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German Pages 242 Year 2015
Jens Szczepanski Subjektivität und Ästhetik
Für Stella, Kathrin und Holger und alle die anderen, denen wir nicht helfen konnten und in deren Verpflichtung wir leben.
Jens Szczepanski (Dr. phil.) lebt als freier Philosoph in Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ästhetik, Subjektphilosophie und Philosophie der Sprache.
Jens Szczepanski
Subjektivität und Ästhetik Gegendiskurse zur Metaphysik des Subjekts im ästhetischen Denken bei Schlegel, Nietzsche und de Man
Diese Arbeit wurde unter dem Titel »Textualität und Subjektivität. Von der Aufgabe der Ästhetik« im Jahre 2006 an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam als Dissertationsschrift eingereicht und von dieser angenommen. Sie wurde von Christoph Menke und Gerhard Gamm begutachtet und am 12.07.2006 verteidigt. Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« an der Freien Universität Berlin/Universität Potsdam entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Jens Szczepanski Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-709-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorbemerkung
7
1. Vorspiele. Metaphysik, Philosophie und ästhetische Erfahrung
9
2. Subjekt, Rationalismus, Ästhetik
51
3. Die Ideologie des Schönen. Subjektivität und ästhetische Erfahrung in Kants Kritik der Urteilskraft 4. Ironie und Poesie bei Paul de Man und Friedrich Schlegel
85 129
5. Sprache, Musik und Spiel in der ästhetischen Erfahrung (Nietzsche) 6. Fazit
175 217
Anhang Alphabetische Übersicht über die wichtigsten Sigel
229
Literaturliste und Sigelverzeichnis
231
Danksagung
239
Überdies soll man sich nicht einbilden, alles sei allein für den Menschen geschaffen. (G.W. Leibniz: Theodicée)
Das Problem ist immer noch, die Welt zu bewohnen. (G. Deleuze: Leibniz)
Das Erbe ist niemals ein Gegebenes, es ist immer eine Aufgabe. (J. Derrida: Marx’ Gespenster)
Verstehen Sie mich richtig: ein freiwilliges, vollkommen bewußtes, durch niemand und nichts erzwungenes Opfer seiner selbst zugunsten aller – ist meiner Ansicht nach das Anzeichen der höchsten Entwicklung der Persönlichkeit, ihrer höchsten Macht, ihrer größten Selbstbeherrschung, ist das Anzeichen der größten Freiheit des persönlichen Willens. [...] Man muß sich so opfern, daß man alles hingibt und sogar wünscht, daß einem dafür nichts wiedergegeben werde – damit niemand durch dich auch nur irgendwelche Unkosten habe. (F.D. Dostojewski: Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke)
Vorbemerkung Gianni Vattimo schreibt in seinem 1986 erschienenen Buch Jenseits vom Subjekt: „Heute sind neue Menschlichkeitsideale möglich, die nicht mehr an die metaphysische Subjektauffassung gebunden sind“.1 Vattimo entwickelt eine Idee dessen, was das heißen könnte, in einer Interpretation vor allem Nietzsches und Heideggers. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, über den Weg einer Kritik an der subjektmetaphysischen Tradition diesen Anspruch auf (neue) Menschlichkeit(sideale) einzulösen oder zumindest einen Beitrag zu seiner Einlösung zu formulieren. Dies geschieht hauptsächlich unter Aufnahme jener ästhetischen Theorien, in denen Alternativen zur neuzeitlichen Metaphysik des subjektiven Selbstbewußtseins aufgehoben sind. Entscheidend ist dabei die Frage, wie sich die ästhetisch bestimmte Gestalt des Subjekts zu dessen außerästhetischen Gestalten verhält. Diese Arbeit versucht eine kritische Rekonstruktion eben dieser ästhetisch bestimmten Subjektivität und versteht sich damit zugleich als der Versuch, das Verhältnis von Subjekt, Praxis und Text neu zu bestimmen und theoretisch auszuloten. Ich möchte zeigen, daß eine philosophische Kritik des Subjekts und der Subjektivität nicht zwangsläufig deren vollständige Tilgung nach sich ziehen muß. Die hier vorgenommene Neubeschreibung von Subjektivität basiert auf der Definition des Subjekts als Selbstverhältnis; mit Heideggers Worten: ein Sein, dem es um sein Sein geht. Zu zeigen wird dabei sein, wie das spezifisch ästhetische Selbstverhältnis des Subjekts beschaffen ist und wie es sich zu außerästhetischen subjektiven Selbstverhältnissen verhält. Das Ziel dieser Arbeit ist also die Kritik des metaphysischen Subjektbegriffs, die aber nicht auf die ersatzlose Streichung dieses Begriffs abzielt. Es geht vielmehr um ein anderes Verständnis von Subjektivität überhaupt. Dieses andere Verständnis läßt sich – so meine These – an spezifischen ästhetischen Paradigmen gewinnen: in bestimmten Beschreibungen der ästhetischen Erfahrung ist implizit (oder explizit) ein anderes Konzept von Subjektivität geborgen, das hier freigelegt werden soll. Dazu möchte ich im einleitenden Kapitel zunächst den Rahmen abstecken, innerhalb dessen ich die Theorie der ästhetischen Erfahrung und Subjektivität entwikkeln möchte. Es ist dafür notwendig, innerhalb dieses allgemeinen Rahmens eine Reihe von Vorfragen zu klären und eine Reihe von Begriffen zueinander in Relation zu setzen, bevor es um spezifisch ästhetische und subjekttheoretische Fragen im engeren Sinne gehen wird. Der erste Abschnitt des ersten Kapitels befaßt sich 1
Gianni Vattimo: Das Fliegenglas, das Netz, die Revolution und die Aufgaben der Philosophie. Ein Gespräch mit ‚Lotta continua‘ (in: ders.: Jenseits vom Subjekt, Passagen, Wien 1986, S. 15-35), hier S. 30.
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mit der Frage, in welchem Sinne hier überhaupt von Metaphysik die Rede ist und wie ihre Kritik oder Überwindung möglich ist. Die Antwort scheint zu sein, daß diese Kritik nur als dauernde, immer wieder von neuem anzugehende strategische Überschreitung durchführbar scheint. Wir können ‚die‘ Metaphysik nicht einfach historisch verabschieden. Die Abschnitte II bis IV beschäftigen sich mit der Frage, wie der zu überschreitende oder zu kritisierende (metaphysische) Subjektbegriff überhaupt konturiert ist. Hier gibt es drei Aspekte dieser Subjektmetaphysik, die je abgearbeitet werden: das Subjekt ist metaphysisch bestimmt als Selbstpräsenz des Bewußtseins (II), als in Bezug auf seinen Ausdruck vorgängiges oder substantielles Individuum (III) und als auf seine Vernunft gegründet (IV). Der Abschnitt V bringt als positive Alternative zum Rationalismus vor allem im Anschluß an Adorno eine (Selbst-)Überschreitung von Vernunft und Subjektivität ins Spiel. Dieser Abschnitt hat gewissermaßen eine Schlüsselstellung innerhalb der Argumentation, denn er verbindet die vorher dargelegte Metaphysikkritik mit den folgenden Ausführungen zur Ästhetik und zur ästhetischen Erfahrung des Subjekts. Die Selbstüberschreitung des Rationalismus führt zu einem selbstreflexiv-gebrochenen Gebrauch der Vernunft, den ich als ‚Hyperrationalismus‘ erläutere. Dieser Hyperrationalismus vollzieht sich wesentlich über ästhetische Paradigmen, was die folgenden Abschnitte des ersten Kapitels näher ausführen. Dabei ist die Frage, welche Paradigmen des Ästhetischen zu einem metaphysikkritischen Verständnis von Subjektivität verhelfen. Abschnitt VI exponiert zunächst eine theoretische Erörterung der ästhetischen Erfahrung, auf die sich als Basis die weiteren Abschnitte und Kapitel beziehen. Der Abschnitt VII beschäftigt sich vor allem mit der weiteren Erläuterung der ästhetisch bestimmten Subjektivität und der außerästhetischen Funktion der Kunst resp. ästhetischen Erfahrung. Dabei geht es auch um die Frage, in welchem Sinne die ästhetische Erfahrung eine Wahrheitserfahrung sein kann. Der Abschnitt VIII analysiert die ideologischen Implikationen des Schönen und der Schönheit. Dies betrifft auch die Frage, was es für das Subjekt bedeutet, etwas als schön zu empfinden und zu beurteilen. Aus der Kritik an der ideologischen Funktion des Schönen wird die Konsequenz gezogen, daß avancierte Kunstwerke das Schöne gebrochen darstellen müssen, wenn sie sich kritisch zu dieser im Schönen implizierten Ideologie verhalten wollen. Der letzte Abschnitt faßt noch einmal das Ergebnis des ersten Kapitels zusammen und gibt einen Ausblick auf die fünf folgenden Kapitel. Das erste Kapitel steckt also den allgemeinen Rahmen ab, in dem sich dann die folgenden feingliedrigeren Kapitel bewegen, die sich genauer auf die je gelesenen Autoren beziehen. Diese Arbeit geht also von einer allgemeinen Theorie aus und bewegt sich hin zu konkreten Einzellektüren, die diese allgemeine Theorie füllen sollen. Der Zusammenhang einer Theorie der ästhetischen Erfahrung und einer ästhetisch bestimmten Subjektivität mit diesen im allgemeinen Rahmen entwickelten Begriffen und Vorüberlegungen mag zwar prima facie nicht sonderlich einleuchten, wird aber hoffentlich im Verlauf des Textes seine Notwendigkeit für die Argumentation erweisen. Es erscheint mir absolut notwendig, diesen weiten Horizont zu eröffnen, um die Frage nach einer ästhetisch bestimmten Subjektivität angemessen erörtern zu können.
1. Vorspiele. Metaphysik, Philosophie und ästhetische Erfahrung I Der Begriff und die Theorie des Subjektes und der Subjektivität sind heute – d.h. seit nunmehr vier oder fünf Dekaden – vakant und in der Krise.1 Die philosophische Kritik am Subjektbegriff – vor allem durch den sogenannten Poststrukturalismus – scheint auf den Vorschlag einer bloßen Tilgung des Subjekts – mindestens des Begriffs2 – im Rahmen einer kritischen Revision oder Dekonstruktion ‚der‘ Metaphysik hinauszulaufen. Dabei ist festzuhalten, daß mit ‚Metaphysik‘ jeweils ganz Unterschiedliches gemeint sein kann. Je nach dem, was man unter Metaphysik versteht, ändert sich auch die Antwort auf die Frage, ob die Überwindung der Metaphysik ein historisches Projekt sein kann. Die Frage ist nämlich, ob die Herrschaft der Metaphysik als kontingent (und damit als historisch ablösbar) oder als notwendig (und damit als unüberwindbar) verstanden wird. Auch wenn also unter Metaphysik ganz verschiedene Dinge verstanden werden, so scheint doch in jener Kritik die Prämisse zugrundegelegt zu sein, daß die Herrschaft der Metaphysik eine historische Epoche kennzeichnet, die man hin auf ein nachmetaphysisches Zeitalter überwinden könne. Gemäß dieser Auffassung sind wir – philosophisch – heute weiter und aufgeklärter, so daß wir uns der früheren, der Hörigkeit der Metaphysik geschuldeten Denkfiguren im Namen einer inzwischen gewonnenen Luzidität im Denken ein für alle Mal entledigen können. Man muß also verschiedene Bestimmungen dessen, was der Titel ‚Metaphysik‘ jeweils meint, zunächst auseinanderhalten, auch wenn diese Bestimmungen sich nicht nur gegenseitig nicht ausschließen, sondern auch untereinander zusammenhängen. 1
2
Cf. z.B.: Gerhard Gamm: Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität (Philo & Philo Fine Art GmbH, Berlin/Wien 2004); ders.: Perspektiven nachmetaphysischen Denkens (in: Andrea Kern/Christoph Menke (Hg.): Philosophie der Dekonstruktion, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, S. 103-124); Gianni Vattimo: Das Ende der Moderne (Reclam, Stuttgart 1990); Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus? (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1983); Walter Schulz: Ich und Welt (Neske, Pfullingen 1979); ders.: Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter (Neske, Pfullingen 1992). Cf. Michel Foucault: Was ist ein Autor? (in: ders.: Schriften zur Literatur, Fischer, Frankfurt/Main 1988, S. 7-31); Jacques Derrida: Die différance (in: ders.: Randgänge der Philosophie, Passagen, Wien 1988, S. 31-56); Roland Barthes: De l’œuvre au texte (in: ders.: Le bruissement de la langue, Éditions du seuil, Paris 1984, S. 69-77); ders.: La mort de l’auteur (in: ders.: Le bruissement de la langue, Éditions du seuil, Paris 1984, S. 61-67).
10 SUBJEKTIVITÄT UND ÄSTHETIK
Es gibt zunächst eine Subjektmetaphysik, die das Subjekt im (vernünftigen) Selbstbewußtsein des Menschen gründet. In den nächsten drei Abschnitten dieses Kapitels werden jeweils Ausformungen dieser Subjektmetaphysik diskutiert. Metaphysisch bestimmt ist das Subjekt als Selbstpräsenz des Selbstbewußtseins (Abschnitt II), als individuelle Substanz (III) und als durch seine Vernunft gegründet (IV). Für diese im engeren Sinne Subjektmetaphysik zu nennenden Varianten scheint eine Überwindung tatsächlich möglich zu sein: Subjektivität muß nicht zwangsläufig im vernünftigen Selbstbewußtsein der menschlichen Individuen gegründet werden, so daß in diesem Sinne postmetaphysische Subjektkonzeptionen durchaus historisch möglich werden. Ebensowenig muß man das Subjekt (oder Individuum) notwendig als Substanz ansetzen. Aber trotz der Möglichkeit einer Revision dieser Subjektmetaphysik reichen bloße Umbenennungen (etwa ‚Dasein‘ statt ‚Subjekt‘) offensichtlich längst nicht aus, um ‚die‘ Metaphysik zu überwinden, was auch immer das heißen soll. Man muß vielmehr aus der Kritik dieser Metaphysik heraus alternative Bestimmungen von Subjektivität gewinnen. Diesem Projekt widmet sich diese Arbeit. Zweitens wird unter Metaphysik auch der logozentrische Charakter der Neuzeit verstanden. Diese Epoche scheint geprägt von der unbedingten Herrschaft des Rationalismus. Auch die Gründung des Subjekts auf seine rationalen Vermögen ist Ausdruck dieser Metaphysik. Es ist hier schon fraglicher, ob eine historische Überwindung möglich ist, oder ob nicht nur strategische Optionen der Kritik bestehen. Trotz aller Kritik am Rationalismus sind nämlich die Mittel dieser Kritik wiederum rational(istisch), so daß wir ihn immer nur strategisch und selbstreflexiv angehen können. Es scheint auch fraglich, ob es einen historischen Nullpunkt, einen Gründungsakt des Logozentrismus gegeben hat, oder ob er nicht stets schon begonnen hat. Auf dieses Problem komme ich in der Diskussion von Descartes im zweiten Kapitel zurück. In einer dritten Weise läßt sich die Metaphysik verstehen als in der Struktur unserer Sprache gegründet. Das betrifft z.B. die Dualismen von Geist und Materie und von Subjekt und Objekt, die in der Grammatik unserer Sprache und damit in unser Begegnen mit der Welt eingeschrieben sind. Es erscheint daher nicht einfach möglich, der unserer Sprache und ihrer Terminologie eingeschriebenen Metaphysik – der grundlegenden Dichotomie des abendländischen Denkens von Subjekt und Objekt, Geist und Materie etc.3 – zu entkommen, solange man gewillt ist, sich weiterhin dieser – d.h. der, denn es gibt keine einfache Alternative zu ihr – (abendländischen) Sprache zu bedienen.4 Unser Denken, das unserer Sprache unhintergehbar eingeschrieben und in ihr verwurzelt ist, kann den metaphysischen Dualismus von Geist (allgemeinem Begriff) und Materie (besonderer Sinnlichkeit) nicht 3
4
Vielleicht ist es die Grundfrage der Metaphysik, wie das Verhältnis von Unbewegtem (Substanz, Subjekt) und Bewegtem (Akzidenz, Sinnlichkeit) zu denken ist oder aber die Frage nach dem Verhältnis von Raum und Zeit, Feststehen und Veränderung. Die gängigen abendländischen Sprachen ähneln sich grammatisch in einem solchen Maße, daß man sie in der hier eingenommenen Perspektive als eine einzige Sprache bezeichnen kann.
VORSPIELE. METAPHYSIK, PHILOSOPHIE UND ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG
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einfach per Dekret über- oder verwinden. Mit einer Verabschiedung bestimmter Begriffe entkommt man noch lange nicht der Metaphysik. Denn das Programm einer einfachen historischen Verabschiedung ‚der‘ dualistischen Metaphysik ist ein unmögliches Projekt, weil diese Metaphysik unserer Sprache nicht äußerlich, sondern ihrer Struktur zutiefst und irreduzibel eingeschrieben ist. In einem weiteren Sinne gründet die Metaphysik in unserer Sprache, eben weil sie Sprache ist und damit Mittel einer Distanzierung unserer unmittelbaren physischen Eindrücke. Ohne Sprache gäbe es überhaupt keine Metaphysik, da die Sprache Bedingung dessen ist, von der präsenten physischen Wahrnehmung der Dinge abstrahieren zu können. Sprache ist selbst Meta-physik, weil nur sie es ermöglicht, die je physische, sinnlich-erfahrbare Gegebenheit der Dinge5 durch die Iterabilität6 ihrer Begriffe zu transzendieren.7 Sprache ist also per se in diesem tieferen Sinn Metaphysik, weil sie unhintergehbar die Weise lenkt, in der wir die Dinge und die Welt wahrnehmen, erfahren, klassifizieren und interpretieren. Ohne Sprache gäbe es keinen Schritt von den einzelnen Sinneswahrnehmungen zum allgemeinen Begriff, der diese Eindrücke einer Ordnung einverleibt, indem er sie gegenüber der Fülle des sinnlichen Eindrucks reduziert, vergleicht und subsumiert. Metaphysisch ist also nicht nur die grammatische Logik von Subjekt und Objekt, nach der wir unsere Erfahrungen organisieren. Die Sprache selbst ist Metaphysik, weil sie notwendig die Illusion erzeugt, es gebe Menschliches, was nicht endlich (also physisch bedingt) ist; es gebe wirklich (d.h. also außerhalb der Sprache bzw. der philosophischen Tradition) Kategorien, Gattungen, allgemeine Begriffe, Subjekte und Objekte, stabile zurechnungsfähige Subjekte, Geist und Materie, Substanz und Akzidenz, die Differenz von Wesen und Eigenschaften etc. Diese Illusion folgt aus dem Schritt der Vernunft, die gegebene besondere Sinnlichkeit (also das Physische) unserer Erfahrung der Dinge hin aufs Übersinnliche (also Meta-physische) – das heißt hier dem allgemeinen Begriff oder der Idee – hin zu ordnen und zu transzendieren. Die hier vorgetragene Kritik an der Metaphysik setzt jedoch wiederum voraus, was sie kritisiert: den Dualismus von Begriff und Sinnlichem, 5
6
7
Hier schließt ästhetisch die These an, daß Schönheit mit der Freisetzung des Buchstabens gegenüber dem Geist einhergeht. Die ästhetische Erfahrung der Schönheit ist darin metaphysikkritisch, daß sie auf der Erfahrung der physischen Präsenz der in einen ästhetischen Zusammenhang gestellten Dinge beruht. Das heißt also, daß die Idealität der Zeichen bzw. die Allgemeinheit der Begriffe durch ihre Wiederholbarkeit konstituiert wird. Diese Wiederholbarkeit ermöglicht erst die Transzendenz durch den Begriff. Cf. hierzu Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext (in: ders.: Randgänge der Philosophie, Passagen, Wien 1988, S. 325-351). Der Mensch ist das Tier, das von seiner konkreten Sinnlichkeit abstrahieren kann und so Sprache, Ökonomie, Metaphysik, Begriffe etc. erfindet. Auch Kunst kann eine explizite Fortsetzung der in die Sprache gelegten Distanzierung vom konkret Sinnlichen sein, z.B. als Phantasie. Insofern ist die Kunstproduktion eine ursprünglich metaphysische und damit anthropologische Tätigkeit. Der Kunst ist also eine gewisse Ambivalenz eingeschrieben: sie ist einerseits die Freisetzung des Physischen gegenüber dem Metaphysischen, andererseits kann sie selbst eine Transzendenz des Physischen sein.
12 SUBJEKTIVITÄT UND ÄSTHETIK
Sprache und Physis, Allgemeinem und Besonderem, auch wenn sie es zu vermeiden sucht, beide gegeneinander auszuspielen. Die Differenz zwischen Metaphysik/ Sprache und Physis/Wahrnehmung ist selbst metaphysisch, denn sie wiederholt die dualistische Unterscheidung von Geist und Materie bzw. Körper. Die (u.a. von der philosophischen Anthropologie ausgearbeitete) Lösung ist vielleicht, beides in der ursprünglichen Einheit des Leibes zu denken. Die Illusion einer Realität allgemeiner Begriffe widerspricht der kritischen – nämlich nominalistischen – Lösung des scholastischen Universalienstreits, derzufolge die universalia post rem sind und nicht in den Dingen selbst liegen.8 Die Begriffe bezeichnen nicht die Dinge an sich, sondern bestimmen bloß unsere Zugangsweise zu ihnen. Insofern sind sie Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinung der Dinge, sofern ‚Erscheinung‘ hier ganz kantisch meint: die Weise, wie sich die Dinge für uns Menschen zeigen. Die strukturelle Unwahrheit allgemeiner Begriffe (durch die Reduktion der Fülle des und die Abstraktion vom Sinnlichen) liegt bereits in der Sprache und kommt nicht nur durch die Sprache zustande. Sprache produziert selbst immer wieder metaphysische Illusionen, die man nur je durch selbst-kritisches Denken hinterfragen und strategisch angehen kann. Da sich unser Denken nur in Sprache vollziehen kann, erscheint die metaphysische Konstitution der Sprache zwar unhintergehbar, sie läßt sich aber sehr wohl strategisch angehen und damit kritisieren und subvertieren: d.h. es gibt in dem metaphysischen Feld nur eine strategische Option zur Umgestaltung dieses Feldes. So schreibt Derrida, daß das logozentrische Dispositiv nur die Möglichkeit einer subversiven Strategie in ihm eröffnet.9 Zur ideologischen Verhärtung wird die Metaphysik hingegen dort, wo sie sich selbst auszustreichen versucht, indem sie ihre Endlichkeit verdeckt: Illusion des Entkommens aus der Illusion. Die prekäre Wirklichkeit der Metaphysik widerspricht jedoch nicht ihrer faktischen historischen Wirksamkeit in der abendländischen Kultur. Die Frage bleibt, für wie dominant man diese Metaphysik historisch ansetzt (cf. Kapitel 2). Die Restitution der Metaphysik folgt aus dem alltäglichen Anspruch an das Funktionieren der Sprache. Die Metaphysik ist dem menschlichen Sprachgebrauch unvermeidbar und unhintergehbar eingeschrieben. So müssen wir in unserer Praxis etwa zwangsläufig Handlungen auf Subjekte zurechnen, um uns in der Welt zu orientieren. D.h. aber auch: es gibt verschiedene Weisen des Sprachgebrauchs: me8 9
Cf. Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter (Reclam, Stuttgart 2000), S. 59-65. Cf. hierzu Jacques Derrida: Cogito und Geschichte des Wahnsinns (in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1972, S. 53-101): „Daß die unüberwindbare, unersetzbare, beherrschende Größe der Ordnung der Vernunft nicht eine Defacto-Ordnung oder Defacto-Struktur, eine determinierte historische Struktur ist, liegt daran, daß man gegen sie nur in ihr protestieren kann, daß sie uns auf ihrem eigenen Feld nur den Rückgriff auf das Stratagem und die Strategie läßt“ (l.c., S. 61). Allerdings spricht Derrida hier vom Logozentrismus, nicht von der Subjektmetaphysik im engeren Sinne. Das beide gleichwohl zusammenhängen, erläutere ich später in Abschnitt IV dieses Kapitels.
VORSPIELE. METAPHYSIK, PHILOSOPHIE UND ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG
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taphysische und der Ideologie verhaftete, aber auch ironische und eher spielerische, die sich kritisch zur Metaphysik verhalten. Das alltägliche ‚Man‘ unreflektierten Sprachgebrauchs markiert dagegen den Abfall des Menschen aus der Eigentlichkeit seines Weltbezugs und -begegnens in die Metaphysik. Der Metaphysik verhaftet ist ein Vernunft- oder Sprachgebrauch, der immer schon alles richtig unter allgemeine Begriffe subsumiert und es damit in der erfolgten Weltauslegung verfügbar hält. Ein solcher Sprach- oder Vernunftgebrauch verhindert gerade die Begegnung mit der physischen Singularität z.B. der Objekte – die daher in die Ästhetik bzw. Kunst ausgelagert und in ihnen aufgehoben ist. Die alltägliche Sprache und der gemeine Verstand werden aus dieser Nötigung zur/der Metaphysik heraus stets die etwa durch philosophische Reflexion zu gewinnende Klarheit trivialisieren. Die not-wendige Selbst-Verdeckung der Metaphysik in unserem alltäglichen Sprachgebrauch bedarf von daher einer steten Kritik10, um deren Wirken zumindest einen Moment lang distanzieren zu können – auch wenn jede handwerkliche Zuhandenheit der Sprache, die dadurch vielleicht zu gewinnen ist, stets wieder von der Metaphysik eingeholt und eliminiert werden wird. Metaphysik heißt hier, daß unser Denken von der grammatischen Struktur der Sprache11, in der es sich vollzieht, und der in ihr gegründeten (logozentrischen) Ordnung irreduzibel abhängt. Gerade aufgrund dieser Abhängigkeit gilt es, auf unseren alltäglichen Sprachgebrauch zu reflektieren, um den in der Sprache wirksamen unbewußten Mechanismen12, die unser Denken lenken, wenigstens ein Stück weit etwas entgegensetzen zu können. Metaphysische Subjektentwürfe und -konzeptionen sind fest in unseren Alltag implantiert: z.B. die grammatische Subjekt/Prädikat-Struktur unserer Sprache, der Dualismus von Subjekt und Objekt oder die Idee der Existenz eines der Praxis vorgängigen Selbsts, das es zu ‚verwirklichen‘ gelte. Diese metaphysischen Konzeptionen und Terminologien formen, strukturieren und organisieren – wie immer un- oder vorbewußt – unser Welt- und Selbstverhältnis und das, was wir als ‚Wirklichkeit‘ bezeichnen. Philosophie, unter deren Anspruch auch diese Arbeit steht, fungiert dann als Kritik der gewohnten Selbstverständlichkeiten und alltäglichen Plattitüden. Philosophie ist Kritik und kritische Reflexion der schlechten Allgemeinheit des alltäglichen Begriffs und seiner Praxis, die alles immer schon kennt und automatisch richtig subsumiert. Der Wert der philosophischen Kritik ist daher zunächst negativ: Infragestellung des Positiven und Positionalen, des dem Selbst Verständlichen. Solange die Metaphysik unserer Begrifflichkeit eingeschrieben ist – d.h. also solange es eine sprachlich zu bezeugende menschliche Geschichte gibt –, können wir sie nicht einfach loswerden, sondern uns nur in ein kritisches Verhältnis zu ihr setzen, indem wir ihre Tradition und ihre Not-wendigkeit stets neu zu befragen suchen. Es gilt also, die metaphysische Tradition in der Weise ihrer Fundierung und 10 Man kann diese Kritik als Ideologiekritik verstehen, wenn man unter Ideologie die Illusionen versteht, die aus der alltäglichen Herrschaft der Metaphysik entstehen. 11 So schreibt Nietzsche: „Ich fürchte wir werden Gott nicht los, weil wir noch an Grammatik glauben.“ Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung (in: ders.: Kritische Studienausgabe Band VI, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/ New York 1967-77 u. 1988, S. 55-162), hier S. 78. 12 Wie z.B. die Tendenz zur Verallgemeinerung.
14 SUBJEKTIVITÄT UND ÄSTHETIK
Bedingung unseres Denkens bloßzulegen, um ihre Funktionsweise zu zeigen und damit die Möglichkeit einer Erfahrung und einer Hoffnung zu eröffnen oder freizulegen, die den Horizont des aufklärerischen Denkens von je an geleitet hat. Wenn Philosophie einen Sinn hat, dann besteht sie in einer Praxis des selbstreflexiven Verstehenwollens, die sich als streng analytische Kritik an der Logik von Begriffen oder Terminologien entfaltet. Sie kann dann zugleich auf einer zweiten Ebene eine systematische Infragestellung kultureller13 Selbstdeutungsmodelle sein, indem sie das Verhältnis von verunsichernder Selbstreflexion und (Selbst-)Fundierung zu denken versucht. Der richtigen Beschreibung dieses Verhältnisses von Selbstreflexion und Selbstbeschreibung, wie es in der ästhetischen Erfahrung und in der Philosophie auf unterschiedliche Weise sich gibt, soll sich diese Arbeit widmen. Philosophie bewegt sich in einer Dialektik zwischen selbstreflexiver Praxis des Verstehenwollens und dem Entwerfen rationaler Begründungssysteme für unsere Vorurteile. Man könnte dies auch als Dialektik von depotenzierender und begründender Reflexion bezeichnen. Dazu gehört auch eine philosophische Kritik an Begriffslogiken, die auch unsere alltäglichen Selbst- und Weltverhältnisse organisieren. Das Wechselspiel von Zweifel und Fundierung, von Selbstreflexion und Selbstbeschreibung ist in der Philosophie in der Weise aufeinander bezogen, daß wir fundierende Selbstbeschreibungen und rationale Begründungssysteme gerade im Durchgang durch radikale Bezweiflungsstrategien und Selbstreflexionen gewinnen. Das alles ist ja aber nichts Neues und seit Descartes’ Strategie des radikalen Zweifels, der angeblich zur Gewißheit des Cogito führt, nicht nur bekannt, sondern auch immer wieder bis zu Gadamer und Derrida reformuliert worden.14 Neue Selbstbeschreibungen werden im Durchgang durch Zweifel und Selbstreflexion gewonnen. Selbstreflexionen sind nur möglich in Bezug auf Selbstbeschreibungen, die sie je unterbrechen. Es gibt sie also nur vermittelt durch Texte. In der Dialektik von Selbstreflexion und Fundierung steht eine sowohl phänomenale wie auch funktionale Bestimmung der ästhetischen Erfahrung, wie sie hier im folgenden unternommen werden soll. Die ästhetische Erfahrung (vor allem an Kunstwerken) vollzieht diese Dialektik als ästhetisches Spiel. In dieser Dialektik entfaltet sich der ideologische Gehalt ‚des‘ Ästhetischen, wie er der Ästhetik – also den ästhetischen Theorien – seit ihrer Gründung bei Baumgarten eingeschrieben ist. Ideologisch ist zunächst der Anspruch an die ästhetische Erfahrung, etwas Außerästhetisches zu gründen. Demgegenüber soll hier eine Beschreibung der ästhetischen Erfahrung geltend gemacht werden, die gerade in dieser ästhetischen Erfahrung eine Selbstreflexion der ästhetischen Ideologien in ihrer fundierenden Funktion für Außerästhetisches möglich werden läßt. Die ästhetische Erfahrung ist der spie13 Mit ‚Kultur‘ ist hier das Selbstverhältnis der Gesellschaft gemeint, das sich über das Ensemble der Formen, Gewohnheiten, Rituale etc. organisiert. 14 Cf. Jacques Derrida: Cogito und Geschichte des Wahnsinns (in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1972, S. 53-101); Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1960/1990). Auch Hegel beschreibt ganz ähnlich. Cf. G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes (in: ders.: Werke 3, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1986), S. 72 ff.
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lerische Austrag des Verhältnisses von Selbstbeschreibung und Selbstreflexion und kann deshalb auch außerästhetische Gründungsweisen reflektieren. Die philosophische Ästhetik reflektiert und expliziert diesen bereits in der ästhetischen Erfahrung angelegten kritischen Bezug auf die ideologische (Selbst-)Verdeckung auch außerästhetischer Gründungsmuster. Ein Beispiel – das natürlich noch erläuterungsbedürftig ist – dafür wäre die Selbstdestruktion des schönen Scheins durch die Kunst selbst, durch die die gründende Funktion des Schönen offengelegt wird. Darauf komme ich zurück. Die Ästhetik bzw. Kunst wird so zur Quelle einer anderen Wahrheit, einer Wahrheit über die Endlichkeit aller Positivität der (menschlichen) Vernunft selbst, die sich allerdings selbst nicht dauerhaft positiv formulieren läßt, sondern – je wieder (ästhetisch) erfahren werden muß. Solche ästhetisch ausgetragene Selbstrevision der Vernunft ist niemals stabile Aufklärung über die Aufklärung, also kein erreichbares Stadium der Geschichte. Keine Metawahrheit wird es je garantieren können, auch dauerhaft auf der sicheren aufgeklärten Seite zu stehen. Man muß die negative Arbeit der Vernunft, als die sich Philosophie vollzieht, abheben von positiven und erklärenden Theorien über kulturelle Phänomene. Es gibt keine Philosophie ohne einen selbstreflexiven Einsatz der Vernunft, unter der Aufgabe einer Teleologie des Denkens hin auf ein zur allgemeiner Geltung zu bringendes Resultat. Philosophie ,gibt es‘ nur dort und nur so weit, wie sie darauf verzichtet, ihren kritischen Einsatz einer teleologischen Bewegung hin auf ein positives Resultat unterzuordnen, nur dort, wo die Philosophie auf alle Strategien verzichtet außer auf die Strategie des Zweifels am (Vor-)Gegebenen und auf das Zertrümmern der bestehenden Positivität. Positiv ist also nur die Metatheorie über die philosophische Theoriebildung, die diese in der Dialektik von Reflexion und Stiftung verortet. Positiv und vielleicht selbst nicht mehr unbedingt reflexiv ist die Metabestimmung der Funktion der Philosophie als Reflexion. Kann es je eine positive Darstellung geben, die die Notwendigkeit der Redlichkeit der Reflexion vollständig in sich aufhebt? Möglich ist dies vermutlich nur ästhetisch: im gelungenen Kunstwerk oder in einem ästhetischen Modus philosophischer Theoriebildung. Unter diesem skeptischen Vorbehalt stehen auch die hier konstruierten Überlegungen zu einer Theorie einer ästhetisch bestimmten Subjektivität. Theorien bleiben also durchaus nötig, sie sind eine Art trojanisches Pferd der Bewegung der philosophischen Kritik. Theorien sind auch ein Mittel zur Distanzierung der sogenannten ,Realität‘, des ,Faktischen‘, und eröffnen so erst einen Raum für Reflexion. Mit anderen Worten: die Frage ist, wie sich theoretische explikative Narrationen zur Bewegung der Reflexion verhalten.15 Die Dialektik von Theorie und Reflexion läßt sich nicht ohne Gewaltsamkeit ausschließen. Es bleibt daher die Forderung, ihrer stets zu gedenken, sie in jedem narrativen Schritt, den man zu tun gezwungen scheint, einzugedenken. Das bezeichnet die Redlichkeit philoso15 Hier wird unter Theorie also sowohl Erklären wie auch Beschreiben verstanden. Man kann beides aber auch gegeneinander stellen. Cf. zum Verhältnis von Narration und explikativer Theorie: Jürgen Kocka/Thomas Nipperdey (Hg.): Theorie und Erzählung in der Geschichte (Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1979); Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974).
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phischen Theoretisierens. ,Ästhetisch‘ ist dann ein Name für einen bestimmten Typus dieses Verhältnisses: Reflexion zu ermöglichen oder hervorzurufen durch die Weise der Anordnung der Elemente, z.B. in einem Kunstwerk. Ästhetisch ist der spielerische Austrag der Dialektik von Selbstbeschreibung und Selbstreflexion, von Inhalt und Form. Dem entsprechen nicht nur gelungene Kunstwerke, sondern auch (philosophische) Theorien, die auf die Weise ihrer Darstellung reflektieren. Ästhetisch ist der selbstreflexive Einbezug des Problems der (formalen) Darstellung eines Inhalts, also die Weise, in der die Selbstbeschreibung und die Reflexion auf deren Bedingungen im Text statt hat. Ästhetisch ist das Wie der Geformtheit des Materials sowie die Einsicht, daß es letztlich kein Material, keinen Inhalt ohne formale Darstellung und Einbettung geben kann. Ästhetisch ist also der (Selbst-)Bezug auf die Weise der Darstellung. Das bezeichnet für Texte auch der Begriff der ,Rhetorizität‘. Das (Selbst-)Reflexivwerden philosophischer Theorienbildung als expliziter Rückgang auf die Bedingung ihrer Möglichkeit vollzieht sich als Ästhetisch-Werden der Philosophie, z.B. in der sogenannten ,Dekonstruktion‘. Diese ist in dem Sinne ästhetisch, daß sie durch die Weise der Verfaßtheit ihrer Texte das Theoretische reflektiert. Philosophische Texte sind dann deshalb ästhetisch, weil sie das Verhältnis von Selbstbeschreibung und Selbstreflexion offen inhaltlich und vor allem formal austragen. Es bleibt aber eine offene Frage, wie sich eine solche ästhetische Theoriebildung zur Praxis des Kunstschaffens verhält. Was unterscheidet unter diesen Prämissen noch philosophische Theorie von Kunstwerken? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage kann ich aber im Kontext dieser Arbeit nicht liefern.
II In diesem Abschnitt möchte ich das Konzept einer Gründung des Subjekts auf die Selbstpräsenz des (Selbst-)Bewußtseins diskutieren. Auch wenn es also aus den genannten Gründen keine einfache Überwindung oder Verabschiedung der Subjektmetaphysik geben kann, versucht diese Arbeit, nicht nur einfach konservierend an der Begrifflichkeit der Subjektivität festzuhalten, sondern den Begriff auch neu zu bestimmen, zu rechtfertigen und zu vermessen. Dazu schließe ich direkt an die von der Dekonstruktion Derridas und de Mans in Anschlag gebrachte Kritik am Konzept der Gründung der Subjektivität auf das menschliche Selbstbewußtsein an. Als philosophische Kategorie akkumuliert die Rede von der Subjektivität des Menschen lediglich philosophische Irrtümer und maskiert, so scheint es, letztlich metaphysische Restitutionsversuche. So ist etwa für Derrida das Konzept der Subjektivität in einer Metaphysik der (Selbst-)Präsenz des Selbstbewußtseins verankert, aus der das Subjekt nicht zu lösen ist, ohne es radikal in Frage zu stellen und aus seiner beherrschenden Stellung im Mittelpunkt der Welt zu vertreiben. In der Tat ist Derrida einer der schärfsten Kritiker des unhinterfragten Gebrauchs metaphysisch belasteter Begriffe wie desjenigen des ,Subjekts‘. Seine Kritik am Subjekt geht davon aus, daß das Subjekt bzw. dessen Bewußtsein rein sprachlich verfaßt ist, daß es sogar nur eine letztlich illusionäre Sprachfunktion
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ist und daher nicht dem Anspruch genügen kann, der es als Fundament oder Substanz zu begreifen sucht, wie die rationalistische und idealistische Tradition dies getan hat. Die scheinbare Selbstpräsenz des Selbstbewußtseins ist nur Effekt einer Koinzidenz von Autorschaft und Zuhörerschaft in einem Subjekt, das sich selbst sprechen hört und von daher fälschlicherweise auf seine eigene selbstpräsente und -identische Substanz schließt.16 Gegen das metaphysische Modell, das das Subjekt als selbstpräsente (weil sich selbst hörende) Stimme ansetzt (und damit zugleich idealistischerweise als reinen Geist), setzt Derrida Schrift, Zeichen und Text, die der materialen Umwegigkeit des subjektiven Selbstbezuges gerecht werden sollen.17 Die Annahme einer rein sprachlich verfaßten Subjektivität läßt es plausibel erscheinen, das Subjekt als Text- oder Zeichenfunktion zu beschreiben bzw. zu analysieren.18 Alles, was der Struktur des Zeichens seit Saussure zugeschrieben wird, 16 Cf. Jacques Derrida: Grammatologie (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974): „Der unendliche Verstand Gottes ist der andere Name des Logos als Selbstpräsenz, von Descartes bis Hegel und trotz aller Unterschiede, die die verschiedenen Orte und Momente in der Struktur dieser Epoche voneinander trennen. Der Logos aber kann unendlich und sich selbst gegenwärtig nur sein, kann als Selbstaffektion sich nur ereignen durch die Stimme: als Ordnung des Bezeichnens, durch die das Subjekt in sich aus sich heraustritt, in der es den Signifikanten, den es selbst äußert und von dem es gleichzeitig affiziert wird, nicht aus sich heraus setzt. Derart ist zumindest die Erfahrung – oder das Bewußtsein – der Stimme. Sie erlebt und versteht sich als Ausschließung der Schrift, denn sie beruft sich nicht auf einen ‚äußeren‘, ‚sinnlichen‘, ‚räumlichen‘, die Selbstpräsenz unterbrechenden Signifikanten.“ (l.c., S. 174 f./Hervorhebung von Jacques Derrida). 17 Cf. hierzu Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen (Suhrkamp, Frankfurt/ Main 2003): „[D]ie Idealität ist die lebendige Gegenwart, die Selbstgegenwart des transzendentalen Lebens“ (l.c., S. 13). Bewußtsein bedeutet nichts anderes „als die Möglichkeit der Selbstgegenwart des Gegenwärtigen in der lebendigen Gegenwart“ (l.c., S. 17). Es gibt eine problematische „Einheit von Denken und Stimme im Logos“ (l.c., S. 100), die sich als Selbstgegenwart bestimmt: „Wenn ich spreche, dann gehört es zum phänomenologischen Wesen dieser Operation, daß ich mich in der Zeit, in der ich spreche, höre“ (l.c., S. 105/Hervorhebungen von Jacques Derrida). „Die Operation des ‚Sich-sprechen-hörens‘ ist eine Selbstaffektion von einer absolut einmaligen Art“ (l.c., S. 106 f.). „Denn die Stimme stößt bei ihrer Aussendung in die Welt eben insofern auf kein Hindernis, als sie sich darin als reine Selbstaffektion hervorbringt. Diese Selbstaffektion ist zweifellos die Möglichkeit für das, was man die Subjektivität [...] nennt. [...] [S]trukturell und de jure [ist] ohne die Stimme kein Bewußtsein möglich [...]. Die Stimme ist das Bewußtsein“ (l.c., S. 108/alle Hervorhebungen von Jacques Derrida). Gegen das metaphysische Subjektmodell der selbstpräsenten Nähe setzt Derrida den materialen Schreibakt: „Diese Nähe wird durchbrochen, sobald ich mich, anstatt mich sprechen zu hören, schreiben oder durch Gesten bedeuten sehe“ (l.c., S. 109). Und weiter gibt er zu bedenken, daß „die Möglichkeit der Schrift dem Drinnen des Sprechens innewohnen konnte, das selbst in der Intimität des Denkens an der Arbeit war“ (l.c., S. 111). 18 Cf. Jacques Derrida: Die différance (in: ders.: Randgänge der Philosophie, Passa-
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gilt dann ebenfalls für das Subjekt. Es gibt nichts außerhalb des Textes19, wie das oft zitierte und nicht leicht zu verstehende Wort Derridas für die Unablösbarkeit von Subjekt bzw. Subjektivität und Text bzw. Textualität lautet. Wenn es die basale Definition des Subjekts ist, ein Selbstverhältnis zu sein (z.B. mit Heideggers Worten: ein Sein, dem es um sein Sein geht), dann ist dieser Selbstbezug nur vermittelt über Texte möglich. Auf diesen fundamentalen Zusammenhang von Subjektivität und Textualität im menschlichen In-der-Welt-sein komme ich in den folgenden Kapiteln zurück. Daß das Bewußtsein die Struktur einer Zeichenkonfiguration oder eines Zeicheneffekts hat – wie von Derrida vorausgesetzt –, heißt, daß das subjektive Bewußtsein wesentlich durch Abwesenheit (das Zeichen steht für das gerade abwesend Präsente) und Unverfügbarkeit (das Ich ist nicht nur nicht Herr im eigenen Haus, sondern weiß noch nicht einmal, was in ihm vorgeht) gekennzeichnet ist. Es läßt sich keine „Gegenwart und Selbst-Gegenwart des Subjekts vor seinem Sprechen oder seinem Zeichen, [k]eine Selbst-Gegenwart des Subjekts in einem schweigenden und intuitiven Bewußtsein denken“. Vor dem Zeichen ist also kein Bewußtsein möglich, das sich selbst als „Selbst-Wahrnehmung der Gegenwart“ zu denken versucht.20 Die Illusion autonomer, d.h. selbstkontrollierter Subjektivität ist nur ein Effekt21 dessen, was Derrida mit der quasi-transzendentalen Figur der différance22 zu beschreiben sucht:23 ein Prozeß der differentiellen Genese von immer neuen Differenzen ohne arche oder telos, der sich als die abendlän-
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gen, Wien 1988, S. 31-56), S. 42 und S. 44: „Beziehen wir uns noch einmal auf die semiologische Differenz: woran hat uns Saussure vor allem erinnert? Daß ‚das Sprachsystem (das also nur aus Differenzen besteht) nicht eine Funktion des sprechenden Subjekts ist‘. Dies impliziert, daß das Subjekt (Selbstidentität oder eventuell Bewußtsein der Selbstidentität, Selbstbewußtsein) in das Sprachsystem eingeschrieben eine ‚Funktion‘ des Sprachsystems ist, nur zum sprechenden Subjekt wird, wenn es sein Sprechen, selbst in der sogenannten ‚Schöpfung‘, selbst in der sogenannten ‚Überschreitung‘, an das Vorschriftssystem der Sprache als System von Differenzen oder zumindest an das allgemeine Gesetz der différance angleicht, indem es sich nach dem Prinzip der Sprache (langue) richtet, von der Saussure sagt, sie sei ‚die menschliche Rede (langage) abzüglich des Sprechens (parole). Die Sprache ist erforderlich damit das Sprechen verständlich sei [...]“ (Hervorhebungen von Derrida). Cf. Jacques Derrida: Grammatologie (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974), S. 272 ff. Derrida, Die différance, l.c. (Fußnote 18), S. 45. Cf. Derrida, Die différance, l.c. (Fußnote 18), S. 46: „Es kommt also dazu, daß die Gegenwart – und besonders das Bewußtsein, das Beisichsein des Bewußtseins – nicht mehr als die absolute Matrixform des Seins, sondern als eine ‚Bestimmung‘ und ein ‚Effekt‘ gesetzt wird“. Alles in allem bleibt es unklar, ob das Konzept der différance deskriptiv (z.B. transzendental) oder normativ sein soll: ob es also eine bessere Beschreibung der Metaphysik sein soll oder ob es sich überhaupt kritisch oder subversiv auf Metaphysik bezieht. Cf. Derrida, Die différance, l.c. (Fußnote 18), S. 44: Die différance wird von keinem Subjekt abgeleitet oder beherrscht, sie ‚konstituiert‘ vielmehr ein nichtselbstpräsentes Subjekt.
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dische Geschichte der Metaphysik vollzogen hat und vollzieht. Die différance liegt unhintergehbar vor allen metaphysischen Dualismen und zugleich am tiefsten in ihnen. Sie bestimmt sich im Anschluß an Nietzsche auch als differentielles Kräftespiel: für Nietzsche ist „,die große Haupttätigkeit‘ unbewußt [...] und [...] das Bewußtsein der Effekt von Kräften [...], deren Wesen, deren Wege und Weisen nicht seine eigenen sind. Doch ist die Kraft selbst nie gegenwärtig: sie ist nur ein Spiel von Differenzen und Quantitäten“.24 An dieses differentielle Spiel von Kräften und der sich daraus ergebenen Konsequenzen für eine Theorie der Subjektivität versuche ich im folgenden anzuschließen. Dabei wird die Reduktion des Selbstbewußtseins auf die Struktur eines Zeichens modifiziert zugunsten einer Beschreibung, die der Dynamik praktischer Vollzüge des Subjekts gerecht werden soll. Derridas Kritik an der Metaphysik des subjektiven Selbstbewußtseins ist daher richtig, die Konsequenz, die man daraus ziehen könnte – nämlich das Subjekt vollständig zu verabschieden – ist es aber nicht. Die Absage an ihre metaphysische Gestalt bedeutet noch nicht, Subjektivität und den Begriff des ,Subjekts‘ generell oder kategorisch aus den philosophischen Erzählungen auszuschließen. Mit der Gleichsetzung von Bewußtsein und Zeichen und der Erläuterung des Charakters der Sprache als Schrift scheint Derrida eine semiotische bzw. strukturalistische Erläuterung einer Praxis- und Vollzugsform zu geben, die wohl nicht ausreichend dynamisch gedacht ist, um Subjektivität angemessen zu beschreiben. Die Reduktion des Subjekts bzw. der Subjektivität auf Texte bzw. Zeichen ist ein versteckter Strukturalismus. Ich halte dagegen fest, daß es im Subjekt etwas gibt, was nicht identisch ist mit Zeichen oder Texten, selbst wenn man keine Vollzüge des Subjekts denken kann, die sich nicht sprachlich äußern würden, d.h. zur Erscheinung gelangten, oder die nicht zumindest sprachlich oder narrativ eingebettet und damit sinnvoll gemacht sind. Dieses etwas konstituiert das Subjekt als Ausdruck oder Effekt von Kräften. Hier setzt die vorliegende Arbeit an, indem sie versucht, dieses Defizit an dynamischer Beschreibung zu ergänzen. Man muß dann subjektive Vollzüge in ihrem Verhältnis zu Texten analysieren, z.B. nach dem Modell des Schreibaktes bzw. der Urschrift der différance zu denken versuchen. Für eine am Modell der textuellen Produktion orientierte Beschreibung der Praxis subjektiver Vollzüge eignen sich allerdings die Texte Paul de Mans eher als diejenigen Derridas. Daher werden auch eher diese der später genauer zu entwickelnden Argumentation zugrundegelegt werden. Mit de Man werden sich vor allem die ersten beiden Abschnitte des vierten Kapitels beschäftigen. Meine Kritik an der Metaphysik der Subjektivität entzündet sich nicht an deren Fundierung in einer Metaphysik der Präsenz (wie es Derridas Kritik durch24 Derrida, Die différance, l.c. (Fußnote 18), S. 46 f. Weiter heißt es: „Ohne Differenz zwischen den Kräften gäbe es gar keine Kraft; und hier zählt die Quantitätsdifferenz mehr als das Maß der Quantität, als die absolute Größe selbst. [...] Diese ‚aktive‘, in Bewegung begriffene Zwietracht verschiedener Kräfte und Kräftedifferenzen, die Nietzsche dem System der metaphysischen Grammatik überall dort entgegensetzt, wo sie Kultur, Philosophie und Wissenschaft beherrscht, können wir mithin différance nennen.“
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führt) – wie immer plausibel diese Kritik sein mag –, sondern darin, daß subjektive Vollzüge durch diese Metaphysik falsch beschrieben werden und daß man sie besser beschreiben muß, wenn man damit zugleich ‚die‘ Metaphysik hinterfragen oder kritisieren will. Man muß daher noch einen Schritt über Derridas Kritik hinaus tun. Diese Arbeit setzt sich kritisch von zwei Positionen ab: weder ist die Subjektmetaphysik verschwiegen fortzusetzen oder zu erneuern, noch ist der Begriff und das Konzept des Subjekts ersatzlos zu streichen und strukturalistisch zu nivellieren. Die poststrukturalistische Kritik am Subjektbegriff ist richtig, die möglicherweise daraus gezogene oder zu ziehende Konsequenz – Streichung des Subjektes überhaupt – ist es nicht. Es gilt vielmehr innerhalb oder anhand einer Kritik an metaphysischen Subjektmodellen alternative Konzeptionen zu rekonstruieren. Erst ein dezentriertes Subjekt ließe sich in den diskursiven Text wiedereinschrieben, nicht mehr als beherrschendes Zentrum, sondern als eine textuelle Figur unter anderen.25 Eine in diesem Sinne durchaus postmetaphysisch zu nennende Konzeption von Subjektivität findet sich vor allem in der ästhetisch-philosophischen Tradition aufgehoben. Es gilt daher, die Figurationen ästhetisch bestimmter Subjektivität zwischen Souveränität und Ohnmacht, Stärke und Schwäche, Herrschaft und Mimesis etc. nachzuzeichnen. Damit befassen sich die folgenden Kapitel.
