt des ersten Kindes vergehen fünf Jahre, die ebenfalls für eine durchdachte Familiengründung sprechen. Das Referendariat, das Bestandteil der Ausbildung für den Lehrerberuf ist, nimmt bei beiden zwei Jahre in Anspruch, danach suchen Herr und Frau Schulz zunächst den Einstieg in den Beruf und sammeln Berufserfahrung, bevor Frau Schulz schwanger wird. Der Beruf erscheint hier für beide Gatten eine starke Bedeutung innerhalb des Lebenskonzeptes zu haben. Auch zeigen sie rationale Entscheidungen in Bezug auf die Familiengründung, zu der sie auch zunächst ihr Heim erbauen an der geografischen Schnittstelle ihrer Arbeitsorte. Die ersten Jahre der Elternzeit nimmt Frau Schulz in Anspruch, sie setzt nach Geburt ihres ersten Sohnes vier Jahre mit ihrem Beruf aus. Der Aufgabenteilung von Herrn und Frau Schulz nach bleibt zunächst die Mutter beim Kind und ist zugunsten der Säuglingspflege und Erziehung nicht zugleich beruflich tätig. Der Zeitraum ihrer Berufsunterbrechung umfasst auch das erste Lebensjahr des zweiten Kindes. Das lässt darauf schließen, dass hier eine Deutung der Mutter-Kind-Bindung zugrunde liegt, die günstige Entfaltungsbedingungen des Kleinkindes 223
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
bei Anwesenheit der Mutter annimmt und insbesondere der StillBeziehung Bedeutung beimisst. Frau Schulz folgt damit einer beruflichen Orientierung, die eine mehrjährige Unterbrechung zulässt, gleichwohl aber nicht aufgegeben wird. Nur zeitweilig gerät der Beruf in den Hintergrund, erhält aber im Alter von einem Jahr des Letztgeborenen wieder eine führende Stellung. Nun arbeitet sie auf einer Vollzeit-Stelle, während Herr Schulz die Versorgung von Haushalt und Kindern übernimmt und dafür seinem Beruf für zwei Jahre den Rücken kehrt. Das Paar wechselt sich mit den Erziehungsaufgaben also ab, jeder von beiden setzt eine Weile aus, solange die Kinder noch klein sind. Diese Lösung unterscheidet sich von allen bisher vorgestellten Fällen in der Vorrangstellung, die beide für eine bestimmte Zeit der Familie einräumen. Während die anderen entweder möglichst bald wieder die berufliche Tätigkeit aufnehmen (Frau Grebe, Frau Spenzel, Herr Blöker-Olbert, aber auch Frau Olbert) oder den Beruf auf unbestimmte Zeit unterbrechen (Frau Ziller), wechseln die Schulzens zwischen beiden Bereichen. Fallstrukturhypothese: Es ist anzunehmen, dass die Paarbeziehung in dieser annähernden Gleichverteilung der Aufgaben zwischen Beruf und Familie symmetrische ausgedeutet und lebenspraktisch einvernehmlich realisiert werden. In diesem Sinne zeigt sich in der Paarkonstellation eine moderne Beziehung, in der es beiden möglich ist, den Lebensbereichen Familie und Beruf jeweils volle Aufmerksamkeit zu schenken. Mit seiner Wahl von zwei Jahren Elternzeit gehört Herr Schulz zu den 3,5 Prozent aller Männer in Deutschland, die aufgrund der Kindererziehung ihre Berufstätigkeit unterbrechen (Statistisches Bundesamt 2007b). Der Lehrerberuf im Beamtenverhältnis ermöglicht diese Entscheidung auf spezifische Weise, da er sowohl Beschäftigungssicherheit für den Wiedereinstieg gewährt als auch ein ausreichend hohes Einkommen für die Existenzsicherung der Familie, selbst bei nur einem Gehalt. Im Interview wird insbesondere zu prüfen sein, auf welchen Deutungsmustern diese moderne Lösung der Aufgabenteilung fußt. Für Herrn Schulz ist bisher eine Orientierung an der väterlichen Linie hervor getreten, die zudem traditional grundiert ist. Die Transformationsstruktur des Wandels zu moderner Lebensführung wird die Interviewanalyse genauer beleuchten. Insbesondere interessiert dabei, inwiefern in der Herkunftsfamilie diese Formbestimmung als Möglichkeit angelegt ist.
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IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
2.1.2 Interviewanalyse10 Eingangssequenz Auf die übliche Eingangsfrage nach der jetzigen Lebenssituation fragt Herr Schulz zunächst nach, ob er beschreiben soll, was er macht. Der konkretistische Impuls der Eingangsfrage wird hier deutlich. Er verleitet zu einer Aufzählung von Alltagsverrichtungen oder aber zu sozialstatistischen Angaben. Die vorherigen Fallrekonstruktionen zeigten aber auch, dass es je spezifische Weisen gibt, wie die Interviewten mit dieser Aufforderung umgehen. Der Aspekt mit der vorrangigen Bedeutung wird dabei als zentraler und erster genannt. Auf die Bestätigung der Interviewerin beginnt er eine lange Erzählung (von über zwei Minuten Länge): 4 CS 2 Ja. Ich bin ja im Moment in Elternzeit, das heißt (räuspert sich) dass ich mich natürlich zunächst mal um die (.) beiden Kinder (.) ä kümmere, der Große geht ja jetzt in den Kindergarten, und äm also sehe, dass die dass der morgens fertig wird und in den Kindergarten bringe und ä (räuspert sich) mittags wieder abhole, und dann auch im weitesten den ähm bei ihm sage ich mal jetzt mich so ähm neben den Zeiten die mi die ich mit ihm verbringe dann eben sehe dass der bei Verabredungen hin bringe oder zu verschiedenen Terminen, paar Sachen machen wir auch zusammen wobei er zu den meisten Sachen er jetz auch selbst selbstständig der ist jetzt fünf (I: hmm) selbstständig hingeht
Nach einem sich sammelnden Ja stellt er seinen Status der Elternzeit in den Vordergrund. Der Interviewte wusste, dass er für das Interview gerade deshalb in Betracht kam, weil es für das Forschungsprojekt von Interesse war, auch diese Form gestalteter Vaterschaft zu untersuchen. So mag dieser Fokus der Antwort auch diesem Setting geschuldet sein. Die formale Bezeichnung ist allerdings abstrakt zum praktischen Tun etwa in Kontrast zu ‚ich bin gerade Hausmann‘. Doch er belässt es nicht bei der Erwähnung der Elternzeit, sondern beginnt nun, diese auszuführen im Sinne der Erzählaufforderung, wie seine Lebenssituation konkret aussieht (das heißt). Damit entscheidet er sich für eine andere Darstellung als etwa Herr Blöker-Olbert, der zunächst knapp seine berufliche und familiäre Situation geschildert hatte, ebenso wie Frau Spenzel. Der prägende Charakter, den die Elternzeit für seine Lebenssituation hat, wird dadurch unterstrichen. Zugleich ist von Beginn an deutlich, dass es sich dabei um eine vorübergehende Phase handelt, denn der erläuternde 10 Das Interview wurde im Dezember 2006 in der Wohnung von Herrn Schulz von mir. Der Kontakt wurde über eine entfernte Bekannte von mir hergestellt. 225
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Zusatz im Moment ist hier nicht selbsterklärend, handelt es sich doch um einen Zeitraum von zwei Jahren. Die Phase der Elternzeit wird also gerahmt von anderen Lebensbereichen, die nur zeitweise in den Hintergrund treten, aber in ihrer Bedeutung für das Leben nicht dahinter zurückstehen. Die Elternzeit bringt für ihn mit sich, dass er sich um die Kinder kümmert. Um es auf diesen Aspekt zuzuspitzen, vergeht ein Räuspern und zwei kürzere Pausen. So eindeutig hat er dies nicht vor Augen. Zu dem natürlich steht dies in Spannung, bringt er damit doch zum Ausdruck, dass die Elternzeit zur Betreuung der Kinder gedacht ist. Allerdings steht dies nicht allein im Vordergrund, sondern gleichrangig neben weiteren Aspekten, die er mit zunächst ankündigt. Die beiden Kinder führt er distanziert ein, im Kontrast etwa zu ‚meine beiden Kinder‘ oder ‚Julian und Lennart‘. Der erklärende Einschub, dass Julian in den Kindergarten geht, verlegt diese mindestens seit einem Jahr bestehende Routine in das aktuelle Geschehen (ja jetzt), als sei er gerade erst dort hinein gekommen. Nun folgen einige unvollständige Sätze über die Tätigkeiten, die morgens in der Familie anliegen: beide müssen morgens fertig werden, dies wird dahin korrigiert, dass Julien fertig wird, ihn in den Kindergarten zu bringen und wieder abzuholen, sowie ihn zu weiteren Terminen und Verabredungen zu bringen. In der Schilderung verschwimmen die grammatischen Subjekte an den Stellen, an denen es um Herrn Schulz Anteil daran geht, dass Julian dort hin gelangt, wohin er will. Prägnant ist etwa: dass der morgens fertig wird und in den Kindergarten bringe oder dass der bei Verabredungen hinbringe. Das Sprechen ist hier für einen Lehrer, der hauptberuflich spricht, überraschend unorganisiert. Dem könnte Stress zugrunde liegen, den die Interviewsituation zu Beginn auslöst oder der durch den hohen organisatorischen Aufwand der morgendlichen Abläufe gegeben ist, ebenso wie die inhaltliche Ballung der Aussagen. Herr Schulz ertastet hier anhand der konkreten Verrichtungen des Tages den Grad der Selbständigkeit seines Sohnes und charakterisiert damit auch sein erzieherisches Handeln. Der Kindergartenbesuch ist eine erste räumliche, zeitliche und auch soziale Loslösung aus dem elterlichen Bereich. Um allein hinzugehen, ist Julian noch zu klein, zumal der Kindergarten nicht im unmittelbaren Wohnumfeld liegt. Die Beispielsätze oben hätten aber, um grammatisch wohlgeformt zu sein, mit Julian als Subjekt fortgeführt werden müssen: und in den Kindergarten ‚geht‘ oder bei Verabredungen ‚ankommt‘. Es findet hier eine Phase der Ablösung statt, die noch nicht zur Routine geworden ist und die für den Vater ein Schwanken zwischen Sorge und Stolz mit sich bringt. Mehrmals spricht er die gemeinsamen Zeiten und Sachen an und grenzt sie zu denjenigen Vorhaben ab, die der Fünfjährige ganz 226
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selbstständig in Angriff nimmt, wie Sport, Musik und Treffen mit Freunden, wie er nach der zitierten Stelle weiter ausführt. Dann schließt sich die Schilderung für den jüngeren Sohn an: Ja und bei dem Kleinn, der is eben normalerweise morgens bei mir, mit dabei. Je nachdem; was so anliecht, macht er mit mir zusammen den Haushalt meistens machen wir es so dass wenn wir den Julian weggebracht haben frühstücken wir noch mal zusammen (I: ahja) äh und äh lesen auch noch mal n Buch und fangen wir halt an so aufzuräumen was zu putzen ist und ä Einkäufe machen ja wetterabhängig auf en Spielplatz gehen raus oder noch was is dann halt so das wie wir normalerweise die Vormittage verbringen
Im Gegensatz zu den unorganisierten Sätzen, die sich auf Julian beziehen, ist die Schilderung der Abläufe mit Lennart hier ausgesprochen flüssig. Anfangs klingt es noch so, als sei Lennart nicht dort zu Hause, wo er bei seinem Vater ist. Auch dürfte der Zweijährige so viel Aufmerksamkeit verlangen, dass die Bezeichnung mit dabei nicht der realen Situation entspricht. Die weitere Schilderung macht jedoch deutlich, dass Vater und Sohn zu einem Wir werden, wenn sie morgens frühstücken, sich um den Haushalt kümmern oder spielen, wie es sich auch im grammatischen Subjekt der Sätze widerspiegelt. Die Stunden mit dem jüngeren Sohn scheinen organisatorisch leichter und mehr in gemeinsamem Fluss zu verlaufen. Die väterliche Bindung von Herrn Schulz mit dem Zweijährigen ist stärker. Er ist es auch, mit dem er durch die Elternzeit sehr früh einen engeren Kontakt pflegen konnte als mit dem größeren Kind. Wie in den anderen Fällen schon deutlich wurde, zeigt sich auch hier, dass Elternschaft im Prozess entsteht und nicht mit der Familiengründung automatisch vorhanden ist. Das gilt für Mütter und Väter offenbar gleichermaßen. Die Differenz der Bindungsintensität zwischen Herrn Schulz und seinen Söhnen veranschaulicht, dass auch das Quantum an Zeit bedeutsam ist für die Art der entstehenden Bindung. Dieser Fall zeigt zudem exemplarisch, dass Vätern eine hohe Intensität grundsätzlich möglich ist. Die weiteren Ausführungen in der Eingangssequenz schildern relativ ausführlich die Unternehmungen und Termine, die beide Eltern mit den Kindern wahrnehmen: Spielgruppen für den Kleinen, Schwimmen, Sport und Musik gehören neben Verabredungen zum Spielen zum wöchentlichen Programm. Die elterliche Erziehung wird hier sehr ernst genommen, ein vielseitiges Angebot sorgt für Anregungen in den verschiedenen Erfahrungs- und Sinnesbereichen. Bei der Erziehungsgestaltung der Schulzens findet sich die Art von Anregung, wie sie in Angeboten der Frühförderung im musischen und sportlichen Bereich als ent227
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wicklungsförderlich ausgewiesen werden. Insofern lässt sich ein anspruchsvolles Verständnis von elterlicher Förderung erkennen, das sich mit der bildungsbürgerlichen Herkunft von Herrn Schulz deckt. Da die Schilderung der alltäglichen Verrichtungen lebendig und wenig formal ist, kann vermutet werden, dass die Angebote den Kindern angemessen verfolgt werden und nicht den Charakter eines ‚Trainingslagers‘ annehmen. Über seinen Beruf spricht Herr Schulz in der Eingangssequenz nicht. Das ist insofern nicht verwunderlich, als er seine konkrete Lebenssituation, so wie er die Einstiegsfrage auslegt, momentan nicht prägt. So wird zunächst eine Konkretisierung der familialen Bewährung vorgenommen, die Herr Schulz aufweist.
Familiale Bewährung Im Anschluss an die Eingangssequenz fragt die Interviewerin nach den Beweggründen, in Elternzeit zu gehen. Dass diese Frage überhaupt aufkommt, deutet darauf hin, dass es nicht als Selbstverständlichkeit gilt, wenn Väter ihre berufliche Tätigkeit zugunsten der Kinderbetreuung unterbrechen. Statistisch spiegelt sich dies in dem geringen Anteil von Vätern in Elternzeit in Deutschland wider.11 II.2 CS 1 Also also für mich war das eigentlich immer irgendwie (atmet ein) (.) mit meiner Frau zusammen selbstverständlich; dass wir das irgendwie auch aufteilen wollen. Also. (atmet ein) Ähm und ich hab das auch gemerkt, in der Zeit wo ich eben nich in Elternzeit war, voll berufstätig war ähm (.) ja ä dass dass mir da bestimmte Bereiche eben- […] dass eben auch bestimmte Sachen ja äh (.) ausgeblendet sind und ich hab auch gemerkt das is son so dieses Gefühl ich hatte immer son bisschen das Gefühl, ähm ja mich da so etwas zweiteilen zu müssen (I: ahm) also so die Frage werd ich eigentlich oder ich hatte umgekehrt ich hatte das Gefühl beiden Seiten eigentlich nicht so ganz gerecht (I: aha) zu werden, ne. Immer zu sehen ich ähm (1) muss ich nicht da zu kurz treten oder da immer das Gefühl äm bin ich dann jetzt sach ich mal wirklich hundert Prozent bei der Sache ähm (1)
Mit dem wiederholten also nimmt Herr Schulz einen Anlauf zur Beantwortung der Frage. Zunächst bleibt er vage in seiner Begründung (eigentlich irgendwie) und steht dieser Antwort nicht gelassen gegenüber, wie es sich in seinem hörbaren Atemzug andeutet. Nach einer kurzen Pause fügt er in seine Begründung seine Frau ein. Für sie beide war die
11 In den Interviews, die nicht vollständig transkribiert wurden, werden die transkribierten Sequenzen gezählt und die Interakte jeweils von Anfang an nummeriert: Hier geht es also um den ersten Interakt von Herrn Schulz in der zweiten transkribierten Sequenz. 228
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
Entscheidung selbstverständlich. Es handelt sich im ersten Begründungszugang um seine Überzeugung, dass auch er sich aktiv – und für eine Weile ausschließlich – den Kindern widmet, die auch partnerschaftlich abgestimmt und getragen wird. Indem die Überlegung sich auf irgendeine Weise einer Aufteilung der Kinderbetreuung bezieht, folgt er nicht einem vorgefassten starren Ablaufplan oder dogmatischen Konzept. Gleichwohl entspringt sein Grundsatz einem theoretischen Vorhaben, das ihm immer schon klar war. Worauf diese Selbstverständlichkeit fußt, wird unten weiter ausgeleuchtet. An dieser Stelle konfrontiert er seine grundsätzliche Überzeugung mit einer Erfahrung (gemerkt), nachdem er innehält und resümiert (also, ähm), sich wappnet (Atemzug). Sein Erleben, das ihn offenbar in der Wahl der Elternzeit bestärkt hat, rührt aus der Zeit, in der er Vollzeit berufstätig war und die Kinder schon geboren waren. Was damals zu spüren war, ist nicht so einfach auf den Punkt zu bringen (ähm, Pause, ja ä), hat aber mit Bereichen seines Lebens zu tun. In dieser abstrakten Formulierung bringt er sich den Lebenserfahrungen gegenüber, um die es hier geht, in eine Distanz. In der Auslassung im oben angeführten Zitat reiht Herr Schulz einige unvollständige Satzteile aneinander, in denen er als Besonderheit seines Lehrerberufs herausstellt, dass er einen relativ großen Teil seiner Arbeit zu Hause erledigen, sich seine Arbeitszeit dabei selbst einteilen und dadurch am Leben mit den Kindern teilnehmen kann. Diese Sätze sind alle im Präsens gehalten, so dass er nun aus der Lehrerperspektive spricht. Sein Beruf bleibt damit auch in der Phase der Elternzeit Teil seiner Bewährung, der nur momentan passiv im Hintergrund steht. Nach der Einlassung fährt er mit seinem Gedanken fort, was ihm in der Zeit seiner Berufstätigkeit trotz der günstigen Arbeitszeit- und Arbeitsortbedingungen entgangen ist. Nun werden die zuvor bestimmte Bereiche zu bestimmten Sachen und damit noch stärker verdinglicht und auf Distanz gebracht. Der Satz endet mit dem Verb ausgeblendet für das Erleben eines Mangels. Die Bereiche oder Sachen sind zwar vorhanden, aber sie sind für ihn nicht wahrnehmbar, etwa weil er – wörtlich ausgelegt – nicht hinschaut bzw. im übertragenen Sinne des Ausblendens, weil er nicht teilnimmt, sie also im Erleben nicht teilt. Im Wechsel vom reflexiven Verb (dass mir Bereiche ‚fehlen‘ oder ‚verschlossen bleiben‘ wären passende Ergänzungen) zur Passivkonstruktion (Sachen ausgeblendet sind) verändert sich das Subjekt: Nicht mehr ist er in seiner Wahrnehmung die entscheidende Instanz, sondern etwas wird zum Beweggrund seiner Erfahrung. Hier agiert der Beruf von Herrn Schulz und seine Identifikation mit den beruflichen Aufgaben als Ursache der Ausblendung.
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ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Nun führt er eine zweite Erfahrung ein (auch gemerkt), die er in das Gefühl kleidet, sich zweiteilen zu müssen. Hervorgetreten aus der Ausblendung meldet nun seine Wahrnehmung die Belange aus den anderen Bereichen. Denen steht er gegenüber wie der Diener, der nicht zwei Herren gleichzeitig dienen kann. Anders als Frau Zillers Gefühl, hin- und hergerisssen zu sein, erscheint Herrn Schulz Haltung eher als statisch: er pendelt nicht zwischen dem einen und dem anderen, sondern fühlt sich zwischen beiden Bereichen zerrissen, beide Bereiche verlangen ihm volle Aufmerksamkeit ab. Das Bewährungsproblem zeigt sich hier in seiner spezifischen Form als Lebensmaxime: Eine Sache, für die man sich entscheidet, soll man hundertprozentig machen. Auch hier – wie in den Fällen Ziller und Spenzel – treten die Verpflichtungen als (Selbst-) Anforderung von außen an ihn heran. Beiden Seiten will er gerecht werden. Damit ist für ihn ein Konflikt verbunden, der entweder auf der Ebene zu setzender Prioritäten pragmatisch zu lösen ist oder auf normativer Ebene eine Entscheidung erfordert. Dass ihm aber eine geteilte Aufmerksamkeit aus Gewissensgründen nicht möglich ist, zeigt sich auch in der negativen Bezugnahme auf ein pragmatisch mögliches Kürzertreten etwa in der Form, dass er seinen Arbeitsumfang einschränkt und auf eine für Lehrer tarifrechtlich mögliche Teilzeitstelle geht. Kürzer treten birgt seiner Deutung nach die Gefahr, zu kurz zu treten, um noch den Verpflichtungen gerecht werden zu können. Die Bezugnahme auf die Bereiche Beruf und Familie führt Herrn Schulz in ein Grundsatzproblem, in einen Gewissenskonflikt. So ist die Entscheidung zur Elternzeit eine Lösung im Sinne seiner Maxime, hundert Prozent bei der Sache zu sein. Diese Deutung findet sich auch in seinen weiteren Begründungen für die Elternzeit, die er im Anschluss an das Zitat ausführt: das find ich jetzt auch umgekehrt eigentlich jetzt sehr angenehm sagen zu können ich hab jetz im Moment ne Aufgabe, auf die ich mich auch hundert Prozent konzentrieren kann und hab nich das Gefühl äh (.) ich ich muss mich irgendwo zerreißen; ne, (I: hm hm) äh und ähm das muss ich ehrlich sagen das is auch etwas was ich an an dieser Elternzeit sehr genieße; mich wirklich hundert Prozent dann auf auf die Aufgaben vor allen Dingen auch auf die Zeit mit den Kinder und nich irgendwie mit som (.) schlechten Gewissen sag ich mal da im Hintergrund du wirst jetzt irgendwie äm beruflichen Aufgaben nich gerecht.
Seiner rekonstruierten Lebensmaxime entsprechend erlebt er seine Entscheidung für die Elternzeit als angenehm. Insbesondere ist für ihn wichtig sagen zu können, dass er sich nun auf seine Aufgaben voll konzentrieren kann. Noch einmal findet sich sein Maßstab der hundert Prozent, der seine Auffassung von einer vollständigen Aufgabenerfüllung 230
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kennzeichnet. Damit bestätigt sich die These hoher normativer Ansprüche und eines starken Pflichtgefühls, denn dass er dies sagen kann, deutet auf eine moralische Instanz hin, die er sich zueigen gemacht hat, der gegenüber er dies zum Ausdruck bringen muss. Könnte er sich nicht voll konzentrieren auf die Aufgabe, dann würde sich das Gefühl der Zerrissenheit einstellen. Diese erlebt er als aktiven Vorgang, für den ebenfalls er selbst Verantwortung trägt: er müsste sich zerreißen, damit er seinen Ansprüchen gerecht würde. Die Elternzeit-Regelung ermöglicht ihm nun eine zeitlich klar definierte und begrenzte (mehrfach spricht er von jetzt) Entscheidung für zunächst einen der beiden Bereiche, denen er sich verpflichtet fühlt. Diese kann er genießen, sie stellt eine Entlastung dar gegenüber dem Verpflichtungsgefühl. Momentan besteht seine Aufgabe, der er sich voll widmen kann, darin, für die Kinder zu sorgen. Diesem Satz fehlt aber das Verb (‚konzentrieren zu können‘ wäre eine passende Komplettierung). Noch in der Formulierung des Gedankens mischt sich also das schlechte Gewissen wieder ein. Es bezieht sich aber nicht darauf, dass er zu wenig Zeit für die Kinder hätte, wenn er berufstätig bliebe, sondern seine Sorge wäre die Pflichterfüllung im Beruf, der er nicht genügend nachkommen könnte, wenn er sich den Kindern und seinem Beruf gleichzeitig widmen würde. Vorrang erhalten damit seine beruflichen Aufgaben, von ihnen muss er sich frei machen, um sich auf die Aufgabe der Kindererziehung konzentrieren zu können. Diese Funktion hat für ihn die Elternzeit: Sie ist eine legitimierte zeitweise Freistellung aus der leistungsethischen Verpflichtung. Gleichwohl ist seine Aufgabenübernahme in der Familie authentisch, aber der Berufsverpflichtung in diesem Sinne nachgeordnet. Woher rührt nun die Selbstverständlichkeit, die im Spektrum seiner Verantwortungsübernahme die Kinderbetreuung gleichermaßen stark verankert wie die Berufspflicht, wenn sie ihr auch nachgeordnet ist? Der katholische sowie der bildungsbürgerliche Hintergrund der Herkunft von Herrn Schulz wurden in den biografischen Daten schon ersichtlich. Diese scheinen einen Boden für seine Haltung zu bilden, die familiären Aufgaben so aktiv Anteil nehmend zu deuten wie es in seinem Fall auftritt. Im katholischen Glauben erfahren traditionell Fürsorge, Familie und allgemein Nächstenliebe als Ausweis eines gottgefälligen Lebens größere Wertschätzung12 als im Protestantismus, in dem die individuierte Leistung als Heilsgewissheit stärker verankert ist. Der bildungsbürgerliche Hintergrund kann in der familienspezifisch religiösen Verankerung die
12 Vgl. exemplarisch für diese Haltung der katholischen Kirche die Enzyklika zu Beginn des Pontifikats von Benedikt XVI (Papst 2006). 231
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Verbindung verantwortungsvoller Berufstätigkeit mit einer Gemeinwohlbindung, verstanden als Dienst an der Gemeinschaft, verstärken. Auf die Frage der Interviewerin nach Vorbildern für sein familiäres Engagement nennt er seine Geschwister, die mehr oder weniger ähnlich die Kinderbetreuung in die Hände beider Eltern gelegt haben. In seiner Herkunftsfamilie scheint eine Ausdeutung von Elternschaft bestanden zu haben, die eine selbstverständliche aktive Übernahme der Kinderbetreuung durch die Väter eröffnete. Herr Schulz beschreibt die Aufgabenteilung seiner Eltern allerdings als klassisch (XI.2 CS 1). Im Laufe der ersten Kinder (XI.4 CS 2) habe seine Mutter ihre Stelle als Grundschullehrerin verlassen, hin und wieder als Aushilfe in einer Schule und später bei der Volkshochschule in Teilzeitbeschäftigung gearbeitet. Die Entscheidung seiner Mutter zum Umgang mit ihrem Beruf schildert Herr Schulz als organische Entwicklung (im Laufe der Kinder), die sich an den familiären Bedingungen und Erfordernissen orientierte. Vor dem Hintergrund fehlender Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse in den 1960er Jahren habe seine Mutter vor der Alternative ganz oder gar nicht gestanden und sich gegen die berufliche Perspektive entschieden. Herr Schulz stellt hier die faktische diskontinuierliche Teilzeitbeschäftigung seiner Mutter ist spezifischer Weise dar: Nicht hebt er hervor, dass sie trotz ihrer sechs Kindern immer wieder den Zugang zum Beruf gewählt hat, sondern Herr Schulz misst ihre Berufstätigkeit in den Kategorien eines ganz oder gar nicht am Normalmodell einer kontinuierlichen Vollzeit-Beschäftigung. Vor diesem Modell erscheint ihre Tätigkeit als gar nicht. Mittels dieser Fokussierung kann er die Wertschätzung der familialen Bewährung herausstellen, die seiner Darstellung nach den Weg seiner Mutter bestimmte. Denn er betont sodann, dass es ihre eigene Entscheidung war, für die Familie da zu sein, dass sie eine Berufstätigkeit in größerem Umfang nicht gewollt habe und nicht den Eindruck machte, etwas zu vermissen. Im Gegenteil habe auch sein Vater nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass die Aufgaben der Mutter ebenso wichtig seien wie seine Beruflichen, zumal er Notwendiges im Haushalt übernommen habe. Es sei keine Gott gegebene Ordnung gewesen, keine normativ gestiftete (weil das gefälligst so zu sein hatte), sondern aus eigenen Erwägungen hervorgegangen, die für beide Eltern einen wertgeschätzten Anteil am Gemeinsamen ausgemacht habe. Was in der Schilderung von Herrn Schulz hervortritt, ist eine individuiert getroffene Entscheidung der Eltern in beider Einvernehmen, ihre Aufgaben jeweils so zu übernehmen, wie es für die Familie und den Einzelnen am besten sei. Dies ist das Fundament einer familiären Erfahrung der Kinder, deren Stimmigkeit ihren Niederschlag darin findet, dass die Mehrheit der Geschwister sich frei fühlt, die Aufgabenteilung in 232
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ihren Familien so vorzunehmen, dass beide Eltern beide als wertvoll erlebte Bereiche integrieren können. Die Selbstverständlichkeit der familialen Aufgaben fußt auf dem authentischen Erleben ihrer wahrhaftigen Wertschätzung. Dabei stört für die eigene Identifizierung mit den Bewährungsbereichen nicht die klassische Aufgabenteilung der Eltern, sondern diese wird erlebt als selbst zu gestaltende und damit eben nicht als eine, die traditionalen (Gott gegebenen, normativen) Vorgaben einer geschlechtsspezifischen Aufgabenteilung folgt. Eine Geschlechterdifferenz wird von Herrn Schulz nicht geleugnet, aber in ihrer Bedeutsamkeit und Reichweite eingeschränkt: Die Bindung seiner Frau zu den Kindern in den ersten Wochen und Monaten sei durch das Stillen und die Zeit, die sie miteinander verbracht haben, natürlich schon was besonderes (XIII.4 CS 2), die er auf diese Weise nicht hat aufbauen können. In besonderen Situationen, wenn die Kinder krank sind oder sich unwohl fühlen, zeige sich dies auch heute in einer Hinwendung an ihre Mutter. Herr Schulz interpretiert dies als Urinstinkte die sich aus dieser Bindung ganz früh ergeben haben (XIII.6 CS 3), als würde es sie zur Mutterbrust hinziehen als Ort einer erlebten Geborgenheit. Davon abgesehen hat Herr Schulz seine eigene Bindung ganz bewusst gestaltet durch seine eigene Zeit mit den Kindern. Das war vor allem das ganze Abendritual: Vom Abendessen, übers Massieren, Anziehen und Gutenachtbüchlein (XIII.4 CS 2). Dadurch hat er seinem Eindruck nach eine ähnliche Bindung aufgebaut wie seine Frau. Und insofern ist seine Entscheidung, die Kindererziehung für zwei Jahre in den Vordergrund zu stellen, eine konsequente Schlussfolgerung aus seiner vorgängigen Erfahrung der Wertschätzung dieser Aufgabe und unter Berücksichtigung seiner Maxime einer hundertprozentigen Pflichterfüllung. Die Bindung an seine Kinder zeigt sich in einer weiteren Sequenz über die Deutung seiner Vaterschaft. Nicht nur aus vergangenen Erfahrungen speist sich seine Überzeugung, wie wichtig ihm seine aktive Teilnahme an der Familie ist, sondern auch in einer auf die Zukunft gerichteten Gewissensfrage: Zeit mit den Kindern zu haben, ist ihm ganz wichtig, weil er nicht später einmal das Gefühl haben will, er hätte das Aufwachsen seiner Kinder verpasst (XII.2 CS 1). „Die Zeit die ich jetz mit ihnen verbringe, die(.) die kann ich nich irgendwann später nachholen“. In dieser Aussage offenbart sich seine Abwesenheit in der Familie als so unvorstellbar und unerwünscht, dass er den logischen Aufbau des Arguments durchbricht, indem er nicht sagt: die Zeit, die ich jetzt nicht mit ihnen verbringe, kann ich nicht nachholen. Stattdessen verbleibt er in seiner gegenwärtigen Situation, sein Gedanke nimmt davon seinen Ausgang, dass er aktuell Zeit mit den Kindern verbringt. Einen zweiten 233
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Aspekt schließt er an dieses Argument an: „als Pädagoge seh ichs natürlich auch noch mal wie wichtich das is; wie wichtich Väter jetzt grade auch für Jungs sind“ (ebd.). Hier bezieht sich Herr Schulz implizit auf die pädagogische Diskussion über die überwiegend weiblichen Bindungspersonen in der Familie und den frühen Erziehungsinstitutionen Kindergarten und Grundschule und deren als negativ eingeschätzte Folgen. In den frauendominierten ersten Lebensjahren der Kinder fehle, so der inzwischen verbreitete Tenor der entwicklungspsychologischen und erziehungswissenschaftlichen Forschung, das männliche Vorbild für die Identitätsentwicklung der Jungen (vgl. exemplarisch Fthenakis 1985). Nicht der abstrakte Mann als Autorität vertretende Instanz und theoretische Position der familialen Triade, sondern der konkrete Vater, Erzieher und Lehrer sei bedeutsam für das lebenspraktische Gelingen der sozialisatorischen Prozesse (Hildenbrand 2000). Dieses Argument dient Herrn Schulz als zusätzliche Begründung seiner konkreten familialen Fürsorge, es dient ihm als Beleg für die Sinnhaftigkeit und Bedeutung seiner Entscheidung und seines konkreten Handels, und schließlich dient es auch zur Legitimation der zeitweiligen Abkehr vom Beruf. Die These zur Fallstruktur bis hierher lautet: Vor dem Hintergrund der positiven Identifikation mit beiden Eltern und der durch sie verkörperten wertgeschätzten Bedeutung beider Bewährungsfelder, der bildungsbürgerlichen Herkunft, seiner Ausbildung zum Gymnasiallehrer, seinem verinnerlichten Pflichtgefühl und der Bedeutung des Berufs ist anzunehmen, dass die berufliche Bewährung sachhaltig eine bedeutsame Stellung einnimmt und nur momentan in den Hintergrund tritt. Dies zeigt sich an den thematisierten Grenzen eines ausschließlichen elterlichen Engagements: Für Herrn Schulz ist Hausmann zu sein keine Lebensperspektive, sondern ganz klar ne Phase (VIII.1 CS 1). Ebenso wenig konnten sich die bisher präsentierten Fälle ein langfristiges Ausscheren aus der beruflichen Tätigkeit vorstellen. Auch wenn die Rekonstruktion der väterlichen Tätigkeiten keinen Anklang an Erfahrungen mangelnder Wertschätzung und einer Isolation im Privatraum der Familie aufweisen, sondern sich im Gegenteil darstellen als von vielfältigen Aktivitäten und sozialen Kontakten geprägt, so beziehen sie ihre Attraktivität neben der Entlastung aus beruflichen Gewissenskonflikten vor allem aus der zeitlichen Befristung dieser Lebensphase: Wenn ich jetzt die Perspektive hätte; ich müsste das jetzt zwanzig Jahre machen; dann würd ich mit Sicherheit sagen es ist mir viel zu wenich (VI.2 CS 1). Eine Selbstverwirklichung bei den Kindern (VI.4 CS 2) allein reicht Herrn Schulz perspektivisch nicht. Als entscheidend für seine positive Wahrnehmung dieser Phase der Familienzeit nennt Herr Schulz seine Erfahrungen der Doppelbelastung und des zuvor gelungenen Berufseinstiegs. 234
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
Indem er sich bewusst entschieden hat für den zeitlich befristeten Ausstieg aus dem Beruf, fehlt ihm der Beruf im Moment nicht (ebd.). So stellt sich die Frage, welche Aspekte der Beruf zusätzlich enthält für die Selbstverwirklichung, und inwiefern der alleinige Bezug auf die Kinder Herrn Schulz nicht ausreicht.