III In diesem Abschnitt werde ich mich mit dem Theorem beschäftigen, das das Subjekt als individuelle Substanz ansetzt. Mit der Beschreibung subjektiver Selbstverhältnisse als textuell-materialer Selbstbezüge des Subjekts soll gegen eine Auffassung argumentiert werden, nach der der Text sich expressiv zu einem vorgängigen – und das heißt hier metaphysisch bestimmten – Individuum verhält. Das im Text selbst möglicherweise vorhandene Individuelle ist nur unter metaphysischer Verkennung mit dem Ausdruck der sogenannten ‚realen‘ Verfassung des empirischen Autors und dessen Intentionen zum Zeitpunkt der Niederschrift identifizierbar. Denn das Individuelle muß, wenn es überhaupt noch gedacht werden kann, im Text selbst sich ereignen. Darauf komme ich im dritten Kapitel zurück. Kein Subjekt kann je autonom genug sein, um diese Notwendigkeit zur Materialisation des individuellen Geistes zu umgehen und gewissermaßen unmittelbar zu sprechen, d.h. ohne Umweg präsent sein. Der Text ist nicht Expression der individuellen Substanz oder des substantiellen Individuums, sondern bloß Spur dessen, was im Individuum wirksam ist. Denn das Individuum oder das Individuelle muß mindestens mitge-teilt werden, was es nur werden kann, wenn es sich auf intersubjektiv geteiltes Allgemeines – nämlich Sprache, Welt, Kultur – bezieht. Das Individuelle ist daher nicht ungeteilt, auch wenn Teile des 25 Cf. Roland Barthes: De l’œuvre au texte (in: ders.: Le bruissement de la langue, Éditions du seuil, Paris 1984, S. 69-77); ders.: La mort de l’auteur (in: ders:, Le bruissement de la langue, Éditions du seuil, Paris 1984, S. 61-67).
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Individuums sich dem Ausdruck stets zu verweigern scheinen. Solches Unvermögen des Ausdrucks kann dann eine Bestimmung des Individuums ex negativo bedeuten. Aber das eben nur über das nicht geäußerte, sondern geschriebene Produkt des Individuums. Das Individuum selbst läßt sich nicht aufteilen in Ausgedrücktes und unsagbaren Restteil, der die Unhintergehbarkeit des Individuums angeblich sichert. Daher ist der von Manfred Frank im Anschluß an den Idealismus vorgenommene Versuch einer Rehabilitation der Individualität als eines unhintergehbaren Einzelnen, das sowohl von der Allgemeinheit des Subjekts wie von der Besonderheit der Person unterschieden werden müsse, sehr zweifelhaft.26 26 Er tut dies z.B. in seinem Buch Die Unhintergehbarkeit von Individualität (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1986). Demnach ist die Individualität irreduzibel (l.c., S. 16) bzw. gibt es einen „irreduziblen Bewußtseinsrest“, den man konservieren müsse, um von dort die Subjektphilosophie in Frage zu stellen (l.c., S. 17). Die immanente „Zeitlichkeit der Person“ erlaubt es nicht, einen „festen Kern“ oder eine „fixe Identität in einem Individuum“ festzumachen (l.c., S. 100). Individualität ist als ein Singuläres vorgestellt, das gerade nicht einer Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen darstellt (l.c., S. 116). Die „individuelle Weltdeutung der Kommunikationspartner“ unterbricht „den hermeneutischen Schlummer des strukturalistischen Code-Modells ebenso wie den analytischen Traum von einer prästabilierten semantischen Identität der Terme“, d.h. der zuschreibbaren psychischen Prädikate (l.c., S. 119). Die Individuen sind eben deshalb undeduzierbar, weil sie es sind, „die dem Ganzen, als dessen Elemente sie erschlossen werden, seinen Begriff allererst durch Deutung zuweisen“. Die Bedeutung des Ganzen „existiert nirgendwo anders als in den Bewußtseinen der Individuen“ (l.c., S. 120). Die Singularität des Individuums siedelt in einer hermeneutischen Konzeption. Die Rückführung des Sprechens auf bloße grammatische Regel-erfüllung und -konformität „nivelliert die Innovativität und die Sinnschöpfungsenergien jedes Dialogs“, denen wesentlich eine Funktion der Weltdeutung zukommt. Die individuelle Weltdeutung besetzt den einen Pol innerhalb eines paradoxal gedachten Sprechaktes, nämlich zwischen unhintergehbarer Individualität der Weltauslegung und Konformität zu der Allgemeinheit grammatischer Regeln und kultureller Codes (l.c., S. 121). Das hermeneutische Individuelle ist „im eigentlichen Sinne unteilbar und mithin unmitteilbar“ und es existiert „ohne inneres Doppel und also unbezüglich“, hat also „im Wortsinne seinesgleichen nicht“ und entgleitet „mithin dem Kriterium der gleichsinnigen Wiederholbarkeit“ (l.c., S. 122 f./alle Hervorhebungen von Manfred Frank). Die „Konstitution selbstbewußter Individualität“ ist eine „Folge kontinuierlicher Transformationen von Zuständen“, die „einer Person zu einem Zeitpunkt ‚kopersonal‘ waren“ (l.c., S. 128). Die Individualität ist so die einzige „Instanz“, die „der rigorosen Idealisierung des Zeichensinns [einen] instantanen und identischen Widerstand entgegenbringt“. Individuelle Sinnentwürfe sind nicht aus „semantisch-pragmatischen Typen“ ableitbar. Dagegen ließe sich allerdings erstens einwenden, daß ein solches Singuläres der Allgemeinheit sprachlicher Zeichen wesentlich entgeht und man durch ein solches unmitteilbares privatives Weltverhältnis einfach kürzen kann, wie Wittgenstein dies vorgeschlagen hat. Zweitens liegt eine Paradoxie darin, daß das Individuelle rigoros singulär gedacht ist, aber überhaupt nur beschrieben werden kann, wenn man sich der Sprache und damit der Allgemeinheit
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Das Individuum ist von daher nicht un-mit-teilbar, sondern findet sein Da-sein (oder die stets gegebene Möglichkeit seines Daseins) überhaupt nur als Mitge-teiltes oder Mit-teilendes: es teilt sich nämlich mit den anderen die Sprache und die physische Welt und nur aufgrund dieser konstitutiven und ursprünglichen Teilung findet es den Grund seiner Möglichkeit. Von daher ist die soziale Kollektivität einer Sprachgemeinschaft konstitutiv für Individualität. Nicht die Sprache ist im Subjekt, sondern das Subjekt ist – wenn es denn ‚ist‘ – in der Sprache. Es gibt keinen substantiellen Rest im Individuum, denn es gibt gar nicht den Raum (bzw. der Raum des subjektiven Inneren ist stets nur eine metaphysische Metapher), den ein solches Innen erfüllen könnte, indem es sich (sprachlich oder gestisch) ausdrückt. Von daher kann aus strukturellen Gründen nichts im Individuum der Mitteilung entgehen (jedenfalls der Möglichkeit nach): die Mitteilung ist konstitutiv für das Unteilbare, Unmitteilbare, also das wesentlich Private. Daß es keine Privatsprache geben kann heißt dann, daß das Private gerade als solches von der Allgemeinheit und Öffentlichkeit der Sprache irreduzibel abhängt. Allenfalls wäre das Unvermögen zur Mit-teilung individuell zu nennen, denn es ist je mein Unvermögen – aus welchen z.B. biographischen Gründen auch immer. Vielleicht eröffnet es den Raum einer spezifisch neuzeitlichen Problematik, Individualität und Singularität zu identifizieren. Das Einzelne wurde als Individuelles, also Unteilbares definiert – als gäbe es letzte Bausteine der Welt, von denen alles abhängt und als wäre das Ganze die Summe seiner Teile und von diesen aus zu denken. Dagegen verstehe ich Subjekte nicht als atomare vereinzelte Bausteine, sondern als dynamische Agenten, in denen nichtindividuelle und unverfügbare Kräfte wirksam sind. Subjekte sind Momente oder statische Effekte eines – nicht teleologisch gedachten – dialektischen Prozesses von Subjektivität und Textualität. Subjektivität und Textualität, herstellende Kraft und Aufhebung dieser Kraft im und durch das hergestellte(n) Produkt sind gleichursprüngliche und irreduzibele Momente eines unablässigen Produktionsprozesses. Im vierten Kapitel wird die textuelle Produktion im Anschluß an Paul de Man und Friedrich Schlegel als Ausdruck einer ursprünglichen Produktivität bestimmt werden. Das Subjekt setzt sich je von dem Text ab, den es als Autor produziert. Textuelle Produktion ist Ausdruck einer herstellenden Kraft (Poesie), die zugleich erschafft wie das Geschaffene (den Text) überschreitet. Das Subjekt ist je in der Sprache; es ist textproduzierend und -transzendierend, so daß Subjektivität und Textualität nur als gleichursprünglich gedacht werden können. Es gibt keine außersprachliche bzw. außertextuelle Subjektkonstitution. Zumindest ihrer Regeln und Begriffe bedient. Dies gilt gerade auch für Selbstbeschreibungen von Individuen (cf. hierzu Kapitel 3 dieser Arbeit). Drittens scheint mir der Ansatz, das Individuelle als unhintergehbares Einzelnes zu denken, eine substantialistische Theorie der Subjektivität zu sein. Ein nicht mehr sprachlich zugänglicher Rest Individualität kann nur substantialistisch gedacht werden. Eine Alternative könnte nur sein, das Individuelle als konkrete Konfiguration des Allgemeinen, d.h. der sprachlichen Zeichen, zu fassen, deren Individuelles sich in der Zeitlichkeit einer Biographie und eines Gedächtnisses der Wortverwendungen konstituiert. Das private an meiner Verwendung eines Wortes ist dann das Gedächtnis seiner Verwendungen durch mich, also die Schichtung der Spuren.
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für menschliche Subjektvollzüge gilt daher: sie bewegen sich stets in einem sprachlichen (z.B. narrativen) Raum, der ihnen Sinn und Bedeutung verleiht.
IV Dieser Abschnitt befaßt sich mit der Idee, das menschliche Subjekt könne als rationaler Agent fungieren und sich auf Vernunft gründen. Zwischen der Kritik an der Subjektmetaphysik und der Tradition der Vernunftkritik besteht eine enge Verklammerung.27 Die Vernunftkritik bezieht sich nämlich auf ein Konzept, das die Ratio als Zentrum des Subjekts begreift, mittels derer es einerseits die Dinge erkennt und andererseits sich die Herrschaft über dieselben sichert. Vernunft und Subjektivität gründen sich in der Neuzeit wechselseitig aufeinander. Adorno etwa kritisiert die Vernunft als verkapptes Medium von Herrschaft, und zwar durch den allgemeinen Charakter des Begriffs. Die Subsumption des Besonderen unter das Allgemeine ist demnach ein ursprünglicher Akt der Gewalt gegenüber dem Besonderen bzw. Einzelnen, das Adorno auch das „Nicht-Identische“ nennt.28 Damit einher geht eine Kritik daran, die Vernunft naiverweise als Garantin eines kontinuierlichen (technischen, ökonomischen, administrativen) Fortschritts zum Besseren 27 Ich folge hier zunächst Albrecht Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno (in: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1985, S. 48-114), hier vor allem S. 70-84. 28 Die Position von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in Die Dialektik der Aufklärung (Fischer, Frankfurt/Main 1988) besteht bekanntlich in der These, daß die Allgemeinheit des rationalen Begriffs mit der Herrschaft übers Objekt zusammenfällt. Adorno/Horkheimer verstehen bereits die neuzeitliche rationale Erkenntnisweise als Herrschaftsform, in der das Singuläre bzw. Nicht-Identische dem allgemeinen Begriff untergeordnet wird. In ihrer Kritik der Aufklärung fallen also die Bestimmung des neuzeitlichen Subjekts als erkennendes und die unbedingte Herrschaft des menschlichen Subjekts (qua Ratio bzw. Vernunft) zusammen. Allerdings ist dialektischerweise das Subjekt selbst nicht frei, sondern unterdrückt sich durch die Bewegung der Naturbeherrschung selbst. Die Geschichte der Vernunft steht unter „der nivellierenden Herrschaft des Abstrakten, die alles in der Natur zum Wiederholbaren macht“. Voraussetzung der Abstraktion ist die „Distanz des Subjekts zum Objekt“, die selbst in der „Distanz zur Sache“ gründet, die „der Herr durch den Beherrschten gewinnt“ (l.c., S. 19). Die „Herrschaft tritt dem Einzelnen als das Allgemeine gegenüber, als die Vernunft in der Wirklichkeit“ (l.c., S. 28). Macht und Erkenntnis sind „synonym“ (l.c., S. 10). Die „Allgemeinheit der Gedanken“ ist die „Herrschaft in der Sphäre des Begriffs“ (l.c., S. 20). Die „Menschen distanzieren denkend sich von Natur, um sie so vor sich hinzustellen, wie sie zu beherrschen ist“ (l.c., S. 46). Bekanntlich schlägt aber die Naturbeherrschung durch nicht reflektierte Rationalität in den Mythos zurück, sie wird selbst irrational. Die Vernunft muß daher unter dem Anspruch der Aufklärung selbstreflexiv werden. Diese sehr groben Andeutungen müssen hier aus Platzgründen zur Kennzeichnung von Adornos (und Horkheimers) Position genügen.
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zu denken. Der begrifflich operierende Geist ist von Anfang an instrumentelle Vernunft, die schließlich positivistisch, zynisch und zum Apparat von Herrschaft wird. In dem allgemeinen Verblendungszusammenhang wird das Subjekt überflüssig bzw. erscheint als durch die zweckrationale Vernunft selbst unterdrücktes, dessen Befreiung bei Adorno die geschichtsphilosophische messianische Utopie bleibt. Gegen Adorno ist anzuführen, daß es sehr wohl die normative Möglichkeit einer selbstreflexiven Aufklärung gibt, die sich die philosophische Tradition kritisch aneignet. Die Welt läßt sich nicht auf einen Verblendungszusammenhang ohne jede Aussicht auf Einsicht reduzieren, wie Adorno das anscheinend getan hat.29 Es mag sein, daß es kein richtiges Leben im falschen gibt, aber es gibt in jedem Fall ein (normativ und ethisch) besseres und ein schlechteres. Es gibt auch immer die normative Möglichkeit eines besseren und eines schlechteren Sprachgebrauchs.30 Gegenüber stehen sich einerseits ein mimetischer und andererseits ein herrschaftlicher, die Dinge verfügbar machender Sprachgebrauch, der die Dinge ‚einfach‘ unters schlechte Allgemeine subsumiert. Die (nicht nur philosophische) Theorie und Kritik der Vernunft muß zudem der Möglichkeit ihres eigenen Einsatzes eingedenken, eröffnen oder remarkieren. Sie muß ihre normative Grundlage ausweisen, was Adorno offensichtlich versäumt hat: entweder ist der Verblendungszusammenhang total, dann unterliegt Adorno selbst ihm, oder: er ist nicht total, was Adornos These widerspricht, nur die sich radikal der Kulturindustrie entziehende avancierte Kunst könne letzte Widerstandsbastion gegen die ideologische Verblendung sein. Jede Theorie muß ihre normativen Vorausetzungen und Implikationen offen legen und damit eine Antwort auf die Frage haben, wie sie sich selbst zu implizieren vermag, ohne sich durch eben diese Bewegung zu zerstören. Die Rede vom totalen Verblendungszusammenhang verunmöglicht den Denkansatz Adornos selbst. Seine Kritik am Begriff der Vernunft ist so tief, daß keine bessere Vernunft mehr denkbar scheint. Das liegt daran, daß Adornos Denken des Begriffs und der sprachlichen Bedeutung nicht radikal genug ist: in der Allgemeinheit der Begriffe liegt nicht (schon) eo ipso eine Gewalttätigkeit gegenüber dem Nicht-Identischen. Um sinnvoll von einer Korrumpierung der Sprache reden zu können, bedarf es der Möglichkeit eines unkorrumpierten Gebrauchs der Sprache.31 Wellmer wendet daher die wittgensteinsche Sprachkritik auf die Subjektmetaphysik Adornos an:32 erst das Eingedenken der Sprache im Subjekt führt aus dem Bann der Subjektmetaphysik heraus. Die Gewaltsamkeit identifizierender Sprache besteht nur durch einen und in einem spezifischen Gebrauch allgemeiner Begriffe. Die Identifizierung von totalisierender und diskursiver Vernunft – etwa durch Adorno – ist sprachkritisch zu reflektieren: „In Wirklichkeit zeigt sich am Beispiel Adornos, daß die sprachphilosophische Dezentrierung des Subjekts zu 29 Cf. Alexander Düttmann: Philosophie der Übertreibung (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2004), S. 160 ff. 30 Cf. Albrecht Wellmer: Adorno, Anwalt des Nicht-Identischen. Eine Einführung (in: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1985, S. 135-166). 31 Wellmer, Adorno, Anwalt des Nicht-Identischen, l.c. (Fußnote 30), S. 152-157. 32 Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, l.c. (Fußnote 27), S. 87 f.
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einer Relativierung der Vernunftkritik nötigt: die Kritik der totalisierenden Vernunft trifft nicht die diskursive Vernunft als solche, sondern den unzureichenden, schlechten oder pervertierten Gebrauch der Vernunft“33. Bereits Leibniz reduziert die Vernunftkritik auf die Frage ihres richtigen Gebrauchs: „Man kann noch hinzufügen, daß nicht die Vernunft an sich schädlich ist, sondern die fehlende Vernunft; und wenn die Vernunft schlecht angewandt wird, so erwägen wir wohl die Mittel, wir achten aber nicht genug auf das Ziel oder das schlechte Ziel, das man sich vorsteckt. Es ist also niemals ein Mangel an Vernunft, wenn wir eine schlechte Handlung begehen.“34
Trotz aller Berechtigung der Kritik an der instrumentellen Vernunft bzw. Ratio gilt daher: die Vernunft ist das einzige Instrument, das der Menschlichkeit, der Menschheit oder dem menschlichen Geist zur Verfügung steht und zur menschlichen Befreiung dienen kann, wenn man es richtig – und d.h. selbstreflexiv-gebrochen – gebraucht und so vor der immer drohenden Möglichkeit seiner Verhärtung bewahrt. Der Vernunft eignet eine gewisse Ambivalenz. Neben ihrer Erkenntnisfunktion ist sie einerseits negativ Infragestellung und Mittel der Kritik. Andererseits läßt sich die Vernunft auch für bestimmte (positive) gesetzte Zwecke einsetzen. Sie wird dann zur Zweckrationalität. Man muß zweifellos diese Dialektik der Vernunft in ihrem Gebrauch eingedenken.35 Befreiung ist dabei kein historischer Zustand, der, einmal erreicht immer währt, sondern ein struktureller Begriff: Befreiung muß je wieder hergestellt werden, und auch die Negativität kritischer und dekonstruktiver Texte ist nicht davor gefeit, erneut ins falsche Positive und Positivistische umzuschlagen und zum Gehalt einer Bildung zu gerinnen, die man sich aneignen kann bzw. muß, um ‚dazuzugehören‘.36 Die Bewegung der Befreiung ist hingegen strukturell unabschließbar, sie kann nur aufhören oder aussetzen. Wie immer man diese Arbeit der Negativität nennen will (Kritik, Skepsis, Zweifel, Destruktion, Dekonstruktion), sie muß fortgesetzt werden, weil sie allein eine liberale Gesellschaft ermöglichen kann. Die Utopie einer durch Vernunft geleiteten Entwicklung der Menschheit ist nicht falsch, auch wenn es immer Rückschläge (Faschismus, Stalinismus) gibt. Dazu bedarf es eines Vernunftgebrauchs, der durch seine selbstreflexive Brechung sich mimetisch gegenüber dem Einzelnen zeigen kann. Einen solchen Vernunftgebrauch kann man deshalb als ‚ästhetisch‘ bezeichnen. 33 Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, l.c. (Fußnote 27), S. 87 ff. und S. 99/Hervorhebung von Wellmer. Zu hinterfragen wäre hier die Logik der Perversion von Sprachgebräuchen. 34 Gottfried Wilhelm Leibniz: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (Meiner, Hamburg 1996), hier S. 460. 35 Cf. zur Dialektik der Vernunft auch den sehr erhellenden Aufsatz von Max Horkheimer: Vernunft und Selbsterhaltung (in: Hans Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1976, S. 41-75). 36 Das bedeutet, daß sich kulturelle Kollektivität über Bildung konstituiert.
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Es kommt also auf jeden Einzelnen an: ‚man‘ muß Gerechtigkeit üben gegenüber dem Singulären und sich in dessen absolute Forderung stellen. Was gerade nicht bedeutet, daß das Individuum alles fordern darf. Man – d.h. jeder für sich – wählt in jedem Augenblick, in jeder Handlung die Welt, die er will, in der er leben will (so wie bei Leibniz Gott stets die beste aller Welten wählt). Da jeder in jedem Augenblick durch sein Handeln oder Nichthandeln die Welt wählt, die er will (man muß aus der Wahl auf den Willen schließen, da jeder seine Wahl auch verantworten muß), ist die Weltverfassung ursprünglich demokratisch, d.h. daß alle menschlichen Subjekte für diese verantwortlich zeichnen. Die Vernunft ist an sich weder gut noch schlecht. Es gibt einen moralisch richtigen und einen moralisch falschen Gebrauch aller Dinge, so auch der zweckrationalen Vernunft. Sie ist Mittel zum Zweck, der außerhalb der Vernunft gesetzt werden muß. Der Zweck, zu dem die Vernunft eingesetzt wird, ist also erst moralisch-ethisch zu bestimmen und solcherart zu fundieren. Keineswegs ist aus einem Sein ein Sollen abzuleiten und dieser Zweck ontologisch zu deduzieren. Ethik läßt sich nicht auf Vernunft gründen, sondern es ist vielmehr andersherum die Weise des Vernunftbrauchs selbst ein ethisches Problem. Dies würde den philosophischen und praktischen Vorrang der Ethik fundieren. Keine vernünftige Deskription wird jemals aus sich heraus auf eine immanente, sich des Rückgriffs auf transzendente Argumente bescheidende Weise Normativität begründen können. Durch oder auf Vernunft allein läßt sich nichts Positives gründen. Ihr selbstreflexiver Gebrauch dient der Aufdeckung der Illusionen, die sich die Menschheit über sich gemacht hat (z.B. die Möglichkeit einer vernünftigen Ableitung der Wahrheit) und deren Abfolge ihr den Anschein einer Geschichte verleiht. Die Arbeit der Vernunft ist von daher die Arbeit der Negativität gegenüber dem Bestehenden oder Feststehenden selbst. Vernunft zersetzt. Das, was dieser Zersetzung widersteht und so im härtenden Zweifel fundiert wird, ist das Subjektive, das Kontingente, die Werte, die Setzung etc. Philosophie ist in ihrer Praxis die vernunftgeleitete Auflösung der Illusionen, die sich die Menschheit über sich macht und gemacht hat. Seit es überhaupt Aufklärung als entmystifizierende Bewegung über eine magisch scheinende Umwelt gibt, d.h. also: seit es Vernunft gibt oder zumindest seit sie dem Menschen gegeben wurde37, steht das Denken unter diesem Anspruch der Aufklärung. Die suchende (und sorgende) Infragestellung seiner Umwelt wie seiner selbst ist eine ursprünglich menschliche Tätigkeit. Es gibt also Aufklärung mindestens solange wie es Aberglauben gibt. Aufklärung wird stets eine Operation der Vernunft gewesen sein, die immer wiederholt werden muß und insofern ahistorisch ist (aber vielleicht genau deswegen Geschichte erscheinen läßt), da sie sich nie (historisch) abschließen läßt, woran u.a. Adorno erinnerte, indem er die Bewegung der vernünftigen Aufklärung zwischen Ratio und Mythos dialektisch faßte. Demnach droht die unreflektierte Ratio in Mythos und Unfreiheit zurückzufallen. Die durch vernünftige Aufklärung zu gewinnende Freiheit droht stets, durch die zweckinstrumentelle (Selbst-)Unterwerfung der Subjekte nivelliert zu werden. Wenn das telos dieser sich wiederholenden Geschichte vernünftiger Aufklärung der Nihilismus sein 37 Und das heißt vielleicht: seit es Menschen gibt, wenn es die Vernunftbegabung ist, die den Menschen auszeichnet.
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soll (wie vor allem Heidegger behauptete, indem er auf Nietzsche zurückgriff), dann nur in dem Maße, wie er den Aberglauben selbst in Frage stellt, in dem er zeigt, daß dem Glauben eben nichts zugrunde lag außer dem: ‚aber ich glaube doch‘. Philosophie ist demnach rationalistische Demystifizierung der Umwelt und Desillusionierung des Glaubens mit den Mitteln der Vernunft. Alle Philosophie ist per se Rationalismus, da sie alle nichtrationalen Weisen des Argumentierens konstitutiv aus sich ausschließt. Das ist eine analytische Aussage im Sinne Kants. Die Philosophie markiert ein rationales Selbstverhältnis der Menschheit, das beschreibend auf andere subjektive Vollzüge gerichtet ist. Philosophische Texte sind abstrakte Erzählungen, deren Helden nicht Menschen, sondern Begriffe vorstellen und fallen daher als Unterart unter eine allgemeine Theorie des Erzählens (und damit auch der Literatur), wie sie in dieser Arbeit in Kapitel vier im Anschluß an Paul de Man entwickelt werden soll. Für die Gattung der philosophischen Erzählung ist es bezeichnend, daß sie oft die ihr je eigene implizite Erzählperspektive nicht reflektiert und sich so der Illusion hingibt, sie beschriebe einfach Objekte bzw. Objektives, die bzw. das unabhängig von solchen zuhandenen Kontexten verfügbar wäre(n). Es gibt aber kein transzendentales Argument, das allein aus sich selbst heraus überzeugen könnte. Ebensowenig gibt es unschuldige oder objektive Deskriptionen, denn diese sind stets abhängig von der Perspektive, in der sie gegeben werden. Die Notwendigkeit der Perspektive, des Blickpunkts ist irreduzibel und bezeichnet zugleich das Subjektive. Das Subjektive in der Perspektive ist das, was man nicht sehen kann, da es das Sichtbare erst konstituiert und relationiert: der Blickpunkt. Man kann daher niemals zugleich die subjektive Perspektive und die in dieser Perspektive kritisierten – oder dargestellten – Inhalte in Frage stellen. Die Philosophie ist von Sokrates bis zu Derrida einer selbstreflexiven Aufklärung verpflichtet gewesen: immer geht es in der Philosophie um eine geregelte und rationale Infragestellung (oder zumindest Unwahrscheinlichmachung) scheinbarer Evidenzen, wie auch immer diese sich generieren. Es reicht allerdings nicht aus, nur zu de(kon)struieren, man muß einen Schritt über Derrida hinaus tun (wenn es denn einen solchen Schritt geben kann) und das Dekonstruierte wieder – neu – zusammensetzen. Nichts anderes meint die Insistenz auf die Unauflöslichkeit der Dialektik von Selbstreflexion und Selbstbeschreibung38, wie sie u.a. der Geschichte der Philosophie (strukturell) eingeschrieben ist. Diese Dialektik besteht darin, daß gerade in der oder durch die selbstreflexive(n) Infragestellung neue Fundierungsmodelle gewonnen, aber letztlich nicht allein auf Vernunft gegründet werden können. Und andersherum scheint eine (selbst)reflexive Infragestellung an die Materialität einer Darstellung gebunden. Dieser Selbstbezug heißt ,ästhetisch‘. Wie ich im dritten Kapitel zeigen möchte, antwortet Kant auf diese Problematik, indem er sein transzendentales Fundierungsprojekt, das zunächst versuchte, auf Vernunft zwar selbstreflexiv, aber gleichwohl positiv aufzubauen, in der Kritik der Urteilskraft neu begründet. In dieser ist dann die Schönheit und die Weise unseres Bezuges zu ihr der transzen38 Jede Beschreibung steht notwendigerweise in einer (oder mehreren) Perspektive(n) auf das Beschriebene (z.B. durch die Wahl des Vokabulars oder der Metaphern). Daher enthält jede Beschreibung immer auch eine Selbstbeschreibung des (Standpunkts des) Beschreibenden, d.h. des Autors einer Äußerung oder der Figur, der sie zugeschrieben wird.
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dentale Beweis dessen, daß der Mensch in die Welt paßt. Schönheit stiftet hier also Sinn, indem sie Subjektivität transzendental fundiert. Womit nicht gesagt sein soll, daß der Mensch nicht in die Welt passe, sondern nur, daß es Unsinn ist, dies philosophisch (also qua Vernunft) beweisen zu wollen. Diese Fundierungsfunktion des Schönen gehört zu dem, was in dieser Arbeit versucht wird systematisch in Frage zu stellen. Der Silberstreif, der sich hoffentlich am Horizont dieser Arbeit abzuzeichnen beginnen wird, ist eine komplexere Art der fundierenden Sinnstiftung. Denn diese gelingt nicht allein durch Schönheit, sondern nur durch das Zusammenspiel von Schönheit und Liebe in unserem subjektiven Bezug zu den Dingen, das sich in dem hier ästhetisch genannten und auf Kant zu beziehenden Zirkel ankündigt, daß es einerseits das Schöne ist, das wir lieben, und uns andererseits das schön erscheint, was wir lieben. Darauf komme ich im dritten Kapitel zurück. Die hier geleistete Vorarbeit wäre also fortzusetzen in Hinblick auf die Frage, wie die interne Verknüpfung oder Dialektik von Liebe und Schönheit, wie sie die Philosophie seit Platons Phaidros reflektiert, genauer zu beschreiben ist. Denn letztlich stiftet nur die Liebe Sinn. Die philosophische Kritik etwa der Dekonstruktion mündet also nicht in einer angeblichen postmodernen Beliebigkeit, sondern in einer strengen Neufundierung des Sinns. Der Vorwurf der Beliebigkeit speist sich allein aus der Angst vor der negativen und kritischen Arbeit der Vernunft, die jeder Neufundierung notwendig vorausgehen muß. Sie markiert die Insistenz und die Redlichkeit eines transzendental beunruhigten Denkens, wie es etwa Derrida in seinen Texten vollzieht und einsetzt. In diesem Sinne müssen wir die Sinnstiftung – d.h. den jeweiligen Entwurf einer Antwort auf eine Infragestellung – je verantworten. Wenn die Vernunft das Allgemeine aufhebt, so erscheint das spezifisch Einzelne und Besondere als so verfaßt, daß es der Vernunft zwangsläufig entgeht. Als individuell erscheint der Widerstand des Einzelnen gegenüber seiner Nivellierung unter die Allgemeinheit des ‚Man‘. Weil das Subjektive selbst dieser Widerstand gegen die Vernunft ist, konnte das Subjektive als das Irrationale erscheinen. Dem liegt jedoch eine Verwechslung von Kontingenz und Subjektivität zu Grunde, die allerdings allgegenwärtig ist und unser Denken des Realen bestimmt. Kontingent ist nämlich die je bestimmte Setzung von Zwecken und Werten, denen gemäß dann ‚die‘ Vernunft scheinbar bloß noch ‚gebraucht‘ wird. Der Brauch der Vernunft ist theoretisch neutral. Vernunft läßt sich sowohl für alltägliche Verrichtungen, höchste Ziele wie auch schlimmste Verbrechen in den Dienst stellen. Daher muß der Vernunftgebrauch selbst ethisch fundiert sein – und nur die Ethik oder die ethische Reflexion – verstanden als der An-spruch der Gerechtigkeit – kann die Vernunft legitimerweise fundieren. Diese Arbeit schließt daher an an die transzendentale Beunruhigung eines unter dem Anspruch der Dekonstruktion, d.h. der Gerechtigkeit (gegenüber dem Singulären) stehenden oder sich stellenden Denkens39, das in sich keine immanente Letztbegründung dieser Wahl ver39 Cf. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der mythische Grund der Autorität (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991): „Wenn es so etwas gibt wie die Gerechtigkeit als solche, eine Gerechtigkeit außerhalb oder jenseits des Rechts, so läßt sie sich nicht dekonstruieren. Ebensowenig wie die Dekonstruktion selbst, wenn es so etwas gibt. Die Dekonstruktion ist die Gerechtigkeit.“ (l.c., S. 30).
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bürgen kann, sondern diese setzen muß: eben diese unbegründbare Normativität einer setzenden Gerechtigkeit gegenüber der Positivität des bestehenden Rechts gründet den Vorrang der Ethik.
V Dieser Abschnitt widmet sich der Konsequenz aus der bisher geäußerten Kritik an der Subjektmetaphysik und am Rationalismus. Die einzige vernünftige Alternative zum zu Recht kritisierten Rationalismus (der Aufklärung) ist seine Radikalisierung hin zu einem absoluten Rationalismus, d.h. einem Rationalismus, der einerseits selbstreflexiv agierend seine eigene Möglichkeit bedenkt und andererseits eine Theorie entwirft, die komplex genug ist, nicht nur der Praxis unserer subjektiven Vollzüge, sondern auch gerade der in ihnen eingeschriebenen Sinnlichkeit gerecht zu werden. Dazu bedarf es zunächst einer Kritik an einem Verstandesgebrauch, der sich zweckrational dem individuellen Gewinn verschreibt und alles diesem Interesse unterordnet. Wenn die Erde heute schneller als je zuvor einer menschlichen Katastrophe entgegentaumelt, dann nicht aufgrund einer (zweifellos bestehenden) immanenten Dialektik der Vernunft, der sich immerhin in ihrem Gebrauch eingedenken ließe, sondern deswegen, weil es so tief in unsere Praktiken eingeschrieben ist, den individuellen Gewinn über alle gesellschaftlichen, sozialen, finanziellen, ökologischen etc. Kosten zu stellen.40 Man muß sich daher gegen den neoliberalen Aberglauben wenden, nach dem es für alle bzw. die Gesellschaft das Beste wäre, wenn jeder individualistisch den größten Eigennutz anstrebt und dementsprechend seinen Verstand einsetzt, wie Adam Smith mit seiner Theorie der unsichtbaren Hand behauptete. Daher ist Kritik der Metaphysik des unbedingten Individualismus zugleich Kritik am Kapitalismus, der das Individuum und seinen (materiellen) Ertrag ins Zentrum stellt. Das unbedingte Individuum folgt einem egoistischen Kalkül: nämlich den Mehrwert selbst einzustreichen und die Welt, soweit das möglich ist, dementsprechend zweckrational zu durchstalten und zu bearbeiten.41 Das Individuum strebt so die ökonomische Kontrolle über Gabe und Rückgabe in einem kalkulierten und kalkulierbaren Tausch an, bei dem es profitiert. Diesem Kalkül widerspricht sowohl die Ironie wie auch das Spiel. Sie sind beide Freigaben ins Offene gegenüber der Geschlossenheit der individualistischen Ökonomie und heben damit zugleich das Utopisch-Virtuelle in sich auf. Spiel wie Ironie suchen nicht den individuellen Gewinn zu steigern, 40 Die Diagnose einer Dialektik der Vernunft darf keine Verdeckung realer Herrschaft implizieren: man kann oftmals sehr wohl Subjekte zur Verantwortung ziehen. 41 Bereits Marcel Mauss hat solche individualistischen Ökonomien kritisiert: „Unserer Meinung nach ist die beste Ökonomie nicht in der Berechnung individueller Bedürfnisse zu finden. [...] Die bloße Verfolgung individueller Zwecke schadet den Zwecken und dem Frieden des Ganzen, dem Rhythmus unserer Arbeit und unserer Freuden und damit letztlich dem Einzelnen selbst.“ (Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1968), S. 174.
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sondern sind an sich selbstreflexive Verfahrensweisen der Vernunft, die sich ein Bewußtsein der Kontingenz ihrer Setzungen bewahren. Im Zentrum des Zentrums, also im menschlichen Subjekt, regiert seit Descartes die neuzeitliche Ratio (der Verstand) und organisiert den subjektiven Bezug zu Welt und Wirklichkeit wesentlich auf zwei Weisen, die Adorno und Horkheimer bekanntlich gleichsetzten: zum einen herrschaftlich, als instrumentell-zweckrationale Beherrschung der Objekte, zum anderen erkenntnismäßig als rationales Erfassung der Objekte (eine Vorstufe der Möglichkeit der Herrschaft) in der Subsumption der sinnlichen Anschauung unter den rationalen Begriff. Die Hybris des menschlichen Verstandes liegt in dem Glauben, er könne dem Mythos durch Aufklärung ein für alle Mal entkommen. Diese Hybris kehrt als Mythos der Ratio wieder und hört nicht auf, den Verstand heimzusuchen. Aufklärung erscheint daher nur möglich als Aufklärung über den Mythos der Ratio, als praktiziertes und praktizierendes Verfahren der Über- bzw. Hyperrationalität, die der Möglichkeit ihrer Selbstkritik performativ eingedenkt und sich eben dadurch mimetisch gegenüber dem Singulären zeigen kann.42 Sie (die Hyperrationalität) entspricht damit dem, was Kant der reflektierenden Urteilskraft zuschrieb: sie sucht ausgehend vom gegebenen Einzelnen den allgemeinen Begriff oder die Regel, unter der dieses Einzelne subsumiert werden kann. An der Philosophie „ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“.43 Dieses Über oder Hyper ist nicht mehr im Sinne einer linearen historischen Abfolge oder eines einfachen Mehr zu denken, sondern – analog zum Über in Nietzsches Übermensch – als ein Über-gang ins Jenseits mythologischer Ratio.44 Dieses Über gilt es weiter zu analysieren. Es verweist auf eine Selbstüberschreitung von Subjekt und Vernunft hin auf den Über-menschen und eine Hyperrationalität – d.h. auf eine postrationalistische Vernunft oder einen absoluten Rationalismus.45 ‚Man‘ muß die Logik des ‚Über‘ mit der Logik des ‚Post‘ (Posthistoire, Poststrukturalismus etc.) verbinden und zusammendenken, was auf 42 Albrecht Wellmer: Adorno, Anwalt des Nicht-Identischen. Eine Einführung (in: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1985, S. 135-166): „Adorno zeichnet die Umrisse einer möglichen zweiten Aufklärung, einer Aufklärung der Aufklärung über sich selbst; er entwirft die Phänomenologie einer postrationalistischen Rationalitätsform und ihres de-zentrierten Subjekts“ (l.c., S. 162). 43 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1975), S. 27 (Hervorhebung von mir, J.S.). 44 Cf. Gianni Vattimo: Nietzsche und das Jenseits vom Subjekt (in: ders.: Jenseits vom Subjekt, Passagen, Wien 1986, S. 36-64); ders.: Das Fliegenglas, das Netz, die Revolution und die Aufgaben der Philosophie. Ein Gespräch mit ‚Lotta continua‘ (in: ders.: Jenseits vom Subjekt, Passagen, Wien 1986, S. 15-35). 45 Albrecht Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno (in: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1985, S. 48-114), hier S. 52. Cf. auch Alexander García Düttmann: Philosophie der Übertreibung (Suhrkamp, Frankfurt/ Main 2004), S. 54 ff.; Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1997), S. 22.
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eine Selbstüberschreitung von Subjekt und Ratio zu etwas qualitativ anderem hinweist. Das ‚Post‘ markiert den Eintritt in die permanente Krise des Modernismus, die man als die Postmoderne bezeichnet hat; eine solche wäre dann eine Radikalisierung dessen, was in der Moderne sich seit je her regt. Die Postmoderne ist das permanente ‚Vor‘ der Moderne, diese regeneriert sich aus jener. Das ‚Post‘ ist von daher ebensowenig wie das ‚Über‘ historisch zu verstehen, sondern strukturell als immer schon zukünftig Vorgängiges: „Ein Werk ist nur modern, wenn es zuvor postmodern war. So gesehen bedeutet der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern dessen Geburt, dessen permanente Geburt. [...] Postmodern wäre also als das Paradox der Vorzukunft (post-modo) zu denken“.46 Postmodern ist die Radikalisierung der Moderne und ihrer Vernunft, ihre Selbstüberschreitung, die letzte Konsequenz der Ausfaltung dessen, was ihr von ihrem Beginn her eingeschrieben war – und zwar strukturell und nicht historisch.47 Die Tätigkeit der Rationalität bzw. der sogenannten rationalen Vermögen wird hier als Reduktion der Komplexität unserer Sinnlichkeit und Affekte verstanden. Unser Leib ist es zunächst, der seine Umwelt in ihrer für den Verstand undarstellbaren Gänze wahrnimmt, wenn er sie physisch erfährt. Das sogenannte ‚Ich‘ markiert also nur die kleine Vernunft, der Leib dagegen die große, wie bekanntlich schon Nietzsche feststellt.48 Rationalität ist also Reduktion sinnlicher Komplexität, die der Leib wahrnimmt. Hyperrationalität ist nichts anderes als Mimesis an diese Komplexität, d.h. sie ist antireduktionistisch und mimetisch gerade durch kritische Selbstreflexion. Ästhetisch ist ein Denken oder ein Verhalten, das versucht, der Komplexität des Sinnlichen und damit auch des Wirklichen gerecht zu werden: Mimesis der Ratio ans Nicht-Identische, Anschmiegen des Allgemeinen ans Einzelne, des Begriffs ans Individuum, des Abstrakten ans Konkrete etc. Absolut rationalistisch ist nur die (philosophische) Theorie, nicht die Praxis, die sie beschreibt. Gemäß Zarathustras Auskunft ist der Leib die große Vernunft, während die Ratio die kleine Vernunft darstellt, die ihre Rolle ‚vergißt‘ und sich zur Herrschaft aufschwingt über das, wovon sie doch ganz und gar abhängig ist. Erst eine kritisch gewendete rationalistische Philosophie, als ein Verfahren der Hyperrationalität, kann der Komplexität des Sinnlichen und der Welt adäquat begegnen. Damit verbindet sie die Negativität der Arbeit der Vernunft mit ihrem zweckrationalem Gebrauch, nur daß der gesetzte Zweck jetzt nicht mehr individueller Gewinn, sondern Gerechtigkeit gegenüber dem Singulären ist. Zwei Weisen des Vollzugs solcher Hyperrationalität wären die Verfahren von Ironie und Spiel, wie sie Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche jeweils vor46 Jean-Francois Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? (in: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion, Reclam, Stuttgart 1990, S. 33-48), hier S. 45 und S. 48. 47 Das hat im übrigen bereits Adorno gesehen: „Modernität ist eine qualitative Kategorie, keine chronologische.“ (T.W. Adorno: Minima Moralia (Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1997) hier S. 292. 48 Cf. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (in: ders.: Kritische Studienausgabe Band IV, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-77 u. 1988), hier S. 39.
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stellen und die in dieser Arbeit im vierten und fünften Kapitel analysiert werden sollen. Sie stellen an sich selbstreflexive Bezüge der Vernunft bzw. des Subjekts im Modus des Ästhetischen dar und sind von daher nicht einfach irrational.49 Während das Spiel die Öffnung einer kalkulierten Unkalkulierbarkeit (amor fati) markiert, einen „Würfelwurf“50, wie Deleuze sagen würde, ist die Ironie eine sich selbst destruierende Setzung, ein selbstdestruierendes Kalkül, das sich so ebenfalls öffnet. Das Spiel ist eine kalkulierte Unkalkulierbarkeit, kalkulierte Hingabe, amor fati, Bejahung des Würfelwurfs (Deleuze), die Ironie ein kalkuliertes Gegen- oder Antikalkül vermeintlich ohne individuellen Mehrwert. Es handelt sich also beide Male um kalkulierte Öffnungen in einer strengen Ökonomie des rationalen Verstandes. Kalkül meint dabei die Weise, wie sich das Jetzt (das gegenwärtige Element) strategisch auf die Zukunft bezieht, das heißt: das Kalkül ist der strategische Umgang mit der Ökonomie des Verhältnisses von Jetzt und Bald.
VI Diese Arbeit fragt nach den im- oder expliziten Gestaltungen von Subjektivität in den Texten der philosophisch-ästhetischen Praxis und Tradition. Sie sucht damit historische Antworten auf eine systematische Problematik zu rekonstruieren, die die neuzeitliche Philosophie bzw. die philosophische Ästhetik seit ihrer Entstehung umgetrieben hat: nämlich die Frage danach, wie sich die ästhetischen Vollzüge und Selbstverhältnisse des Subjekts zu seinen außerästhetischen (theoretischen, kognitiven, praktischen, moralischen, ethischen, alltäglichen, reflexiven etc.) Vollzügen und Selbstverhältnissen verhalten, und wie das menschliche Subjekt in seinen Vollzügen überhaupt richtig zu beschreiben ist. Dabei ist als basale Definition angesetzt, daß das Subjekt ein Selbstverhältnis ist, nämlich Sein, dem es um sein Sein geht. Dieser Bezug wird vor allem durch Texte vermittelt. Eine besondere Rolle spielen dabei Texte, in denen sich das Subjekt explizit auf sich bezieht: autobiographische Texte. In ihnen ist das Subjekt zugleich aussagendes Subjekt (Erzähler) wie auch der Referent des Erzählten. Es gibt offensichtlich verschiedene Weisen des Selbstbezuges von Subjekten 49 Eine dritte Verhaltensweise läge in einer Treue zum naiven kindlichen Blick, einer zweiten Naivität: „Die Treue zur Kindheit ist eine zur Idee des Glücks“ (T.W. Adorno: Noten zur Literatur, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1981), hier S. 673 f. 50 Cf. Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2000): „Nietzsche und Mallarmé haben uns die Offenbarung eines Welt-Denkens wiedergegeben, das Würfel wirft. Bei ihnen jedoch handelt es sich um eine Welt ohne Prinzip, die alle ihre Prinzipien verloren hat: deshalb ist der Würfelwurf die Macht, den Zufall zu bejahen, den ganzen Zufall zu denken, der ganz gewiß kein Prinzip ist, vielmehr Abwesenheit jeden Prinzips“ (l.c., S. 111 f.). „Daß es einen Kalkül und sogar ein göttliches Spiel am Anfang der Welt gegeben habe, haben viele der größten Denker gedacht“ (l.c., S. 102). Bei Leibniz: „Gott spielt, gibt dem Spiel aber Regeln“ (l.c., S. 105). Cf. auch Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung (Fink, München 1992), S. 251 ff. und S. 260.
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(u.a. ethische, praktische, erkennende, selbsterkennende, dem Man verfallene etc.), von denen hier nur das ästhetische Selbstverhältnis interessiert, das, wie zu zeigen sein wird, in einer spezifischen Dialektik von (Selbst-)Beschreibung und Reflexion besteht, nämlich in ihrem spielerischen Austrag. Systematischer Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist das Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und (ästhetisch bestimmter) Subjektivität. Dabei ist die Frage nach der ästhetischen Erfahrung keine Abkehr vom ästhetischen Objekt, sondern sie versucht allererst, das Verhältnis von ästhetisch betrachtetem Objekt und rezipierendem bzw. produzierendem Subjekt zu klären. In Frage steht zugleich das Verhältnis von allgemeiner Theorie der ästhetischen Erfahrung und der Besonderheit bzw. Singularität des Objekts, an dem diese Erfahrung vollzogen wird.51 Es scheint zwei Möglichkeiten ästhetischer Reflexionen zu geben: einmal die auch hier unternommene, die die Funktionen ästhetischer Selbstbeschreibungsmodelle der Gesellschaft untersucht und damit das terminologische Inventar sichert, und auf der anderen Seite eine Reflexion im Ausgang vom einzelnen Werk, die sich als singuläre Theorie hinsichtlich der Spezifik dieses Werkes entfaltet, das gerade betrachtet wird.52 Der Begriff der ‚ästhetischen Erfahrung‘ bezeichnet zwar bereits ein Verhältnis von ästhetischem Subjekt und ästhetischem Objekt53, gleichwohl ist jedoch zu fragen, wie sich das Subjekt durch die ästhetische Erfahrung so verändert, daß auch seine nichtästhetische Gestalt davon betroffen wird. Dies kann zum Beispiel so geschehen, daß das Subjekt sich in der ästhetischen Erfahrung oder durch die ästhetische Erfahrung reflexiv54 auf seine außerästhetische alltägliche Gestalt bezieht. Die Funktion der ästhetischen Erfahrung kann dann die einer Infragestellung des gewohnten Welt- und Selbstverhältnisses des Subjekts sein (und gerade nicht: nur temporäres Aussetzen des gewohnten Weltbezugs, wie dies konservative Theorien als Reservatstheorien55 der ästhetischen Differenz 51 Vielleicht läßt sich die transkünstlerische Einheit der ästhetischen Erfahrung nur gewaltsam herstellen (Prokrustesbett). Nötig wäre daher eine Ausdifferenzierung nach Künsten, ist aber hier aus Platzgründen nicht durchzuführen. 52 Cf. Roland Barthes: Die helle Kammer (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1985). – Darin zeigt sich vermutlich ein generelles Dilemma ästhetischer Theorien: sie müssen sich nämlich entscheiden, ob sie universell, aber selbstwidersprüchlich sein wollen und damit für alle ästhetische Phänomene zutreffen, oder ob sie einheitlich, d.h. ohne Widerspruch, aber bloß partikular (nur gültig für dieses Werk) sein wollen. 53 Cf. Rüdiger Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik (in: ders.: Ästhetische Erfahrung, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1989, S. 9-51); Albrecht Wellmer: Das musikalische Kunstwerk (in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, S. 133-175), hier S. 151 ff. 54 Wellmer: Das musikalische Kunstwerk, l.c. (Fußnote 53), S. 172. 55 Das wirft allerdings die Frage auf, ob die Möglichkeit der ästhetischen Erfahrung von einer z.B. institutionellen Rahmung (Museum, Galerie, bürgerliches Theater) abhängig ist und wenn ja, ob dies eine strukturelle oder eine historische Bestimmung der ästhetischen Erfahrung sein soll. Zur Problematik des Rahmens cf. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei (Passagen, Wien 1992); und darauf aufbauend Ulrike Dün-
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vorschlagen)56, andererseits aber auch gerade deren Fundierung in einer Selbstvergewisserungserfahrung bedeuten (dies z.B. im Idealismus bzw. bei Schiller und Kant)57. Es scheint sogar so zu sein, daß in einer in einem anpruchsvolleren Sinn ästhetisch zu nennenden Erfahrung beides (Selbstreflexion und Selbstfundierung) dialektisch ineinander spielt, worauf ich zurückkommen werde. Die ästhetische Erfahrung manövriert zwischen der Szylla einer bloßen Reservatstheorie der ästhetischen Differenz, die überhaupt keine bzw. nur eine kompensatorische Beziehung zwischen ästhetischer Erfahrung und Alltag annimmt, und der Charybdis einer ideologischen Funktion dieser Erfahrung, die dieser eine bloß gründende Rolle zuspricht. Ästhetische Erfahrung ist (oder impliziert) reflexive Verunsicherung der außerästhetischen Subjektivität. Die Infragestellung des gewohnten Weltverständnisses kann durch eine spezifisch ästhetische Verhaltensweise des Subjekts kelsbühler: Kritik der Rahmen-Vernunft. Parergon-Versionen nach Kant und Derrida (Fink, München 1991). Neben der Reservatstheorie der ästhetischen Differenz sind auch alle Formen einer Kompensationstheorie abzulehnen, die die ästhetischen Erlebnisse (z.B. als bloßes Vergnügen) funktional als zur Regeneration der Arbeitskraft dienlich bestimmen. Selbst bei Nietzsche klingt dies manchmal an (etwa in der Geburt der Tragödie (in: ders.: Kritische Studienausgabe Band I, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-77 und 1988, S. 11-156)). Das Ästhetische soll dann einen Mangel des außerästhetischen ‚Wirklichen‘ kompensieren, worin immer dieser besteht: Mangel an Wahrheit, Kraft, Entspannung, Lust etc. 56 Cf. zur Diskussion der kompensatorischen Funktion der ästhetischen Erfahrung: Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991), S. 200 ff. – Auf einer zweiten Ebene kann auch das hier vorgeschlagene Selbstreflexionsmodell der ästhetischen Erfahrung letztlich auf eine Reservatstheorie der ästhetischen Differenz hinauslaufen. Wir fühlen und erkennen uns in der ästhetischen Erfahrung wieder als selbstreflexive Wesen, die alles einschließlich sich selbst professionell in Frage zu stellen gewohnt sind und dieses Spiel souverän gelangweilt spielen. Der einzige Ausweg ist vielleicht analytische Askese. Von hier aus wäre auch Richard Rortys Position kritisch zu befragen. Cf. Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1992). 57 Dies formuliert vor allem der Idealismus im Anschluß an Kant: in der lustvollen Erfahrung des Schönen als Harmonie bzw. freies Spiel der Einbildungskräfte bestätigt sich das Subjekt seine Adäquatheit und Angemessenheit mit der bzw. zur Welt. Cf. hierzu Immanuel Kant Reflexionen zur Logik Nr. 1802a (in: ders.: Kants Gesammelte Schriften Band 16, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Reimer, Berlin 1902 ff.): „Die schönen Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen der Anschauung stimme“. Cf. hierzu auch: Jens Kulenkampff: Metaphysik und Ästhetik: Kant zum Beispiel (in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Suhrkamp, Frankfurt/ Main 2002, S. 49-80), hier S. 56; Andrea Kern: Ästhetischer und philosophischer Gemeinsinn (in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, S. 81-111), hier S. 109.
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zustande kommen, nämlich durch einen spielerischen Umgang mit den Objekten der ästhetischen Erfahrung.58 In dieser wird das zunächst alltägliche Subjekt vom Objekt affiziert und in ein Spiel von produktiver Sinnstiftung und Sinnsubversion
58 Hier scheint es geboten, trotz einer gewissen Nähe zu den Ausführungen Christoph Menkes in seinem Buch Die Souveränität der Kunst (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991) einige Differenzen der vorliegenden Arbeit zu ihm zu markieren. Menke scheint mir in toto bei aller expliziten Kritik an einer hermeneutischen Ästhetik noch zu sehr von der These auszugehen, daß im Zentrum der ästhetischen Erfahrung ein Akt des Verstehens steht, auch wenn dieser gerade als Scheitern und Mißlingen des (automatischen=alltäglichen) Verstehens bestimmt wird (z.B. l.c., S. 264). Was Menke dabei vernachlässigt ist meiner Ansicht nach die Bestimmung der ästhetischen Erfahrung als ein (selbst-)reflexives Spiel bzw. als eine ästhetisch-spielerische Selbstreflexion, wie sie das ästhetisch affizierte Subjekt vollzieht. Diese Selbstreflexion beruht auf der Negation des alltäglichen automatischen Verstehens, ist aber nicht schon diese selbst. Die hier stark gemachte spielerische Selbstreflexion des Subjekts in der ästhetischen Erfahrung ist eine Erkenntniserfahrung (oder besser: eine Wahrheitserfahrung), allerdings nur als Relativierung und Einsicht in die Kontingenz unserer Selbst- und Weltverhältnisse und nicht in die Beschaffenheit einzelner Objekte. In meinen Augen ist die Wahrheit des Kunstwerks eine über die Erschlossenheit der Welt – wenn auch im negativen Modus. Damit ist sie mehr als bloße Negation oder Verzögerung des alltäglichen automatischen Verstehens. Trotzdem scheint es richtig zu sein, daß die ästhetische Erfahrung eine notwendige Voraussetzung der nicht-ästhetischen Diskurse negiert, nämlich die automatische Verstehbarkeit von Zeichen. Allerdings reicht diese Kennzeichnung nicht zur vollen Beschreibung der ästhetischen Erfahrung aus. Das buchstäbliche Freisetzen der Signifikanten und die unendliche Verzögerung des Verstehens (und damit das Ausstellen des Dinghaften im zeichenhaften Zeug) sind Voraussetzungen der ästhetischen Erfahrung, aber nicht schon diese selbst, denn im Zentrum der ästhetischen Erfahrung steht nicht mehr ein (Nicht-)Verstehen, sondern ein ästhetisches Spiel – z.B. mit möglichen Interpretationen des Erfahrenen (cf. Kapitel 5). Das Aufbrechen des alltäglichen automatischen Verstehens der schon ausgelegten Welt ist daher eine Bedingung der ästhetischen Erfahrung: das Freisetzen der Dinge von ihrer Einordnung in sinnvolle und zweckreiche Zusammenhänge. Auch scheint mir die Auszeichnung der ästhetischen Erfahrung als Scheitern des verstehenden Aneignens des ästhetischen Objekts die emotionale Situation ästhetischer Affizierung zu gering zu schätzen, mit anderen Worten: die ästhetische Lust wird reduziert bzw. fällt aus der ästhetischen Erfahrung heraus. Denn warum sollte das Scheitern des Verstehens des Kunstwerks lustvoll sein? Menke scheint in der Tat keine plausible Erklärung für ästhetische Lust zu bieten, die meiner Ansicht nach in der subjektiven Affirmation durch das ästhetische Objekt zu finden wäre. Die unendliche Verzögerung des Verstehens ist aber nicht per se lustvoll, denn dazu bedarf es eben eines Spiels mit den Dingen. Zudem kann es auch außerästhetisch eine unendliche Verzögerung des Verstehens geben, so daß dies als Kriterium nicht auszureichen scheint.
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durch die reine Dinghaftigkeit oder Materialität des Kunstobjektes eingebunden.59 Sinnstiftende und sinnverwirrende Momente überlagern, revidieren oder wiederholen sich in dem Maße, wie die ästhetische Wahrnehmung unendlich zwischen Zeichenhaftigkeit und Dinghaftigkeit des Kunstobjekts hin- und herspielt.60 In diesem Spiel der ästhetischen Erfahrung erfährt das Subjekt sich und den Gegenstand, an dem sie gemacht wird, lustvoll – oder auch schmerzvoll – selbst. Dieser ästhetische Prozeß (diese prozessuale Dialektik) entfaltet sich als die temporalisierende Bewegung des Aufschubs eines abschließenden ästhetischen Urteils, das das Objekt, an dem die ästhetische Erfahrung vollzogen wurde, nachträglich auszeichnet (im Urteil: „das ist schön“ etc.).61 Die ästhetische Erfahrung ist der Aufschub des Urteils und die Aufhebung einer Entscheidung hinsichtlich der Güte des Objekts, um sich der aisthetischen Faktizität (der physischen Erscheinung) des Kunstwerks hinzugeben. In der ästhetischen Erfahrung liegt daher eine gewisse Indifferenz, ein Nicht-Entscheiden-können oder -wollen, eine Verweigerung des Urteils. Die ästhetische Erfahrung bestimmt sich so als eine epoche, die Verunsicherung und Subversion impliziert, und deren Ende durch ein abschließendes Urteil eingeleitet wird, das die Rückkehr zur alltäglichen Ordnung und zum gewohnten Weltbezug sichert.62 Allerdings gilt auch, daß Urteile gleich welcher Art wiederum Teil des ästhetischen Erfahrungsprozesses sein bzw. in diesen eingebracht werden können. Daraus folgt dann eine Dialektik von Urteil, Setzung und Sinnstiftung und deren Infragestellung oder Auflösung. Im Streit über Kunst(werke) liegt von daher eine „unstillbare[] Dialektik“63. Die Aufgabe der ästhetischen Erfahrung ist die Selbstreflexion des Subjekts 59 Cf. Albrecht Wellmer: Das musikalische Kunstwerk (in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, S. 133-175), hier S. 156; Ruth Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2000). Das belegt für die Romantik Nicola Kaminski: Kreuz-Gänge. Romanexperimente der deutschen Romantik (Schöningh, München/Paderborn/Wien/Zürich 2001). Es gebe in der Romantik eine Dialektik von Sinnstiftung und Sinnsubversion als ein „Widerspiel von Sinnbegehren (seitens des Rezipienten) und Sinnentzug (seitens des Textes)“ in einem Prozeß von „Zeichenstiftung und Zeichenlöschung“ (Kaminski, l.c., S. 20). 60 Cf. Ruth Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels, l.c. (Fußnote 59). 61 Schönheit ist anscheinend keine (notwendige) Eigenschaft oder Bestimmung des Objekts der ästhetischen Erfahrung. Wir können ästhetische Erfahrungen an nichtschönen Gegenstände machen (vielleicht sogar besser) und Gegenstände schön finden (z.B. Bachfugen), an denen wir keine ästhetische Erfahrung machen. Im Urteil bricht das ästhetische Spiel ab. Das gilt natürlich nur unter der Maßgabe einer Ästhetik der Negativität (cf. Christoph Menke: Umrisse einer Ästhetik der Negativität (in: Franz Koppe (Hg.): Perspektiven der Kunstphilosophie, Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1991, S. 191-216). 62 Gute oder gelungene Kunstwerke schieben die Möglichkeit des Urteils auf bzw. verzögern es, erschweren das Urteil über sich oder verleiten sogar bewußt zu Fehlurteilen. 63 T. W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1997), hier S. 92 f.
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und Individuums. Die Aufgabe der Ästhetik ist eine theoretische Selbstbeschreibung gesellschaftlicher Reflexionsmodelle, die u.a. durch Kunst vermittelt werden. Das Individuum fundiert sich neu im härtenden Durchgang durch die Selbstreflexion. Die Gesellschaft reflektiert ihre Selbstbeschreibungsmodelle in der und durch die Kunst. Der Unterschied zwischen Selbstreflexion und Selbstbeschreibung ist also einer der Perspektive. Selbstreflexion und Selbstbeschreibung sind letztlich voneinander nicht zu trennen, denn sie setzen sich wechselseitig voraus. Damit zugleich zeigt sich, daß die Dialektik von Selbstbeschreibung und Selbstreflexion die Differenz von Theorie und Praxis übergreift. Es wird dann keine vorhergehende Praxis theoretisch beschrieben oder eingeholt, sondern die Reflexion und Theoriebildung selbst als eine Praxis verstanden: nämlich als ästhetische. Gute gelungene Kunst zeichnet sich durch einen doppelten Zug aus: einerseits bezieht die ästhetische Erfahrung des Objekts das Subjekt mit ein, andererseits verweigert oder entzieht sich das ‚Objekt‘ der subjektiven Sinnproduktion und -projektion. Im ästhetischen Spiel überlagern sich daher aktive wie passive Momente.64 Das heißt, daß sich die ästhetische Erfahrung nicht unmittelbar und quasi von selbst aus der ästhetischen Wahrnehmung ergibt. Gefordert ist vielmehr (zumindest auch) ein aktives Verhalten des rezipierenden Subjekts, d.h. zumindest ein Einstellungswechsel von einer nichtästhetischen zu einer ästhetischen Perspektive. Indem wir etwas als Kunst klassifizieren bezeichnen wir ein mögliches menschliches Verhältnis zu den Dingen: nämlich sie weder zu erkennen noch zu gebrauchen (sie also weder theoretisch noch praktisch zu klassifizieren). Das bezeichnet gerade die Autonomie des ästhetischen Zugriffs auf die Dinge. Aktiv ist das ästhetische Subjekt, indem es Sinnzusammenhänge produziert und auf das Kunstwerk projiziert. Eher passiv ist das Subjekt, indem es sich von der materialen Gegebenheit des ästhetischen Gegenstandes affizieren läßt. Die ästhetische Erfahrung ist also nicht nur eine Bestimmung des ästhetischen Verhältnisses von Subjekt und Objekt, sondern sie vollzieht sich auch zwischen aktiven und passiven Verhaltungen des Subjekts bzw. sie ist zugleich aktiv und passiv. Es scheint tatsächlich am Beginn der ästhetischen Erfahrung einen Vorrang des Passiven als Einlassen des Subjekts aufs Objekt zu geben (wenn man will eine Affektion), denn sonst wäre es keine ästhetische Erfahrung. Dieses Einlassen bestimmt sich als Mimesis an den konkreten Zusammenhang (Form) des ästhetisch verarbeiteten Materials. Das Subjekt verweilt beim individuell erfahrenen Objekt.65 Die Passivität am Beginn der ästhetischen Erfahrung entspricht Adornos Rede vom Vorrang des Objekts.66 Die ästhetische Erfahrung der bloßen Materialität des Objekts erinnert uns 64 Eine Analyse des Verhältnisses von Aktivität und Passivität bei den Griechen bzw. deren Sprache unternimmt Wolfgang Schadewaldt: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1978). Auf diesen bezieht sich wiederum Dieter Rahn: Die Plastik und die Dinge. Zum Streit zwischen Philosophie und Kunst (Rombach, Freiburg 1993), vor allem S. 87-100. 65 Adorno läßt hiervon sogar die Wahrheit abhängen: „Fast könnte man sagen, daß vom Tempo, der Geduld und Ausdauer des Verweilens beim Einzelnen, Wahrheit selber abhängt“ (T.W. Adorno: Minima Moralia (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1997), S. 94.) 66 Cf. T.W. Adorno: Ästhetische Theorie (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1973), S. 111.
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daran, daß uns die Dinge nicht nur metaphysisch (also sprachlich), sondern auch physisch (also sinnlich) gegeben sind.67 Das Metaphysische bedarf immer wieder der Korrektur durch das Physische. In der ästhetischen Erfahrung wird das Physische gegenüber seiner signifikativen Einbettung freigesetzt. Eben das vollzieht sich in der und als die ästhetische(n) Erfahrung. Aktive und produktive sowie passive und rezeptive Momente scheinen sowohl in rezeptionsästhetischen als auch in produktionsästhetischen Beschreibungen von Subjektivität implantiert zu sein, also sowohl beim ästhetischen Rezipienten als auch beim Künstler. Um der Verschränkung von aktiven und passiven Elementen in der ästhetischen Erfahrung gerecht zu werden, sollte man vielleicht besser von einem spezifisch ästhetischen Verhalten von Subjekten sprechen, in dem sich Momente von Affektion wie Produktion zeigen. Die Argumentation richtet sich damit gegen die Vorstellung, ästhetische Erfahrung sei dem Subjekt unmittelbar gegeben (das hieße nämlich, eine rein passive Affektion anzunehmen). Diese ist vielmehr mittelbar und kann von daher z.B. durch Übung vervollkommnet werden.
VII Ausgehend von einer Rekonstruktion der doppelten Weise, in der Subjekte in ihren ästhetischen Erfahrungen lustvoll 68 dabei sein können (nämlich als Autor und Rezipient), läßt sich – so meine These – auch eine bessere Beschreibung von alltäglichen und außerästhetischen Subjektvollzügen in ihrer Praxis gewinnen. In dem Verhältnis des Subjekts zur Kunst bzw. zu Kunstwerken zeigt sich explizit, was implizit allen Subjektvollzügen eigen ist: sie sind eingeschrieben in eine Dialektik sinnhafter Prozesse, anhand derer wir uns in der Welt orientieren. Die Kunst selbst zeigt uns andere – möglicherweise alternative – Weltentwürfe69, anhand derer eine wechselseitige Reflexion von Rezipienten und ästhetischem Objekt stattfinden kann: Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn (Musil) stellen sich wechselseitig in Frage. Wichtig ist dabei zu sehen, daß auch die sogenannte realistische Kunst nur Fiktionen und virtuelle Welten zeigt, denn die Kunst ist per se absolut unfähig zu im vollen Sinne ‚realistischen‘ Nachahmungen der Wirklichkeit. Sie ist immer Darstellung und hat als solche immer einen unermeßlichen produktiven Überschuß (an Fiktionalität), den auch jeder Realismus70, der ihn zu leugnen versucht, nicht 67 Cf. Abschnitt 1 dieses Kapitels. 68 Cf. Wellmer, Das musikalische Kunstwerk, l.c. (Fußnote 59), S. 164: „Daß der Prozeß des ästhetischen Reflexionsspiels, das heißt aber einer ästhetischen Erfahrung, die sich in keinem Produkt ihrer ‚Synthetisierungen‘ beruhigen kann, nicht frustrierend, sondern ein lustvolles Spiel ist, kann man auch durch die Formel zum Ausdruck bringen, daß die ästhetische Erfahrung vollzugsorientiert und nicht resultatsorientiert ist“. 69 Den welteröffnenden Aspekt des Kunstwerks betont auch Martin Heidegger in Der Ursprung des Kunstwerks (in: ders.: Holzwege, Klostermann, Frankfurt/Main 1950/2003, S. 1-74), hier S. 32: „Zum Werksein gehört die Aufstellung einer Welt“. 70 So gilt auch Platos Kritik an der Kunst zunächst nur einer naturalistischen Kunst, die die Dinge bloß abbildet. Ob diese Kritik Platons auch für nichtgegenständliche
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völlig ausschalten kann.71 Ein vollständiger Naturalismus – den es natürlich niemals geben kann – wäre keine Kunst mehr. Keine ästhetische Ideologie kann das problematische Verhältnis von Referenz und Repräsentation eliminieren, möglich wäre nur eine Verdrängung dieser Problematik.72 Indem die Kunst die Möglichkeit alternativer Welten bzw. Weltentwürfe eröffnet, zeigt sie zugleich, daß unsere sogenannte Realität – die wirkliche Welt – auch nur ein geschaffenes und auf Konventionen beruhendes Gebilde ist, das bedingt ist – und damit auch veränderbar, z.B. gemäß einer zunächst ästhetisch artikulierten anderen oder gar besseren Weltordnung. Die sogenannte Wirklichkeit ist eben nur eine Möglichkeit der Weltverfassung, allerdings die einzige, die verwirklicht ist. Sie scheint konstituiert und stabilisiert durch die Kontinuität der subjektiven Erwartungen, die ,an‘ sie gestellt werden. Das Erwartete erscheint als das Wirkliche und vice versa. Diesen Zirkel unterbricht das überraschende Moment (in) der ästhetischen Erfahrung. Diese vollzieht sich im geöffneten Raum einer epoche unseres gewohnten Weltverhältnisses. Die moralische Funktion der Ästhetik bzw. der Kunst liegt in der produktiven Erfindung alternativer Welten als Bedingung der Möglichkeit einer moralischen Wahl der Welt, die wir wollen, durch unser Handeln anstreben und die wir verantworten müssen.73 Wir brauchen die Fiktionalität der Kunst, damit wir überhaupt eine Wahl haben: wir haben nur die Wahl zwischen etwas, nicht zwischen etwas und nichts. Nur in einer Pluralität möglicher Universen kann es so etwas geben wie moralische Freiheit als verantwortliche Entscheidungsfreiheit zwischen positiv formulierten bzw. formulierbaren Alternativen. Ohne Kunst bzw. Ästhetik, ohne produktive Einbildungskraft oder Phantasie74 wäre die sogenannte ‚wirkliche‘ Welt
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Kunstwerke gelten sollen, kann hier nicht entschieden werden. Das bekannte Verdikt Platos gegen die Kunst in der idealen Polis betrifft aber gar nicht allgemein ‚die‘ Kunst, sondern nur eine naturalistische, die Realität verdoppelnde Kunst. Es ist in der Tat schwer zu verstehen, wie eine Kunst gesellschaftlich nützlich sein soll (oder kann), die sich mit der möglichst perfekten und vollkommenden nachahmenden Abbildung z.B. von Betten beschäftigt. Die Kritik Platos betrifft also eine Kunst, die das utopische Potential, die moralische Pflicht zur Utopie aus sich ausschließt. Kunst ist aber nur nützlich, wenn sie sich dem Bestehenden verweigert, gleich ob durch Kritik oder Affirmation (nämlich der Dissemination). Cf. zum Begriff der ‚Darstellung‘ Christiaan L. Hart Nibbrig (Hg.): Was heißt ‚Darstellen‘? (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1994). Eine weitere Verwirrung der Situation ergibt sich aus einer Umkehrung des mimetischen Verhältnisses von Kunst und Leben: nicht die Kunst imitiert noch das Leben, sondern ‚das Leben‘ imitiert heute die Kunst (z.B. als Stil, Nachahmung der Rollen von Schauspielern oder Musikern, etc.). Leibniz würde sagen, daß letztlich die beste Welt gewählt werden muß, da sie die vernünftigste ist. Cf. Gottfried Wilhelm Leibniz: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (Meiner, Hamburg 1996), passim. Phantasie ist die weltenbildende Selbsttätigkeit der Einbildungskraft und als solche wohl eine anthropologische Konstante. Ersteres beobachtet auch Kant: „Die Ein-
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die einzig denkbare und damit absolut notwendig (und in ihrer absoluten Faktizität unerträglich). Die Kunst ist so die Aufhebung des Möglichkeitssinns, des Pools auch möglicher An- und Verknüpfungen einzelner Elemente. Dieser virtuelle Raum oder Schleier um die gegebenen Elemente oder Dinge ist der utopische Horizont, der die Faktizität der Dinge erst erträglich75 macht. Diesen Horizont dessen, daß es immer auch anders sein könnte als es ist, gilt es (je am einzelnen Werk) freizulegen und zu bewahren. Aufgehoben wird das Virtuell-Utopische u.a. auch durch Spiel und Ironie. Beide relativieren nämlich den Glauben an das unhinterfragbare Gegebensein der Dinge. Sie sind praktiziertes Bewußtsein der Kontingenz des Bestehenden und eröffnen so im Wirklichen das auch Mögliche. Darauf komme ich in den folgenden Kapiteln zurück. Das Verhältnis von Kunstwerk und Welt bzw. Alltag ist dasjenige einer wechselseitigen Spiegelung, einer Reflexion – wenigstens beim gelungenen Kunstwerk. Daraus folgt, daß das Subjekt, das eine ästhetische Erfahrung macht, gerade das alltägliche ist, weil nur dieses die vom Kunstwerk aufgespannte Welt in sich spiegeln kann. Wenn es stabile ästhetische Gestalten des Subjekts geben sollte, dann wäre die ästhetische Erfahrung solcher Subjekte bloß affirmativ und nicht negativ: sie wäre l’art pour l’art ohne jeglichen subjektverändernden Effekt. Grundlage der Negativität der ästhetischen Erfahrung ist die Differenz zwischen Kunst und Leben, die in der ästhetischen Erfahrung schmerzvoll oder auch lustvoll bewußt wird. Es gibt also eine wechselseitige Spiegelung von empirischer Welt/Alltag und Parallelwelt/Alternativwelt (etwa im Roman). Dies kann sich etwa darin zeigen, daß Kunstwerke die funktionale Einbettung bestimmter alltäglicher Dinge und damit das, was Heidegger das Zeughafte des Zeugs genannt hat, explizit ausstellen. Dieses Zeughafte des Zeugs ist in der alltäglichen Praxis seiner Verwendung in eben dieser und durch eben diese gerade verdeckt. Um das Zeughafte feststellen und sichtbar machen zu können, müssen wir daher die Dinge aus ihrem gewohnten Verwendungskontext lösen und als bloße Dinge – als scheinbar Vorhandenes, z.B. als Ready-mades – ausstellen. Es zeigt sich dann, daß die Dinge noch mehr sind als bloße Gebrauchsdinge, als bloßes Zeug: sie sind singuläre Objekte, die sich als solche physisch erfahren lassen. Die ästhetische Erfahrung ist also eine Kontingenzerfahrung: ich erfahre die gegebene Welt einerseits als nicht die einzige, die möglich ist, und andererseits als entgegen dem Schein ihrer natürlichen Notwendigkeit nicht notwendig. Ein auf dieser (wenn man so will) Einsicht, die in der ästhetischen Erfahrung gewonnen werden kann – und die vielleicht nicht von Dauer ist, sondern immer wieder neu erfahren werden muß – aufbauendes aktives Verhalten des Subjekts ist das, bildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt.“ (Immanuel Kant: Die Kritik der Urteilskraft (hg. von W. Weischedel, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974), hier zitiert nach Ausgabe B, S. 250). 75 Es bleibt aber die Frage, ob das die-Welt-erträglich-machen der Kunst nicht wiederum auf eine bloße Kompensationstheorie der ästhetischen Erfahrung hinausläuft. Kunst supplementiert dann die Mängel der alltäglichen Welt, sie bietet zugleich Abstand vom Alltag wie Vergnügen.
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was Friedrich Schlegel als „Ironie“ bezeichnet: das ästhetische Verhalten ist das (manchmal lustvolle) Spiel mit möglichen und wirklichen Welten oder Selbstverhältnissen.76 In ihm zeigt sich, daß die Welt auch nicht bzw. gar anders sein könnte, als sie scheinbar ist. Die Welt ist weder notwendig noch notwendig gut. Zum anderen zeigt sich die menschliche Welt als bedingt und ihre Ordnung damit als anfällig für Störungen. Die Negativität der ästhetischen Erfahrung richtet sich gegen das Bestehende oder Beständige. Das Bestehende ist das je von den Subjekten als Festes, als Beständiges Geglaubte und Erwartete: das, was scheinbar über die Zeit hinweg unerschütterlich feststeht und unendlich dauert. In der ästhetischen Erfahrung zeigt sich dies als eine Illusion, die sich der Mensch je wieder über seine zeitliche wie machtvolle Endlichkeit macht. Die ästhetische Erfahrung ist aber nur eine Weise, diese Negativität zu vollziehen oder zu erleben, und vielleicht nicht einmal die günstigste. Aber als Kehrseite der Ausarbeitung der neuzeitlichen logozentrischen Subjektmetaphysik seit Descartes hob die entstehende Ästhetik andere Weisen subjektiver Vollzüge auf, die heute noch abrufbar sind, um eben jene Metaphysik, soweit sie tatsächlich historisch ist, in Frage zu stellen. Die explizite Entfaltung des kartesianischen Rationalismus ist gleichursprünglich mit dem Einsatz und gleichsam nur die Kehrseite eines Denkens, das historisch zur Ästhetik führt. Daher die wiederholenden Beteuerungen der Ästhetik, die Erfahrung der Kunst resp. des Erhabenen oder Dionysischen transzendiere die alltägliche Eingelassenheit des Subjekts in eine zunehmend zweckrational geordnete und administrativ beherrschte Welt. Die Erfindung der Ästhetik ist eine philosophische Reaktion auf die kartesianische Reduktion des Menschen auf seine selbstgründende Vernunft: sie hebt jene Anteile im Menschen auf, die der kartesianische Rationalismus als verworrene Sinnlichkeit bestimmt und abwertet (cf. Kapitel 2). Von daher (d.h. von der Gemeinsamkeit ihres Ausschlusses aus der Vernunft) rührt die defensive Gleichsetzung von Subjektivem, Sinnlichem und Irrationalen unter dem Namen ‚Ästhetik‘.77 Dagegen wäre zu zeigen, daß Vernunft und Sinnlichkeit keinen absoluten Dualismus bilden, sondern ihre Einheit im menschlichen Leib finden. Was das Subjekt der ästhetischen Erfahrung ablernen kann, ist die im Spiel von Sinnstiftung und Sinnsubversion erfahrene Kontingenz sinnhafter Bestimmung. Auf diese Erfahrung können Kunstobjekte wiederum reflexiv bezogen sein, und zwar nicht so sehr inhaltlich oder thematisch als vielmehr formal. Sie können nämlich durch ihre Struktur allererst die Möglichkeit eröffnen, die Prozessualität ästhetischer Sinnstiftung zwischen Subjekt und Objekt dem Subjekt explizit und performativ erfahrbar zu machen, wie das explizit z.B. installative Kunstobjekte tun. In diesem Sinn stellen avancierte Kunstwerke nicht einfach etwas (nach- oder abbildend) dar, sondern sie stellen durch ihre Struktur allererst etwas her, was nur
76 Ironie und Spiel scheinen also eng ineinander verschlungen. 77 Zu allen Zeiten hat es Einspruch gegen die neuzeitliche Herrschaft der Vernunft als Ratio gegeben. Unter anderem wurden dafür Instanzen wie Körperlichkeit, Leib, Sinnlichkeit, Gefühl, Stimmung, Kunst, Affekte, Leidenschaften, Spiel, Lust und Rausch in Anschlag gebracht. Zu den Gegenbewegungen zählt auch der sogenannte „Ästhetizismus“.
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im Prozeß der ästhetischen Erfahrung für das Subjekt erlebbar78 wird.79 Eine ästhetische Einstellung einzunehmen bedeutet, etwas (oder jemanden) als Einzelnes oder Individuelles gerade in seiner spezifischen Einzelheit wahrzunehmen. Bestimmte in der ästhetischen Erfahrung bzw. Einstellung wahrgenommene Objekte – nämlich gewöhnlicherweise Kunstobjekte – lassen sich als sich selbstreflexiv auf ihr Wahrgenommenwerden als Einzelne beziehende Objekte verstehen. Kunstobjekte sind selbstreflexive Wahrnehmungsobjekte, die sich als solche Wahrnehmungsobjekte in ihrer spezifischen Einzelheit darbieten. Die ‚richtige‘ Einstellung gegenüber diesen Objekten ist es, sich solcherart selbstreflexiv als Einzelnes Darbietendes auch als ein solches Einzelnes wahrzunehmen, also eine ästhetische Einstellung gegenüber Kunstobjekten einzunehmen.80 Das Subjekt muß sich mimetisch an das Kunstobjekt anschmiegen, um seiner Singularität gerecht zu werden. Insofern ist der Anspruch von Kunstobjekten normativ für die Weise ihrer Wahrnehmung. Es gibt daher richtige und falsche Einstellungen gegenüber Kunstwerken. Ich werde diesen nur gerecht, wenn ich mich zu ihnen ästhetisch verhalte – womit immer noch eine Pluralität verschiedener Reaktionen auf ein Kunstobjekt möglich (vielleicht sogar gefordert) ist. Damit läßt sich produktiv an eine ansonsten zu kritisierende ästhetische Tradition anschließen, nach der die ästhetische Erfahrung eine Wahrheitserfahrung sein soll. In der Tat stellt sich in der ästhetischen Erfahrung bzw. als deren Resultat eine Wahrheit ein, die durch andere Diskurse wie etwa dem der Philosophie lediglich mitteilbar ist. Philosophisch wäre sie Einsicht in die Endlichkeit und Kontingenz des Menschlichen. Auch die ästhetische Erfahrung hat also einen Wahrheitsbezug, da sie sich negativ auf das alltäglich Geglaubte und diesem Zugrundeliegende (die im Alltag herrschende Metaphysik) bezieht, indem sie dieses reflexiv verunsichert. Diese ‚Wahrheit‘ wird aber nicht mitgeteilt, sondern durch die Anordnung des Materials im Kunstwerk erlebt oder erfahren. Daraus folgt, daß es anscheinend zwei Arten Wissen gibt: einerseits durch ästhetische Erfahrung (z.B. durch Kunst) gewonnenes Wissen, andererseits intellektuell erschlossenes Wissen (z.B. in der Philosophie). Es gibt demnach eine Artikulationsdifferenz verschiedener (kognitiver) Erfahrungstypen. Während wir in der Kunst eine Wahrheit erfahren oder erleben, teilt uns die (philosophische) Ästhetik eine Erfahrung ihrem Gehalt nach mit. Über das, was die Kunst implizit vollzieht, spricht sich die Ästhetik explizit thematisch aus. Die Differenz beider Wissenstypen liegt in der Weise, wie der Gehalt einer Erfahrung auf diese selbst – d.h. den Prozeß ihrer Entfaltung oder ihres Vollzuges – bezogen ist: nämlich entweder vollziehend und performativ oder aber thematisch und inhaltlich als ein ‚Sprechen-über‘. Die ästhetische Differenz ist die Differenz von ästhetischen und kognitiven Erfahrungsvollzügen, -typen oder -weisen. Kognitive (Wissens)Erfahrung ist nicht reflektierend-prozessual verfaßt. In der ästhetischen Erfahrung haben wir einen anderen Bezug zum Wissen, nämlich einen reflexionsvollziehenden.81 Wenn wir philosophisch vermitteltes Wissen 78 Die Frage ist natürlich, wie sich Erfahren zu Erleben verhält. Während ersteres eine Subjekt/Objekt-Konstellation meint, bezeichnet letzteres eine rein subjektive Qualität. 79 Cf. Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003). 80 Cf. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003). 81 Cf. Zum Verhältnis von Erfahrung zu ihrem Gehalt bzw. zum Wissen auch Martin
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erfahren, blenden wir die Materialität der Sprache als Schrift aus zugunsten der Idealität des textuellen Sinns. Gleichwohl läßt sich von einem Ästhetisch-werden der Philosophie sprechen, wenn sie anfängt, die Materialität ihrer Darstellung in ihre Überlegungen miteinzubeziehen.
VIII In diesem Abschnitt möchte ich die dem Schönen eingeschriebene Ideologie diskutieren. Es gibt eine gewisse Ambivalenz im Schönen selbst. In der am Kunstwerk erfahrenen Schönheit zeigt sich wie in einem Zerrspiegel das Ungenügen der ‚wirklichen‘ Welt. Das schöne Kunstwerk zeigt die Welt wie sie sein könnte – das ist ihr utopischer Gehalt. Oder es behauptet, die Welt zu zeigen, wie sie ist – das markierte ihren reaktionären Gehalt als ideologische Ausblendung des realen Leidens in der Welt. Es gibt also die folgende Ambivalenz: einerseits ist die Schönheit normativ utopischer Vorschein einer echten Versöhnung, die ahnen läßt, daß gewaltfreie Harmonie auf Erden möglich wäre. Das Utopische muß dann im realisierten Kunstwerk aufgehoben werden. Das impliziert eine Kritik des Bestehenden durch die Schönheit des Dargestellten, die zeigt, wie es sein könnte. Andererseits fungiert Schönheit als Lüge über den realen Weltzustand und das Leiden und ist ergo restriktiv. Die schöne Abbildung verfälscht das Abgebildete und ist somit erpreßte Harmonie oder Versöhnung. Beide Züge der Schönheit finden sich in Adornos Werk Ästhetische Theorie.82 Als ‚schön‘ wird allgemein das bezeichnet, in dem Form und Gehalt zusammenfallen und übereinstimmen, oder in dem die ideelle Einheit von Materialität und Idealität verwirklicht ist. So ist die Ästhetik etwa bei Fichte nicht mehr eine gesonderte philosophische Disziplin, sondern rückt ins Zentrum der theoretischen und praktischen Philosophie als „Wissenschaftslehre“. Die Gewißheit eines Satzes, d.h. seine Wahrheit, folgt bei Fichte aus der Übereinstimmung seines Gehaltes mit seiner Form. Da dies einer Definition des Schönen entspricht, wird die Schönheit damit zu einer Garantin der Wahrheit.83 Die Schönheit liegt in der Erscheinung als dem sinnlichen Scheinen der Idee und ist „dasselbe“ wie die Wahrheit, wie Hegel feststellt.84 Das Symbol ist als der Zusammenfall von sinnlicher Erscheinung und
Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1997), S. 75 ff. und S. 109 ff. 82 Cf. T.W. Adorno: Ästhetische Theorie (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1973), S. 78-85, S. 114 f., S. 128 f. 83 Cf. Johann Gottlieb Fichte: Über den Begriff der Wissenschaftslehre (in: Immanuel Hermann Fichte (Hg.): Fichtes Werke I, de Gruyter, Berlin 1971, S. 27-81). Der Gehalt eines Satzes bestimmt seine Form und vice versa (l.c., S. 49). „Man nehme an, gewiß wissen heisse nichts Anderes, als Einsicht in die Unzertrennlichkeit eines bestimmten Gehalts von einer bestimmten Form haben“ (l.c., S. 51). 84 Cf. G.W.F. Hegel: Vorlesungen über Ästhetik I (in: ders.: Werke Band 13, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1986), S. 151.
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ideeller (übersinnlicher) Bedeutung (oder Idee) prototypisch schön.85 Das Symbol setzt eine stabile Relation von Zeichen und Bezeichnetem voraus. Es markiert gerade die Einheit von Übersinnlichem und Sinnlichem, von Idealität und Materialität (des Zeichens), von Ganzem (Bedeutetes) und Teil (Bedeutendes).86 Man hat daher das Symbol auch strukturell als Synekdoche aufgefaßt87 bzw. als Übereinstimmung von Ganzem (Welt) und Teil (Zeichen). Als Sprache ist das Symbol die mystifizierende Verkennung der sprachlichen Struktur als Abwesenheit und Nichtidentität von Intention, Bedeutung und Interpretation. Die unter dem Namen Symbol auftretende illusionäre Identifikation von Subjekt und Welt bzw. äußerer Natur läßt sich nach Paul de Man durch eine demystifizierende Analyse des tropischen Charakters der Sprache ‚dekonstruieren‘.88 Tropen oder Sprechweisen wie die Allegorie und die Ironie sind im Unterschied zum Symbolbegriff durch eine radikale Disjunktion von ihrem Ursprung getrennt und eignen sich daher als Werkzeug zu einer rhetorischen Kritik der ästhetischen Ideologien, wie dies beispielhaft Paul de Man durchgeführt hat. Darauf werde ich im vierten Kapitel dieser Arbeit ausführlicher eingehen. ‚Schön‘ heißt dann die falsche – weil illusionäre – Darstellung einer Entsprechung von Mensch und Welt und ist insofern täuschende Ideologie. So folgt für den Kant der Kritik der Urteilskraft aus der Lust an der Schönheit die Angemessenheit der Form der Objekte zu den menschlichen 85 Hans-Georg Gadamer hat in seiner Analyse des Symbols in Wahrheit und Methode (J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1960/1990, S. 76-87) festgestellt, daß das Symbol eine „anagogische Funktion [hat]; es leitet zu der Erkenntnis des Göttlichen hinauf“. Das Symbol ist der „Zusammenfall von sinnlicher Erscheinung und übersinnlicher Bedeutung“ als eine „Vereinigung von Zusammengehörigem“, aufgrund einer internen Verknüpfung von Symbolisiertem und Symbolisierendem im Symbol, „weil das Symbol keine beliebige Zeichennahme oder Zeichenstiftung ist, sondern einen metaphysischen Zusammenhang von Sichtbarem und Unsichtbarem voraussetzt“ (l.c., S. 79). Gerade für den religiösen Gebrauch von Symbolen gilt, daß sie „durch die Gegenwart [ihres] Gezeigt- oder Gesagtwerdens erst [ihre] repräsentierende Funktion“ gewinnen (l.c., S. 78). Das Symbol konstituiert sich nicht innerhalb einer verweisenden Struktur auf eine vorgängige Bedeutung, die durch eine Konvention gesichert wird, wie die Allegorie, sondern das Allgemeine ist im Besonderen und das Besondere im Allgemeinen: die Bedeutung des symbolischen Kunstwerks liegt in seiner Erscheinung selbst und wird nicht in es hineingelegt (l.c., S. 83). Allerdings läßt das Symbol gerade auch das „Mißverhältnis zwischen Form und Wesen, Ausdruck und Inhalt denken“, eine Unangemessenheit oder „Unentschiedenheit zwischen Form und Wesen“, der dem Symbol den „Charakter des Schwebens“ verleiht (l.c., S. 83 f.). 86 Cf. Paul de Man: Zeichen und Symbol in Hegels ‚Ästhetik‘ (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 39-58). „Das Symbolische ist die Vermittlung von Geist und natürlicher Welt, an der die Kunst offenkundig teilhat, sei es als Stein, als Farbe, als Klang oder als Sprache“ (l.c., S. 41). 87 Cf. z.B. Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993). 88 Cf. Paul de Man: Die Rhetorik der Zeitlichkeit (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 83-130).
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Erkenntniskräften überhaupt, was eine Entsprechung von Subjekt und Objekt bedeutet. Darauf komme ich im dritten Kapitel in der Diskussion Kants zurück. Schönheit bzw. die Liebe zu ihr ist eine affirmative Beziehung eines Subjektes zu etwas anderem (Objekt, Vorstellung, Handlung, Einstellungen, Beschreibung etc.). Schönheit bezeichnet also eine Form der Bezugnahme von Subjekten auf etwas unabhängig vom Inhalt der solcherart in Beziehung stehenden Elemente (z.B. Subjekt und bestimmtes Kunstwerk). Sie ist also keine bestimmte Relation von Subjekt und z.B. Objekt, sondern das Paradigma affirmativer (und damit gründender) Beziehungen von Subjekten überhaupt. Ästhetische Lust entsteht durch die subjektive Affirmation durch das Schöne. Schönheit ist also das mit (ästhetischer) Lust gefühlte (freie) Zusammenstimmen von Subjekt und Objekt. Insofern bestätigt oder konstituiert das Schöne die Harmonie von Subjekt, (Kunst-)Objekt und Welt und damit das Subjekt als solches. Um ihrer kritischen Funktion gerecht zu werden, muß die Kunst daher das Schöne nicht nur darstellen, sondern es auch je destruieren oder brechen, um den ideologischen Gehalt schöner Selbstaffektion des Subjekts zu Tage treten zu lassen und den freien Austrag der Dialektik von Gründung und Reflexion zu ermöglichen. Vielleicht sollte man sogar eher das Erhabene als Nichtentsprechung von Welt und Subjekt heranziehen als vorgebliche Fundierungserfahrungen am Schönen zu machen. Die Notwendigkeit dieser genuin ästhetischen Destruktion des Schönen zeichnet sich jedenfalls im Erhabenen als Nichtentsprechung von Subjekt und Welt ab.89 Das ungebrochene Schöne tendiert dazu, reaktionär zu sein, denn es gründet im Einverstandensein mit der Beschaffenheit der realen Welt und ‚vergißt‘ das in ihr vorhandene reale Leiden.90 Was in der ästhetischen Erfahrung erfahren wird, ist also gerade das Scheitern der mit dem Schönen verbundenen (potentiell gründenden) Harmonie zwischen Subjekt und Objekt. Wenn man auch bestimmte sinnstiftende und -garantierende Muster (z.B. eine Erzählung organisierende narrative Muster: linear verlaufende Zeit, Spannungskurve, Klimax, retardierendes Moment etc.) mit Schönheit identifiziert (schön ist die Möglichkeit des Sinns, Schönheit stiftet Sinn, Sinnstiftung ist schön), so läßt selbstreflexive Kunst gerade die Destruktion dieser Muster erfahren. Man könnte diese Selbstdestruktion sinnstiftender Strukturen auch als Destruktion des Inhalts (z.B. das in einer Erzählung Erzählte) durch die Form (die formale Anordnung der Elemente) verstehen. Avancierte Kunst ist dann deshalb avanciert, weil sie auf Form setzt und damit die Bedingungen der Möglichkeit des sogenannten Inhalts und seiner Schönheit problematisiert.91 Problematisierung und Autodestruktionen der Bedingungen des eigenen Erzählens finden sich vielfältig 89 Cf. Wolfgang Welsch/Christine Pries: Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-Francois Lyotard (VCH/Acta Humaniora, Weinheim 1991); Jean-Francois Lyotard: Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen (Fink, München 1994). 90 Das geht vielleicht zu weit: auch Bachfugen sind schön, ohne daß diese Schönheit prima facie irgendwie gebrochen wäre. Oder liegt in ihrer widerstrebenden kontrapunktischen Konstruktion auch so etwas wie Gebrochenheit? 91 Eine Destruktion der oft schon in den Gattungstheorien definierten narrativen Muster, von denen der Sinn eines Textes abhängt, führt für den Roman beispielhaft Flann O’Brien im zweiten Kapitel seines Textes At-Swim-to-Birds durch.
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in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Die ästhetische Erfahrung, die an solchen ‚autodestruktiven‘ (in dem Sinne, daß sie die Möglichkeit ihrer Existenz und ihres So-seins reflektieren) Kunstwerken gemacht werden kann, ist die einer Selbstreflexion von Sinnstiftungsmustern bzw. der Weise der Disposition einer Erzählung, deren Vertrautheit die Möglichkeit des Sinns sichert. Man kann solche Sinnstiftungsmuster mit einigem Recht mit ‚der‘ abendländischen Metaphysik identifizieren, die uns orientiert, indem sie etwa die Welt nach dichotomischen Differenzen anordnet. Die ästhetische Erfahrung zeigt die Kontingenz der dem Sinn bzw. der Arbeit des Sinns unterliegenden Fundierungsmuster, was heißt, daß diese trotz aller Wirksamkeit letztlich nicht hinreichend zu begründen sind. Das heißt aber nicht, daß man sie einfach streichen könnte. Es geht nur um eine geregelte Infragestellung, die über ihre Perspektive Rechenschaft ablegen muß. Zu erfahren ist allererst die unhintergehbare Bedingtheit der menschlichen Weltordnung. Die ästhetische Selbstdestruktion des Schönen – was Nietzsche das Dionysische nannte (cf. Kapitel 5 dieser Arbeit) – stellt nicht nur Relationen zu einzelnen schönen Dingen in Frage (das natürlich exemplarisch immer auch), sondern die ideologische Funktion affirmativer Beziehungen von Subjekten auf Beschreibungen überhaupt. Es handelt sich um eine (z.B. gefühlte) Übereinstimmung. Schön finde ich das, was mir entspricht, und von dem ich zugleich annehme, daß es zu allen Subjekten gleichermaßen paßt. Insofern zeigt sich im Schönen die Illusion eines Passens von Objekt/Welt und Subjekt, die in der ‚echten‘ ästhetischen Erfahrung durch die Selbstdestruktion des Schönen als Illusion freigelegt wird. Wenn man Schönheit formal bestimmt als harmonische Entsprechung von Subjekt und Objekt unabhängig von der Beschaffenheit der Elemente selbst, bleibt ein Problem. Denn auch wenn eine disharmonische Erfahrung eine selbstfundierende Erfahrung sein kann und oft auch ist (wenn ich z.B. Free Jazz höre), in der sich gerade die Disharmonie des Subjektes spiegelt, so muß doch die schöne Beziehung zwischen disharmonischen Elementen irgendwie anders sein als zwischen harmonischen. Sie muß reflexiv-gebrochen sein: in der oder durch die Harmonie des Disharmonischen (oder der Einheit der Differenz) zeigt sich, daß die Harmonie des Harmonischen einer Lüge gleicht (nämlich über die Differenz in der Einheit). D.h. nur bestimmte materiale – und eben nicht formale (Schönheit als bloße Form einer Beziehung, nämlich Affirmation) – Schönheitsbestimmungen sind ideologisch, da sie Illusionen affirmieren. Die Harmonie des Disharmonischen ist über sich selbst aufgeklärter und weiß um die Gefahr fälschlicher und unkritischer Identifikationen. D.h. es gibt etwas im Objekt, daß sich der Hamonie bzw. harmonischen Identifikation stets verweigert, wie oft auch die ästhetische Erfahrung wiederholt werden mag. Solche disharmonischen Kunstwerke widersetzen sich objektiv der materialen Ideologie des Schönen. Das Bedürfnis nach Harmonie – und sei es die Harmonie in der Zerrissenheit –, das diese Ideologie konstituiert, ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis, nämlich letztlich das Bedürfnis nach einem Sinn der Welt, mit dem sich das Subjekt (oder Individuum) identifizieren will. Allerdings sind disharmonische Harmonien nicht per Dekret davor gefeit, in Ideologie zu erstarren, z.B. wenn man sich in der Negativität zur Welt häuslich einrichtet, wie dies der Zynismus tut. Die Aufgabe der (äs-
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thetischen) Desillusionierung stellt sich immer wieder neu, da immer wieder Illusionen produziert werden. Diese Desillusionierung vollzieht sich als Autodestruktion des schönen Scheins, in dem sich eine sinnstiftende Harmonie zwischen Subjekt, Kunstobjekt und Welt zeigt.92 Jede Beschreibung ist eine Erzählung, die immer auch zugleich Selbstbeschreibung der zugrundeliegenden Selbst- und Weltverhältnisse und damit der eingenommenen Perspektive ist. Eine Selbstbeschreibung ist eine das Selbst fundierende Erzählung. Jede Erzählung fundiert, indem sie Sinn stiftet. Die ‚richtige‘ oder angemessene (geforderte) subjektive Reaktion auf die schöne Selbstbeschreibung ist Identifikation und Affirmation. Diese affirmative Funktion der schönen Beziehung läßt sich als ästhetische Ideologie verstehen. Sie kann in verschiedener Weise Subjektivität gründen. Die Fiktionalität dieser ästhetischen Ideologie des Schönen kann wiederum in ästhetischen Erfahrungen erfahren werden, indem sich Schönheit selbst destruiert. Diese Selbstdestruktion des Schönen, das auf diese Weise seine fundamentale Lüge (nämlich die Harmonie von Subjekt und Welt) bloßlegt, hat Nietzsche als das ‚Dionysische‘ bezeichnet. Schönheit ist deshalb eine ästhetische Ideologie, weil sie ein letztlich illusionäres Fundament subjektiver Selbstund Weltverhältnisse behauptet (z.B. Harmonie von Subjekt und Welt, Wirkliche Erkennbarkeit der Dinge für den Menschen etc.). Darauf komme ich im Kant- wie im Nietzschekapitel noch zu sprechen. Die Beschreibung der ästhetischen Erfahrung als Dialektik von Selbstbeschreibung und deren Interruption führt zurück auf die Frage nach der Beschaffenheit der Objekte, an denen wir diese ästhetische Erfahrung machen (können). Läßt sich die ästhetische Erfahrung als selbstreflexive Infragestellung gewohnter Selbst- und Weltverhältnisse am selben oder gleichen Objekt wiederholen? Und wenn ja: wie oft? Immer? Durch jedes Subjekt? Gibt es etwas am oder im Objekt, das sich nicht verbraucht, das – z.B. als Struktur – immer wieder neu die gleiche Erfahrung ermöglicht? Oder endet diese Möglichkeit irgendwann, z.B. wenn wir den Gegenstand – hier das ästhetische Objekt – zu genau kennen, um uns noch überraschen und herausfordern zu lassen? Ist die Selbstbeschreibung der Selbstreflexion selbst reflexiv oder nur beschreibend? An der Antwort auf diese Frage hängt alles. Impliziert sich die Selbstreflexion als Praxis selbst? Oder ergibt dies einen Regreß selbstreflexiver Selbstreflexion? Was ist eine selbstreflexive Selbstreflexion? Doch wohl eine, die ihre Voraussetzungen reflektiert, d.h. aber: diese auch unterminiert und sich so selbst überhaupt der Möglichkeit der Existenz nach in Frage stellt. Inwieweit bedarf eine Reflexion festen Boden, um überhaupt sinnvoll zu sein? Die Dialektik von Fundierung bzw. Beschreibung und Selbstreflexion ist echt. Sie ist auf keinen der beiden Pole zu reduzieren. Zwar gibt es ästhetische Objekte bzw. Texte, die versuchen, die Selbstreflexion auszublenden (das wäre vielleicht ein Ansatzpunkt zu einer Definition des Kitsches und des Klischees), aber nicht vice versa: Reflexion gibt es nur als Durchbrechen der Kohärenz der Erzählung. Selbstreflexion ist nur möglich durch konkrete Selbstbeschreibung: die Illusion (das Illusionäre dieser Selbstbeschreibungen) kann nur durchschaut wer92 Hier ließe sich die Frage anschließen, wie ästhetische Desillusionierungen mit außerästhetischen Desillusionierungen (z.B. von Ideologien) zusammenhängen.
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den, wenn es dem Trugschluß erlaubt wird, sich auszubreiten, wie de Man an einer Stelle schreibt.93 Man kann immer nur Teile (aus einer immer nur vorläufig gesicherten Position) in Frage stellen, nie das Ganze oder neben dem Infragegestellten auch das Fundament, auf dem die Fragen mit Notwendigkeit aufbauen. Selbstreflexion ist also die Frage, auf die die Selbstbeschreibung die Antwort ist, wie dies Derrida bereits gezeigt hat.94 Ihre Dialektik wird sowohl im gelungenen Kunstwerk wie in der philosophischen Theorie auf je eigene Weise aufgehoben. Diese Aufhebung heißt ,ästhetisch‘. Die Selbstbeschreibung ist die Reaktion auf eine Infragestellung durch Selbstreflexion. Es geht um die für Subjekte konstitutive temporalisierende Bewegung von der offenen Suspension des Sinns zur wieder geschlossenen Erzählung. Offensichtlich gibt es verschiedene Weisen, der objektiven Provokation der sinnvollen Geschlossenheit unserer Welt zu begegnen. Der eine ästhetische Erfahrung machende Rezipient wird den Sinn wieder oder neu herstellen, indem er die Frage beantwortet, was das rätselhafte Kunstwerk ihm sagen will. Der Kunstwissenschaftler wird eher Fragen nach der Konstruktion des Objektes stellen vom Typus: wie ist das gemacht? Und warum ausgerechnet und unwahrscheinlicherweise genau so wie es ist?
IX Bis hier hat sich also gezeigt: man muß ausgehend von einer auf der reflexiven Brechung des Rationalismus basierenden Theorie und seiner impliziten Bestimmung des Subjekts Alternativen zu diesem Rationalismus finden, die gleichwohl nicht einfach irrational sind. Diese reflexive Brechung des Rationalismus bezeichne ich hier im inhaltlichen Anschluß an Adorno als ‚Hyperrationalismus‘. Solche Alternativen finden sich u.a. in der Theorie der ästhetischen Erfahrung. Zwei Modi der ästhetisch ausgetragenen Selbstrevision der Vernunft sind die Ironie und das Spiel. Sie sollen im weiteren Verlauf der Arbeit weiter erläutert werden. Es wurde darauf hingewiesen, daß Subjektivität und Textualität ebenso untrennbar voneinander sind wie die Dialektik von verunsichernder Selbstreflexion und fundierender Selbstbeschreibung, die in all unseren sinnstiftenden Erzählungen präsent ist. Das Verhältnis von Subjektivität und Textualität und die Dialektik von Selbstbeschreibung und Selbstreflexion werde ich im weiteren noch näher erläutern. Auf der Grundlage des bisher eher allgemein Gesagten bauen die folgenden Kapitel in detaillierteren Lektüren auf. Das zweite Kapitel dieser Arbeit beschäftigt sich mit der Entstehung der Ästhetik bzw. ihrer Erfindung durch Baumgarten im achtzehnten Jahrhundert, der damit auf den kartesianischen Rationalismus reagiert. Einbezogen werden hier zudem Heideggers Überlegungen zur neuzeitlichen Metaphysik, wie er sie namentlich in seinen Nietzschestudien entwickelt hat. Dies soll allerdings nicht affirmativ geschehen, sondern in theoretischer Abgrenzung. Daran schließt sich im dritten Kapitel eine Diskussion der ästhetischen Subjek93 Cf. S 135 dieser Arbeit. 94 Cf. Jacques Derrida, Cogito und Geschichte des Wahnsinns (in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1972, S. 53-101).