Berufliche Bewährung Herrn Schulz Berufswahl hat ihren Ankerpunkt in seiner Familie, hineingewachsen sei er in den Lehrerberuf durch den Beruf seiner Eltern (III.2 CS 1). Die konkrete Anschauung ihrer Tätigkeit habe ihm ein Gefühl vermittelt, dass es auch für ihn der richtige Beruf sein könnte. III.4 CS 2 […] und dann warns halt diese Fächer die mich interessiert haben, schon von der Schule her und auch von der von der privaten Seite was jetzt Religion angeht (I: Mmh,) einfach einfach von meiner (tief einatmend) von meinem kirchlichen Engagement her und so weiter, (I: Ah ja, mmh,) und äh;(.) ja! Und äh(.) dann äh(1) ganz ehrlich sagen dass mir das(.) dann so wie ich den Beruf dann selber auch kennen gelernt habe eben; selber als Lehrer tätig sein; einfach sehr viel Freude macht diese Art äh(.) mit den jungen Menschen zu arbeiten mit Kindern und Jugendlichen irgendwie zu arbeiten, ihnen was beizubringen(.) n Stück(.) äh sie im ein in ihrem Leben zu begleiten und äh;(1) dass ich auch äh; (tief einatmend) zunehmend ääh; der Ansicht bin; dass ich das das auch oder ja eigentlich meine sehr schnell der Ansicht war das is auch genau wirklich d das was ich will, da bin ich jetzt nich nur irgendwie(.) weil mir nichts besseres eingefallen is (schmunzelnd) sondern (.) das is es dann eigentlich
Neben dem positiven Eindruck vom Lehrerberuf, den seine Eltern vermittelt haben (und), hat Herr Schulz ein fachliches Interesse am Gegenstand der Fächer. Bereits in seiner eigenen Schulzeit hat sich dies herausgebildet. Für das Fach Religion gilt zudem eine innere Verbindung, die sich in seinem kirchlichen Engagement ausdrückt. In der Fächerwahl sowie in seinem kirchlichen Engagement folgt er der elterlichen Linie. Er knüpft an eine Familientradition an, die aber dann keine bloße Subsumtion unter den Lebensentwurf seiner Eltern darstellen muss, wenn sie für ihn auf einer autonomen Entscheidung beruht und authentisch ist. Um den Nachweis der Autonomie und Authentizität geht es ihm in dieser Sequenz. Dass dies kein leichtes Unterfangen ist, zeigt sich an seinem tiefen Atemzug sowie an der hier wieder auftretenden unorganisierten Sprechweise (wiederholtes und äh, Pause, ausrufendes Ja). Herr Schulz ringt hier um die innere Stimmigkeit seiner Entscheidung. Nach einer weiteren Pause beginnt ein unvollständiger Satz, deren Ansatzpunkt die Versicherung der Ehrlichkeit seiner Darlegung ist. Zu diesem 235
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Zweck stellt er seine eigene Erfahrung (betontes selber) als Lehrer in den Mittelpunkt. Nicht als Kategorie des Lehrerhandelns, sondern im tätigen Prozess des eigenen Kennenlernens seines Berufs erfährt er seine Freude daran. Die Art seiner Darstellung folgt der konkreten Anschauung der Schüler als junge Menschen, Kinder und Jugendliche. Die Arbeit mit den Schülern entsteht hier als Prozess des gemeinsamen Tuns im Unterschied etwa zu Herrn Blöker-Olberts Antrieb vom Ergebnis des Wirkens her. Beide Dimensionen des Lehrerhandelns sind sodann thematisch: Sowohl die Wissensvermittlung (ihnen was beizubringen) als auch die pädagogische Seite der Unterstützung der Kinder in ihrem Bildungsprozess (in ihrem Leben zu begleiten) sind für Herrn Schulz Bestandteil seiner Freude. Die Schlussfolgerung daraus zu ziehen (dass), verlangt ihm einige Pausen und einen tiefen Atemzug ab, hier geht es um sehr grundsätzliche und für die Authentizität seiner Berufsentscheidung bedeutsame Aspekte. Die Begründung seiner Berufswahl wechselt in Satzbruchstücken vom Präsens (zunehmend der Ansicht bin) zum Präteritum (sehr schnell der Ansicht war). In dieser Bewegung kommt eine Steigerung der Selbstvergewisserung zum Ausdruck, die durch die Korrektur forciert wird: Die Gewissheit über die Passung seines Berufs zu seiner Person entstand allmählich, doch retrospektiv und korrigiert betrachtet geschah dies schnell und ist bereits abgeschlossen. Seine Ahnung, dass der Lehrerberuf für ihn das Richtige sein könnte, stellt er damit als bestätigt heraus (auch wirklich das was ich will). Für Herrn Schulz ist es bedeutsam, diese Stimmigkeit selbst erfahren zu haben und sich damit zu vergewissern, dass er nicht nur der elterlichen Tradition gefolgt ist, sondern dass er seinem eigenen Willen einen authentischen Ausdruck verliehen hat. Für die Bewährung des modernen Subjekts, so führt diese Rekonstruktion vor Augen, ist die innere Stimmigkeit des selbsttätigen Ausdrucks des eigenen Willens entscheidend. Gerade da, wo sie nach traditionalen Entscheidungen aussieht – etwa in der Form einer Fortführung des Lebensentwurfs der Eltern nach äußerlichen Kriterien der Berufsund Fächerwahl – ist die Vergewisserung über die eigene Motivation notwendig, um die Selbstverwirklichung vor sich selbst glaubhaft als individuierte Bewährungssuche zu machen. Das zeigen die diskursiven Anstrengungen von Herrn Schulz. Mit seinem doppelten Abschluss als Diplomtheologe und Lehrer hätte ihm auch eine Tätigkeit im kirchlichen Dienst offen gestanden. Den Ausschlag für die Entscheidung, in das Lehramt zu gehen, haben für Herrn Schulz die Lehrerrolle, mit der er eine größere Selbständigkeit im Tun verbindet als in den hierarchischen Organen des kirchlichen Dienstes, und die Klientel gegeben (IV.2 CS 1). Es stellt für ihn einen Reiz 236
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dar, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, (.) die eben keineswegs alle (.) enge Bindung an die Kirche und an den Glauben haben (ebd.). In seinem Wirkungskreis erreicht er dabei mehr Kinder und gerade solche, die außerhalb des Unterrichts kaum Berührungspunkte mit dem katholischen Glauben aufweisen. Dabei ist er nicht von einem missionarischen Gedanken getrieben: IV.2 CS 1 nich mit dem Ziel,(.) die jetz alle irgendwie kirchlich einbinden zu wollen, sondern einfach(.) Fragen wach zu halten; (I: Mmh) Antworten(.) äh zu suchen ähm; und natürlich auch Wissen über Religion, und auch vor allem über die eigene Religion zu vermitteln
Auch in dieser Sequenz werden beide Aspekte des Lehrerhandelns deutlich, die seine Identität als Pädagoge ausmachen: Er will nicht Fragen beantworten oder Antworten vorgeben, sondern sein Anliegen ist es, die vorhandenen Fragen, die er wie selbstverständlich bei den Schülern voraussetzt, für das Suchen von Antworten zu nutzen. Das Wachhalten dieser Neugierde ist im idealtypischen Sinne einer pädagogischen Haltung sein Zugang sowohl zum Inhalt und der Wissensvermittlung als auch zu den Schülern als (sich) Fragende. Auch dies steht in Kontrast zu der auf Wirkung abzielenden Haltung des Herrn Blöker-Olbert. Eine Sachbindung an den Lehrerberuf wird hier deutlich. Zudem hatte sich in der Analyse seiner Deutungen zur Vaterschaft bereits das starke Pflichtgefühl gezeigt, das sich auf die hier geschilderten beruflichen Aufgaben bezieht. Herr Schulz folgt einem leistungsethischen Antrieb, der sich sachhaltig an seinen Aufgaben als Lehrer verwirklicht in einer Intensität, die sich seinen hohen Maßstäben verdankt. Eine Bindung an die Sache geht bei ihm mit einer Bindungsfähigkeit an die Person Hand in Hand. Insofern der Lehrerberuf gerade diese beiden Aspekte (Wissensvermittlung sowie Begleitung von Wachstumsprozessen) in sich vereint, wird nun deutlicher, weshalb die oben beschworene Stimmigkeit seiner Berufswahl auch einer individuierten Bewährungssuche entspricht. Gefragt nach den Vorzügen seines Berufs nennt er zunächst die Sicherheit der beruflichen Perspektive als Beamter, die ihm gerade in der derzeitigen Arbeitsmarktsituation wichtig erscheint (V.4 CS 2). Vor dem Hintergrund seiner beruflichen Auszeit zugunsten der Kinderbetreuung gewinnt diese Einschätzung besonderes Gewicht, da sie ihm diese Entscheidung erleichtert haben wird. Die Selbständigkeit der Gestaltung des Unterrichts, die trotz bildungspolitischer Konzepte und Druck der Schulleitung dennoch besteht, empfindet er ebenso als angenehm wie eine relative Abwesenheit von Leistungsdruck, verglichen etwa mit ökonomischen Effizienzkriterien, die in sichtbaren Ergebnissen oder Umsätzen
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ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
gemessen werden (ebd.). Bildungserfolg sei auf diese Weise nicht messbar. Diese fehlende Kontrolle erlebt Herr Schulz als produktive Freiheit. Das Besondere, das seinem Beruf den spezifischen Stellenwert neben der Familie und seinem kirchlichen Engagement zukommen lässt, beschreibt Herr Schulz auf die Frage der Interviewerin, was ihm denn fehlen würde, wenn die Erziehungszeit nicht nur eine begrenzte Phase seines Lebens wäre: VII.4 CS 2 Ess(1) es würde sicherlich auch noch mal irgendwann,(.) ähm,(2) ja;(.) jetz bin ich am Überlegen, (I: Mmh,) das is (6) also mir würde natürlich ne intellektuelle Ebene fehlen? (I: Mmh,) (1) Ähm;(.) mir(1) mir würde auch noch mal ne(.) in nem gewissen Maße(.) Form,(2) Zeitgestaltung die ähm;(.) selbstbestimmt ist?(.) Stärker selbstbestimmt?(.) Ich mein im Moment hab ich ja ganz klar meinen Rhythmus(.) weitestgehend an die Kinder angepasst?(.) ähm fehlen?(.) Ähm(3) abgesehen davon;(.) das es äh;(1) das ich mir das auf Dauer nicht vorstellen könnte(.) ähm;(1) ja(1) das wir sach ich mal jetzt bei der Einkommenssituation bleiben (schmunzelnd) die wir jetzt im Moment(.) haben(.) das uns das glaub ich auch insgesamt noch mal gut tut (I: Mmh,) äh(2) und ich dann auch gerne das Gefühl hätte dazu beitragen zu können
Stand zuvor seine berufliche Identifikation deutlich im Zentrum seines Selbstentwurfs, wie es sich in den Präsensformulierungen auch in der Retrospektive auf seine Lehrertätigkeit zeigte, so gerät die Reflexion über die (auch zukünftige) Bedeutung des Berufs in der hier zitierten Sequenz in den Irrealis (betontes würde). Nun spricht er ganz aus der Vaterposition, der sich im Wesentlichen der Erziehung seiner Kinder widmet. Weit entfernt in der unbestimmten Zukunft liegend (irgendwann) würde sich etwas (es) einstellen. Die für Herrn Schulz ungewöhnlich langen Pausen (eine, zwei und sechs Sekunden), Füllwörter (ähm ja) und schließlich sogar die explizite Erklärung des Ausbleibens einer Antwort (jetz bin ich am Überlegen) zeigen, dass der Mangel, der durch das Fehlen der beruflichen Bewährung entsteht, so leicht nicht zu benennen ist. Dieses Zögern erstaunt umso mehr als sich Herr Schulz sehr klar zu den Freude stiftenden, identifikatorischen Bestandteilen seines Berufs geäußert hat. Sein Zögern ist insofern erklärbar, dass für Herrn Schulz die Rückkehr in seinen Beruf ganz selbstverständlich ist und er sich diese Fragen gar nicht gestellt hat. Dann tastet er sich an drei Aspekte heran, die ihm längerfristig fehlen würden: Der erste ist die intellektuelle Ebene. In der Abgrenzung seines Berufs zum Erziehungsalltag zuhause spielen die Inhalte eine führende Rolle, mit denen er als Lehrer und im beruflichen Kontext im Kollegium beschäftigt ist. Dies bleibt aber ohne nähere Beschreibung dessen, was genau und in welcher Form ihm sein Beruf auf dieser Ebene mehr an Erfüllung bietet als sein Leben als 238
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
Hausmann, sondern wird als selbsterklärend (natürlich) nur genannt. Als zweiten Aspekt hebt Herr Schulz die stärker selbstbestimmte Zeitgestaltung hervor. Derzeit ist sie ihm nicht möglich, da er sich dem Rhythmus der Kinder angepasst hat. Seiner Auffassung einer vollen Konzentration auf die Aufgabe der Kindererziehung entspricht es, die Kinder und ihre Bedürfnisse zum Zentrum der Zeitgestaltung zu machen. Für einen begrenzten Zeitraum akzeptiert er diesen Grad von Fremdbestimmung. Und schließlich nennt er als dritten Aspekt die Einkommenssituation. Die besteht aus zwei Erwägungen: die Höhe des gemeinsamen Familieneinkommens sowie sein eigener Anteil daran. Ein insgesamt höheres Einkommen verschafft zusätzliche Handlungsmöglichkeiten und Entlastung bei finanziellen Verpflichtungen, die sie etwa mit ihrem Hausbau eingegangen sind, und hat daher einen eigenen Wert. Doch auch beitragen zu können, also sich selbst als fähig zu erleben, einen Beitrag zu leisten, der sich in der finanziellen Situation der Familie positiv niederschlägt, ist ihm ein Anliegen. Das bedeutet, dass auch wenn das Einkommen seiner Frau ausreichend wäre für eine Lebensführung nach ihren Vorstellungen, würde ihm auf Dauer fehlen, nicht selbst seinen Beitrag dazu zu leisten. Dabei geht es ihm nicht um finanzielle Unabhängigkeit im Sinne eines eigenen Einkommens, wie es in der feministischen Diskussion über die Bedeutung der Erwerbsarbeit von Frauen betont wird, sondern sein selbst erarbeiteter finanzieller Beitrag ist eine Funktion der Teilhabe an der Gemeinschaft, die hier in der Unterstützung der gemeinsamen Familie besteht. In der nicht mehr zitierten Folge des Sequenz hebt Herr Schulz hervor, dass er kein Problem damit hätte, wenn seine Frau verdient und er nicht. Er grenzt sich hier von der Deutung der männlichen Identität als Ernährer der Familie ab und belegt dies damit, dass sie in einer solchen Situation schon waren, als seine Frau ihr Studium bereits beendet hatte und schon im Schuldienst war. Auf die Frage der Anerkennung im und durch den Beruf werfen die genannten Aspekte ein klärendes Licht. Als Antrieb zur Arbeit tritt hier nicht die Suche nach Anerkennung hervor, sondern auf der intellektuellen Ebene geht es um die inhaltliche Art der Herausforderung, um die sachhaltige Bewährung, die in der Bewältigung von Aufgaben mit Anerkennung aufwartete, als Ergebnis der Leistung. Ebenso wenig bezieht sich der Aspekt der Selbstbestimmung in der Zeitgestaltung auf Anerkennung, sondern hier liefert der Beruf einen Grad an Autonomie des Handelns, wie es in der Familie der Orientierung an den Bedürfnissen der Kinder nicht möglich ist. Der Beruf erscheint hier als Ort der Realisierung eigener Bedürfnisse. Das Einkommen könnte schließlich als Nachweis der Anerkennung seiner Leistung verstanden werden. Doch
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bezieht es seine Bedeutung aus seiner Funktion, einen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten, und steht damit im Dienst der Familie. An späterer Stelle setzt Herr Schulz dazu an, die Bedeutung des Berufs auch darin zu verorten, dass er ihm im Vergleich zur begrenzten Sicht, die ihm Haushalt, Kindergarten und Spielgruppe ermöglichen, eine ganz andere Außensicht, Weltsicht eröffnet (IX.2 CS 1). Doch der Versuch, andere Perspektiven als bereichernd zu beschreiben, wie sie ihm auch in seiner Familienzeit nun der Kirchenchor und seine Mitarbeit in einer Theatergruppe verschaffen, gerät ihm zu einer generellen Absage an Vereinseitigungen, ob sie nun auf den Beruf oder die Familie gerichtet sind. Als prägende Erfahrung schildert Herr Schulz sein Referendariat und die ersten Berufsjahre, die ihm vollständig durch den Beruf absorbiert in Erinnerung sind. Auch damals habe ihm eine andere Perspektive gefehlt und er kam zu dem Schluss, so solle das Leben nicht weitergehen (IX.4 CS 2). Für ihn und seine Frau stand fest: X.1 CS 1[…] wir wollen nich nur Leben aus Beruf(.) machen sondern eben uns is(.) Familie dann da auch wichtich und deswegen wolln wirs wolln wir Kinder haben (I: Mmh) äh die(.) die einfach auch noch insgesamt das Leben auf ne ganz andere Weise wahrnehmen lassen und gestalten lassen;
Erfahrungsgesättigt kommt das Paar Schulz zu einer gemeinsamen Erkenntnis (wir wollen). Die Formulierung Leben aus Beruf machen ist dabei auf erhellende Weise verunglückt. Zum einen klingt der hohe Anspruch an die eigene Lebensgestaltung an: ‚Leben aus Berufung‘ ist als eine grammatisch gelungenere Formulierung in diesem Beginn angelegt. ‚Leben aus Überzeugung‘ steckt ebenso darin und drückt ein hohes Reflexionsniveau aus, die Lebensentscheidungen werden begründet getroffen und folgen den eigenen Vorstellungen. Zum anderen sagt Herr Schulz eben nicht ‚Leben für den Beruf‘, die andere mögliche grammatisch korrekte Formulierung. Deutlich wir daran, dass es hier nicht um Fragen der pragmatischen Prioritäten und organisatorischen Formen der Alltagsbewältigung geht, sondern um grundsätzliche Überzeugungen. Die Familie hat denen gemäß also neben dem Beruf einen eigenen Stellenwert (wichtig). Hier sind die Perspektiven angesprochen, die sich durch Kinder eröffnen. Die Wahrnehmung des eigenen Lebens und seine Gestaltung werden demnach durch Kinder erweitert. Ihre bloße Existenz (einfach) hat Auswirkungen auf das eigene Leben. Anders als Frau Grebes instrumenteller Bezug auf ihr Kind stehen die Kinder hier allerdings nicht im Dienst, ihren Eltern Lebenssinn zu stiften, sondern sie führen – wie bei Frau Spenzel – zur Erweiterung der Wahrnehmung und Gestaltung des eignen Lebens durch das Einlassen auf sie.
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Dass im Fall Schulz das Fehlen von Leistungskontrollen und die Selbständigkeit in der Arbeitsgestaltung nicht zu reduzierter Leistungsverausgabung oder mangelnder Motivation führen, lässt sich bereits aus seiner moralischen Antriebsstruktur schließen. Doch die Frage der Interviewerin danach, wie sich sein Leben verändern würde, wäre er nicht aus Gründen der Einkommenssicherung darauf angewiesen, seinem Beruf nachzugehen, gibt nochmals genaueren Aufschluss über seine leistungsethischen Antriebe: XIV.2 CS 1 (1) Das is sehr theoretisch. Aber ich glaube ich würde nie ganz auf Beruf verzichten so. (I: hm) Also das glaube ich nich. Also ähm (1) weil (1) weil ich glaube nich dass ich dann sach ich mal in adäquater Weise für das was ich ja auch in meine Ausbildung gesteckt habe und in das was ich äh da mache, dass es Sinn hat äh dass ich das jetzt n paar Jahre gemacht habe und danach nie wieder also in dem Bereich. Also da würde ich irgendwie das Gefühl haben ich würde einen Teil von dem was ja auch mein Leben geprägt hat oder was ich ja auch für mich als Perspektive (I: hm) habe einfach so weg und dann nach dem Motto ich mach jetzt nur noch Ehrenamt und weiß ich nicht was (I: hm) oder so ne; also das nicht. Aber wahrscheinlich würde ich mir natürlich den Luxus erlauben äh äh wahrscheinlich denk ich mal äh weniger Stunden (lacht) zu machen, ne?
Nach kurzer Pause gibt Herr Schulz zu erkennen, dass ihm die Frage von seinen realen Lebensbedingungen weit entfernt erscheint (sehr theoretisch). Er lässt sich auf den Gedanken jedoch ein (aber) und stellt eine Vermutung an (ich glaube). Im Konjunktiv einer zukünftigen Möglichkeit kommt dem Beruf eine grundlegende Bedeutung zu. Indem er hier anhand der Kategorie Beruf formuliert – ohne Artikel oder Personalpronomen wie etwa ‚den Beruf‘ oder ‚meinen Beruf‘ – gilt dies seiner Auffassung nach grundsätzlich für das Berufliche oder für die berufliche Bewährung als solcher. Für Herrn Schulz wäre es ein Verzicht, nicht berufstätig zu sein, worin zum Ausdruck kommt, dass es sich dabei um etwas Wertvolles handelt. Bevor er zu seiner Begründung ansetzt, bekräftigt er diese Überzeugung noch einmal wiederholend. Die Begründung verlangt einige gedankliche Anläufe (Pausen, Füllwörter), bis Herr Schulz einen Satz beginnt, den er nicht zu Ende führt: er fürchtet, nicht in adäquater Weise für das, was er in seine Ausbildung gesteckt hat ‚etwas zu erhalten, etwas zurück zu kriegen, entschädigt zu werden‘, ließe sich der Satz komplettieren. Hier findet sich der Investitionsgedanke wie er bei Frau Ziller hervortrat: Der Aufwand der Ausbildung soll sich lohnen. Aber indem der Gedanke abbricht, verlässt er dieses Nutzenkalkül. Das wird schon in der Fortsetzung deutlich (in das was ich da mache). In seine berufliche Tätigkeit steckt Herr Schulz seine Qualifikation, sein 241
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Können, aber ebenso sein Anliegen, Wissen zu vermitteln und die jungen Menschen in ihrem Leben zu begleiten (III.4 CS 2). Nun sucht er dafür in adäquater Weise etwas, das er aber nicht ausführt. Denkbar wäre etwa, ein neues Gestaltungs- und Tätigkeitsfeld, in dem er sein Können und Wissen einsetzen und seine Anliegen verwirklichen könnte. Dies steht aber nicht mehr im Sinnzusammenhang eines Nutzenkalküls, sondern in den Vordergrund rückt die Frage der Verwirklichung seiner Kompetenz und eines adäquaten Ausdrucks seines Willens. In diesem Tenor führt er in einem neuen Ansatz seinen Gedanken auch fort: Es erscheint ihm sinnlos, nur für ein paar Jahre diese Tätigkeit ausgeübt zu haben. Diese Aussage ist konsistent vor einer Deutung der beruflichen Tätigkeit als eines Ausdrucks seiner selbst, einer sachhaltigen Bindung an die Aufgabe des Lehrers. Er präzisiert den Grund der Sinnlosigkeit damit, dass er es als Verlust (einfach so weg) dessen empfinden würde (das Gefühl haben), was zum Teil sein Leben geprägt hat und mit dem er eine Perspektive verbindet. In der Beschreibung verbindet Herr Schulz seine Vergangenheit (sein Leben geprägt) und seine Zukunft (Perspektive). Hierin wird nochmals deutlich, wie konsistent für ihn der Lehrerberuf als berufliche Tätigkeit ist. Seine Sachbindung geht über die reine Fortsetzung des begonnen Weges hinaus. Es geht ihm nicht darum, dass sich der Aufwand seiner Ausbildung lohnen soll im Sinne eines Nutzenkalküls oder darum, dass man eine Sache, die man angefangen hat auch beenden soll, sondern er ist identifikatorisch an den Lehrerberuf gebunden. Nur noch ehrenamtlich tätig zu sein, wäre in seiner Deutung eine Abwertung, da hier weniger der einschränkende Aspekt (nur noch dies und nicht auch noch das) gemeint ist, sondern im Sinne des als Verzicht markierten Verlustes eines wertvollen, da für ihn sinnhaften Tätigkeitsfeldes. Allerdings wäre er bereit, seine berufliche Tätigkeit zeitlich einzuschränken. Eine Stundenreduzierung führt er hier als Luxus ein. Mit Luxus sind nicht notwendige, sondern verzichtbare Dinge gemeint, die das Wohlbefinden steigern und die man sich unter besonderen Umständen leistet, etwa wenn man dafür Geld übrig hat. Herr Schulz könnte sich also vorstellen, im Rahmen des für ihn wertvollen Tätigkeitsfeldes seine Aktivitäten einzuschränken und – ohne das berufliche Feld ganz zu verlieren – einen Teil der gewonnen Lebenszeit (Luxus) anders zu verwenden, etwa in der Kirche, wo er derzeit bereits aktiv ist mit seinem Chor und der Theatergruppe. „Natürlich würde ich auch in anderer Weise ähm in dem Beruf arbeiten“ (XIV.8 CS 4). Die hypothetisch auf eine halbe Stelle reduzierte Lehrertätigkeit würde nicht bedeuten, dass er dort auch nur die Hälfte der Zeit mit befasst wäre, sondern seine Art zu arbei-
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ten würde sich verändern. Dies ist ihm so selbstverständlich (natürlich), wie es für seine Identifikation mit dem Lehrerberuf insgesamt gilt. Befragt zu der Art der veränderten beruflichen Arbeitsweise schildert Herr Schulz seine Vorstellungen: Er könne diese oder jene Arbeitsgruppe zusätzlich machen, das, was er immer schon einmal gerne machen wollte, dann intensiver machen, Unterrichtsprojekte ausprobieren, diese oder jene Fortbildung machen (XIV.10 CS 5). Eine Stundenreduzierung würde Herr Schulz also nutzen, um seinem oben rekonstruierten Anspruch, hindert Prozent bei der Sache zu sein, gerecht zu werden, ohne dass er andere ihm wichtige Bereiche wie seine Familie vernachlässigen müsste. Seine Antriebsstruktur eines starken Pflichtgefühls und hoher Ansprüche an sein Handeln würde durch die Entlastung von existenziellen Notwendigkeiten eine geeignete Rahmung erfahren, innerhalb derer er anspruchsvoll und verantwortungsbewusst mit hoher Intensität seinen Aufgaben nachgehen könnte. Seine Beispiele für veränderte Aktivitäten stammen allesamt aus dem Feld seiner beruflichen Aufgaben, hier läge auch unter Bedingungen einer finanziellen Absicherung sein Haupttätigkeitsfeld, ganz entsprechend seiner starken beruflichen Identifikation. Sein inneres Engagement im Beruf würde also unter Abwesenheit finanzieller Notwendigkeiten zunehmen statt abnehmen trotz reduzierter Stundenzahl.
Gemeinwohlbindung Herrn Schulz Bindungsfähigkeit hat sich bereits im Konkreten gezeigt. Sowohl zu seinen Kindern, der Familie als Gemeinschaft tritt sie hervor als auch gegenüber den Schülern im Rahmen seines pädagogischen Auftrags. Die Förderung von persönlicher Reifung durch eine Begleitung durchs Leben bezieht sich sowohl auf sein Engagement in der Familie als auch im Beruf. In dieser Weise vollzieht sich bei Herrn Schulz die Bindung auch an das übergeordnete Gemeinwesen. Nicht nur als Steuerzahler oder Zivildienstleistender nimmt er diese konkret wahr, sondern auch in seiner leistungsethischen Bindung an seine beruflichen Aufgaben, die gerade für den Lehrer sinnfällig dem Gemeinwesen in angestoßenen und begleiteten Bildungsprozessen zugute kommt ebenso wie in der großen Bedeutung der sozialisatorischen Praxis gegenüber seinen Kindern. Verankert in seinem katholischen Glauben sind ihm solche konkreten Beiträge selbstverständlich, die letztlich dem Gemeinwohl dienen. Innerhalb der religiösen Gemeinschaft, die ebenfalls eine partikulare Bindung darstellt, engagiert er sich ehrenamtlich in den kirchendienstlichen Strukturen. Es gehen bei Herrn Schulz traditionale Bindungsformen (der religiösen Gemeinschaft) mit individuierten, auf uni-
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verselle Strukturen bezogenen (Leistungsethik, Bindung an das politische Gemeinwesen) Hand in Hand.
2.1.3 Resümee zur Fallstruktur und zur Bewährung Die berufliche Bewährung steht bei Herrn Schulz deutlich im Vordergrund. Auch während seiner Elternzeit ist sie eine präsente Selbstverständlichkeit, die sich selbst in einer hypothetischen Zukunft als sachgebunden stabil zeigt. Leistungsethisch zeigt er eine Bindung an seine pädagogische Aufgabe in ihrer doppelten Ausrichtung auf die Wissensvermittlung und die Gestaltung von Bildungsprozessen. Diese Sachbindung ist in seiner Herkunftsfamilie auf mütterlicher wie väterlicher Seite verankert. Doch zeigt die Rekonstruktion, dass daraus nicht auf einen traditionalen Habitus geschlossen werden kann, sondern dass sich im Fall Schulz in der Fortsetzung der Familientradition die Verwirklichung seines eigenen Willens Ausdruck verschafft. Ebenso tritt in dieser Thematik die Herausforderung des modernen Subjekts hervor in Gestalt eines authentischen Nachweises der eigenständigen Gestaltung seiner Handlungsoptionen. Für Herrn Schulz hat es eine große Bedeutung, sich selbst zu vergewissern, dass er seinen eigenen Ansprüchen und inhaltlichen Vorstellungen folgt, in denen er sich selbst verwirklicht. Die Vorbilder der Eltern prägen nicht nur Herrn Schulz Entscheidungen hinsichtlich seiner beruflichen Bewährung, sondern auch sein Engagement im Ehrenamt der katholischen Kirche sowie seinen Wunsch nach einer eigenen Familie und sein Selbstverständnis als präsenter Vater. Der Fall Schulz lässt deutlich erkennen, dass weniger die geschlechterbezogene Identifikation mit den Tätigkeiten seines eigenen Vaters den Ausschlag für seine Wahl der Elternzeit und der Gestaltung seiner Vaterschaft gibt. Denn hier tritt er auf den ersten Blick nicht in die Fußstapfen seines Vaters. Sondern eine entscheidende Erfahrung für Herrn Schulz war die authentische Wertschätzung seiner Eltern für beide Lebensbereiche, den Beruf ebenso wie die Familie. In welcher Form der Aufgabenteilung sich welcher Elternteil für die Familie und den Beruf einsetzt, ist damit nicht vorgegeben, sondern als Möglichkeitsraum eröffnet. Für Herrn Schulz sowie für die Mehrheit seiner Geschwister ist die Aufgabenverteilung, als Mann oder als Frau in beiden Bewährungsfeldern tätig zu werden, selbstverständlich. Das Verhältnis zwischen Selbstbezug und Bindung, wie es in den vorherigen Fällen als krisenhaft herausgearbeitet wurde, zeigt sich im Fall Schulz ähnlich wie bei Frau Spenzel als balanciert. Allein die Zeitgestaltung unterscheidet sich zwischen beiden. Herr Schulz kann vor allem seine berufliche Tätigkeit als selbstbestimmt erleben. Doch seine Anpassung an den Rhythmus seiner 244
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Kinder ist für ihn keine Fremdbestimmung in dem Sinne, dass er sich gegen sie schützen müsste, wie es etwa als ein vorrangiges Bestreben Herrn Blöker-Olberts in Erscheinung trat. Indem Herr Schulz diese Entscheidung für die Elternzeit bewusst getroffen und auf einen konkreten Zeitraum begrenzt hat, kann er dieses Zugeständnis an seine Selbstbestimmung machen, ohne damit zu hadern. Entscheidend ist – so zeigten auch die vorangestellten Fälle – das Erleben der authentischen Erfüllung von Aufgaben und der Wertschätzung der jeweiligen Tätigkeiten, die im Resultat zu Anerkennung führt. Wenn sich die eigenen Deutungen auf diesem Erfahrungshintergrund gebildet haben, dann finden sich Wege ihrer Realisierung. Dass dies keineswegs immer ohne Einschränkungen gelingt, haben die Fälle Ziller und Grebe vor Augen geführt. Doch als Vereinbarkeitsproblem – auf der organisatorischen ebenso wie auf der Ebene des inneren Widerstreits – wäre die nötige innere Freiheit für eine authentische Entscheidung unterschätzt. Auch die Zerrissenheit, die Herr Schulz beschreibt, wird nicht auf der pragmatischen Ebene einer Vereinbarkeit zum Problem, sondern auf einer Gewissensebene angesichts seines ausgebildeten Pflichtgefühls. Becker-Schmidt u.a. (1984) haben früh auf diese beiden Ebenen der Vereinbarkeitsproblematik hingewiesen, diese aber vornehmlich auf Spezifika der weiblichen Sozialisation zurückgeführt. Das „Hin- und Hergerissensein“ resultiere aus „zwei entgegengesetzten Bestrebungen“ (ebd.: 15), die sich in einer „doppelten Vergesellschaftung“ von Frauen widerspiegeln. Im Fall Christoph Schulz zeigt sich diese Zuspitzung als verengt. Die Rekonstruktion bringt vielmehr ans Licht, dass – insofern sich eine Wertschätzung der Familie ausbilden kann und Bindungsfähigkeit zu Bindungsaktivität führt – sich auch in der männlichen Biografie beide Strebungen auffinden und nach einer Einlösung verlangen. Dass dies keine vornehmlich als organisatorisch zu lösende Anforderung verhandelt werden kann und für Herrn Schulz zum Beispiel ein Ausbau der Kinderbetreuung keine adäquate Lösung wäre, wurde an der normativen Ebene deutlich, auf der die Deutungen zur Elternschaft ebenso verankert sind wie diejenigen zur beruflichen Aufgabenerfüllung.
2.2 Entschieden kinderlos: Umberto von Quant 2.2.1 Analyse der biografischen Daten Herr von Quant ist im November 1968 in Remagen geboren. Er hat vier ältere Geschwister in größerem Altersabstand. Sein Vater ist Wissenschaftsjournalist, die Mutter (geboren 1927) ist Lehrerin, hat ihren Beruf aufgegeben. 1972 trennen sich die Eltern. 245
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Der Name von Umberto von Quant verrät eine adelige Herkunft. Väterlicherseits sind seine Vorfahren im 19. Jahrhundert aus Schlesien eingewandert, der Adelstitel geht auf eine Lehrertätigkeit der Vorfahren in der Kinderbildung zurück. Herr von Quant gehört zur gleichen Generation wie die meisten der übrigen Fälle, so dass auch für ihn die gleichen generationentypisierenden Hintergründe gelten. Seine beiden Schwestern und Brüder sind bereits in der Schule als Herr von Quant zur Welt kommt. So haben die Eltern Erfahrung in der Kindererziehung, und er konkurriert nicht mit anderen Kleinkindern um die Aufmerksamkeit der Eltern. Dennoch ist er als Nachzügler nicht ein erneuter Ausweis einer gelingenden Paarbeziehung, denn die Ehe zerbricht, als Herr von Quant vier Jahre alt ist. Für seine Identifikation mit dem Vater ist dies eine ungünstige Bedingung, denn der Kontakt bricht ab in einer sensiblen Entwicklungsphase. Die finanziellen Bedingungen der Familie sind prekär, da die alleinerziehende Mutter keiner Berufstätigkeit nachgeht und gegen den Vater Rechtsklagen zur Unterhaltspflicht laufen. Die elterliche Beziehung sowie die Beziehung Herrn von Quants zu seinem Vater muss als zerrüttet angesehen werden. Herr von Quants Heimatstadt Remagen ist eine Stadt im Landkreis Ahrweiler (Rheinland-Pfalz), am Rhein gelegen. Ihre Ursprünge reichen in die Zeit zwischen dem Jahr 6 vor bzw. 6 nach Chr. zurück. Die Stadtrechte wurden ihr im Jahr 1221 verliehen. Von den Folgen zahlreicher Kriege erholte sich die Stadt erst im 18. Jahrhundert. Die wirtschaftliche Entwicklung des Ortes wurde im 19. Jahrhundert durch die Dampfschifffahrt und den Eisenbahnbau vorangetrieben. Weinbau und Tourismus hatten Bedeutung an. Die Bevölkerungszahl lag 1970 bei 13.612 und ist bis heute auf ca. 17.000 angewachsen. Die Bildungs- und Berufsperspektiven, die Herrn von Quants Heimatstadt bietet, sind begrenzt. In ihrer Nähe zur ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn eröffnet sie im Umfeld allerdings einen weiteren beruflichen Horizont. 1988 schließt Herr von Quant seine Schullaufbahn mit dem Abitur ab. Er absolviert seinen Zivildienst in Bonn. Zum Studium der Mathematik und Physik für die Sekundarstufe II geht er an die Universität in X-Stadt. Er wechselt das Studienfach und studiert Mathematik und Deutsch für die Sekundarstufe I. Das Lehramtsstudium schließt er ohne Referendariat ab. Als wissenschaftliche Hilfskraft findet er eine Stelle am Fachbereich der Universität als Computerspezialist. Im Jahr 2001 tritt er seine jetzige Position im Hochschulrechenzentrum derselben Universität im Bereich Computersicherheit an. Auch seine Lebensgefährtin lernt er 2001 kennen. Die beiden führen unverheiratet eine Beziehung zwischen dem Ruhrgebiet und Süddeutschland, wo sie als freiberufliche Juristin tätig ist.
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IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
Mit dem Abitur erreicht Herr von Quant den höchst möglichen Bildungsabschluss. Zum Zivildienst verlässt er seine Herkunftsfamilie und zieht in eine eigene Wohnung in der nächst liegenden Großstadt. Seine Ablösung vollzieht sich ohne Verzögerungen. Mit der Studienwahl verbleibt er im Berufsfeld seiner Mutter, die eine Identifikation zulässt, auch wenn sie ihren Lehrerberuf nicht mehr ausübte. Das naturwissenschaftliche Interesse könnte auch auf eine Identifikation mit der väterlichen Seite (Wissenschaftsjournalist) hinweisen, die sich möglicherweise trotz der Zerrüttung gebildet hat. Mit der Wahl des Studienortes entfernt er sich zunehmend von seiner Herkunftsregion. Der Wechsel des Studienfaches von der Sekundarstufe zwei auf eins verringert die inhaltlichen Anforderungen der Fachwissenschaften. Während ein Studium für den Einsatz in Schulen der Sekundarstufe zwei ein Vollstudium des Faches beinhaltet, ist dies bei dem Studium für die Sekundarstufe eins nur reduziert der Fall. Zudem verlässt Herr von Quant die Naturwissenschaft Physik. Ein verändertes Interesse ist hier weniger als Motivation anzunehmen als eine Reaktion auf eine fachliche Überforderung, wie sie sich auch im Wechsel zur Sekundarstufe eins ausdrückt. Ein weiteres Anzeichen hierfür ist der Abschluss ohne zweites Staatsexamen und der Verbleib im universitären Bereich ohne Bezug zu seinem Lehramtsstudium allerdings in fachlicher Nähe zur Mathematik durch seine Tätigkeit als Computerfachmann. Diese aber ist eine Serviceleistung für das wissenschaftliche und Verwaltungspersonal. Seine Ambitionen als Lehrer sowie eventuell vorhandene Ambitionen als Wissenschaftler gibt er damit auf. Als Fallstrukturhypothese liegt hier die Annahme nahe, dass er am Berufsbild des Lehrers sowohl aus Gründen der inhaltlichen Anforderungen gescheitert ist als auch an den pädagogischen Herausforderungen der Lehrertätigkeit wie sie im Fall Schulz bereits thematisiert wurden. Seine Partnerschaft ist von großer räumlicher Distanz inzwischen über einen Zeitraum von drei Jahren geprägt. Als Hypothese lässt sich formulieren: Die Entfernung ist die Art der Nähe, die Herrn von Quant möglich ist.
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ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
2.2.2 Interviewanalyse13 Eingangssequenz Der Interviewer beginnt mit der Frage nach der derzeitigen Lebenssituation und provoziert damit die Nachfrage seines Interviewpartners, bezogen auf was ihn dies interessiere. Im Unterschied zu Frau Spenzel und Herrn Schulz, die ebenfalls nach dem konkreten Interesse der Interviewerin nachfragen, bietet Herr von Quant allerdings keine eigenen Schwerpunkte an. Der Interviewer gibt darauf hin einige Stichworte vor: äh Beruf, Familie (.). Damit ist die Antwort bereits thematisch eingestellt. Herr von Quant antwortet darauf hin: (A) I.4 UvQ 2 Ja +(I: Ausbildung,)+ ich hab äh ein sicheren Job im öffentlichen Dienst, (.) mit normalen Arbeitszeiten, (1) bin finanziell abgesichert, (1) eigene Familie hab ich keine, aber ä hab selber noch Geschwister und (.) meine Mutter, mit der ich in Kontakt stehe.
Nun hat Herr von Quant das Interesse des Interviewers erkannt (ja) und beginnt mit seiner beruflichen Situation, wie es durch die Stichworte des Interviewers nahe gelegt ist. Die Sicherheit seiner Stelle ist ihm ein vorrangiger Aspekt seines Berufs, den er hier Job nennt. Während in den vorhergehenden Fällen ebenfalls von Jobs die Rede war, aber keine niedrig qualifizierte Tätigkeit mit geringer inhaltlicher Identifikation gemeint war, ist dies für Herrn von Quant an dieser Stelle nicht anzunehmen. Denn er führt seine berufliche Tätigkeit als Job eröffnend im Interview ein, ohne dass inhaltliche Bezüge hervortreten. Es könnte sich also um eine Tätigkeit handeln im Sinne des Wortgebrauchs, die vor allem zum Erwerb des nötigen Lebensunterhalts dient. Zu den Sicherheit stiftenden Aspekten gehören erstens die Beschäftigungssicherheit, wie sie mit dem öffentlichen Dienst als Arbeitgeber in Abgrenzung zu Tätigkeiten in der Privatwirtschaft in Verbindung steht, und zweitens die finanzielle Absicherung. Damit rückt der Job in die Nähe seiner Wortbedeutung, seiner Funktion zur Existenzsicherung. Die eigentliche Bestimmung scheint hingegen nicht im Beruf gesehen zu werden, worauf einige Punkte hindeuten: Normale Arbeitszeiten lassen sich zum einen abgrenzen zu geringfügigen oder reduzierten Arbeitszeiten. Dann verweisen sie auf das so genannte Normalarbeitsverhältnis. Demnach ist der
13 Das Interview wurde im Dezember 2004 am Arbeitsplatz von Herrn von Quant von einem Studenten meiner Lehrveranstaltung geführt. Im Mai 2006 habe ich ein Folgeinterview mit ihm in meinem Büro geführt, um einige Aspekte zu vertiefen. Für die Rekonstruktion werden beide Interviews verwendet und Transkriptstellen entsprechend mit A für das erste Interview und B für das zweite gekennzeichnet. 248
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
Job keine Zusatz- oder Nebenbeschäftigung. Die Folie, auf der sich diese Äußerung abbildet, ist die normative Vorstellung von einem anerkennenswerten Erwachsenenleben. Insofern stellt diese Reaktion auf den Eingangsimpuls eine Antwort bereit auf die zugrunde liegende Frage, was in der kollektiven Vergemeinschaftung als anerkennenswert gilt, nämlich eine eigenständige Existenzsicherung über den Weg einer bezahlten Arbeit. Dass Herr von Quant diesen Sachverhalt so hervorhebt, zeugt von einer vorgängig krisenhaften Existenzsicherung. Indem er eine sichere Beschäftigung erreicht hat, mit der er sein Leben finanzieren kann, weist er sich als jemanden aus, der dies geschafft hat. Die Rekonstruktion der biografischen Daten hat bereits in diese Richtung einer krisenhaften Bildungskarriere sowie eines prekär begonnenen Berufseinstiegs gewiesen. Der Job folgt jedoch keiner Berufung, sonst würde er von der Tätigkeit her näher benannt. Zu dieser Seite lassen sich die normalen Arbeitszeiten auch abgrenzen von extensiven. Die können entweder einer Fremdbestimmung folgen etwa aufgrund starker Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Oder sie bringen einen inneren Antrieb zum Ausdruck, der in der Sache selbst begründet liegt und nicht nach formalen Arbeitszeitregelungen fragt. Extensive Arbeitszeiten stehen also außerhalb seines Fokus. Neben der beruflichen Situation thematisiert Herr von Quant die Familie. Sie ist ebenfalls in den Stichworten des Interviewers enthalten gewesen, von denen sich Herr von Quant offenbar leiten lässt. Dass er aber darauf eingeht, obwohl er keine Familie gegründet hat, zeugt von der grundlegenden Bedeutung, die die Positionierung zum Feld der familiären Bewährung für den Einzelnen hat. Die Frage, wie man zu einer eigenen Familie steht, gehört zum Bezugspunkt der Selbstverortung des Subjekts. Und eine dritte Wichtigkeit kommt zum Ausdruck: Keine eigene Familie zu haben, bedeutet nicht, isolierter Einzelgänger zu sein, der nichts als den eigenen Lebensgenuss im Sinn hat, ohne sittliche Verantwortung für die Verwandtschaft oder eine übergeordnete Gemeinschaft zu verspüren. Herr von Quant betont hier die Verbundenheit zu seiner Herkunftsfamilie im Sinne einer bewährungsdynamisch relevanten Antwort auf die Frage: Wo komme ich her? Für die weitere Analyse sind nun einige Fragen aufgeworfen: Welche Bedeutung hat sein Beruf über die hier aufscheinende Existenzsicherung als Mittel zum Zweck hinaus? Und welche weiteren Interessen und Tätigkeiten prägen sein Bewährungsstreben, wenn es nicht in erster Linie der Beruf ist, aber auch das Feld familialer Bewährung nicht eröffnet ist?
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ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Familiale Bewährung Im ersten Interview insistiert der Interviewer auf die Frage nach der eigenen Familiengründung und erfährt, dass Herr von Quant sich mit Mitte 20 Jahren gegen eine eigene Familie entschieden hat und durch eine Sterilisation diesen Entschluss auch realisierte. Im Kontrast zu den bisher dargestellten männlichen Fällen repräsentiert Herr von Quant einen gewollt kinderlosen Mann, der eine Vaterschaft für sich ablehnt. Auf die Frage des Interviewers nach den Gründen antwortet Herr von Quant: (A)II.4 UvQ 2 Weil ich mich unter den gegebenen Umständen (.) was es in dieser Gesellschaft heißt Familie zu haben, darum nicht kümmern wollte […] Man is dafür verantwortlich gemacht, dass die eigenen Blagen ähm (1) das tun was angesagt und gültiges Recht is. (1) (I: Hm) Man is damit konfrontiert dass man alle Sorgen und Nöte der Blagen selbst erledigt und das unter wirtschaftlichen Verhältnissen, die ä sehr schwierig sind (.) und das wollt ich nich.
Die Begründung kann Herr von Quant ohne Nachdenken sofort geben. Er hat sich damit beschäftigt, was angesichts seiner Entscheidung zur Sterilisation auch nahe liegt. Herr von Quant macht die Umstände in dieser Gesellschaft dafür verantwortlich, dass er keine eigene Familie gründen will. Die Umstände heben auf äußerliche Bedingungen für die eigenen Handlungsentscheidungen ab, ohne den eigenen Entscheidungsspielraum zu berücksichtigen, etwa die Möglichkeit, sich diesen Bedingungen zu widersetzen, oder sich trotzdem für eine Familie zu entscheiden. Vermeintliche Sachzwänge stellen keine Legitimation dar, sondern entlasten vordergründig von Entscheidungsbegründungen. Worauf gibt die Sachzwangargumentation eine Antwort? Zunächst, ungeachtet der konkreten Gründe von Herrn von Quants Entscheidung, verweist das mobilisierte Geschütz der gesellschaftlichen Umstände erneut, wie schon in der Eingangssequenz, auf die notwendige Stellungnahme zur Frage der eigenen Familiengründung. Die Entscheidung bedarf hinreichend starker Argumente. Unter der Rubrik der gesellschaftlichen Bedingungen der Familien könnten nun Aspekte aus der gegenwärtigen Debatte um Vereinbarkeitsbedingungen von Familie und Beruf angeführt werden oder berufliche Folgen der Fürsorgeverpflichtung für Kinder im Sinne eines Karrierehindernisses oder die finanziellen Lasten. Herr von Quant fährt damit fort auszuführen, was Familie unter den gegebenen Umständen für ihn heißt. Mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit seiner Beschreibung (man) sieht sich Herr von Quant von den Umständen als verantwortlich gemacht (betont). Er thematisiert hier nicht die faktische Verantwortung der Eltern, wie sie sich aus der Struktur der Familie als sittliche Gemeinschaft ergibt, sondern sieht eine äu250
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
ßere Macht am Werke. Nun könnte sich ein Argument anschließen, das auf ungünstige Bedingungen hinweist, unter denen diese Verantwortung zu tragen ist, etwa geringe finanzielle oder organisatorische Unterstützung bei der Wahrnehmung der elterlichen Aufgaben. Herr von Quant führt hingegen ein kulturkritisches Argument ein, indem er eine Zurichtungserwartung an die Eltern unterstellt, deren Verantwortung nun darin gesehen wird, für eine Anpassungsleistung der Kinder an gegenwärtige Moden (was angesagt ist) und gültiges Recht zu sorgen. Seine Kritik richtet sich dabei nicht gegen eine Normenkonformität der Kinder, sondern er steht der elterlichen Verantwortung für diese Anpassungsleistung ablehnend gegenüber. In der abfälligen Bezeichnung der eigenen Kinder als Blagen kommt seine Distanz zu einem leiblichen Vater-KindVerhältnis zum Ausdruck. Zwischen ihm als potentiellem Vater und den hypothetischen Kindern klafft ein Graben, der eine väterliche Bindung unmöglich macht. Vor diesem Hintergrund ist seine Entscheidung erklärbar und vernünftig. Sie zeugt von einer hohen Verantwortlichkeit seines Handelns. Diese Entscheidung ruht jedoch nicht auf dem Grund, den Herr von Quant vorbringt, sondern auf einem innerlichen Hindernis, eine väterliche Beziehung zu einem eigenen Kind aufbauen zu können. So muss die genannte Begründung der gesellschaftlichen Umstände als Rationalisierungsargument eingeschätzt werden, mit dem er seine innere Distanz und fehlende Bindungsbereitschaft deckt. Auch der nächste Satz kann in diesem Tenor ausgedeutet werden. Erneut nennt er Kinder hier Blagen und stellt die elterliche Verantwortung als Konfrontation mit einer Zumutung dar: man müsse alle Sorgen und Nöte der Kinder selbst erledigen. Erledigen kann man Aufgaben, für Sorgen passt dieses Verb nicht. Sorgen und Nöte der Kinder sind integraler Bestandteil der kindlichen Entwicklung und der elterlichen Fürsorge, jedoch nicht im Sinne ihrer Erledigung, sondern ihrer Begleitung, der einfühlenden Anteilnahme und Aufmerksamkeit, je nach Schwere auch des Angebots von Unterstützung und Hilfe. Herr von Quant vertritt ein Modell von Elternschaft, das Eltern zu Zurichtungsinstanzen und Erfüllungsgehilfen der Kinder macht. Eine freundvolle Seite an der Elternschaft taucht in dieser Darstellung nicht auf. Allein Belastung und Zumutung, die durch die genannten wirtschaftlich schwierigen Verhältnisse noch dramatisiert werden, stehen im Zentrum seiner Argumente. Es drängt sich eher das Bild von seiner Herkunftsfamilie als von seiner eigenen Lebenslage auf, wenn Herr von Quant sich ein Leben mit Kindern ausmalt. Denn seine Lebensbedingungen hat er zuvor als finanziell abgesichert beschrieben. Doch auf den abwesenden eigenen Vater, die zerrüttete Paarbeziehung seiner Eltern sowie die wirtschaftlich schwierige Situation seiner Mutter mit ihren fünf Kindern scheint dieses Szenario 251
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
zuzutreffen. Auf die Frage des Interviewers nach Herrn von Quants Verhältnis zu seinem Vater führt erklärt er: (A)IV.2 UvQ 1 Mhää s (atmet aus) schwierich also ich find natürlich die Tatsache ähh dass er die (.) die Familie so hat hängen lassen also auch in der Konsequenz sich explizit um nichts mehr kümmern zu wollen (.) das war ziemlich hart. Also man hätte sich sicherlich auch voneinander trennen können ohne dass das so (.) ähm so anstrengend und mit einer solchen Armut auch verbunden war, (I: hm) für den übrig gebliebenen Teil der Familie, (.) ich möchts ihm nich vorwerfen dass er gesagt hat ich schmeiß die Plörren hin ich ich mag die nicht mehr. (I: ähm) Aber ähm (.) die die praktischen Konsequenzen (atmet ein) die daraus folgten die haben mich schon mehrfach sehr verärgert und auch seine Umgehensweise dann mit den rechtlichen Konsequenzen (.) also Zahlungsmoral und ähm Unverschämtheiten äh äh ä (.) die daraus resultierten dass wir danach nur noch ein Rechtsverhältnis hatten.
Für Herrn von Quant ist es schwierig, auf die Frage zu antworten, was sich in der abwägenden Eingangsformel (mhää), dem hörbaren Ausatmen und darin zeigt, dass er zu einer vorsichtigen Einschätzung anhebt (also ich find). Doch statt das Verhalten des Vaters zu beurteilen, beschreibt er im Fortgang des Satzes sein Erleben. Selbstredend (natürlich) ist für ihn die Erfahrung, dass sein Vater sie verlassen hat, schmerzlich (hart). In der Beschreibung bleibt er distanziert und spricht von der Familie statt etwa von ‚uns‘ oder ‚meiner Familie‘ oder ‚meiner Mutter und uns Kindern‘. Er begibt sich damit in eine neutrale Beobachterposition, um das Unfassbare auszudrücken, dass sich der eigene Vater um sie nicht mehr hat kümmern wollen. Den Trennungsprozess selbst hat Herr von Quant als anstrengend erlebt. Er führt die Familie in die Armut. Diese Darstellung erscheint um so nüchterner und sachlicher als man sich schnell ausrechnen kann, welche finanziellen Mittel einer nicht berufstätigen Mutter mit fünf Kindern bleiben, wenn die Unterhaltszahlungen nicht, nicht fristgerecht oder unvollständig gezahlt werden, wie es Herr von Quant anhand der Zahlungsmoral andeutet. Frau von Quant repräsentiert mit diesen Lebensbedingungen all jene Fälle Alleinerziehender, die auch dem jüngsten Armutsbericht zufolge mit einem Anteil von 24 Prozent an den „Einkommensarmen“ zu den „besonders gefährdeten Gruppen“ gehören (Bundesregierung 2008: 21). Anlass für Herrn von Quants Ärger ist dabei weniger die Tatsache, dass sich sein Vater getrennt hat. Er zeigt Verständnis dafür, eine Beziehung zu beenden, wenn die Liebe abhanden gekommen ist (ich mag die nicht mehr). Darin scheinen auch die Kinder eingeschlossen zu sein, worauf die Konsequenzen des Handelns seines Vaters (sich um nichts mehr kümmern zu wollen, Unverschämtheiten) hindeuten. Dennoch verärgert ihn vielmehr 252
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
die Art und Weise, wie sein Vater die Trennung vollzogen hat. Mit Hängenlassen, der mangelnden Zahlungsmoral und den Unverschämtheiten beurteilt er seinen Vater als verantwortungslos und respektlos. In der Folge der gerichtlichen Auseinandersetzungen und der für Herrn von Quant ärgerlichen Umgehensweisen des Vaters schrumpft ihre Beziehung auf ein bloßes Rechtsverhältnis zusammen, das also jede Lebendigkeit sowie vermutlich allen Respekt eingebüßt hat. Eine solche Erfahrung von Missachtung dürfte es Herrn von Quant schwer machen, eine positive Vorstellung von einer eigenen Familie zu erlangen. Die Identifikation mit dem Vater ist ihm unter diesen Umständen nicht möglich. Und seine Mutter unterliegt tatsächlich schwierigen Verhältnissen, um ihrer Fürsorgeverpflichtung nachzukommen. Den dort möglicherweise erlebten Mangel schreibt Herr von Quant – Familie allgemein ablehnend – den gesellschaftlichen Umständen und schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen zu. Mit dieser Deutung hält er seinen Vater ebenso auf Distanz wie die schmerzhafte Erfahrung der Missachtung und die Entbehrung unbedingter Bindung und Solidarität in der Familie. Wie konflikthaft der Trennungsprozess verlaufen sein muss, wird auch daran deutlich, dass keines seiner vier Geschwister eine eigene Familie gegründet hat oder dies beabsichtigt. Das Deutungsmuster ‚Familie ist unter diesen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht möglich‘ teilen alle miteinander, es ist die familienspezifische Beschwichtigung des erfahrenen Schmerzes und der erlittenen Enttäuschung. Diese frühe Enttäuschungserfahrung macht es Herrn von Quant nicht nur unmöglich, eine eigene Familie zu gründen, sondern korrespondiert auch mit einer Liebesbeziehung über eine große räumliche Distanz hinweg, die dadurch auch zeitlich eingeschränkt ist. Er bezeichnet seine Beziehung als sehr glücklich und einvernehmlich so gestaltet, dass eine Heirat ausgeschlossen ist. Auch das Bewohnen einer gemeinsamen Wohnung ist nicht geplant. Die Distanz ist konstitutiv für das Einlassen der Partner aufeinander. In der Deutung Herrn von Quants hat die Ablehnung der Ehe als eingerichtetes Vertragsverhältnis eine Schutzfunktion für das wesentliche Gut der Beziehung: das Vertrauensverhältnis. Der Staat als Überwacher des Vertragsverhältnisses störe durch seine Einmischung, die der Zuneigung zu einer Person nicht zuträglich ist. ((A)II.6 UvQ 3) In herrschaftskritischer Verkleidung tritt auch in dieser Thematik ein ideologischer Vorbehalt vor der Ehe an die Stelle einer Auseinandersetzung um seine erfahrene Kränkung. Das Misstrauen in staatliche Regelungen und rechtliche Vertragsverhältnisse spiegelt hier seine Erfahrung wider, die er in der gerichtlichen Auseinandersetzung der Eltern und zwischen ihm und seinem Vater als herabsetzend erlebt hat. Diese Erfahrung überträgt er nun auf andere institutionelle Regelun253
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gen des Zusammenlebens wie es bei einer amtlich beurkundeten Eheschließung der Fall wäre. Unmittelbar zu Beginn des Interviews wurde deutlich, dass das erwachsene Subjekt eine Antwort geben muss auf die Frage wie es sich zu einer eigenen Familie stellt. Die Schwere der Enttäuschungserfahrung von Herrn von Quant macht nun ersichtlich, dass die Legitimation für eine Entscheidung gegen eigene Kinder ebenfalls schwergewichtig sein muss. Zwar bietet Herr von Quant als Entscheidungsmotivation ideologische Vorbehalte, doch trägt er sie im großen Wurf einer Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen und am Staat vor, der der Gewichtigkeit seiner objektiven, aus der Struktur seiner Erfahrung herrührenden Beweggründe entspricht.
Berufliche Bewährung Welche Art von Bindung an einen Beruf, an eine sachhaltige Aufgabe ist Herrn von Quant in seiner fallspezifischen Entscheidungs- und Deutungsstruktur nun möglich? Herr von Quant schildert im ersten Interview, sein Berufswunsch habe schon in der siebten Klasse festgestanden, er wollte auf jeden Fall Biologie studieren und in die wissenschaftliche Biologie einsteigen ((A)III.2 UvQ 1). Allein an der Zuweisung von Studienplätzen durch die ZVS sei dieser Wunsch gescheitert. Das Lehramtstudium war dementsprechend eine Verlegenheitslösung, die immerhin noch mit seiner Fächerwahl Mathematik und Physik sein Interessengebiet der Naturwissenschaften enthielt. Nun ist es entwicklungsgeschichtlich früh, im Alter von 14 Jahren bereits eine berufliche Vorstellung zu haben. Doch war sie offenbar reiflich überlegt, sonst hätte er sie nicht bis zum Abitur aufrechterhalten. Die frühe Berufswahl spricht entweder für das Bedürfnis nach einer frühen perspektivischen Orientierung oder für ein deutlich ausgeprägtes Interesse bzw. Talent. Sein Interesse an naturwissenschaftlichen Fragestellungen begründet Herr von Quant im zweiten Interview mit kindlichen Vorstellung von einem Abenteurer, der mit einem Geländewagen durch die Wüste fährt und wilde Tiere beobachtet. Dieser Gedanke wurde von Tierfilmen genährt. Doch bis in den Leistungskurs Biologie in der Oberstufe des Gymnasiums bleibt sein Interesse wach, insbesondere Biochemie und Genetik findet er spannend. Sein Kindheitstraum ist für ihn über die Jahre stabil geblieben, aber er hat sich gewandelt im Sinne einer realistischen Zuwendung zum Gegenstand des Faches. Sein Vater sei ihm in seiner beruflichen Orientierung kein Vorbild gewesen, denn als Wissenschaftsjournalist habe er über ziemlich viele Sachen ziemlich wenig gewusst. Die vorangegangene Rekonstruktion hat eine positive Identifikation mit seinem Vater, die sich etwa in beruflichem Nacheifern zeigen könnte, 254
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bereits unwahrscheinlich gemacht. Doch scheint sich Herr von Quant insofern an seinem Vater zu orientieren als er ihn übertrumpfen und damit endgültig ‚stürzen‘ will. Blieb Herr von Quant noch in der Nähe von Remagen, um seinen Zivildienst zu absolvieren, so zieht er zum Studium ins Ruhrgebiet um. Dies begründet er im zweiten Interview damit, dass die Universität seiner Wahl über die längsten Einschreibefristen unter denjenigen Universitätsstädten verfügte, in denen er persönliche Kontakte hat ((B)VII.2 UvQ 1). Konkret sind es seine Schwestern, die ihm vor Ort einen Anlaufpunkt bieten. Da Herr von Quant zunächst auf seinen Studienplatz in Biologie gewartet hat, musste er sich nach der Absage durch die ZVS eine Universität suchen, wo er sich nachträglich noch einschreiben konnte. Seine Entscheidung gründet sich damit auf einer Kombination von Pragmatismus angesichts von Fristenregelungen für seine Verlegenheitslösung mit einer Orientierung an einer möglichen Vergemeinschaftung zumindest für den Beginn seines Aufenthaltes in der neuen Stadt. Zu Herrn von Quants Frustration über das missglückte Einscheren in ein Studium, das seinen Interessen entsprochen hätte, fügt sich alsbald eine zweite Scheiternserfahrung. Über den Wechsel des Studiums für die Sekundarstufe eins sagt er: (B)I.18 UvQ 9 […] hab mit dem Mathe Physik, (abgehackt gesprochen)(.) Sek zwei angefangen und dat war mir einfach zu schwer, (I: Mmh;) dat hab ich nich (abgehackt gesprochen) (.) hingekricht, dann bin ich auf Deutsch und Mathe Sek eins gewechselt
Die für Herrn von Quant an dieser Stelle auffallend abgehackte Sprechweise korrespondiert mit der Fragmentierung seiner beruflichen Ausbildung, die hier thematisch ist. Auch sein Wechsel in eine dialektale Ausdrucksweise (dat) und die elliptische Verkürzung der Sätze (mit dem Mathe Physik) ist ungewöhnlich für das Interview. In der Schilderung des Wechsels fällt er kognitiv zurück, was sich interpretieren lässt als Ausdruck seines Erlebens dieses Prozesses als Scheitern. Der Wechsel der Fächer ist für ihn eine Reaktion auf seine mangelnden Fähigkeiten (zu schwer, nicht hingekriegt) in den Studienfächern Mathematik und Physik für die Sekundarstufe zwei. Diese Erfahrung konfrontiert Herrn von Quant mit einer Illusion, der er als Jugendlicher nachgehangen hat: Für eine wissenschaftliche Tätigkeit reicht sein Können nicht aus. Nun zieht er aus dieser Desillusionierung nicht den Schluss, die Universität zu verlassen, sondern sucht sich im gleichen Berufsfeld einen Studiengang, dem er sich besser gewachsen fühlt. Welcher Motivation folgt Herr von Quant nun im Studium des Lehramts für die Sekundarstufe eins, wenn er sich von der Wissenschaft damit entfernt und seinen ur255
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sprünglichen Plan, naturwissenschaftlich zu forschen bereits aufgegeben hat, aber ihm als Lehrer für die Sekundarstufe zwei immerhin noch eine Nähe zur wissenschaftlichen Thematisierung der Inhalte möglich gewesen wäre? Die Interviewerin fragt nach seinem Entschluss für das Lehramtstudium. (B)I.4 UvQ 8 (tief einatmend) Äh; (stöhnend) dat is ne gute Frage, ich glaub das war die Überlegung ähm;(1) (stoßend ausatmend) ich studier Lehramt damit ich n halbwegs geregelten Job krich,(1) mit relativ viel Ferien,(2)
Herr von Quant wappnet sich mit einem tiefen Atemzug, windet sich (stöhnend) und verschafft sich Zeit zum Nachdenken durch die Beurteilung der Frage. Er ist sich nicht so sicher, was ihn damals eigentlich dazu bewogen hat (ich glaub). Nun entlädt sich die Spannung (ausatmend) und er nennt als Ziel des Studiums die Vorzüge des Lehrerberufs im Sinne einer geregelten Arbeit und – dem Klischee entsprechend – freier Zeit, also geringerer arbeitszeitlicher Belastung im Verhältnis zu anderen Berufen. Hier tritt eine Veränderung seiner Haltung zutage im Vergleich zur ursprünglichen Vision, als Wissenschaftler in entfernten geografischen Räumen zu forschen und sich damit ganz der Sache hinzugeben. Mit geringem Zeitaufwand ist eine solche Forschungstätigkeit ebenso unvereinbar wie mit dem Grundmotiv, einem geregelten Job nachzugehen. Der Lehrerberuf scheint nun ein Kompromiss zu sein, die inhaltlichen Interessen nicht ganz aufgeben zu müssen, aber hinreichend Zeit für anderes zu haben. Sein Beruf rückt damit in die Nähe des Jobs als Mittel zu einem anderen Zweck. Es lässt sich etwa denken, Herr von Quant wünsche sich, in der verbleibenden Zeit seinen wissenschaftlichen Interessen nachzugehen. Allerdings nennt er seine inhaltlichen Ambitionen hier nicht. Das legt die Vermutung nahe, dass er nach seiner Erfahrung des Scheiterns an seinem fachlichen Vermögen diese Ambitionen aufgegeben hat. Nun erfordert der Lehrerberuf zwar kein wissenschaftliches Forschungsvermögen, aber neben dem fachlichen Interesse auch eine pädagogische Kompetenz und eine Bindungsfähigkeit an die anvertrauten Schüler, wie es im Fall Schulz deutlich wurde. Doch darin liegt Herrn von Quants Stärke nicht: (B)I.16 UvQ 25 Dat hab ich dann im Blockpraktikum während meiner Lehrerausbildung die ich dann ja angefangen hab gemerkt dat, das ganz und gar nichts für mich is. (I: Ah, ja; mmh,) Und nach dem ersten(.) äh; Praktikum war klar ich studier zwar das Lehramt fertich; weil ich jetzt
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IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
dann nich noch mal, ähm alles übern Haufen schmeißen wollte; aber ich werd ganz sicher; kein Lehrer.
Es ist die praktische Erfahrung in der Schule während seines Studiums, die ihm vor Augen führt, dass ihm der Lehrerberuf nicht liegt. Nach der bisherigen Rekonstruktion wäre eine Affinität zu einem pädagogischen Verständnis einer Begleitung von Bildungsprozessen auch überraschend gewesen. Seine kränkenden Erfahrungen der Missachtung dürften ihm auch im beruflichen rollenförmig strukturierten Feld Bindungen erschweren, die für die wertschätzende ermutigende Begleitung der Schüler nötig ist. Ohne dies näher zu beschreiben, präsentiert er seine Schlussfolgerung aus der ersten Konfrontation mit der beruflichen Realität: Ohne Ambivalenz (war klar) stellt er fest, dass der Beruf ganz und gar nichts für ihn ist und er ganz sicher kein Lehrer werden wird. Wiederum entscheidet sich Herr von Quant aus pragmatischen Gründen für die Beendigung des Studiums, um seine Bafög-Unterstützung nicht zu gefährden und um sich die Möglichkeit zu erhalten, durch ein Zusatzstudium noch zu promovieren in Germanistik, wie er nach der zitierten Sequenz berichtet. Den Schritt in Richtung wissenschaftlicher Tätigkeit hat er bis dahin nicht aufgegeben. Die Abkehr von Gegenständen der Naturwissenschaften allerdings lässt vermuten, dass es weniger ein inhaltlicher Antrieb ist als ein status- oder sicherheitsorientierter. Versucht er zunächst, in seinem ersten Beschäftigungsverhältnis als wissenschaftliche Hilfskraft das Ziel des Promovierens noch aufrecht zu erhalten, erkennt er bald, dass dies neben seiner Tätigkeit als Computerfachmann nicht möglich ist. Auch an dieser Stelle bedient sich Herr von Quant eines Argumentes, dass ihn selbst aus der Verantwortung nimmt für den Abbruch der Promotion: als Computerhansel in der Einrichtung, wo man promoviert; das geht nich […] ich bin hier immer der Computerfutzi ((B)I.28 UvQ 14). Mit abfälligen Bezeichnungen seiner selbst (Hansel, Futzi) disqualifiziert er sich als ernstzunehmender Kollege im wissenschaftlichen Feld und degradiert seine Tätigkeit als Servicedienstleister zu einer gering geschätzten Nebenfigur der Abteilung. In der ironisch distanzierten Redeweise deckt seine abwertende Selbsteinschätzung die erfahrene Kränkung in seiner Herkunftsfamilie, die offenbar nachhaltig zu einer geringen Selbstschätzung geführt hat. Diese hat möglicherweise auch erschwert, den inhaltlichen Leistungsanforderungen gerecht zu werden und ihm den Weg in das pädagogische Berufsfeld verbaut. Denn ein Forschergeist dringt an einigen Stellen des Interviews immer noch durch. Auf die Frage der Interviewerin nach Aspekten seiner jetzigen Berufsposition, die ihm genau passend für sich erscheinen, antwortet er selbstsicher und überzeugt, die Computersicherheit, für die
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ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
er auf seiner Stelle im Hochschulrechenzentrum verantwortlich ist, sei ein sehr spannendes Thema ((B)II.2 UvQ 1). (B)II.4 UQ 2 Man kricht(.) ständich mit neun(1) Sachen zu tun; die erst mal per se so gebaut sind; dass man sie möglichst nicht versteht. […] Also; Viren; Würmer; Trojaner, (I: Ja;) ähm Möglichkeiten sich Rechner in Massen; fernsteuernd untern Nagel zu reißen,(1) ähm;(.) die wolln natürlich möglichst unentdeckt,(.) und möglichst unverstanden bleiben, (I: M mh,)(.) und das is ähm; ne Sache da kann man(.) sehr sehr viel; drin rumforschen und rausfinden und das is sehr sehr spannend. Und außerdem gibts jeden Tag was Neues. Und das is was; was an dieser äh; Beschäftigung mit IT,(.) sehr sehr spannend is,
Herr von Quant schildert seine Tätigkeit als besonders spannend durch ihre ständig neuen und kniffeligen Herausforderungen. Dadurch dass er es mit softwaretechnischen Problemen zu tun hat, deren Charakter es gerade ist, verborgen zu bleiben, ist die Analyse seine zentrale Aufgabe. Er nennt diese Tätigkeit entsprechend rumforschen und rausfinden und ist damit auch sprachlich nah an seinem ursprünglichen Antrieb, wenn auch in anderem Themengebiet als der biologischen Forschung und in anderer Funktion als der des Wissenschaftlers. Durch die verniedlichende Bezeichnung rumforschen nimmt er einen Vergleich mit der Tätigkeit eines Wissenschaftlers gar nicht erst vor, er bleibt unprätenziös und in der Tendenz abwertend. Er beschreibt die konkrete Tätigkeit aber als eine, die wissenschaftliche Kompetenzen der Analyse von Schädlingen und Störfunktionen der Programmabläufe ebenso verlangt wie das wissenschaftliche Interesse an der Aufdeckung immer neuer Phänomene. Die hier vorherrschend flüssige Redeweise und die mehrfache Betonung des immer Neuen als das gerade Spannende an seiner Aufgabe zeugt von einer Begeisterung, die aus der inneren Passung zwischen seinen Interessen und Fähigkeiten und der Anforderung der Stelle resultiert. Diese Passung veranschaulicht Herr von Quant in einem nach dem Zitat vorgenommenen abgrenzenden Vergleich mit der Tätigkeit eines Geschichtslehrers, der im Laufe seines Berufslebens immer mehr mit Routinen zu tun habe, weil sich der Gegenstand seiner Lehre nicht entwickle. Die Abgrenzungsfolie entspricht dem Klischee des Lehrers, der Jahr um Jahr denselben Unterricht in der gleichen Didaktik gibt, und dient Herrn von Quant als Ausdruck seiner Versöhnung mit seiner jetzigen Tätigkeit im rückblickenden Vergleich zu seinem ursprünglichen Vorhaben. Also ich bin immer noch ein, fürchterlich neugieriger Mensch, und ähm; da kommt mir der Gegenstand grad entgegen. ((B)II.6 UvQ 3), resümiert Herr von Quant an dieser Stelle selbst. Er stützt damit die These einer gelungenen Transformation der beruflichen Vorstellungen 258
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
entsprechend seiner ihm möglichen Leistungen und der vorliegenden Interessen nach seinen Erfahrungen des Scheiterns. Auch in seiner Arbeitshaltung zeigt sich eine Sachbindung an seine Aufgabe, die seinen Beruf zu mehr macht als zu einem Mittel der Existenzsicherung. (B)II.14 UvQ 7 ich hab zwar(.) im Prinzip definierte Arbeitszeiten,(.) wir (I: Mmh,) stechen noch nicht beim HRZ toi toi toi dass dat so bleibt; (I: Ja) ähm;(1) aber wenn ich vor irgendeinem Problem hocke und das lässt sich nun mal(.) nich bis fünfzehn Uhr dreißich lösen, dann dauert dat halt länger; als bis fünfzehn Uhr +dreißich. 15 I 8 Und+ dann bleiben sie; 16 UvQ 8 Ja klar, 17 I 9 ohne,(1) sauer zu werden, 18 UvQ 9 Überhaupt nich; nee das(1) dann intressierts mich ja grad. Dann is das spannend und dann muss man halt so lange(1) reinkriechen, bis mans raus hat
Die Arbeitszeiten sind für ihn als technischer Angestellter vorgegeben, allerdings nur im Prinzip und ohne Kontrollsystem (stechen). Diese Freiheit wird ähnlich wie im Fall Schulz auch von Herrn von Quant hochgeschätzt. Sie ermöglicht ihm nämlich, mit seiner Arbeitszeit so zu verfahren, dass es der Aufgabe angemessen ist. Das bedeutet nicht, Zeit zu ‚stehlen‘, sondern sich ungeachtet des definierten Endes seines Arbeitstages mit der Lösung seiner Aufgabe zu beschäftigen. Bildlich gesprochen hockt er nun vor seinem Problem, er begibt sich also auf die Ebene der Aufgabe, setzt sich dort fest und konstatiert, dass seine Lösung die formale Arbeitszeit überschreiten wird. Dies scheint im Charakter der Aufgaben zu liegen, selbstverständlich vorkommen zu können und in Herrn von Quants Sicht auch vorkommen zu dürfen (nun mal, halt, ja klar). Er macht seine faktische Arbeitszeit nun ohne Verärgerung, wie die Interviewerin anbietet, von der Lösung der Aufgabe abhängig. Es ist hier wiederum sein Interesse, das ihn an die Bewältigung der Aufgabe bindet (spannend). Nun erklärt er einen typischen Ablauf der Problemlösung: so lange reinkriechen, bis mans raus hat. Bei der Problemlösung geht es also darum, sich zu versenken in das Problem, es von innen (rein) zu entdecken und zu erkennen (raus). In dieser anschaulichen Beschreibung wird geradezu das Unwohlsein spürbar, das ein Abbruch der Problemlösung hervorriefe, er würde sinnbildlich drin stecken bleiben. Ein Job im Sinne eines vordergründigen Interesses an einer finanziellen Existenzsicherung ist Herr von Quants Beruf nicht. Seine berufliche Bewährung gründet sich auf einer Leistungsethik, die eine Sachorientierung im Sinne der Problemlösung darstellt. Eine grundlegende Si259
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
cherheit in der Beschäftigungsperspektive ist dabei förderlich. Dennoch ist an einigen Stellen die Deutung hervor getreten, seine eigentlichen Interessen lägen außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit.