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tivität in Kants Kritik der Urteilskraft an. Es rekonstruiert Kants Einsatz in Hinblick auf die Frage einer Funktionalisierung der ästhetischen Zustände für die Begründung außerästhetischer subjektiver Selbst- und Weltverhältnisse. Dabei wird gezeigt werden, daß Kant als Vorläufer des Idealismus bereits die ästhetische Erfahrung bzw. das (Natur-)Schöne als Beweis einer Adäquatheit von Subjekt und Welt versteht. Darüberhinaus ist hier insbesondere auch der Geniebegriff Kants kritisch zu rekonstruieren. Denn das Genie steht bei Kant exemplarisch für Subjektivität überhaupt, die sich durch die (biographische) Erzählung als Individuum gründet. Das Genie steht so in einer Dialektik von Selbstreflexion und Selbstfundierung. Schließlich werden im vierten und fünften Kapitel Lektüren zweier durch ihre frühen Schriften für die aktuelle ästhetische Debatte paradigmatisch gewordenen Theoretiker der Ästhetik angeschlossen: Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche. Beide geben gegenüber der Tradition eine Neubeschreibung der ästhetischen Erfahrung und der ästhetischen Subjektivität, die ich rekonstruieren möchte. Beide verstehen nämlich das Konzept einer genuin ästhetisch bestimmten Subjektivität als Selbstrevision eines rationalistischen Selbstverhältnisses des Subjekts, wie es die neuzeitliche logozentrische Metaphysik gründet. Das ästhetische Subjekt ist nicht (mehr) gründend auf außerästhetische Subjektivität bezogen, sondern depotenziert diese gerade. Kapitel 4 nimmt die Frage nach dem Wert einer ästhetisch inspirierten alternativen Theorie der Subjektivität wieder auf, wie sie in den ersten drei Kapiteln bereits im Hintergrund präsent ist. In einer verschränkten Lektüre werden in diesem Kapitel vor allem Paul de Man und Friedrich Schlegel gelesen. Die Rekonstruktion Schlegels erfolgt dabei in der Perspektive, die de Man in seinen Texten zur Romantik entwickelt hat. Dabei wird die Ironie als Modus ästhetischer Subjektivität analysiert und in ihrem Verhältnis zu Poesie und Kraft dargestellt. Kapitel 5 erweitert den historischen Bogen von der Romantik auf die Texte des frühen Nietzsche, besonders der Geburt der Tragödie. Im Zentrum der Rekonstruktion steht dabei seine Theorie des ästhetischen Spiels und seine Ästhetik der Musik. Ebenfalls analysiert werden die Begriffe des ‚Apollinischen‘, ‚Dionysischen‘ und ‚Sokratischen‘. Das letzte – sechste – Kapitel wird schließlich versuchen, aus dem Gesagten eine Art Fazit zu ziehen, indem es nochmals an die Fragestellung erinnert und den Weg des Textes rekonstruiert.
2. Subjekt, Rationalismus, Ästhetik I In den philosophischen Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts konfiguriert sich das Verhältnis von Rationalismus, Subjekttheorie und Ästhetik auf eine komplexe Weise, die ich hier nur grob und generalisierend zu skizzieren vermag.1 Die Entstehung der Ästhetik im 18. Jahrhundert vollzieht sich zunächst als eine Selbstrevision des Rationalismus. Der Rationalismus im Anschluß an Descartes scheint keine befriedigenden Antworten mehr auf das Problem einer Einbeziehung der Sinnlichkeit, der Leidenschaften und des Schönen in die Philosophie anbieten zu können, so daß sich aus der rationalistischen Philosophie selbst heraus eine Modifikation ihrer Grundannahmen ankündigt, die dann zwischen Baumgarten und Kant durch die Erfindung der Ästhetik als eigenständiger philosophischer Disziplin vollzogen werden wird. Die im 18. Jahrhundert unter ihrem Namen entstehende Ästhetik macht – so die gängige Auffassung – gegen die rationalistische Verkürzung des Subjekts auf seine klaren und deutlichen Erkenntnisvollzüge die Einheit eines sowohl rational wie sinnlich konstituierten Subjekts geltend. Die Ästhetik verdankt ihre Entstehung also einem antirationalistischen Einwand, der die Verkürzung des Menschen auf seinen Intellekt zurückweist bzw. zu revidieren sucht. Explizit gegen das allgemeine Vernunftsubjekt richten sich zwei Tendenzen, die sich beide schon bei Baumgarten angelegt finden. Zum einen argumentiert die entstehende Ästhetik gegen das Postulat eines allgemeinen Vernunftsubjekts, indem sie betont, daß die rationale Seite des Menschen nur die eine Hälfte seiner Natur ist. In der Tradition der Aisthesis macht die Ästhetik daher geltend, daß auch die Sinnlichkeit – später dann: auch die Phantasie als welterfindende Selbsttätigkeit des sinnlichen Vermögens bzw. der Einbildungskraft2 – zu einer vollen Bestimmung des Men1
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Cf. hierzu die folgende Literatur: Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1971); ders.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1969); Martin Heidegger: Nietzsche. 2 Bände (Neske, Stuttgart 1961); Alfred Baeumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1967); Howard Caygill: The Art of Judgement (Basic Blackwell Ltd., Oxford 1989); Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung (J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1932); Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1960/1990). Cf. Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica (zitiert nach der gekürzten Fassung mit dem Titel: Theoretische Ästhetik (Meiner, Hamburg 1988) unter dem Sigel [TÄ]).
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schen dazugehört. Die Ästhetik verdankt ihre Entstehung also einer Verteidigung der menschlichen Sinnlichkeit und des menschlichen Leibes. Zudem schließt die Ästhetik eine Lücke, die sie in den rationalistischen Systemen offengelassen fand. Während der Rationalismus nämlich seine Erkenntnisse gerade unter Ausschluß der Sinnlichkeit gewinnt (man kann ihr nicht trauen, da sie uns bisweilen – etwa in Träumen – täuscht, wie Descartes in den Meditationes de Prima Philosophia betont), beruft sich die Ästhetik darauf, daß eine sinnliche Wahrnehmung zum rationalen Begriff dazukommen muß, um eine (wahre) Erkenntnis über die Welt zu begründen. Kant zieht daraus dann den Schluß, daß rein intellektuelle Erkenntnis, d.h. ein Begriff ohne sinnliche Anschauung, leer bliebe.3 Andererseits wird die Sinnlichkeit nicht nur als Supplement rationaler Erkenntnis gedacht, sondern wird so verstanden, daß sie jetzt selbst Erkenntnisse generiert. Die Sinnlichkeit wird von der Ästhetik (bzw. von Baumgarten) also nicht einfach nur theoretisch aufgewertet, sondern auch neu bestimmt: während nämlich der Rationalismus die Sinnlichkeit nach dem Modell einer passiven Affektion, eines bloßen Erleidens denkt (das aber komplexer gedacht ist als als eine bloße kausale Einwirkung äußerer Dinge auf unsere Sinne), bestimmt die Ästhetik die Sinnlichkeit als ein aktives Vermögen der Erkenntnisgewinnung. Sinnliche Erkenntnis wird jetzt als ein Ergebnis einer Tätigkeit des Subjekts aufgefaßt. Die Ästhetik bringt die Sinnlichkeit so ins Spiel, daß sie nicht mehr als ein passives Erleiden, sondern als eine Selbsttätigkeit des affizierten Subjekts beschrieben wird.4 Dies kommt dann in der Konzeption einer produktiven Einbildungskraft im Subjekt (z.B. durch Kant) zum Tragen. Auch die Erfindung der Individualität vollzieht sich als eine Gegenbewegung zum abstrakt-rationalistisch gedachten Subjekt. Sie macht gegen dessen vernünftige Abstrakt- und Allgemeinheit die Besonderheit der individuellen Person geltend. Das Subjekt ist nicht mehr allgemein, sondern als Individuum bezeichnet es eine historische und empirische Singularität, die sich aus der sinnlichen Erfahrung des konkreten Individuums konstituieren soll.5 Der Kumulationspunkt dieser sich radikalisierenden Reflexionsfigur einer anti-rationalistischen Selbstbeschreibung der Gesellschaft bzw. ihrer Teile – der Individuen – ist natürlich die Theorie des Genies als prototypisch ästhetisches Subjekt. Hieran schließen mediale Theorien ei-
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TÄ 19: zur natürlichen Veranlagung des Ästhetikers gehört „die natürliche Fähigkeit, sich etwas in der Phantasie vorzustellen, die dem schönen Geist die Begabung der Phantasie verleiht“ in Bezug auf Fiktives, Vergangenes und Zukünftiges. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (hg. von W. Weischedel, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974), hier Ausgabe B S. 76. Cf. Christoph Menke: Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion: Zur Genese und Dialektik der Ästhetik (in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Suhrkamp, Frankfurt/ Main 2002, S. 19-48). Die Individualisierung erfolgt also gerade durch die Sinnlichkeit bzw. die dunklen Kräfte im Subjekt. Cf. z.B. Johann Gottfried Herder: Viertes Kritisches Wäldchen (in: ders.: Werke in zehn Bänden, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt/Main 1985, Band 2, S. 250-289).
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ner vornehmlich ästhetisch – d.h. nicht rationalistisch – bestimmten Subjektivität an, wie sie etwa vom frühen Friedrich Schlegel und von Friedrich Nietzsche entworfen werden. Diese Weise der Reflexion auf Subjektivität begreift das Subjekt als Effekt und Austragungsort bzw. -medium eines differentiellen Kräftegeschehens, das die Subjekte zwar vollziehen, aber nicht kontrollieren können. Dieser Entwurf von Subjektivität ist daher von vornherein in der Weise metaphysikkritisch angelegt, als daß er die Subjektivität des vernünftigen Selbstbewußtseins unterläuft bzw. negiert. Es scheint zunächst drei Positionen zum Verhältnis von Rationalismus und Ästhetik zu geben. Die erste Position (die die kartesianische ist) beharrt darauf, daß sich aus Sicht des Rationalismus – der rationalistischen Philosophie – nicht viel Sinnvolles über die Ästhetik bzw. die Sinnlichkeit und die Leidenschaften aussagen läßt. Den Beschreibungen der Philosophie zugänglich ist nur die vernünftige Seite des menschlichen Subjekts (in der scholastischen Terminologie, die Descartes übernimmt, als Substanz verstanden und res cogitans genannt). Dabei ist die durch aktiven Vernunftgebrauch zu gewinnende normativ ausgezeichnete Freiheit verstanden als eine Freiheit von der Sinnlichkeit. Alles Verworrene und damit alles bloß Sinnliche ist aus dem Gebiet dauernder Vernunfterkenntnis ausgeschlossen – und zwar sowohl als Subjekt wie als Objekt solchen Wissens. Allerdings gibt es bei Descartes auch den Zug einer Beherrschung der Leidenschaften durch deren rationale Erkenntnis. Sinnliche Eindrücke sind im Unterschied zu Vernunftwahrheiten weder klar noch deutlich, sondern verworren. Die Frage ist nun, wie man diese Verworrenheit zu denken hat: markiert sie eine bloß graduelle Differenz zu Vernunfteinsichten, oder handelt es sich ‚wirklich‘ um eine andere Sphäre im Subjekt? Descartes würde wohl letzteres annehmen. Eine zweite Position versucht dagegen, Verworrenheit und Deutlichkeit als bloß graduelle Differenz zur Klarheit des Verstandes zu verstehen und die Ästhetik als Theorie der Sinnlichkeit in eine erweiterte Konzeption des Rationalismus zu integrieren. Dies markiert Baumgartens Revision des rationalistischen Ausschlusses der Sinnlichkeit. Die Integration der Sinnlichkeit in die rationalistische Philosophie scheint auf zwei Weisen möglich zu sein. Einerseits als quasi imperialistische Übernahme der Sinnlichkeit durch die Rationalität, also als eine bloße Ausdehnung des Bereichs der Vernunft und die Unterordnung der Sinnlichkeit und des Körpers bzw. seiner Leidenschaften. Diese objektive Erweiterung des Rationalismus auf Verworrenes hat z.B. Spinoza vollzogen, der die Leidenschaften rationalistisch vermessen hat, um sie letztlich dem normativ ausgezeichneten Vernunftsubjekt beherrschbar zu machen:6 absolut aus Tugend und damit ethisch handelt der Mensch, der ausschließlich gemäß der Leitung der Vernunft handelt und seine Leidenschaften beherrscht, indem er sie erkennt.7 Die bloße imperiale Ausdehnung des Rationalismus auf die Ästhetik8 spiegelt sich auch in den Regelpoetiken wie6 7 8
Cf. Baruch Spinoza: Ethik (Röderberg, Köln 1987). Spinoza, Ethik, l.c. (Fußnote 6), Teil III, 24. Lehrsatz, S. 237. Die Vernunft verhält sich zur Leidenschaft resp. Sinnlichkeit wie imperialistische Kolonisatoren aus dem Abendland zu den unterjochten Völkern, für die es das Beste ist, entmündigt unter der Schirmherrschaft der Völker zu stehen, die das Projekt der vernünftigen Aufklärung erfanden. Hier zeigt sich der Imperialismus der abendlän-
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der, die vernünftige Anleitung zur Produktion schöner – d.h. hier vollkommener – Kunstobjekte geben.9 Verworrene Urteile über Gefühle etc. unterscheiden sich nur graduell von rationalen Urteilen, so daß der Verstand, hätte er nur genug Zeit, diese Verworrenheit aufhellen könnte. Andererseits geht diese Ausdehnung des rationalistischen Paradigmas mit einer Revision der Konzeption des Verhältnisses und des Verständnisses von Vernunft und Sinnlichkeit einher. Auch die Ästhetik bzw. die Sinnlichkeit kann jetzt Erkenntnisse produzieren, sie ist nicht mehr bloß passive Aufnahme des Gegebenen, sondern dessen produktive und aktive Darstellung z.B. in der oder durch die Einbildungskraft. Die Ästhetik wertet die Sinnlichkeit um, die nun mehr oder weniger gleichberechtigt neben die Vernunftvermögen tritt. Für diese Position stehen Baumgarten und wohl auch Kant. Bereits Baumgarten setzt den Leib als Lösung für das Problem der Körper/Geist-Differenz an, als Medium einer Tätigkeit, in der wir unser Verhältnis zur Welt zwischen passiver Wahrnehmung und aktiver Konstruktion einrichten.10 Eine dritte Position schließlich versteht die Ästhetik dezidiert als eine AntiTheorie zum Rationalismus oder besser: als dessen Selbstreflexion, die den ‚einfachen‘ Rationalismus transzendiert. Die Einsicht, die die Ästhetik resp. die Kunst jetzt zu liefern verspricht, ist eine Metawahrheit über die Verfehlungen der rationalistischen Tradition und Kultur. Es ist dies quasi eine Umkehrung der ersten Position: Rationalität und Ästhetik sind einander entgegengesetzt, nur das jetzt die Wertungen umgekehrt sind: jetzt ist das Wahre der Instinkt, das Gefühl und die Empfindung des Leibes, während der Verstand in illusionärer Selbstsicherheit seine prekäre Lage vergißt und durch Kultur hinweglügt. In dieser Tradition stehen u.a. der frühe Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche.11 dischen Vernunft: die Vernunft selbst ist der Imperator bzw. Imperativ der Unterdrükkung des Außervernünftigen, um es beherrschbar zu machen. Diesem Imperialismus soll sich alles zu seinem eigenen Besten fügen und unterjochen lassen: Körper, Natur, Wilde etc. Dies ist also ein Modell der vernünftigen Anleitung durch Bevormundung des Entmündigten. 9 Cf. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (in: ders.: Schriften zur Literatur, Reclam, Stuttgart 1972, S. 12-196 (Auszug)). 10 Cf. Steffen W. Gross: Felix Aestheticus und Animal Symbolicum (in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49, Akademie-Verlag, Berlin 2001, S. 275-298). 11 Da das Seiende nicht unmittelbar greifbar ist, werden die Sinne als Betrüger verstanden, denn sie betrügen scheinbar um die wahre Welt. Dagegen wertet Nietzsche den Leib auf: die Sinne lügen nicht; erst das, was wir aus ihrem Zeugnis machen, legt die Lüge hinein – die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer. Man könnte sagen, daß alle diese Orientierungsordnungen letztlich (metaphysische) Illusionen sind, mittels derer wir uns die Welt zurechtmachen, sie ‚erkennen‘ und unsere sinnlichen Eindrücke interpretieren. Die Vernunft ist die Ursache dafür, daß wir das Zeugnis der Sinne fälschen: die scheinbare Welt ist die einzige, die wahre Welt ist nur hinzugelogen (cf. Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung (in: ders.: Kritische Studienausgabe Band VI, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-77 u. 1988), hier S. 74-79 („Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“).
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In diesem Kapitel will ich zunächst Heideggers Interpretation der neuzeitlichen Metaphysik rekonstruieren und diskutieren (II). Daran an schließen zwei Abschnitte, die sich mit zwei historischen Gesten in der Geschichte der Philosophie beschäftigen: einerseits Descartes’ Gründung der neuzeitlichen logozentrischen Metaphysik (III), andererseits Baumgartens Revision des Kartesianismus, der in der Erfindung der Ästhetik als eigenständige philosophische Disziplin mündet (IV). Am Schluß gebe ich noch eine kurze Zusammenfassung des in diesem Kapitel Gesagten und einen Ausblick auf die folgenden Kapitel.
II Die folgende Rekonstruktion von Heideggers Nietzscheinterpretation12 dient als systematische Gegenposition und als negative Hintergrundfolie für die weiter zu entwickelnde Argumentation und Rekonstruktion ästhetisch bestimmter Subjektivität. Heideggers Text wird hier als beispielhafte Entwicklung einer systematischen These über die neuzeitliche Metaphysik der Subjektivität des Selbstbewußtseins in Anspruch genommen und auf diese reduziert.13 Auf eine Detailkritik an Heidegger wird hier ebenso verzichtet wie auf eine gegen Heidegger in Anschlag zu bringende detaillierte Nietzschedarstellung. Die Spezifik des hier verfolgten Anliegens macht es notwendig, von drei möglichen Fragerichtungen weitgehend abzusehen. Es wird weder danach gefragt, inwieweit Heideggers Interpretation Nietzsche ‚gerecht‘ wird oder ‚wirklich‘ ein Wesentliches seines Denkens bloßlegt – was auch immer der Maßstab dafür sein könnte.14 Die Inanspruchnahme Nietzsches für Heideggers Auslegung der Neuzeit und deren Metaphysik wird hier zunächst geschenkt. Allerdings wird im fünften Kapitel dieser Arbeit eine zu Heidegger differierende Nietzschelektüre stark gemacht. Noch wird auf den Versuch Heideggers näher eingegangen, Nietzsches Denken im Ganzen als ein einheitliches zu rekonstruieren, nämlich als Einheit von Wille zur Macht und ewiger Wiederkunft des Gleichen. Heideggers Analyse scheint zwar in vielen Details richtig und sehr erhellend zu sein, aber im Gesamtergebnis fragwürdig, da sie die Heterogenität der Texte Nietzsches gewaltsam auf ein einheitliches Schema reduziert. Und zwar nicht nur in Bezug auf den frühen Nietzsche, sondern auch in Bezug auf den späten. Nietzsches Werk – wenn man bei einem Autor wie Nietzsche diesen verfänglichen Begriff überhaupt gebrauchen darf – widersetzt sich intern einer monolithischen Reduktion à la Heidegger. Noch wird drittens der Frage genauer nachgegangen, wie sich die Nietzscheinterpretation Heideggers in das Gesamtgefüge seiner eigenen Philosophie einfügt. Das gilt insbesondere für Heideggers seinsge12 Martin Heidegger: Nietzsche. 2 Bände (Neske, Stuttgart 1961). Im folgenden unter dem Sigel [N I] bzw. [N II] zitiert. 13 Allerdings ist einzuräumen, daß Heidegger Nietzsche gegenüber einer verfälschenden Vereinnahmung durch den Vitalismus und den Biologismus zu Recht verteidigt. 14 Eine Frage, die sich gerade auch vor dem Hintergrund der Textbasis aufdrängt. Trotz aller Kritik fußt Heideggers Interpretation wesentlich auf der zweifelhaften Zusammenstellung nachgelassener Fragmente unter dem Titel Der Wille zur Macht.
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schichtliche Auslegung Nietzsches als Vollender der abendländischen Metaphysik und für seinen Versuch, die ontologische Differenz (von Sein und Seiendem) in ihrer Verstellung als verdecktes selbiges Fundament der jeweiligen Metaphysik (d.h. der Auslegung des Seins des Seienden als Solchem und im Ganzen) zu fassen.15 Für diese Arbeit ist nur die systematische Entfaltung der angeblich mit Descartes anhebenden neuzeitlichen Metaphysik interessant. Heidegger denkt Nietzsches Stellung innerhalb der Geschichte der abendländischen Metaphysik auf verschiedene Weise. 1. Gewissermaßen ‚intern‘ bestimmt sich Nietzsches Philosophie implizit und explizit als eine Umkehrung oder Destruktion der platonisch-christlichen Metaphysik und einer Umwertung der durch sie gesetzten Werte. So hat Nietzsche sich auch selbst positioniert. 2. Innerhalb der Geschichte der abendländischen Metaphysik im Ganzen erscheint Nietzsche eigentlich als ihr Vollender und als Ende der Metaphysik, deren Anfang durch Plato markiert ist. 3. Nietzsches Denken vollzieht zugleich die Vollendung der neuzeitlichen Metaphysik, die mit Descartes’ Gründung der Wahrheit auf der Gewißheit des denkenden menschlichen Subjekts, d.h. der Subjektivität des Selbstbewußtsein, beginnt. Die metaphysische Grundstellung der Neuzeit wird laut Heidegger durch Descartes formuliert und ‚begründet‘.16 Sie ist dadurch bestimmt, daß „der Mensch Maß und Mitte des Seienden wird“ und zugleich „das allem Seienden, d.h. neuzeitlich aller Vergegenständlichung und Vorstellbarkeit Zugrundeliegende, das subiectum“ wird. Dies geschieht im und durch das ego cogito des Descartes, das Nietzsche radikalisiert, weil es ihm noch nicht „subjektivistisch genug“ ist. Subjektivistisch genug ist erst die als „Übermensch“ gedachte Subjektivität, in der sich aber Descartes’ Lehre vollendet (cf. N II 51). Die herrschende neuzeitliche Subjektivität zeigt sich durch zwei Züge, die Heidegger zusammenzudenken sucht. Einerseits wird das neuzeitliche Subjekt im Anschluß an Descartes als selbstgründendes, sich selbst transparentes Subjekt und damit als autonom bestimmt. Alle Wahrheit und 15 Heidegger empfängt in seiner und durch seine Nietzscheauslegung zwei wesentliche Momente seines Denkens, die zu seiner ‚Kehre‘ führen: 1) Die Interpretation der Geschichte der abendländischen Metaphysik und Philosophie als Geschichte des Nihilismus; der Nihilismus als Grundgeschehen der abendländischen Geschichte und 2) die unbedingte Herrschaft (der unbedingte Herrschaftsanspruch) der Subjektivität bzw. Subjektphilosophie in der und als die vorherrschende(n) Metaphysik der Neuzeit. 16 Dem entspricht die Chronologie Michel Foucaults, der den neuzeitlichen Logozentrismus als Herrschaft der Vernunft als Ratio bestimmt und ihn ebenfalls mit Descartes beginnen läßt. Ratio bezeichnet dann eine instrumentelle Vernunft (Utilitarismus), Mittel/Zweck-Relationen, Berechnung und Kalkül: „Zwischen Montaigne und Descartes ist etwas wie das Heraufkommen einer Ratio geschehen“ (Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1969), hier S. 71), das konstitutiv mit dem Ausschluß des Wahnsinns aus dem Logos verbunden ist. Von hier aus müßte man das Verhältnis von Foucault und Heidegger weiter befragen, insbesondere die Nähe wie die Differenz von episteme und metaphysischer Grundstellung innerhalb einer Geschichte des Seins.
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Erkenntnis der Objekte gründen in diesem selbstgründenden Subjekt, dessen existentielles Interesse die Selbsterhaltung ist. Andererseits wird das moderne Subjekt durch die unbedingte (und unbefugte) Herrschaft des Menschen über sich und die ‚Dinge‘ ausgezeichnet.17 Insofern ist die neuzeitliche Metaphysik anthropomorph oder anthropozentrisch. Bei Descartes wird die Wahrheit zur Gewißheit des Unbezweifelbaren, und die „Gewißheit allen Seins und aller Wahrheit [wird] auf das Selbstbewußtsein des einzelnen Ich gegründet“ (ego cogito ergo sum). Das Ich und seine Zustände sind die erste und gewisseste Erkenntnis und das eigentlich Seiende, das cogito me cogitare „verschafft auch den ersten, in seinem Sein gesicherten ‚Gegenstand‘“ (N I 81). Das Á%#J?J# (das Zugrundeliegende) wird jetzt zum subiectum und dieses zum Subjekt: die Objektivität der Objekte, die Gegenständlichkeit der Gegenstände gründet jetzt in der These von der Subjektivität des (Selbst-)Bewußtseins. Heidegger faßt die neuzeitliche Subjektivität als Ergebnis einer Umdeutung des griechischen Á%#J?J# zum subiectum, zur substans und schließlich zum Subjekt, zu welchem in der Neuzeit das menschliche Selbstbewußtsein bzw. das Ich selbst wird. D%#J?J# bedeutet im Griechischen erstens das Darunterliegende oder Zugrundeliegende, zweitens das Vorliegende oder Vorhandene, das Feste und drittens grammatikalisch das Subjekt in der Aussage, im C#+. Im Beginn der Metaphysik „west das Sein nicht als die actualitas (Wirklichkeit), sondern ] als die Werkheit (J;'J), der die Weile des Jeweiligen genügt“. Das „Jeweilige liegt von sich aus vor, ist das eigentliche Á%#J?J#“ (N II 391). D%#J?J# meint also zunächst das von sich her Vorliegende, d.h. alles Seiende. Es wird umgedeutet zum Á%#J?J# des C#+, zum Subjekt der Aussage: das „eigentlich Seiende, weil von sich her vorliegend Anwesende, wird zu dem, [...] auf welches als das Unterliegende hinab und zu ein Gezeigtes und Gesagtes gesagt wird“. Das „Á%#J?J# ist jetzt [...] das, was unmittelbar und nur auf es selbst hinab angesprochen und dabei als Seiendes zugänglich wird“. Das Á%#J?J# wird lateinisch zum subiectum. Das subiectum ist „das im actus Untergelegte“ für ein ihm Zufallendes, dem accidens. Das subiectum als das Unterliegende und Unterlegte „übernimmt die Rolle des Grundes, auf den anderes gestellt wird“, so daß es auch als das „Unter-stehende“, d.h. als substans begriffen werden kann. Subiectum und substans „meinen dasselbe, das eigentlich Ständige und Wirkliche, was der Wirklichkeit und Ständigkeit genügt und deshalb substantia heißt“. Das subiectum wird „zum Namen, der sowohl das Subjekt in der SubjektObjekt-Beziehung als auch das Subjekt in der Subjekt-Prädikat-Beziehung nennt“, d.h. es wird zum Subjekt der Erkenntnis des Objekts wie zum grammatikalischen Subjekt der (wahren) Aussage. Der C#+ als das Unterliegende bestimmt das Seiende durch die Kategorien. C#+ und Á%#J?J# geraten später „in den Deutungskreis des Übersetzungswortes ratio“. Ratio als das „menschliche (aussagende) Verhalten“ wird der Name für das subiectum, das Unterliegende des Seienden in seinem Sein (cf. N II 391-393). 17 Es ist aber die Frage, ob es plausibel ist, diese beiden Züge zusammenfallen zu lassen, wie Heidegger dies tut. Die Frage nach der Möglichkeit einer nichtherrschaftlichen Erkenntnisweise kann hier aber nicht weiter entfaltet werden.
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D%#J?J# in der Bedeutung des „Unter- und Zugrunde-liegende[n]“, des „von sich aus schon Vor-liegenden“ wird also lateinisch mit subiectum übersetzt. Subiectum ist vor der Neuzeit noch „alles Seiende, sofern es ein Seiendes ist“ (N II 124), d.h. Steine, Pflanzen und Tiere sind nicht minder subiectum als der Mensch (cf. N II 125). Erst der in der und durch die Neuzeit geprägte Subjektbegriff läßt den Menschen bzw. das menschliche Selbst-Bewußtsein zum ausgezeichneten Subjekt werden. Dieser Subjektbegriff „entspringt der neuen Auslegung der Wahrheit des Seienden [in der Neuzeit, J.S.], das nach ] der Überlieferung als #/)?, Á%#J?J# und subiectum gedacht ist, dadurch, daß auf dem Grunde des cogito sum der Mensch zum eigentlich Zugrundeliegenden wird, zu dem, quod substat, zur Substanz. Der Subjektbegriff ist nichts anderes als die Einschränkung des gewandelten Substanzbegriffes auf den Menschen als den Vorstellenden.“ (N II 162)
Heidegger interpretiert das ‚ego cogito ergo sum‘ von Descartes als Grundlegung der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität des menschlichen (Selbst-)Bewußtseins. Die Subjektivität des menschlichen Subjekts bestimmt sich in der Neuzeit als Vernunft, d.h. „das seiner selbst gewisse Vorstellen des Seienden in seiner Seiendheit, d.h. hier Objektivität (Gegenständlichkeit)“. Seiner selbst gewiß muß das Vorstellen sein, weil es zu dem rein auf sich gestellten „subjekthaften Vorstellen der Gegenstände“ wird (N I 526 f.). Das Subjekt muß sich zunächst seiner selbst vergewissern, um auf dieser Grundlage dem Seienden begegnen zu können. Zum subiectum als dem allen Seienden Unterliegenden wird jetzt das menschliche Subjekt, dessen im Zweifeln gefundene Selbstgewißheit zum „fundamentum absolutum inconcussum veritas“ (absolutem Fundament unerschütterlicher Wahrheit) (N II 125) wird. Den unbedingten, unerschütterlichen und unbezweifelbaren Grund aller Wahrheit findet das Subjekt in der Sicherheit seines ego cogito. Damit bestimmt sich zugleich das Wesen der Wahrheit als Gewißheit. Für die Gewißheit und Sicherung des Erkennens des Seienden bedarf es fortan einer Methode, nach und gemäß der auf das Seiende zugegangen wird und das Objekt für das Subjekt gesichert wird (cf. N II 117/cf. auch N II 150). Der Mensch steht in der Neuzeit als subiectum in der unbedingten Mitte des Seienden und ist dessen einziges Maß (cf. N II 110), während die Seiendheit des Seienden im Ganzen als „Vorgestelltheit des Herstell- und Erklärbaren“ begriffen wird (N II 17). Das ego cogito ist zugleich ein cogito me cogitare, im Vorstellen ist zugleich der Vorstellende (d.h. das menschliche Selbstbewußtsein) mitvorgestellt (cf. N II 135), und zwar nicht als Gegenstand der Vorstellung, sondern das vorstellende Ich ist „in jedem ‚ich stelle vor‘ weit wesentlicher und notwendiger mitvorgestellt, nämlich als dasjenige, auf das zu und auf das zurück und vor das jedes Vor-gestellte hingestellt wird“. Der vorstellende Mensch ist in der Vorstellung immer schon zugleich und unauffällig mitvorgestellt, und zwar so, daß er im Vorstellen des Vor-gestellten „nicht nachträglich, sondern zum voraus“ das Vor-gestellte vor sich bringt (N II 136). Der Vor-stellende gehört wesenhaft zum Vor-stellen dazu und ist in ihm im voraus mitvorgestellt. Dies läßt sich auch so formulieren: „Das menschliche Bewußtsein ist wesenhaft Selbstbewußtsein“, d.h. Bewußtsein (von Gegen-
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ständen) ist nur möglich auf Grund des Selbstbewußtseins und das heißt: das Selbst des Menschen ist im Vor-stellen das zum Grunde Liegende, es ist sub-iectum. Dieser Bezug auf den Vor-stellenden nimmt die entscheidende Maßstabsrolle für das, „was sich im Vorstellen als Bei-stellen des Seienden begibt und begeben soll“ (N II 137), d.h. für die Wahrheit als Gewißheit über das vorgestellte Seiende. Dabei sind nicht nur Erkennen und Denken, sondern auch Affekte, Gefühle und Empfindungen durch das „zustellende Vor-stellen“ geprägt (N II 137 f.). Damit hat sich als das zum Grunde Liegende bzw. als das subiectum das Vorstellen erwiesen, und dieses Subjekt ist subiectum für das Wesen der Wahrheit (cf. N II 139). Der Satz ‚ego cogito ergo sum‘ ist der erste und gewisseste für die Frage danach, was „das Seiende sei und worin die Wahrheit über das Seiende unerschütterlich gegründet sei“ (N II 139). Der Satz ist keine Schlußfolgerung, denn er besagt, daß das Ich im Vorstellen wesentlich immer schon mitvorgestellt ist. Er ist vielmehr ein unmittelbarer Zusammenschluß „des in sich wesenhaft Zusammengehörigen“: „ich stelle vor, ‚und darin liegt‘, ‚darein ist durch das Vorstellen selbst schon gelegt und gestellt‘: Ich als Seiender“ (N II 142). Weil aber zum Vorstellen wesenhaft noch der Bezug auf den Vor-stellenden gehört, ist der Vorstellende (der sich je Ich nennen kann) „in einem betonten Sinne Subjekt, gleichsam das Subjekt im Subjekt, dasjenige, worauf noch, innerhalb des in der Vorstellung zum-Grunde-Liegenden, alles zurückgeht“ (N II 144): „Der Mensch ist der ausgezeichnete, allem Vor-stellen von Seiendem und seiner Wahrheit zum-Grunde-liegende Grund, auf den alles Vorstellen und dessen Vor-gestelltes gestellt wird und gestellt sein muß, wenn es einen Stand und Bestand haben soll. Der Mensch ist subiectum in diesem ausgezeichneten Sinne. Name und Begriff ‚Subjekt‘ gehen jetzt in der neuen Bedeutung dazu über, der Eigenname und das Wesenswort für den Menschen zu werden. Dies besagt: Alles nicht menschliche Seiende wird zum Objekt für dieses Subjekt. Fortan gilt subiectum nicht mehr als Name und Begriff für Tier und Pflanze und Stein.“ (N II 149)
Reformuliert bedeutet dies, daß die Objektivität des Objektes und die Gegenständlichkeit des Gegenstandes künftig in der Subjektivität des menschlichen (Selbst-)Bewußtseins fundiert werden und sich von dieser her bestimmen. Das allem Vorgestellten und damit allem Seienden Zugrundeliegende ist das Selbstbewußtsein des menschlichen Subjektes. Hier gründet die neuzeitliche Metaphysik der Subjektivität und des Selbstbewußtseins als eine Bestimmung des Seienden aus dem Menschen ('7%#+) her, d.h. sie wird Anthropologie als Metaphysik. Zum einen ` gründet jetzt – d.h. seit Beginn der Neuzeit – alles subjektive Handeln intentional im subjektiven Selbstbewußtsein. Dieses ist von nun an der Täter (das intentionale Subjekt), in dem die Taten oder die Akte (letztlich des Denkens selbst) fundiert sind.18 Zum anderen ist alles subjektive Handeln jetzt wesentlich Vor-stellen von 18 Hier setzt Nietzsches Kritik an. Cf. Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe Band XIII, (Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-77 u. 1988), S. 53 f.: „‚Denken‘, wie es die Erkenntnißtheoretiker ansetzen, kommt gar nicht vor: das ist eine ganz willkürliche Fiktion, erreicht durch Heraushebung Eines Elementes aus dem Prozeß und Substraktion aller übrigen, eine künstliche
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etwas, das erkannt werden soll. Das Vor-stellen bezeichnet die Bestimmung des Subjekts über seine kognitiven Leistungen. Erkannt wird jetzt das in der (subjektiven) Vorstellung Vorgestellte – d.h. von jetzt an die nicht-menschlichen Objekte, die Dinge, so wie sie für uns erscheinen. Zugleich ist das Selbstbewußtsein eine Selbstmitvorstellung des Vorstellenden – also des subjektiven Selbst –, die sich als transparente Selbstpräsenz metaphysisch und kognitiv bestimmt. An der Metaphysik der subjektiven Selbstpräsenz des kognitiv bestimmten Selbstbewußtseins hat ja Derrida schon das Wesentliche kritisiert.19 Indem der Mensch „zu dem auf sich selbst gestellten Grund und Maß der Wahrheit über das Seiende als ein solches“ wird, entfaltet sich das „Sein als Subjektivität“. Damit beginnt zugleich „die Geschichte des abendländischen Menschentums als die Befreiung des Menschenwesens zu einer neuen Freiheit“ (N II 287), die „negativ Loslösung aus der offenbarungsgläubigen, christlich-kirchlichen Heilssicherung“ ist. In der „neuen Freiheit will das Menschentum der unbedingten Selbstentfaltung aller Vermögen zur unbeschränkten Herrschaft über die ganze Erde sicher sein“. Die neue Freiheit beruht auf dem neuen Wesen der Wahrheit als „Selbstgewißheit der vorstellenden Vernunft“ (N II 288), beginnt aber erst „in der Metaphysik des Willens zur Macht“, also mit Nietzsche, „ihr volles Wesen zum Gesetz einer neuen Gesetzlichkeit zu erheben“. Die neue Freiheit bedarf „als ihren Bestimmungsgrund“ einer neuen „Gerechtigkeit“ (N II 289). Sie beansprucht „ein Notwendiges“ dergestalt, daß der Mensch von sich aus dieses Notwendige und Verbindliche jeweils setzt, was erst in der Metaphysik des Willens zur Macht ermöglicht, daß der Mensch Herr wird über sich und die Erde (cf. N II 126 f.). Freiheit meint hier also eine Freiheit des selbstbewußten und autonomen Setzens. Weiter unten (in den Kapiteln vier und fünf) werde ich eine andere Freiheitskonzeption im Anschluß an Schlegel bzw. Nietzsche diskutieren, nämlich eine aus der Destruktion gewonnene negative Freiheit der Distanz, einer Freiheit, die sich aus der bestimmten Negation konstituiert. Der Wille zur Macht ist etwas „Schaffendes“. Sofern er den Charakter des Seins des Seienden als solchen ausmacht, gehört zum Schaffen wesentlich auch das „Zerstörenmüssen“: „Zum Wesen des Seins gehört das Nichtige, nicht als bloßes Nichts der Leere, sondern als das machtende Nein“ (N I 58). Der Wille zur Macht ist „in sich schaffend und zerstörend zugleich“ (N I 60). Nietzsche bestimmt Macht auch als „Kraft“, in welchem Begriff die griechischen (aristotelischen) Begriffe E+ (das in sich gesammelte und wirkungsbereite Vermögen), ] J;'J (das Mächtigsein im Sinne des Herrschaftsvollzugs, das amZurechtmachung zum Zwecke der Verständlichung... Der ‚Geist‘, etwas, das denkt: womöglich gar ‚der Geist absolut, rein, pur‘ – diese Conception ist eine abgeleitete zweite Folge der falschen Selbstbeobachtung, welche an ‚Denken‘ glaubt: hier ist erst ein Akt imaginirt, der gar nicht vorkommt, ‚das Denken‘ und zweitens ein SubjektSubstrat imaginirt in dem jeder Akt dieses Denkens und sonst nichts Anderes seinen Ursprung hat: d.h. sowohl das Thun, als der Täter sind fingirt.“ (Hervorhebungen von Nietzsche); Cf. hierzu auch Paul de Man: Rhetorik der Persuasion (Nietzsche) (in: ders.: Allegorien des Lesens, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1979, S. 164-178). 19 Cf. Kapitel 1, Abschnitt II dieser Arbeit.
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Werk-sein der Kraft) und ] J-J;3J (Macht als das Zu-sich-selbst-kommen, sich in der geschlossenen Einfachheit des Wesens Finden und Behaupten) zusammengedacht sind (cf. N I 61). Nietzsches Philosophie steht in einer strengen Bindung an das von Descartes gegründete Wesen der neuzeitlichen Subjektivität (cf. N II 154), die bei ihm und bei Hegel zur unbedingten Subjektivität wird (cf. N II 171). Nietzsches Philosophie ist in sich Metaphysik der Subjektivität, und zwar als (im Unterschied zu Hegel) „Metaphysik der unbedingten Subjektivität des Willens zur Macht“ (N II 177/Hervorhebung von mir, J.S.). Der „Entwurf der Seiendheit als Wille zur Macht [ist] der Grund der Möglichkeit für die Herrschaft der unbedingten Subjektivität des ‚Leibes‘“ (N II 214). Bei Nietzsche ist nicht mehr das menschliche Selbstbewußtsein das vorstellende sich selbst gewisse und selbstgründende Subjekt, sondern der Leib ist das subiectum, das Zugrundeliegende. Damit vollendet sich angeblich die von Descartes angelegte metaphysische Grundstellung, „nur daß alles aus dem Bezirk des Vorstellens und des Bewußtseins (der perceptio) in den Bezirk des appetitus, der Triebe verlegt und unbedingt aus der Physiologie des Willens zur Macht gedacht ist“ (N II 165 f.). Die Subjektivität des (Selbst-)Bewußtseins wird so zur Subjektivität des lebendigen Leibes und seiner ‚Triebe‘.20 Diese Rückführung der Subjektivität auf den Leib scheint mir allerdings eher eine Gegenbewegung zum als die Vollendung des Platonismus zu sein.21 Der Leib fungiert entgegen Heideggers Behauptung nicht nur bei Nietzsche als ursprüngliche Einheit von Denken und Körper, die der dualistischen Metaphysik vorgeordnet sein soll. Der Leib ist eben kein tiefergelegtes rationales Subjekt oder Selbstbewußtsein, sondern garantiert einen komplexen, die abstrahierende Rationalität letztlich übersteigenden Zugang zum Sinnlich-Erfahrbaren: der Welt, in der wir sind. Der Leib ist nicht einfach metaphysischer Grund, sondern Mittel und Medium dieses ursprünglichen Weltbezuges. Es bleibt also festzuhalten, daß Nietzsche auch ganz anders denn als Vollender der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität des (Selbst-)Bewußtseins gelesen werden kann. Das gilt sowohl für den frühen wie für den späten Nietzsche. Dies 20 Es bleibt bei Heidegger allerdings ungeklärt, wie sich die Subjektivität des Leibes zur unbedingten Subjektivität des Übermenschen verhält. 21 Heidegger versucht, die Einheit von Wille zur Macht und ewiger Wiederkunft des Gleichen zu denken, als die sich der abendländische Nihilismus angeblich vollendet. Er interpretiert das Grundgeschehens der abendländischen Geschichte (der Metaphysik) als Nihilismus, dem auch noch die historischen Bewegungen des Kommunismus und des Nationalsozialismus zugehörig sind. Ewige Wiederkunft des Gleichen und Wille zur Macht gehören wesensmäßig zusammen, eine durchaus gewalttätige Reduktion Nietzsches. Wille zur Macht und Ewige Wiederkehr des Gleichen sind zwei Seiten einer Medaille, die Heidegger unterschiedlich zu fassen sucht: als Bestimmung des Seienden und des Seins, als Existenz und Essenz. „Der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen spricht metaphysisch-endgeschichtlich dasselbe aus, was neuzeitvollendend der Wille zur Macht als Grundcharakter der Seiendheit des Seienden sagt“ (N II 10). Es gilt, die „reine Selbigkeit von Wille zur Macht und ewiger Wiederkehr des Gleichen“ (N II 10) zu denken.
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haben zahlreiche – vor allem aus Frankreich und Amerika stammende – Studien zu Nietzsche gezeigt. Die einschlägigen Lektüren unter anderem von Derrida, Foucault, Deleuze, de Man, Bloom, Kofman und Lacoue-Labarthe werden der Heterogenität und Polyvalenz Nietzsches weit eher gerecht als Heidegger.22 Es ließe sich auf der Grundlage dieser Lektüren ohne weiteres zeigen, daß Nietzsche weniger die neuzeitliche Metaphysik vollendet als daß er sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu destruieren und subvertieren sucht, und zwar schon von der Geburt der Tragödie an. Ich werde darauf an späterer Stelle (Kapitel 5) zurückkommen. An Heideggers Rekonstruktion muß auch kritisiert werden, daß in dieser alle zur Metaphysik der rationalen Subjektivität gegenläufigen Momente der Geschichte der Philosophie nicht auftauchen (z.B. in der Epoche der Frühromantik). Ihm entgeht sowohl der rationalismuskritische Einsatz der Ästhetik wie auch das Autoreflexivwerden der Vernunft in der Romantik im Anschluß an Kant. Überdies bleibt Heideggers Position gegenüber seiner Diagnose der absoluten Ermächtigung des menschlichen Subjektes in der Neuzeit zweideutig: sie läßt sich ebenso als Kritik wie als Affirmation der neuzeitlichen Metaphysik lesen.23 Nur angedeutet sei hier, daß diese Zweideutigkeit einen Einstieg in eine Reflexion des Verhältnisses von Heideggers Nietzscheinterpretation zum historischen Kontext ihrer Entstehung ermöglicht. Allerdings hat sich der späte Heidegger explizit um eine Überwindung der neuzeitlichen Selbstbewußtseins- und Subjektivitätsphilosophie bemüht, etwa in seinen Versuchen, das Wesen der Technik als „Gestell“ zu fassen, in seiner Analyse der Vorrangigkeit und Seinsweise der Sprache24 und in der Konzeption der Seinsgeschichte als die untergründige, in der und durch die Geschichte der abendländischen Metaphysik verdeckten Wahrheit des Seins. Subjektivität bestimmt sich beim späten Heidegger in einer gegenüber der Wahrheit und des Sinns des Seins passiven Zugehörigkeit des Menschen zum Sein. Hier gründet auch seine ‚Kehre‘ und seine spätere Selbstkritik an Sein und Zeit, die gegen den Begriff und die fundamentalontologische Analyse des ‚Daseins‘ als der Seinsbestimmung des Menschen einwendet, daß diese noch zu subjektivistisch gedacht sei.25 Die Kehre 22 Als ein Beispiel sei hier Gilles Deleuze angeführt. Deleuze interpretiert den Willen zur Macht als ein Kreuzungspunkt, eine Relation zweier Kräfte. Daher ist der Wille zur Macht im Unterschied zu Heideggers Auslegung weder ein Wollen der Macht noch ein Wunsch zu herrschen, sondern ein „differentielle[s] Element, aus dem die vorhandenen Kräfte und deren wechselseitige Beziehung entspringen“ (Gilles Deleuze: Nietzsche. ein Lesebuch von Gilles Deleuze (Merve, Berlin 1979), S. 26). 23 Cf. hierzu auch Jacques Derrida: Grammatologie (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1994), hier S. 41. 24 Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache (Klostermann, Frankfurt/Main 1985). 25 Das Fundament des Cogito, der unbedingten Subjektivität des Selbstbewußtseins, muß in einer ontologischen Analyse erschüttert werden: „Solange die Idee des Subjekts ontologisch nicht erhellt wird, ist ihr Ansatz noch der des subiectum oder des hypokeimenon, also einer Substanz oder eines Substrats, selbst wenn man sich, auf der ontischen Ebene, dem, was man als ‚Seelensubstanz‘ bezeichnen könnte, entgegensetzt, dem psychischen Substantialismus oder der Verdinglichung des Bewußt-
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vollzieht sich als Abkehr von der Metaphysik der Subjektivität des Selbstbewußtseins hin zu einem nachvollziehenden Denken des Seins und des Ereignisses, das darin mündet, daß der Mensch der Hirte des Seins ist.26 Was Heidegger substantiell entgeht ist u.a. die Tatsache, daß eine Subversion27 der neuzeitlichen Metaphysik der selbstgründenden Subjektivität des (Selbst-)Bewußtseins und eine Dezentrierung des logozentrischen Dispositivs sich bereits in der Literatur und Ästhetik der (Früh-)Romantiker findet, etwa bei Friedrich Schlegel, Novalis und E.T.A. Hoffmann.28 Die Romantik ist aber nicht einfach ir- oder gar antirational, sondern ist die Bewegung einer Radikalisierung der Selbstrefleseins“ (Jacques Derrida: Vom Geist. Heidegger und die Frage (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988), S. 24). 26 So heißt es etwa im Brief über den Humanismus (in: Martin Heidegger: Wegmarken (Klostermann, Frankfurt/Main 1976, S. 313-364)) von 1946: „Die Sprache ist das Haus des Seins“ (l.c., S. 313). Der Mensch hütet die Wahrheit des Seins ek-sistierend (l.c., S. 330). Er ist der Hirte des Seins (l.c., S. 331 u. S. 342). Die Sprache ist das „Haus des Seins, darin wohnend der Mensch ek-sistiert, indem er der Wahrheit des Seins, sie hütend, gehört“ (l.c., S. 333). Als „eine Gestalt der Wahrheit gründet die Technik in der Geschichte der Metaphysik“ (l.c., S. 340). Der Mensch ist „in seinem Wesen ek-sistent in die Offenheit des Seins, welches Offene erst das ‚Zwischen‘ lichtet, innerhalb dessen eine ‚Beziehung‘ vom Subjekt zum Objekt ‚sein‘ kann“ (l.c., S. 350). Das Denken überwindet die Metaphysik nicht durch einen Überstieg, sondern durch einen „Abstieg“ aus der Verstiegenheit des Subjektivismus in die „Nähe des Nächsten“, in ein erfahrendes Denken der Ek-sistenz und des Ereignisses (l.c., S. 352). Das „Denken baut am Haus des Seins, als welches die Fuge des Seins je geschickhaft das Wesen des Menschen in das Wohnen in der Wahrheit des Seins verfügt“ (l.c., S. 358). Cf. auch Martin Heidegger: Zeit und Sein (in: ders.: Zur Sache des Denkens, Niemeyer, Tübingen 1988, S. 1-26). 27 ‚Subversion‘ meint hier das bewußte Durchkreuzen (fremder) Kalküle zugunsten eines anderen Kalküls oder einer Unkalkulierbarkeit, wie sie z.B. im Spiel sich zeigen kann. Das Spiel ist ein offenes Kalkül, eine kalkulierte Öffnung oder ein freier Würfelwurf. ‚Subversion‘ meint hier also nichts Irrationales. 28 Cf. hierzu: Nicola Kaminski: Kreuz-Gänge. Romanexperimente der deutschen Romantik (Schöningh, München/Paderborn/Wien/Zürich 2001); Manfred Momberger: Sonne und Punsch. Die Dissemination des romantischen Kunstbegriffs bei E.T.A. Hoffmann (Fink, München 1986). Bei Hoffmann zeichnet sich angeblich die Möglichkeit eines Endes des logozentrischen Dispositivs ab, dem letztlich auch die Frühromantik als „Aufklärung über die Aufklärung“ noch zugehörig sei (Momberger, l.c., S. 8). Hoffmann stellt sich in seiner textuellen Praxis auf die Seite des „NichtIdentischen, Multiplen, Disparaten“ (l.c., S. 77) und unterläuft die Abwertung der Erscheinung und die einheitsstiftende Funktion des logos. Allerdings legt Momberger eine fragwürdige Historisierung des logozentrischen Dispositivs zugrunde, die am Horizont die Möglichkeit seiner historischen Überwindung aufscheinen läßt. Momberger verhält sich indifferent zu der Frage, ob die Dezentrierung des logozentrischen Dispositivs ein historisches Projekt sein kann, oder ob sie dessen Nachtseite markiert, also strukturell unablösbar mit dem Ausmaß seiner Geltung verbunden bleibt.