Weitere Wichtigkeiten im Leben und Gemeinwohlbindung Um andere bzw. weitere Felder der Bewährung zu entdecken, bietet es sich an, die Stelle zu analysieren, an der die Interviewerin fragt, wie sich sein Leben verändern würde, wenn er nicht aus Gründen der Existenzsicherung zur beruflichen Arbeit gezwungen wäre. (B)IX.2 UvQ 1 Dann würde ich glaube ich(1) ungefähr dasselbe machen wie jetzt,(1) mit(.) verschobenen; leicht verschobenen Gegenständen. Ich würd mich immer noch(.) um Computer kümmern. Weil ich dat n spannenden Gegenstand finde. (I: Ja,) Aber ich würd mich nicht mehr um Computersicherheit kümmern. Weil ich das, (tief einatmend)(1) es is zwar auch n spannender Gegenstand aber hab ja gerade gesacht das is die Sphäre höherer Blödsinn, (I: Mmh;) (.) ich glaub dann würd ich doch tatsächlich endlich mal programmieren lernen, wat ich immer noch nicht kann. (I: Mmh) Und dann ähm;(1) versuchen(.) lustige praktische und sinnvolle Software zu schreiben. (I: Mmh?)(1) Dann würd ich viel mehr Musik machen?(2) Ausschlafen jeden Tach zum Beispiel?(.) Was(1) für die Gesundheit, und die Laune ziemlich wichtich sein kann? (lachend) (I: Ja,) (.) Ich würd mehr Fahrrad fahren?(2) Ich wüsste dann die acht Stunden,(.) mehr an Freizeit pro Tach, glaub ich schon(.) auszufüllen.
Ohne Umschweife kann sich Herr von Quant in eine Situation hineindenken, in der er von der Existenzsicherung entlastet wäre, diese Vorstellung löst bei ihm keine Abwehr oder Irritation aus. Er hält aber inne (Pausen), um sich heranzutasten (glaube ich) an die Aspekte, die dann Bestandteile seines Lebens und Alltags wären. Seiner Vorstellung nach würde sich nicht viel verändern (ungefähr dasselbe machen wie jetzt). In Anlehnung an die gebräuchliche Formulierung ‚mit verschobenen Gewichten‘ vermutet er die Differenz in der Platzierung (verschoben) der Inhalte seiner Tätigkeit (Gegenstände). Der Computer als Oberbegriff für ein Tätigkeitsfeld (kümmern) ebenso wie als Arbeitsgegenstand bliebe enthalten, allerdings mit einer veränderten Aufgabenstellung. Die Computersicherheit, über die er zuvor begeistert als spannendes Gebiet detektivischer Arbeit gesprochen hat, behält zwar ihren Charakter als spannende Aufgabe, fällt in Herrn von Quants Einschätzung nun aber nach einem tiefen Atemzug und einer Bedenkpause als irrelevant in seiner Wertschätzung (höherer Blödsinn). Hier trifft er eine Unterscheidung zwischen der Herausforderung durch die Aufgabenstellung (rumforschen, rausfinden) und der inhaltlichen Bedeutung, die Herr von 260
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
Quant der Aufgabe beimisst (Blödsinn). An einer früheren Stelle des Interviews hat sich Herr von Quant zur Einschätzung seiner Tätigkeit in der Computersicherheit bereits mit diesen Worten geäußert, worauf er hier selbst rekurriert (s.u.). Den durch anderweitige Existenzsicherung gegebenen Freiraum würde Herr von Quant, statt sich mit Blödsinn zu beschäftigen, für das Erlernen des Programmierens nutzen. Dies gehört offenbar zu einem schon länger gehegten Wunsch (tatsächlich endlich mal). Im Unterschied zur detektivischen Arbeit beim Aufspüren von softwaretechnischen Angreifern geht es beim Programmieren um das Erschaffen neuer Werkzeuge. Nicht mehr der Schutz des Bestehenden wäre seine Aufgabe, sondern das Entwerfen und Entwickeln von Neuem. Seinem Selbstverständnis nach als Computerfachmann müsste er längst programmieren können, was sich in der betonten Ungeduld zeigt, als würde er sich selbst dafür schelten, es noch nicht gelernt zu haben. Als Kriterien, die die Programmierarbeit zu etwas Wertvollem machen würde in Abgrenzung zum Blödsinn, nennt er Eigenschaften der von ihm dann zu entwickelnden Software: lustig, praktisch und sinnvoll soll sie sein. Die von ihm geschätzten Elemente – Freude, Nützlichkeit und Sinnbezug aus einem echten Bedarf – verweisen auf Dimensionen der Arbeitszufriedenheit und Sinnstiftung im beruflichen Handeln. In der kategorischen Trennung von Arbeit und Freizeit treten nun weitere ihm wichtige Aspekte seiner Lebensgestaltung hervor: Musik machen, ausschlafen, Fahrrad fahren wären die Tätigkeiten, die er an die Stelle der beruflichen Arbeit setzen würde. Sie dienen nicht nur der Steigerung seines persönlichen Wohlbefindens (Gesundheit, Laune), sondern enthalten auch schöpferische Elemente wie das Musizieren und die sportliche Leistung. Herr von Quant würde also unter Bedingungen eines fehlenden Arbeitszwangs diejenigen Aspekte ausdehnen, die ihm heute wichtig sind und die er bereits verfolgt, sie würden einen größeren Stellenwert erhalten. Dass er an dieser Stelle keine gänzlich anders gelagerten Tätigkeiten oder Lebensbereiche einführt, war nach der bisherigen Analyse nicht anders zu erwarten. Aufgrund seiner Fallstruktur – einer Bindung in Distanz und einer sachbezogenen Leistungsethik in geringer Selbstschätzung – würden weder eine Familie noch gemeinwohlbezogenes Engagement für ihn durch mehr Zeit und Geld attraktiver werden. Sorgen bereitet ihm die Vorstellung nicht, mehr Zeit zur eigenen Gestaltung zu haben, er wüsste sie auszufüllen. Die Einschätzung der Computersicherung als höherer Blödsinn hatte Herr von Quant getroffen auf die Frage, ob er den Eindruck habe, er leiste etwas für die Allgemeinheit. Sowohl seine musikalischen als auch die sportlichen Aktivitäten ordnet er als sein Privatvergnügen ((B)VII.4 261
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
UvQ 2) ein und bescheinigt auch seiner beruflichen Tätigkeit keine gesellschaftliche Bedeutung. Sein Urteil resultiert aus seiner Deutung der Funktion, die die Computersicherheit für das wissenschaftliche Arbeiten und die Erkenntnisgewinnung hat: Aus Egoismus des Wissenschaftlers, der seine Ergebnisse für wertvoll hält vor dem Hintergrund ihrer exklusiven ökonomischen Verwertbarkeit, sei ein jeder darauf bedacht, niemand anderem den Zugang zu den Daten zu ermöglichen. Auch die Gegenseite der Angreifer handele aus egoistischen Verwertungskalkülen ((B)VII.6 UvQ 3). Seine Arbeit sieht er eingebunden in die seiner Einschätzung nach niederen Beweggründe der Akteure im Streit um ökonomische Verwertungsinteressen: Jeder versucht den anderen zu beklauen, wie das immer so is; wenn et um irgendwas geht wat ein Preisschild hat (ebd.). In der Hobbes´schen Deutung des ‚Menschen als des Menschen Wolf‘ bedarf die Vorteilsbildung einer restriktiven Handlungsregulierung durch Sicherheitsmaßnahmen, die gerade den Aufgabenbereich von Herrn von Quant bestimmen. So ergibt sich der sachhaltige Zweck seiner Arbeit nur dadurch, dass die Vermarktungslogik frei entfesselt zu unlauteren Machenschaften Anlass bietet, die er durch softwaretechnische Sicherung eindämmen soll. Verwerfliche Motive, so lässt sich schließen, untergraben aber moralisch das Gute seiner Arbeit, die es ohne die von ihm verurteilten Verwertungsegoismen gar nicht gäbe. Die Geringschätzung seiner Arbeit als Blödsinn resultiert Herrn von Quant zufolge aus dieser fehlenden Sachhaltigkeit und originären Sinnhaftigkeit. Der fundamentalistische Zug an dieser Deutung tritt im Vergleich mit anderen Berufen hervor, die für die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit sorgen. Auch die Arbeit eines Staatsanwaltes zum Beispiel würde die beklagte mangelnde Sachhaltigkeit aufweisen, insofern sie nur als Reaktion auf z.B. illegale Bereicherungsversuche existiert. Das Austarieren zwischen Eigeninteressen und Gemeinwohlbindung, zumindest im Feld zweckrationalen ökonomisch relevanten Handelns, ist nach der Deutung von Herrn von Quant nur durch Sicherungsmaßnahmen möglich, die den freien Kräften egoistischer Antriebe Einhalt gebieten. Ein sittliches Fundament aufrichtiger und die Arbeit des Gegenübers wertschätzender Interaktion negiert er damit, was hervorgehoben wird durch seine Einordnung eines jeden unter die von ihm diagnostizierten Handlungsantriebe (jeder, immer). Sein Gegenentwurf zu dieser kulturkritischen Diagnose lautet: (B)VII. 6 UvQ 3 […] wenn man durchsetzen würde; das man(.) gefälligst mit dem Zeuch anderer Leute, und dazu gehören auch deren Daten, umsichtich und sorgsam umgeht und da nix kaputt macht,(1) dann bräuchte 262
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
man keine Passwörter mehr,(.) (I: Mmh,) und diesen ganzen Sicherheits Schnickschnack nicht mehr, (I: Mmh,) (.) ähm;(.) das! würd die Gesellschaft voranbring. Da wär dat; würden die Netze würden auch viel, schneller werden,(1) und viel weniger fehleranfällich (schmunzelnd) und viel besser funktionieren,(atmet ein) ne; aber Security is(1) für den gesellschaftlichen Fortschritt nix.
Herr von Quant wünscht sich eine bessere Welt, die von einer übergeordneten Instanz durchgesetzt werden müsste (man), da ein jeder unter Herrn von Quants Generalverdacht steht. Dabei sieht er es im Grunde als selbstverständlich an (gefälligst), umsichtig und sorgsam mit dem (auch geistigen) Eigentum anderer umzugehen. Wenn das fehlende sittliche Fundament in Gestalt des Gebotes gegenseitiger Anerkennung verordnet wäre, dann käme es zu echtem gesellschaftlichen Fortschritt. Er bestünde in einer höheren Leistungsfähigkeit der Computersysteme und Netze. Unnötige Arbeitsverrichtungen wie seine eigenen könnten dann entfallen. An diesem Ideal gemessen wertet er seine Arbeit der Computersicherheit dagegen nicht nur ab als Ausdruck fehlender Moral, sondern auch in ihren unproduktiven Folgen. Die oben rekonstruierte leistungsethische Sachbindung an seine berufliche Tätigkeit bestätigt sich hier nochmals, da ihm gerade die fehlende Sachhaltigkeit Anlass zur Klage bietet und den Sinn seines Tuns untergräbt. Dieser aber hat für ihn zentrale Bedeutung für die Selbstschätzung seiner Tätigkeit. Der Sinn besteht für Herrn von Quant darin, eine Lösung für einen real bestehenden Bedarf z.B. an funktionierenden Computersystemen in einer moralisch wertvollen Vergemeinschaftung zu finden. Die Gemeinwohlbindung Herrn von Quants drückt sich hier auf der Ebene seiner Motivation zu einer sachhaltigen Arbeit aus, die ihren Sinngehalt gerade daraus bezieht, dass sie eine Lösung für die Allgemeinheit darstellt. Sein Sittlichkeitsvorbehalt lässt schon vermuten, dass Herr von Quant sich nicht in politischer oder gemeinwohlbezogener Form engagiert, denn um den von ihm avisierten gesellschaftlichen Fortschritt herzustellen, bedürfte es zunächst eines veränderten moralischen Bodens. Von der Theorie der vielen kleinen Schritte hält Herr von Quant nicht viel, denn gesellschaftliche Veränderungen könnten durch den Einzelnen nicht vorangetrieben werden ((B)VII.8 UvQ 4). Dennoch ist es ihm ein Anliegen, sich politisch zu informieren, Zusammenhänge zu verstehen und darauf seine politische Position zu begründen. Dies unternimmt er vor allem im Kreis seiner Freunde und in Internetforen, nicht jedoch in einer größeren Öffentlichkeit oder in institutionell organisierter Form ((B)VII.12 UvQ 6). Auf Nachfrage der Interviewerin entsteht nicht nur ein Bild einer engagierten und inhaltlich informierten politischen Haltung und eines 263
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Interesses an der Lösung gesellschaftlicher Probleme wie der Armutssicherung und der Einkommensverteilung, sondern je konkreter die Ebene der Deutung wird, desto deutlicher tritt die Gemeinwohlbindung Herrn von Quants hervor. Die ist allerdings an Partikulargemeinschaften gebunden. Selbstverständlich und bedeutsam ist für ihn, sich innerhalb seiner Peergroup – Freunde, mit denen er in einer Wohngemeinschaft wohnt oder mit denen er Musik macht oder Rad fährt – um das Wohl derer zu sorgen, die ihm am Herzen liegen. Anteilnahme und tatkräftige Hilfe sind konkrete Formen der aufzufindenden Reziprozität, unmittelbarer Sittlichkeit. An die Stelle einer familialen Bewährung setzt Herr von Quant damit eine selbst gewählte Gemeinschaft. Entsprechend bedeutsam ist es für ihn (sehr sehr wichtich), sich mit Leuten seines Vertrauens zu treffen und über allerlei Zeugs sich austauscht und quatscht. Das nimmt ziemlich viel Zeit in Anspruch ((B)V.2 UvQ 1). Der Freundeskreis wird hier zum wichtigen Ort der Anerkennung als Person, die Treffen mit den Freunden dienen der Zerstreuung und des Austauschs. Im Unterschied zum Feld familialer Bewährung ist die sittliche Verantwortlichkeit für den Bildungsprozess von Schutzbedürftigen hier nicht erfordert. Die unbedingte Zuverlässigkeit, wie sie den Idealfall elterliche Fürsorge kennzeichnet, weicht einer weniger verbindlichen Form des Zusammenseins und -lebens. Dies entspricht sowohl der rekonstruierten Struktur Herrn von Quants als auch seiner getroffenen Entscheidung, keine Erziehungsverantwortung zu übernehmen. Die unmittelbar erlebbare Glaubwürdigkeit in konkreten Partikulargemeinschaften stiftet für Herrn von Quant die Vertrauensbasis, die er aufgrund der erfahrenen Kränkung benötigt. Seine Peergroup-Verankerung beruht zudem auf gemeinsamen Interessen und Aktivitäten. Auf die Frage, was ihm im Leben besonders wichtig ist, antwortet Herr von Quant, das sei, gute Musik machen und gute Musik hören ((B)IV.2 UvQ 1). Er spielt als Schlagzeuger in einer Cover-Band, die einmal pro Woche probt. Das Musizieren geschieht aus Selbstzweck, aus Spaß an der Freude ((B)IV.4 UvQ 2), weder Berühmtheit noch Reichtum sind Antriebe für das gemeinsame Spiel. Einmal im Jahr treten sie auf, für unsere eigene Gaudi aber mehr (ebd.). Eigene Musik zu schreiben, gehört nicht zu Herrn von Quants Anliegen. Wichtiger ist für ihn das Gefühl beim selber Spielen, […] wenns mit den andern in der Band; gut klappt ((B)IV.18 UvQ 9). Im Zusammenspiel entsteht ein Gemeinschaftswerk, in dem sich der Einzelne als notwendiger Teil der Gemeinschaft erlebt, die erst das Werk hervor bringt. Herr von Quant betont auf Nachfrage, dass das Werk nicht beliebig ist, sondern das gemeinsame Musizieren verursacht ihm Freude, wenn das Zusammenspiel gelingt ((B)IV 26 UvQ 13) im Unterschied etwa zum ge264
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
meinsamen Zusammenbauen eines Tisches von Ikea. Der Überschuss an Freude liegt dabei in der Differenz des Gegenstandes (Tisch versus Musik), aber auch der Art der Herausforderung: Selbst wenn die CoverBand Stücke anderer Gruppen nachspielt, ist doch das Ergebnis nicht standardisierbar. Auch eine Cover-Band interpretiert die Vorlage, es entsteht etwas Neues, Eigenes, in dem sich das Subjekt des Werks vergegenständlicht. Auch lässt sich das Gelingen des Zusammenspiels nicht planen und standardisiert produzieren, sondern nur im gemeinsamen Schaffensprozess originär herbeiführen. Die Hingabefähigkeit von Herrn von Quant, die sich schon in der Rekonstruktion seiner beruflichen Tätigkeit an solchen Stellen zeigte, an denen er gefordert war, neue, eigene Lösungen zu finden, kennzeichnet auch seine Haltung zu anderen Aktivitäten, die er – wie im Fall der Musik – der Freizeit zuschlägt. Doch auch seine Neigung zum forschenden Blick – das Wissen Wollen – findet sich nicht nur im Berufsbereich, sondern ebenso beim Musikhören als ein Beispiel für seine weiteren Interessengebiete. (B)IV.14 UvQ 7 […] Und das is; wenn man dann Zusammenhänge entdeckt, wie man(.) wenn man merkt da hat der Komponist sich folgendes gedacht, deswegen kommen jetz die Streicher genau in diesem Staccato, (I: Mmh) (.) und(.) es passiert genau, das was der Komponist, verursachen wollte nämlich das sich irgendwie die Nackenhaare hochstellen, dann is dat toll! (I: Ahaa,) Dann stelln sich nämlich erstens die Nackenhaare hoch, und die Musik funktioniert so wie sie soll, als(.) Träger von Emotionen, und zweitens hat man auch rausgefunden warum. (I: Mmh,) Das macht sehr viel Spaß.
Herr von Quant schildert hier einen Erkenntnisvorgang, der ihn im Erleben erfüllt (sehr viel Spaß). Den angefangenen Gedanken, eine Einschätzung, wie etwas (das) ist, unterbricht er mit der konkreten Darstellung der Entdeckung eines Zusammenhangs. Dabei wechselt der Blick kurzfristig zum Hervorbringer der Zusammenhänge (wie man) und wieder zurück zum Rezipienten (wenn man merkt). In der Wahrnehmung der Musik geht es Herrn von Quant nicht nur darum, sich führen zu lassen, sondern um die Erkenntnis des Vorgangs der Führung, die er als Intention dem Komponisten zuschreibt. Er beschreibt hier ein analytisch distanziertes Zuhören und Aufnehmen. Indem er selbst erkennt, wie es dem Komponisten gelingt, seine Intention zu verwirklichen, und dies am eigenen Leib erfährt, vollendet sich der Hörgenuss zu einem Erlebnis (dann is dat toll). Herr von Quant beschreibt sehr genau diesen zweistufigen Prozess der Erfahrung als erstens leibliches Erleben der Musik und zweitens als rationale Erkenntnis der Funktion der kompositorischen 265
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Entscheidung (Träger von Emotionen), also der Reflexion seines Schauderns bzw. seiner Ergriffenheit (Nackenhaare hochstellen) als Ergebnis eines funktionierenden Zusammenhangs. Der Musikgenuss sei durch seinen Drang wissen zu wollen, warum etwas auf diese Weise funktioniert, enorm gestiegen. Die Analysefähigkeit habe sich dabei gerade durch das eigene Musizieren entfaltet. Die Dialektik von Wahrnehmung und Ausdruck zeigt sich hier im Unterschied etwa zu den Fällen Spenzel (Felder Beruf und Familie) oder Schulz (Feld Familie) auf dem Feld der ästhetischen Erfahrung und in entgegen gesetzter Richtung als es intuitiv nahe liegt etwa im Vorgang des Einatmens und Ausatmens: Durch den Ausdruck (Musizieren) wächst die Wahrnehmungsfähigkeit. Im Fall Herrn von Quants findet sich eine Sachbindung daher sowohl in den beruflichen Aufgaben als auch – und entlastet von Verwertungsvorbehalten unmittelbarer und stärker – im außerberuflichen Feld der Musik. Seiner Fallstruktur entsprechend erfährt er hier eine sachbezogene Verwirklichung.
2.3 Geschlechterbezogenes Resümee im Fallvergleich In den hier rekonstruierten männlichen Fällen findet sich ebenso wie in den weiblichen eine deutliche leistungsethisch begründete berufliche Bewährung. Ihr kommt auch dann ein dominanter Status zu, wenn sie zeitweilig nicht erfüllt ist, wie bei Herrn Schulz während seiner Elternzeit, oder nebenberuflich erfolgt wie bei Herrn Blöker-Olbert. Auf den ersten Blick zeigen die beiden letzten Fälle einen bei den Männern stärker sachgebundenen Bezug zur beruflichen Tätigkeit als bei den Frauen, der dem Stereotyp männlicher Sachbezogenheit versus weiblicher Bindungsbezogenheit entspricht. Doch im Vergleich der Fälle Schulz und von Quant mit dem Fall Blöker-Olbert relativiert sich dieses Phänomen und macht eine Differenzierung nötig: Er repräsentiert in dieser Fallzusammenstellung den Typus einer modernen Pflichtethik, die in Passung zu seiner Fallstruktur instrumentelle Züge aufweist. Das Vereinbarkeitsproblem von familialen und beruflichen Bewährungsantrieben tritt bei den Männern deutlich schwächer zutage als bei den Frauen. Selbst wenn es zu zeitweiligen Lösungen kommt wie bei Herrn Schulz, so fehlen hier doch jegliche Anklänge an einen Legitimierungsdruck in seinem Verständnis von Vaterschaft. Statt in einen vergleichbaren kulturellen double bind zu geraten wie es bei Frau Grebe deutlich wurde, kann Herr Schulz das Sinnpotential dadurch steigern, dass er unbelastet von normativem Druck ein weiteres Bewährungsfeld für sich realisiert. Dass Männer gegenwärtig dennoch einer Begründungsverpflichtung unterliegen, wenn sie sich familialen Aufgaben ent266
IV. BEWÄHRUNG VON FRAUEN UND MÄNNERN
ziehen, zeigt sich eindringlich im Fall von Quant. Seine Entscheidung gegen eine Familiengründung untermauert er mit starken Argumenten mit Bezugnahme auf gesellschaftliche Verhältnisse. Der Möglichkeitsraum, innerhalb dessen Männer ihre Entscheidungen zur Lebensführung treffen, unterscheidet sich damit nicht faktisch, wohl aber in der normativen Ausdeutung der Handlungsentscheidungen von dem der Frauen. Die zu bewältigenden Widersprüche sind damit in der männlichen Biografie abgefedert durch eine Anerkennungsordnung, die Männern eine aktive Vaterschaft nicht abverlangt und insofern einen Surplus an Wertschätzung bringt, wenn sie sich trotzdem dafür entscheiden, für ihre Kinder Fürsorgetätigkeiten zu übernehmen. Der Fall Schulz führt Bedingungen vor Augen, die für die Übernahme von Fürsorge förderlich sind. In seinem Herkunftsmilieu ist ein gefestigter Habitus relativ großer Autonomie konstituiert und hat ihn eine starke Bindungsfähigkeit ausbilden lassen. Dieser Habitus steht auf der Ebene der Gestaltung der Paarbeziehung in Passung zur Entscheidung partnerschaftlicher Elternschaft. Sein berufliches und privates Umfeld gewährleistet zudem die Anerkennung seiner Entscheidungen. Für ihn gilt das Hindernis einer Ausdeutung von Männlichkeit, die auf den Status des Familienernährers fokussiert ist, nicht. Es wird aber auch bei den Männern deutlich, dass sie vergleichbar zu den Frauen unter einem starken Bewährungsdruck stehen, den sie durch das Ringen um authentische Entscheidungen zu bewältigen versuchen. Die in den weiblichen Fällen rekonstruierten Unsicherheiten bezüglich biografischer Weichenstellungen finden sich auch bei den Männern. Sowohl bei Herrn Blöker-Olbert als auch bei Herrn von Quant sind Transformationen von Haltungen und Zielsetzungen hervorgetreten. Dieser Befund widerspricht dem Stereotyp männlicher Entscheidungsfreude und Klarheit der (Lebens-)Ziele. Ebenso lassen diese Phänomene keine geschlechtsbezogenen Entscheidungslinien erkennen, sondern die zu bewältigenden Herausforderungen entspringen der Spannung des modernen Subjekts. Die Transformationen liegen in beiden Geschlechtergruppen allerdings nicht auf der Ebene der Fallstrukturen, was für die Annahme spricht, die Habitusbildung sei bis zum Ende der Adoleszenz im Wesentlichen abgeschlossen. Der These einer lebenslangen Subjektbildung steht dies entgegen, insbesondere in der (de-)konstruktivistischen Fassung eines flexiblen und fluiden Selbst. Stattdessen liegen sie auf der Ebene der zum ausgebildeten Habitus in Passung stehenden Ausrichtungen der beruflichen, familialen und gemeinwohlbezogenen Tätigkeiten. Der so angezielten Annäherung der biografischen Entscheidungen an den fallspezifischen Habitus kommt die Funktion einer Steigerung von Authentizität zu. Es zeigt sich hier noch267
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mals, wie schon im Resümee der weiblichen Fälle, die Bedeutung der gelingenden Herstellung von Identität. Entgegen poststrukturalistischen Subjektkonzeptionen kann dies als Beleg gelten sowohl für die Möglichkeit als auch für die Notwendigkeit und biografische Bedeutung von personaler Kohärenz.
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V. S C H L U S S – S I N N S T I F T U N G
UND
GESCHLECHT
Die Schlussbetrachtung steht unter der thematischen Klammer, inwieweit sich die Bewährungsdynamik als Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Formen der Anerkennung, der Integration und des Geschlechterverhältnisses erweist. Die hier verhandelte Fragestellung, worin das moderne Subjekt in seiner Geschlechtlichkeit Sinn in seinem Leben findet, ist selbst eine moderne und – gemessen am Stand der Forschung und der geführten Kontroversen – eine äußert unmoderne zugleich. Schon die Rede vom Subjekt bedarf der Legitimation, denn in den postmodernen oder auch den modernisierungstheoretischen Diskussionen ist es als fragmentiertes und flexibles kaum noch anzutreffen. Modern ist die Fragestellung, weil erst steigende Optionen der Lebensgestaltung und eine Vervielfältigung von Deutungsmustern zur Begründung des eigenen Handelns die Frage nach einer sinnvollen Führung des Lebens in ihrer Radikalität aufkommen lassen. Erst wenn das Subjekt sich selbst nach seinen Wünschen und Lebensvorstellungen befragen kann, eröffnet sich die Möglichkeit einer Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Darin zeigt sich die Janusköpfigkeit der Moderne: Größere Chancen der Selbstbestimmung gehen mit zugleich steigendem Risiko des Scheiterns einher. Ob dies aber mit einer neuen Gesellschaftsdiagnose in den schillernden Begriffsangeboten auf dem soziologischen ‚Markt der Erklärungen‘ verbunden werden muss, darf bezweifelt werden. Ob ‚reflexive Moderne‘ oder ‚Postmoderne‘, ‚Risikogesellschaft‘, ‚Arbeitsgesellschaft‘ oder ‚Tätigkeitsgesellschaft‘, hier werden Facetten einer Dynamik zum Kennzeichen eines Neuen stilisiert, die gerade integraler Bestandteil der Moderne selbst ist. Die zentrale These dieser Arbeit lautet daher: Im Prozess der fortschreitenden Rationalisierung und Individuierung kommt die Moderne zu sich selbst, realisiert 269
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sich deren Potenzial der Autonomieentwicklung des Individuums und seiner Freiheit. Es ist eine Freiheit von Zwängen, die auf traditional respektive religiös gebundene Deutungsmuster des richtigen Lebens zurückgehen. Von diesen losgelöst – so stand zu vermuten – würde sich auch derjenige Begründungszusammenhang einer Geschlechterdifferenz auflösen oder an Relevanz verlieren, der auf traditionale Ausdeutungen der Geschlechtlichkeit zurückgeht. Insofern stellte sich als zentrale Frage: Unterscheiden sich die Antworten auf die Sinnfrage überhaupt (noch) zwischen Männern und Frauen? Grenzenlos ist diese Freiheit nicht, auch nicht fair im Sinne gleich verteilter Chancen, sie zu realisieren. Ebenso wenig ist sie leicht zu haben. Denn die Möglichkeiten der Lebensführung und die Ausformung der Lebensentwürfe stehen unter dem Einfluss mehrerer Strukturen. Deren Gestalt herauszupräparieren, war eines der zentralen Anliegen dieser Studie. Denn über diesen Weg müssten sich – so die Vermutung – auch Relevanzstrukturen der Geschlechtlichkeit zeigen, wenn es sie geben sollte, ohne vorauszusetzen, was erst Gegenstand der Analyse sein sollte: Differenzen zwischen den Geschlechtern. Die Annahme, dass sich die Frage der Sinnstiftung resp. Bewährungsdynamik als Gegenstand sowie als analytischer Zugriff zur Frage der Gestalt und Relevanz von Geschlechterdifferenzen eignen könnte, lag deshalb nahe, weil sie als universelle Struktur eine konstitutive Lebensbedingung der Gattung beschreibt. Zudem verlangt ihr Verständnis die Sicht auf historisch- und kulturell spezifische Antworten. Diese sind deutlich zu unterscheiden von normativen oder ontologisierenden Prämissen. Insofern versprach die Untersuchung gegenwärtiger Formen der Bewährungsdynamik eine Konkretisierung der allgemeinen Struktur. Die Variationsräume der historisch und kulturell spezifischen Ausdrucksformen der Bewährungsdynamik, die Frage der Emergenz und Transformation waren damit auch thematisches Programm. Es war zunächst nur eine Ahnung, dass über ein präziseres Verständnis der Bewährungsdynamik von Männern und Frauen auch für die unbefriedigend, da oberflächlich geführte Vereinbarkeitsdiskussion als ‚Frauenthema‘ einige grundsätzliche Einsichten zu gewinnen sein müssten. Auf diesem Weg könnte sich die hartnäckig anhaltende Diskrepanz zwischen modernisierter Rhetorik und traditionaler Handlungslogik im Verhältnis der Geschlechter in der Frage der Lebensführung erhellen lassen. Mehr noch: Ließe sich nicht der argumentative Spieß herumdrehen und die Frage, ob sich Geschlechterdifferenzen in verschiedenen Antworten auf die Bewährungsfrage niederschlagen, in die Frage verwandeln, ob es nicht die bewährungsdynamische Struktur ist, in deren Bewältigung sich Geschlechterdifferenzen ausbilden bzw. Relevanz verschaffen? Dies stellt eine subjekttheoretische 270
V. SCHLUSS
Wendung der Differenzfrage dar, die zugleich den Forderungen neuerer Biografie- und Geschlechterforschung (Dausien 1996) entspricht, der zufolge allein eine prozessorale Analyse den komplexen Zusammenhängen zwischen Werden und Sein des Geschlechts nahe zu kommen verspricht (Wetterer 2003). Daran war die Absicht geknüpft, das aus Vorsicht vor Reifizierungen weitgehend stillgelegte Thema geschlechtsspezifischer Sozialisation erneut in Fahrt zu bringen. Zur Annäherung an diese Fragen wurde eingangs (Kapitel II) eine Heuristik entworfen, die nicht nur die Fragestellung aus den theoretischen Erklärungsmodellen der Lebenspraxis und der Bewährungsdynamik (Oevermann 1993 und 1995a) herleitet, sondern die Beschaffenheit des Raums der Möglichkeiten auszuleuchten sucht. Im Spannungsfeld von Möglichem und Faktischem sind die zur Reproduktion der Gesellschaft notwendigen Lösungen grundlegender Handlungsprobleme relevant. Sie bilden den Rahmen der Freiheit in doppeltem Sinn: als notwendige Bedingungen der Möglichkeit ebenso wie als Raum ihrer Realisierung. In ihrem konstitutiven Charakter für die Sozialität als Ganzer bildet die sexuelle, materielle und soziale Reproduktion den Grund, auf dem sich Antworten auf die Bewährungsfrage aufrichten. Deren Form wurde auf die Moderne bezogen in den Dimensionen der Familie, des Berufs und der Gemeinwohlbeiträge konkretisiert. Der Strukturbestimmung Oevermanns folgend, stellt sich einem jeden Menschen als Gattungswesen die Frage nach der Bewährung seines Lebens. Dies geschieht umso bewusster, je fraglicher die Antwort wird. Mit fortschreitender Modernisierung der Gesellschaft wird somit auch die Bewährungsdynamik forciert und die Stellungnahme zum Bewährungsproblem zusehends dem Einzelnen zur Entscheidung gegeben. Im Raum der Möglichkeiten der eigenen Lebensgestaltung muss also eine Antwort auf die Sinnfrage enthalten sein und sie muss im Zusammenhang zu diesen Bewährungsfeldern stehen. Dabei zeigte die kleine Auswahl der hier präsentierten Fallrekonstruktionen, dass die Bezugnahme auf die Lebensbereiche keineswegs gleichmäßig und gleichzeitig geschehen muss. Obwohl ein Schwerpunkt auf solche Fälle gelegt wurde, in denen gut Qualifizierte in die Familiengründung eintreten, weist die Balance zwischen den Feldern breite Variationen auf. Für die Bezugnahme lässt sich daraus schließen, dass ihre Form sowohl für Männer wie für Frauen zur Entscheidung des Einzelnen bzw. des Paares offen ist. Eine Ablehnung etwa einer Familiengründung ist ebenso möglich, wie eine Aufgabenverteilung, die einer traditionalen Geschlechterbeziehung folgt oder nicht. Die individuell schlüssige Begründung in einem vergrößerten Möglichkeitsraum für Handlungsentscheidungen ist das eigentlich Neue an der gegenwärtigen Konstellation. Insofern kann Selbstverwirklichung äußer271
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
lich in traditionalem Gewand erscheinen. Der Begründungsaufwand jedoch, der stets um die Passung der Entscheidung zur Person kreist, ist überaus deutlich. In der Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern ist auch die Integration des Einzelnen konstituiert: Sinnstiftung kommt nicht ohne Anerkennung aus und gelingt nicht ohne Integration in die Sozialität als Ganzer. Sie wurde mit der Struktur asymmetrischer Gleichwertigkeit der drei Bewährungsfelder beschrieben. Wesentlich für die Sozialität und damit auch für die Integration des Einzelnen ist die Ausbildung einer Logik der Reziprozität. In der sittlichen Kooperation als Selbstzweck integriert sich der Einzelne im Handeln, dies nicht als bewusst vollzogener intentionaler Akt, sondern als Ergebnis seiner Erfahrung der bedingungslosen Anerkennung, wie sie idealtypisch zuerst und grundlegend in der Primärgemeinschaft der Familie erfahren wird. Integration ist schon geschehen, noch bevor der Einzelne heraustritt aus dem prägenden Kollektiv der signifikanten Anderen (Mead 1973) und sich auf den Weg macht, sein eigenes Leben zu entwerfen und diesen Entwurf zu verwirklichen. Sie vollzieht sich auch, bevor er sich in der Logik des Äquivalententauschs zu bewähren sucht im Feld der marktvermittelten Leistungserbringung. Integration in einem so verstandenen Sinn steht einem auf Teilhabe an der (Erwerbs-)Arbeit verengten Integrationsverständnis entgegen, wie es insbesondere in der Arbeits- und Industriesoziologie verbreitet ist sowie in Teilen der Frauenforschung. Das hier entwickelte, umfassende Konzept von Integration fußt nicht nur auf theoretischen Überlegungen, sondern davon zeugen auch die Fallrekonstruktionen. Diese basale Form der Integration qua Anerkennungserfahrung durch die konkrete Primärgemeinschaft verlangt allerdings vom Heranwachsenden eine Abstraktionsleistung, um auch die verallgemeinerten Formen der Integration wahrnehmen zu können. Der Einzelne ist Teil eines übergeordneten Sozialgebildes wie des Nationalstaats als umfassender Gemeinschaft, indem er sein Handeln und Sein als nützlich für einen sich selbst übersteigenden Zweck erfährt. Besteht ganz allgemein gesprochen der Zweck in der Reproduktion und Fortentwicklung des Gemeinwesens, so stellen die Bewährungsfelder in ihrem konstitutiven Charakter zugleich Integrationsfelder dar. Die Erfahrung der Sinnstiftung geht mit der Erfahrung der Integration einher. Für beide Erfahrungsebenen ist in der abstrakten Form des erwachsenen Erlebens die Anerkennung ebenfalls abstraktifiziert. Sie sind eingebettet in eine umfassende Anerkennungsordnung, wie das Kollektiv allgemeiner Anderer sie bereitstellt. Sie bedarf also einer Bindung an das Gemeinwohl. Denn damit die Antwort auf die Sinnfrage Gültigkeit für sich beanspruchen kann im Sinne einer Evidenz vor einem Kollektiv, muss die 272
V. SCHLUSS
spezifische Antwort anschlussfähig sein an die Anerkennungsordnung. Diese ist zwar im Sinne der Vervielfältigung normativ gestifteter Handlungsmöglichkeiten und Deutungsangebote im Vergleich zu vormodernen Gesellschaftsordnungen offener und variabel, aber sie ist nicht beliebig. In Gestalt des Bewährungsmythos als Erzählung über das Erwünschte und Wertgeschätzte spiegelt sich die Anerkennungsordnung wider. Sie liegt auch den politischen Entscheidungen zugrunde. Die Art der Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern – ablehnend oder zustimmend, reproduzierend oder transformierend, spezifisch nach Geschlecht, Ethnizität, sozialem Herkunftsmilieu oder diese Strukturdifferenzen übergreifend – dies alles wird wenn auch nicht determiniert, so doch entscheidend beeinflusst von verfügbaren, anerkannten, kollektiven Ausdeutungen der Bedeutung der Felder, der Geschlechtlichkeit und weiterer gruppenbildender Differenzen. Hieran wird deutlich – auch dies hat sich als ein Ergebnis im Gang der Argumentation erwiesen –, dass die Relevanz von Strukturen für die Antwort auf die Sinnfrage über die deutende und handelnde Praxis hergestellt und aktualisiert wird. Nicht nur im faktischen Handeln, sondern auch in den Begründungen solcher Handlungsentscheidungen also den Deutungsmustern werden die gegenwärtig wirksamen Ausdeutungen rekonstruierbar. In der hier vorgelegten empirischen Untersuchung ging es genau darum, im Brennglas der Fallrekonstruktionen die allgemeine Wirksamkeit von Bedeutungen der Strukturebenen für Sinnbezüge und Anerkennung heraus zu präparieren. Im Unterschied zu konstruktivistischen und diskursanalytischen Forschungsperspektiven haben Deutungsmuster in dem hier verfolgten konstitutionstheoretischen Verständnis immer einen faktischen Bezug zur doppelten Realitätsebene der objektiven Möglichkeit einerseits und der objektiven Wirklichkeit andererseits. Deutungsmuster stellen Prädikate eines konkreten Entscheidungsproblems dar. Sie sind in diesem Verständnis bewährte Krisenlösungen, die zu Routinen im Umgang mit Handlungsproblemen geworden sind. Ohne diesen Realitätsbezug wäre die Prädizierung und Ausdeutung nicht erzwungen, sie hätte keinen Bestand, sie käme nicht einmal in die Welt. Doch sind ihre konkrete Gestalt und deren Relevanz veränderlich im Prozess der Ausdeutung der Realitätsebenen. Eine Transformation vollzieht sich insbesondere dann, wenn die Routine, die durch die Deutung eingestellt ist, ihre Bewährtheit verliert, etwa weil sich das Handlungsproblem verändert hat oder sich die Lösung nicht mehr als angemessen erweist. Das gilt sowohl für den Einzelnen als auch auf gesellschaftlicher Ebene für die Ausgestaltung tragender Institutionen, Rechtsverhältnisse und Politikfelder. Das gilt ebenso für die Strukturebene der Geschlechtlichkeit der Praxis. Die Veränderungen der Ausdeutung des Geschlechts für die 273
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Lebensführung, der allgemein zu beobachtende Freiheitsgewinn, die nachholende Modernisierung der Frauenleben sind so offenkundig, dass sich die Frage nach bewährungsdynamischen Differenzen zwischen den Geschlechtern tatsächlich stellt: Können heute noch Männer und Frauen zu unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach dem Lebenssinn kommen? Wenn ja, dann müssten sich diese Differenzen auf eine grundlegende Unterscheidung zwischen den Geschlechtern beziehen. So sollte die Untersuchung der Bewährungsdynamik nach Geschlecht auch Hinweise auf Geschlechterdifferenzen geben. Mit einem solchen konstitutionstheoretischen Zugang zur Analyse sozialer Wirklichkeit wie er in der objektiven Hermeneutik verfolgt wird und dieser Studie zugrunde liegt, stellt man sich in den Gegenwind derzeitiger methodologischer Kontroversen ebenso wie gängiger Zeitdiagnosen. Während letztere die Annahme eines kohärenten Selbst, einer Identität oder des Subjekts, ebenso wie Begriffsschemata der Freiheit, Autonomie oder Authentizität für nicht mehr tragfähig und ontologisierend verkürzt halten, geht es auf methodologischer Ebene um eine Kritik an der Objektivitätsbehauptung von Strukturen. Als kategorisch und normativ gesetzt werden die Thesen oft wahrgenommen, als Prämissen, die den Nachweis ihrer Begründung vermissen lassen, als zu wenig offen für Transformationen, für die offensichtliche Vervielfältigung der Lebensformen und Arbeitsbedingungen, für die Neuschneidung sozialer Differenzen und Hierarchien (vgl. etwa Strübing 2006). Wo diese Kritik über ein bloßes Missverständnis hinausgeht, ist sie ernst zu nehmen. Wenn ein Einfallstor für Missverständnisse geboten ist, fehlt das Argument. Dies wird insbesondere bei universellen Strukturen besonders augenfällig und bei solchen, die normativ gehört werden, aber nicht gemeint sind. In der sensiblen Frage der Relevanz von Geschlecht, der Untersuchung von Geschlechterdifferenz und – wie es hier geschieht auch von Subjektkonstitution – ist schon im Einstellen des Fokus eine Plausibilisierung gefragt, die nicht nur den methodologischen Zugriff umfasst, sondern auch die Auswahl des Gegenstandes und zentraler Begriffe, die zu einem besseren Verständnis der Lage der Dinge verhelfen sollen. Eine Geschlechterdifferenz zu behaupten und sie als grundlegend auch für geschlechtsspezifische Bewährungsdynamiken zu konstatieren, wie Oevermann (2003b: 373) es vornimmt, ist ein Beispiel für eine solchermaßen abgekürzte Redeweise. So wurde über das strukturtheoretische Angebot von Oevermann in Bezug auf die Modelle der Lebenspraxis und der Bewährungsdynamik hinaus seine These einer Geschlechterdifferenz der Bewährung nicht übernommen, sondern zunächst theoretisch anhand der Angebote aus der Geschlechterforschung beleuchtet und sodann als offene Frage an 274
V. SCHLUSS
die empirische Analyse weitergereicht. An dieser Stelle nun beginnt das abschließende Resümee. War in den Fallrekonstruktionen bereits auf das Allgemeine, das die Besonderheit des Falles offenbarte, hingewiesen worden, so werden hier nun die fallrekonstruktiv gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst (1) und zur Analyse des Geschlechterverhältnisses als Effekt geschlechtsdifferenzierender Konstitutionsprozesse des Subjekts verdichtet (2). Im nächsten Schritt werden die Ergebnisse zu einem Modell hin generalisiert, das die Bewährungsdynamik als analytischen Zugang zur Erklärung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisendynamik nutzt (3). Schließlich verweisen Konsequenzen dieser Analyse auf einen Handlungsbedarf und lassen offene Forschungsfragen im Anschluss daran hervortreten (4).
1. Ergebnislinien der biografischen Bewährung in der Geschlechterperspektive Welche Früchte sind aus der Analyse der gegenwärtig auffindbaren Formen der Bewährungsdynamik nun zu ernten? Hat sich diese Blickrichtung als ertragreich erwiesen für das Anliegen dieser Studie, Struktur und Dynamik im Verhältnis der Geschlechter zu erkennen und Geschlechterdifferenzen im Zusammenhang zur Bewährungsdynamik zu beleuchten?
1.1 Radikalisierung der Bewährungsdynamik Der Bewährungsdruck zeigt sich in allen Fällen eindringlich als hohe Anforderungen an selbst bestimmte und der Selbstverwirklichung dienende biografische Entscheidungen. Das betrifft nicht nur die Berufswahl und -tätigkeit, sondern auch die Art der Übernahme familialer Aufgaben sowie gemeinwohlbezogenes Engagement. Anklänge an konventionelle Entscheidungsmuster – die Nachfolge im Beruf der Eltern etwa oder die Berufsunterbrechung von Frauen zur Familiengründung – treten als begründungsbedürftig in Erscheinung. Zur Begründung werden Plausibilisierungen mobilisiert, die geeignet sind, einen Zweifel an der Authentizität der Entscheidung auszuräumen („das ist auch wirklich das, was ich will“, Herr Schulz). Es ist der hohe Begründungsaufwand, der auf die gestiegene Bedeutung individuierter Lebensführung hinweist. Nur vordergründig deckt sich dieses Ergebnis mit den unter dem Stichwort der „Individualisierung“ (Beck) geführten Debatten oder mit den als „Wertewandel“ (Bell, Inglehart, Klages) bezeichneten veränderten Haltungen zur Lebensführung. Denn anders als jene Studien weisen 275
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
meine Rekonstruktionen eine hohe sachliche wie kollektive Bindung der Fälle aus. Weder herrscht ein „ichzentriertes Weltbild“ (Beck 1986) vor, das allenfalls eine soziale Verankerung in partikularen und nur temporär gültigen Gemeinschaften von „Sinnbastlern“ (Hitzler/Honer 1994) erfährt. Noch droht der Einzelne, sich aus hedonistischen Motiven Leistungsanforderungen zu entziehen und Selbstverwirklichung als Gegensatz zu beruflicher Bewährung zu verstehen. Eher findet sich die These von Hörning u.a. (1990) bestätigt, der zufolge hohes berufliches Engagement und ein deutlicher Anspruch auf eine selbstbestimmte Lebensgestaltung Hand in Hand gehen. Selbstverwirklichung konnte anhand der Fallrekonstruktionen konzipiert werden als authentische Realisierung der Autonomiepotenziale, die die fortschreitende Moderne durch eine zunehmende Offenheit von Handlungsentscheidungen ermöglicht. Authentisch meint hier die Passung der Entscheidung zur Person und ihrem Habitus sowie ihren Überzeugungen. Es geht dabei um die Herausbildung personaler Kohärenz im Lebensverlauf. Da Kohärenz in dieser Studie als ein dialektisches Wechselverhältnis zwischen den Antrieben des Einzelnen und der Anerkennungsordnung verstanden wird, betrifft das Ringen um Authentizität immer auch eine individuierte Positionierung zu den dominanten Momenten der Anerkennungsordnung. Daher zeigen sich die Entscheidungen (hier exemplarisch in den Fällen) so wenig beliebig wie konfliktfrei. Sie bleiben bezogen auf den Rahmen, in dem Sinnstiftung durch das Kollektiv eröffnet ist, ohne von diesem determiniert zu sein oder in einer bloßen Anpassung an die bestehende Ordnung aufzugehen. Wie weit aber die Freiheit zur Entscheidung und deren Begründung reicht, ob eine Autonomie im emphatischen Sinne des selbstbestimmten Subjekts überhaupt ein angemessenes Konzept ist, inwiefern sie überformt ist von hegemonialen Diskursen, wie es im Kontext einer an Foucault (1992) orientierten diskursanalytischen Perspektive angenommen wird, oder einer bloßen Fiktion von Souveränität unterliegt, wie Beck u.a. (2001: 43ff.) konstatieren, kann nun anhand der Fälle betrachtet werden. Die besondere Herausforderung der fortschreitenden Moderne besteht für den Einzelnen gerade in der Verwirklichung von Autonomie als dem selbst begründeten Handlungsvollzug, sieht dieser nach außen hin auch noch so konventionell aus (wie etwa Frau Zillers Entscheidung, sich ausschließlich um die Kindererziehung zu kümmern). Das Selbst verwirklicht sich nicht, indem es um sich selbst kreist – wie der Begriff assoziativ nahe legt – oder indem es sich als de-facto-Subjekt (ebd.) der Unmöglichkeit einer Subjektgrenzziehung gegenüber sieht und Identitätsbildung als Fiktion verwirft. Sondern Subjekt- wie Identitätsbildung vollziehen sich in Auseinandersetzung mit selbst gewählten Aufgaben. 276
V. SCHLUSS
Die Fallrekonstruktionen haben gezeigt, dass dieser Prozess über die beiden Wirkungsrichtungen der Wahrnehmung im Sinne des Erkennens und Ergreifens von Handlungsproblemen und des Ausdrucks des Selbst in der Problemlösung zu verstehen ist (vgl. Abbildung 2). Welche Sache dabei von Belang ist, also evident und sinnstiftend zu sein verspricht, war für alle drei Felder der Bewährung in den Interviews thematisiert und in deren Analysen rekonstruiert worden. Abbildung 2: Prozess der Selbstverwirklichung Selbstverwirklichung Wahrnehmung
Familie
Ausdruck
Erkennen und Ergreifen von Handlungsproblemen
Beruf
Selbsterfahrung in
Gemeinwesen
Problemlösungen
Für Frau Grebe ist die berufliche Tätigkeit das dominante Feld der Selbsterfahrung und -entfaltung. Die Sinnstiftung ist für sie unlösbar mit der Wahrnehmung ihrer beruflichen Fähigkeiten und der unmittelbaren Anerkennung ihres Selbst-Ausdrucks in der Bewältigung der Handlungsanforderungen verbunden. Ihre Selbstbehauptung vollzieht sich in dem Zweischritt, über das Können ihr Sein zu positivieren (dass ich was kann dass ich wer bin). Für ihre Erfahrung der Anerkennung ist die Passung ihrer Person und ihrer Vorstellungen zu den Anforderungen konstitutiv (dann fühlt sie sich wohl und gut aufgehoben). Herr Blöker-Olbert umgreift mit seinem Antrieb zum Bewirken alle Bewährungsfelder gleichermaßen. Ob es die Fürsorge für seine Tochter ist, seine berufliche Nebentätigkeit, sein Studium oder ehrenamtliches Engagement, er will in verschiedenen Bereichen viel anstoßen, viel bewegen, viel machen. Sein ausgeprägter Aktionismus folgt einer Sorge vor Fremdbestimmung. Rastlos sucht er wechselnde Tätigkeiten auf, um in Wahrnehmung vieler Einblicke eigene Ansprüche zu erfüllen und seinem Willen zu gestalten und zur Verantwortungsübernahme Ausdruck zu verleihen. Auch für Frau Spenzel und Herrn Schulz bieten alle Felder gleichermaßen Potenziale sowohl für Anregungen als auch für gestaltende Einflussnahme, also für eine Erfahrung sinnerfüllten Handelns. Frau Spenzels Antrieb ist aus einer Neugierde und dem Willen zu wissen gespeist, auf dessen Grundlage sie sich Ausdruck verschafft, sei es in der beruflichen Gestaltung einer wissenschaftlichen Zeitschrift oder in ehrenamtlicher politischer Tätigkeit. Doch auch die Erziehung ihrer Kinder nimmt sie als Anregung wahr, die die anderen Felder um ein weiteres 277
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
ergänzt, in dem sie Entwicklungen nachvollziehen und sich gestaltend ausdrücken kann. Herr Schulz beschreibt die Balance zwischen Familie und Beruf in ähnlicher Weise wie Frau Spenzel als notwendige Ergänzung von Wahrnehmungs- und Gestaltungsräumen. Sein Antrieb, eine Aufgabe hundert Prozent ohne Gewissensbisse zu erfüllen, ähnelt auch Frau Spenzels Anliegen, ihre Vorhaben ganz gut zu bewältigen. Bei beiden führt ein hoher moralischer Anspruch zu einer zeitweisen Konzentration auf einen der Aufgabenbereiche, ohne die anderen perspektivisch aufzugeben. Im Gegenteil wird das Fehlen der jeweils in den Hintergrund gerückten Felder nur als vorübergehend akzeptabel und die Vielfalt der Erfahrungsräume hoch geschätzt. Frau Ziller, die sich praktisch anders entschieden hat und sich für unbestimmte Zeit auf die Kinderbetreuung konzentriert, nimmt genau dieses Fehlen anderer Erfahrungsmöglichkeiten als Mangel wahr. Als Antrieb ihrer Entscheidungen wurde eine programmatische Haltung rekonstruiert. Durch diese entsteht ihr Gefühl, manchmal hin und her gerissen zu sein. Die Lebendigkeit ihres Selbstausdrucks ist durch die Programmatik der Lebensführung eingeschränkt. So ist ihr Wunsch nach Abwechslung auf eine schemenhafte andere Aktivität gerichtet, die nicht spezifisch mit den beruflichen Verwirklichungsmöglichkeiten verknüpft ist, sondern den Beruf der häuslichen Routine entgegensetzt. Eine Vervielfältigung von Aktivitätsbereichen hat in diesem Fall die Funktion, den Mangel an lebendigem Ausdruck zu kompensieren. Für Herrn von Quant ist es die Musik, die ihm im Wechselspiel von Hören und Musizieren die Erfahrung einer Verbindung von Wahrnehmung und Ausdruck auf unmittelbarste Weise ermöglicht. Zu seiner gesinnungsethischen Haltung steht dieses ästhetische Erfahrungsfeld des Selbst in besonderer Passung, da seine musikalische Aktivität keinerlei Verwertungslogik unterworfen ist. Der Rhythmus von Wahrnehmung und Ausdruck wird in seiner leidenschaftlichen Beschreibung seiner Freude sowohl am Zusammenspiel mit den Mitgliedern seiner Band deutlich als auch im Erkenntnisvorgang, den er beim Hören von Musik erlebt. Beide Prozesse befruchten sich gegenseitig: Durch seinen eigenen musikalischen Ausdruck wächst seine Wahrnehmungsfähigkeit beim Hören von Musik. Seine Neugierde, seine Analysefähigkeit und der Wille zur Kreation von Neuem finden einen Ausdruck etwa in beruflichen Problemlösungen oder dem Zusammenspiel der Band. Die Selbstverwirklichung und Selbstgestaltung, die Eberlein (2000: 7) als „radikal individualisierte Form der Sinnstiftung“ im Individualitätskonzeptes des „romantischen Individualismus“ theoretisch rekonstruiert, zeigt sich in meinen Fallanalysen in ihrer konkret empirischen Erscheinungsform und ihrer Genese als Ergebnis der radikalisierten Be278
V. SCHLUSS
währungsdynamik der fortgeschrittenen Moderne. Entlang der Auseinandersetzung mit Handlungsproblemen wird die Verwirklichung des Selbst allerdings nicht nur als „Konzept“ oder als „Illusion der Moderne“ (ebd.) sichtbar. Sondern die Verknüpfung der Deutungsebene des Bewährungsmythos mit seiner Realisierung durch den lebenspraktischen Vollzug wurde heraus gearbeitet. Dabei kam nicht nur dem beruflichen Feld sinnstiftendes Potenzial zu, sondern – jeweils fallspezifisch motiviert – prinzipiell allen Bewährungsfeldern. Die eingangs aufgeworfene Frage, ob es jenseits oder an der Seite der Leistungsethik einen neuen, verallgemeinerungsfähigen und Evidenz verbürgenden Bewährungsmythos gibt, der zugleich allgemein genug ist, um individuierte Sinnstiftung nicht einem geschlossenen Konzept subsumieren zu müssen, kann in den hier rekonstruierten Formen der Selbstverwirklichung beantwortet werden. Auch die von Eberlein vorgebrachte Begründung der Wirkmächtigkeit dieses Bewährungsmythos findet eine Bestätigung: Er ist leistungskonform und zugleich kompensatorisch zum „Geltungsverlust kollektiver Identitäten und Weltbilder“ (ebd.). Er liefert also ein Deutungsangebot, das den modernen Anforderungen (insbesondere der Orientierung in der Vielfalt der Sinnbezüge) entspricht, ohne mit dem Bestehenden (etwa der Leistungsethik) brechen zu müssen. Wie schwierig sich eine authentische Realisierung der Autonomiepotenziale gestalten kann, haben die Fälle in unterschiedlich ausgeprägter Intensität verdeutlicht. Während Frau Spenzel und Herr Schulz eine relativ souveräne Haltung in der Verwirklichung ihrer Lebensvorstellungen zeigen, findet sich in anderen Fällen eine eingeschränkte Autonomieentfaltung. Für Frau Grebe und Herrn Blöker-Olbert stellt gerade die Selbstbehauptung eine Herausforderung dar, indem sie eine labile Entscheidungsmitte kompensatorisch sichern müssen. In beiden Fällen geschieht dies mittels einer Suche nach Bestätigung durch das Erzielen von Ergebnissen (Blöker-Olbert) und Anerkennung im beruflichen Tätigsein (Grebe). Der ausgebildete Habitus ist dabei konstitutiv für das fallspezifisch eröffnete Autonomiepotenzial und für seine Verwirklichung. Die Sorge Frau Grebes zu scheitern an der Sicherung ihres dominanten Anerkennungsfeldes oder die Angst Herrn Blöker-Olberts vor der Offenheit echter Entscheidungssituationen, entfacht bei beiden eine enorme Bereitschaft zur Aktivität. Zugleich ist die Bindungsfähigkeit begrenzt. Das zeigte sich bei Frau Grebe in der erst allmählich gewachsenen Fürsorgebereitschaft für ihr Kind und in dem der Anerkennungssuche nachgeordneten Sachbezug zur Arbeit. Herrn Blöker-Olberts Bindungsschwierigkeit kam in seiner managerialen Haltung seiner Familie gegenüber sowie in seinem instrumentellen Verhältnis zum beruflichen und gemeinwohlbezogenen Wirken zum Ausdruck. 279
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Je stärker also das Selbstvertrauen und je gefestigter der Habitus, desto stärker die Bindungsfähigkeit nicht nur in Form der Sachbindung z.B. an berufliche Aufgaben, sondern auch in Form der personalen Bindung, etwa in der Fürsorge und Primärgemeinschaft. In der vorgeschlagenen Konzeption von Autonomie nach King (2000b: 368) kommt genau dieses dialektische Verhältnis zum Ausdruck, das zwischen Selbstbezug und Bindung besteht. Verstehen wir Autonomie als gelingende Balancierung dieser widersprüchlichen Einheit, dann ist sie umso realisierbarer, je stärker das Selbstvertrauen ausgebildet ist. Hier zeigt sich die steigende Bedeutung einer gelingenden Sozialisation im Sinne der Ausbildung des Selbstvertrauens, um nicht nur den Herausforderungen moderner Lebensführung gewachsen zu sein, sondern auch zur Entfaltung eines kohärenten Habitus. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass die Anerkennungsordnung und die gegebenen Lebensumstände das Handeln nicht determinieren, sondern die Freiheit der Entscheidungen authentisch, und das heißt auch eigensinnig, ergriffen werden kann. Insbesondere in der Abwehr von Fremdbestimmung – wie sie uns bei Frau Spenzel und Herrn Schulz explizit begegnete – zeigt sich die Bedeutsamkeit der Selbstvergewisserung für die moderne Lebensführung. Deutlich wird hier, dass Freiheit in der Entscheidung nicht nur prinzipiell möglich ist, sondern für die moderne Sinnstiftung auch konstitutiv ist. Es handelt sich jedoch um eine ‚Freiheit in Bindung‘, denn Autonomie in diesem Verständnis ist mit Abhängigkeit verknüpft. Die Abhängigkeit besteht ontogenetisch von Anfang an in der notwendigen Erfahrung von Anerkennung um seiner selbst Willen. Autonomie entsteht auf diesem Boden durch Bindung in der (Primär-)Gemeinschaft und vollzieht sich im Prozess der Subjektbildung über die Bindung an das Gemeinwohl. Diese reziproke Form der Abhängigkeit ist zum einen nicht zu verwechseln mit hierarchischer Abhängigkeit und Unterordnung, worauf bereits Eckart (1990) hingewiesen hat. Zum anderen kann sie nicht als Beleg dienen für die Bestätigung der These von der Souveränität des Subjekts als bloßer Fiktion (Beck u.a. 2001). Denn der FiktionsThese liegt eine undialektische Vorstellung von Freiheit und Autonomie im Sinne einer Unabhängigkeit zugrunde. Unabhängigkeit aber ist gleichbedeutend mit Armut; es handelt sich – wie insbesondere die Fälle Grebe und Blöker-Olbert zu verstehen gaben – um eine Armut an Bindung und Bindungsfähigkeit. Auf dieser allgemeinen Betrachtungsebene – der Frage der Sinnstiftung in der Autonomieentfaltung – finden sich keine Geschlechterdifferenzen. Die Subjekt- und Habitusbildung erweist sich für die Männer und Frauen in meinem Sample als gleichermaßen bedeutsam für eine authentische Selbstverwirklichung. Auch tritt in beiden Geschlechtergrup280
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pen der Anspruch auf eine selbstbestimmte Lebensführung deutlich hervor. Die rekonstruierten Schwierigkeiten in der Autonomieentfaltung gehen eher auf habituelle Differenzen zurück als dass sie sich zwischen den weiblichen und männlichen Fällen unterscheiden lassen. Es ist jedoch nicht unplausibel, einen Zusammenhang zwischen habituellen Dispositionen und der Geschlechtlichkeit der Praxis anzunehmen (Meuser 2006: 116ff.), indem der Geschlechtshabitus als generatives Prinzip für die Krisenlösung in die Subjektbildung eingeht. Dieser Aspekt wird in Kapitel V.2 beleuchtet. Um diesen Schritt vorzubereiten, wird zunächst die Stellungnahme der Männer und Frauen zu den einzelnen Bewährungsfeldern zusammengefasst. In den getroffenen Handlungsentscheidungen und deren Begründung werden geschlechtsspezifische Entscheidungsbedingungen erkennbar, die im Zusammenhang zu habituellen Differenzen sowie zur vorherrschenden Anerkennungsordnung stehen.
1.2 Berufliche Bewährung: Vielfalt der Leistungsethik Eine schwindende Bedeutung der Leistungsethik und der beruflichen Tätigkeiten konnte nicht festgestellt werden. So findet hier Bestätigung, was Voß (1990) in Reanalyse von Umfragedaten konstatierte, dass eher von einer Weiterentwicklung der protestantischen Ethik als ihrem Verfall auszugehen ist. Berufliche Bewährung hat einen herausgehobenen Stellenwert im Lebensentwurf. Dies zeigte sich insbesondere in den Fällen, wo sie aufgrund von Arbeitslosigkeit oder wegen einer Berufsunterbrechung zur Kindererziehung aktuell nicht realisiert wird. Bestätigt wird damit die These einer Verallgemeinerung der beruflichen Bewährung auf Frauen (vgl. z.B. Born u.a. 1996; Scheid 2003). Insofern der hohe Anspruch an eine selbstbestimmte Lebensführung und den herausragenden Stellenwert der beruflichen Bewährung in der Selbstdeutung eines erfüllten Lebens betrachtet wird, lässt sich ein Schwinden der Bedeutung der Geschlechtlichkeit für die Antwort auf die Sinnfrage und die Lebensführung insgesamt erkennen. Auch die vielfältigen Formen der Leistungsethik stehen nicht in Beziehung zum Geschlecht, sondern weisen einen starken Zusammenhang zum Habitus und der fallstrukturellen Prägung auf. Für die Art der Sachbindung ist die Bildungsgeschichte des Subjekts in einem umfassenden Sinne bedeutsam, nämlich verstanden als Erfahrungsgeschichte personaler Anerkennung. Dieses Ergebnis widerspricht den Befunden von Frerichs (1997: 130ff.) auf doppelte Weise: Zum einen treffen die von Frerichs gefundenen, vom Herkunftsmilieu bzw. Klassenhabitus unabhängigen Geschlechterdifferenzen nicht zu. Weder gilt für die Männer meines Samples etwa generell eine größere Sachbindung und Leistungsorientie281
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rung, noch bei den Frauen spiegelbildlich dazu eine stärkere Beziehungs- und Kommunikationsorientierung. Zum anderen zeigt sich der dennoch bedeutsame differenzmarkierende Habitus in Bezug auf die leistungsethischen Ausformungen nicht als vergeschlechtlicht. Die habituelle Prägung der vielfältigen leistungsethischen Bindungen wird im Vergleich der einzelnen Fälle deutlich. Als kompensatorische Leistungsethik (Frau Grebe) wurde eine Form bezeichnet, in der die herausgehobene Bedeutung des Berufs auf eine Sehnsucht nach Anerkennung als ganze Person zurückgeht. Eine schwach ausgebildete Entscheidungsmitte und Selbstachtung liegt hier einer Instrumentalisierung des Berufserfolgs für Zwecke der Selbstbestätigung zugrunde, während der berufsinhaltliche Aspekt der Sachbindung nachgeordnet ist. Daher finden sich in der beruflichen Bindung von Frau Grebe weniger die spezifischen Herausforderungen ihrer Führungsposition als die allgemeine soziale Einbindung. Dieser meist als ein Moment der Sinnstiftung im Beruf herausgehobene soziale und kommunikative Aspekt (vgl. Kapitel II.2) zeigt sich hier als habituell und nicht aus der Handlungslogik der Erwerbsarbeit begründet. Insofern kann der Fall Grebe auch nicht als Beleg für ein ‚geschlechtsspezifisches Arbeitsvermögen‘ (Beck-Gernsheim/Ostner 1978) oder geschlechtsspezifische Berufsinteressen gelten. Die als moderne Pflichtethik auftretende Form (Herr Blöker-Olbert) geht auf den Habitus eines ‚zögerlichen Aktivismus‘ zurück. Dieser ist die fallspezifische Lösung eines Zurückweichens vor der Offenheit in Entscheidungskrisen und einer Sorge vor Fremdbestimmung. Im Aktivismus schließt sich die Offenheit von Erfahrung noch bevor sie sich entfalten kann, während in dieser Fallgestalt selbst auferlegte Ansprüche vor Ansprüchen anderer schützen sollen. Diese fallspezifische Form der Selbstverwirklichung – eine Pflichterfüllung im Sinne der Selbstverpflichtung – vollzieht sich in anspruchsvollen beruflichen Tätigkeiten. Gleichwohl war auch in diesem Fall eine Tendenz zur Instrumentalisierung zu erkennen, die mit der habituellen Angst, in der Offenheit echter Entscheidungen zu scheitern, verbunden ist. Die Sachbindung ist auch hier eingeschränkt. Eine anders gelagerte pflichtethische Bindung an die Erwerbsarbeit trat in Form der programmatischen Leistungsethik (Frau Ziller) auf. Eingebunden in eine nach Kosten-Nutzen-Kalkülen ausgerichtete Lebensführung scheint die berufliche Bewährung hier einem Muster der männlichen Familienmitglieder zu folgen und in der Übernahme des Schemas wenig Lebendigkeit zu enthalten. Vom allgemeinen Interesse an Technik und an der Nähe zur industriellen Verwertung chemischer oder maschinenbautechnischer Erkenntnisse bleiben schließlich allein 282
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der Wunsch nach Abwechslung von der häuslichen Routine und der Verwertung der Bildungsinvestitionen die Bezugspunkte zum Beruf. Eine sachgebundene Leistungsethik – also ihre idealtypische Form im Sinne Webers – wird durch einen gefestigten Habitus befördert (Frau Spenzel, Herr Schulz). Personale, gemeinwohlbezogene und sachhaltige Bindungsfähigkeit gehen hier Hand in Hand und lassen den Selbstbezug und das Verfolgen von Eigeninteressen (wie etwa der Anerkennung der Leistung) im jeweiligen Bereich im Rahmen seiner Eigenlogik erfahren. Der Arbeitsprozess bietet dabei im Gesamt an ästhetischen, sozialen, gegenstandsbezogenen und inhaltlichen Momenten Sinnstiftung (Frau Spenzel), geht also auch hier über eine nüchterne Lösung von Handlungsproblemen hinaus. Der Unterschied zur kompensatorischen Leistungsethik allerdings besteht im führenden Antrieb einer Sachorientierung. Diese ist bei Herrn Schulz deutlich in der Logik seines Berufshandelns als Lehrer verankert. Die fachliche Wissensvermittlung und die pädagogische Unterstützung der Schüler in ihrem Bildungsprozess stellen den Kern seiner beruflichen Bewährung dar. Auch bei Herrn von Quant dominiert eine leistungsethische Bindung an seine Arbeit, obgleich sein Bildungsprozess von schwierigen Bedingungen geprägt ist, die seine Bindungsfähigkeit (etwa im Bereich familialer Bewährung) einschränken. Der These eines positiven Wechselverhältnisses zwischen einem starken Selbstbezug und einer Sachbindung steht dieser Befund zunächst entgegen. In der ironischen Distanz (Computerfutzi, Sphäre höherer Blödsinn), die seine Schilderungen der beruflichen Tätigkeit grundiert, kommt die Brüchigkeit seiner Sachbindung jedoch zum Ausdruck. Je konkreter die Beschreibung seiner Handlungsvollzüge ist, um so mehr dominiert dann aber die Handlungslogik seiner softwaretechnischen Herausforderung seinen Antrieb: In seiner Arbeitshaltung, sich nicht an Arbeitszeiten sondern an der Problemlösung zu orientieren, zeigt sich die Passung seiner Fähigkeiten und Interessen zu seiner inhaltlichen Aufgabe, die trotz der nicht ungebrochenen Sachbindung ein Sinnstiftungspotenzial bietet. Bei allen Unterschieden im rekonstruierten Habitus wird in keinem der untersuchten Fälle die Möglichkeit erwogen, sich der beruflichen Bewährung gänzlich und dauerhaft zu entziehen. Aufschlussreich waren insbesondere die visionären Antworten auf die Frage danach, wie sie ihr Leben gestalten würden, wären sie nicht aus finanziellen Gründen auf eine Erwerbsarbeit angewiesen. Als Visionen herrschen reduzierte Arbeitszeiten vor wie auch die Idee, sich mit vorhandenen Kompetenzen entlang der eigenen Neigungen selbständig zu machen. Beide Lösungen sind durchwoben von einer starken sowohl familien- als auch gemeinwohlbezogenen Bindung. Das gilt überraschenderweise selbst in denje283
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
nigen Fällen, für die oben eine schwach ausgebildete Entscheidungsmitte konstatiert wurde. Es scheint, als würde ein fehlender Druck zur Existenzsicherung geschlechtsübergreifend Potentiale freisetzen, die einer Fürsorge für Kinder oder für pflegebedürftige Familienangehörige sowie einem auf das Gemeinwohl gerichtete Engagement zugute kämen. Auch die imaginierte berufliche Arbeit unter solchen Bedingungen ist trotz der Vorstellung von reduzierten Arbeitszeiten nicht geprägt durch eine verminderte Sachbindung. Im Gegenteil gewinnt in den arbeitsbezogenen Deutungen der Aspekt einer Steigerung der Qualität der verrichteten Tätigkeiten an Bedeutung, sowie einer klaren Prioritätensetzung nach eigenen Standards, verstärkten Bemühungen zur beruflichen Weiterbildung und schließlich zusätzlichen Projekten („zu denen sonst die Zeit fehlt“, Herr Schulz). Hierin kommt noch einmal pointiert zum Ausdruck, worin der grundlegende Handlungsantrieb besteht: Führend ist nicht die Suche nach Anerkennung, sondern nach einer authentischen Verbindung von Wahrnehmung und Ausdruck des Selbst entlang der Herausforderungen. Gelingt dies, kann sich die Erfahrung von Anerkennung als Ergebnis der wahrgenommenen Autonomie im Handeln einstellen, bleibt in ihrer Bedeutung im Verhältnis zum gelungenen Selbstausdruck aber nachgeordnet, zumindest wenn nicht die Anerkennung eine labile Autonomie kompensieren muss. Dies gilt nicht nur für das berufliche Handeln, sondern ebenso für familien- und gemeinwohlbezogene Tätigkeiten. Haben sich bis hierher noch keine Differenzen gezeigt, die der Geschlechtlichkeit der Praxis zuzurechnen wären oder die Relevanz des Geschlechts für die Antwort auf die Sinnfrage begründen würden, so ist in der Gesamtbetrachtung aller Bewährungsfelder zu vermuten, dass sich in ihrem Wechselverhältnis Geschlechterdifferenzen zeigen, sich ihre Relevanz möglicherweise darin erst entzündet.