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xion der Ratio oder Vernunft und ihrer Grenzbestimmung – z.B. im Sinnlichen oder der Phantasie. Damit verweist sie bereits auf das, was hier mit ‚Hyperrationalität‘ gemeint sein soll: ein gebrochen-reflexiver Umgang mit einer Vernunft, die sich kritisch auf ihre eigenen Bedingungen und Grenzen richtet. Vorbereitet und eingeleitet wird diese Selbstreflexion der Vernunft bekanntlich durch Kants Kritik der reinen Vernunft. Das Reflexivwerden der Vernunft in der Romantik ist daher keine Bewegung hin zum Irrationalen. Dem untergründigen und doppel- oder gegenläufigen Zug der Romantik wird in dieser Arbeit beispielhaft durch eine Lektüre des frühen Friedrich Schlegel im vierten Kapitel Rechnung getragen. Bereits der frühe Schlegel positioniert sich kritisch zur Subjektphilosophie der Aufklärung und zum unreflektierten Rationalismus. Die folgende Argumentation schließt also kritisch an Heideggers These an, die Neuzeit sei durch eine sich linear29 steigernde, einheitliche und sich vollendende logozentrische Metaphysik der Subjektivität des menschlichen Selbstbewußtseins ausgezeichnet, mittels derer sich der Mensch ins Zentrum der Welt setzt und von dort alles andere herrschaftlich dominiert und seinen Zwecken verfügbar zu machen versucht. Von Descartes über Leibniz und Hegel bis Nietzsche beschreibt die Metaphysik des rationalen Subjekts – laut Heidegger – den großen historischen Bogen ihrer Entfaltung. Das ist aber nur ein Teil des Geschehens: nicht alles in der Neuzeit ist auf die Herrschaft des menschlichen Subjekts zurückzuführen, es gab immer auch gegenläufige Bewegungen in der Geschichte der Philosophie bzw. auch in der Geschichte selbst. Heideggers These, daß die abendländische Geschichte der Neuzeit durch eine linear und kontinuierlich zunehmende Entfaltung einer einheitlichen und alternativlosen Metaphysik gekennzeichnet sei, ist historisch falsch, auch wenn sie einen Zug der Neuzeit darstellt. Gegen Heideggers Pauschalurteil wird daher hier eine historisch differenziertere Argumentation in Anschlag gebracht. Dies ist um so legitimer, als schon bei Heidegger letztlich nicht klar ist, ob die Entfaltung dieser Metaphysik alternativlos bleibt, ob sie kritisch überwunden werden kann oder ob sie überhaupt nur strategisch angegangen werden kann bzw. muß. In den folgenden Kapiteln werde ich die Konzeption der Subjektivität des (je individuellen) Selbstbewußtseins als Á%#J?J# kritisieren zugunsten einer ästhetisch fundierten Subjektbeschreibung. In dieser sind Subjekte nicht mehr Zentrum und Gründungsinstanz für alle Erkenntnis, sondern Austragungsort und Effekt eines prozessualen (Sprach- bzw.) Kraftgeschehens. Die bisherige Rekonstruktion neuzeitlicher Subjektivität als unbedingter Herrschaft des Menschen wird durch ein differenzierteres Modell alternativer Beschreibungen ersetzt. Dazu liefere ich zunächst noch in diesem Kapitel einen exemplarischen Durchgang durch die rationalistische Philosophie von Descartes (III) und Baumgarten (IV). Daran an schließt eine Diskussion ästhetischer Ideologie bei Kant (Kapitel 3), die bereits in einer Analyse des Genies als prototypisch ästhetisch bestimmtes Subjekt mündet. Im vierten und fünften Kapitel wird in einem Rückgang auf de Man und 29 Das Ansetzen einer sich linear entwickelnden Geschichte und damit die Reduktion der Zeit auf eine Linie ist natürlich eine höchst problematische Vorstellung. Darauf komme ich im vierten Kapitel zurück.
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Schlegel (Kapitel 4) bzw. Nietzsche (Kapitel 5) diese Konzeption einer ästhetisch bestimmten Subjektivität weiter ausgebaut. Heideggers eigene Vorschläge zur Überwindung des Subjektivismus – die sich z.T. auch schon in seiner Nietzscheinterpretation auffinden lassen (z.B. in der Rekonstruktion ästhetischer Subjektivität bei Nietzsche) – können dabei nicht berücksichtigt werden. Im Rahmen dieser Darstellung wird Heidegger auf ein herrschaftliches und gründendes Subjektverständnis festgelegt, dem sich allerdings Ressourcen einer anderen Beschreibung von Subjektivität schon Heideggerintern hinzufügen. Allerdings muß die Frage nach der praktischen Wirksamkeit der von Heidegger beschriebenen Metaphysik hier offen bleiben. Offensichtlich gab es aber gewissermaßen auf der Rückseite der Metaphysik immer auch zu ihr gegenläufige Momente, die sich u.a. in den ästhetischen Theorien überliefert und aufgehoben haben. Damit wird bei aller Kritik an Heidegger dessen enge Verschränkung von Subjektphilosophie und Ästhetik übernommen, allerdings jetzt so, daß die Ästhetik gerade die Krise der (rationalistischen) Subjektmetaphysik denkt. Revidiert wird damit auch die Blindheit Heideggers in Bezug auf den rationalismusskeptischen Zug der Ästhetik Baumgartens, der ein gegenläufiges Moment in Bezug auf Heideggers Einheitsthese markiert. Die Geschichte der Philosophie ist wesentlich polyphoner und ambivalenter als es Heideggers gewaltsame Reduktion aller neuzeitlichen Philosophie auf eine einheitliche, sich linear entfaltende Metaphysik ahnen läßt.
III Der folgende historische Aufriß steht unter dem Vorbehalt einer gewissen Fragwürdigkeit, die die Möglichkeit der Zuordnung bestimmter Autoren zu einer (mehr oder weniger geschlossen gedachten) Totalität einer Epoche zwangsläufig impliziert. Wenn sich diese Arbeit hier trotzdem auf eine traditionelle Art solcher Figuren bedient, dann nur im Bewußtsein eben dieser Fragwürdigkeit und aus Gründen der Übersichtlichkeit. Man kann mit guten Gründen im Anschluß an Heidegger Descartes als den historischen Begründer der neuzeitlichen Metaphysik des subjektiven Selbstbewußtseins und des Rationalismus auszeichnen. Soweit hat Heidegger mit seiner Analyse recht. Es ist allein das Subjekt bzw. die in seinem Zentrum agierende Ratio, die ein gesichertes Fundament nach dem Durchgang durch den radikalen Zweifel abzugeben verspricht und diesem standzuhalten vermag. Das Subjekt ist seiner Existenz insofern versichert, als es vernünftig ist, d.h. auf seinem Grund die Vernunft erkennt und sich fürderhin ihrer Leitung anvertraut. Dieses Subjekt wird als voraussetzungslos und damit (im Idealfall) als vorurteilsfrei angesetzt, insbesondere als autonom gegenüber allen sinnlichen Einflüssen. Im Zentrum der Welt steht jetzt scheinbar der Mensch und im Zentrum des Menschen (quasi als Subjekt im Subjekt) seine Ratio bzw. Vernunft. Diese Vernunft ist ubiquitär: „Denn schließlich dürfen wir uns, ob wir nun schlafen oder wachen, immer nur von der
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Evidenz unserer Vernunft überzeugen lassen“.30 Die zweifelnde Vernichtung allerobjektiven Gewißheit eröffnet erst die Möglichkeit einer subjektiven Gewißheit.31 Der neuzeitliche Rationalismus nach Descartes gründet die Erkenntnis auf den Verstand und die höheren Erkenntnisvermögen, während die Sinnlichkeit und die Empfindungen als Quelle des Irrtums erscheinen.32 Descartes scheint damit das logozentrische Dispositiv historisch zu eröffnen. Beispielhaft seien hierfür seine Meditationes de Prima Philosophia33 angeführt: „Alles nämlich, was ich bis heute als ganz wahr gelten ließ, empfing ich unmittelbar oder mittelbar von den Sinnen; diese aber habe ich bisweilen auf Täuschungen ertappt, und es ist eine Klugheitsregel, niemals denen volles Vertrauen zu schenken, die uns auch nur ein einziges Mal getäuscht haben“34 (MPP 65). Es gilt dann, etwas „Gewisses“ zu finden, und dieses findet sich erst in der Gewißheit des ego cogito: „der Satz ‚Ich bin, Ich existiere‘ [ist], sooft ich ihn ausspreche oder im Geiste auffasse, notwendig wahr“ (MPP 79). Das Denken allein kann nicht vom Ich abgetrennt werden (cf. DES 85), im Unterschied zum Körper, zu den Wahrnehmungen äußerer Dinge, zur Sinnlichkeit: „das Denken [=Bewußtsein/cogitatio] ist es; es allein kann von mir nicht abgetrennt werden; Ich bin, Ich existiere, das ist gewiß“. Das Ich ist ein „denkendes Ding, d.h. Geist (mens) bzw. Seele (animus) bzw. Verstand (intellectus) bzw. Vernunft (ratio)“ (MPP 83). Das Ich ist denkende Substanz (cf. VDM 27) im Unterschied zur ausgedehnten Substanz der Körper. Die fundierende Gewißheit dieses Ichs wird in der Hypothese radikalen Zweifelns gefunden: „Denn, daß ich es bin, der da zweifelt, erkennt, will, ist so offenkundig, daß sich kein Erklärungsgrund höherer Evidenz dafür finden läßt“ (MPP 87). Selbst die Einbildungskraft erscheint als Quelle des Irrtums: „So erkenne ich denn, daß nichts von alledem, was ich mit Hilfe der Einbildungskraft auffassen kann, zu jener Kenntnis gehört, die ich von mir habe, und der Geist (mens) muß sorgfältigst davon ferngehalten werden, wenn er seine eigene Natur ganz deutlich erkennen will“ (MPP 85). Täuschen kann die Sinnlichkeit bzw. die Einbildungskraft überhaupt nur deswegen, weil sie gerade nicht einfach kausal durch äußere Dinge affiziert wird, sondern ihre Eindrücke auf diese äußeren Dinge projiziert. Es handelt sich also um eine Metonymie bzw. Metalepsis: wir projizieren als frühere Ursache auf die äußeren Dinge aufgrund der späteren Wirkung, die wir in uns bzw. unserer Sinnlichkeit empfinden. Das Band zwischen den äußeren Dingen und ihrer subjektiven Empfindung durch die Sinnlichkeit ist also von Täuschung bedroht.35 30 René Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung (Meiner, Hamburg 1960), hier S. 32. Im folgenden unter dem Sigel [VDM] zitiert. 31 Ernst Cassirer: Descartes: Lehre, Persönlichkeit, Wirkung (Meiner, Hamburg 1995), hier S. 90. Im folgenden unter [DES] zitiert. 32 Cf. zur Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts auch: Howard Caygill: The Art of Judgement (Basic Blackwell Ltd., Oxford 1989). 33 René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia (Reclam, Stuttgart 1986). Im folgenden unter dem Sigel [MPP] zitiert. 34 Allerdings setzt diese Diagnose voraus, daß man sehr wohl zwischen Wahrheit und Täuschung unterscheiden kann. 35 Cf. hierzu Christoph Menke: Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion: Zur Genese
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Als Kriterium der Wahrheit (als Gewißheit des nicht mehr Bezweifelbaren) gilt die Klarheit und Deutlichkeit der ersten Erkenntnis: „Ich bin ein Ding, das denkt [=Bewußtsein hat], d.h. zweifelt, bejaht, verneint“ etc. (MPP 99). In der ersten Erkenntnis (ego sum res cogitans) ist „nichts andres enthalten als eine klare und deutliche Auffassung dessen, was ich behaupte“ (MPP 99). Deren Wahrheit kann nur als versichert gelten, wenn alles, was klar und deutlich eingesehen wird, auch wahr ist: „Somit darf ich als allgemeine Regel festsetzen, daß alles das wahr ist, was ich ganz klar und deutlich auffasse (clare & distincte percipio)“ (MPP 101/cf. VDM 27). Alles, was nur verworren und dunkel im Bewußtsein ist, erscheint in seiner Wahrheitsfähigkeit zweifelhaft (cf. MPP 117). Die unbezweifelbare Wahrheit der Erkenntnis wird durch das „lumen naturale“ der Vernunft sichergestellt (cf. MPP 107). Wir dürfen aus unseren sinnlichen Erfahrungen nicht „ohne vorherige Prüfung durch den Verstand einen Schluß auf die Dinge außer uns ziehen [...], denn die Erkenntnis dieser Wahrheit scheint dem Geist allein, nicht aber dem aus Körper und Geist Zusammengesetzten zuzugehören“ (MPP 199).36 Zugleich mit der Abwertung der Sinnlichkeit und der Einbildungskraft als Quelle der Erkenntnis geht also auch eine Abwertung des Körpers einher. Von der wahren Erkenntnis ausgeschlossen bleibt alles, was nicht klar und deutlich sich im lumen naturale – also im Lichte der Vernunft – zeigt (cf. VDM 8). Die verworrenen, dunklen und unteren Wahrnehmungen und Empfindungen (die Sinnlichkeit) sind allererst Quelle des Irrtums.37 Wenn wir „häufig genug Vorstellungen haben, die eine Unwahrheit enthalten, [können] dies nur die sein [...], die etwas Verworrenes und Dunkles an sich haben, weil sie darin am Nichts teilhaben“ (VDM 31). Der menschliche Geist besteht aus Wille und Intellekt. Irrtum entsteht dann, wenn der Wille mehr verspricht als der Intellekt halten kann (cf. DES 31). Die Möglichkeit des Irrtums folgt daher aus der Freiheit des Willens: der freie Mensch ist gleichursprünglich in der Wahrheit und dem Irrtum. Dem Irrtum entgehen wir nur, wenn wir uns überall, wo wir keine klaren und deutlichen Ideen haben oder haben können, des Urteils enthalten (cf. DES 34). Was mit dem radikalisierten universellen Zweifel begann, endet im Triumph des reinen Denkens im Lichte der reinen Vernunft (cf. DES 211), in der absoluten Freiheit und (Selbst-)Ermächtigung des menschlichen Geistes. Dieses Licht der Vernunft leuchtet von der Vollkommenheit Gottes her (cf. DES 203): „Gott [hat] jedem von uns ein Licht gegeben [...], Wahres und Falsches zu unterscheiden“ (VDM 22). Den Zweifel an der Wirklichkeit der Realität beseitigt erst die Annahme der Existenz Gottes (VDM 31). Descartes schreibt in VDM 26: „[...] da ich mich aber damals nur auf die Suche nach der Wahrheit begeben wollte, glaubund Dialektik der Ästhetik (in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, S. 19-48). 36 Bei Descartes zerfällt die Welt in res cogitans und res extensa (womit er sich in der Tradition mittelalterlicher Scholastik bewegt). Der menschliche Körper stellt eine Art Fusion beider Substanzen dar. 37 Prototypisch wahre Erkenntnisse sind daher die der Geometrie und Arithmetik (MPP 69).
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te ich, ich müsse [...] all das als völlig falsch verwerfen, wofür ich mir nur den geringsten Zweifel ausdenken könnte, um zu sehen, ob danach nicht irgendeine Überzeugung zurückbliebe, die gänzlich unbezweifelbar wäre. Daher wollte ich, da unsere Sinne uns manchmal täuschen, voraussetzen, daß es nichts Derartiges gäbe, wie sie es uns glauben machen. Und da es Menschen gibt, die sich beim logischen Schließen selbst bei einfachsten geometrischen Figuren täuschen und sich Fehlschlüsse zuschulden kommen lassen, so verwarf ich in dem Gedanken, daß ich ebenso wie jeder andere der Täuschung unterworfen wäre, alle Begründungen als völlig falsch, die ich zuvor für Beweise gehalten hatte. Endlich erwog ich, daß uns genau die gleichen Vorstellungen, die wir im Wachen haben, auch im Schlafe kommen können, ohne daß in diesem Falle eine davon wahr wäre, und entschloß [!] mich daher zu der Fiktion, daß nichts, was mir jemals in den Kopf gekommen, wahrer wäre als die Trugbilder meiner Träume. Alsbald aber fiel mir auf, daß, während ich auf diese Weise zu denken versuchte, alles sei falsch, doch notwendig ich, der es dachte, etwas sei. Und indem ich erkannte, daß diese Wahrheit: ‚ich denke, also bin ich‘ so fest und sicher ist, daß die ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied [!] ich, daß ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte, ansetzen könne.“ (VDM 26/alle Hervorhebungen von mir, J.S.)
Jenes „entschloß“ und jenes „entschied“ zerstören das ganze intentional sorgfältig erarbeitete und geknüpfte Gewebe des Textes. Wenn der unterste Grundsatz der Philosophie von einer setzenden Entscheidung, einem subjektiven Entschluß abhängig ist, erschüttert das das philosophische System des Rationalismus als solches: nicht Notwendigkeit, sondern die subjektive Willkür einer Entscheidung liegt am Boden der rationalistischen Philosophie. Eine Entscheidung, die niemals auf die Rationalität der Argumente, ob sie nun dafür oder dagegen sprechen, zu reduzieren sein wird, und zwar schon deswegen, weil sie unsere Rationalität und unseren Vernunftgebrauch erst fundiert. Alle Begründungen, die man für Beweise halten könnte, können sich als völlig falsch erweisen. Es bedarf daher eines setzenden Aktes der Vernunft, der die Hyperbolik des Zweifelns in sich aufhebt. Das Vernünftige soll sich selbst im lumen naturale zeigen. Damit ist in der Tat eine neue Metaphysik gesetzt, die die Dinge ausgehend von der Selbstermächtigung des menschlichen Subjektes denkt und erschließt: jenes in der freien Luft und im reinen Licht der Vernunft denkende Ich ist das absolute, im Zweifel(n) gewonnene und gehärtete Fundament der neuzeitlichen rationalistischen Metaphysik. In jener performativen Entscheidung der vernünftigen Grundlegung zeigt sich der selbst-setzende Charakter der Vernunft, deren Gewaltsamkeit laut Heidegger die einer setzenden Gerechtigkeit ist, aus der sich alles neuzeitliche Recht erst abzuleiten vermag. Ich kann hier auf die Frage, welche Konsequenzen es für die Kontingenz und die Möglichkeit einer historischen Reversibilität der rationalistischen Subjektmetaphysik hat, daß ihr Fundament durch einen subjektiven performativen Akt gelegt ist, nicht weiter eingehen. Es bleibt aber die Frage: Welches Ich entscheidet hier in welchem Namen? Descartes im Namen der Vernunft? In welcher Position muß ein Ich sein, daß über den ersten Grundsatz der Philosophie – anscheinend souverän – zu entscheiden vermag? Dieses Ich wäre nur zu denken als ein absolutes Subjekt, und d.h., es au-
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ßerhalb der menschlichen Ordnung wie Geschichte stehend anzusetzen. Hier beginnt die menschliche Hybris, sich an die Stelle Gottes imaginieren zu wollen: eine praktisch gewordene Philosophie soll uns mit ihren Techniken „zu Herren und Eigentümern der Natur machen“ (VDM 50). Die rationale Selbstermächtigung des Menschen, die Descartes (per Dekret) vollzieht (und damit zugleich performativ eröffnet: ‚hiermit entscheide ich, René Descartes, im Namen der Vernunft jenen Satz als den Grundsatz der Philosophie zu setzen‘), bricht für immer mit der vorneuzeitlichen Gnadens- und Heilsgewißheit und bricht zur Selbst-Befreiung des Menschen auf, eine selbstverschuldete und zu verantwortende Freiheit, vollzogen durch eine sich imperial gebende Vernunft38, die bereits all die Katastrophen ankündigt, die im Namen des Menschen noch auf der Erde geschehen werden. Frei können wir allerdings (paradoxerweise?) nur im herrschaftlichen Bezug auf unser Wollen – also in der Weise unseres Selbstbezuges – werden: „Ich bemerke in uns nur Eines, das uns einen wahren Grund geben kann, uns selbst zu schätzen, nämlich der Gebrauch unseres freien Willens und die Herrschaft, die wir über unser Wollen haben.39 Denn es sind nur die Handlungen, die allein von diesem freien Willen abhängen, für die wir mit Grund gelobt oder getadelt werden können, und dieser macht uns in gewisser Weise Gott ähnlich, indem er uns zum Herrn über uns selbst macht.“40
Subjektivität bestimmt sich seit und bei Descartes also aus dem rationalen Vermögen. Das Subjekt ist prototypisch als Erkenntnissubjekt angelegt, dessen Interesse allein darin zu bestehen scheint, klare und deutliche Erkenntnisse über sich und die Welt zu gewinnen. Damit ist die Ratio das (eigentliche) Subjekt (Substanz, Zugrundeliegendes oder Hypokeimenon, wie Heidegger sagen würde) im (menschlichen) Subjekt. Descartes etabliert damit ein praxisvorgängig stabil gedachtes Ich, eine individuelle Substanz, das bzw. die es nurmehr in seinem (z.B. sprachlichen) Ausdruck zu verwirklichen gilt.41 Er denkt somit das ‚Ich‘ bereits als unabhängig von subjektiven Vollzügen bzw. einer intersubjektiven Praxis bzw. diesen vorgängig. Damit reduziert er einerseits die Erkenntnis gegen die scholastisch bestimmte Tradition auf das wirklich Sichtbare bzw. Erfahrbare und der reinen Vernunft Zugängliche (man könnte sagen unter dem Motto ‚ad res‘), er macht den gesunden Verstand (cf. VDM 10) zum Richter über das Wahre und Wirkliche und etabliert damit ein synchron gedachtes rationalistisches System unabhängig von der Geschichte bzw. Tradition. Die Wahrheiten werden in rationalistischer Reflexion in einem Selbststudium gefunden (cf. VDM 9), was deswegen funktioniert, weil der „gesunde Verstand [...] die bestverteilte Sache der Welt“ und damit ubiquitär und allen in gleicher Weise zugänglich ist (VDM 1). Andererseits scheidet Descartes 38 Cf. Fußnote 8. 39 Also nicht das Wollen herrscht, sondern wir beherrschen unser Wollen. Unser Wollen erscheint hier als Mittel der Selbstherrschaft. 40 René Descartes: Die Leidenschaften der Seele (Meiner, Hamburg 1996), hier S. 239. Im weiteren zitiert unter dem Sigel [DLS]. 41 Cf. hierzu Kapitel 1, Abschnitt 3.
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fragwürdigerweise Körper (res extensa) von Geist bzw. Seele (res cogitans), eine Dichtotomie, die bis heute unseligerweise weiter wirksam geblieben ist. In dieser rationalen Abstraktion werden Körper und Sinnlichkeit tendentiell abgewertet zugunsten des reinen Geistes. Bedeutete die (nur implizite) Kritik an der Scholastik eine Wendung auf das unmittelbar Gegebene, so entfernt Descartes die Erkenntnis wieder vom sinnlich-Konkreten, indem er Geist und Körper als zwei geschiedene Substanzen ansetzt (cf. DLS 5) und so vor dem unlösbaren Problem steht, wie beide dennoch zusammenwirken und zusammenzudenken sind.42 Die mit der Grammatik dieser Terminologie eröffnete Kluft wird systemimmanent nicht mehr zu schließen sein: erst die in uns gelegte Vorstellung Gottes garantiert uns den nichttäuschenden Charakter unserer Erkenntnis. Die Kluft (in späterer Terminologie zwischen Subjekt und Objekt) ist nur mit transzendenten Mitteln noch zu schließen. So plausibel der kritische Einsatzpunkt des Kartesianismus historisch daher auch gewesen sein mag – er führt die (allen gemeinsame und damit demokratische) Vernunft gegen die elitäre dogmatische Tradition der mittelalterlichen Scholastik und des Aristotelismus ins Feld (nicht ohne einige Reminiszensen an deren Sprachgebrauch) –, so ist er in seinen Konsequenzen fragwürdig: das Denken des Subjekts ist nicht erst das Resultat des Zweifelns, sondern der Gebrauch der Vernunft selbst ist zweifelhaft und muß von kritischen Zweifeln begleitet werden; gefordert ist eine reflexive Selbstkritik der (aufklärerischen) Vernunft, um den Umschlag von Aufklärung in falsche Positivität und Mythologie, in blinde Herrschaft und vernünftigen Imperialismus zu vermeiden. Die Kritik am Rationalismus mündet nicht in einer Alternative zu diesem, sondern in seiner Radikalisierung und in einer hyperrational(istisch)en Selbstkritik der Vernunft. In dieser Beziehung bleibt Adornos und Horkheimers ratiokritisches Programm absolut gültig. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß jetzt das Subjekt mittels einer rational abgesicherten Methode auf die Dinge bzw. Objekte zugeht, deren erste Regel lautet: „niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht evidentermaßen erkenne, daß sie wahr ist: d.h. Übereilung und Vorurteile sorgfältig zu vermeiden und über nichts zu urteilen, was sich meinem Denken nicht so klar und deutlich darstellte, daß ich keinen Anlaß hätte, daran zu zweifeln“ (VDM 15).43 Welt ist dann der Name für die Gesamtheit der vorhandenen körperlichen bzw. ausgedehnten Dinge (res extensa). Alles, von dem man klare und deutliche Ideen bilden bzw. empfangen kann, kann zum Gehalt einer Erkenntnis werden. Die rationale Aneignung der Welt steht im Horizont der Möglichkeit einer Mathesis universalis, einer mathematisch fundierten Einheitswissenschaft.44 Descartes fundiert die Möglichkeit der Erfahrung in unserem rationalen Grundvermögen. Unsere Ra42 Etwa in seiner abtrusen Theorie der Zirbeldrüse (cf. DLS 57 f.). 43 Bekanntlich hat Gadamer diese Verurteilung des Vorurteils revidiert, indem er nachgewiesen hat, daß alle unsere Urteile nicht nur notwendigerweise letztlich auf Vorurteilen beruhen, sondern zukünftig selbst solche sind (Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (J.C.B.Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1960/1990). S. 270-295). 44 Cf. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1971), hier S. 107-113.
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tionalität ist das einzige Instrument zur Welterkenntnis, über das wir verfügen und unser Vermögen zu zweifeln der einzige Weg zur Selbst-Befreiung der Menschheit (cf. DES 27).45 Das hat auch ethische Konsequenzen: richtig zu leben heißt dann nämlich unter der Führung der Vernunft zu leben. Damit werden die Leidenschaften der Seele nicht ausgeschlossen oder verworfen, sondern in die bzw. unter die Rationalität eingeschlossen: unsere Leidenschaften müssen von der Vernunft gelenkt und beherrscht werden, wir dürfen uns ihnen nicht einfach hingeben. Descartes klagt nicht die Leidenschaften und die Sinnlichkeit an, sondern will den Menschen zu ihrem Herrscher und Besitzer machen (cf. DES 107/109). Herrschen über seine Sinnlichkeit kann man mittels ihrer Erkenntnis. Daher muß man sich in die Lage versetzen, die Ursprünge und das Wesen der Leidenschaften rational zu erfassen, d.h. klar und deutlich zu erkennen. Die Leidenschaften sind ihrem Wesen nach dunkel und verworren, können aber gleichwohl vom Geist deutlich erkannt werden und sind insofern auch mögliche Objekte der vernünftigen Erkenntnis (cf. DES 165). Man versteht Descartes’ Position zu den Leidenschaften nur, wenn man seine duale Metaphysik unterlegt. Demnach gibt es zwei Substanzen, die Descartes in Anlehnung an die scholastische Tradition res cogitans und res extensa nennt und die sich im Dualismus Geist/Materie überliefert haben (cf. VDM 27). Der Mensch besteht aus einer Vermischung beider Substanzen: er ist sowohl geistiges (denkendes) Wesen als auch materialer Körper (d.h. er hat Ausdehnung im Raum), auch wenn beide analytisch zu trennen sind (cf. VDM 29). Eine Leidenschaft ist nichts anderes als eine Vermischung von Körper und Geist. Descartes lehrt keine stoische Ethik der Apathie, sondern er unternimmt eine Physiologie der Leidenschaften. Daher sind diese bei ihm weder gut noch schlecht, sie sind einfach da (cf. DES 241/244). Das Glück liegt in der Beherrschung der Sinne durch den selbstbewußten und selbstverantwortlichen Willen (cf. DES 248). Die Philosophie will die Leidenschaften nicht ausrotten, sondern sie verstehen und in ihr rationales System integrieren (cf. DES 250). Descartes gibt so eine rational(istisch)e Affektenlehre, eine Physiologie oder Pathologie der Leidenschaften und Affekte (cf. DLS passim.). Das rational(istisch)e Heilmittel gegen die Leidenschaften ist Vorbedacht und Geschicklichkeit des Verstandes (cf. DLS 321). Die Leidenschaften sind zu regeln, indem man das gewohnheitsmäßige Band von Affekt und Kontext quasi – dekonstruiert, wie das Descartes als Sprachgeschehen erläutert: „So zeigt die Erfahrung in bezug auf Worte, daß diese in der Drüse [d.h. der Zirbeldrüse, von der Descartes annahm, daß sie Sitz der Seele und zugleich Scharnier zwischen Seele und Körper sei, J.S.] Bewegungen hervorrufen, obgleich sie der Seele nach der Einrichtung der Natur nichts als ihren Klang vorstellen, wenn sie von einer Stimme hervorgebracht werden, oder die Gestalt ihrer Buchstaben, wenn diese geschrieben werden, und daß man trotzdem durch Gewohnheit, die man erworben hat, an das zu denken, was sie bedeuten, sobald man ihrer Klang gehört oder ihre Buchstaben gesehen hat, diese Bedeutung statt der Gestalt der Buchstaben oder den Klang ihrer Silben begreift.“ (DLS 87)
45 Ich stütze mich im folgenden vor allem auf Ernst Cassirer: Descartes: Lehre, Persönlichkeit, Wirkung, l.c. (Fußnote 31).
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Diese gewohnheitsmäßige Verbindung von Zeichen und Ding muß aufgelöst werden, um die Zwangsläufigkeit des Auftretens von Affekten zu regeln, indem man neue Verbindungen einrichtet – woraus folgt, daß der Charakter dieser Verbindungen willkürlich bzw. ‚arbiträr‘ ist, wie de Saussure sagen würde. Gewohnheitsmäßig und damit sowohl willkürlich wie revidierbar ist also das Band zwischen Seele und Körper (cf. DLS 205). Die Seele kann so eine „absolute Macht“ über die Leidenschaften erlangen (cf. DLS 85). Daraus ergibt sich die Möglichkeit einer Ethik der Affekte: „Unsere Leidenschaften also können weder durch die Tätigkeit unseres Willens direkt erregt noch aufgehoben werden, aber sie können es indirekt durch die Vorstellung der Umstände, die durch Gewohnheit mit den Leidenschaften verbunden sind, die wir erstreben wollen und die denen entgegengesetzt sind, die wir zurückdrängen wollen“ (DLS 73 f.). Es bleibt aber eine gewisse Zweideutigkeit: einerseits scheint Descartes tatsächlich historisch die Epoche der logozentrischen Metaphysik zu begründen. Andererseits ist die Epoche der Metaphysik nicht einfach historisch beendbar, was auch an der Möglichkeit einer sie eröffnenden Geste zweifeln läßt. Die logozentrische Epoche hat je schon angefangen; es gibt keinen historischen Nullpunkt oder Anfang.46 Diese Arbeit ist sich des Widerspruchs zwischen einer historischen und einer systematischen These über die logozentrische Epoche bewußt, ohne ihn lösen zu können. Dies ist aber der Frage keineswegs akzidentell. Sie läßt sich nämlich philosophisch deswegen nicht einfach ‚entscheiden‘47, weil Philosophie selbst nichts anderes ist als (systematisierter) Rationalismus und daher die Entscheidung immer schon auf der Seite der Vernunft entschieden würde. Es gibt philosophisch kein Anderes der Vernunft, auf das man sich ‚einfach‘ berufen könnte. Der einzige Weg der Beschränkung des Imperialismus der abendländischen Vernunft liegt in einer vernünftigen Selbstreflexion, die sich sowohl ästhetisch wie auch philosophisch vollzogen hat und vollzieht. Vor diesem Hintergrund wird tatsächlich die Möglichkeit einer historischen Eröffnung der neuzeitlichen Metaphysik – etwa durch Descartes – ebenso wie die ihrer historischen Verabschiedung fragwürdig. Man wird daher einräumen müssen, daß es sich bei den Positionen Descartes und seiner Kritiker um systematische Differenzen handelt, die sich zwar historisch entfalten, gleichwohl aber nicht auf Geschichte zu reduzieren sind. Diese Arbeit geht davon aus, daß die Herrschaft des logozentrischen Dispositivs und der diesem eingeschriebenen Metaphysik der Subjektivität des vernünftigen Selbstbewußtseins keine historische Tatsache ist, die einfach überwunden werden könnte,48 sondern nur je wieder strategisch und 46 Cf. Jacques Derrida: Cogito und Geschichte des Wahnsinns (in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1972, S. 53-101). 47 D.h. wenn man überhaupt davon sprechen sollte, daß man Wahrheitsfragen irgendwie entscheiden könne: nicht das Subjekt entscheidet diese Fragen, sondern sie entscheiden sich von selbst, wenn wir es schaffen, uns in das richtige, d.h. das angemessene Verhältnis zu ihnen zu setzen. 48 Zudem ist der Begriff der ‚Metaphysik‘ alles andere als eindeutig: er bezeichnet u.a. eine Metaphysik der Subjektivität, eine Metaphysik des Phonologozentrismus, eine Metaphysik dichotomischer Terminologien, eine totalisierende und abschließende Be-
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kritisch angegangen werden kann. In Derridas früher (d.h. zur Zeit der Grammatologie verwendeten) Terminologie ließe sich sagen, daß die Möglichkeit einer postmetaphysischen Schrift längst nicht gesichert ist, auch wenn sich eine gewisse Ökonomie und Strategie der Schrift – die sich bei Derrida strategisch mit dem Denken der différance als zeitlicher Aufschub und Verräumlichung verbinden – einer solchen Metaphysik zu verweigern trachten.49 Die ‚Geschichte‘ der logozentrischen Metaphysik läßt sich nicht als ein in der Zeit sich entfaltender Prozeß schildern – also nicht als die Fiktion Nietzsches, Heideggers und Derridas, daß „die Metaphysik [...] eine Periode im abendländischen Denken“ (IÄ 221) sei, wie Paul de Man bemerkt.50 Vielmehr scheint das Ausmaß ihrer Geltung wesentlich mit einer – immer auch historisch präsenten oder zumindest latenten – gegenläufigen subversiven51 Bewegung verbunden zu sein. Das heißt z.B., daß auch die Romantik nicht einfach auf eine der beiden Seiten verrechnet werden kann, sondern selbst eine irreduzible Heterogenität bewahrt. Und das heißt, daß diese gegenläufigen Bewegungen sich u.a. in den ästhetischen Theorien manifestieren.
IV Nach der Abwertung oder dem Ausschluß der sinnlichen Wahrnehmungen als Quelle der Erkenntnis gegenüber dem bzw. aus dem verstandesmäßigen Erkennen und der Abwertung des Körpers bei Descartes und seinen Nachfolgern rehabilitiert Baumgarten in seiner Ästhetik52 die Sinnlichkeit bzw. die Empfindungen zum einen als Quelle der Erkenntnis, zum anderen als Objekt der philosophischen Erkenntnis selbst:53 „Die Ästhetik (als Theorie der freien Künste, als untere Erkenntnislehre, als Kunst des schönen Denkens und als Kunst des der Vernunft analogen Denkens) ist die Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis“ (TÄ 3). Der Titel ‚Ästhetik‘ meint hier also sowohl die Tradition der ))+ als auch die ` Ästhetik als Kunstlehre, die an die Tradition der Poetik und der Rhetorik zwar
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wegung des Denkens, eine Metaphysik der Präsenz, eine Metaphysik des Ursprungs etc. Diese Polysemie – die die Metaphysik impliziert – wäre in ihrer systematischen Bedeutung noch auszuarbeiten, was diese Arbeit jedoch nicht leisten kann. Cf. hierzu Kapitel 1, Abschnitt I. Derrida denkt die Schrift (im Anschluß an Platons Phaidros) als vater- bzw. autorlos und damit als konstitutiv heterogen. Paul de Man: Die Rhetorik der Blindheit: Jacques Derridas Rousseauinterpretation (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 185-230), hier S. 221. Es ist allerdings sehr fraglich, ob diese Kritik de Mans für Heidegger und Derrida zutrifft. Bei Nietzsche scheint sie plausibel zu sein. Aber Heidegger und Derrida haben stets betont, daß eine Über- (oder Ver-)windung der Metaphysik nicht das historische Projekt ihrer einfachen Abschaffung sein kann. Cf. Fußnote 28. Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica (zitiert nach der gekürzten Fassung mit dem Titel: Theoretische Ästhetik (Meiner, Hamburg 1988) unter dem Sigel [TÄ]). Cf. Cassirer: Philosophie der Aufklärung, l.c. (Fußnote 1), S. 456.
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anknüpft, aber „ein weiteres Gebiet“ und „Gegenstände, die diese beiden Disziplinen mit andern Künsten gemeinsam haben“ umfaßt (TÄ 5). Neu an der Ästhetik ist vor allem, daß das Ästhetische die Perspektive eines subjektiven Zugangs zum Schönen impliziert. „Der Nutzen der Ästhetik als Kunstlehre, die zu der natürlichen Ästhetik ergänzend hinzutritt, besteht [...] darin, daß sie 1) den Wissenschaften, die hauptsächlich auf Verstandeserkenntnis beruhen, geeignete Materialien bereitstellt, [...] 3) die Verbesserung der Erkenntnis auch über die Grenzen des deutlich Erkennbaren hinaus vorantreibt, 4) gute Grundlagen legt für alle kontemplativen geistigen Betätigungen und für die freien Künste.“ (TÄ 3)
Es werden also auch die verworrenen Erkenntnisse, d.h. die Empfindungen, als Quelle (philosophischer) Erkenntnis zugelassen. Die Verworrenheit ist kein Grund mehr zum Ausschluß der Sinnlichkeit und des Körpers54 aus der vernünftigen Erkenntnis: „Die Verworrenheit [...] a) ist eine unerläßliche Voraussetzung für die Entdeckung der Wahrheit, da die Natur keinen Sprung macht aus der Dunkelheit in die Klarheit des Denkens (natura non facit saltum). [...] b) Gerade deshalb muß man sich um die verworrene [d.h.: nicht rationale, J.S.] Erkenntnis bemühen, damit daraus keine Irrtümer entstehen [...]. c) Es wird nicht das verworrene Denken empfohlen, sondern es geht darum, die Erkenntnis überhaupt zu verbessern, soweit ihr notwendigerweise ein Rest verworrenen Denkens anhaftet.“ (TÄ 5)55
Es gibt nur eine graduelle Differenz zwischen verworrener und deutlicher Erkenntnis.56 Es ist die Aufgabe der Ästhetik, die Wahrheit, „soweit sie sinnlich erkennbar ist“ (TÄ 53), darzustellen. Der Titel ‚Wahrheit‘ meint hier vor allem zweierlei:57 zum einen die Übereinstimmung einer künstlerischen Darstellung mir ihrem Gegenstand, zum anderen die unmittelbare Wahrheit sinnlich wahrgenommener Ein-
54 Luhmann radikalisiert die Bedeutung des Körpers für die (Selbst-)Wahrnehmung des Künstlers: „Des Künstlers Genie – das ist zunächst einmal sein Körper“. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1997), hier S. 68 f. 55 Es ist allerdings die Frage, ob Baumgarten hier den Erkenntnisprozeß selbst beschreibt oder eine Theorie der Erkenntnis gibt. 56 Cf. Howard Caygill: Über Erfindung und Neuerfindungen der Ästhetik (in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49, Akademie-Verlag, Berlin 2001, S. 233-241). 57 „Die dritte Aufgabe im Bereich des schönen Denkens ist die Wahrheit, und zwar die ästhetische, das heißt: die Wahrheit, soweit sie sinnlich erkennbar ist“ (TÄ 53). Hier ist nicht der Platz, den komplizierten Wahrheitsbegriff Baumgartens weiter zu analysieren, nur so viel: kurz nach der gerade zitierten Stelle begründet Baumgarten den Begriff der „subjektiven Wahrheit“ und führt ihn in den philosophischen Diskurs ein (cf. Anmerkung des Herausgebers No. 61, TÄ 214): „Man könnte die metaphysische Wahrheit die objektive, die Vorstellung des objektiv Wahren in einer bestimmten Seele die subjektive Wahrheit nennen“ (TÄ 53).
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drücke als Angemessenheit an die Außenwelt.58 Diese Wahrheit ist „entweder die Wahrheit der Allgemeinbegriffe und der Begriffe überhaupt“ (was Baumgarten auch „allgemeine ästhetikologische Wahrheit“ nennt) oder die „Wahrheit der Einzeldinge und der individuellen Vorstellungen“ (TÄ 69). Hier zeigt sich die Ästhetik als Theorie der Wahrnehmung der einzelnen Erscheinungen und damit als eine Konzeption der Individualität. Je individueller ein Gegenstand ist, desto mehr „metaphysische Wahrheit“ enthält seine sinnliche Erfahrung: die höchste Wahrheit ist individuell (cf. TÄ 69 ff.). Das ästhetische Denken hat die allgemeinen Vernunfttugenden (Übereinstimmung mit dem Prinzip des Widerspruchs, der Prinzipien des Grundes und des zureichenden Grundes) „mit den Sinnen und mit dem Analogon der Vernunft feinfühlig wahrzunehmen“ (TÄ 57). Die Wahrheit wird aber, „soweit sie intellektuell erfaßbar ist, vom Ästhetiker nicht direkt angestrebt“ (TÄ 57). Bei Baumgarten fungiert die Schönheit bereits als eine Garantin der Wahrheit einer Empfindung (was dann später in der idealistischen Ästhetik weiter ausgebaut wurde): „Es hat sich, wie ich glaube, bereits klar [!] gezeigt, daß sehr vieles, was im schönen Denken vorgestellt wird, nicht vollständig gewiß ist und daß seine Wahrheit nicht im vollen Licht wahrgenommen wird. Und doch läßt sich nirgends etwas sinnlich Falsches entdecken, ohne daß dies mit häßlicher Entstellung verbunden wäre. Worüber wir aber keine vollständige Gewißheit erlangen, worin wir trotzdem keine Falschheit erkennen können, das ist das Wahrscheinliche. Die ästhetische Wahrheit ist also in ihrer wesentlichen Bedeutung Wahrscheinlichkeit, jene Stufe der Wahrheit, auf der man, auch wenn man nicht zur vollständigen Gewißheit geführt worden ist, dennoch keine Falschheit beobachten kann.“ (TÄ 115)
Die Allgemeinbegriffe mit dem Anspruch auf logische Wahrheit (cf. TÄ 145) werden durch Abstraktion und Reduktion von individuellen Erscheinungen gewonnen (cf. TÄ 143): „Ich wenigstens glaube, es müßte den Philosophen völlig klar sein, daß nur mit einem großen und bedeutenden Verlust an materialer Vollkommenheit all das hat erkauft werden müssen, was in der Erkenntnis und in der logischen Wahrheit an besondrer formaler Vollkommenheit vorhanden ist. Denn was bedeutet die Abstraktion anderes als einen Verlust? Man kann, um einen Vergleich heranzuziehen, aus einem Marmorblock von unregelmäßiger Gestalt nur dann eine Marmorkugel herausarbeiten, wenn man einen Verlust an materialer Substanz in Kauf nimmt, der zum mindesten dem höheren Wert der regelmäßig runden Gestalt entspricht.“ (TÄ 145)59 58 TÄ 111 ff.: Schon „die sinnlichen und verworrenen Vorstellungen der Seele [enthalten] ein gewisses Maß an vollständiger Gewißheit und die Fähigkeit in sich [...], gewisse Wahrheiten der innern Empfindung von allem Falschen zu unterscheiden. [...] Jene Wahrheit besteht [...] aus jenen kleinen und kleinsten intuitiven Wahrnehmungen, die so beschaffen sind, daß wir sie unmittelbar erfassen, ohne daß sie durch heimlich sich einschleichende Fehler entstellt werden“. 59 Wolff und Baumgarten verwenden den Begriff der Abstraktion unterschiedlich, was Baeumler so zusammenfaßt: „Nach Wolff werden die Merkmale abstrahiert; nach
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Rationale Erkenntnis ist hier also als eine Reduktion der Komplexität der verworrenen Sinnlichkeit verstanden, womit bereits die Umkehrung der Wertungen und Bestimmungen von Verstand und Sinnlichkeit angelegt ist, die u.a. Schlegel und Nietzsche später dann explizit vollziehen. Die Analyse der Schönheit ist zugleich eine Selbstreflexion der Sinnlichkeit: das „Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit (Vervollkommnung) der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Damit aber ist die Schönheit gemeint. Entsprechend ist die Unvollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher, gemeint ist die Häßlichkeit, zu meiden“ (TÄ 11). Die Ästhetik bezieht sich auf das, was die rationalen Erkenntnisvermögen nicht wahrnehmen: die „sinnliche Erkenntnis ist gemäß der von ihrer wesentlichen Bedeutung hergeleiteten Benennung die Gesamtheit der Vorstellungen unterhalb der Schwelle streng logischer Unterscheidung“. Die Ästhetik zielt auf einen „universalen und allgemeingültigen Schönheitsbegriff“ (TÄ 11), zu dem die Theorien der einzelnen Künste das Besondere bilden. Von der rhetorischen Tradition zehrt die Bestimmung der Vollkommenheit der Erkenntnis: diese erwächst aus „dem Reichtum, der Größe, der Wahrheit, der Klarheit und Gewißheit, der lebendigen Bewegtheit der Erkenntnis“ (TÄ 13). Wenn „diese Qualitäten in Erscheinung treten, bringen sie die Schönheit der sinnlichen Erkenntnis hervor, und zwar die allgemeingültige, [...] das Licht der bewegenden Wahrheit“. Die „Schönheit der sinnlichen Erkenntnis und die Feinheit der ästhetischen Gegenstände selbst stellen zusammengesetzte Vollkommenheiten dar, und zwar allgemeingültige“ (TÄ 15). Schönheit ist hier also identisch mit objektiver Vollkommenheit. Immanuel Kant wird Schönheit und Vollkommenheit in seiner Kritik der Urteilskraft dann analytisch trennen. Die Gesetze der „ästhetischen Kunstlehre“ gelten „überall dort, wo es besser ist, etwas schön als unschön zu erkennen, etwas, wofür kein wissenschaftliches Erkennen erforderlich ist“. Diese ästhetische Kunstlehre bietet ein immer „vollständigeres System der im Erkennen zum Ausdruck kommenden Schönheit“ dar. Damit „nimmt die ästhetische Kunstlehre die Gestalt einer Wissenschaft an“ (TÄ 45). Als solche befaßt sie sich mit der ästhetisch erreichbaren Wahrheit: „Eine falsche Regel ist immer schlechter als gar keine Regel. Gesetze, die nur von dem einen oder dem andern Beispiel her abstrahiert sind und ohne weiter entfernten Grund als Allgemeinbegriffe ausgegeben werden, was sind sie anderes als recht lückenhafte Schlußfolgerungen vom Einzelnen aufs Allgemeine? [...] Eine vollständige Induktion kann niemals erreicht werden. Daher ist eine deutliche, a priori gültige Erkenntnis der wichtigeren Regeln und ihrer Wahrheit unumgänglich, und es ist die Aufgabe der Erfahrung, diese Wahrheit zu festigen und einleuchtend zu machen [...]. Die speziellen Künste bedürfen also, wenn die wahren Regeln von den unechten abgesondert werden sollen, eines weiter entfernten Prinzips, aus dem sie das Wesen ihrer besondern Regeln erkennen können, und dieses Prinzip, die ästhetische Kunstlehre, muß in die Form einer Wissenschaft gebracht werden [...].“ (TÄ 47) Baumgarten wird von den Merkmalen abstrahiert. Es sind zwei ganz verschiedene Begriffe. Baumgartens Abstraktion ist eine Verdunkelung, ein Absehen. Wolffs Abstraktion ist ein Trennen des Merkmals von der Sache und ein Isoliertbetrachten des Merkmals“ (Baeumler: Das Irrationalitätsproblem, l.c. (Fußnote 1), S. 199).
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Verstand und Vernunft müssen „aufgrund einer moralischen Notwendigkeit alles schöne Denken leiten“, was aber nicht möglich ist, „ohne daß die Regeln des schönen Denkens klar und deutlich erkannt werden“ (TÄ 47). Am Anfang steht also eine rationalistische Erkennntnis der Regeln, aufgrund einer moralischen Forderung, die das schöne Denken anzuleiten gemahnt. Baumgarten setzt gegen eine Ästhetik des bloßen (d.h. bloß subjektiven) Geschmacks des „schön Gedachten, Gesagten, Geschriebenen“ (TÄ 5) seine „ars analogi rationis“ (TÄ 2), die als die „scientia cognitionis sensitivae“ die rational operierende Begriffserkenntnis supplementiert. Damit reagiert Baumgarten auf den rationalistischen Ausschluß der Sinnlichkeit aus dem Gebiet der wahren Erkenntnisse.60 Nicht durch die „Pflege des der Vernunft analogen Denkens“ kommt die „streng rationale Erkenntnis zu schaden“, sondern gerade durch Vernachlässigung der ars analogi rationis, der Kunst des vernunftanalogen Denkens. Gegen den Einwand, daß die „unteren Erkenntnisvermögen, die Sinnlichkeit“ eher „zu bekämpfen als zu wecken und zu stärken sind“ antwortet Baumgarten damit, daß die „unteren Erkenntnisvermögen [...] keine Gewaltherrschaft, sondern eine sichere Führung nötig“ (TÄ 7) haben, die die Ästhetik übernimmt, indem sie die unteren Erkenntnisvermögen „in eine gute Richtung“ bringt.61 Dies ist deswegen notwendig, damit die unteren Erkenntnisvermögen nicht durch ungeschickte Übungen noch mehr verdorben werden und damit auch den legitimen Gebrauch „einer von Gott verliehenen Gabe“ diskreditieren (TÄ 9). Das Ergebnis von Baumgartens Rehabilitierung der Sinnlichkeit bleibt aber zweideutig: so scheint es einerseits auf eine koloniale Invasion der lichtvollen Vernunft in das Gebiet des Nichtrationalen nach dem Modell der vernünftigen Seelenlenkung hinauszulaufen, während andererseits die Sinnlichkeit als gleichberechtigter Partner der Vernunft gedacht ist. In dieser Indifferenz liegt die Frage, wie man das Verhältnis Baumgartens zum Rationalismus versteht: zieht er die letzte Konsequenz dieses Denkens oder revidiert er dessen Grundannahmen so, daß er den Rationalismus überwindet oder zumindest den Weg zu dessen reflexiver Überwindung eröffnet, wie ihn dann die Philosophie nach Kant beschreiten wird?62 Die Antwort sei hier dahingestellt. Die Ästhetik wird jedenfalls als analog zu rationalistischen Philosophie gedacht: die „Ästhetik gliedert sich wie die Logik, ihre ältere Schwester“ in einen theoretischen (nach der Rhetorik strukturierten)63 und einen praktischen Teil (die Anwendung im Einzelfall) (TÄ 9). Zum schönen Geist gehören auch der Verstand und die Vernunft, die dank der „Herrschaft der Seele über sich selbst nicht selten viel dazu beitragen, daß die unteren Erkenntnisvermögen angeregt werden“ und durch ihren Gebrauch das für die Schönheit richtige Verhältnis im 60 Cf. hierzu Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus (Steiner, Wiesbaden 1983). 61 Dies wendet sich natürlich gegen das Konzept von Descartes und Spinoza, nach dem die unteren Erkenntnisvermögen durch Erkenntnis zu beherrschen sein sollen. 62 Cf. Steffen W. Gross: Felix Aestheticus und Animal Symbolicum, l.c. (Fußnote 10). 63 Nämlich in Heuristik (= inventio), klare Ordnung (= dispositio) und Ausdrucksmittel (= elucutio) (TÄ 9).