1.3 Familiale Bewährung: Fürsorge im Schatten der Leistungsethik Die Wahrnehmung des familialen Bewährungsfeldes weist in den Fällen unterschiedliche Formen auf. Selbst der kinderlose Herr von Quant hatte in seiner Begründung gegen eigene Kinder verdeutlicht, dass die Stellungnahme zu einer Familiengründung prinzipiell durch die Bewährungsdynamik eröffnet ist. Eine Entscheidungsbegründung wird dem Einzelnen strukturell abverlangt und ihm auch von der Anerkennungsordnung nicht abgenommen. In allen anderen Fällen wurde gerade die Familienkonstellation zum Fokus der in dieser Studie behandelten Frage einer modernen Bewährung im Angesicht dreier, möglicherweise kon284
V. SCHLUSS
kurrierender Felder. Insbesondere hier, in der Paar- und Familienkonstellation war zu vermuten, dass sich die Geschlechtlichkeit Relevanz verschafft durch das lebenspraktische Arrangement der Haushaltsführung und Fürsorge für Kinder. Oevermann geht in dieser Hinsicht von einer fundamentalen Geschlechterdifferenz der Bewährung aus, und in beinahe allen paar- und familienbezogenen Forschungen wird die häusliche Aufgabenverteilung als asymmetrisch geschlechterdifferenzierte Praxis diagnostiziert. Dieses Phänomen weist trotz der Verallgemeinerung der beruflichen Bewährung auf Frauen und trotz einer normativen Befürwortung der Beteiligung von Männern an familialen Aufgaben eine starke Beharrlichkeit auf, wenngleich in der Männer- und Väterforschung auf eine leichte Tendenz zur Zunahme väterlichen Engagements und männlicher Beteiligung an Haushaltstätigkeiten hingewiesen wird. Herr Blöker-Olbert und Herr Schulz stehen für solche Männer, die Vaterschaft aktiv verstehen und sich in der Fürsorge zu bewähren suchen. Die Art, in der sie das tun, unterscheidet sich wiederum im Zusammenhang des dargestellten Habitus insbesondere in der Bindungsfähigkeit. Für Herrn Blöker-Olbert reihen sich die Betreuung seiner Tochter und die Verrichtung haushaltsbezogener Tätigkeiten in die Fülle seiner Aktivitäten ein, in denen er viel bewegen will. Die Paarkonstellation stellt er so dar, dass die Betreuung seiner Tochter im Wesentlichen von ihm geleistet wird, während seine Frau sich stärker auf ihren Beruf konzentriert. Zu seinen familialen Tätigkeiten gehört nicht nur, Zeit mit seiner Tochter zu verbringen, mit ihr zu spielen und sie zu versorgen, sondern auch der Kontakt zu den Erzieherinnen, er nimmt die Elternvertretung im Kindergarten wahr und verrichtet einen Teil der Hausarbeit. In der Analyse war jedoch deutlich geworden, dass die beruflichen und gemeinwohlbezogenen Aufgaben nicht nur eine willkommene Bereicherung seines Selbstausdrucks neben der Erziehung darstellen, sondern dass sie seinen Antrieb zum Bewirken deutlich stärker befriedigen als die familienbezogenen. In der Darstellung seines beruflichen Erfolges in seiner Kellnertätigkeit, den er in Freiheitsgraden und der Höhe des Einkommens im Verhältnis zum Zeitaufwand misst, tritt die Bedeutung der beruflichen Bewährung besonders hervor. Demgegenüber findet bei der Aufzählung dessen, was ihm wichtig ist, die Familie keine Erwähnung mehr. Die Alltäglichkeit und Routine, die er mit einer stärker oder ausschließlich auf die Familie konzentrierten Lebensführung verbindet, ließe ihn nicht nur die Vielzahl von Bereichen vermissen, in denen er viel bewirken kann, sondern würde zu seinem aktionistischen Habitus nicht passen. Ohne stetige Bewegung und Veränderung (Brüche) wäre er allzu stark auf sich zurück geworfen. Seine Wahrnehmung der familiären Tätigkeiten basiert damit auf mehreren Voraussetzungen: Sie steht in Pas285
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
sung zu seinem Habitus und ist zudem eingebunden in eine Paarkonstellation, die ihm seine Bewährungssuche in der Vielfalt wechselnder Aktivitäten auch ohne den Druck ermöglicht, seinen Teil zum Familieneinkommen beizutragen, indem die Lebensführung seiner Frau dominant auf berufliche Bewährung ausgerichtete ist und sie das Einkommen der Familie sichert. Dass diese Paarkonstellation empirisch aufzufinden ist, zeigt zugleich, dass Frauen resp. Mütter diese Handlungsmöglichkeit einer Konzentration auf den Beruf wahrnehmen im Sinne des Erkennens und Ergreifens von Möglichkeiten und dass sie hierbei offensichtlich auf veränderte Muster zur Ausdeutung der Geschlechtlichkeit zurückgreifen können. Bei Herrn Schulz begegnet uns nicht nur ein anderes Arrangement, sondern auch eine andere habituelle Disposition für die Übernahme der Fürsorge. Hatte seine Frau in den ersten Lebensjahren ihrer Söhne zugunsten der Kindererziehung ihre Berufstätigkeit unterbrochen, so wechseln die Eheleute danach für zwei Jahre ihre Aufgabenfelder. Herrn Schulz Antrieb für diese Entscheidung lag in seiner konkreten Erfahrung einer Zerrissenheit zwischen seinen beruflichen und väterlichen Anforderungen nach der Familiengründung. In dieser Fallrekonstruktion hatte sich das Theorem einer doppelten und widersprüchlichen Vergesellschaftung durch spezifisch weibliche Sozialisationsbedingungen, wie Becker-Schmidt (1987) es in der Frauenforschung eingeführt hat, als verkürzt erwiesen. Unter bestimmten Bedingungen trifft eine doppelte Orientierung auch für Männer zu. Diese Entscheidung ist zudem getragen von der Überzeugung, dass väterliches Engagement für die Entwicklung der Kinder bedeutsam ist, aber auch eine wichtige Erfahrung für den Vater selbst darstellt. Diese Gewissheit teilt Herr Schulz nicht nur mit seiner Frau, sondern auch mit Freunden und Kollegen. Innerhalb der Partikulargemeinschaft der Familie und des Milieus, in dem sich das Paar Schulz bewegt, ist väterliche Fürsorge anerkannt und wertgeschätzt. Seine habituelle Disposition, Aufgaben zu hundert Prozent zu erfüllen, sowie seine Bindungsfähigkeit befördern bei Herrn Schulz die Konzentration auf die Kindererziehung für eine absehbare Zeit. Diese von ihm und seiner Frau gemeinsam getroffene Entscheidung, sich mit der Kinderbetreuung in den ersten Lebensjahren der Kinder abzuwechseln, ruht auf einer Einigkeit in der Deutung des Lebensentwurfs: Jede Form von Vereinseitigung der Lebensausrichtungen wird abgelehnt. Weder die alleinige Bewährung im Beruf noch diejenige in der Fürsorge für die Kinder kann die angestrebte Vielfalt der Erfahrungs-, Wahrnehmungs- und Gestaltungsräume ersetzen. Vor diesem Hintergrund bleibt der Beruf selbst in der Elternzeit für Herrn Schulz von herausragender Bedeutung. Im Unterschied zur Familie wartet der Beruf mit intellektu286
V. SCHLUSS
ellen Herausforderungen und einer stärker selbst bestimmten Zeitgestaltung auf, wie er ihm auch ermöglicht, seinen finanziellen Teil zum Familieneinkommen zu leisten im Sinne einer Solidarverpflichtung. Auch beim Paar Schulz zeigt sich in der Ausrichtung zwischen den beruflichen und familialen Tätigkeiten die prinzipiell mögliche Ausdeutung der Geschlechtlichkeit als unspezifisch geprägt durch die eine oder andere Schwerpunktsetzung. Dass die Fürsorge der ersten Lebensjahre durch Frau Schulz wahrgenommen wurde, beruht auf der Bindung zwischen Mutter und Kind in ihrer Eigenlogik als soziale Praxis und wurde zugleich zum Ausgangspunkt des späteren Wechsels der Verantwortung. Dem lag auch bei Herrn Schulz eine aktive Bindungstätigkeit in den ersten Lebensjahren der Kinder zugrunde. Was also vordergründig als konventionelles Arrangement in den ersten Jahren erscheint, ist hier Ausdruck einer partnerschaftlichen Gestaltung von Spielräumen in der Beziehung auch zu Kleinkindern. Die vorne (vgl. Kapitel II.3) diskutierte Offenheit geschlechtsbezogener Ausdeutungen der familialen Bewährung wird hier konkretisiert. Die rekonstruierten weiblichen Fälle spannen einen breiten Bogen in der Wahrnehmung der familialen Fürsorge auf. Es kontrastieren dabei nicht nur die Arrangements auf der praktischen Ebene der Aufgabenverteilung, sondern auch die Ausdeutung der Mutterpositionen. Frau Spenzel folgt einer ähnlichen Orientierung an der Vielfalt der Erfahrungsbereiche wie es bei den Paaren Schulz und Blöker/Olbert gezeigt wurde. Auch für sie ist die Kindererziehung ein zusätzliches Wahrnehmungsund Gestaltungsfeld. Schon während ihres Studiums war eine Familiengründung in Frage gekommen und bildet in ihrem Lebensentwurf einen Bereich von eigenem Wert. Als es einige Jahre nach ihrem Berufseintritt zur Geburt ihres ersten Kindes kommt, nimmt sie bald darauf ihre Berufstätigkeit wieder auf, allerdings auf reduzierter Stundenzahl und mit eingeschränktem Aufgabengebiet. Zeitliche, inhaltliche und finanzielle Einschränkungen stehen für sie im rechten Maß zum Gewinn an Möglichkeiten für Erfahrung und Verantwortung in der Familie. Sie findet in der geringfügigen Beschäftigung eine andere Lösung für das gleiche Anliegen, das Herrn Schulz zur Inanspruchnahme der Elternzeit bewogen hat: mit hohem Anspruch ihren Aufgaben gerecht zu werden und sich auf die jeweilige Sache konzentrieren zu können. Für sie wie für Herrn Schulz ist dies nicht eine Frage der Organisation, einer Vereinbarkeit im Verständnis ihrer praktischen Bewältigung, sondern es geht um einen Ausdruck eigener Vorstellungen in der Gestaltung von selbst gewählten Aufgaben. Die Aufgabenteilung des Paares Spenzel entspricht der „modernisierten Versorgerehe“ (Pfau-Effinger/Geissler 1992), in der der männliche Hauptverdiener das Einkommen der Familie sichert und auch 287
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
zeitlich deutlich stärker beruflich eingebunden ist als in der Familie. Die Rekonstruktion von Frau Spenzels Entscheidungsstruktur zeigt, dass eine kulturkritische Einschätzung dieser Familienform als mütterideologisch überformt oder durch Sachzwänge des Arbeitsmarktes oder mangelnde Bedarfsdeckung öffentlicher Kinderbetreuung hervorgerufen, die zugrunde liegenden Antriebe solcher Entscheidungen missversteht. Eine stärker partnerschaftliche Verteilung familiärer Aufgaben stand bei den Spenzels nicht zur Diskussion. Dies steht nur vordergründig mit den Arbeitsbedingungen Herrn Spenzels in Verbindung (höheres Einkommen, negative berufliche Folgen einer Arbeitszeitreduzierung). Sondern entscheidend ist für Frau Spenzel ihre Auffassung einer gelingenden Balance zwischen familialen und beruflichen Aufgaben. Explizit verteidigt sie sich jedoch gegen eine andere geltende Norm: Ich geb´s zu, führt sie ihre Begründung für die reduzierte Arbeitszeit entschuldigend ein und gibt damit dem geltenden Maßstab eines anerkannten modernen Frauenlebens im Normalmodell der Vollzeittätigkeit Ausdruck. Indem sich die Begründungslast im Vergleich zum Familienmodell der westdeutschen Nachkriegszeit – der männliche Alleinverdiener – gewandelt hat, scheint nun die Fürsorge für Kinder im Schatten der beruflichen Bewährung zumindest für Frauen mit hohen Qualifikationen und einem Anspruch auf eine selbstbestimmte Lebensführung zu stehen. Das gleiche Phänomen begegnet uns auch bei Frau Ziller. Die promovierte Maschinenbauerin hat sich für die Hauptverantwortung im familialen Bereich und für eine Berufsunterbrechung auf unbestimmte Zeit entschieden. In der Rekonstruktion der Fallstruktur wurde deutlich, dass diese Entscheidung vor dem Hintergrund ihrer programmatischen Lebensführung einen Zugewinn an Authentizität darstellt, weil die vorherige Konzentration auf den Beruf einer Subsumtion unter ein Familienprogramm gefolgt war. Doch die Wahrnehmung der familialen Aufgaben bricht sich nicht nur an der programmatischen Wertschätzung der beruflichen Leistung, sondern auch an der schwachen familialen Identifikation. Diese fallspezifischen Barrieren für authentische Entscheidungen weichen erst in einem allmählichen Prozess im Erleben ihrer Mutterschaft auf. Die positive Bindungserfahrung zu ihrem Sohn reicht jedoch angesichts der stark verankerten Wertschätzung der beruflichen Bewährung und ihres programmatischen Habitus nur knapp, ihre Entscheidung vor sich selbst zu begründen. Ihr Rechtfertigungsdruck weist auf Deutungsmuster hin, die eine Entscheidung für die Elternschaft und für eine Berufsunterbrechung erschweren und großkalibriger Geschütze bedürfen wie das normativ aufgeladene Deutungsmuster der ‚guten Mutter‘.
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V. SCHLUSS
Noch stärker dominiert die berufliche Bewährung als Deutung eines anerkennenswerten Lebens die Entscheidungen von Frau Grebe. In Anbetracht ihrer kompensatorischen Leistungsethik und der fallspezifischen Aufladung des Berufs fragt es sich hier beinahe, warum es überhaupt zur Familiengründung kommt. Zudem war ihre Partnerschaft schon vor der Schwangerschaft labil und löst sich noch währenddessen auf. Es mag ein extremer Fall sein, der hier auch nicht eigens analysiert wurde, doch scheint der Vater von Frau Grebes Kind einer kompromisslosen Berufs- und Karriereorientierung nachzugehen, die keinerlei Zugeständnisse an eine gemeinsame Sorge für das Kind zulassen. Dennoch bricht sich der Kinderwunsch nach dem 30. Lebensjahr bei Frau Grebe Bahn. Ähnlich wie Frau Ziller hatte Frau Grebe zuvor keine Pläne zur Familiengründung, der Beruf stand an erster Stelle. Bei beiden Frauen war es jedoch nicht die Familiengründung, die biografische Konflikte aufkeimen ließ: Während Frau Ziller bereits zugunsten der Fürsorge für ihre erkrankten Eltern aus ihrem bisherigen Karriereweg ausscherte, fanden sich im Werdegang von Frau Grebe Anzeichen für eine Orientierungskrise schon vor ihrem späten Studium. Anders als Frau Ziller, die in der Mutterschaft unter Zuhilfenahme des normativ aufgeladenen Mutterbildes eine gewisse Befriedung erlebt, eskaliert nun für Frau Grebe ein ungelöster Widerspruch: Indem sie ihre berufliche Routine infolge ihrer Erschöpfung aufgeben muss, verliert sie das zentrale Feld ihrer Selbstbehauptung. Erst allmählich, aus der Not und noch eingebunden in ihre Anerkennungssuche kann sie sich in die Mutterposition einfinden. Eine Bezugnahme auf das Deutungsmuster der ‚guten Mutter‘, mit dem sie ihre dominierende berufliche Bewährung beruhigen könnte, ist ihr weder durch ihre Fallstruktur noch durch die dominanten beruflichen Deutungsmuster eröffnet. Hier zeigt sich der fallspezifisch motivierte Widerspruch in seiner gesellschaftlichen Dimension: Die normative Aufladung des Mutterbildes in der deutschen Anerkennungsordnung bricht sich nicht nur bei Frau Grebe in besonderer Weise an der vorherrschenden Wertschätzung der beruflichen Bewährung. Im Widerspruch zwischen dominanter beruflicher Bewährung und dieser Spezifik der Ausdeutung der Mutterposition konstituiert sich ein kultureller double bind, der Vollzeit berufstätigen Müttern in beiden Bereichen die Anerkennung versagt. Geltung verschafft sich dieser Widerspruch – so zeigt es der Fall Grebe wie es auch die Männer von Frau Ziller und Frau Spenzel vermuten lassen – v.a. durch eine in der Privatwirtschaft vorherrschende Denkweise. Denn die Entscheidungsfreiheit von Herrn und Frau Schulz, Herrn BlökerOlbert und Frau Olbert realisiert sich in Bereichen des öffentlichen Dienstes, insbesondere in Bildung und Wissenschaft. Zu den förderli289
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
chen Bedingungen einer selbst bestimmten Gestaltung der Elternpositionen, auch unabhängig von geschlechterdifferenten Deutungen, gehören daher neben der habituellen Sicherheit und der Stärkung in den partikularen Vergemeinschaftungen (z.B. im Bekannten- und Kollegenkreis) daher in besonderer Weise auch die Arbeitsbedingungen, die nicht zuletzt durch kulturelle Gewissheiten erst ihre Form finden.
1.4 Gemeinwohlbezogene Bewährung: Voraussetzungsvolle kollektive Bindung Unter gemeinwohlbezogener Bewährung werden Beiträge verstanden, die zur Aufrechterhaltung und Fortentwicklung des Gemeinwesens dienen. Mittelbar gehen hier Formen der sexuellen und materiellen Reproduktion mit ein, also sozialisationsbezogene und berufliche Leistungen. Sie wurden bereits dargestellt und stehen hier nicht im Vordergrund. Zu den unmittelbaren Beiträgen gehören solche, die in der Position des Staatsbürgers vorgenommen werden. Sie können erstens durch konkrete Handlungen als direkter Dienst am Gemeinwesen zum Ausdruck kommen, z.B. in Form der Beteiligung an demokratischen Verfahren wie Wahlen und Parlamentsbildungen, die Erfüllung von gesetzlichen Verpflichtungen wie Wehr- oder Zivildienste oder das Entrichten von Steuern sowie die Übernahme bürgerschaftlicher Aufgaben, die sich im klassischen Ehrenamt ebenso finden wie in neuen Formen gemeinwohlbezogener Aktivitäten, also nicht institutionalisierter Sorge z.B. für soziale, politische und ökologische Belange. Zweitens wird der Gemeinwohlbezug in Deutungsmustern zur Handlungsbegründung sichtbar. Beide Aspekte – die Handlungen und ihre Begründungen – interessieren hier als Ausdruck der kollektiven Bindung insbesondere vor dem Hintergrund der Frage nach der Kohärenz der gesellschaftlichen Anerkennungsordnung und der Frage der Integration in das Gemeinwesen. Die Gemeinwohlbindung zeigte sich als labil in solchen Fällen, in denen etwa der Normenwiderspruch zwischen einer leistungsethischen Bewährung und der Fürsorge als v.a. mütterliche Aufgabe oder der Widerspruch zwischen dem Arbeitsethos und dem faktischen Fehlen von Arbeitsmöglichkeiten zu Frustration führt. Frau Grebe steht hier exemplarisch für jene, deren Leistungsbereitschaft auf mangelnde Anerkennung und mangelnde Möglichkeiten ihrer Realisierung trifft. Die Frustration über diesen Zustand kann zu Resignation (‚Politikverdrossenheit‘), Aggression (‚Gewaltbereitschaft‘) oder aktivem Rückzug führen, wie er bspw. medienwirksam in Auswanderershows thematisiert wird. All diese Phänomene zeugen als Spitze eines Eisbergs von einer Gefährdung der sozialen Kohärenz, des Zusammenhalts der Sozialität als Gan290
V. SCHLUSS
zer. Nun wurde mit dem Sample dieser Studie keine Gruppe aufgesucht, die extreme Abgrenzungen zum Gemeinwesen erwarten ließ, sondern ‚ganz normale‘ Bürgerinnen und Bürger mit hohem Bildungsniveau und einer anzunehmenden eher positiven Bindung zum Gemeinwesen. Dass aber auch diese labil ist, zeigt sich in weiteren Fällen. Ähnlich wie bei Frau Grebe rühren andere Formen von brüchiger Gemeinwohlbindung aus habituellen Dispositionen einer geschwächten Bindungsfähigkeit, wie bei Herrn von Quant oder Herrn Blöker-Olbert. Wo der Selbstbezug gefährdet ist aufgrund mangelnder personaler Anerkennungserfahrungen, ist auch die Bindungsfähigkeit insgesamt geschwächt und betrifft nicht nur die bereits dargestellte sachhaltige Bindung an berufliche Aufgaben und die personale Bindung an die Familie, sondern auch die kollektive Bindung an das Gemeinwesen. Das ist umso schwerwiegender als die Sehnsucht nach kollektiver Anerkennung – nach der Erfahrung, nützlich zu sein für ein übergeordnetes Ganzes – handlungsleitender ist als bei einer starken Entscheidungsmitte und entwickelter Autonomie. So wie Herr von Quant keine familiale Bindung aufbauen will, so distanziert er sich auf ironisierende Weise nicht nur von der Sinnhaftigkeit seiner beruflichen Tätigkeit, sondern streitet auch den Sinn eines Engagements für das Gemeinwesen ab. Ihm ist allerdings in den selbst gewählten Partikulargemeinschaften seiner Partnerschaft wie auch seines Freundeskreises solidarisches Handeln möglich und wichtig. Verantwortungsübernahme setzt bei ihm Vertrauen voraus und basiert auf unmittelbaren Sozialkontakten. Die abstrakte politische Vergemeinschaftung ist für ihn kein Bezugspunkt seines Handelns, auch sein politisches Interesse an Fragen der Gerechtigkeit und Armutsbekämpfung realisiert er in partikularen Gemeinschaften, wie z.B. anonymen Internet-Foren und innerhalb seines Freundeskreises in Form von Diskussionen ohne praktische Konsequenzen. Herr Blöker-Olbert personifiziert das Gegenteil. Sein Gemeinwohlbezug ist allgegenwärtig, das Gemeinwesen ist ein wichtiges Feld seines Selbstausdrucks im Bewirken. Dabei schießt er habituell über das Ziel hinaus, indem er das, was Herrn von Quant fehlt, nämlich die Verantwortungsübernahme, überspannt bis zur Instrumentalisierung seiner Klientel oder potenzieller Nutznießer seiner Hilfsbereitschaft. Trotz dieser fallstrukturellen Besonderheit weisen seine Aktivitäten eine starke Bereitschaft auf, dem Gemeinwesen zu dienen, sei es in der ehrenamtlichen Funktion im Förderverein des Kindergartens, in seinem Interesse an politischen Entscheidungen, die er auch tatkräftig aufzugreifen bereit ist, oder in seinen Zukunftsprojekten (Aufbauprojekt in Tansania, Aufnahme eines Pflegekindes, Gründung eines Kinderheimes in dem osteuropäischen Herkunftsland der Familie seiner Frau). 291
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Wenig augenfällig ist ein Engagement für das Gemeinwesen bei Frau Ziller. Sie ist derzeit vollständig von der Fürsorge für ihr Kind absorbiert und zeigt sich stark gebunden in der Primärgemeinschaft. Im Einlösen des Generationenvertrages durch die Familiengründung findet ihr Gemeinwohlbezug mittelbar einen Ausdruck, wie auch ihre Sorge für ihre erkrankten Eltern so selbstverständlich für sie ist, dass sie dafür einen Berufswechsel und eine Einschränkung von Karrieremöglichkeiten in Kauf nimmt. In der mütterlichen Linie eines ehrenamtlichen sozialen Engagements, der sie als Kind bereits gefolgt ist, kann sie sich zukünftig eine Tätigkeit vorstellen, die aber eher dem Antrieb folgt, ein Gegengewicht zur häuslichen Routine zu finden. Ihre prinzipielle kollektive Bindung drückt sich auch in dem Umstand aus, dass sie sich rechtfertigt für das derzeitige Fehlen von Engagement. Indem Frau Ziller aus Gründen der Kindererziehung keinen weiteren Aktivitäten nachgeht, liegt der Schluss nahe, hier eine Bestätigung geschlechtsspezifischer Bewährungsdynamiken zu erkennen. Auch Frau Spenzels Lebenssituation lässt diese Vermutung zu. War sie noch nach der Geburt ihres ersten Kindes im Stadtrat ihres Wohnortes ehrenamtlich politisch engagiert, so schränkt sie alsbald ihre ehrenamtliche Tätigkeit ebenso wie ihre berufliche ein. Die Familiengründung und Fürsorge für die Kinder, so sieht es aus, bedingt eine Prioritätenverschiebung mit Folgen für die weiteren Lebensbereiche. Das ehrenamtliche Engagement erscheint nachgeordnet und am ehesten verzichtbar für die Sinnstiftung zu sein. Die Familie wird zum wesentlichen Feld. Mit einem stummen Zwang der Verhältnisse (etwa einer geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktsegregation oder frauendiskriminierender Praktiken der politischen Rekrutierung) hat dies allerdings bei Frau Spenzel nichts zu tun, sondern mit ihrer Konsequenz aus der Erfahrung einer Fremdbestimmung durch Überlastung vor dem Hintergrund ihrer hohen Ansprüche an die Erfüllung von Aufgaben. Eine Entlastung durch ihren Mann stellt für Frau Spenzel keine Lösung dar, denn es geht ihr – anders als Herrn BlökerOlbert – nicht um die Aufrechterhaltung der Vielfalt der Aktivitäten, sondern um die Sicherung ihrer Qualität. Letztlich geht ihr Rückzug aus der politischen Arbeit aber unabhängig von der Familiengründung auf eine Enttäuschung zurück: Ihr sinnstiftendes Motiv, mit ihrem Handeln und Engagement die Lebenssituation von Menschen zu verbessern, hatte sie als nicht erfüllbar durch die Art der politischen Arbeit erlebt. Insofern unterliegt ihrer Prioritätensetzung auch eine Umwertung entlang ihres hohen moralischen Anspruchs (noch in den Spiegel gucken können). Ihre kollektive Bindung aber leidet unter der Bedeutungsverlagerung nicht, sondern bleibt in ihren unmittelbaren Aktivitäten sowie in ihrem
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Antrieb erhalten, Zusammenhänge erkennen und Lebenssituationen verbessern zu wollen. Allein die Form ihres Ausdrucks verändert sich. Auch bei Herrn Schulz hat die Rekonstruktion neben einer starken sachhaltigen und personalen eine kollektive Bindung gezeigt. Innerhalb der Familientradition ist er schon früh kirchlich engagiert. Seine Gemeinwohlbindung ruht damit auf einer partikularen Vergemeinschaftung in der religiösen Tradition. Doch auch staatsbürgerschaftliche Pflichten wie sein Zivildienst stehen nicht zur Disposition. Im Vergleich der Stärke des sinnstiftenden Potentials der verschiedenen Felder wird aber nochmals deutlich, dass der Beruf auf lange Sicht nicht nur grundlegender als seine familiale Aktivität ist, sondern auch das Ehrenamt könnte perspektivisch seine Erfüllung im Beruf nicht ersetzen (nur noch Ehrenamt … also das nicht). Im Geschlechtervergleich zeigt sich zunächst keine grundlegende Differenz: Kommt es zu zeitlichen Restriktionen, erscheinen Gemeinwohlbeiträge für Männer wie Frauen nachgeordnet gegenüber unmittelbarer Fürsorge oder auch beruflichen Aufgaben. An zusätzlichem, freiwilligem Engagement wird dann ‚gespart‘ im Sinne einer Prioritätensetzung. Diese hat aber auch einen materialen Grund, der nicht nur in der existenziellen Notwendigkeit begründet ist, einer bezahlten Arbeit nachzugehen, oder in der Unersetzbarkeit der Elternpositionen in der Fürsorgeleistung. Gemeinwohlbeiträge scheinen weniger spezifisch auf die ausgebildeten Fähigkeiten ausgerichtet zu sein und daher unverbindlicher in der Möglichkeit eines authentischen Selbstausdrucks zu wirken, wie die Analyse im Fall Schulz zu verstehen gab. Zudem stehen Gemeinwohlbeiträge genauso im Schatten der Leistungsethik wie familiäre Tätigkeiten. Und schließlich wurde als wesentliche Voraussetzung die habituelle Bindungsfähigkeit für die gemeinwohlbezogenen Aktivitäten deutlich. Insofern unterscheiden sich auch die Formen der gemeinwohlbezogenen Bewährung stärker nach dem Habitus und der Fähigkeit und Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme als nach der Geschlechtlichkeit der Praxis.
2. Bewährungsdynamik und Geschlecht Die Ausdrucksformen einer Geschlechterdifferenz und ihre Relevanz sowohl für die Lebensführung und Sinnstiftung des Einzelnen als auch für das Geschlechterverhältnis als gesellschaftliche Formation stellen sich als ein Vexierbild dar: Kaum geraten relevante Differenzen in den Blick (etwa bei der Stellungnahme Frau Zillers und Frau Spenzels zur Familie mit ihren Konsequenzen für die berufliche Bewährung), begin293
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nen sie zu verschwimmen (z.B. im Vergleich zu Herrn Blöker-Olbert und Herrn Schulz). Weder hatten die theoretischen Überlegungen und die Diskussion des Forschungsstandes (Kapitel II.3) zu einer Klärung geführt, noch zeigen die Fallrekonstruktionen eindeutige Linien geschlechtsbezogener Differenzen in der Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern. Villa (2005: 51) resümiert die überaus kontroversen Erklärungsversuche zum Werden und Sein einer Geschlechterdifferenz als in notwendiger und in produktiver Weise zum Scheitern verurteilt. Das gelte nicht nur für die theoretischen Einsichten über geschlechterbezogene Sozialisation und Identität, sondern auch für die Praxis. Denn während die Annahme eines kohärenten Selbst mit einer stabilen (geschlechtlichen) Identität und die damit verbundene diskursive Aufforderung zur Selbstpositionierung gerade als eine Konstitutionsbedingung der Subjektbildung anzusehen sei, befinde sich das je konkrete Subjekt im beständigen Werden, kontext- und situationsabhängig, fragil und flexibel. Indem jedoch der Fluss des Werdens selbst strukturiert und keineswegs beliebig ist, sondern – im Bild geblieben – über ein Flussbett verfügt, leitet Villa daraus die nach allen Kontroversen immer noch offene Frage ab: Wie vollzieht sich innerhalb der Subjektbildung die Verschränkung von Konstitutionsverhältnissen und Konstruktionspraxen und produziert das vergeschlechtlichte Selbst? In der hier vorgelegten Studie ist zur Klärung dieser Frage eine spezifische Blickrichtung eingenommen worden: Ausgangspunkt war die These, in der universellen Struktur der Bewährungsdynamik, die jeder und jedem eine Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern abverlangt, vollzieht sich entlang der leib- und praxisvermittelt differenten ontogenetischen Erfahrungen die allmähliche Herausbildung einer geschlechtlichen Identität. Diese würde sich dann in den Handlungsentscheidungen und deren Begründungen manifestieren und Rückschlüsse auf Geschlechterdifferenzen und ihre Relevanz zulassen. Es handelt sich methodologisch um einen abduktiven Zugang zur Entdeckung der Ausformung der Geschlechtlichkeit und ihrer Bedeutung: Ausgehend von der These relevanter Zusammenhänge (Bewährungsdynamik und Geschlechterdifferenz) wird anhand der Fallrekonstruktionen der angenommene Zusammenhang extensiv analysiert und über das Verfahren der Strukturgeneralisierung ins Verhältnis zur Ausgangsthese gesetzt. Dem Sample der hier dargestellten Fallrekonstruktionen lässt sich nun leicht eine Selektivität vorwerfen, die reale Verhältnisse verzerrt wiedergibt. Die rekonstruierten Fälle repräsentieren zwar verschiedene Antworten auf die Sinnfrage mit ihrer Positionierung zu den Bewährungsfeldern. Sie stehen insofern exemplarisch für die Vielfalt möglicher Entscheidungen. Im Sinne einer repräsentativen Verteilung jedoch 294
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sind die Männer, die die hauptsächliche Fürsorge für ihre Kinder übernehmen, überrepräsentiert.1 Spiegelbildlich dazu sind die Frauen, die ihre Berufstätigkeit zugunsten der Kindererziehung unterbrechen oder reduzieren, unterrepräsentiert2, wenn die Paarkonstellationen der Fälle mit berücksichtigt werden, wie es teilweise für die Strukturgeneralisierungen geschehen ist. Zudem hätten sich mühelos weitere Variationen finden lassen: Nachfolgefamilien mit eigenen und angenommenen Kindern, aus unterschiedlichen Gründen kinderlose Singles oder Paare, alleinerziehende oder abwesende Väter, egalitär aufgeteilte Berufs- und Familientätigkeit. Auch weitere Bindungsformen an den Beruf sind bekannt: Einkommens-, Status- und Karriereorientierungen etwa, die ebenso wie die aufgefundenen leistungsethischen Formen nach Berufen nochmals stark variieren können. Und schließlich sind Formen stärkeren oder mangelnden Gemeinwohlbezugs denkbar, die bis hin zur Auswanderung oder den monströsen Sittlichkeitsverletzungen in den Familien reichen, wie sie derzeit zunehmend in den Medien thematisiert werden. Dieses Kaleidoskop kann eine einzelne Studie natürlich nicht abbilden, auch kann keine Quantifizierung der aufgefundenen Formen der Sinnstiftung vorgenommen werden. Doch erweist sich die hier vorgelegte spezifische Fallzusammenstellung in einer Hinsicht als besonders aufschlussreich: Für die Frage der Determination und Emergenz in der Ausdeutung der Geschlechtlichkeit der Praxis können gerade Fälle, die einer statistisch repräsentativen Verteilung entlang des Status quo entgegen stehen auf Variationsspielräume verweisen, die bei der numerischen Beharrlichkeit geschlechtsspezifischer Aufgabenteilung der Praxis unbemerkt bleiben würden. Es konnte also die Frage fokussiert werden: Welches sind die Bedingungen der Möglichkeit für eine Geschlechtergrenzen überschreitende Lebensführung und Sinnstiftung? Die Fallrekonstruktionen und haben dazu nun eine zentrale Fährte gelegt: Relevante Unterschiede in der Lebensführung sowie in der Wahrnehmung und im Ausdruck des Selbst entlang der einzelnen sinnstiftenden Tätigkeitsfelder scheinen sich eher entsprechend des ausgebildeten Habitus zu entfalten als in einer Differenz zwischen den Geschlechtergruppen. Wenn sich nun der Habitus in der Stellungnahme zu
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Wenn man etwa das beantragte Elterngeld als Indikator für aktive Elternschaft heran zieht, dann beläuft sich der Anteil der Väter in Elternzeit im Vierten Quartal 2007 auf 12,4 Prozent (Statistisches Bundesamt 2008). In den Vorjahren lag der Väteranteil mit 3,5 Prozent an den Antragstellern deutlich darunter (Statistisches Bundesamt 2007b). Laut Mikrozensus sind im Jahr 2003 in Deutschland von allen Müttern mit dem jüngsten Kind unter drei Jahren 12,7 Prozent Vollzeit berufstätig, unter den Vätern sind es 83,7 Prozent (Statistisches Bundesamt 2004). 295
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
den Bewährungsfeldern als so entscheidend erweist, stellt sich die Frage, ob die Geschlechtlichkeit der Praxis ohne Relevanz für die Antwort auf die Sinnfrage ist. Oder sprechen die vorgelegten Ergebnisse für den weiter gehenden Schluss, dass es im Prinzip auch für die Subjekt- und Habitusbildung keine relevanten Differenzen zwischen Männern und Frauen (mehr) gibt? Für eine Antwort auf diese Fragen lassen anhand der Ergebnisse nun mehrere Ebenen unterscheiden: 1. Ontogenetische Strukturen: Indem sich der Habitus im Prozess der aufgeschichteten Erfahrung von Krisenbewältigungen entfaltet, könnte sich in ihm selbst eine Differenz im Sinne eines Geschlechtshabitus ausbilden. Diese These impliziert die Annahme, dass Mädchen und Jungen, Frauen und Männer in ihrer Subjektbildung vor unterschiedliche Herausforderungen – Handlungsprobleme und deren Lösung im Hinblick auf die Stellungnahme zur Bewährungsdynamik – gestellt werden und sich entlang dieser differenten Erfahrungen entwickeln. Habituelle Dispositionen stehen dann spezifisch mit der Geschlechtlichkeit in Verbindung und strukturieren die Entscheidungen des Einzelnen grundlegend im Sinne eines generativen Prinzips der Krisenlösung. 2. Ausdeutungen der Geschlechtlichkeit: Deutungsmuster als kollektiv verfügbare Begründungen von Handlungsentscheidungen eröffnen in historisch und kulturell spezifischer Weise den Möglichkeitsraum des Handelns und enthalten immer auch Bezüge zur Geschlechtlichkeit des Handelnden. Sie stehen mit den Handlungsproblemen und ontogenetischen Strukturen im Zusammenhang, sind jedoch variabel und keineswegs strukturell determiniert sowie sie auch die Auswahl aus dem Optionenraum nicht zwingend vorgeben. Auf dieser Ebene ist eine mögliche Geschlechtsspezifik des Bewährungsmythos von Interesse, die auf eine gesellschaftlich vermittelte, mit der Anerkennungsordnung verbundene Entscheidungsbegründung abhebt. 3. Verhältnis von Konstitution und Konstruktion: Die Relevanz der Geschlechtlichkeit der Praxis für die Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern zeigt sich zusammenfassend dann als Effekt habitueller Dispositionen und deutender Bezugnahme auf die Realität der Möglichkeit und Wirklichkeit.