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Zusammenwirken ihrer Fähigkeiten im vernunftanalogen Denken herstellen (cf. TÄ 23). Ästhetiker werden nicht geboren – jedenfalls nur höchstens der Anlage nach (cf. TÄ 17-23) –, sondern es bedarf zur ästhetischen Ausbildung des Subjekts einer umfassenden Theorie, „die sich durch die Autorität der Vernunft empfiehlt“ (TÄ 7). Diese Theorie regelt die ästhetischen Übungen, die zur Vervollkommnung des ästhetischen Denkens unerläßlich sind. Die natürlichen Begabungen sinken unweigerlich herab, wenn sie nicht durch „fortwährende Übungen gehoben werden“ und diese häufigen Wiederholungen zu dem Zwecke einer „gewisse[n] Harmonie“ der Fähigkeiten des Geistes und des Gemütes ausgeübt werden (TÄ 29). Dabei werden die angeborenen Kräfte der Menschen durch ästhetische Übung erst entwickelt (cf. TÄ 37). Zu dieser Entwicklung bedarf es eines ästhetischen Unterrichts und einer ästhetischen Lehre, um eine „Theorie der nähern Einflüsse auf Stoff und Form der schönen Erkenntnis“ auszubilden, die „vollkommener“ ist als die Ausübung der bloßen Naturanlage (TÄ 39). Zu dieser ästhetischen Lehre gehört die „schöne Bildung“, zu der die Wissenschaften von Gott, Universum und Mensch zählen (TÄ 41). Gegen Descartes’ Unterscheidung von klaren und deutlichen Vorstellungen der Vernunft einerseits und dunklen und verworrenen Vorstellungen andererseits führt Baumgarten eine mittlere Kategorie ein: sensitive Vorstellungen, die dunkel oder klar sein können, aber nicht deutlich sind.64 Sensitive Vorstellungen werden durch „den niederen Teil des Erkenntnisvermögens erworben“ und sind „von den verstandesmäßigen, in allen möglichen Graden deutlichen“ unterschieden (PBB 9). Dabei sind klare Vorstellungen poetischer als dunkle, da sie vollkommener sind und zureichende Vorstellungen von Merkmalen haben. Dagegen sind „[d]eutliche Vorstellungen, vollständige, adäquate, durch alle Stufen tiefgehende Vorstellungen [...] nicht sensitiv, folglich auch nicht poetisch“ (PBB 15/Hervorhebungen von Baumgarten). Poetisch sind nur die klaren verworrenen Vorstellungen, während die klaren und deutlichen zur philosophischen Erkenntnis gehören, denn die Philosophie erstrebt Deutlichkeit der Begriffe, unter denen erkannt wird. Je mehr in einer Vorstellung vorgestellt wird, desto extensiv klarer – und damit auch poetischer – ist sie, während die „Deutlichkeit der Merkmale zur Vertiefung der Erkenntnis“ hinführt und damit eine Vorstellung intensiv klarer macht (cf. PBB 17). Je bestimmter die Dinge sind und je mehr verworrene Vorstellungen eines Gegenstandes angehäuft werden, desto extensiv klarer und damit poetischer ist dessen Vorstellung. Da Individuen „durchgängig bestimmt“ sind, „sind Einzelvorstellungen besonders poetisch“ (PBB 17 ff./ Hervorhebung von Baumgarten). So sind Beispiele poetisch, da sie als die „Vorstellung von etwas stärker Bestimmten“ zur „Erklärung einer Vorstellung von weniger Bestimmten beigebracht“ werden (PBB 21/Hervorhebung von Baumgarten). Daher sind Einzelbeispiele am poetischsten. Hier zeigt sich noch einmal die Verbindung von ästhetischer Theorie mit einer Konzeption von Individualität. Baumgarten vertritt eine (allerdings revidierte) Regelpoetik: „Eine vollkommene sensitive Rede ist ein Gedicht. Der Inbegriff der Regeln, denen ein Gedicht entsprechen muß, heißt Poetik. Die Wissenschaft der Poetik ist die philosophische 64 Alexander Baumgarten: Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts (Meiner, Hamburg 1983), hier S. 13. Im folgenden unter dem Sigel [PBB] zitiert.
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Poetik“ (PBB 11/Hervorhebungen von Baumgarten). Die niederen Erkenntnisvermögen erfordern eine Ausweitung des Gebietes, mit dem sich die philosophische Logik befaßt: „Die philosophische Poetik ist [...] eine Wissenschaft, welche die sensitive Rede zur Vollkommenheit hinlenkt. Da wir aber beim Sprechen diejenigen Vorstellungen haben, welche wir mitteilen, so unterstellt die poetische Philosophie beim Dichter ein unteres Erkenntnisvermögen. Es wäre nun Aufgabe der Logik in einem allgemeinen Sinne, dieses Vermögen beim sensitiven Erkennen der Dinge zu lenken. Wer indessen unsere Logik kennt, weiß genau, wie unbearbeitet dieses Feld ist. Wie aber, wenn die Logik durch ihre eigene Definition in diese allzu engen Grenzen gezogen wäre, in die sie in der Tat eingeschlossen ist, gilt sie doch für eine Wissenschaft, etwas philosophisch zu erkennen bzw. für eine Wissenschaft, die das obere Erkenntnisvermögen bei der Erkenntnis der Wahrheit leitet? Dann wäre den Philosophen die Gelegenheit gegeben, nicht ohne außerordentlichen Vorteil auch diejenigen Künste zu untersuchen, bei denen die niederen Erkenntniskräfte verfeinert, geschärft und glücklicher zum Nutzen der Welt geübt werden könnten. Da die Psychologie feste Prinzipien gibt, zweifeln wir nicht, daß es eine Wissenschaft geben kann, die das untere Erkenntnisvermögen lenkt, bzw. eine Wissenschaft, wie etwas sensitiv zu erkennen ist.“ (PBB 85/Hervorhebungen von mir, J.S.)
Baumgarten scheint sich indifferent zu der Frage zu verhalten, ob die Sinnlichkeit Subjekt oder Objekt der verworrenen ästhetischen Erkenntnisse ist.65 Wäre die Sinnlichkeit lediglich Objekt der weiterhin rationalen philosophischen Erkenntnisse, bedeutete dies eine immense Ausweitung des kolonialen rationalistischen Erkenntnisanspruchs noch auf die Sinnlichkeit und den Körper. Wenn die ästhetische Erkenntnis jedoch selbst verworren ist, sprengte dies den Erkenntnisanspruch der Philosophie (rationalistischer Provenienz): sie beschränkte sich dann nicht mehr ausschließlich auf klare und deutliche Erkenntnisse, sondern wäre ein konfuses Wissen ohne rationale Ordnung. Dieses Dilemma hat Baumgarten eher ignoriert als daß er einen Ausweg aufgezeigt hat.66 Die Rehabilitierung der unteren Erkenntnisvermögen, d.h. der sinnlichen, unklaren, verworrenen und dunklen Empfindungen richtet sich gegen das rationale Erkenntnisideal der Deutlichkeit und Klarheit der wahren Erkenntnisse, wie es beispielhaft bei Descartes formuliert ist. Die Ästhetik kann Erkenntnisse auch aus dem Dunklen und Verworrenen ziehen. Damit wird die Ästhetik einem gegenüber dem Rationalismus erweiterten Begriff von Erkenntnis einverleibt und letztlich untergeordnet.67 Damit zugleich wird die Idee der Erkenntnis verändert. Ihr wird 65 „Daher schreiten wir gemäß den deutlich erkannten Grundregeln des Denkens zur Regelung derjenigen Erkenntnis, welche zuerst die Schönheit zum Ziele hat. Und daraus geht später auch das deutliche Erkennen wieder vollkommener hervor“ (TÄ 7). 66 Daß es bei Baumgarten auch eine Theorie ästhetischer Subjektivität gibt, hat Gross herausgearbeitet. Cf. Steffen W. Gross: Felix Aestheticus und Animal Symbolicum, l.c. (Fußnote 10). 67 Cf. Ernst Cassirer: Philosophie der Aufklärung, l.c. (Fußnote 1), S. 463-465; Terry Eagleton: The Ideology of the Aesthetic (Blackwell, Oxford u.a. 1990).
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jetzt zugesprochen, notwendigerweise einen verworrenen Teil in sich zu tragen. Die Ästhetik bezeichnet ein mögliches Gebiet der wahren (oder wahrscheinlichen) Erkenntnis neben den rationalen Erkenntnissen. Es ist die Frage, inwieweit damit ein Eigenwert des Ästhetischen bestritten wird, der gerade nicht in einer Erkenntnis gleich welcher Art zu suchen wäre. In dieser Arbeit wird die Ästhetik (bzw. die ästhetische Subjektivität) nicht als Verlängerung der rationalen Erkenntnisse über Objekte aufgefaßt, sondern als Alternative zu einer erkenntnismäßig bestimmten Subjektivität. Bei Schlegel ist weder die ästhetische Erfahrung eine Erkenntnis gleich welcher Art noch ist das ästhetische Subjekt erkennend. Bei Nietzsche allerdings impliziert die ästhetische Erfahrung eine Wahrheitserfahrung, die sich allerdings von derjenigen Baumgartens unterscheidet. Ich werde dies weiter unten – in den Kapiteln 4 und 5 – noch erläutern. Allerdings schließen sowohl Schlegel wie auch Nietzsche an den rationalismuskritischen Zug des ästhetischen Einsatzes Baumgartens an und radikalisieren diese Kritik noch. Insofern fällt Baumgarten aus dem simplen Philosophiegeschichtsmodell Heideggers heraus.
V Bis hierher hat sich gezeigt: Descartes’ Neugründung der Subjektivität auf das Cogito ergo sum eröffnet – laut Heidegger – die neuzeitliche Metaphysik des Selbstbewußtseins des Subjekts, das so zum hypokeimenon (also zum Zugrundeliegenden) für alles andere wird. Dieses Subjekt ist wesentlich von seinen klaren und deutlichen, also rationalen Vorstellungen geprägt. Der kartesianische Rationalismus der Aufklärung bzw. der Klassik gründet demnach das Subjekt auf seine Vernunft und bestimmt es wesentlich über seine kognitiven Leistungen. Der Vernunft zugänglich ist einzig und allein das klar und deutlich Erkennbare, das sich im lumen naturale zeigt, während alles seiner Natur nach und also nicht nur graduell Verworrene (Sinnliches, Schönes, Affekte, Leidenschaften, Gefühle, Empfindungen etc.) weder selbst Erkenntnis noch Objekt klarer und deutlicher Erkenntnis sein kann. Die Vernunft steht im Zentrum des menschlichen Subjekts und ist damit sozusagen Subjekt des Subjekts. Diese Konzeption unterwirft die Sinnlichkeit und die Eigenart des einzelnen Subjekts – was man später seine Individualität genannt hat – der Allgemeinheit seiner vernünftigen Bestimmung. Gerade diese allgemeine Vernunftbestimmung sichert das Ideal der menschlichen Freiheit als Freiheit von Affekten.68 Das einzelne menschliche Subjekt ist nur Subjekt, insofern es sich der allgemeinen Herrschaft der Ratio unterordnet.69 In der Folge von Descartes 68 Die Freiheit durch Vernunft ist zunächst Freiheit von Leidenschaften, Affekten und Sinnlichem. Noch Nietzsche beschreibt trotz aller Kritik am Rationalismus das Nicht-Reagieren auf einen Reiz als Ausdruck einer Vornehmheit. (cf. Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung (in: ders.: Kritische Studienausgabe Band VI, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-77 u. 1988, S. 55-162), hier S. 103-110 („Was den Deutschen abgeht“). 69 Cf. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1969), S. 68 ff.
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bestimmt sich das neuzeitliche Subjekt als herrschaftliches Erkenntnissubjekt, das sich alle Dinge der Welt (und noch sich selbst, wie Adorno meint) zweckrationalinstrumentell unterwirft. Die Geschichte der Metaphysik ist laut Heidegger der Bogen der linear zunehmenden Entfaltung der menschlichen Herrschaft qua Erkenntnis. Das damit zugleich angesetzte Subjekt steht außerhalb aller praktischen, empirischen und historischen Vollzüge: es ist allein kognitiv bestimmt. In weiten Teilen der neuzeitlichen Philosophie wird im mehr oder weniger expliziten Anschluß an Descartes das Subjekt in erster Linie als ein Erkenntnissubjekt angesetzt, das scheinbar außerhalb aller praktischen Zusammenhänge steht.70 Diese Konzeption der Subjektivität ist jedoch reduktiv und daher vom Ansatz her verfehlt. Gewöhnlicherweise verwenden wir Dinge in unserer Praxis und erkennen sie nicht (oder wir erkennen sie durch unsere und in unserer Praxis). Es ist von daher eine falsche Vorstellung, daß wir die Dinge erst erkennen und überdies auch noch verwenden. ‚Erkennen‘ ist eine Abstraktion von einer komplexen Praxis, durch die wir in der Welt sind. In dieser Gleichsetzung von Erkenntnis und Subjekt liegt laut Nietzsche der Kern der neuzeitlichen Metaphysik einer selbstherrlichen Menschheit: es war der hochmütigste Augenblick in der Weltgeschichte, als kluge Tiere das Erkennen erfanden, und es war doch nur eine Minute in dieser Geschichte.71 Was allererst zu beschreiben wäre ist eine Konzeption von Subjektivität, die sich durch Selbstreflexion und Selbstkritik der Vernunft den Gefahren der immer gegebenen Möglichkeit eines Rückfalls in positive rationalistische Metaphysik zu verwehren trachtet. Das sollte mit dem eingangs erwähnten Zitat von Vattimo angedeutet werden. Gegen die (explizite oder implizite) Konzeption eines rational verfaßten Erkenntnissubjekts spielt die Ästhetik seit Baumgarten andere Weisen der Subjektivität und der subjektiven Vollzüge ein, die zugleich das nicht-rationale sinnliche Erkenntnisvermögen, d.h. die Empfindungen (aisthesis) und den Körper bzw. Leib72 selbst aufwerten. Zugleich wird damit die These von der (absoluten und rationalen) Subjektivität des menschlichen (Selbst-)Bewußtseins zurückgewiesen. In der Ästhetik bzw. ästhetischen Erfahrung ist das Subjekt nicht mehr oder zumindest nicht mehr primär Erkenntnissubjekt. Damit ist unterstellt, daß ästhetische Theorien immer implizit auch Subjekttheorien sind. Das schließt kritisch an die These Heideggers an, daß (Theorie der) Subjektivität und Ästhetik bzw. Subjekt und Kunst(-erfahrung) sich durchdringen. Hier lassen sich Theorien der Individualität anschließen, die dezidiert gegen 70 Das hat schon Martin Heidegger in Sein und Zeit kritisiert: die Vorhandenheit ist abkömmlich von praktisch-alltäglicher Zuhandenheit. Martin Heidegger: Sein und Zeit (Niemeyer, Tübingen 1993) § 13, S. 59 ff. 71 Cf. Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (in: ders.: Kritische Studienausgabe Band I, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-1977 u. 1988, S. 873-890). 72 Gross hat herausgestellt, daß bereits bei Baumgarten das Konzept des Leibes als Lösung des Geist/Körper-Problems angesetzt ist. Cf. Steffen W. Gross: Felix Aestheticus und Animal Symbolicum, l.c. (Fußnote 10), S. 287.
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die Allgemeinheit des (aufklärerischen) Vernunftsubjekts Front machen. Gegen die Annahme eines historisch-empirisch kontextlosen allgemeinen Vernunftsubjekts wird die unhintergehbare und spezifische Einzelheit des Individuums in seiner Umwelt betont. Das Subjekt wird nicht mehr als allgemeiner Agent rationalistischer Erkenntnissammlungen des Klaren und Deutlichen gedacht, sondern als in einer historisch-empirisch festgelegten Kultur individualisierter Mensch. Der Mensch ist gerade durch seine Sinnlichkeit individualisiert. Das Individuum ist also dem allgemeinem Vernunftsubjekt entgegengesetzt. Die Aufwertung des Individuellen kulminiert im prototypischen Individuum: dem Genie, das sich die Ästhetik wiederum zum Thema macht. Hier liegt der Ursprung auch noch für unsere zeitgenössische liberale Konzeption der Individualität. Die Ästhetik hebt den Widerstand gegen den Rationalismus auf, der das menschliche Subjekt mit seiner Vernunft als Fundament der Erkenntnis annahm. Diesem Subjekt gehört die Vernunft, die es für seine Zwecke gebraucht, nicht umgekehrt. Die Umkehrung vollzieht sich erst in der Ästhetik: das ästhetische Subjekt wird zum Medium eines Kräftespiels und (bei Nietzsche) einer Meta-Wahrheit. Daher finden sich in der Ästhetik alternative Subjektkonzeptionen. Ästhetische Subjektivität zeigt sich dann in einer souveränen Selbstpreisgabe73 des alltäglichen Subjekts an das ästhetische Spiel der Kräfte, das mit einer Mimesis des Subjekts an das Singuläre, das z.B. ein Kunstobjekt sein kann, beginnt (cf. Kapitel vier). Das veranlaßte Adorno, in der Ästhetik bzw. der durch Ästhetik vermittelten Kunst die Aufhebung des Singulären zu vermuten – und damit zugleich einen besseren – nämlich gegenüber dem Singulären mimetischen – Vernunftgebrauch zu fordern. Allerdings sind die Gestalten ästhetischer Subjektivtät nicht stabil – daher sollte man eher von Subjekten sprechen, die ästhetische Erfahrungen als lustvoll empfundendes Wechselspiel von Aufbauen und Zerstören, von Selbstaffirmation und radikalem Zweifel machen. In der Ästhetik selbst – den Texten der ästhetischen Tradition – wird dem Zusammenhang von ästhetischer Erfahrung und Subjektivität sowohl durch explizit formulierte Theorien ästhetischer Subjektivität Rechnung getragen als auch durch 73 Das heißt, daß das Subjekt mehr tun muß als sich selbst zu erhalten: es muß sich verlieren. Daher liegen Henrich und Blumenberg falsch, die als zentrales Interesse des Subjekts seine Selbsterhaltung ansetzen. Cf. Dieter Henrich: Die Grundstruktur der modernen Philosophie (in: ders.: Selbstverhältnisse, Reclam, Stuttgart 1982, S. 83-108); ders.: Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung. Probleme und Nachträge zum Vortrag über ‚Die Grundstruktur der modernen Philosophie‘ (in: ders: Selbstverhältnisse, Reclam, Stuttgart 1982, S. 109-130); ders.: Selbsterhaltung und Geschichtlichkeit (in: Hans Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1976, S. 303-313); Hans Blumenberg: Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität (in: Hans Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1976, S. 144-207). – Adorno setzt Selbsterhaltung zurecht mit Rechtbehaltenwollen gleich: „Das Rechtbehaltenwollen selber, bis in seine subtilste logische Reflexionsform hinein, ist Ausdruck jenes Geistes von Selbsterhaltung, den aufzulösen das Anliegen von Philosophie gerade ausmacht.“ (Adorno: Minima Moralia, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1997), hier S. 85.
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implizite Beschreibungen. Diese reflektieren die Veränderungen, denen sich das Subjekt in der ästhetischen bzw. durch die ästhetische Erfahrung ausgesetzt sieht. Allerdings ist nicht nur die Theorie ästhetischer Subjektivität reflexiv auf die ästhetische Erfahrung gerichtet, sondern bereits in der ästhetischen Erfahrung liegen Reflexionspotentiale, die außerästhetische Subjektkonzeptionen und nichtästhetische Erfahrungstypen zu reflektieren, zu fundieren oder zu transzendieren vermögen. Man könnte auch davon sprechen, daß sich in der und durch die ästhetische(n) Erfahrung ein ästhetisches Subjekt konstituiert, das eine Alternative zur praktischen wie theoretischen Subjektkonzeptionen darstellt bzw. diese reflektiert, auch wenn dieses ästhetisch bestimmte Subjekt keine stabile Gestalt hat. Diese bereits der Praxis unseres Umgangs mit dem Schönen resp. der Kunst immanente Reflexion nimmt die ästhetische Theorie auf und macht sie explizit.
3. Die Ideologie des Schönen. Subjektivität und ästhetische Erfahrung in Kants Kritik der Urteilskraft I In diesem Kapitel möchte ich die gründende Funktion des (Natur-)Schönen und die Konzeption einer ästhetisch bestimmten Subjektivität in Kants Kritik der Urteilskraft diskutieren. Dazu ist es notwendig, die transzendentalphilosophische Erläuterung des Schönen und des Geschmacksvermögens durch Kant ausführlich und genau zu rekonstruieren und zu diskutieren, um darauf aufbauend die ästhetische Subjektivität bei Kant zu beschreiben und zu ihr ins Verhältnis zu setzen. Dieses Kapitel folgt also scheinbar einem Umweg, bevor es sich explizit mit der ästhetischen Subjektivität befaßt (vor allem im Abschnitt X). Ich diskutiere zunächst die in der Analytik des Schönen implizierten Theoreme, insbesondere die paradoxale Bestimmung des Geschmacksurteils als ‚subjektiv-allgemein‘, die Zweckmäßigkeit ästhetischer Zustände, die Autonomie des Geschmacks und das Verhältnis von Freiheit und Gesetzmäßigkeit in der ästhetisch spielenden Einbildungskraft. Die Argumentation dieses Kapitels entwickelt sich als der Versuch1, den folgenden Satz Kants aus der Kritik der Urteilskraft unplausibel erscheinen zu lassen: „Der Gesang der Vögel verkündigt Fröhlichkeit und Zufriedenheit mit seiner Existenz“2. Dieser erstaunliche Satz, der bereits Kants Annahmen über das Naturschöne in nuce enthält, findet sich in § 42 in der sogenannten Deduktion der reinen ästhetischen Urteile. Es handelt sich offensichtlich um eine subjektive oder idealistische Projektion, die von der Schönheit des Gesangs auf eine Harmonie zwischen Welt und Vogel schließt. Das räumt Kant selbst auch gleich im nächsten Satz ein: „Wenigstens so deuten wir die Natur aus, es mag dergleichen ihre Absicht sein oder nicht“ (KdU B 172). In der Weise, wie der Gesang hier sinnvoll gemacht wird, enthüllt sich eine illegitime Übertragung aus der Welt des Menschen auf die der Vögel. Wir können schlechterdings nicht wissen, wovon der Gesang der Vögel nun wirklich kündigt, daß er aber von der Zufriedenheit der Existenz ‚singt‘, ist – wie zu zeigen sein wird – eine idealistische Unterstellung, die weitreichende Im1
2
Die Zugriffsweise der hier protokollierten philosophischen Meditationen auf Kants Texte ist konstitutiv und irreduzibel pluralistisch, gerade weil sie stets versuchen, ein sich durchhaltendes Unbehagen an der Kantischen Philosophie mit dem auszutarieren, was möglicherweise immer noch an Kant überzeugt. Im folgenden zitiert nach der Ausgabe: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (hg. von W. Weischedel, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974). Zitiert nach der Paginierung B unter dem Sigel [KdU B]. Zitat hier KdU B 172.
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plikationen oder Voraussetzungen in sich birgt. Es sind mindestens die folgenden Thesen impliziert, die ich im Verlauf dieses Kapitels versuchen werde systematisch in Frage zu stellen: 1. Der Gesang der Vögel ist offensichtlich deshalb prototypisch schön, weil er von der Harmonie in der Existenz zu künden scheint, wie Kant denkt. 2. Die (Natur-)Schönheit zeigt oder ist an sich selbst die Angemessenheit von Subjekt (oder Vogel bzw. dessen Gesang) und Objekt (oder Welt). 3. Die Naturschönheit (zu der der Gesang der Vögel zu zählen ist) enthält eine Art ‚Wink‘ der Natur, ‚als ob‘ diese für unsere Vorstellungsvermögen zweckmäßig oder angemessen ist. Gerade aufgrund dieser hypothetisch der Natur unterlegten Zweckmäßigkeit ist das Naturschöne für uns Menschen schön bzw. wird als Schönes lustvoll gefühlt. 4. Nur das Naturschöne erfüllt die Funktion, ein (z.B. moralisches) Interesse beim rezipierenden Subjekt wecken zu können (cf. KdU B 172). Denn das Kunstschöne täuscht uns, indem es sich dem Naturschönen ähnlich gibt. Auf die Frage, welcher Art dieses Interesse ist, werde ich zurückkommen. Kant spricht in der Kritik der Urteilskraft auf zwei Weisen von Subjektivität. Zum einen strukturell, wenn er im Rahmen einer Analyse der Grammatik unseres Begriffs der ‚Schönheit‘ das beschreibt, was man später (spätestens seit Bubner)3 „ästhetische Erfahrung“ genannt hat. Zum anderen entwirft er aber auch Gestalten einer genuin ästhetisch bestimmten Subjektivität wie etwa den Künstler, den Dichter oder das Genie. Die Differenz dieser beiden Beschreibungen von Subjektivität ist nur vordergründig identisch mit der Differenz zwischen einer passiv gedachten Erfahrung des Schönen und einer aktiven Kunstproduktion. Aktive wie passive Momente liegen vielmehr in beiden subjektiven Verhältnissen zum Schönen. Dieses Kapitel versucht, das Verhältnis dieser beiden Sprechweisen über Subjektivität zumindest ein wenig zu erhellen. Aus Platzgründen beschränkt es sich allein auf diejenigen ästhetischen Erfahrungen, die am Schönen gemacht werden können. Ausgespart werden also alle Arten des Nichtschönen (Erhabenes, Häßliches, Ekelhaftes), soweit Kant sie verhandelt.
II Kant schreibt: „Ein Prinzip des Geschmacks, welches das allgemeine Kriterium des Schönen durch bestimmte Begriffe angäbe, zu suchen, ist eine fruchtlose Bemühung, weil, was gesucht wird, unmöglich und an sich selbst widersprechend ist“ (KdU B 53). Ich möchte gleich die Frage stellen, in welcher Weise es Kants Projekt ist oder aber nicht ist, sich selbst auf die Suche nach einem solchen allgemeinen Prinzip zu begeben, was nach Kant eine unmögliche und selbstwidersprüchliche Bewegung ist. Möglich ist nämlich ein solches Prinzip nur, wenn es sich nicht auf (bestimmte) Begriffe gründet und doch Allgemeingültigkeit beansprucht. Einerseits behauptet Kant ja (die obige These einschränkend), daß ein 3
Cf. Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1989).
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solches Prinzip (nur) nicht objektiv gegeben sein könne. Was immer hier ‚objektiv‘ auch noch meinen könnte: es bezieht sich zunächst auf die Beschaffenheit von Gegenständen, die wir schön finden. Keine Eigenschaft dieser Objekte aber kann das Gefühl der Lust erzwingen. Es gibt also a priori keine kausale Verknüpfung von Gegenstand und dem Gefühl angesichts der empfundenen Vorstellung dieses Gegenstandes im Subjekt, sondern das Subjekt ist im Wohlgefallen am Schönen frei. Andererseits muß es eine Begründung für den allgemeinen Geltungsanspruch ästhetischer Urteile geben, und wenn diese nicht im Objekt zu finden ist, so ist sie im Subjekt zu suchen. Ästhetische Urteile über das Schöne sind nämlich genau deshalb allgemein (und zwar allgemein auf eine nichtempirische Weise) bzw. erheben einen allgemeinen Gültigkeitsanspruch, weil das formale Spiel der Erkenntniskräfte des Subjekts angesichts eines schönen Gegenstandes allen Subjekten gemeinsam ist: alle Menschen teilen nämlich einen „tief verborgenen [...] gemeinschaftlichen Grunde der Einhelligkeit in Beurteilung der Formen, unter denen ihnen Gegenstände gegeben werden“ (KdU B 53), wie es im Anschluß an das am Beginn dieses Abschnitts erwähnte Zitat bei Kant heißt. Kants Formel, in der er diesen vielleicht nur scheinbaren Widerspruch faßt, lautet bekanntlich, daß das ästhetische Urteil bzw. das ästhetische Wohlgefallen am Schönen einerseits auf der allgemeinen Mitteilbarkeit dieses Zustands oder des auf diesem Zustand aufbauenden Urteils beruhen soll (§ 9), während andererseits der Gegenstand dieses Wohlgefallens genau deshalb schön genannt wird, weil er die Erkenntnis- oder Vorstellungs- oder Gemütskräfte (d.h. hier Einbildungskraft und Verstand), wie Kants laxe Terminologie behauptet, in ein freies Spiel verwickelt, das sowohl harmonisch sein oder doch ausgehen soll als auch zu einer wechselseitigen Belebung eben jener Erkenntniskräfte führen oder diese aber mit sich bringen soll, die es angeblich ins Spiel setzt. Ich werde weiter unten auf das Verhältnis von Urteil und Lust bzw. ästhetischer Erfahrung, die Kant unter Umgehung einer naheliegenden Problematisierung ihrer Beziehung zueinander oft scheinbar leichtfertig identifiziert, zurückkommen. In diesem Zusammenhang wird auch das Verhältnis von Freiheit und Teleologie ästhetischer Zustände zu befragen sein. Geschmacksurteile beruhen also weder auf einem objektiven Prinzip (dann wären sie Erkenntnisurteile oder praktische Urteile) noch sind sie prinzipienlos (dann wäre das Schöne bloß subjektiv-angenehm). Dieses gesuchte und paradoxerweise sowohl subjektive wie auch allgemeingültige Prinzip ist der Gemeinsinn, der seine Urteile im Unterschied zum gemeinen Verstand nicht auf dunklen Begriffen gründet (wie dieser das Kants Überzeugung nach tut), sondern angeblich nach Gefühl urteilt (wobei zunächst offen bleiben muß, ob hier das Gefühl des Schönen auf dem Gemeinsinn oder aber der Gemeinsinn auf dem Gefühl gründet): „Wenn Geschmacksurteile (gleich den Erkenntnisurteilen) ein bestimmtes objektives Prinzip hätten, so würde der, welcher sie nach dem letztern fället, auf unbedingte Notwendigkeit seines Urteils Anspruch machen. Wären sie ohne alles Prinzip, wie die des bloßen Sinnengeschmacks, so würde man sich gar keine Notwendigkeit derselben in Gedanken kommen lassen. Also müssen sie ein subjektives Prinzip haben, welches nur
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durch Gefühl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeingültig bestimme, was gefalle oder missfalle. Ein solches Prinzip aber könnte nur als ein Gemeinsinn angesehen werden [...].“ (KdU B 64)
Es gibt also einen allen Menschen gemeinsamen Grund für die Einhelligkeit – oder sollte man sagen Gleichförmigkeit? – ästhetischer Urteile, die nur gewissermaßen durch empirische Verunreinigung differieren können. Und das betrifft auch die Möglichkeit eines Streits darüber, was legitimerweise schön zu nennen sei, ein Streit, der gerade kein Streit über den Geltungsanspruch ästhetischer Urteile selber ist, sondern vielmehr auf diesem beruht und durch ihn allererst ermöglicht wird: wir fordern nämlich die allgemeine Einstimmung in unsere Urteile über das Schöne und muten sie jedermann zu, „ohne daß die Urteilenden wegen der Möglichkeit eines solchen Anspruchs in Streite sind, sondern sich nur in besonderen Fällen wegen der richtigen Anwendung dieses Vermögens nicht einigen können“ (KdU B 23). Dieser Gedankenzug wird später den Regelbegriff unschön verwirren und paradoxieren: es gibt nämlich einerseits keine allgemeine Regel des Geschmacks, während andererseits alles auf die richtige Anwendung von Regeln ankommt, die – so wird zu zeigen sein – nur durch Übung gelernt werden kann. Doch dazu später. Das irreduzibel empirische Moment, das im Problem der richtigen Anwendung des Geschmacks liegt, versteht Kant als diesem bloß akzidentiell. Die Konsequenz daraus wäre, daß die gesellschaftlichen Geschmacksurteile unter idealen Bedingungen – und das meint hier unter Bedingungen der Reinheit von allem Empirischen, insbesondere von Reiz, Rührung, Interessen, Begriffen, Zwecken etc. – gleich wären, obwohl das Geschmacksurteil nicht objektiv begründbar oder ableitbar ist. Daraus folgte als Konsequenz, daß am Ende einer gedachten historischen Verwirklichung unseres apriorischen Geschmacksvermögens dann auch jede Möglichkeit eines Streits über die Schönheit endete.
III In diesem Abschnitt werde ich das Verhältnis von Selbstbeschreibung und Selbstreflexion bei Kant diskutieren. Die allgemeine Frage, die Kant stellt und mit der er sich explizit von der rationalistischen Tradition abzuheben trachtet, soweit sie Urteile über das Schöne als verworrene Erkenntnisurteile (und damit zugleich als objektiv begründbar) faßte, lautet also: wie läßt sich eine Allgemeingültigkeit begründen, die nicht objektiv belegbar ist? Und spezieller: wie läßt sich Schönheit bestimmen, wenn sie sich nicht auf bestimmte Eigenschaften von Gegenständen und vielleicht nicht einmal auf begrifflich Prädizierbares reduzieren läßt? Es wird zu zeigen sein, daß wir in der Tat über Schönheit so sprechen, ja zu sprechen gezwungen sind, „als ob“ sie eine Bestimmung des Gegenstandes sei.4 Die Analyse der Grammatik unseres Gebrauchs des Begriffs ‚Schön‘ bzw. ‚Schönheit‘ mündet in einer Analyse dieses „als ob“, und diese Analyse taugt nun, so meine These, 4
Es ist allerdings die Frage, ob wir das, was ästhetische Lust bereitet, zwangsläufig schön nennen.
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zu einer kritischen Reflexion dessen, wie sich hier bei und ausgehend von Kant eine Tradition ankündigt, die die ästhetische Differenz als ideologische5 Rechtfertigungsinstanz außerästhetischer Selbstverhältnisse des Subjekts zu verstehen sucht. Bei aller Rede vom reflexiven Charakter des ästhetischen Urteils beschreibt Kant im wesentlichen nur die eine Hälfte der Phänomenologie und Funktion der ästhetischen Erfahrung, so wie sie hier angesetzt wird: er behandelt vor allem die subjektfundierende Funktion der ästhetischen Erfahrung, die sich über den affirmativen Bezug des Subjekts auf das Schöne konstituiert. Das reflexive Moment (im Sinne einer Verunsicherung der subjektiven Selbst- und Weltverhältnisse) in der ästhetischen Erfahrung bleibt dagegen weitgehend ausgeblendet, auch wenn Kant das ästhetische Urteil als Reflexionsurteil bestimmt. Aber Kants Reflexionsbegriff ist ein anderer als der von mir in dieser Arbeit angesetzte. Er bezeichnet keine Verunsicherungsbewegung, sondern ist Mittel auf dem Weg zu einer Selbstvergewisserung des Subjekts durch das Schöne. Reflexiv ist diese Bewegung laut Kant, weil sich in ihr die Urteilskraft der Bedingungen ihres normalen Funktionierens versichert und diese eben nicht in Frage stellt. Einmal mehr wird hier nur in zweiter Linie nach der phänomenologischen Angemessenheit der Kantischen Analyse gefragt, sondern die Weise beobachtet, in der Kant beobachtet und damit zugleich Modelle kultureller Selbstreflexionen oder Selbstbeschreibungen anbietet. Diese vielleicht nur äußerst geringfügige Differenz zwischen dem Modell der Selbstreflexion und dem der Selbstbeschreibung steht im Zentrum dessen, was hier versucht wird zu befragen. Die theoretische Bestimmung der Weise dieser angeblich selbstreflexiven Modelle durch kulturelle Selbstbeschreibungen wird hier als ästhetische Ideologie verstanden. Denn eine Selbstreflexion, bei der das Resultat schon feststeht (bei Kant ist dies die Angemessenheit unserer subjektiven Erkenntniskräfte mit der Beschaffenheit der Objekte der Welt) ist keine wahrhafte Selbstreflexion, sondern eine Inanspruchnahme einer bestimmten Erfahrungsweise (nämlich hier der ästhetischen) für eine ideologische oder fundierende Funktion. Damit entspricht sie nur einem Moment der hier normativ ausgezeichneten Theorie der ästhetischen Erfahrung. Durch die Selbstreflexion der Urteilskraft anhand eines schönen Gegenstandes soll sich deren Angemessenheit mit den Objekten der Welt erfahren lassen. Ausgeblendet oder vielmehr funktional vereinnahmt wird das verunsichernde Moment der Reflexion, das sich eben kritisch auf das gründende Moment bezieht. Kants Modell der ästhetischen Erfahrung als Erfahrung einer Erkenntnis überhaupt – wie immer man das verstehen soll – ist eine theoretische Selbstbeschreibung einer scheinbar selbstreflexiven Funktion der ästhetischen Erfahrung 5
Unter Ideologie wird hier die funktionale Inanspruchnahme der ästhetischen Erfahrung für außerästhetische Zwecke verstanden. Daneben wird der Terminus ‚Ideologie‘ in dieser Arbeit auch noch in zwei weiteren Bedeutungen gebraucht: zum einen bezeichnet er ein auf Illusionen beruhendes und deshalb falsches Welt- und Selbstverhältnis der Subjekte, zum anderen die Verdeckung der Endlichkeit alles Menschlichen. Diese drei Bestimmungen hängen aber zusammen. Ideologisch ist nämlich das subjektive Wähnen in einer gesicherten Welt, das z.B. ästhetisch gegründet wird und das die Vergänglichkeit menschlicher Sinnstiftung ausblendet.
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für jedes Subjekt6, das diese Erfahrung macht, und das heißt bei Kant: Lust am Schönen fühlt.7 Bloß scheinbar reflexiv ist diese theoretische Selbstbeschreibung einer Selbstreflexion, weil sie eben beschreibt und das Beschriebene affirmiert, während bei einer kritischen Selbstreflexion, die diesen Namen verdiente – soweit sie möglich ist – das Ergebnis offen bleiben muß. Wenn es denn auf ein Ergebnis überhaupt ankommt und nicht vielmehr auf eine Praxis, eine philosophisch-historische oder aber ästhetische Praxis, die es zu reaffirmieren gilt. Es steht dann nicht von vornherein fest, ob im Durchgang durch die Reflexion etwas begründet oder fundiert werden kann, oder ob nur radikaler Zweifel, Unsicherheit, Skepsis und Kritik (etwa der Ideologie) – also Disharmonie (von Subjekt, Objekt und Welt) – übrig bleiben. Eine Theorie der wahren Funktion ästhetischer Erfahrungen müßte genau hier ansetzen: sie wäre radikale Infragestellung der ästhetischen Ideologie des Schönen (die nämlich eine letztlich illusionäre Harmonie von Subjekt und Objekt als notwendige Bedingung des Ästhetischen postuliert)8 gerade in der ästhetischen oder durch die ästhetische Erfahrung selbst. Auf die kritische Funktion der ästhetischen Erfahrung, bei der zunächst unklar ist, in wie weit sie von der Beschaffenheit der Gegenstände abhängt, an denen sie gemacht wird (müssen das z.B. notwendigerweise Kunstwerke sein?), können Kunstobjekte wiederum reflexiv bezogen sein. Solche Kunstwerke thematisieren explizit ihre eigene Funktion, sei es formalistisch (indem sie sich schöner Formen irgendwie selbstreflexiv entledigen oder deren Funktion zumindest problematisieren) oder inhaltistisch (indem sie sich Außerästhetisches zum Thema machen, etwa Politisches oder Soziales), indem sie das Konzept und die konstitutive Funktion des Schönen selbst in Frage stellen oder negieren. Avancierte Kunstwerke leisten diese (Selbst-)Destruktionsarbeit, die selbst nicht metaphysisch ist, sondern negativ auf die ideologischen Implikationen des Konzepts der Schönheit bezogen ist, durch die formale Anordnung des Materials9, und genau deswegen verdienen sie den Namen ‚Avanciert‘ (cf. Kapitel 1, Abschnitt VIII).
IV Schön ist also die Harmonie von Subjekt und Welt. In dieser Harmonie offenbaren unsere Erkenntniskräfte selbst die angemessene Weise ihres Funktionierens, wenn man sie (angeblich) frei betätigt, d.h. spielen läßt. Teleologie und Freiheit 6 7 8
9
Bei Kant ist es der selbstreflexive Gebrauch der Urteilskraft, der ästhetisch ist. Cf. Andrea Kern: Schöne Lust: eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2000). Allerdings ist zu betonen, daß die vom Subjekt gefühlte Harmonie allein nicht schon Ideologie ist. Dazu wird sie erst, wenn sie sich einerseits als die einzig zulässige Weise der ästhetischen Relation von Subjekt und Objekt setzt und ihr andererseits (z.B. durch ästhetische Theorien) eine Funktion zur Gründung außerästhetischer subjektiver Selbst- und Weltverhältnisse zugesprochen wird. Cf. Ruth Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2000).
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dieses Spiels schließen sich aus. Entweder endet das ästhetische Spiel immer mit einem abschließenden Urteil und ist dann nicht mehr frei, oder es setzt sich nur genau so lange fort bzw. erhält sich nur so lange selbst, wie es frei ist und d.h. sich des Urteils enthebt. Dann aber kulminiert es nicht mehr zwangsläufig (wie Kant zu denken scheint) überhaupt in einem Urteil, geschweige denn in einem Urteil, das dem Gegenstand der ästhetischen Lust Schönheit prädiziert. Ein freies Spiel muß der Möglichkeit nach auch disharmonisch sein bzw. enden können (also auch ohne abschließendes Urteil aufhören können) und trotzdem eine ästhetische Erfahrung sein können. Ebenso kann das Urteilen eine mitlaufende Dimension der ästhetischen Erfahrung sein. Vielleicht markieren Erfahren und Urteilen zwei Weisen der subjektiven Bezugnahme auf Objekte: einmal als aktiv-passive mittelbare Erfahrung dieser Objekte, einmal als aktive Beurteilung dieser Objekte. Kant beschäftigt sich in der Tat mehr mit dem Geschmacksurteil als mit dem diesem vorgängigen ästhetischen Zustand, für den sich Theorien ästhetischer Erfahrung seit Bubner interessieren. Bei Kant wird die Differenz zwischen ästhetischer Erfahrung und ästhetischem Urteil niemals explizit befragt.10 Die mindestens laxe Gleichsetzung von ästhetischen Zuständen und Urteilen referiert auf Kants mehr oder weniger implizite Unterstellung, daß unsere Praxis gleich welcher Art immer eine Urteilspraxis ist, und zwar eine Urteilspraxis, die ausschließlich auf drei Arten Urteilen basiert und reduzibel ist, nämlich auf theoretische, auf praktische und auf ästhetische Urteile. Dies ist sozusagen der Restrationalismus, an dem Kant entgegen seiner Kritik am Rationalismus festhält. Dagegen ließe sich sagen, daß möglicherweise ästhetische Zustände gerade mit einer Aufhebung, Aufschiebung oder Suspension von Urteilen einhergehen. So beschreibt Kant ja auch die Weise des ästhetischen Funktionierens der Urteilskraft: diese befindet sich dann nämlich in einem reflexiven Spiel, das darin anders ist gegenüber anderen (z.B. erkennenden) Reflexionen, daß es eben nicht teleologisch auf ein Urteil hinausläuft, sondern in ihm die Urteilskraft als solche gewissermaßen ihr eigenes reines und formales Funktionieren lustvoll fühlt.
V In diesem Abschnitt möchte ich den Charakter des „Als-ob“ diskutieren. Es wird zu fragen sein, inwieweit Kants Projekt genau das versucht, was er selbst nur als unmöglich und in sich widersprüchlich denken kann, nämlich subjektiv-allgemeine Prinzipien des Geschmacks zu finden oder zumindest zu suchen und damit seine empirischen Bemerkungen über das Schöne und Erhabene zu revidieren. Hier wird daher weniger nach der Rechtmäßigkeit der Kantischen Beschreibung gefragt als vielmehr nach der Weise, in der Kant selbst die Frage der Ästhetik transzendentalphilosophisch problematisiert. Die Analyse seiner Argumentation 10 Allerdings ist festzuhalten, daß Kant (im Unterschied zu mir) weder von ästhetischer Erfahrung noch von ästhetischen Zuständen des Subjekts spricht. Es ist aber sachlich gerechtfertigt, mit diesen Begriffen das zu benennen, was Kant beschreibt, auch wenn diese Terminologie zu Kants Zeiten nicht gebräuchlich war.
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orientiert sich dabei zunächst an jenem „als ob“, das den Kern der ideologischen Funktion ästhetischer Zustände bei Kant begründet. Kant führt die Denkfigur des „als ob“ zunächst ein als Erläuterung der spezifischen Weise, in der ästhetische Urteile einen allgemeinen Geltungsanspruch erheben und damit gemäß Kants aus der Kritik der reinen Vernunft implantierten Kategorientafel als fragwürdigem Ordnungsschema einer ästhetischen Theorie (so sie denn überhaupt eine sein soll) quantitativ bestimmt werden. Ästhetische Urteile erheben nämlich einen Anspruch auf Beistimmung aller als ob sie logische Urteile wären – was hier in erster Linie Erkenntnisurteile und darüber hinaus auch moralische Urteile meint, eine weitere laxe Identifizierung Kants. Sie erheben Anspruch auf subjektive Allgemeinheit, wie Kants zugespitzte Formel für dieses offensichtliche Paradoxon lautet, als ob sie objektive Urteile wären: „Das Geschmacksurteil bestimmt seinen Gegenstand in Ansehung des Wohlgefallens (als Schönheit) mit einem Anspruch auf jedermanns Beistimmung, als ob es objektiv wäre“ (KdU B 136). Man kann vielleicht sagen, daß die Kritik der Urteilskraft ihre argumentative Kraft aus der streng analytischen Entfaltung dieses Paradoxons oder Zirkels bezieht, und daß Kant das Geschmacksurteil gegen dessen (ästhetische) Tradition paradoxiert. Das Paradoxon lautet in Kurzform: einerseits ist das schön, was mir gefällt (ein Gefallen, das sich indifferent zum bloß Angenehmen und damit zum bloß Subjektiven verhält), andererseits gefällt mir das, was schön ist und zwar gerade deswegen, weil es schön ist (hier gründet also das subjektive Gefühl auf der Beschaffenheit des Gegenstandes bzw. scheint es zunächst so). Man befindet sich hier offensichtlich in einem Zirkel, aus dem es weniger herauszukommen gilt als vielmehr auf die rechte Weise hineinzukommen, wie man in Anspielung auf eine Formulierung Heideggers in Sein und Zeit sagen könnte.11 Schönheit ist also weder subjektiv noch objektiv, oder genauer: sie ist zugleich subjektiv (da sie sich auf das Verhältnis einer gegebenen Vorstellung auf unser subjektives Gefühl bezieht) und objektiv (weil sie einen allgemeinen Geltungsanspruch unserer Urteile postuliert, der zumindest nicht völlig unabhängig von der Beschaffenheit der ästhetisch erfahrenen Objekte sein kann). Dieses Paradoxon zieht sich wie ein Riß durch den ästhetischen Teil der Kritik der Urteilskraft, die nichts anderes ist als die temporalisierende Entfaltung der Darstellung und Begründung dieses unmöglichen subjektiv-allgemeinen Geltungsanspruchs ästhetischer Urteile. Es wird im Verlauf des Textes all die Begriffe, die Kant in seinen Antworten in Anspruch nimmt, kontaminieren: Idee, Ideal, Zweck, Gesetz, Regel, Spiel, Harmonie, Gemeinsinn, Mitteilbarkeit etc. Der Versuch der Auflösung dieses Paradoxons führt nun dazu, Schönheit als eine Weise der Relation von Subjekt und Objekt zu verstehen, nämlich als eine harmonische Relation. Die Denkfigur dieser Harmonie oder Einhelligkeit, wie Kant auch sagt, ist deshalb ideologisch ausd/beutbar, weil sie zwar offensichtlich nicht die einzige mögliche (ästhetische) Relation von Subjekt und Objekt ist, dieses aber mit scheinbarer Notwendigkeit behauptet oder zumindest voraussetzt. Alle anderen (möglicherweise) nichtharmonischen Relationen von Subjekt und Objekt werden von Kant aus der Ästhetik bzw. genauer: der Analyse der Ge11 Cf. Martin Heidegger: Sein und Zeit (Niemeyer, Tübingen 1993), hier S. 153.
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schmacksurteile entweder ausgeschlossen oder auf Harmonie reduziert (wie das Erhabene und das Häßliche). Andersherum ist auch nicht einzusehen, warum eine solche Harmonie auf ein ästhetisches Verhältnis von Subjekt und Objekt beschränkt sein sollte. Jede bestimmte Erkenntnis scheint vielmehr (zumindest wenn man Kants Erkenntnismodell ungefragt gelten läßt) bereits eine Harmonie oder ein bestimmtes Zusammenstimmen der Erkenntniskräfte (also Verstand und Einbildungskraft) zu implizieren, ja nichts weiter zu sein als eben diese harmonische Relation, wenn auch unter Maßgabe nicht der reflektierenden, sondern der bestimmenden Urteilskraft eine Subsumption des Besonderen (was Kant zumeist mit der Anschauung gleichsetzt) unter das Allgemeine (das Begriffsvermögen oder der Verstand). „Reflektierend“ meint hier einen Gebrauch der Urteilskraft, der ausgehend vom Einzelnen das Allgemeine sucht, während „bestimmend“ ein Gebrauch der Urteilskraft ist, der ‚einfach‘ das Besondere unter dem Allgemeinen subsumiert. Kant würde sagen, daß die Harmonie in der bestimmenden Urteilskraft nicht frei(willig) zustande kommt, sondern unter dem Diktat des begrifflich identifizierenden Verstandes (cf. KdU B 66), während sie im ästhetischen Urteil auf freie Weise harmoniert. Es ist die Frage, ob diese Differenz zu halten ist. Die Differenz zwischen reflektierender und bestimmender Urteilskraft läge dann nicht darin, daß es nur bei der ersteren eine Reflexion gibt (die gibt es auch bei jeder Subsumption einer Anschauung unter einen allgemeinen Begriff), sondern darin, daß diese Reflexion anders bzw. überhaupt endet. Dann ließe sich die Spezifik der Weise, wie in ästhetischen Urteilen Reflexion im Spiel ist, so verstehen, daß sich die Urteilskraft reflexiv auf ihr normales Funktionieren bezieht, und zwar in der Weise, daß sie dies tut, indem sie (angesichts eines vorgestellten Gegenstands) formal mit sich selbst spielt. Festzuhalten ist noch, daß Kant große Schwierigkeiten hat, seine leitende Abgrenzung von Erkenntnisurteilen und ästhetischen Urteilen durchzuführen bzw. -zuhalten. Zum einen behauptet Kant, daß die Freiheit der Einbildungskraft im ästhetischen Zustand darin bestehe, daß sie „ohne Begriff schematisiert“ (KdU B 146). Dies tut sie jedoch nicht nur im ästhetischen Zustand, sondern auch in jedem Erkenntnisprozeß, wie aus der Kritik der reinen Vernunft12 erhellt, denn sie vermittelt ja gerade zwischen Begriff und Sinnlichkeit, wenn sie schematisiert, und wendet nicht einfach Begriffe auf Anschauungen an, wie Kant fälschlicherweise (falsch in Bezug auf seine eigene Theorie) in der Kritik der Urteilskraft wiederholt zu behaupten scheint. Wenn der Schematismus der Einbildungskraft begrifflich wäre, könnte er eben das nicht leisten, was er doch laut Kant leisten soll: die (zudem richtige) Anwendung der Begriffe auf Anschauungen zu gewährleisten. Zum anderen ist die Bestimmung des freien Spiels der Erkenntniskräfte als ein Zusammenstimmen von Verstand und Einbildungskraft insofern unspezifisch für ästhetische Zustände, als daß auch bei jeder Erkenntnis ein solches Zusammenstimmen vorhanden sein muß. Kant würde wohl darauf erwidern, daß das Zusammenstimmen in beiden Fällen – wenn es denn überhaupt die gleiche Weise des Zu12 Cf. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (hg. von W. Weischedel, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974), Ausgabe B, S. 176-187.
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sammenstimmens ist – auf unterschiedliche Weisen zustande kommt: nämlich im ästhetischen Zustand auf eine freie Weise (es ist vor allem die Einbildungskraft, die frei ist, und zwar irgendwie von begrifflichen Zwängen, wie auch immer das zu verstehen sein soll), während es beim Erkenntnisurteil angeblich einen Zwang gibt, den der Verstand auf die Einbildungskraft ausübt.