2.1 Zur Ontogenese des Habitus: Geschlechterdifferenzen verlieren an Eindeutigkeit und Relevanz In der strukturtheoretischen Begründung einer grundlegenden Differenz in der Bewährungsdynamik von Männern und Frauen spielt die Körperbasis eine besondere Rolle (vgl. Kapitel II.3.1). Der Leib als soziale Praxis und Ort der Erfahrung eröffnet demnach geschlechtsspezifische 296
V. SCHLUSS
Möglichkeitsräume, indem sich v.a. die Erfahrung von Mutterschaft und Vaterschaft unterscheidet. Diese Unterscheidung verschafft sich nicht erst Wirksamkeit bei der Realisierung einer Familiengründung, sondern beschäftigt bereits kleine Kinder und konfrontiert Mädchen und Jungen spätestens in der Phase der Ausbildung des Lebensentwurfs mit spezifischen Entscheidungen und Identifizierungsangeboten. Damit wird allerdings eine wesentliche Geschlechterdifferenz in der Bedeutung der (potenziellen) Elternschaft für den gesamten Lebenszusammenhang impliziert. Oevermann hatte dies mit der besonderen, symbiotischen Bindung zwischen Mutter und Kind begründet, die unmittelbare Folgen für die Bedeutung anderer Bewährungsfelder habe, nämlich zu deren Relativierung im Verhältnis zur familialen Bewährung führe. Weitere strukturelle Einflüsse auf die Ausbildung einer Differenz werden in psychodynamischer Perspektive in der Geschlechtsspezifik der Ablösungsdynamiken und damit einher gehender Erfahrungen der Krisenbewältigung gesehen. King (2000b) weist darüber hinaus auf die Bedeutung der Phase der Adoleszenz hin. Mit dem Einsetzen der Menarche werde im Körper-Selbstbild die Spannung der Autonomie zwischen Bindung und Selbstbezug verankert. Mädchen werden insofern mit der komplexen Aufgabe der Balancierung von Selbstbezug und Bindung als Pole der Autonomie im Unterschied zu Jungen unmittelbar physisch erlebbar konfrontiert. Die Entwicklung eines kohärenten Selbst(-bildes) verläuft damit differenzierter und konflikthafter als bei Jungen. Die Anforderungen an die Krisenbewältigung und sowohl die Scheiternsanfälligkeit als auch die Reifungschancen sind daher höher. Im Konzept der ‚doppelten und widersprüchlichen Vergesellschaftung von Frauen‘ (Becker-Schmidt 1987, Knapp 1990) ist diese Differenz als gesellschaftlich vermitteltes Verhältnis aufgenommen. Die Ausbildung eines geschlechtsspezifischen Habitus – als spezifisches generatives Prinzip von Handlungsentscheidungen – könnte sich in dieser Perspektive mit der Spezifik der Subjektbildung erklären. Der weibliche Habitus wäre strukturell betrachtet also krisenerprobter und – bei gelungener Krisenbewältigung – auch krisenresistenter und gefestigter. Mithin ist demnach die Autonomieentfaltung von Frauen potenziell wahrscheinlicher. Als geschlechtsspezifische Habitusform ließe sich im weiblichen Habitus eine stärker auf die Balance von Bindung und Selbstbezug fokussierte Haltung annehmen, während der männliche Habitus demgegenüber eine geringere Bindungsfähigkeit aufweisen würde. Eine empirische Plausibilisierung erfährt diese These nicht nur in der Alltagsanschauung, sondern auch durch verschiedene Studien aus der (älteren) Sozialisationsforschung (vgl. exemplarisch Beck-Gernsheim/Ostner 1978; Bilden 1980; Chodorow 1978). 297
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Zu einem anderen Ergebnis kommen meine Fallrekonstruktionen. Zwar lassen sie keine Aussagen über den Sozialisationsprozess und den Verlauf der Subjektbildung zu, weil sie am erwachsenen und realisierten Lebensentwurf ansetzen. Doch erlaubt die Analyse der Fallstrukturen Rückschlüsse auf eventuelle geschlechtsspezifische Besonderheiten der Subjektbildung. Dabei zeigt sich im kontrastiven Vergleich der habituellen Differenzen in den Fällen zunächst keine Geschlechtsspezifik. Von der balancierten Autonomie (bei Frau Spenzel und Herrn Schulz), über einen kompensatorischen Aktionismus (Herr Blöker-Olbert, Frau Grebe) bis zur resignativen Reaktion auf fehlende Identifikationsmöglichkeiten (Frau Ziller und Herrn von Quant) finden sich die Ausdrucksformen geschlechtsübergreifend. Strukturell – so lässt sich folgern – sind die Möglichkeit zur Autonomieentfaltung und auch die Anforderung einer selbstbestimmten Lebensführung für das moderne Subjekt geschlechtsindifferent eröffnet und beziehen alle drei gesellschaftlichen Bewährungsfelder für beide Geschlechter ein. Zur Spezifizierung möglicher Geschlechtshabitus verdient die Bindungsfähigkeit Aufmerksamkeit. Ihr kommt nicht nur theoretisch für die Ontogenese besondere Bedeutung zu als mögliches genetisches Prinzip für die Herstellung von Geschlechterdifferenz. Sondern die Bindungsfähigkeit stellte sich auch empirisch für die konkrete Realisierung der Autonomiepotenziale und für die Sinnstiftung als relevant heraus. An ihr konkretisierten sich habituelle Differenzen. Entgegen der strukturtheoretischen These und im Alltagsverständnis verankerten Annahme einer stärkeren weiblichen Bindungsfähigkeit, zeigen meine Fälle keine eindeutigen Differenzen: Weder stellt sich der Selbstbezug bei den Männern als dominanter dar, noch liegt bei den Frauen eine stärkere Bindung vor. Auch im Verhältnis der in dieser Studie herausgearbeiteten einzelnen Bindungsformen (personale, sachhaltige und kollektive), die man in stereotyper Dichotomisierung noch zwischen eher als männlich gedachten gegenstandsbezogenen bzw. sachhaltigen und eher weiblich konnotierten sozialen Formen polarisieren könnte, ergeben sich keine Differenzen nach dem Geschlecht. In den Rekonstruktionen hatte sich vielmehr die Stärke der Entscheidungsmitte und des Selbstvertrauens als relevant für Differenzen insbesondere in der Bindungsfähigkeit erwiesen. Selbstvertrauen aber rührt aus frühen Erfahrungen von Anerkennung und bewältigter Krisenlösung und entfaltet sich – den hier vorgelegten Ergebnissen zufolge – unabhängig vom Geschlecht. Ältere Studien aus dem Kontext der geschlechtsspezifischen Sozialisationsforschung (vgl. für einen zusammenfassenden Überblick Bilden 1980; Dausien 1999; Gildemeister 1988: 490f.) weisen noch auf Differenzen zwischen Mädchen und Jungen in 298
V. SCHLUSS
den Entfaltungsräumen hin, wie sie durch Erziehungspersonen, Institutionen und Peers eröffnet werden. Diese gründeten etwa auf größere Freiräume zur Selbsterprobung von Jungen, die ihnen eine Krisenbewältigung als Zumutung und Chance gewährten, während die Erfahrungsbereiche von Mädchen geringer waren und ihnen dadurch Wachstumschancen verwehrt wurden, und sei es aus wohlgemeintem Schutz vor Scheiterns- oder Risikoerfahrungen. Ein anderes Phänomen ist die Akzeptanz selbstbezogenen, auch aggressiven Handelns von Jungen und die Erwartung und Förderung bindungsbezogenen Handelns von Mädchen. Diese Differenz scheint aber zumindest in meinen Fällen nicht mehr prägend gewesen zu sein. Offenbar werden beiden Geschlechtergruppen gleichermaßen Erfahrungsräume eröffnet, Krisenbewältigung abverlangt, und die Kanalisierung männlich oder weiblich konnotierter Haltungen in der sozialisatorischen Praxis hat nachgelassen. Damit haben auch Vorgaben für die Stellungnahme von Männern und Frauen zu den Bewährungsfeldern an Eindeutigkeit und Verbindlichkeit verloren. Im Sinne der hohen Bedeutung der selbst bestimmten Lebensentwürfe ist auch hier dem Subjekt stärker als zuvor eine autonome Entscheidungsbegründung abverlangt, die die Ausdeutung der Geschlechtlichkeit und ihrer Relevanz für die Realisierung des Lebensentwurfs einschließt. Die ‚doppelte und widersprüchliche Sozialisation‘ ist damit nicht mehr nur für die weibliche Subjektbildung charakteristisch und für Frauen zu bewältigen, sondern die Verankerung des Bezugs auf sowohl außerfamiliale als auch familiale Praxisfelder in der „Bedürfnisstruktur“ (Knapp 1990: 27) führt dann auch in der männlichen Biografie in Krisenkonstellationen und Ambivalenzen. In der Erfahrung der Zerrissenheit von Herrn Schulz tritt dieses Phänomen hervor und verlangt von ihm eine klare Positionierung. Die „objektive Unvereinbarkeit dieser Bedürfnisse mit den historisch entwickelten Strukturen von Arbeit und Arbeitsteilung“, wie Knapp es interpretiert (ebd.: 28), stellt sich in meinen Fällen daher als Schwierigkeit dar, die Bewährungs- und Handlungslogiken der Bewährungsfelder in Einklang zu bringen. Unter den Bedingungen einer radikalisierten Bewährungsdynamik und dem entwickelten hohen Anspruch an vielfältige Bezüge der Selbstverwirklichung – die sich geschlechtsübergreifend einer Vereinseitigung auf entweder berufliche oder familiale Wahrnehmungs- und Ausdruckserfahrungen entzieht – entsteht hier der Konflikt einer Gewichtung und möglicherweise zeitweiligen Einschränkung der angestrebten Vielfalt. Die Bezugnahme zum Bewährungsfeld Elternschaft hat sich in allen Fällen als Prozess und in einigen auch als konflikthaft erwiesen. Auch dieser Befund steht im Gegensatz zu Differenzannahmen, die eine wie auch immer begründete weibliche Affinität zur Fürsorge postulieren. 299
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Die Antizipation einer späteren Familiengründung prägt in meinen Fällen nicht, wie von Oevermann vermutet und in anderen Studien konstatiert wird (Geissler/Oechsle 1996; Kühn 2004), die Ausrichtung des beruflichen oder auch gemeinwohlbezogenen Engagements. Zumindest lässt sich dies für die hier rekonstruierten Entscheidungsstrukturen Hochqualifizierter sagen. In den Fällen, in denen die spätere Elternschaft noch während der beruflichen Qualifizierung oder in frühen Berufsjahren zum Bestandteil des Lebensentwurfs wird (wie bei Frau Spenzel, Herrn Schulz oder Herrn Blöker-Olbert), steht die gewählte Form der Aufgabenverteilung in Passung zu den vorherigen Erfahrungen – etwa den Grenzen der Selbstverwirklichung unter einer Vereinseitigung auf nur einen Lebensbereich – und zum Habitus, der in diesen Fällen einen Selbstschutz vor Fremdbestimmung in Form einer Überlastung einschließt. Es werden Möglichkeiten gesucht und gefunden, die für beide Partner und ihre Vorstellungen von Elternschaft passend erscheinen in der gezeigten Vielfalt der Lösungsformen. Das Prozesshafte der Elternschaft zeigt sich nicht nur bei den Vätern als Hineinwachsen in die Vaterposition und als aktiver Aufbau einer eigenständigen Bindung, wie Herr Schulz es prägnant beschreibt, sondern auch bei den Müttern. Hier kommt es vor allem in solchen Fällen zu biografischen Konflikten, in denen der Kinderwunsch überraschend einbricht in eine bis zur Übernahme elterlicher Verantwortung dominierende berufliche Bewährungssuche. In der extremen Form einer wenig ausgebildeten Bindungsfähigkeit wird im Fall Grebe deutlich, dass die Bezugnahme auf das familiale Bewährungsfeld nicht über den Weg bis dahin ausgebildeter Handlungs- und Deutungsroutinen möglich ist, sondern eine Krise hervorruft, die nach neuartigen Lösungen verlangt. Die Fallrekonstruktion hat aber als Triebfeder des Scheiterns einen tiefer liegenden Konflikt ans Licht gebracht: Die Familiengründung ist nicht ursächlich für die Krisenerfahrung, auch stellt sich die Krise nicht als Vereinbarkeitsproblem dar, weder auf der organisatorischen, noch auf der Ebene widerstreitender Bewährungslogiken. Sondern Frau Grebe gelingt nur mühsam eine Transformation ihrer Fallstruktur in Richtung größerer Souveränität und Autonomie in ihrer Antwort auf die Sinnfrage. Hatte die Suche nach Anerkennung schon zuvor im beruflichen Feld ihre Sachbindung beeinträchtigt, so setzt sich diese Labilität in der Lebensführung auch in der personalen Bindung in der Fürsorge für ihren Sohn fort. Auch Frau Ziller beschreibt die Erfahrung ihres Mutterwerdens als allmähliche und unvorhergesehene 180°-Wendung. Als Kern ihres biografischen Konflikts konnte ein Identifizierungsproblem rekonstruiert werden, das sie ähnlich wie Frau Grebe zunächst an der Authentizität der Lebensführung scheitern lässt. Dabei eröffnet das positive Identifizierungsangebot der 300
V. SCHLUSS
männlichen Familienlinie mit Fragen der Technik einen erweiterten Handlungs- und Deutungsspielraum, den sie aber nicht lebendig ausfüllen kann. Die 180°-Wendung beschreibt den Wechsel von der väterlichen zur mütterlichen Identifizierung, die nicht widerspruchsfrei gelingt und angesichts dessen sie sich hin und her gerissen fühlt. Eindringlich zeigt sich an diesen Fällen die Belastung, die mit der radikalisierten Bewährungsdynamik für den Einzelnen einhergeht. Die Stärke und Kohärenz des Habitus erweist sich im Fallvergleich als entscheidend für die Wahrnehmung und den autonomen Umgang mit Handlungsmöglichkeiten. Das zeigen die Fälle, in denen Krisenerfahrungen zu einer Autonomieentwicklung führen. In allen Fällen ließen sich solche transformatorischen Entscheidungsstellen finden. Es lag ihnen immer die Erfahrung zugrunde, mit den bisherigen Deutungs- und Handlungsroutinen an eine Grenze des Machbaren oder Wünschenswerten zu stoßen. Bei Herrn Schulz war es eine negative Vereinseitigungserfahrung im Referendariat, die seine Überzeugung reifen ließ, nicht nur zu leben aus Beruf. Frau Spenzel hatte früh ihre selbst gesetzten Lebensziele wie das Studium und die politische Arbeit im Rat der Stadt erreicht und war zugleich während des Studiums an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und Interessen an wissenschaftlicher Arbeit gestoßen. Beides macht ihr möglich, sich neu zu orientieren und die Familiengründung als weiteren sinnstiftenden Lebensbereich einzubeziehen. Herr von Quant hatte lebensgeschichtlich früh Konsequenzen aus seiner negativen Familienerfahrung gezogen und sich gegen eigene Kinder entschieden. Im Studium wurde ihm ferner deutlich, dass auch ein Beruf, in dem er sich mit Kindern beschäftigen müsste, zu ihm nicht passt. Und schließlich hatte auch Herr Blöker-Olbert eigene Ansprüche als Schutz vor Ansprüchen anderer entwickelt und eine Routine des Aktionismus gefunden, für die die Vielfalt der Bewährungsfelder gerade funktional ist. Entgegen der Kritik am Autonomiebegriff etwa Zeitdiagnostiker (Beck, Keupp u.a.) ebenso wie durch postmoderne Geschlechterforschung wird hier deutlich, dass es nicht um ein abstraktes, Identitätszwang erzeugendes Ideal oder um eine unrealisierbare Fiktion geht. Sondern die fallspezifischen Lösungen zeigen den Grad an Autonomie, der der Lebenspraxis in ihrer spezifischen Gestalt möglich ist. Dem Prozess der zunächst familiären Sozialisation kommt daher entscheidende Bedeutung in der Ausbildung des Autonomiepotenzials und der gefundenen Sinnstiftung zu, allerdings in anderer Weise als gemeinhin angenommen wird3 und als es derzeit in der öffentlichen Diskussion
3
Einen positiven Zusammenhang zwischen aktiver Vaterschaft des eigenen Vaters und dem fürsorgerischen Engagement der Söhne (und Töchter) se301
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
als Hoffnung formuliert wird: Starre geschlechtsspezifische Bewährungsdynamiken könnten sich lockern, indem etwa durch die aktuelle Gesetzeslage zum Elterngeld mehr Väter aktiv die Fürsorge übernehmen und damit für die Folgegeneration Zeichen neuer Aufgabenverteilung gesetzt werden (Statistisches Bundesamt 2008). Denn die Sinnstiftung von Männern und Frauen folgt nicht unbedingt dem Vorbild der Eltern in der jeweiligen Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil. Sondern die Wahrnehmung eröffneter Möglichkeiten geschieht in einigen Fällen durchaus entgegen das gelebte Vorbild der Eltern. In keinem der Fälle gab es (Vollzeit oder dauerhaft) berufstätige Mütter. Ebenso wenig waren Väter vorhanden, die selbst für eine gewisse Zeit vorrangig die familiale Fürsorgetätigkeit wahrgenommen haben. Die hier rekonstruierten Fälle entstammen mehr oder weniger durchgehend dem Familienideal der westdeutschen Nachkriegszeit. Indem aber die Lebensentwürfe der Kinder ihren Eltern nicht folgen, zeigt sich die historische und kulturspezifische Variabilität in den Handlungsspielräumen und die Transformierbarkeit der Ausdeutung der Geschlechtlichkeit. Vor allem die Krisen- und Scheiternsmomente waren nicht nur aufschlussreich für die Subjekt- und Habitusbildung, sondern auch für die Wirkung der Anerkennungsordnung auf biografische Konflikte. Nicht als individuelle Schwächen und Stärken interessieren hier solche Phänomene, sondern als Hinweise auf widersprüchliche Deutungsangebote für Handlungsentscheidungen. Gerade auf dieser Ebene – der sozialen Praxis der Ausdeutung des Richtigen und Möglichen – entzünden sich biografische Widersprüche, die eine Differenz zwischen den Geschlechtern erst relevant machen.
2.2 Geschlechtsspezifische Bewährungsmythen zwischen Sachhaltigkeit und Bedeutungsaufladung Der Bewährungsmythos als kollektive Erzählung vom anerkannten Leben wirkt v.a. über Deutungsmuster prägend auf Handlungsentscheidungen. Solche Deutungsmuster gehen durch die sozialisatorische Praxis in die Subjektbildung ein und umfassen geschlechtsspezifisch eröffnete oder verschlossene Ausdrucksmöglichkeiten des Selbst. Die Fallrekonstruktionen konkretisieren den Prozess der produktiven Aneignung der Selbstbezüge und der subjektiven Ausdeutung der Relevanz der Geschlechtlichkeit vor allem in einer Hinsicht: Der ausgebildete Habitus erweist sich als entscheidend auch für den Umgang mit der Anerken-
hen zahlreiche Autoren der neuen Väterforschung (vgl. exemplarisch Bosse/King 2000; Fthenakis 1999; Matzner 2004; Vaskovics/Rost 1999). 302
V. SCHLUSS
nungsordnung und für den Grad der autonomen Bezugnahme auf den in der Anerkennungsordnung eröffneten Möglichkeitsraum der geschlechtlichen Identifizierung. Das hatte sich insbesondere daran gezeigt, dass eine sachhaltige Leistungsethik im Beruf meist mit einer relativ großen Souveränität auch in der Gestaltung der weiteren Lebensbereiche einhergeht. Diese Form entwickelter Autonomie bei der Begründung eigener Entscheidungen lässt eine zeitweise Relativierung der Bedeutung des Berufs zu (etwa bei Herrn Schulz oder Frau Spenzel). Auch die männliche Bereitschaft zur Übernahme familialer Aufgaben beruht auf einem souveränen Habitus und kann sich dann gegen das vorherrschende Deutungsmuster mütterlicher Fürsorge durchsetzen. Weniger scheint die väterliche Fürsorge Folge eines Milieueffektes4 zu sein, wie er etwa von Koppetsch und Burkart (1999) konstatiert wird, oder aus pragmatischen Motiven zu erwachsen, wie es Meuser (2006: 274) schließt. Pointiert: Je entwickelter die Autonomie, desto souveräner der Umgang mit der eigenen Geschlechtlichkeit und mit darauf bezogenen Deutungsmustern. Souveränität und Selbstbestimmung können sich dabei in Gestalt konventioneller Geschlechterbeziehung zeigen (wie etwa bei Frau Spenzel und ihrer sukzessiven Reduzierung der Arbeitszeit und des Ehrenamtes), ohne habituell traditional zu sein. Insofern bezeichnet die Einschätzung einer Retraditionalisierung des Lebenslaufs infolge der Familiengründung (Kühn 2004) einen Automatismus, der nicht unbedingt für die Lebensführung bestimmend ist. Vielmehr haben die Rekonstruktionen den hohen Grad an Reflexivität gezeigt, mittels derer welche Konstellation auch immer versucht wird, in Passung zur Person und ihrem Habitus zu bringen. Traditional aussehende Formen der Geschlechterarrangements aber auf eine „konsensuale Traditionalisierung des Lebenslaufs“ zu rückzuführen, wie Born (2001: 40) es abgrenzt gegen die vormalige Form stillschweigend traditionaler geschlechterdifferenter Arbeitsteilung, geht an der Sache vorbei: Die von der Autorin in Anschlag gebrachten Strukturen der „geschlechtsspezifischen Segregierung des Arbeitsmarktes“ (ebd.) werden zu Sachzwängen erklärt, die das Subjekt einer Entscheidungsbegründung entheben und damit als Opfer von Strukturen entmündigen. Meine Fälle zeigen dagegen anhand des hohen Begründungsaufwandes einen ausgeprägten Anspruch auf die eigensinnige Gestaltung des eigenen Lebens und auf einen respektablen Ausdruck der eigenen Geschlechtlichkeit. Nimmt man die Begründungen der Handlungsentscheidungen ernst, stellt sich der Wirkungsmechanismus von Arbeitsmarktstrukturen umgekehrt dar: Weil etwa Frau Ziller
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Der Milieueffekt kann jedoch aufgrund des akademisch geprägten Samples nicht ausgeschlossen werden. 303
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
und Frau Spenzel für ihre Kinder sorgen wollen, suchen sie Erwerbsmöglichkeiten in Teilzeit. So bilden sich geschlechtsspezifische Erwerbsmuster in der Folge getroffener Entscheidungen. Da in der Privatwirtschaft kaum diesen Wünschen angemessene Arbeitsangebote existieren, sind Kompromisse erforderlich, die nicht den Idealvorstellungen entsprechen. Frau Grebe und Frau Ziller können daher ihre Berufsambitionen nicht realisieren. Es wurde jedoch auch deutlich, dass Frau Zillers Ambitionen so weit nicht reichen, dass sie tatkräftig um deren Realisierung bemüht ist. Auch sind es nicht die Gatten, die etwa Frau Ziller und Frau Spenzel von einem anders gelagerten Arbeitseinsatz abhalten, sondern ihre eigenen Vorstellungen ihrer Mutterschaft. Sie ringen um Anerkennung ihrer Entscheidungen als authentische und stehen in deutlicher Auseinandersetzung mit der vorherrschenden Anerkennungsordnung. Wodurch ist die Anerkennungsordnung nun gekennzeichnet? Finden sich Bezugnahmen auf Deutungsmuster, die auf eine Geschlechtsspezifik vorherrschender Bewährungsmythen hinweisen? Indem die individuell gefundenen Antworten auf die Sinnfrage sowohl durch die Struktur der Bewährungsdynamik an die grundlegenden Handlungsprobleme gebunden sind als auch einer Evidenz bedürfen, stellen sie sich nicht als beliebig dar. Sondern sie beruhen zum einen auf einer Sachangemessenheit der Problemlösung, die zum anderen kulturell anerkannt sein muss. Zwischen der strukturellen Angemessenheit von der Sache her und ihrer Deutung können nun insbesondere in Phasen der Transformation – etwa bzgl. der Auffassungen zum Geschlechterverhältnis – Widersprüche auftreten. Diese Diskrepanz zeigt sich in allen Bewährungsfeldern und vor allem im Wechselverhältnis zwischen Familie und Beruf, wie es meist als Vereinbarkeitsproblem thematisiert wird. In der gesellschaftlichen Deutung eines anerkennenswerten Lebens spielt die leistungsethische Bewährungssuche geschlechtsübergreifend eine herausgehobene Rolle, wie die Rekonstruktionen zeigten. Von fallspezifischen Besonderheiten der Bedeutung des Berufs abgesehen, wurde deutlich, dass die Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen in der sachhaltigen Bindung an berufliche Problemlösungen ein hohes Sinnpotenzial – im Gesamt der inhaltlichen, gegenstandsbezogenen, ästhetischen und sozialen Aspekte – aufweisen. Auch war vorne (Kapitel II.2) die grundlegende Bedeutung und das sinnstiftende Potenzial der beruflichen Leistung konstitutiv aus der Struktur der Gleichwertigkeit in Asymmetrie rekonstruiert worden. Auf der Deutungsebene stellt sich die berufliche Bewährung demgegenüber auf doppelte Weise als mythisch aufgeladen heraus: Erstens widerspricht die Asymmetrie der Bewährungsfelder einer Vorrangstellung der beruflichen Bewährung. Stattdessen setzt die Bindung an den Beruf 304
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ontogenetisch die Vergemeinschaftung in diffusen Sozialbeziehungen voraus, also die Ausbildung einer personalen und sozialen Bindung. Die Anerkennung als ganze Person hat ihren Ort in der vergemeinschaftenden Praxis. In der rollenförmig strukturierten zweckgerichteten Kooperation für die Lösung beruflicher Aufgaben hingegen ist nicht die ganze Person in ihrer Besonderheit integriert, sondern die Person in ihrer Fähigkeit zur Problemlösung nach ökonomischen Effizienzkriterien. Das Sinnpotenzial beruflicher Bewährung ist daher strukturell begrenzt im Vergleich zu den gemeinschaftsbezogenen Feldern. Mythisch aufgeladen erscheinen in dieser Perspektive auch die bekannten Deutungsmuster der Unabkömmlichkeit von Höherqualifizierten oder Fach- und Führungskräften in bestimmten beruflichen Aufgaben, die zur Plausibilisierung geschlechtsdifferenzierter Aufgabenteilung in Familie und Beruf Anlass geben oder – insofern Frauen diesem Mythos folgen – einen kulturellen Grund für Kinderlosigkeit darstellen. Zweitens besteht ein weiteres Moment der Bedeutungsaufladung darin, dass eine Vorrangstellung des Berufs zur Gleichwertigkeit der drei Bewährungsfelder für die gesellschaftliche Reproduktion und ihre wechselseitige Abhängigkeit in Widerspruch steht. Die führende und dominierende Stellung des beruflichen Bewährungsfeldes gegenüber anderen gesellschaftlich notwendigen Bereichen ist daher sachlich und strukturell unangemessen. Die in der Anerkennungsordnung aufgeladene Bedeutung der beruflichen Bewährung als Königsweg eines anerkennenswerten Lebens hat ihre historische Entwicklungsgeschichte. Aber durch die gestiegene Produktivität ist ein Vorrang der materiellen Reproduktion nicht mehr aus ihrer vormaligen gesellschaftlichen Funktionalität für die Überwindung des Mangels zu begründen, weil die ökonomischen Probleme der Sicherung der Lebensgrundlagen durch wissenschaftlichtechnischen Fortschritt entschärft sind. Belege für die Bedeutungsaufladung in der Anerkennungsordnung finden sich sowohl in den Programmatiken der großen Parteien als auch in den arbeitsmarkt-, sozial- und familienpolitischen Entscheidungen der letzten Jahre. Die Existenzsicherung ist nicht zuletzt durch die Reformen des Sozialgesetzbuches und die sog. Hartz-Gesetze geschlechtsübergreifend an die (Bereitschaft zur) Erwerbstätigkeit gekoppelt worden. Damit trägt die Sozialgesetzgebung dem Umstand Rechnung, dass sich eine Geschlechtsspezifik in der beruflichen Bewährung nicht mehr auffinden lässt, die berufliche Selbstverwirklichung sich verallgemeinert hat und insofern auch die an die Erwerbsarbeit gekoppelten Einkommen auf individuellem Weg unter Absehung vom Geschlecht zu sichern sind. Aus gleichstellungspolitischer Perspektive scheint dies ein Fortschritt zu
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sein, denn dieser politischen Entscheidung unterliegt eine Deutung der Gleichheit von Männern und Frauen in ihren Rechten und Pflichten. Wenn aber die wechselseitige Abhängigkeit der Bewährungsfelder und ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Reproduktion betrachtet werden, stellt sich dies nicht nur als Effekt der unangemessenen Bedeutungsaufladung der Erwerbsarbeit dar, sondern auch als sozialpolitischer Kurzschluss. In Anbetracht der grundlegenden Bedeutung, die der Herausbildung personaler und kollektiver Bindung für das Gemeinwesen zukommt, kann man familiale und gemeinwohlbezogene Tätigkeiten nicht widerspruchsfrei (im Sinne der Anerkennungsordnung) aus der Legitimation der Existenzsicherung herausnehmen. Stellt man zudem in Rechnung, dass Frauen für das Gelingen dieser Bindung einen hauptsächlichen Beitrag leisten, indem sie (immer noch) stärker als Männer die Fürsorge übernehmen, dann steht eine Kopplung der Existenzsicherung an die Erwerbsarbeit auch in Widerspruch zum Gleichheitsgebot. Solange sich die Lebensführung unterscheidet, führt eine Gleichbehandlung im Sinne der beruflichen Anforderungen zur Verhärtung von Ungleichheit, in diesem Fall zur Prekarisierung weiblicher Lebensführung und Existenzsicherung. Oder eine solche Gleichbehandlung erzeugt einen normativen Druck zur Arbeitsaufnahme, der weder den Wünschen der Eltern, den Bedürfnissen der Kinder noch einer gesellschaftlichen Notwendigkeit entspricht und der schließlich auch zu unerwünschten Nebenfolgen einer geringen Geburtenrate beiträgt. Allein aus einem Emanzipationsverständnis einer Gleichheit durch Erwerbsarbeit rechtfertigt sich diese Maßnahme. In einem solchen Emanzipationsverständnis aber wiederholt sich der Widerspruch zwischen der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Bewährungsfelder und der Geringschätzung familialer und gemeinwohlbezogener Tätigkeiten gegenüber den beruflichen. Eine weitere mythische Bedeutungsaufladung bezieht sich auf die Mutterposition: Hat sich im Beruf eine Geschlechtsspezifik der Bewährung weitgehend aufgelöst, so birgt die Familie als Bewährungsfeld noch geschlechtsspezifische Bewährungsmythen. Denn im Unterschied zum Beruf hat sich weder auf der Ebene der lebenspraktischen Aufgabenverteilung noch auf der Deutungsebene die familiale Bewährung geschlechtsübergreifend verallgemeinert. Auch wenn meine Fallauswahl zeigt, dass sowohl strukturelle Gründe als auch Deutungsangebote eine Geschlechterdifferenzen überscheitende Sinnstiftung prinzipiell eröffnen, so hatte sich die Ausdeutung der Mutterposition als zentrales Konfliktfeld erweisen. Weit über die sachangemessene Anerkennung der Bedeutung der mütterlichen Position in der Struktur der familialen Triade hinaus ist das Deutungsmuster der ‚guten Mutter‘ Ausdruck dieser Bedeutungsaufladung. Spiegelbildlich zum Mythos der Unabkömmlich306
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keit in der Erfüllung beruflicher Aufgaben, erscheint hier die personale mütterliche Bindung in der überzogenen Gestalt einer umfassenden zeitlichen, räumlichen und emotionalen Präsenz. Die Diffusität der familialen Primärbeziehung involviert zwar die ganze Person, das übersteigerte Bild einer vollständig den Bedürfnissen des Kindes und weiterer Familienangehöriger folgenden Mutter aber kommt einer bis ins Pathologische gesteigerten Selbstaufgabe gleich mit zum Teil verheerenden Folgen für die Familien- und Ablösungsdynamik.5 Beide Normen aber – der Vorrang der beruflichen Bewährung für die Anerkennung eines gelungenen Lebens sowie die Ausdeutung der Elternschaft als in erster Linie mütterliche Fürsorge – erzeugen einen auf der Deutungsebene nur für Frauen geltenden Widerspruch. Er wurde in dieser Studie als kultureller double bind rekonstruiert. Er besteht in der Polarisierung zwischen der ‚Rabenmutter‘ – einer Chiffre für Frauen, die sich auf den Beruf konzentrieren und damit der dominierenden Wertschätzung eines anerkannten Lebens durch den Beruf folgen, dabei aber vermeintlich ihre mütterlichen Pflichten vernachlässigen – und der ‚guten Mutter‘, die sich gänzlich der Fürsorge widmet. Für Mütter – das zeigt sich insbesondere im Fall Grebe – ist eine den Vätern vergleichbare berufliche Bewährung und Anerkennung damit nicht möglich. Die Verve der aktuellen öffentlichen Diskussion etwa über die Ausgestaltung der Elternzeit und des Elterngeldes speist sich aus genau dieser fundamentalistischen Gegenüberstellung im ‚Kampf um Anerkennung‘ (Honneth) des Lebensentwurfs, befeuert von der inhärenten Widersprüchlichkeit der Anerkennungsordnung in Bezug auf das ‚gute‘ und das heißt richtige und anerkennenswerte Frauenleben. Es ist ein Frauenthema in dieser Zuspitzung auf der Ebene der Deutungsmuster und der Anerkennungsordnung, denn für Männer existiert dieser Normenkonflikt zwischen Elternschaft und beruflicher Bewährung nicht. Daher gewinnen Geschlechterdifferenzen vor allem als kulturelles Phänomen der Ausdeutung und diskursiven Praxis Relevanz. Es findet sich auf dieser Ebene eine Geschlechtsspezifik, auf die Becker-Schmidt und Knapp schon in den 1980er Jahren hingewiesen haben (vgl. auch Gottschall 1995: 38): Während sich für Männer in einem Lebensentwurf mit dominanter Bewährung im Beruf eine „Gleichsinnigkeit“ zur Anerkennungsordnung einstellt, führt der weibliche Lebensentwurf zwischen der Ausrichtung an beruflicher und familialer Bewährung zu eben dieser „Widersinnigkeit“, auf die der kulturelle double bind hinweist.
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Ein entsprechender Fall konnte hier aus Gründen des Umfangs nicht aufgenommen werden. Er ist skizziert in Fischer (2006). 307
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Oevermann ist insofern zuzustimmen, dass in der Mutterschaft tatsächlich geschlechtsspezifische Bewährungsdynamiken verankert sind, jedoch nicht in dem von ihm vorgetragenen strukturellen Sinn von der Sachlogik (der mütterlichen Fürsorge) her, sondern vor allem als Folge vorherrschender geschlechtsspezifischer Bewährungsmythen – oder in anderen Worten: aufgrund der Wirksamkeit geschlechtsspezifischer Deutungen und Diskurse, die ihre Wirkmächtigkeit aus einer scheinbaren natürlichen und alltagsweltlichen Plausibilität beziehen.
2.3 Fazit: Konstitution und Konstruktion der Geschlechterdifferenzierung Die Fall-Rekonstruktionen zeigen, dass keineswegs eine Beliebigkeit in der Stellungnahme zu den Bewährungskarrieren zu finden ist, auch keine Abwesenheit der Geschlechterthematik, dass aber doch eine Vielfalt an konkreten Ausgestaltungen existiert. All diese Erscheinungsformen sind nun nicht als Irrelevanz der Geschlechtlichkeit zu interpretieren, genauso wenig wie als völlige Offenheit und Freiheit in den Selbstbezügen oder als Konstruktionsergebnis aus einer Vielfalt von Deutungsangeboten. Stattdessen sind sie als Variationen über ein Thema zu verstehen: die Verschränkung kultureller Deutungsmuster, Normen sowie institutionalisierter Formen der gesellschaftlichen Reproduktion einerseits mit der individuellen Wahrnehmung und dem Ausdruck des Selbst andererseits. Die Konstitution der Geschlechtlichkeit vollzieht sich wie die Subjektbildung allgemein als Prozess der Auseinandersetzung mit diesen Handlungsproblemen und deren kulturell anerkannten Lösungsformen. Die Anerkennungsordnung wird dabei auf habituell geprägte Weise dem Subjekt anverwandelt. Der subjektspezifischen Stellungnahme zur Bewährung kommt in dieser Aneignung der Möglichkeit und Wirklichkeit eine grundlegende und identitätsbildende Bedeutung zu ebenso wie sie andersherum Identität zum Ausdruck bringt. Sowohl bezogen auf die Geschlechtlichkeit als auch in Bezug auf andere Einflussstrukturen auf die Lebensführung – wie etwa die soziale Lage, das Herkunftsmilieu, der ethnische Hintergrund – geht es um das Verhältnis von Emergenz und Determination der spezifischen Ausformung der Relevanz universeller Strukturen. Jede Konstruktionsleistung, wie sie sich in den Deutungsmustern zur Relevanz des Geschlechts und dem Selbstverständnis als Mann oder Frau ausdrückt, hat diesen Bezug zur Realitätsebene der Handlungsprobleme, die sich je nach leibgebundener und inkorporierter Disposition unterschiedlich darstellen und – für das moderne Subjekt – individuell zu bewältigen sind.
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Der Eintritt in die Elternschaft ist dabei ein entscheidender Relevanzhersteller, gerade wenn sie im Lebensentwurf zuvor ausgeblendet bleibt, wie es in einigen der Fälle geschieht. Die Relevanz stellt sich dabei aber weniger über die sachhaltige Form der Problemlösung her, etwa in der Bedeutung der engen Mutter-Kind-Bindung und eine daraus ableitbare geringere Sachbindung an Aufgaben der materiellen Reproduktion. Es sind nicht die Strukturen der familialen Triade, die eine spezifische Stellung von Frauen zur familialen Bewährung begründen. Vielmehr hatte sich gezeigt, dass die Anerkennungsordnung hier in höchst widersprüchlicher Weise Deutungsmuster für die Handlungsentscheidungen von Müttern und Vätern anbietet. Ebenso ist deutlich geworden, dass die Art der Bezugnahme im Wesentlichen habituell geprägt ist und der Handlungsspielraum um so authentischer gefüllt wird – in Anlehnung an konventionelle Ausdeutungen der Geschlechtlichkeit oder in deren Ablehnung – je stärker die entwickelte Autonomie ist. Dieser Zusammenhang existiert unabhängig vom Geschlecht des Subjekts, verlangt aber dennoch von Frauen die Bewältigung größerer Ambivalenzen, wie sie durch die Anerkennungsordnung gegeben sind. Deren Widersprüche werden besonders deutlich im Phänomen des kulturellen double bind, das eine Geschlechtsspezifik in der Bewährungsdynamik erst erzeugt: Die Deutungsmuster der elterlichen als dominant mütterlichen Bewährung auf der einen Seite und der für alle geschlechtsunspezifisch geltenden beruflichen Bewährung auf der anderen Seite konfrontieren Frauen mit stärkeren Konflikten als Männer. Nehmen Männer elterliche Aufgaben wahr wie Herr Blöker-Olbert oder Herr Schulz, geraten diese nicht in die Zwickmühle eines kulturellen double bind, da das Deutungsmuster eines ‚guten Vaters‘ nicht in vergleichbarer Bedeutungsaufladung existiert. Sie steigern stattdessen zusätzlich zur beruflichen Bewährung ihr Sinnpotenzial, sie bringen mit anderen Worten zusätzliche und nicht normativ erwartete Leistungen. Unter Legitimationsdruck stehen sie allerdings auch, v.a. gegenüber einer arbeitsbezogenen Deutung der Unabkömmlichkeit oder einer Männlichkeitsvorstellung, deren Identität an den Status des Haupternährers geknüpft ist. Von dieser müssen sie sich ebenso frei machen wie die berufstätigen Frauen vom Deutungsmuster der ‚guten Mutter‘. Um dies zu bewältigen, sind ein gefestigter Habitus und ein unterstützendes Milieu förderlich. Die größere Offenheit der Ausdeutung der Geschlechtlichkeit, der Variationsspielraum der Handlungsmöglichkeiten unabhängig vom Geschlecht bilden nun neuartige Herausforderungen an die gesellschaftliche Kohärenzbildung zur Lösung der grundlegenden Handlungsprobleme. Indem konventionelle Lösungen – allen voran die geschlechtsspezifische Abspaltung der Fürsorge für Kinder (und andere Pflegebedürfti309
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
ge) als selbstverständliche Aufgabe von Frauen – zum Bestandteil der eigenständigen Entscheidungen und damit auch begründungsbedürftig geworden sind, tritt zum einen die wechselseitige Abhängigkeit vormals geschlechtsspezifischer Bewährungsdynamiken hervor sowie die Notwendigkeit neuartiger Lösungen auf der Ebene der Gesellschaft. Auf die Frage der Integration und Anerkennung wirft dies abschließend ein neues Licht.