VI Eine Leitfrage der hier vorgenommenen Analyse ist die Frage, ob Kant über die Beschaffenheit von schön genannten Gegenständen Auskunft gibt oder zu geben gezwungen ist. In den ersten Paragraphen der Analytik des Schönen verweigert Kant konsequent jede objektive Bestimmung des Schönen13, und zwar mit dem Argument, es beruhe weder auf Eigenschaften der Gegenstände noch auf Begriffen. Während es also zunächst so scheint, als streiche Kant das Objekt aus der ästhetischen Erfahrung, was u.a. eine Nivellierung der Differenz zwischen Kunstwerken und sonstigen Gegenständen zur Konsequenz hätte, an denen wir ästhetische Erfahrungen machen können, so ist er gleichwohl gezwungen, doch etwas über Objekte zu sagen und damit Beispiele einer Regel anzuführen, von der er behauptet, daß diese selber nicht angebbar sei und daher die Beispiele (Zeichnungen à la greque, Laubwerk zu Einfassungen, Papiertapeten, Blumen, musikalische Phantasien, Musik ohne Text (cf. KdU B 49)) nur „als ob“ Erfüllung dieser Regel sein können. Die Frage ist, ob es lediglich eines Einstellungswechsels des Subjektes als einer aktiven Handlung bedarf, um ästhetische Wahrnehmungen oder Erfahrungen machen zu können, der Gegenstand also bloßer Anlaß für ästhetische Erfahrungen ist. Oder ob nicht doch die Beschaffenheit des Gegenstandes nicht beliebig sein kann, sondern eben doch so sein muß, daß sich in der Vorstellung des Gegenstandes zwischen der Einbildungskraft und dem Verstand ein freies Spiel zumindest einstellen kann, was ästhetisch lustvoll gefühlt wird oder aber selbst diese Lust ist. Das würde heißen, daß das je ne sais quoi der ästhetischen Zustände oder Urteile, also die Unmöglichkeit eines adäquaten sprachlichen Ausdrucks derselben oder einer angemessenen Beschreibung ihres Zustandekommens, nicht heißt, daß es nichts im Objekt gibt, was Bedingung der Möglichkeit bestimmter Erfahrungen ist, sondern nur, daß es begrifflich nicht zu fassen und am Objekt begrifflich nicht zu identifizieren ist. Schönheit ist nur zu verstehen als Verhältnis von Subjekt und Objekt. Dies betrifft also nur die Weise unseres Zugriffs auf Objekte, der eben in ästhetischen Bezügen anders ist als in erkennenden: nämlich nicht begrifflich, sondern fühlend bzw. lustvoll. Immer wenn Kant letzteres einzuräumen gezwungen ist (worüber er nie Rechenschaft abgibt), dann betont er die Bedeutung der formalen Beschaffenheit der Gegenstände für das Zustandekommen des ästhetischen Spiels und das ästhetische Geschmacksurteil: „Alle Form der Gegenstände der Sinne (der äußern sowohl als mittelbar auch des innern) 13 Z.B. als sinnliche Vollkommenheit, wie es Teile der rationalistischen Tradition verstanden, z.B. Baumgarten.
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ist entweder Gestalt, oder Spiel: im letztern Falle entweder Spiel der Gestalten (im Raume, die Mimik und der Tanz); oder bloßes Spiel der Empfindungen (in der Zeit). Der Reiz der Farben, oder angenehmer Töne des Instruments, kann hinzukommen, aber die Zeichnung in der ersten und die Komposition in dem letzten machen den eigentlichen Gegenstand des reinen Geschmacksurteils aus [...].“ (KdU B 42/Hervorhebungen von mir, J.S.)
Es kommt also alles auf die Zeichnung oder Komposition der Gegenstände an, auf ihre bloße Form, denn sonst wären die Geschmacksurteile nicht rein, sondern durch Reiz und Rührung kontaminiert. Es ist die Frage, ob die Bestimmung der Form der Gegenstände, auf die sich die ästhetische Erfahrung bezieht, durch Zeichnung und Komposition schon hinreichend ist. Gleichwohl ist hier das Spiel nicht erst im Subjekt, sondern bereits im Gegenstand irgendwie präformiert: z.B. in der Musik als Spiel der Töne. „Form“ dient hier als Gegenbegriff gegen eine ganze Reihe von Bestimmungen dessen, was auf keinen Fall eine Rolle spielen darf für das Zustandekommen ästhetischer Zustände und/oder Urteile: Inhalt, Materie, Zweck, Begriff, Interesse, Reiz, Rührung etc.: die Reihung wiederholt sich in der negativen abgrenzenden Bestimmung der Reinheit des ästhetischen Urteils. So daß nur streng formale Beschaffenheiten des Gegenstandes der an ihm zu machenden ästhetischen Erfahrung ihre Reinheit und damit dessen freie Schönheit zu sichern vermögen. Vielleicht müssen diese formalen Bestimmungen des Gegenstandes der ästhetischen Erfahrung gerade deshalb so vage bleiben, weil sie sich dem Konzept der absoluten Reinheit fügen müssen, das konstitutiv mit der Idee ästhetischer Freiheit verbunden scheint: Freiheit ist dann die Freiheit von allen empirischen, begrifflichen, utilitaristischen etc. (absurderweise vielleicht sogar: allen affektiven/emotionalen) Zusätzen des ästhetischen Zustands. Das freie Wohlgefallen am Schönen bezeichnet Kant auch als „Gunst“, die weder mit der Neigung noch mit dem Begehren zusammenfallen darf (cf. KdU B 15 f.). Denn im Schönen darf die „Freiheit der Einbildungskraft, die in Beobachtung der Gestalt gleichsam spielt“ (KdU B 50) nicht durch Zwecke oder Begriffe von Zwecken eingeschränkt werden. Zwar keine Zwecke, aber doch Zweckmäßigkeit, sei es Zweckmäßigkeit ohne Zweck oder bloß formale Zweckmäßigkeit. Auf die Frage der Zweckmäßigkeit komme ich zurück.
VII Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit der Freiheit der Einbildungskraft und der damit zusammenhängenden Autonomie des Geschmacks(urteils). Während in der Dichtkunst die Einbildungskraft wirklich frei ist, ist sie bei der ästhetischen Betrachtung von schönen Gegenständen an deren Form gebunden, die ein Spiel ermöglichen muß: „Wenn nun im Geschmacksurteile die Einbildungskraft in ihrer Freiheit betrachtet werden muß, so wird sie erstlich nicht reproduktiv, wie sie den Assoziationsgesetzen14 un14 Dieser Begriff der „Assoziationsgesetze“ wirft eine Reihe von Fragen auf: Was ist
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terworfen ist, sondern als produktiv und selbsttätig (als Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen) angenommen; und, ob sie zwar bei der Auffassung eines gegebenen Gegenstandes der Sinne an eine bestimmte Form dieses Objekts gebunden ist und sofern kein freies Spiel (wie im Dichten) hat, so läßt sich doch noch wohl begreifen: daß der Gegenstand ihr gerade eine solche Form in die Hand geben könne, die eine Zusammensetzung des Mannigfaltigen enthält, wie sie die Einbildungskraft, wenn sie sich selbst frei überlassen wäre, in Einstimmung mit der Verstandesgesetzmäßigkeit überhaupt entwerfen würde. Allein daß die Einbildungskraft frei und doch von selbst gesetzmäßig sei, d.i. daß sie eine Autonomie bei sich führe, ist ein Widerspruch. Der Verstand allein gibt das Gesetz.“ (KdU B 69)
Die Möglichkeit der Freiheit der Einbildungskraft wirft also unmittelbar die Frage auf, wer dazu befugt ist, Gesetze zu geben oder zu erlassen. Offensichtlich ist das freie Spiel der Einbildungskraft, wie zweckmäßig und für was auch immer, per se gesetzlos oder gesetzwidrig. Die Produktivität der Einbildungskraft – die man heute ‚Phantasie‘ nennen würde – bildet Vorstellungen, die sich außerhalb des gesetzlichen Rahmens des Verstandes bewegen. Ihre Gesetzlosigkeit muß daher selbst gerahmt bleiben, es müssen Grenzen gezogen werden, die das Reservat, in dem die Einbildungskraft frei (und womöglich folgenlos) spielen darf, konstituieren. Kant hat die Phantasie (die frei spielende Einbildungskraft) auf die Kunst beschränkt und damit die Wissenschaft bzw. Metaphysik von der schwärmenden Vernunft gereinigt und auf Verstand und Erfahrung gegründet. Kunst unterscheidet Kant einerseits vom Handwerk, andererseits von der Wissenschaft. Die freie Kunst ist ein Spiel, das nur als Beschäftigung, die für sich selbst angenehm ist, zweckmäßig ausfallen (gelingen) kann (cf. KdU B 175). Es gibt weder eine Wissenschaft des Schönen noch eine schöne Wissenschaft, während aber die Wissenschaft sehr wohl ein Hilfsmittel für schöne Kunst sein kann. Allerdings findet das Schöne seine Grenze in den „eigentlichen Phantasien, womit sich das Gemüt unterhält“, indem die Einbildungskraft „zu dichten Anlaß bekommt“. Die veränderlichen Gestalten eines Kaminfeuers und eines rieselnden Baches sind nämlich überraschender Weise (denn sie sind reines Formenspiel) nicht schön, sondern reizvoll, also mit Empirischem vermischt (cf. KdU B 73). Das folgenlose Spiel der Einbildungskraft im schönen (durch die ästhetische Differenz abgesteckten) Reservat ist die Begründung für die Möglichkeit der ästhetischen Autonomie. Denn nur der Verstand kann sich selbst Gesetze geben, nicht aber die Einbildungskraft. Gleichwohl ist das Subjekt in seinen Geschmacksurteilen durchaus autonom gegenüber anderen Subjekten, auch wenn dies die diesen zugrundeliegende Tätigkeit der Einbildungskraft nicht ist: „[D]iese Allgemeingültigkeit [des ästhetischen Urteils, J.S.] [soll] sich nicht auf Stimmensammlung und Herumfragen bei andern, wegen ihrer Art zu empfinden, gründen, das? Sind diese empirisch oder apriorisch? Im Subjekt bzw. seinen Vorstellungen oder im Objekt? Sind diese Gesetze notwendig und in jedem Fall gültig? Ist das Subjekt bzw. dessen Einbildungskraft passiv in der Anwendung dieser Gesetze? Oder bestimmen diese Gesetze auch deren Aktivität?
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sondern gleichsam auf einer Autonomie des über das Gefühl der Lust (an der gegebenen Vorstellung) urteilenden Subjekts, d.i. auf seinem eigenen Geschmacke beruhen, gleichwohl aber doch auch nicht von Begriffen abgeleitet werden [...].“ (KdU B 135) „Der Geschmack macht bloß auf Autonomie Anspruch. Fremde Urteile sich zum Bestimmungsgrunde des seinigen zu machen, wäre Heteronomie.“ (KdU B 137)
Man läßt sich von seinen Urteilen über die Schönheit durch die Urteile Anderer nicht abbringen, denn auch die Mehrheit des Publikums kann sich offenbar in ihren Urteilen irren.15 Auf der anderen Seite sind Geschmacksurteile durch die Einheit ihrer Praxis konstitutiv auf Kollektive bezogen, und zwar konstitutiv sowohl für diese Urteile selbst als auch für die Kollektive, die sich durch eine gewisse Gleichförmigkeit dieser Urteile definieren. Die Allgemeingültigkeit der ästhetischen Urteile gründet auf der Autonomie des über das Gefühl urteilenden Subjekts, d.i. auf seinem eigenen Geschmack. Daraus folgt die logische Eigentümlichkeit: 1. Allgemeinheit einzelner Urteile und 2. Notwendigkeit (die jederzeit auf Gründen a priori beruhen muß), die aber doch von keinen Beweisgründen a priori abhängt. Es bleibt die Frage, wie das zu denken ist (cf. KdU B 135). Autonom ist also das Subjekt, wenn es seine Urteile auf sein Gefühl angesichts der Vorstellungen von Gegenständen stützt. Dieses Gefühl ist aber dasselbe wie die Harmonie oder das freie Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand, die bzw. das die Allgemeingültigkeit ästhetischer Urteile a priori sichern soll. Kant begründet also die Autonomie des ästhetisch urteilenden Subjekts mit der Autonomie des Geschmacks im Subjekt. Geschmack dagegen wird über den Gemeinsinn erläutert16, der ein allen menschlichen Subjekten gemeinsamer Sinn sein soll (ein „sensus communis aestheticus“/KdU B 160 (Fußnote)), der vom gemeinen Verstand differiert und über den wir a priori verfügen, auch wenn seine Ausbildung der übenden Betätigung bedürfen sollte. Dieses Verhältnis von apriorischer Bestimmung des Geschmacks und der Realität seiner praktischen Ausübung ist hier noch weiter zu befragen. Kant muß ein apriorisches Prinzip unterstellen, das im Geschmack sich irgendwie ‚ausdrückt‘ oder zumindest zeigt, um die Analyse der Geschmacksurteile in sein transzendentalphilosophisches Begründungsunternehmen17 einzugliedern (dazu später). Zum Problem wird dabei die reale Dif15 Das wirft eine ganze Reihe von Fragen auf: was besagt diese immer gegebene Möglichkeit? Was heißt hier irren? Was ist der Maßstab für die Richtigkeit ästhetischer Urteile? (cf. KdU B 136 f.) 16 Cf. vor allem §§ 20-22 und 40. 17 Die transzendentale Kritik soll nämlich „das subjektive Prinzip des Geschmacks, als ein Prinzip a priori der Urteilskraft, entwickeln und rechtfertigen“ (KdU B 144). Auch ein solches subjektives Prinzip a priori bedarf einer Deduktion (cf. KdU B 148), wobei der Leitfaden der Deduktion die formale Eigentümlichkeit bzw. die Betrachtung der logischen Form ästhetischer Urteile ist (cf. KdU B 146). – In § 36 stellt Kant fest, daß es wenigstens ein subjektives Prinzip a priori geben muß, welches Geschmacksurteilen zum Grunde liegt, wenn schon kein objektives möglich ist. Die Aufgabe ist also zu zeigen: Wie sind Geschmacksurteile möglich? Dies betrifft die Prinzipien a priori der reinen Urteilskraft, die sich in ästhetischen Urteilen deshalb zeigen, weil
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ferenz der Geschmacksurteile, die nicht in ihren Geltungsansprüchen zu liegen scheint (wie Kant ja auch richtig ausführt), sondern in den Objekten, über die geurteilt wird. Welche Rolle spielen Kultur, Bildung, Empirisches, Übung etc. für die Praxis des ästhetischen Urteilens?18 Kants Antwort darauf ist paradox, da er einerseits nicht alles Nichtapriorische per Dekret aus dem Geschmack ausschließen kann, wenn er nicht eine sehr schiefe und verkürzte Beschreibung desselben geben will, und andererseits den apriorischen Charakter der Geschmacksurteile braucht, um sie der Transzendentalphilosophie einzufügen.19 In der Konsequenz des Kantischen Denkansatzes liegt es, nicht nur Pluralität und apriorische Begründung der Geschmacksurteile zusammenzudenken, sondern paradoxerweise die apriorische Begründung der Geschmacksurteile zur notwendigen Bedingung ihrer Pluralität zu machen: „Wenn also das Geschmacksurteil [...] notwendig als pluralistisch gelten muß, wenn man es als ein solches würdigt, welches zugleich verlangen darf, daß jedermann ihm beipflichten soll: so muß ihm irgend ein (es sei objektives oder subjektives) Prinzip a priori zum Grunde liegen, zu welchem man durch Aufspähung empirischer Gesetze der Gemütsveränderungen niemals gelangen kann [...].“ (KdU B 130)
Die transzendentalphilosophische Voraussetzung der Geschmacksurteile ist eine unmittelbare Verknüpfung von Vorstellung (sinnlicher Empfindung) und Wohlgefallen (subjektivem Gefühl), die „eine transzendentale Erörterung dieses Vermögens“ möglich und „zur Kritik des Geschmacks wesentlich gehörig“ macht (KdU B 130 f.). Diese Verbindung ist zugleich notwendig, weil apriorisch, und zufällig bzw. frei, weil bloß subjektiv. sie hier für sich selbst subjektiv Gegenstand sowohl als Gesetz sind (cf. KdU B 148). Anders formuliert lautet die Aufgabe, wie sich die Notwendigkeit der mit einer Vorstellung verbundenen Lust beurteilen läßt. Hierzu stellt Kant fest, daß Geschmacksurteile synthetische Urteile sind, da sie Lust als Prädikat (also doch!) zur Vorstellung eines Gegenstandes dazu tun, auch wenn dies keine Erkenntnis ist. Das Prädikat der Schönheit ist zwar empirisch, gleichwohl will das ästhetische Urteil durch die angesinnte Zustimmung für ein Urteil a priori gelten. Daher gehört die Untersuchung der ästhetischen Urteile zu der Aufgabe der Transzendentalphilosophie, deren allgemeine Fragestellung bekanntlich lautet: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? 18 In der Tat gewinnt der Geschmack durch Erfahrung: „Es gibt gar keinen Gebrauch unserer Kräfte, so frei er auch sein mag, und selbst der Vernunft (die alle ihre Urteile aus der gemeinschaftlichen Quelle a priori schöpfen muß), welcher, wenn jedes Subjekt immer gänzlich von der rohen Anlage seines Naturells anfangen sollte, nicht in fehlerhafte Versuche geraten würde, wenn nicht andere mit den ihrigen ihm vorangegangen wären, nicht um die Nachfolgenden zu bloßen Nachahmern zu machen, sondern durch ihr Verfahren andere auf die Spur zu bringen, um die Prinzipien in sich selbst zu suchen, und so ihren eigenen, oft besseren, Gang zu nehmen“ (KdU B 138). 19 So scheint die Klassik der (apriorisch fundierten) Autonomie des ästhetisch urteilenden Subjektes zu widersprechen, da sie nämlich Quellen des Geschmacks a posteriori anzeigt (cf. KdU B 138).
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Unsere Praxis ist bei Kant nichts anderes als die Subsumption des situativ gegebenen Besonderen unter den allgemeinen Begriff. Diese Praxis der Subsumption kann theoretisch (erkennend) sein, praktisch oder ethisch und eben ästhetisch. Die ästhetische Subsumption ist nicht die eines Einzelnen (eine einzelne Anschauung oder Vorstellung eines Gegenstandes) unter einen bestimmten Begriff (das wäre ein Effekt der bestimmenden Urteilskraft), sondern „des Vermögens der Anschauungen oder Darstellungen (d.i. der Einbildungskraft) unter das Vermögen der Begriffe (d.i. den Verstand), sofern das erstere in seiner Freiheit zum letzteren in seiner Gesetzmäßigkeit zusammenstimmt“ (KdU B 146). Den Vorgang dieser ästhetischen Subsumption bezeichnet Kant auch als „reflektierende Urteilskraft“, d.h. eine solche Verwendung unserer Erkenntniskräfte, die vom Einzelnen ausgehend den passenden Begriff sucht. Man kann mit guten Gründen fragen, inwieweit es sich bei dieser Bewegung noch um ein Urteil handelt: was ist hier noch Urteil zu nennen, wenn es keine Subsumption eines Besonderen unters Allgemeine gibt, sondern wenn man ausgehend vom Einzelnen das Allgemeine – die Regel – sucht? Wenn das Allgemeine zum Einzelnen passen soll? Allerdings scheint auch der normale Gebrauch unserer Erkenntniskräfte nicht einfach in Subsumptionen des Besonderen unter das Allgemeine zu bestehen, sondern in einer dialektischen Bewegung, in der sich Besonderes und Allgemeines wechselseitig bestimmen. Worin liegt dann aber noch die Differenz zum ästhetischen Gebrauch unserer Erkenntniskräfte? Vielleicht darin, daß diese Bewegung nicht zum Abschluß kommt und also offen gehalten wird? Oder darin, daß sie vom Einzelnen und nicht vom Besonderem (das ja schon begrifflich nur ein Fall des Allgemeinen ist) ausgeht? Kant spricht davon, daß das Geschmacksurteil auf der subjektiven formalen Bedingung eines Urteils überhaupt gründet. Dies erläutert er so, daß im ästhetischen Zustand sich so etwas zeigt wie Urteilskraft überhaupt. Das wäre ihr bloßes Funktionieren, das sich dann rein formal bestimmte: „Die subjektive Bedingung aller Urteile ist das Vermögen zu urteilen selbst, oder die Urteilskraft“ (KdU B 145). Urteilskraft überhaupt erfordert Zusammenstimmung von Einbildungskraft und Verstand, die aber in deren ästhetischer Relation irgendwie anders gegeben sein muß, nämlich auf eine formale Weise. Weiter heißt es: „Weil nun dem Urteile hier kein Begriff vom Objekte zum Grunde liegt, so kann es nur in der Subsumtion der Einbildungskraft selbst (bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird) unter die Bedingungen, daß der Verstand überhaupt von der Anschauung zu Begriffen gelangt, bestehen. D.i. weil eben darin, daß die Einbildungskraft ohne Begriff schematisiert, die Freiheit derselben besteht: so muß das Geschmacksurteil auf einer bloßen Empfindung der sich wechselseitig belebenden Einbildungskraft in ihrer Freiheit, und des Verstandes mit seiner Gesetzmäßigkeit, also auf einem Gefühle beruhen, das den Gegenstand nach der Zweckmäßigkeit der Vorstellung (wodurch ein Gegenstand gegeben wird) auf die Beförderung des Erkenntnisvermögens in ihrem freien Spiele beurteilen läßt.“ (KdU B 145 f.)
Es werden also nicht einzelne Anschauungen unter Begriffe subsumiert, sondern das, was Kant das „Vermögen der Einbildungskraft“ nennt, unter das Vermögen
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der Begriffe (Verstand). Es ist aber unklar, wie sich das zu der Erkenntnis verhält, daß wir ästhetische Urteile immer nur über einzelne Gegenstände bzw. deren Vorstellung fällen. In welcher Weise zeigt sich in einer solchen einzelnen Vorstellung vielleicht ja exemplarisch das bloß formale Funktionieren der Urteilskraft? In der Tat ist es schwer, diese beiden Bestimmungen ästhetischer Urteile zugleich zu denken: einerseits ihre analytische Einzelheit, andererseits ihre transzendentale Funktion.
VIII Ich komme jetzt zur Diskussion der Zweckmäßigkeit. Der Weg vom schönen Objekt zum lustfühlenden Subjekt wird durch eine Kette von Zweckmäßigkeiten gesichert, die sich zunehmend und problematischerweise mit einer ideologischen Funktion auflädt. Zweckmäßig ist zunächst der Gegenstand für eine Vorstellung, diese Vorstellung dann für eine an ihr gefühlte Lust bzw. deren Selbsterhaltung, diese Lust wiederum für die wechselseitige Belebung der Erkenntniskräfte, aufgrunddessen wir wiederum der Beschaffenheit des Gegenstands, dem wir Schönheit zusprechen, unterstellen, daß er absichtlich (und zwar real absichtlich in der Kunst, hypothetisch absichtlich in der Natur) und zweckvoll genau so beschaffen ist wie er ist. Nichts anderes zeichnet die Schönheit von Gegenständen aus als dieses „als ob“ sie für uns – d.h. für den Menschen und seine Lust – gemacht seien. Kant schreibt: „In einer Kritik der Urteilskraft ist der Teil, welcher die ästhetische Urteilskraft enthält, ihr wesentlich angehörig, weil diese allein ein Prinzip enthält, welches die Urteilskraft völlig a priori ihrer Reflexion über die Natur zum Grunde legt, nämlich das einer formalen Zweckmäßigkeit der Natur nach ihren besonderen (empirischen) Gesetzen für unser Erkenntnisvermögen, ohne welche sich der Verstand in sie nicht finden könnte [...].“ (KdU B L f.)
In der ersten Einleitung zur Kritik der Urteilskraft heißt es, daß die Natur für uns zweckmäßig ist, „so fern diese sich nach unserer Urteilskraft richtet“, so daß es den „Begriff von einer Zweckmäßigkeit der Natur zum Behuf unseres Vermögens sein, sie zu erkennen, so fern dazu erfodert wird, daß wir das Besondere als unter dem Allgemeinen enthalten beurteilen und es unter den Begriff einer Natur subsumieren können“ (KdU 16).20 Die Urteilskraft setzt eine formale Zweckmäßigkeit der Natur a priori voraus und betrachtet damit die Natur, als wäre sie Kunst (cf. KdU 17). Denn während Kunst immer absichtsvoll hervorgebracht wird, läßt sich der Natur ein Zweck bloß hypothetisch (oder metaphorisch) unterstellen: eben dies ist die tiefere Bedeutung all der Passagen, in denen Kant vom „als ob“-Charakter u.a. der ästhetischen Urteile spricht (nämlich als ob diese objektive Urteile wären) (cf. KdU 18). So müssen z.B. „gewisse Naturdinge so betrachtet werden können, als ob sie Produkte einer Ursache sein, deren Kausalität nur durch eine Vorstellung des Objekts bestimmt werden könnte“ (KdU 46). Daher ist die Betrachtung 20 Zitate aus der ersten Einleitung werden nach der Paginierung der Suhrkampausgabe (cf. Fußnote 2) unter [KdU] belegt.
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der Natur, als wäre sie Kunst, bloß ein „Idee“, die unserer Naturerforschung zum Prinzip dient (cf. KdU 18). Die in den ästhetischen Zuständen über sich selbst reflektierende Urteilskraft setzt voraus, daß die Natur selbst ihre transzendentalen Gesetze „spezifiziere“ nach dem Prinzip „der Angemessenheit zum Vermögen der Urteilskraft selbst“ (KdU 28). Daraus „entspringt“ nun „der Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur“ für die reflektierende Urteilskraft, „indem der Zweck gar nicht im Objekt, sondern lediglich im Subjekt und zwar dessen bloßem Vermögen zu reflektieren gesetzt wird“ (KdU 29). Daher ist das ästhetische Urteil immer ein Reflexionsurteil, denn die Beurteilung der Schönheit ist nichts anderes als der selbstreflexive Gebrauch der Urteilskraft (cf. KdU 38), wobei Reflektieren hier Vergleichen meint: „Reflektieren (Überlegen) aber ist: gegebene Vorstellungen entweder mit andern, oder mit seinem Erkenntnisvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammen zu halten“ (KdU 24).21 Die Zweckmäßigkeit der Natur ist jedoch „gar kein konstitutiver Begriff der Erfahrung, keine Bestimmung einer Erscheinung“ (KdU 33), sondern zeigt sich nur als die oder in der Reflexion der Urteilskraft selbst, d.h. über das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem als solchem (das dann z.B. aus gewaltsamen oder freien Gründen harmonisch sein kann). Im ästhetischen Reflexionsurteil ist die Urteilskraft a priori gesetzgebend und beweist so ihre (nicht objektive bzw. objektiv begründbare, sondern subjektive) Autonomie als oberes Erkenntnisvermögen, die aber eigentlich „Heautonomie“ heißen müßte, da die Urteilskraft weder der Natur (wie der Verstand) noch der Freiheit (wie die Vernunft) das Gesetz gibt, sondern allein sich selbst (cf. KdU 39). In der zweiten Einleitung der Kritik der Urteilskraft wird die subjektive Zweckmäßigkeit des Naturschönen ganz ähnlich beschrieben und genauer erläutert. Kant unterscheidet zwei Funktionsweisen der Urteilskraft, nämlich entweder bestimmend zu sein (das vor allem in ihrem Alltagsgebrauch) oder aber reflektierend (in ihrem ästhetischen Gebrauch): „Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, (auch, wenn sie, als transzendentale Urteilskraft, a priori die Bedingungen angibt, welchen gemäß allein unter jenem Allgemeinen subsumiert werden kann) bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.“ (KdU B XXV)22 21 Hier zeigt sich also einmal mehr, daß der von mir in dieser Arbeit angesetzte Reflexionsbegriff nicht der Kantische ist. 22 Diese Differenz im Vernunftgebrauch ist wohl nicht so sehr die zwischen Erkenntnis und ästhetischem Spiel (wie Kant nahe legt), sondern zwischen dem alltäglichen unreflektierten Verstandesgebrauch, der immer alles schon kennt (=richtig unters Allgemeine subsumiert) und dem nichts fremd ist auf der einen Seite, und einem selbstreflexiven Verstandesgebrauch, der dem jeweiligen Besonderen oder Einzelnen gerecht zu werden versucht auf der anderen Seite. Dann wäre die ästhetisch verfahrende Urteilskraft ein Modell für einen besseren, weil reflexiv auf seine Tätigkeit der Subsumption gerichteten Verstandesgebrauch. Hier gründet wohl Adornos For-
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Die reflektierende Urteilskraft gibt sich selbst ein transzendentales Prinzip als Gesetz, das sie sich nur aus sich selbst geben kann. Dieses Prinzip schreibt der Natur eine Zweckmäßigkeit zu, „als ob gleichfalls ein Verstand (wenn gleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein Sys-tem der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte“ (KdU B XXVII). Dieser Als-ob-Charakter der Natur, der sich im Schönen offenbart, sichert und fundiert erst die transzendentalphilosophische Gründung der Erscheinungen und ihrer Gesetzmäßigkeit im Subjekt, denn diese Lust oder dieses Wohlgefallen, die/das wir am Schönen fühlen, ist die gefühlte Angemessenheit unserer als Urteilskraft organisierten Erkenntniskräfte mit den Objekten der Welt bzw. deren Ordnung. Das Prinzip der Urteilskraft ist „die Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit“, in dem die Natur so vorgestellt wird, „als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte“. Die Zweckmäßigkeit der Natur zeigt sich also darin, daß sie sich durch den Verstand überhaupt unter Regeln und Gesetze bringen läßt. Diese Zweckmäßigkeit ist aber bloß hypothetisch in den Objekten und keine real zu beweisende Teleologie der Natur. Daraus folgt, daß die „Zweckmäßigkeit der Natur [...] ein besonderer Begriff a priori [ist], der lediglich in der reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat“ (KdU B XXVIII). Die Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Erkenntnisvermögen ist also ein transzendentales Prinzip, das selbst nicht einfach erkannt, sondern nur ästhetisch erfahren werden kann bzw. muß, auch wenn Kant selbst scheinbar über ein ausreichend fundiertes transzendentales Wissen verfügt, um diese Funktion der ästhetisch verfahrenden Urteilskraft trotz ihrer angeblichen bloßen Subjektivität objektiv beschreiben zu können. Hier zeigt sich einmal mehr die Funktion philosophisch-ästhetischer Theorien für ein reflexives und/oder beschreibendes Selbstverhältnis von Kulturen oder Gesellschaften. Wie auch immer: jedenfalls glaubt Kant, die transzendentale Fundierung des Geschmacksurteils nicht nur beweisen zu müssen, sondern auch beweisen zu können, und zwar mittels seiner grundlegenden philosophischen Technik: der Deduktion der Weise, wie uns Phänomene oder Erscheinungen gegeben sind, aus transzendentalen Prinzipien, die zumindest für Kant apriorischen Charakter haben.23 Die Deduktion der Geschmacksurteile ist also laut Kant der entscheidende Teil seiner Kritik der Urteilskraft: „Also ist die Zweckmäßigkeit der Natur für unsere Erkenntnisvermögen und ihren Gebrauch, welche offenbar aus ihnen hervorleuchtet24, ein transzendentales Prinzip der Urteile, und bedarf also auch einer transzendentalen Deduktion, vermittelst deren der Grund, so zu urteilen, in den Erkenntnisquellen a priori aufgesucht werden muß“ (KdU B XXXI). derung, auch außerhalb des Ästhetischen Gerechtigkeit gegenüber dem Nicht-Identischen zu üben. 23 Es ist vielleicht sehr erhellend, die Differenz von Kant und Hegel oder den Schritt zwischen ihnen in der jeweiligen Arbeitsweise festzumachen: Kants Methode ist die deduktive Auflösung der Antinomien der Vernunft, während Hegel sie dynamisiert, indem er sie dialektisch beschreibt. Cf. hierzu Dieter Henrich: Kant und Hegel. Versuch zur Vereinigung ihrer Grundgedanken (in: ders.: Selbstverhältnisse, Reclam, Stuttgart 1982, S. 173-208). 24 Was für eine Art Leuchten ist das? Muß man an Heideggers „Lichtung“ denken?
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Für Kant kann die Philosophie also nur dann ihrer Fundierungsfunktion gerecht werden, wenn sie sich deduktiv25 der Grundlagen der Vernunft und des Vernunftgebrauchs versichert. Die Reflexion auf die Zweckmäßigkeit der Natur soll die Lücke füllen, die Kant in seinem System zwischen Natur und Freiheit gesehen hat: „Dieser transzendentale Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur ist nun weder ein Naturbegriff, noch ein Freiheitsbegriff, weil er gar nichts dem Objekte (der Natur) beilegt, sondern nur die einzige Art, die wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen, vorstellt, folglich [muß er] ein subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft [sein].“ (KdU B XXXIV/Hervorhebung von mir, J.S.)
Auf dieses „Müssen“ komme ich gleich zurück. Kant versucht in der Tat, das schwierige Verhältnis zwischen unserer inneren natürlichen Vernunftanlage und der uns äußerlich erscheinenden Natur zu denken. Es bedarf für die Angemessenheit von innerer und äußerer Natur einer gewissen Ordnung der äußeren Natur, denn würde sie völlig willkürlich erscheinen, könnten wir sie nicht unter Gesetze bringen und also auch nicht erkennen. Aber wäre es vorstellbar, daß wir ein Verstandesvermögen hätten, das versucht, dem ihm äußerlich Erscheinenden Gesetze unterzulegen, wenn die Natur sich nie unter solche Gesetze bringen ließe, d.h. uns als zufällig erschiene? Das gesetzgebende Vermögen des Verstandes und die Beschaffenheit der Natur in der Weise, in der wir sie wahrnehmen, können nur in wechselseitiger Relation, also (ko-)evolutionär, entstanden sein: beiderlei Ordnungen bedingen sich wechselseitig (wenn auch nicht völlig symmetrisch: die Entwicklung der Welt hängt wohl kaum von der Weise ab, wie der Mensch sie wahrnimmt). Es ist nicht vorstellbar, daß der Verstand ein gesetzgebendes Vermögen sein kann, wenn nicht die Erscheinungen der Natur mindestens gewisse objektive Regelmäßigkeiten aufweisen würden. Kant schreibt: „Der Verstand ist zwar a priori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur, ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein könnte: aber er bedarf doch auch überdem noch einer gewissen Ordnung der Natur, in den besonderen Regeln derselben, die ihm nur empirisch bekannt werden können, und die in Ansehung seiner zufällig sind.“ (KdU B XXXV/Hervorhebung von mir, J.S.)
Die Zweckmäßigkeit der natürlichen Ordnung für den Verstand kann nicht von diesem gegründet werden, da seine Verfahrensweise selbst auf der Angemessenheit von Subjekt und Welt beruht. Die Zweckmäßigkeit oder Angemessenheit der Natur für unseren Verstand muß also außerhalb seiner gründen: in der lustvollen Erfahrung des Schönen. Auf Verstand (und wahrscheinlich nicht einmal selbstreflexive Vernunft) allein kann sich das transzendentale Subjekt mit seiner Erkennt25 Es ist die Frage, wie sich dieses deduktive Vorgehen zu einer systematisch angelegten Reflexion verhält bzw. zum Verfahren von Descartes, die erste Philosophie meditativ in der (letztlich wahnsinnigen) Fiktion eines absoluten Zweifels im Durchgang durch diesen auf der Gewißheit des ego cogito zu gründen.
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nisweise nicht fundieren. Hier zeigt sich eine Revision des Kantischen Projektes, die nur vordergründig in einer Integration der Lust am Schönen in das transzendentale System der beiden anderen Kritiken besteht. Der Rückgriff auf das Schöne und unsere Gefühle angesichts des Schönen erfolgt nämlich, weil sich auch durch einen kritischen Bezug auf Vernunft auf dieser allein nichts Positives gründen läßt. Aus dieser (von Kant selbst hier nicht explizit formulierten) Einsicht darein, daß sein ganzes früheres Projekt einer kritischen philosophischen Selbstgründung der Vernunft so nicht durchführbar ist, erhellt Kants später Rückgriff auf Schönheit zur Sicherung seines transzendentalen Projektes. Dessen Voraussetzung, die es mit dem Rationalismus trotz aller kritischen Abhebung von demselben teilt, besteht in der Annahme, daß Subjekt und Welt beide vernünftig verfaßt sind, worauf sich überhaupt erst die Möglichkeit wahrer Vernunfterkenntnisse stützt. Nur die Urteilskraft, deren reines Funktionieren sich in der ästhetischen Erfahrung fühlen läßt, kann die rationalistischen Voraussetzungen der Transzendentalphilosophie – nämlich die angemessene Erkennbarkeit der Objekte der Welt durch das menschliche Subjekt – begründen. Denn die Erkenntnis dieser Angemessenheit kann selbst kein Resultat des Verstandesgebrauchs sein, sondern muß (sinnlich) erfahren werden, da sie dem Verstandesgebrauch a priori eingeschrieben ist: „Diese Zusammenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen wird von der Urteilskraft, zum Behuf ihrer Reflexion über dieselbe, nach ihren empirischen Gesetzen, a priori vorausgesetzt; indem sie der Verstand zugleich objektiv als zufällig anerkennt, und bloß die Urteilskraft sie der Natur als transzendentale Zweckmäßigkeit (in Beziehung auf das Erkenntnisvermögen des Subjekts) beilegt, weil wir, ohne diese vorauszusetzen, keine Ordnung der Natur nach empirischen Gesetzen, mithin keinen Leitfaden für eine mit diesen nach aller ihrer Mannigfaltigkeit anzustellende Erfahrung und Nachforschung derselben haben würden.“ (KdU B XXXVI/Hervorhebung von mir, J.S.) „Die gedachte Übereinstimmung der Natur in der Mannigfaltigkeit ihrer besonderen Gesetze zu unserem Bedürfnisse, Allgemeinheit der Prinzipien für sie aufzufinden, muß, nach aller unserer Einsicht, als zufällig beurteilt werden, gleichwohl aber doch, für unser Verstandesbedürfnis, als unentbehrlich, mithin als Zweckmäßigkeit, wodurch die Natur mit unserer, aber nur auf Erkenntnis gerichteten, Absicht übereinstimmt.“ (KdU B XXXVIII/alle Hervorhebungen von mir, J.S.)
Diese Übereinstimmung, die Kant hier als zufällig bezeichnet, kann so zufällig nicht sein: ihre kontingente Notwendigkeit ließe sich wohl in der Idee einer Koevolution von Mensch und Natur denken. Zufällig kann sie nur erscheinen, wenn man den Gegensatz von kausaler Notwendigkeit und vernünftiger Freiheit ohne die Möglichkeit einer Vermittlung in den Erscheinungen denkt, wie Kant das zu tun gezwungen war. Zwischen der (wenn auch idealistisch unterstellten) Kausalität der Natur und der menschlichen Freiheit qua Vernunft läßt sich Kant zufolge nur vermitteln, wenn man auf das Übersinnliche rekurriert: das gesamte kritische Geschäft Kants läßt sich als der Versuch verstehen, den vernünftigen und aus Vernunftgründen notwendigen Zugriff auf Übersinnliches (oder übersinnliche Ideen) selbst vernünftig zu regeln und so die Metaphysik als Wissenschaft neu zu
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fundieren. Denn die Vernunft gerät bekanntlich ins Schwärmen, wenn man sie unkritisch gebraucht. Nur das Gefühl der Lust sichert also die Angemessenheit von Subjekt und Welt, und zwar „durch die Beziehung des Objekts auf das Erkenntnisvermögen“ (KdU B XXXIX). Diese unterstellte Zweckmäßigkeit der Natur für die Erkenntniskräfte des menschlichen Subjekts markiert historisch die Schwelle zwischen vorkantischem Rationalismus und nachkantischem Idealismus. Über den Rationalismus weist hinaus, daß das Schöne in der Perspektive des subjektiven Zugriffs analysiert wird. Auf den Idealismus hin weist die subjektgründende Funktion des Schönen und die Interpretation des subjektiven Gewinns am Schönen als die Erfahrung der Zweckmäßigkeit der Dinge für uns. Kant selbst nennt die hypothetische Zweckmäßigkeit der Natur „idealisch“ (cf. KdU B XLI). Es ist dabei ein „Geheiß unserer Urteilskraft, nach dem Prinzip der Angemessenheit der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen zu verfahren, so weit es reicht, ohne (weil es keine bestimmende Urteilskraft ist, die uns die Regel gibt) auszumachen, ob es irgendwo seine Grenzen habe, oder nicht“ (KdU B XLI). Die Zweckmäßigkeit ist selbst das Subjektive: „Die Zweckmäßigkeit also, die vor26 dem Erkenntnisse eines Objekts vorhergeht, ja sogar, ohne die Vorstellung desselben zu einem Erkenntnis brauchen zu wollen, gleichwohl mit ihr unmittelbar verbunden wird, ist das Subjektive derselben, was gar kein Erkenntnisstück werden kann“ (KdU B XLIII). Die Lust ist selbst eine ästhetische Vorstellung der Zweckmäßigkeit, und diese „Lust kann nichts anders als die Angemessenheit desselben zu den Erkenntnisvermögen [sein], die in der reflektierenden Urteilskraft im Spiel sind, und sofern sie darin sind, also bloß eine subjektive formale Zweckmäßigkeit des Objekts ausdrücken“ (KdU B LIV). Der Gegenstand, an dessen Vorstellung sich die Urteilskraft lustvoll und zugleich selbstreflexiv betätigt, muß durch seine Form diese ästhetische Erfahrung, die an ihm gemacht werden kann, ermöglichen, vielleicht sogar (mindestens im Erhabenen, wenn auch dort gerade durch seine Unförmigkeit) erzwingen. Auch wenn Kant nicht müde wird zu betonen, Schönheit sei entgegen der rationalistischen Tradition keineswegs irgendwie objektiv bestimmbar oder regelgeleitet herstellbar, so muß er doch bestimmte Gegenstände auszeichnen, die eben durch ihre Beschaffenheit zumindest sich eher als andere dazu eignen, an ihnen eine ästhetische Lust zu erfahren, und zwar notwendigerweise: „Wessen Gegenstandes Form (nicht das Materielle seiner Vorstellung, als Empfindung [also nicht seine sinnliche Anschauung, J.S.]) in der bloßen Reflexion über dieselbe (ohne Absicht auf einen von ihm zu erwerbenden Begriff) als der Grund einer Lust an der Vorstellung eines solchen Objekts beurteilt wird: mit dessen Vorstellung wird diese Lust auch als notwendig verbunden geurteilt, folglich als nicht bloß für das Subjekt, welches diese Form auffaßt, sondern für jeden Urteilenden überhaupt. Der Gegenstand heißt alsdann schön; und das Vermögen, durch eine solche Lust (folglich auch allgemeingültig) zu urteilen, der Geschmack.“ (KdU B XLIV f./Hervorhebung von mir, J.S.)
Auf der anderen Seite betont Kant immer wieder, daß die Übereinstimmung von 26 Die Frage ist, wie dieses „vor“ zu verstehen ist: Logisch? Strukturell? Apriorisch? Temporal? Transzendental?
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Gegenstand und Vermögen zufällig ist (was ich durch koevolutionäre Kontingenz zu er- oder übersetzen versuchte) und nicht notwendig (daß sich zumindest ihre Notwendigkeit aus menschlicher Perspektive nur als zufällig darstellt): „[...] so ist es allein die Gesetzmäßigkeit, im empirischen Gebrauche der Urteilskraft überhaupt (Einheit der Einbildungskraft mit dem Verstande) in dem Subjekte, mit der die Vorstellung des Objekts in der Reflexion, deren Bedingungen a priori allgemein gelten, zusammen stimmt; und da diese Zusammenstimmung des Gegenstandes mit den Vermögen des Subjekts zufällig ist, so bewirkt sie die Vorstellung einer Zweckmäßigkeit desselben in Ansehung der Erkenntnisvermögen des Subjekts.“ (KdU B XLV/Hervorhebung von mir, J.S.)
Hier scheint es so, als würde gerade die Zufälligkeit der Zusammenstimmung der Beschaffenheit des Gegenstands mit den Vermögen des Subjekts deren Zweckmäßigkeit sichern. Auf diesen Punkt komme ich im letzten Abschnitt (XII) dieses Kapitels zurück. Es wird von Kant an dieser Stelle nicht weiter reflektiert, wie sich dieser Widerspruch zwischen Notwendigkeit oder Nötigung zu ästhetischen Erfahrungen durch die Form schöner Objekte und der subjektiven Freiheit, mit der die Erkenntniskräfte zur Übereinstimmung gelangen sollen, wenn die Harmonie schön (und zweckvoll) sein soll, auflösen läßt. Vielleicht schreibt sich hier nur das grundlegende Paradoxon Kants fort, das aus dem Versuch resultiert, das Verhältnis von Gesetz (oder Kausalität) und Freiheit im Subjekt simultan – als freie Selbstgesetzgebung – zu denken. Jedenfalls lassen sich Gesetz und Freiheit nicht auf den Dualismus von Objekt und Subjekt verrechnen. Es ist vielleicht aussichtsreicher, beide als Bestimmungen von Relationen zwischen Subjekt und Objekt zu denken, wenn man sich dieser problematischen Terminologie überhaupt noch bedienen will. Wir sprechen in der Tat so, „gleich als ob es [das Gefühl der Lust an der Schönheit, J.S.] ein mit dem Erkenntnisse des Objekts verbundenes Prädikat wäre, jedermann zugemutet und mit der Vorstellung desselben verknüpft werden soll“ (KdU B XLVI/Hervorhebung von mir, J.S.). Dieses als ob begründet den allgemeinen Geltungsanspruch ästhetischer Urteile, „weil der Grund zu dieser Lust in der allgemeinen obzwar subjektiven Bedingung der reflektierenden Urteile, nämlich der zweckmäßigen Übereinstimmung eines Gegenstandes (er sei Produkt der Natur oder der Kunst) mit dem Verhältnis der Erkenntnisvermögen unter sich, die zu jedem empirischen Erkenntnis erfordert wird (der Einbildungskraft und des Verstandes), angetroffen wird.“ (KdU B XLVII)
Es bleibt jedoch zweifelhaft, ob das Kunstschöne die Zweckmäßigkeit der Erkenntnisvermögen sichern kann, wenn es sein Zustandekommen einer künstlerischen Absicht verdankt, die nicht(s) mehr gründen kann, da sie sich selbst bloß subjektiv setzt. Kants Integration des Kunstschönen erfolgt daher durch seine im Abschnitt X dieses Kapitels erläuterte Behauptung, daß die Natur durch das Genie der Kunst die Regel gibt. Jedenfalls kann die Lust an – seien es naturschönen oder kunstschönen – Gegenständen niemals (schon gar nicht a priori) aus der Beschaffenheit
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des Gegenstandes oder aus den ihn subsumierenden Begriffen abgeleitet werden. Daraus folgt, daß man den Gegenstand eben versuchen muß, wenn man feststellen will, ob er Lust erregt. Hierin gründet die ganze Abhängigkeit der apriorischen Konstruktion der Kantischen Ästhetik von einem irreduzibel empirischen Moment, das den Geschmack zu einem Vermögen macht, das man durch Übung verfeinern und immer wieder prüfen muß, da er letztlich kein Vermögen a priori sein kann. Geschmack ist eben nicht angeboren, sondern stellt sich in einer kulturell und sozial gerahmten Urteilspraxis in der Entwicklung der je einzelnen Subjekte erst her – ein Argument, das u.a. Bourdieu27 in Erinnerung ruft. Diesen Zusammenhang zwischen vorgeblicher individueller ästhetischer Erfahrung und in ästhetischen Urteilen (oder durch ästhetische Urteile) hergestellten positiven (subjektive Zustimmung) oder negativen (subjektive Abgrenzung) Bezug28 auf eine soziale Urteilsgemeinschaft hat Kant zumindest auch gesehen, da er an einer Stelle schreibt, daß die ästhetischen Urteile den Geschmack des Subjekts „beweisen“ sollen.29 Das würde bedeuten, daß sich durch eine Urteilspraxis, die sich auf bestimmte Objekte ästhetisch bezieht und diese ästhetisch reflektiert, eine Gemeinschaft zu gründen vermag. Ästhetische Urteile haben also einen intrinsischen Bezug auf eine normative Kollektivität (oder eine kollektive Normativität). Kant hingegen knüpft den Nachweis dessen, daß ein Subjekt Geschmack habe, daran, daß das Subjekt sein Urteil nicht durch Nachahmung gewinnt, sondern a priori gründet, ohne doch auf Begriffe zurückzugreifen. Man müßte also gegen Kant zeigen, daß die Abhängigkeit des Geschmacks von (kulturellen) Kontexten jedweder Art es zweifelhaft macht, ihn unter die apriorischen Vermögen zu zählen, wie immer man das modifiziert. Das Paradoxon, das Kant umtreibt und das er immer wieder wiederholt, ist nicht aufzulösen, schon gar nicht durch eine transzendentale Verankerung der Lust am Schönen. Denn diese ist weder subjektiv noch objektiv, sondern bezeichnet eine Weise, in der wir in bestimmten (z.B. ästhetischen oder künstlerischen) Praktiken auf Objekte Bezug nehmen. Insofern ist Kants Analyse und Beschreibung des Geschmacksurteils treffend, seine transzendentalphilosophische Deduktion dessen, daß es notwendigerweise so sein muß, wie er es beschreibt, ist keineswegs zwingend. Gleichförmigkeit ästhetischer Urteile kommt nicht durch transzendentale Tieferlegung (z.B. Geschmack als allgemeines Substrat der Menschheit) zustande, sondern durch bestimmte subjektive Praktiken, die kulturell und historisch variieren können. Diese Möglichkeit ist ihnen nicht akzidentiell (wie Kant zu glauben scheint), sondern sie ist ihnen konstitutiv eingeschrieben. Daher muß Kant entgegen seinen transzendentalphilosophischen Annahmen einräumen, daß Geschmack und Kultur zumindest irgendwie zusammenhängen, 27 Cf. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1999). 28 Über positive wie negative Bezüge des subjektiven ästhetischen Urteilens auf Urteilsgemeinschaften – wie immer fiktional diese letztlich auch sein mögen – können sich Individuen wiederum selbst konstituieren bzw. beschreiben. Die angebliche Singularität bzw. Originalität der Urteile soll dann die Individualität des solcherart Urteilenden verbürgen. 29 „Überdies wird von jedem Urteil, welches den Geschmack des Subjekts beweisen soll, verlangt: daß das Subjekt [...] sein Urteil [...] a priori absprechen [nach der Akademieausgabe: aussprechen, J.S.] solle“ (KdU B 136/Hervorhebung von mir, J.S.).
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und zwar nicht im Kantischen Sinne des a priori. Kultur ist nicht einfach Effekt eines transzendentalen Geschmacksvermögens, sondern bedingt zumindest auch die Konstitution des Geschmacksvermögens selbst, was Kant auch indirekt einräumt, wenn er die Bedeutung der Übung innerhalb kultureller Praktiken zu betonen gezwungen ist, um seine Beschreibung nicht falsch werden zu lassen. Das Gefühl für Schönheit gründet auf sittlicher Kultur der Menschheit: „Da aber der Geschmack im Grunde ein Beurteilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen (vermittelst einer gewissen Analogie der Reflexion über beide) ist, wovon auch, und von der darauf zu gründenden größeren Empfänglichkeit für das Gefühl aus den letzteren (welches das moralische heißt) diejenige Lust sich ableitet, welche der Geschmack, als für die Menschheit überhaupt, nicht bloß für eines jeden Privatgefühl, gültig erklärt: so leuchtet ein, daß die wahre Propädeutik zur Gründung des Geschmacks die Entwickelung sittlicher Ideen und die Kultur des moralischen Gefühls sei; da, nur wenn mit diesem die Sinnlichkeit in Einstimmung gebracht wird, der echte Geschmack eine bestimmte unveränderliche Form annehmen kann.“ (KdU B 263 f./alle Hervorhebungen von mir, J.S.)
In dieser intellektuellen Aufrichtigkeit des Kantischen (Be-)Schreibens, die nicht zögert, im Namen der richtigen Beschreibung ihre eigenen argumentativen Voraussetzungen zu suspendieren, liegt in der Tat eine große Stärke und Fruchtbarkeit Kants, die ihn bzw. seine Texte bis heute noch aktuell erscheinen lassen.