3. Bewährungsdynamik und Geschlechterverhältnis in der gegenwärtigen Krisenkonstellation Die Aspekte, die auf eine Bedeutung der Geschlechtlichkeit in Bezug auf die Sinnstiftung hinweisen, sind also unlösbar mit der Anerkennungsordnung verbunden. Die wechselseitige Abhängigkeit der Bewährungsdynamiken zeigt sich in ihrer vollen Wirkmächtigkeit und gesellschaftlichen Relevanz genau in dem Augenblick besonders klar, in dem bisher mehr oder weniger friktionsfreie Vereinbarungen oder Arrangements erodieren. Die Frage der Kohärenz der gesellschaftlichen Anerkennungs- und Geschlechter-Ordnung stellt sich genau dann und verlangt nach angemessenen Lösungen. Welche Aspekte eine Angemessenheit gewährleisten, kann anhand der Ergebnisse modellhaft konkretisiert werden.
Ein Modell der Kohärenz In Kapitel II. ist die dreifache Reproduktion der Gesellschaft in ihrer sexuellen, materiellen und sozialen Dimension als Notwendigkeit beschrieben worden, die in der Moderne durch die Sphären der Familie, des Berufs und der Gemeinwohlbeiträge gesichert wird. Diese Grundstruktur konstituiert den Möglichkeitsraum zum einen für die Sinnstiftung und zum anderen für die gesellschaftliche Integration. Bewährungsdynamik und Anerkennungsordnung sind insofern wechselseitig mit einander verwoben. Für das Gelingen dieser Reproduktionserfordernisse unter den Bedingungen der Moderne sowie unter der in dieser Studie deutlich hervortretenden radikalisierten Bewährungsdynamik lassen meine theoretischen Überlegungen und empirischen Ergebnisse Schlussfolgerungen auf drei Differenzierungsebenen zu: 1. Personale Kohärenz: Im Sinne eines fallspezifischen kohärenten Habitus stellt eine Passung des Subjekts in seinem Werden zu den Handlungsmöglichkeiten und ihrer Realisierung den Kern der Identität dar. Diese auf das Selbst bezogene Kohärenz lässt sich auch als „innere Ko310
V. SCHLUSS
härenz“ (Keupp u.a. 1999: 12) oder für den Prozesscharakter und die Gestaltbildung treffender auch als habituelle Kohärenz bezeichnen. Die Aneignung einer geschlechtlichen Identität vollzieht sich auf dieser Ebene als aufgeschichtete Erfahrung der durch universelle Strukturen und ihre historisch und kulturspezifische Ausformung eröffneten Entscheidungsräume sowie in der eigensinnigen Auseinandersetzung mit ihnen. Der Leib als Ausgangspunkt und Ort der Erfahrung strukturiert die Konfrontation mit dem Bewährungsproblem, ohne dass die konkrete Stellungnahme determiniert ist. Indem jedoch die soziale Praxis der Deutungsroutinen mit Bezug auf die Geschlechtlichkeit in die Subjektbildung eingeht, vollzieht sich auch die Identitätsbildung nicht als beliebig zusammen fügbares Patchwork, sondern in verbindlicher, produktiver Auseinandersetzung mit dem Möglichen und Faktischen. Diese spezifische Konfrontation ist für die Genese eines geschlechtlichen Habitus maßgeblich. Die gestiegenen Freiheitsgrade – oder auch „Entgrenzung des Möglichkeitssinns“ wie Keupp u.a. (ebd.: 296) es nennen – der Handlungsentscheidungen und ihrer Begründung sind dabei konstitutiv für die Ausbildung einer modernen personalen Kohärenz statt sie zu gefährden. Zur Belastung oder auch Bedrohung werden sie dann, wenn eine kohärente Habitusbildung nicht gelingt. 2. Geschlechterbezogene Kohärenz: Auf der Ebene der Geschlechterbeziehungen treffen habituell geprägte Subjekte in ihrem spezifischen Verständnis ihrer Geschlechtlichkeit und der Sinnstiftung in der Paarkonstellation aufeinander. Nur wenn es hier zu einer paarspezifischen Passung kommt, ist die Bedingung der Aufrechterhaltung der personalen Kohärenz zur Seite des Subjektes hin gesichert wie auch der kollektiven Kohärenz zur Seite der Sozialität als Ganzer. 3. Kollektive Kohärenz: Auf der Ebene der Sozialität treffen nicht nur Subjekte mit ausgebildeten Handlungs- und Deutungsroutinen aufeinander, sondern hier geht es um eine Passung der Anerkennungsordnung und der gesellschaftlichen Regulation im Sinne politischer Entscheidungen und der Ausgestaltung von Institutionen als Konkretisierungen des Möglichkeitsraums einerseits zur Sicherung der Reproduktionserfordernisse andererseits. Wie die Analysen gezeigt haben, ist die gesellschaftliche Reproduktion nur auf Basis habitueller und geschlechtsbezogener Kohärenz möglich. Auf gesellschaftlicher Ebene ist daher die Möglichkeit zur Entfaltung der Bindung nicht nur an das Gemeinwesen, sondern auch in Form der personalen Bindung an die Primärgemeinschaft insbesondere in der Familie sowie in der sachhaltigen Bindungsdimension der Leistungsethik entscheidend. Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlicher Integration sind in diesem mehrdimensionalen Raum wechselseitig verwobener Bindungen 311
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
in den Bewährungsfeldern zu sehen und herzustellen bzw. zu erhalten und entsprechend der fortschreitenden Modernisierung und Individuierung weiterzuentwickeln. Eine Charakterisierung solcher Bedingungen der Integration, auch der Subjekt- und Identitätsbildung als ‚flexibel‘ und ‚situativ‘ geht an dieser Sachlage vorbei. Stattdessen zeigten sich Normen und ihr Niederschlag in Deutungsmustern ebenso wie in institutionalisierten Entscheidungen als gültige Bezugspunkte der produktiven Auseinandersetzung des Subjekts in seiner Geschlechtlichkeit mit der Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern. Solche Normen kommen insbesondere im Bewährungsmythos zum Ausdruck, betreffen aber auch einzelne Felder wie etwa den Gerechtigkeitsentwurf bei der Ausgestaltung der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und die Anerkennungsmomente für einzelne Tätigkeitsbereiche. Das Problem der Kohärenz betrifft damit sowohl den Einzelnen in seinem Lebensentwurf und im Scheitern oder Gelingen seiner Verwirklichung, als auch das Gemeinwesen in seiner Gesamtgestalt. Gesellschaftliche Integration ist somit als dreifache Vergesellschaftung der Subjekte zu fassen in wechselseitig aufeinander verwiesenen Bewährungsfeldern. Indem die Ausdeutungen der Geschlechterdifferenz und ihre Ausdrucksformen in Normen und institutionellen Regelungen der Anerkennungsordnung verankert sind, spannt die Aufgabe der gesellschaftlichen Reproduktion immer schon den Bogen von der Geschlechterdifferenz zum Geschlechterverhältnis. In diesem Komplex der dreifachen Bindungsformen, der dreifachen Kohärenz sowie der dreifachen Reproduktion werden nun auch die Quellen der Inkohärenz in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Krisenkonstellation sichtbar. Sie zeigen sich insbesondere in biografischen Widersprüchen als geschlechtsspezifische Bedingungen der Möglichkeit zur authentischen Selbstverwirklichung.
Quellen der Inkohärenz Eingangs waren die gesellschaftlichen Krisenphänomene in den drei umfassenden Bereichen der Familie, des Arbeitsmarktes und der Gemeinwohlbindung zum Ausgangspunkt der Frage genommen worden, welche Art von Krise vorliegt. Die These einer Krise der Kultur (der Bewährung) kann nun differenzierter gefasst werden. Im Modell der Kohärenz wird der Zusammenhang zu den Formen der Bindung auf der einen Seite und den Erfordernissen der gesellschaftlichen Reproduktion auf der anderen Seite über das zentrale Bindeglied der Anerkennungsordnung hergestellt, wie sie insbesondere auf der Ebene der kollektiven Kohärenz wirksam wird. Die Krise der Kultur wird dann als Kohärenzkrise sichtbar, in der sich nun die in der Abbildung skizzierten Störungsquellen abzeichnen. 312
V. SCHLUSS
Abbildung 3: Störungsquellen der gesellschaftlichen Kohärenz
Kohärenz
Bindung - personale
Störung
- sachhaltige
Störung
- kollektive
Reproduktion
- personale - geschlechterbezogene
Störung
- sexuelle
Störung - materielle - soziale
- kollektive
Die Bindungsfähigkeit resultiert aus dem Gelingen der Sozialisation. Indem diese aber eingewoben ist in die soziale Praxis nicht nur des sich bildenden Subjekts, sondern auch der sozialisierenden Personen, steht sie nur in einem ontogenetischen Blickwinkel am Anfang der ‚Kette‘. Sie ist eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung der personalen Kohärenz und damit auch für die Autonomie des Subjektes. Denn die Fallrekonstruktionen haben gezeigt, dass die Stärke des Habitus über die Art des Umgangs mit der Anerkennungsordnung bestimmt. Ob sich aber eine Bindung entfalten kann, hängt nicht nur von der Primärgemeinschaft ab, sondern indem diese eine soziale Praxis verkörpert innerhalb der übergeordneten Vergemeinschaftung, ist sie verknüpft mit der Anerkennungsordnung und auf deren kollektive Kohärenz verwiesen. Die Frage, worauf die Gemeinschaft Anerkennung gewährt, welche Ausformungen der Sinnstiftung – geschlechterbezogen – als anerkannt gelten, geht auf diesem Weg in die Subjektbildung ein. Haben sich die personalen, sachhaltigen und kollektiven Bindungsformen ausgebildet, bedarf es zur Sicherung der personalen und geschlechterbezogenen Kohärenz auch einer Realisierungschance im Sinne einer Möglichkeit für die authentische Wahrnehmung und den Ausdruck des Selbst. Hier liegt die erste Störungsquelle: Inkohärenzen können sich nun in Widersprüchen innerhalb des Normengefüges der Anerkennungsordnung zeigen. Wird in der Anerkennungsordnung etwa eine sachhaltige Bindung wertgeschätzt und ihre Realisierung dominant als marktförmige Leistung gedeutet, erfahren personale und auf das Kollektiv bezogene Bindungsformen nur eine geringe Wertschätzung. Gelten widersprüchliche Normen, kommt es zu kulturellen double binds, wie es hier exemplarisch anhand des Normenwiderspruchs zwischen der mütterlichen Fürsorge und der geschlechtsübergreifenden Norm beruflicher Bewährung zu Tage trat. Gesellschaftliche Widersprüche entzünden sich gegenwärtig insbesondere daran, dass die Lebensentwürfe von Männern und Frauen nicht mehr einer nach Geschlecht dichotom ausgestalteten Aufgabenteilung folgen und die Antworten auf die Sinnfrage sowie die 313
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
Stellungnahme zu den Bewährungsfeldern geschlechterübergreifend beantwortet werden, aber die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen noch einer Anerkennungsordnung mit geschlechtsspezifischen Mythen folgen. In den Fällen zeigen sich diese Inkohärenzen in den rekonstruierten biografischen Widersprüchen als Spiegel der widersprüchlichen Anerkennungsordnung. Auf der Ebene der Entscheidung des Einzelnen (etwa wenn von innerer Zerrissenheit gesprochen wird) werden gesellschaftliche Widersprüche dem Einzelnen und dem Paar zur Lösung aufgegeben. In Deutungsmustern der Beschwichtigung kommen Inhalt und Stärke der Inkohärenzen zum Ausdruck. Wenn etwa Frau Grebe über das konservative Deutschland klagt, stellt dies eine Abwehr der durch den kulturellen double bind verweigerten Anerkennung dar. Hier ist nicht nur die personale Kohärenz gestört im Sinne einer fehlenden Passung zwischen Frau Grebes Lebensentwurf und ihren Realisierungsmöglichkeiten. Sondern die Störung der kollektiven Kohärenz besteht in widersprüchlichen Anforderungen in der Anerkennungsordnung selber. Insofern sind solche Widersprüche auch nicht lösbar auf der Ebene des Subjekts oder des Paares, sondern im Gerechtigkeitsentwurf und in Dimensionen der Anerkennung in den Bewährungsfeldern. Die zweite Störungsquelle markiert eine fehlende Übereinstimmung der Anerkennungsordnung mit den Erfordernissen der gesellschaftlichen Reproduktion: Die Bedingungen der Möglichkeit und Sicherung der dreifachen Reproduktion sind mit der Anerkennungsordnung verwoben insofern sie erstens gelungene personale, sachhaltige und kollektive Bindungen voraussetzen und zweitens indem die Anerkennungsordnung die Ausgestaltung der institutionellen Regelungen leitet, sowie umgekehrt in den staatlichen Regulierungen die Anerkennungsordnung zum Ausdruck kommt. Konkret sind hier die Lebens- und Gestaltungsbedingungen der Familien involviert, ebenso wie Arbeitsverhältnisse und auch Möglichkeiten zu gemeinwohlbezogener Tätigkeit. Folgen nun institutionelle Regelungen – wie etwa die Arbeitsmarkt-, Familien- und Sozialpolitik – der Maßgabe einer geschlechtsübergreifenden Erwerbsverpflichtung, wird damit nicht nur die Bedeutungsaufladung der Erwerbsarbeit für das Gesamt der Reproduktion gespeist, sondern es steht dies in Widerspruch zur sexuellen und gemeinwohlbezogenen Reproduktion. In steigender Kinderlosigkeit gerade von Hochqualifizierten zeigt sich eine Folge solcher Wertsetzungen. Politische Entscheidungen über Rahmenbedingungen, allen voran die Gestaltung der Kinderbetreuung, sind in diesem Zusammenhang zu sehen und zu beurteilen. Das Vereinbarkeitsproblem, verstanden als Unvereinbarkeit von sachangemessenen Handlungslogiken, besteht nicht unabhängig von organisatorischen Möglichkeiten seiner Bewältigung. Dabei spielen insti314
V. SCHLUSS
tutionelle Rahmenbedingungen eine wichtige Doppelrolle: Zum einen gewähren sie Handlungsoptionen oder schränken diese ein, etwa durch die Bereitstellung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Zum anderen – und das scheint nach den Ergebnissen meiner Fallrekonstruktionen der hauptsächliche Aspekt zu sein – sind institutionelle Regelungen Ausdruck der Anerkennungsordnung. In der Konsequenz helfen dann bspw. Kinderbetreuungseinrichtungen nicht nur zur organisatorischen Bewältigung der Berufstätigkeit der Eltern. Sondern sie wirken unterstützend, weil in der Schaffung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten zum Ausdruck kommt, dass eine Berufstätigkeit der Mütter (auch kleiner Kinder) gesellschaftlich gewollt und akzeptiert ist. Sie sind zu verstehen als Gegengewicht zum Mythos der guten Mutter und eröffnen im Sinne der von Müttern (nicht nur meines Samples) gewünschten Selbstverwirklichung im Beruf eine reale Wahlmöglichkeit, die nicht von einer negativen Deutung überlagert wird. So war der Verweis von Frau Grebe auf die Beispiele Skandinavien und Frankreich zu verstehen. Es ging Frau Grebe angesichts ihrer gefundenen, wenn auch aufreibenden Vereinbarkeitslösung gerade nicht um eine Hilfe zur Organisation der Kinderbetreuung, sondern um eine Veränderung der Denkweisen im konservativen Deutschland, um die ersehnte Anerkennung zu finden. Die Bedeutung von politischen Regulierungen, etwa der Förderung der Frauenbeschäftigung in Führungspositionen oder der Ausbau von Kinderbetreuungsmöglichkeiten, liegt daher weniger auf der Ebene organisatorischer Vereinbarkeitsbedingungen, sondern im Wesentlichen auf der Ebene kultureller Deutungsmuster. Solche Maßnahmen sind Ausdruck einer Akzeptanz moderner, selbst bestimmter Lebensführung jenseits der Geschlechterdifferenz. Insofern sie allerdings allein auf die Ausweitung der Berufstätigkeit bezogen sind, richten sie zugleich eine Barriere für authentische Entscheidungen auf, indem sie das Schattendasein familialer Bewährung für Mütter wie für Väter vertiefen. Daher sind beide Formen der normativen Aufladung als Quelle für gesellschaftliche Inkohärenz einzuschätzen: Sowohl die Hypostasierung der ‚guten Mutter‘ als auch die Überbewertung der beruflichen Bewährung stehen einer Selbstverwirklichung im hier entwickelten Sinne eines authentischen Selbstausdrucks entgegen. Ein Bewährungsmythos ‚guter Elternschaft‘ und sachgebundener – und das hieße auch zwischen den Lebensbereichen balancierter – Leistungsethik steht aber noch aus. In ihm müsste die gesellschaftliche Bedeutung der Fürsorge und gemeinwohlbezogener Tätigkeit Ausdruck und Anerkennung finden. Zu gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gehören neben der Familien- und Arbeitsmarktpolitik auch personal- und organisationspolitische Entscheidungen innerhalb erwerbswirtschaftlicher Organisationen, in 315
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
denen Deutungsmuster der Geschlechtlichkeit Eingang finden. Auch hier scheinen erst politische Regelungen – wie aktuell die Vätermonate innerhalb der Elternzeitregelung – zu veränderten Ausdeutungen und in Folge dann auch zu erweiterten Handlungsmöglichkeiten zu führen. Indem nun Väter auf konkretisierter6 gesetzlicher Grundlage ihren Vorgesetzten mit dem Anliegen einer Freistellung zur Kindererziehung gegenüber treten können, werden in Unternehmen Möglichkeiten einer väterfreundlichen und das hießt in der Konsequenz elternfreundlichen und gemeinwohlförderlichen Personalpolitik ersonnen. Was in meinen Fällen vorerst nur im öffentlichen Dienst anzutreffen war, könnte sich über eine Verbreitung in privatwirtschaftliche Organisationen längerfristig als veränderte Anerkennung der Fürsorge entwickeln. Erst wenn die Fürsorge nicht mehr als ‚Frauenthema‘ gedeutet wird, sondern ebenfalls einen verallgemeinerten Bewährungsmythos darstellt, wird sich eine Geschlechtsspezifik der biografischen Konfliktkonstellationen auflösen und der Entscheidungsraum jenseits der Geschlechtergrenzen geöffnet sein. Es wäre eine Anerkennungsordnung, die der radikalisierten Bewährungsdynamik gerecht würde, die es konsequent dem Einzelnen überlässt, inwiefern er sich der beruflichen, familiären und gemeinwohlbezogenen Bewährung widmet. Nicht nur die kollektive Kohärenz würde so gestärkt, sondern auch die Reproduktionsbedingungen verbessert. Resümierend liegen also Störungen dann vor, wenn der Bewährungsmythos keine kohärente Lösung der gesellschaftlichen Reproduktionserfordernisse befördert, also wenn keine Passung zwischen dem Mythos und den Reproduktionserfordernissen besteht und seine Evidenz vor dem Kollektiv gestört ist. Das Evidenzproblem tritt insbesondere dann hervor, wenn die politischen Regulierungen sich als nicht tragfähig im Sinne der dreifachen Kohärenzerfordernisse erweisen oder nicht auf Akzeptanz beim Souverän stoßen. Es handelt sich um die von Habermas (1973: 70f.) als „Legitimationskrise des politischen Systems“ entschlüsselte Problemlage. Dieser Legitimationskrise liegt auch Habermas zufolge eine kulturelle Krise zugrunde, die er als Motivations- und schließlich Identitätskrise versteht. Leistungsmotivation, personale und kollektive Kohärenz – so kann nun mit der hier vorgelegten Studie spezifiziert werden – erodieren dann, wenn der Sinngehalt des Handelns für den Einzelnen nicht erfahrbar wird, weil entweder die Anerkennung für bestimmte Tätigkeitsfelder verweigert wird oder aber die Realisierungs6
Elternzeitregelungen haben sich auch schon vor der Neuregelung des Elterngeldes an sowohl Mütter als auch Väter gerichtet. Doch scheint die Konkretisierung der Bezugsdauer des Elterngeldes an Väter, die sich für die Fürsorge vom Arbeitgeber freistellen lassen, zu einer vermehrten Inanspruchnahme durch Väter zu führen (Statistisches Bundesamt 2008).
316
V. SCHLUSS
chancen für ausgebildete Handlungsantriebe nicht bestehen. Für die drei eingangs erwähnten Krisenlagen – der Krise des Arbeitsmarktes, der Familie und des Gemeinwesens – lässt sich folgern, dass sie Ausdruck einer Kohärenzkrise sind. Nicht die materielle Reproduktion ist durch die Arbeitslosigkeit gefährdet, sondern die Realisierungschance des Selbstausdrucks auf der Ebene sachhaltiger Bindung, sofern diese auf die Erwerbsarbeit verengt gedeutet wird. Eine Gefährdung der sexuellen Reproduktion im Sinne einer hinreichenden Geburtenrate und einer gelingenden Sozialisation ergibt sich als Folge der Vorrangstellung der beruflichen Bewährung unter den Bedingungen widersprüchlicher Normen und familiären Lebensbedingungen v.a. für die weibliche Biografie. Die soziale Reproduktion erodiert dann im Gesamt dieser Krisenlage in Form eines Vertrauensverlustes in die Lösungskompetenz der politischen Entscheidungsträger vor dem Hintergrund einer Frustration unrealisierbarer Vorstellungen der Selbstverwirklichung im Komplex der personalen, sachhaltigen und kollektiven Bindungen. Oder einfach gesagt: Wenn vorhandene, ausgebildete Fürsorge- und Leistungsbereitschaft und Gemeinwohlbindung nicht zu verwirklichen sind, weil erstens die Einsatzmöglichkeiten fehlen oder sie zweitens nicht wertgeschätzt werden, dann ist die Bindung an das Gemeinwesen gefährdet. Im Ergebnis handelt es sich bei beiden Störungsquellen um Störungen der Integration infolge einer gestörten kohärenten Anerkennung.
4. Ausblick Aus den Ergebnissen dieser Studie ergeben sich Schlussfolgerungen für die Krisenbewältigung: Kohärente Handlungsbedingungen können nur entstehen, wenn sie der radikalisierten Bewährungsdynamik gerecht werden, also eine authentische, eigensinnige Wahrnehmung und einen ebensolchen Ausdruck des Selbst ermöglichen in Anerkennung der individuierten Lösungswege für die Handlungsprobleme. Insbesondere die Geschlechtlichkeit kann dabei als Differenzschema in der Deutung von Bewährungskarrieren nicht mehr hinreichen. Auch können gesellschaftliche Problemlösungen nicht mehr einer geschlechterstereotypen oder dichotomen Aufspaltung gesellschaftlicher Bereiche oder Zuständigkeiten folgen. Erforderlich für eine nachhaltige Sicherung nicht nur der Kohärenz, sondern damit einher gehend auch der gesellschaftlichen Reproduktion ist also nichts Geringeres als eine Kultur der Selbstverwirklichung. Sie müsste Bedingungen schaffen, in denen die vorhandene Bereitschaft zu Leistung, Fürsorge und gemeinwohlbezogenen Tätigkeiten realisiert werden kann. Dies würde einer Kultur der Anerkennung indi317
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
viduierter Bewährung entsprechen. Die Anerkennungsordnung müsste dazu ‚vom Kopf auf die Füße‘ gestellt werden: Nicht der Werktätige ist das Fundament des Gemeinwesens, sondern der Bürger. Die Vorherrschaft der beruflichen Bewährung und der mit ihr verbundenen strukturellen und bewährungsmythischen Kurzschlüsse müsste einer Anerkennung des Bürgers und seiner individuierten Vorstellungen von einem sinnerfüllten Leben weichen. Das so genannte Vereinbarkeitsproblem stellte sich dann als Frage der temporären Prioritätensetzung dar, innerhalb oder außerhalb geschlechtsspezifischer Aufgabenteilung, wäre aber nicht mehr mit Widersprüchen und Bedeutungsaufladungen belastet. Die konkreten Gestaltungsmöglichkeiten einer solchen ‚neuen Kultur der Bewährung‘ sind nun nicht mehr Gegenstand dieser Studie. Eine Vision, in der wesentliche Aspekte meiner Ergebnisse enthalten sind, hat mit der Diskussion um ein ‚bedingungsloses Grundeinkommen‘ eine Aktualisierung erfahren (vgl. Fischer u.a. 2003). In konsequenter Entkopplung der Frage des Lebenssinns vom Einkommen würde ein Grundeinkommen genau den Boden bereiten, auf dem die freie Entscheidung in kollektiver Bindung zum Ausgangspunkt des Handelns wird. Selbstverwirklichung vollzieht sich dann als autonom gewählter Ausdruck des Selbst in welchen Beiträgen des Einzelnen auch immer: ob für die Familie, im Beruf oder für das Gemeinwesen, sei es nacheinander oder alles zugleich. Dies gälte bei gesicherter Existenz geschlechtsübergreifend und vergrößerte den Möglichkeitsraum für Entscheidungen, die auch eine geschlechterbezogene Kohärenz aufweisen und Geschlechtergrenzen überschreiten können. Die Gewährung eines Grundeinkommens für alle ohne Nachweis einer Bedürftigkeit oder einer Berechtigung würde eine Gleichwertigkeit der Lebensbereiche – respektive Bewährungsfelder – herstellen, wie es ihrer gesellschaftlichen (Reproduktions-)Bedeutung entspricht. Die „Monokultur einer Arbeitsgesellschaft“ (Eckart 2000: 9) würde schwinden, stattdessen stünden Möglichkeiten sachhaltiger Leistungen auch jenseits bezahlter Arbeit offen. Und nicht zuletzt würde der Bürger als Zweck an sich Anerkennung erfahren. Gesellschaftliche Integration wäre damit strukturell, durch den mit dem Grundeinkommen verknüpften Anerkennungsmodus und die damit gewährten Lebensbedingungen, an die kollektive Vergemeinschaftung gebunden in all ihren Dimensionen. In diesem Zusammenhang und aus den erzielten Ergebnissen lassen sich abschließend offene Forschungsfragen formulieren. Für die weitere Erforschung des gesellschaftlichen und kulturellen Gestaltungsbedarfs müssten die Kohärenzprobleme weiter ausgeleuchtet werden. Für ein besseres Verständnis insbesondere der Bedeutungsaufladung von Mutterschaft und Berufserfolg im Bewährungsmythos könn318
V. SCHLUSS
te eine methodologische Öffnung der Forschungsperspektive zu diskursanalytischen Verfahren weitergehende Erkenntnisse bieten. Die ‚Mütterideologie‘ und ‚Vergötterung‘ der Erwerbsarbeit könnte auf diesem Weg in ihrer Genealogie rekonstruiert werden. Ohne herrschaftskritischen Impuls ist eine solche Vorgehensweise auch anschlussfähig zur konstitutionstheoretischen Perspektive, wie sie in dieser Studie eingenommen wurde.7 Der genaue Wirkungszusammenhang zwischen institutionellen Regelungen und der in ihnen zum Ausdruck kommenden Anerkennungsordnung auf der einen Seite und den Möglichkeitsräumen und ihren Realisierungschancen auf der anderen Seite bedarf vertiefender Forschung. Die Frage der Emergenz neuer Handlungsroutinen und Deutungsmuster scheint, den vorgelegten Ergebnissen zufolge, habituell zu verstehen zu sein. Doch wie vollzieht sich eine Verallgemeinerung neuer Muster? Muss von einer ‚Avantgarde‘ radikalisiert individualisierter Lebensführung ausgegangen werden, die sich zur Not gegen die vorherrschende Anerkennungsordnung durchsetzt? Welches sind dagegen die Beharrungskräfte, die auch zumindest die männlichen Fälle meines Samples noch weitgehend zu Ausnahmen machen? Welche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Körperbasis in der Sozialisation und hier besonders in der Ausbildung des Lebensentwurfs zu? Auch diese Frage konnte anhand der Fallrekonstruktionen nur angedeutet, nicht aber befriedigend beantwortet werden. Zu ihrer soziologischen Erforschung wären vermutlich Beobachtungen von Eltern- und Betreuerinteraktionen mit kleinen Kindern aufschlussreich. Denn auf der Ebene explizierbaren Erziehungsverhaltens gehen Eltern, Erzieher und Lehrer von einer Gleichbehandlung von Mädchen und Jungen aus. Will man Differenzen aber nicht in den vorsozialen Raum der Körperbasis verlagern, müssen sie sich in der sozialisatorischen Interaktion einspuren, die der Körperbasis erst ihre soziale Bedeutung verleiht. Eine Zusammenarbeit mit Neurobiologen und Entwicklungspsychologen könnte hier ein fruchtbares Erkenntnisfeld erzeugen. Und nicht zuletzt ist es eine offene Frage, wie sich die fortschreitende Erosion des ‚Normalarbeitsverhältnisses‘ und eine Vervielfältigung von Erwerbsformen bei zunehmender Existenzunsicherheit auch von gut Qualifizierten auf die Lebensentwürfe auswirken. Zu vermuten ist ein Kontinuum zwischen den Polen einer radikalisierten Leistungsethik im Sinne erhöhter Anstrengungen zur beruflichen Bewährung, von denen zugespitzt die Figuren des ‚Arbeitskraftunternehmers‘ oder des ‚unter-
7
Für einen ersten Versuch einer produktiven Verbindung beider Forschungsperspektiven siehe Bührmann/Fischer 2008. 319
ANERKENNUNG, INTEGRATION UND GESCHLECHT
nehmerischen Selbst‘ zeugen, auf der einen Seite und einer reflektierten Abkehr aus der ‚Tretmühle‘ im Kampf um knapper werdende Realisierungschancen eines Lebens für den Berufserfolg auf der anderen Seite. Die Gültigkeit der hier vorgelegten Ergebnisse endet dort, wo nötige Kontrastierungen zur Auswahl der hier präsentierten Fälle fehlen. Diese Studie hat den viel kritisierten Mittelschichtsbias deutscher Männer und Frauen. Weitere Kontrastierungen, die hier nicht berücksichtigt werden konnten, finden sich entlang von Differenz und Hierarchie erzeugenden Strukturmerkmalen. Im Sinne der These der Intersektionalität8 – dem Zusammenwirken etwa von sozialer Lage, Geschlecht und Ethnizität – wären Untersuchungen nötig, die Frauen und Männer aus verschiedenen Kulturkreisen ebenso berücksichtigen wie aus verschiedenen Milieus. Insbesondere die starke Bedeutung der beruflichen Bewährung und die rekonstruierten leistungsethischen Bindungsformen könnten durch die vornehmlich akademisch gebildeten Fälle überschätzt worden und nicht verallgemeinerungsfähig sein. Denn ein qualifizierter Bildungsweg zeugt bereits von einer ausgeprägten Leistungsbereitschaft und sachhaltigen Bindung. Die These, dass der Habitus hier entscheidendes Gewicht hat und die Ausformungen der (persönlichen, kollektiven und sachlichen) Bindung sowie das Autonomiepotential vom Bildungsniveau unabhängig ist, muss daher noch geprüft werden. Denn unter der gegebenen Anerkennungsordnung einer hohen Bedeutung der beruflichen Bewährung ist die Selbstbehauptung im Sinne autonomer Lebensführung für diejenigen schwieriger, die aufgrund ihrer geringen oder arbeitsmarktstrukturell unpassenden Qualifikation kaum eine Chance auf eine selbstbestimmte berufliche Tätigkeit haben. Daher wäre eine genauere Untersuchung wünschenswert über förderliche und hinderliche Bedingungen einer entwickelten Autonomie. Eine solche stärker auf Sozialisationsprozesse fokussierte Studie könnte neben der genaueren Bestimmung der geschlechtlichen Subjektwerdung im Bildungsprozess auch das Ergebnis der hier hervor getretenen radikalisierten Bewährungsdynamik weiter ausleuchten. Ein Forschungsfokus auf günstige Bedingungen für das Gelingen der Subjektbildung würde zudem wichtige Hinweise für die derzeit wieder aktuelle Diskussion zur Frage förderlicher Kinder- und Jugendbildung liefern. Besonders interessant wäre, die Gruppe der Jugendlichen zu untersuchen, die entweder eine hohe Gewaltbereitschaft zeigen oder starke Züge der Resignation. Der Zusammenhang zwischen versagter Anerkennung, Perspektivlosigkeit und einer auf den ersten Blick geringen Gemeinwohlbindung verspricht ein aufschlussreiches Untersuchungsfeld zu sein. 8
Vgl. für die deutschsprachige Rezeption dieser These Knapp (2005).
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Transkriptionszeichen Die Transkripte sind wörtliche Widergaben des technisch aufgezeichneten Gesprächs. Es wurden keine Paraphrasierungen oder Kürzungen um Füllwörter (ähm, ja ä) vorgenommen. Sprachliche Besonderheiten wurden ebenfalls beibehalten und nach hörbarem Laut verschriftet. Die Notierungen im Einzelnen: X BG Y
I1, I2I
mit X werden die Interakte im Interview durchlaufend nummeriert; mit Y werden die Interakte des jeweiligen Sprechers (hier BG) durchlaufend nummeriert, z.B.: 4 BG 2 für den vierten Interakt und die zweite Äußerung von Frau BG. bezeichnet den Interviewer. Sind mehr als ein Interviewer beteiligt, werden sie nach 1. und 2. Interviewer unterschieden. bedeutet eine Auslassung in der zitierten Sequenz
[…] I1: +xxx BG: yyy+ Einrahmung aufeinander folgender Äußerungsteile verschiedener Sprecher, die gleichzeitig gesprochen werden und sich überlagern (I1: Mm) markiert kurze Einschübe eines anderen Sprechers, die nicht mit einer eigenen Interaktnummer versehen werden (.) markiert eine kurze Pause (n) markiert eine Pause von n Sekunden Dauer AhmDer Bindestrich beschreibt einen schwebenden Laut Jaaa wiederholte Vokale bilden lang gezogene Sprechweise ab betont Betonung (lacht) in Klammern werden auffallende non-verbale Äußerungen notiert, z.B. auch Räuspern, hörbares Ein- oder Ausatmen , markiert eine leichte Stimmhebung ? starke Stimmhebung ; markiert eine leichte Stimmsenkung . Stimmsenkung d.h. die Satzzeichen haben keine Interpunktionsfunktion, sondern geben die Intonation wieder
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Gender Studies Marie-Luise Angerer, Christiane König (Hg.) Gender goes Life Die Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender Studies 2008, 264 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-832-2
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Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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Christine Thon Frauenbewegung im Wandel der Generationen Eine Studie über Geschlechterkonstruktionen in biographischen Erzählungen 2008, 492 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-89942-845-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Gender Studies Isolde Albrecht Sprache, Arbeit und geschlechtliche Identität Wie moderne Arbeitsbegriffe alte Geschlechtslogiken transportieren. Eine sprachgeschichtliche und psychologische Studie 2008, 390 Seiten, kart., 26,00 €, ISBN 978-3-89942-941-1
Sabine Brombach, Bettina Wahrig (Hg.) LebensBilder Leben und Subjektivität in neueren Ansätzen der Gender Studies 2006, 308 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-334-1
Uta Fenske Mannsbilder Eine geschlechterhistorische Betrachtung von Hollywoodfilmen 1946-1960 2008, 350 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-849-0
Heike Hartung (Hg.) Alter und Geschlecht Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s 2005, 286 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-349-5
Ingrid Hotz-Davies, Schamma Schahadat (Hg.) Ins Wort gesetzt, ins Bild gesetzt Gender in Wissenschaft, Kunst und Literatur
Carmen Leicht-Scholten (Hg.) »Gender and Science« Perspektiven in den Naturund Ingenieurwissenschaften 2007, 188 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-89942-674-8
Margarete Menz Biographische Wechselwirkungen Genderkonstruktionen und »kulturelle Differenz« in den Lebensentwürfen binationaler Paare 2008, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-767-7
Ursula Mıhçıyazgan Der Irrtum im Geschlecht Eine Studie zu Subjektpositionen im westlichen und im muslimischen Diskurs 2008, 290 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-815-5
Rebecca Pates, Daniel Schmidt Die Verwaltung der Prostitution Eine vergleichende Studie am Beispiel deutscher, polnischer und tschechischer Kommunen Februar 2009, 234 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1117-5
Sylvia Pritsch Rhetorik des Subjekts Zur textuellen Konstruktion des Subjekts in feministischen und anderen postmodernen Diskursen 2008, 514 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-89942-756-1
2007, 310 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-595-6
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