IX In diesem Abschnitt geht es um die Weise, wie das Naturschöne laut Kant für uns einen transzendentalen „Wink“ enthält, den es zu entziffern gilt. Das prototypisch Schöne ist laut Kant die Mannigfaltigkeit der bis zur Üppigkeit verschwenderischen Natur (cf. KdU B 72). Schön ist also die absolute und reine Gabe der Natur, wenn es so etwas geben kann. Diese Gabe der Natur gilt es zu entziffern, was zugleich das transzendentalphilosophische Unternehmen Kants ermöglicht wie begründet. Es gilt nämlich, die „wahre Auslegung der Chiffreschrift“ zu finden, wodurch „die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht“ (KdU B 170) – z.B. im Vogelgesang. Die Sprache der Natur können wir nur vernehmen oder gar verstehen, wenn es eine Distanz zum vorgestellten Gegenstand gibt, die es ermöglicht, die Urteilskraft in ein reflektierendes Spiel über die Modifikationen der Sinne zu versetzen. Daher können nur gesehene oder gehörte und solchermaßen distanzierte Dinge schön sein. Es bedarf einer Distanz (Sehen und Hören), um über die sich in der Empfindung zeigenden Modifikationen der Sinne zu reflektieren. Nur Licht und Schall enthalten „gleichsam eine Sprache, die die Natur zu uns führt, und die einen höhern Sinn zu haben scheint“ (KdU B 172). Farben und Laute künden von der Wohlgeordnetheit der Welt, so daß unser Interesse am Schönen (zumindest der Natur) immer zugleich ein moralisches ist, denn: „Dagegen aber behaupte ich, daß ein unmittelbares Interesse an der Schönheit der Natur zu nehmen (nicht bloß
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Geschmack haben, um sie zu beurteilen) jederzeit ein Kennzeichen einer guten Seele ist [...]“ (KdU B 164). Hier beschreibt Kant also das eingangs dieses Kapitels erwähnte moralische Interesse, daß der Mensch am Naturschönen entwickelt. Wer Naturdinge ästhetisch betrachtet, nimmt ein intellektuelles bzw. moralisches Interesse an deren Schönheit: nicht nur die Form der Produkte der Natur, sondern auch das Dasein derselben gefällt. Dagegen ist das Interesse am Kunstschönen nicht automatisch gut bzw. kündet nicht vom moralisch Guten. Dies begründet auch den „Vorzug der Naturschönheit vor der Kunstschönheit“ (KdU B 167). So verschwindet unser Interesse an Dingen, wenn diese nicht mehr naturschön sind, sondern bloß dem Naturschönen nachgemacht. Der Gedanke an den Betrug, in dem uns Kunstschönes als Naturschönes verkauft wird (z.B. wenn man den Gesang der Vögel imitiert, der ja von der Fröhlichkeit und Zufriedenheit mit der Existenz kündet)30, zerstört unsere Lust. Der Gedanke des natürlichen Hervorgebrachtseins muß unsere Anschauung der Natur und die Reflexion über diese Vorstellung begleiten. Das Naturschöne enthält eine Botschaft, es zeigt eine Spur oder gibt einen Wink, anzunehmen, es „enthalte in sich irgend einen Grund, eine gesetzmäßige Übereinstimmung ihrer Produkte zu unserm von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen [...]: so muß die Vernunft an jeder Äußerung der Natur von einer dieser ähnlichen Übereinstimmung ein Interesse nehmen; [...] Dieses Interesse aber ist der Verwandtschaft nach moralisch“ (KdU B 169). Dieses Interesse haben wir nur, wenn es sich wirklich um Naturschönheit handelt. Natur zeigt sich in ihren schönen Produkten als gleichsam absichtlich nach gesetzmäßiger Anordnung hergestellt und als Zweckmäßigkeit ohne Zweck, welchen wir natürlicher Weise in uns selbst (in unserer moralischen Bestimmung) finden. In der ästhetischen Beurteilung geht es um die Angemessenheit der Vorstellung zur harmonischen (subjektiv-zweckmäßigen) Beschäftigung beider Erkenntnisvermögen in ihrer Freiheit, wobei die Urteilskraft genötigt wird, diesen Vorstellungszustand mit Lust zu empfinden. Diese Lust muß notwendig bei jedermann auf den nämlichen Bedingungen beruhen, weil sie subjektive Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt sind (cf. KdU B 155).31 In § 38 – also der Deduktion, deren lapidare Kürze eigentümlich ihrer lange angekündigten angeblichen Bedeutung kontrastiert – erläutert Kant die Weise, in der das Naturschöne einen „Wink“ enthält.32 Im reinen Geschmacksurteil ist näm30 Das heißt in der Konsequenz: Kunstschönes kündet nicht von der Zufriedenheit und Fröhlichkeit mit der Existenz. Kunst ist entweder bloß Nachahmung des Naturschönen bis zur Täuschung und dann ist ihre Wirkung der des Naturschönen abgeborgt, oder sie ist auf unser Wohlgefallen sichtbarlich gerichtete Kunst, dann ist aber kein unmittelbares Interesse, sondern ein mittelbares Interesse an der zum Grunde liegenden Ursache einer Kunst, welche nur durch ihren Zweck, niemals an sich selbst, interessieren kann (cf. KdU B 171). 31 Es ist hier die Frage, ob jede Erkenntnis mit gefühlter Harmonie einhergehen soll oder nur Erkenntnis überhaupt. 32 Es stellt sich hier auch die Frage, warum Kant überhaupt noch neben der „Exposition“ (die Analyse des Schönen und Erhabenen) eine „Deduktion“ schreibt. Die erste Antwort darauf ist natürlich, daß nur diese den transzendentalen Anspruch ästheti-
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lich das Wohlgefallen an dem Gegenstande mit der bloßen Beurteilung seiner Form verbunden. In diesem Wohlgefallen zeigt sich die subjektive Zweckmäßigkeit derselben (nämlich der Form des Gegenstandes) für die Urteilskraft, welche wir mit der Vorstellung des Gegenstandes im Gemüte verbunden empfinden. Dabei ist unsere Urteilskraft in Ansehung der formalen Regeln der Beurteilung auf die subjektiven Bedingungen des Gebrauchs der Urteilskraft überhaupt gerichtet. Die Allgemeingültigkeit ästhetischer Urteile bezieht sich auf „dasjenige Subjektive, welches man in allen Menschen (als zum möglichen Erkenntnisse überhaupt erforderlich) voraussetzen kann“ und daraus folgt, daß „die Übereinstimmung einer Vorstellung mit diesen Bedingungen der Urteilskraft als für jedermann gültig a priori angenommen werden“ kann, weshalb die Lust an einer schönen Vorstellung jedermann angesonnen werden kann. Sehr interessant ist auch die Fußnote zur Deduktion: „Um berechtigt zu sein, auf allgemeine Beistimmung zu einem bloß auf subjektiven Gründen beruhenden Urteile der ästhetischen Urteilskraft Anspruch zu machen, ist genug, daß man einräume: 1) Bei allen Menschen seien die subjektiven Bedingungen dieses Vermögens, was das Verhältnis der darin in Tätigkeit gesetzten Erkenntniskräfte zu einer Erkenntnis überhaupt betrifft, einerlei; welches wahr sein muß, weil sich sonst Menschen ihre Vorstellungen und selbst das Erkenntnis nicht mitteilen könnten. 2) Das Urteil habe bloß auf dieses Verhältnis (mithin die formale Bedingung der Urteilskraft) Rücksicht genommen, und sei rein, d.i. weder mit Begriffen vom Objekt noch Empfindungen, als Bestimmungsgründen, vermengt. Wenn in Ansehung dieses letztern auch gefehlt worden, so betrifft das nur die unrichtige Anwendung der Befugnis, die ein Gesetz uns gibt, auf einen besondern Fall, wodurch die Befugnis überhaupt nicht aufgehoben wird.“ (KdU B 151)
Was Kant der Schönheit an Beweislast aufbürdet, folgt aus einer Einsicht, die niemals explizit ausgesprochen und höchstens in den beiden Einleitungen (vor allem der früheren) angedeutet wird, aber gerade die Notwendigkeit begründet, den ersten beiden Kritiken eine dritte hinzuzufügen, die die ersten beiden fundiert. Offensichtlich ist es Kants früheres kritisches und transzendentales Projekt, die Metaphysik im Durchgang durch eine selbstreflexive Kritik der Vernunft neu (als Wissenschaft) zu begründen. Notwendig wird die dritte Kritik deshalb, weil dies letztlich unmöglich ist: auf Vernunft oder Verstand allein läßt sich nichts Positives gründen. Auf diese (implizit bleibende) Einsicht reagiert Kant, indem er die Schönheit der Natur und die Weise unseres Bezuges zu ihr als transzendentalen Beweis dafür nimmt, daß der Mensch in die Welt paßt und seine Vernunft diese angemessen erkennen kann, auch wenn alle Erkenntnis im transzendentalen Subjekt die Bedingung ihrer Möglichkeit findet. Schönheit stiftet hier also Sinn, indem sie eine Subjektivität transzendental fundiert, die selbst transzendental für die Möglichkeit der Erkenntnisse ist. Womit nicht gesagt sein soll, daß der scher Urteile ableiten kann. Faktisch jedoch scheint Kant nichts Neues gegenüber der Exposition zu liefern. Er fängt lediglich noch einmal an (oder tut jedenfalls so) und behauptet dann, dies sei eine Deduktion.
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Mensch nicht in die Welt passe, sondern nur, daß es Unsinn ist, dies philosophisch (also qua Vernunft) beweisen zu wollen. Damit zugleich räumt Kant den Einwand des Skeptikers beiseite, der die Frage aufwirft, woher wir denn wissen können, daß unsere Erkenntnis der Welt dieser auch angemessen ist bzw. zugespitzt: ob es sich rational beweisen lasse, daß es eine äußere Realität überhaupt gibt.
X Ich komme jetzt zur Rekonstruktion einer genuin ästhetisch bestimmten Subjektivität in der Kritik der Urteilskraft. Natur und Kunst verweisen laut Kant aufeinander und bedingen sich wechselseitig: einerseits muß Naturschönes so scheinen, als ob es durch eine Absicht geformt wurde, die aber nur hypothetisch angenommen werden kann, während andererseits die Kunst (zumindest die Kunst des Genies) als Natur scheinen muß, also ihren künstlichen Charakter gerade verbergen muß. Diese Forderung hat schon Pseudo-Longin in seiner Schrift Über das Erhabene erhoben: demnach müssen rhetorische Figuren, wenn sie gelingen sollen, ihren künstlichen Charakter verbergen und eine pseudo-natürliche Genese ausstellen.33 Kant schreibt: „An einem Produkte der schönen Kunst muß man sich bewußt werden, daß es Kunst sei, und nicht Natur; aber doch muß die Zweckmäßigkeit in der Form desselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei“ (KdU B 179). Kunst muß also vortäuschen, daß sie Natur sei. Und zwar muß sie das zunächst aus strategischen Gründen der transzendentalphilosophischen Argumentation Kants. Denn auf dem Kunstschönen läßt sich für den Menschen nichts gründen, eben weil es real von Menschen gemacht ist. Daher muß auch das Kunstschöne auf Natur und natürlich scheinende Notwendigkeit zurückgeführt werden, weil es sonst keine transzendentale Funktion in Kants System haben könnte. Weiter heißt es: „Auf diesem Gefühle der Freiheit im Spiele unserer Erkenntnisvermögen, welches doch zugleich zweckmäßig sein muß, beruht diejenige Lust, welche allein allgemein mitteilbar ist, ohne sich doch auf Begriffe zu gründen. Die Natur war schön34, wenn sie zugleich als Kunst aussah; und die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht.“ (KdU B 179)
Als Natur erscheinen kann Kunst paradoxerweise nur, wenn sie auf eine bestimmte Weise regelgeleitet produziert wird. Sie darf nämlich einerseits nicht mechanisch aus Regeln abgeleitet werden (hier gründet Kants Kritik an z.B. rationalistischen Regelpoetiken), andererseits muß sie aber irgendeinen Bezug auf Regeln immer noch haben. Das Kunstwerk erscheint genau dann als Natur, wenn es diese wie auch immer gearteten Regeln erfüllt. Diese schwierige Bestimmung der Regelerfüllung von Kunstwerken, die letztlich ihre Schönheit verbürgen soll, beschreibt Kant als „Pünktlichkeit“: 33 Cf. Longinus: Vom Erhabenen (Reclam, Stuttgart 1988). 34 Aus welchen Gründen benutzt Kant hier die Vergangenheitsform?
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„Also muß die Zweckmäßigkeit im Produkte der schönen Kunst, ob sie zwar absichtlich ist, doch nicht absichtlich scheinen; d.i. schöne Kunst muß als Natur anzusehen sein, ob man sich ihrer zwar als Kunst bewußt ist. Als Natur aber erscheint ein Produkt der Kunst dadurch, daß zwar alle Pünktlichkeit in der Übereinkunft mit Regeln, nach denen allein das Produkt das werden kann, was es sein soll, angetroffen wird; aber ohne Peinlichkeit, ohne daß die Schulform durchblickt, d.i. ohne eine Spur zu zeigen, daß die Regel dem Künstler vor Augen geschwebt, und seinen Gemütskräften Fesseln angelegt habe.“ (KdU B 180/Hervorhebung von mir, J.S.)
Hier kündigt sich an, daß über die Regelproblematik bereits die Frage nach der Freiheit des Künstlers bzw. Genies eingeleitet wird, die laut Kant durch die Regel begrenzt werden muß, damit das Genie nicht bloß genialen Unsinn produziert. Kants Beschreibung schwankt hier zwischen der Hypothese einer aktiven, starken Individualität des Genies und einer schwachen, medialen Theorie derselben. Einerseits ist es nämlich der geniale Künstler, der durch sein Produkt ein Exempel für eine Regel gibt, die es vor diesem Produkt so nicht gegeben hatte (was man als gattungseröffnende Funktion großer Kunst erläutern könnte), ein Künstler also, der aus sich selbst heraus sich bzw. seinen Produkten Regeln oder Gesetze geben kann. Andererseits beschreibt Kant den Vorgang der genialen Regelsetzung auch medial: es sei die Natur, die durch das Genie der Kunst die Regel gebe. Die Frage ist also, ob der Künstler souverän und bewußt neue Regeln setzen oder verwenden kann (aber warum kann er dann über diesen Vorgang keine Auskunft geben, wie Kant bemerkt?), oder ob sich die Regel irgendwie ‚von selbst‘ in das Kunstprodukt als Natur einschreibt: „Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angebornes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“ (KdU B 181). Das Genie ist also selbst Natur bzw. deren Medium. Alle schöne Kunst ist laut Kant notwendig Kunst des Genies, gerade weil sie Beispiel einer Regel ist, die erst das Genie oder die Natur in ihm oder durch ihn erfunden hat: „Denn eine jede Kunst setzt Regeln voraus, durch deren Grundlegung allererst ein Produkt, wenn es künstlich heißen soll, als möglich vorgestellt wird. Der Begriff der schönen Kunst aber verstattet nicht, daß das Urteil über die Schönheit ihres Produkts von irgend einer Regel abgeleitet werde, die einen Begriff zum Bestimmungsgrund habe, mithin einen Begriff von der Art, wie es möglich sei, zum Grunde lege. Also kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regel ausdenken, nach der sie ihr Produkt zu Stande bringen soll. Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Produkt niemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjekte (und durch die Stimmung der Vermögen desselben) der Kunst die Regel geben, d.i. die schöne Kunst ist nur als Produkt des Genies möglich.“ (KdU B 181 f./Hervorhebungen von mir, J.S.)
Offensichtlich sind hier zwei Regelbegriffe im Spiel, die sich keineswegs einfach identifizieren lassen. Und zwar gibt es einerseits normative Geschmacksregeln, die aber nicht objektiv und begrifflich sein können, und andererseits künstle-
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rische Produktionsregeln, deren Befolgung allein nicht ausreicht, um die Schönheit des Produkts zu sichern.35 Das Argument ist, daß die Regelbefolgung in letzterem Sinne im Produkt nicht auffallen darf und von daher natürlich wirken muß, was nur das Genie zustandebringt, da das Genie Medium einer regelsetzenden Natur ist. Die Frage ist natürlich, was hier eigentlich „Natur“ meint. Sie kann kaum als Gegenbegriff zu „Kultur“ fungieren und wäre wohl eher als eine ursprünglich herstellende Kraft zu verstehen. Einen Übergang von der Beschreibung struktureller Subjektivität im Geschmacksurteil bzw. des ihm zugrundeliegenden Zustands zu Gestalten spezifisch ästhetischer Subjektivität gibt es erstmals in § 32, in der die Figur des Dichters eingeführt wird (cf. KdU B 137). Dieser Übergang markiert einen Wechsel dessen, was Kant beobachtet: während es in der Analytik des Schönen um rezipierende und urteilende Subjekte ging, steht jetzt das produktive ästhetische Subjekt im Zentrum. Allerdings läßt sich die Differenz zwischen diesen beiden Perspektiven, in denen Subjektivität verhandelt wird, nicht einfach gleichsetzen mit der Differenz von Passivität und Aktivität. Im Genie waltet selbst eine Dialektik von regelsetzender Natur (Produktivität) und nicht auf Regeln zu reduzierendem Geschmack (in der Selbstbeurteilung von Kunstwerken). Auch der Rezipient nimmt nicht einfach passiv nur Wahrnehmungen auf, sondern spielt aktiv mit seinen Vorstellungen. Zudem scheint das Genie den Zusammenhang von Kunst- und Naturschönem zu sichern, denn das geniale Kunstwerk ist nur deshalb schön, weil es auf der Natur beruht, die im Medium des Genies durch dieses hindurch mittels der Regeln bzw. Regelsetzung das schöne Kunstwerk schafft. Das Genie setzt Exempel einer Regel, die es (oder sich in ihm) erst generiert. Hier stellt sich zunächst die Frage, ob dieses Paradoxon eines sich selbst die Regel gebenden exemplarischen Individuums (denn als solches wird Genie hier verstanden) das gleiche Paradoxon und nur eine Umformung dessen ist, was in der Analytik des Schönen Anspruch auf „subjektive Allgemeinheit“ heißt. Die Antwort sei zunächst dahingestellt. Im folgenden möchte ich eine Interpretation des Genies geben, die den Zusammenhang der beiden Sprechweisen über Subjektivität, deren sich Kant bedient, erhellen soll. Und zwar möchte ich dies erläutern, indem ich versuche, die Dialektik von Selbstreflexion und Selbstbeschreibung zusammenzudenken mit der Dialektik von Allgemeinheit der Sprache und individueller Selbstbeschreibung. Individuelle Selbstbeschreibungen lassen sich nur verstehen als (textuelles) Resultat einer selbstreflexiven Infragestellung der subjektkonstituierenden Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen verstehe ich nicht wie Kant als transzendentalphilosophisches Apriori im Subjekt oder in der Vernunft des Subjekts, sondern als ein Apriori, das in der strukturellen und irreduziblen Vorgängigkeit der Sprache (und höher-
35 Diese zweite Weise, wie hier Regeln überhaupt im Spiel sind, ließe sich auch so verstehen, daß mit einem Produkt bzw. dessen Herstellung, sofern es Kunst sein will, notwendigerweise eine Absicht des Produzierenden verbunden sein muß. Kunstwerke sind eben nicht kausalerweise so, wie sie sind, sondern aus subjektiven Gründen. Daher sind die Regeln hier auch nicht natürlich, sondern sie dienen nur dazu, das Produkt natürlich erscheinen zu lassen.
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stufig der Kultur) gegenüber dem Subjekt besteht.36 Die Allgemeinheit der Sprache – etwa ihrer Begriffe –, als die und in der sich das Vergangene aufhebt, steht den Versuchen individueller Selbstbeschreibungen zunächst diametral entgegen. Offensichtlich muß die eigene Individualität je gegen diesen allgemeinen Charakter der Sprache entworfen werden. Sie fällt auch nicht einfach vom Himmel, sondern muß je erarbeitet und wiederhergestellt werden.37 Das führt zurück zum Paradoxon der genialen Regelsetzung ohne Regel. Das alltägliche Man kann sich nämlich seiner Individualität nur versichern, wenn es eine je neue individuelle Sprechweise, einen individuellen Sprachgebrauch erfindet, d.h. eine neue Art der (z.B. autobiographischen) Selbstbeschreibung, die sich sowohl inhaltlich/thematisch als auch formal (z.B. als formales Spiel: das wäre wohl der anspruchsvollere Fall) vollziehen kann. Solche individuellen Selbstbeschreibungen müssen keineswegs immer die Gestalt eines Textes haben, sie können auch Bilder, Kompositionen oder Theateraufführungen sein. All diese künstlerischen Produkte zeigen auch immer etwas über ihren Autor, der sich im Produkt als diesem scheinbar vorgängig zwangsläufig entwirft, unabhängig von der Frage, ob er das bewußt will und tut oder ob nicht. Denn es gibt kein künstlerisches Produkt ohne Perspektive auf das, was es darstellt. Diese unhintergehbare Perspektivität, wie sie jeder Darstellung fundamental eingeschrieben ist, bezeichnet die Subjektivität bzw. deren Selbstbeschreibung im Produkt. Dies ließe sich etwa am Ethos-Begriff der aristotelischen Rhetorik erläutern: das Ethos bezeichnet nämlich die Weise, in der sich der Redner durch seine Rede selbst als dieser scheinbar temporal und strukturell vorgängig entwirft, um durch die Glaubwürdigkeit dieses Selbstentwurfes überzeugend zu wirken.38 Die Dialektik von Allgemeinheit der Sprache (oder Geworfenheit) und individueller Selbstbeschreibung (oder Entwurf) meint dasselbe wie das Kantische Paradox eines zugleich regelfolgenden (d.h. überhaupt allgemeine Sprache mit ihren Regeln gebrauchenden) und regelsetzenden (eine neue Strategie einer Sprechweise erfindenden) Genies, d.h. eines exemplarischen Individuums in doppeltem Sinn.39 Paradox ist dieser Anspruch, weil das Genie nicht einfach nur bestehende Regeln anwendet, sondern sie selbst erst setzt. Die bloße Anwendung bestehender allgemeiner Regeln entgeht dem Anspruch einer individuellen Gründung. Das Genie ist deswegen exemplarisch für subjektive Vollzüge (und damit für deren Regelmäßigkeit), weil es explizit vollzieht, was allen Subjektvollzügen eigen ist. Künstler und Philosophen bzw. alle, die mit Sprache auf eine handwerkliche Weise operieren können, sind deshalb prototypisch individuell, 36 Das bleibt in gewisser Weise im Rahmen einer Transzendentalphilosophie, nur daß es nicht mehr das Subjekt ist, das transzendental angesetzt wird, sondern Sprache bzw. Kultur. 37 Menninghaus versteht die subjektive Selbstdarstellung als sexuelle Werbung des Individuums. Cf. Winfried Menninghaus: Das Versprechen der Schönheit (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003), S. 223 ff. 38 Es ist natürlich die Frage, inwieweit der Rhetor Kontrolle über die Aufnahme dieser Selbstbeschreibungen durch das Publikum ausüben kann. Genau dies versucht die Rhetorik ja (vielleicht unmöglicherweise) zu regeln. 39 Es ist nämlich darin exemplarisch für subjektive Vollzüge, das es durch Exempel Regeln setzt.
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weil sie es gewohnt sind, auf ihren Sprachgebrauch zu reflektieren und damit auch auf Sprache überhaupt, die allen subjektiven Beschreibungen und Selbstverhältnissen unhintergehbar zugrundeliegt. Erst durch diese Reflexion der eigenen Sprachpraktik mitsamt ihren Voraussetzungen kann es überhaupt so etwas wie eine handwerkliche Zuhandenheit der Sprache geben, der sich ein Individuum bedienen kann, um sich selbst als autonomes Einzelnes zu beschreiben bzw. zu entwerfen. Hier ergibt sich die Möglichkeit einer Aussicht auf die Antwort der anfänglich gestellten Frage, wie die zwei Sprechweisen über Subjektivität, deren sich Kant bedient, möglicherweise zusammenhängen könnten. In der strukturellen Erläuterung der Subjektivität scheint die ästhetische Erfahrung die zu sein, daß das empirische Subjekt in ihr seine kontingente Abhängigkeit von einer transzendentalen Subjektivität spürt oder erfährt. Für das menschliche Subjekt als allgemeines Vernunftsubjekt handelt es sich also um eine Fundierungserfahrung, die anhand des (Natur-)Schönen gemacht werden kann oder sogar muß. Das Individuum wird sich dagegen in der oder durch die ästhetische(n) Erfahrung zunächst seiner Grundlosigkeit und Kontingenz bewußt, um sich dann in der Erfahrung des Naturschönen als Subjekt transzendental zu versichern. Für das Individuum ist die ästhetische Erfahrung von daher eine Reflexions- und Verunsicherungserfahrung, in der es die Voraussetzungen seiner Individualität und damit deren irreduzible Bedingtheit als narzißtische Kränkung erfährt. Diese Voraussetzungen sind bei Kant die transzendentale Verankerung des menschlichen Subjekts und seiner Vernunft in der Welt. Es erscheint mir aber plausibler, diese Voraussetzungen im apriorischen (und metaphysischen) Charakter der Sprache zu situieren. Auf diese reflexive Verunsicherung reagiert das Subjekt, indem es die Texte (also die Selbstbeschreibungen), die seine Individualität sicherstellen sollen, revidiert oder neu schreibt. Aufgrund der (ästhetischen) Erfahrung des Individuums – daß es nämlich abhängig ist von einer allgemeinen Fundierung des Subjekts in einem letztlich sprachlich (oder höherstufig: kulturell) vermittelten Bezug zur Welt –, reagiert es mit einem individuellen (Neu-)Entwurf seiner selbst qua reflexiver Sprechweise oder reflexiven Sprachgebrauchs zur Gründung von Individualität. Aus der Verunsicherung heraus, die das Individuum durch die Spannung zwischen der beanspruchten Autonomie, die durch seine individuelle Selbstbeschreibung gesichert werden soll, und deren allgemeinen Grundlagen (vor allem Sprache, aber auch Kultur) erfährt, erfolgt der Versuch einer individuellen (Neu-)Konstitution mittels Selbstbeschreibung. Diese Neubeschreibung ist der paradoxe Versuch einer regelsetzenden (also individuellen) Sprachverwendung (denn es kann nicht nur einmal jemand einer Regel gefolgt sein, wie Wittgenstein wußte), der letztlich nur wiederholt, aber nie abgeschlossen werden kann.40 Die Gründung der Individualität ist unabschließbar, weil das Indi40 Offensichtlich reicht eine mehr oder wenige passive Regelerfüllung, eine bloße Regelanwendung, nicht aus, um Individualität zu gründen. Solange ‚man‘ das Gebot der autonomen (also übersetzt: selbstgesetzgebenden) Gründung von Individualität für gültig hält, braucht es zur Einlösung dieses Anspruchs eine aktive Regeltranszendenz, die eben anders sein muß als bloße Regelerfüllung. Das scheint auch Kant im Auge zu haben, wenn er für die ästhetische Erfahrung eine reflektierende und eben keine bloß bestimmende Verfahrensweise der Urteilskraft annimmt, wie sie automatisch im
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viduum sich weder selbst gründen kann noch durch Rekurs auf allgemeine Grundlagen der Subjektivität (z.B. Sprache etc.) sich im radikalen Sinn als Individuum bestimmen oder gar erschaffen kann. Dieses Paradoxon ist der abendländischen Kultur wohl unhintergehbar eingeschrieben: einerseits die Forderung nach absolut autonomer (übersetzt also: selbstgesetzgebender) Individualität (z.B. als Selbstsetzung des Selbstbewußtseins), auf der alles andere gründen soll, andererseits die Unmöglichkeit, jemals einen Akt der subjektiven Selbstgründung durchzuführen, der diesem Anspruch genügen könnte. Dieses Paradoxon bestimmt auch die ästhetische Konzeption von Subjektivität. In der modernen Forderung nach Individualität verbirgt sich also der sehr menschliche Versuch, sich selbst in der Weise gottgleich zu setzen, daß man sich selbst unbedingt auf sich selbst zu gründen versucht. Es ist eine offene Frage, ob diese Forderung bloß aus kontingenten Gründen (historischer oder kultureller Natur) oder aber mit Notwendigkeit erhoben wird, etwa weil sie der menschlichen Verfassung unhintergehbar eingeschrieben ist. Wenn überhaupt, kann ‚man‘ den Anspruch auf absolute Individualität wohl nur ironisch erfüllen. Auf diese Möglichkeit komme ich im vierten Kapitel zurück. Der Prozeß der Produktion schöner bzw. genialer Kunst bleibt ein unlösbares Geheimnis, weil der Künstler nicht darüber Bescheid geben kann, da es sich nicht um selbsttransparente und souveräne Regelsetzungen handelt, sondern um eine mediale Selbstschöpfung der von Kant sogenannten ‚Natur‘. Dem künstlerischen Prozeß der Produktion eignet also ein je ne sais quoi, das sich aus der Dunkelheit ergibt, in der sich der Künstler in Bezug auf sein Vermögen zur Schöpfung notwendig befindet. Denn ohne diese Dunkelheit wäre das Produkt kein Produkt der schönen Kunst, sondern mechanisch aus bereits bestehenden Regeln abgeleitet. Ohne diese konstitutive Dunkelheit wäre auch durch die genialen Produkte überhaupt keine Individualität zu gründen. Daher hat der Künstler auch keine uneingeschränkte Verfügungsgewalt über seine Produkte, die er eben nicht nach Belieben oder planmäßig sich ausdenken kann, da sie ihm durch das, was Kant „Natur“ nennt, vorgeschrieben werden.41 Auf diese bei Kant bereits angelegte Ambiguität des künstlerischen Produktionsprozesses zwischen souveräner Beherrschung der künstlerischen Techniken und Materialien und medialer Selbstpreisgabe des Subjekts an einen selbstgenerierenden oder autopoietischen Herstellungsprozeß einer ursprünglichen Kraft (die Derrida différance nannte), werde ich in den folgenden Kapiteln über Schlegel und Nietzsche zurückkommen. In seiner Beschreibung genuin ästhetisch bestimmter Gestalten von ästhetischer Subjektivität übersteigt Kant seine noch metaphysische Konzeption in der Analytik des Schönen: jetzt geht es nicht mehr bloß um affirmierende Subjektgründung, sondern er entfaltet implizit (oder sogar explizit) genau jene Dialektik von selbstbeschreibender Gründung und deren reflexiver Infragestellung, die in dieser Arbeit als Kennzeichen Alltag geschieht. Reflektierend ist die Urteilskraft im ästhetischen Zustand nämlich deswegen, weil sie vom Besonderen ausgehend die allgemeine Regel erst (er-)findet. 41 Von hier aus wäre Heideggers These zu erläutern, daß Kunstproduktion sich ereignendes Ins-Werk-Setzen der Wahrheit ist. Cf. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks (in: ders.: Holzwege, Klostermann, Frankfurt/Main 1950, S. 1-74), hier S. 62: „Die Kunst ist als das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit Dichtung“. Die Konsequenz daraus wäre dann, daß Wahrheit und ursprüngliche Kraft das Selbe wären.
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der wahren Struktur der ästhetischen Erfahrung angesetzt ist. Subjektsetzung und Subjektdepotenzierung, Selbstbeschreibung und Selbstreflexion verschränken sich auch bei Kant. Wie bei Schlegel und Nietzsche (wie später gezeigt werden wird) gibt es in Kants Beschreibung ästhetischer Subjektivität eine Ambivalenz zwischen absoluter Ermächtigung und totaler Ohnmacht. Möglicherweise läßt sich ästhetische Subjektivität nur in dieser unauflöslichen Ambivalenz beschreiben. Wenn man den genialen Künstler hier als ästhetisch bestimmtes Subjekt versteht, so ist dieses – zumindest im ästhetischen Zustand – nicht Herr seiner selbst und hat weder eine absolute Kontrolle des Produktionsprozesses noch verfügt es über eine Selbsttransparenz (cf. KdU B 182). Daher läßt sich die Geschicklichkeit des Genies nicht mitteilen oder lehren, sondern sie muß sich je neu in jedem Genie ausbilden, das sich deshalb auch nicht (nur) nachahmend zur künstlerischen Tradition verhält, sondern nachfolgend. Das Genie muß sich also zwar an den Produkten seiner Vorgänger orientieren, aber dabei diese nicht bloß nachmachen, sondern an ihnen etwas lernen, was man eigentlich gar nicht lernen kann (und was vielleicht ein angeborenes Vermögen sein muß): neue Regeln zu setzen, ohne gegen Regeln zu verstoßen. Original zu sein, ohne bloßen regellosen Unsinn zu produzieren. Die geniale Weise der Regelbefolgung durch Regeltranszendenz erlernen. Sich durch Selbstgesetzgebung als Individuum erschaffen. Und so weiter. Schöne und geniale Kunstwerke lassen sich nicht aus Regeln konstruieren, da sie Beispiel einer erst durch sie gesetzten Regel sind. Nur nachträglich lassen sich aus den Produkten Regeln ableiten: „Da die Naturgabe der Kunst (als schönen Kunst) die Regel geben muß: welcherlei Art ist denn diese Regel? Sie kann in keiner Formel abgefaßt zur Vorschrift dienen; denn sonst würde das Urteil über das Schöne nach Begriffen bestimmbar sein: sondern die Regel muß von der Tat, d.i. vom Produkt abstrahiert werden [also nachträglich formuliert werden, J.S.], an welchem andere ihr eigenes Talent prüfen mögen, um sich jenes zum Muster, nicht der Nachmachung, sondern der Nachahmung, dienen zu lassen. Wie dieses möglich sei, ist schwer zu erklären. [...] Die Muster der schönen Kunst sind daher die einzigen Leitungsmittel [...].“ (KdU B 185/Hervorhebung von mir, J.S.)
Die Urteilskraft bzw. der Geschmack ist das Korrektiv der genialen Originalität: „Das Genie kann nur reichen Stoff, zu Produkten der schönen Kunst hergeben; die Verarbeitung desselben und die Form erfordert ein durch die Schule gebildetes Talent, um einen Gebrauch davon zu machen, der vor der Urteilskraft bestehen kann“ (KdU B 186). Vor dem Geschmack kann das Kunstwerk also nur bestehen, wenn es auf einem gewissen Maß an technischem Vermögen beruht. Das Zitat weist voraus auf das Verhältnis von Genie und Geschmack, dessen richtige Austarierung die wesentliche Bedingung aller schönen Kunst ist. Zur Beurteilung schöner Gegenstände bedarf es nämlich Geschmack, zur ihrer Hervorbringung aber Genie. Während Geschmacksurteile durch das freie Spiel zwischen Einbildungskraft und Verstand zustande kommen, ist das Genie durch die Simultanität von Regelsetzung und Regelbefolgung ausgezeichnet.42 42 Die interessante These Kants ist: es gibt etwas, dessen Mißgestalt sich im Kunst-
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In der Tat sichert das Talent des Genies das Zustandekommen geistreicher Kunst, während der Geschmack deren Schönheit beurteilt. Daher ist der Geschmack regulierend auf das Genie und seine Originalität bezogen. Der Geschmack beschneidet das Genie und dessen geistreiche Einbildung: „Reich und original an Ideen zu sein, bedarf es nicht so notwendig zum Behuf der Schönheit, aber wohl der Angemessenheit jener Einbildungskraft in ihrer Freiheit zu der Gesetzmäßigkeit des Verstandes.43 Denn aller Reichtum der ersteren bringt in ihrer gesetzlosen Freiheit nichts als Unsinn hervor; die Urteilskraft ist aber das Vermögen, sie dem Verstande anzupassen. Der Geschmack ist, so wie die Urteilskraft überhaupt, die Disziplin (oder Zucht) des Genies, beschneidet diesem sehr die Flügel und macht es gesittet oder geschliffen; zugleich aber gibt er diesem eine Leitung [...], indem er Klarheit und Ordnung in die Gedankenfülle hineinbringt, macht er die Ideen haltbar44, eines dauernden zugleich auch allgemeinen Beifalls, der Nachfolge anderer, und einer immer fortschreitenden Kultur, fähig. Wenn also im Widerstreite beiderlei Eigenschaften an einem Produkte etwas aufgeopfert werden soll, so müßte es eher auf der Seite des Genies geschehen: und die Urteilskraft, welche in Sachen der schönen Kunst aus eigenen Prinzipien den Ausspruch tut, wird eher der Freiheit und dem Reichtum der Einbildungskraft, als dem Verstande Abbruch zu tun erlauben. Zur schönen Kunst würden also Einbildungskraft, Verstand, Geist und Geschmack erforderlich sein.“ (KdU B 202 f.)45
Dem urteilenden Geschmack eignet also letztlich ein Vorrang vor dem Genie. An diesem Zitat läßt sich noch einmal der Zusammenhang der Sprechweise über Subjektivität in der Analytik des Schönen mit der Theorie des Genies bzw. der schönen Kunst erläutern. Kants Regelbegriff bleibt nämlich doppeldeutig: einerseits meint er eine Produktionsregel des Genies (z.B. KdU B 181 f.), die paradoxerweise durch ein Beispiel erst gesetzt wird und insofern original ist, andererseits meint er eine Regel des Geschmacks, die nur aus unserer empirischen ästhetischen Urteilspraxis nachträglich ableitbar ist, aber nicht allein aus den beurteilten Objekten. Das Genie braucht eine Regel zum Schaffen eines Kunstwerks, und der Geschmack urteilt, als ob es eine Regel gäbe. Die Verbindung zwischen beiden Regelbegriffen ist vielleicht, daß die Schönheit weder auf der Produktionsseite noch auf der Rezeptionsseite durch Regelmäßigkeit (und auch nicht durch Vollkommenheit) zu garantieren ist. Es bleibt aber trotzdem schwer zu verstehen, wie die beiden Regelbegriffe sich zueinander verhalten. Denn Geschmack ist bei Kant ein normativer Begriff, der anders mit Regeln operiert als das Genie (als Vermögen des werk auch durch das Genie nicht völlig ausmerzen läßt. Nur das Genie darf sich im Namen seines Geistesschwunges über Regeln hinwegsetzen, was aber gleichwohl immer ein Fehler bleibt und nicht nachahmungswürdig ist (insbesondere von Nichtgenies) (cf. KdU B 200 f.). 43 Was ist das für eine Freiheit, die zur Gesetzmäßigkeit des Verstandes angemessen sein muß? 44 Mittels welcher Konservierungstätigkeit soll das funktionieren? 45 Kant führt in einer Fußnote aus, daß der Geschmack die übrigen drei Vermögen in sich vereinigt.
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Hervorbringens). Der Geschmack beurteilt immer erst nachträglich die Innovationen der Kunst, die nicht immer schön sein müssen, während das Genie eine Regel durch sein Produkt erst setzt. Die Dialektik von regelsetzendem Genie und beurteilendem Geschmack läßt sich also reformulieren als Dialektik von genialer Innovation und nachträglicher Selektion durch Geschmacksurteile. Es reicht eben nicht, einfach nur von der Regel abzuweichen (das wäre bloß genialer Unsinn), sondern ‚man‘ muß es zudem auf strategisch geschickte Weise zu tun verstehen – und d.h. regelsetzend, denn die produktive Abweichung vom Allgemeinen muß zunächst vor der kritischen Selbstbeurteilung bestehen: die Frage ist dann, ob die Abweichung originell genug ist bzw. auf die richtige Weise (nämlich regelfolgend) originell (nämlich regelsetzend) ist, um durch die Abweichung Individualität zu gründen. Hier stellt sich wieder einmal die Frage nach dem Zusammenhang von konventionellen sozialen Urteilspraktiken und der Unableitbarkeit der Schönheit aus empirischer Publikumszustimmung. Um diesem Zusammenhang gerecht zu werden, müßte man die Tätigkeit des Genies so verstehen, daß seine Tätigkeit eigentlich darin besteht, durch seine Produkte neue Geschmacksregeln zu erfinden und zu setzen, also den Geschmack selbst weiterzuentwickeln. Denn nur die Geschmacksregeln, die es nicht objektiv geben kann, können die Schönheit des Gegenstandes sichern, auch wenn sie ihm nicht vorgängig sind. Kant verheddert sich immer wieder in dem Versuch, dieses Paradoxon transzendentalphilosophisch aufzulösen. Jedenfalls gibt er zwei Beschreibungen der Bedingungen schöner Kunst, die nicht miteinander zu vereinbaren sind. Einerseits soll nämlich schöne Kunst durch exemplarische Regelsetzung des Genies entstehen bzw. diese sein, was in einem radikalen Sinn nur neue und innovative Kunst zur schönen Kunst machte (nur gattungseröffnende Kunst wäre dann schön) und damit die meisten Kunstwerke qua Definition als nichtschön etikettierte. Andererseits soll schöne Kunst in der Herstellung solcher Formen bestehen, die ein freies Spiel von Einbildungskraft und Verstand ermöglichen sollen. In dieser Lesart wäre alle Kunst schön – egal ob gattungseröffnend oder nicht –, sofern sie eben dieses Spiel an sich zufälligerweise ermöglicht oder gar notwendigerweise hervorruft. Diese Zweideutigkeit ergibt sich aus einer doppelten Bestimmung dessen, was Kant Geschmack nennt: er ist nämlich einerseits das (vielleicht dialektisch zu denkende) Verhältnis von Regel und Geist bzw. Genie, andererseits das von Einbildungskraft und Verstand. Diese Differenz ist nicht einfach identisch mit der Differenz von produktiven und rezeptiven Subjektbezügen auf Kunstobjekte.
XI Aus dem Anspruch auf Allgemeinheit a priori der ästhetischen Urteile und der Entgegensetzung solcher Urteile folgt ihre Dialektik. Es handelt sich um keine Dialektik in Geschmacksurteilen, so weit sich jeder auf seinen Geschmack beruft, sondern nur um eine Dialektik der Kritik des Geschmacks (nicht des Geschmacks selbst) in Ansehung ihrer Prinzipien: „da nämlich über den Grund der Möglichkeit der Geschmacksurteile überhaupt einander widerstreitender Begriffe
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natürlicher und unvermeidlicher Weise auftreten“ (KdU B 232). Eine Dialektik der ästhetischen Urteilskraft gibt es nur, wenn „sich eine Antinomie der Prinzipien dieses Vermögens findet, welche die Gesetzmäßigkeit desselben, mithin auch seine innere Möglichkeit, zweifelhaft macht“ (KdU B 232). Zur Einführung der Antinomie erläutert Kant zunächst zwei Gemeinorte des Geschmacks: zum einen hat ein jeder seinen eigenen Geschmack (d.h. er ist subjektiv) und zum anderen läßt sich über den Geschmack nicht disputieren (d.h. er ist nicht objektiv begründbar). Er führt eine subtile Unterscheidung zwischen Streiten und Disputieren ein: während letzteres ein logisches Ableiten der Notwendigkeit von Argumenten ist, unterliegt einem Streit ein freieres Prinzip. Bei diesem geht es um den Austausch von Argumenten, von denen keines jemals unbedingte Notwendigkeit beweisen kann. Solchen Streit gibt es über die Geschmacksurteile. Über diese kann zwar gestritten werden, aber nicht durch Beweise entschieden werden, also disputiert werden. Daraus schließt Kant, daß zwischen den beiden Gemeinörtern der Satz fehlt: über den Geschmack läßt sich streiten. Das heißt, daß er einen Anspruch auf Allgemeinheit ohne bestimmte Begriffe erhebt und damit postuliert, daß es Gründe für ästhetische Urteile geben muß. Aus dieser Beschreibung folgt folgende Antinomie: 1) Thesis. Das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf Begriffen; denn sonst ließe sich darüber disputieren (durch Beweise entscheiden) 2) Antithesis. Das Geschmacksurteil gründet sich auf Begriffen; denn sonst ließe sich, ungeachtet der Verschiedenheit desselben, darüber auch nicht einmal streiten (auf die notwendige Einstimmung anderer mit diesem Urteile Anspruch machen) (cf. KdU B 234). Der antinomische Widerstreit der jedem Geschmacksurteile untergelegten Prinzipien ist nach Kant nur hebbar, wenn man zeigt, daß der Begriff des ‚Begriffs‘ hier in zweierlei Sinn verwendet wird. Aus der Vermengung dieser beiden folgt eine transzendentale Illusion: „ [...]; dieser zwiefache Sinn, oder Gesichtspunkt, der Beurteilung sei unserer transzendentalen Urteilskraft notwendig; aber auch der Schein, in der Vermengung des einen mit dem andern, als natürliche Illusion, unvermeidlich“ (KdU B 234). Das Geschmacksurteil muß sich auf einen Begriff beziehen, kann sich aber nicht aus einem Begriff erweisen lassen, „weil ein Begriff entweder bestimmbar [also Verstandesbegriff, J.S.], oder auch an sich unbestimmt und zugleich unbestimmbar [also transzendentaler Vernunftbegriff des Übersinnlichen, J.S.], sein kann“ (KdU B 235). Zwar geht das Geschmacksurteil auf Gegenstände der Sinne und ist sofern auf das Gefühl der Lust bezogene anschauliche einzelne Vorstellung und Privaturteil (jeder hat seinen Geschmack); gleichwohl ist „im Geschmacksurteile eine erweiterte Beziehung der Vorstellung des Objekts (zugleich auch des Subjekts) enthalten, worauf wir eine Ausdehnung dieser Art Urteile, als notwendig für jedermann, gründen [...]“ (KdU B 235). Hier ist also ein Begriff im Spiel, der sich nicht bestimmen und durch den sich auch nichts erkennen läßt: nämlich ein bloßer reiner Vernunftbegriff von dem Übersinnlichen, „was dem Gegenstande (und auch dem urteilenden Subjekte) als Sinnenobjekte, mithin als Erscheinung, zum Grunde liegt“ (KdU B 236). Dies führt Kant in einem Satz, der die gesamte Anlage der Kritik der Urteilskraft als transzendentale Begründung des Geschmacksurteils in nuce beschreibt, näher aus:
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„Nun fällt aber aller Widerspruch weg, wenn ich sage: das Geschmacksurteil gründet sich auf einem Begriffe (eines Grundes überhaupt46 von der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Urteilskraft), aus dem aber nichts in Ansehung des Objekts erkannt und bewiesen werden kann, weil er an sich unbestimmbar und zum Erkenntnis untauglich ist; es bekommt aber durch eben denselben doch zugleich Gültigkeit für jedermann (bei jedem zwar als einzelnes, die Anschauung unmittelbar begleitendes Urteil): weil der Bestimmungsgrund desselben vielleicht47 im Begriffe von demjenigen liegt, was als das übersinnliche Substrat der Menschheit angesehen werden kann.“ (KdU B 236 f./Hervorhebungen von mir, J.S.)
Der transzendentale Schein ist natürlich und der menschlichen Vernunft unvermeidlich eingeschrieben, soweit sie sich immanent versteht und darauf verzichtet, sich auf scholastische Weise dogmatisch zu deduzieren. Die Antinomie läßt sich folgendermaßen auflösen: es geht einmal um bestimmte und das andere Mal um unbestimmte Begriffe (nämlich vom übersinnlichen Substrat der Erscheinungen). Man kann nicht mehr tun, als nur diesen Widerspruch heben, denn: „Ein bestimmtes objektives Prinzip des Geschmacks, wornach die Urteile desselben geleitet, geprüft und bewiesen werden könnten, zu geben, ist schlechterdings unmöglich; [...]“ (KdU B 237 f.). Es muß sich also um ein subjektives Prinzip handeln, daß sich in der transzendentalen Reflexion zeigt: „Das subjektive Prinzip, nämlich die unbestimmte Idee des Übersinnlichen in uns, kann nur als der einzige Schlüssel der Enträtselung dieses uns selbst seinen Quellen [aber anscheinend nicht seiner Phänomenalität nach, zumindest für Kant, J.S.] nach verborgenen Vermögens angezeigt, aber durch nichts weiter begreiflich gemacht werden“ (KdU B 238). Man muß die Antinomien auflösen, weil „kein anderer Ausweg übrig bleibt“, um „die Vernunft mit sich selbst einstimmig zu machen“. Dies geht nur so, daß „die Antinomien wider Willen nötigen, über das Sinnliche hinaus zu sehen, und im Übersinnlichen den Vereinigungspunkt aller unserer Vermögen a priori zu suchen“ (KdU B 239). Die Möglichkeit und Notwendigkeit dieses Schrittes von der Formulierung der Antinomie zu ihrer Auflösung gehört zu dem, was hier substantiell bestritten werden soll. Es gibt laut Kant drei Arten der Antinomie der reinen Vernunft, die alle die Vernunft zwingen, von der „sehr natürlichen Voraussetzung, die Gegenstände der Sinne für die Dinge an sich selbst zu halten, abzugehen, sie vielmehr bloß für Erscheinungen gelten zu lassen, und ihnen ein intelligibles Substrat (etwas Übersinnliches, wovon der Begriff nur Idee ist und keine eigentliche Erkenntnis zuläßt) unterzulegen“ (KdU B 243). Alles hängt vielleicht davon ab, wie man diesen Satz versteht: gibt es auch noch Dinge an sich, die uns bloß als Erscheinungen zugänglich sind, oder ist die Differenz unsinnig, weil es eben keine Dinge an sich gibt? Laut Kant zwingen die Antinomien die Vernunft, sich von ihren Hoffnungen (auf übersinnliche Erkenntnis der Dinge an sich) zu trennen. Jedes Erkennt46 Genau hier gründet meine Kritik an der gründenden Funktion der ästhetischen Erfahrung bei Kant. 47 Was für eine Art Vorbehalt manifestiert sich in diesem „vielleicht“? Bezweifelt Kant seine eigene, in seinem transzendentalen Projekt absolut unentbehrliche Voraussetzung?
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nisvermögen (Verstand, Urteilskraft, Vernunft) hat seine eigene Antinomie, so wie jedes als oberes Erkenntnisvermögen seine Prinzipien a priori hat (cf. KdU B 243 f.): der Verstand in der theoretischen Erkenntnis, die Vernunft in ihrer Praxis und die Urteilskraft in der Ästhetik.48 Kant schreibt, daß die Antinomien für den menschlichen Vernunftgebrauch unvermeidlich sind, wenn sie nicht auf ein übersinnliches Substrat der gegebenen Objekte, als Erscheinungen, zurücksehen (cf. KdU B 244). Laut Kant folgt aus der Deduktion die Idee des Übersinnlichen als eines „Prinzips der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen“ (KdU B 245). Es gibt daher nur eine Ausflucht vor der Antinomie, denn es gibt nur die Möglichkeit, „entweder zu leugnen, daß dem ästhetischen Geschmacksurteile irgend ein Prinzip a priori zum Grunde liege, daß aller Anspruch auf Notwendigkeit allgemeiner Beistimmung grundloser leerer Wahn sei, und ein Geschmacksurteil nur sofern für richtig gehalten zu werden verdiene, weil es sich trifft, daß viele in Ansehung desselben übereinkommen, und auch dieses eigentlich nicht um deswillen, weil man hinter dieser Einstimmung ein Prinzip a priori vermutet, sondern (wie im Gaumengeschmack), weil die Subjekte zufälliger Weise gleichförmig organisiert seien; oder man müßte annehmen, daß das Geschmacksurteil eigentlich ein verstecktes Vernunfturteil über die an einem Dinge und die Beziehung des Mannigfaltigen in ihm zu einem Zwecke entdeckte Vollkommenheit sei, mithin nur um der Verworrenheit willen, die dieser unserer Reflexion anhängt, ästhetisch genannt werde, ob es gleich im Grunde teleologisch sei: in welchem Falle man die Auflösung der Antinomie durch transzendentale Ideen für unnötig und nichtig erklären, und so mit den Objekten der Sinne nicht als bloßen Erscheinungen, sondern auch als Dingen an sich selbst, jene Geschmacksgesetze vereinigen könnte.“ (KdU B 244 f./alle Hervorhebungen von mir, J.S.)
Das scheint eben die falsche Alternative zu sein, die Kant aufmacht, um den Rationalismus seiner Vorgänger zu kritisieren und – vielleicht – zu überwinden. Hier ist gleich mehreres einzuwenden. Zunächst ist die Gleichförmigkeit der ästhetischen Urteile nicht zufällig, sondern Effekt einer gemeinsamen Praxis der geschmackvollen Beurteilung schöner Dinge und der daraus resultierenden Übung: ästheti48 Die Gleichsetzung von Einbildungskraft und Urteilskraft bzw. deren wechselseitiger Austausch je nach Kontext und Erfordernis der Argumentation scheint höchst problematisch. Denn die Urteilskraft ist ja selbst von Kant als die Kraft der Relationierung von Allgemeinem (also Verstandesbegriffen) und Besonderem (sinnlicher Anschauung in der Einbildungskraft) definiert worden und kann von daher nicht mit einem der Elemente dieser Relation identisch sein. In diesem permanenten Austausch des Vokabulars zeigt sich vielleicht das Schwanken Kants zwischen einer phänomenologisch inspirierten Analyse der ästhetischen Verfahrensweise der Einbildungskraft einerseits und der funktionalen Bestimmung des Naturschönen als tauglich für eine reflexive Gründung der transzendentalen Angemessenheit der menschlichen Urteilskraft mit den Dingen der Welt andererseits. Das betrifft auch die Frage, wo im Subjekt das ästhetische Spiel angesetzt wird: entweder innerhalb der Einbildungskraft oder aber zwischen Einbildungskraft und Verstand.
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sche Urteile sind trotz aller allgemeingültigen Ansprüche faktisch abhängig vom kulturellen, historischen und sozialen Kontexten der Urteilenden, woran u.a. Bourdieu erinnert hat. Zweitens ist der Anspruch auf Notwendigkeit allgemeiner Beistimmung nicht schon deshalb „grundlos leerer Wahn“, weil er sich in der Tat auf nichts Transzendentalem gründen kann. Das Transzendentale ist uns unverfügbar, wir können es höchstens benennen: z.B. als différance. Der Anspruch auf allgemeine Beistimmung, den unsere Geschmacksurteile erheben, läßt sich als Analyse der Grammatik unserer Verwendung des Begriffs „schön“ verstehen. Also wird hier nicht der allgemeine Anspruch und die Richtigkeit der Beschreibung Kants kritisiert, sondern deren Ableitung (Deduktion) aus transzendentalphilosophischen Voraussetzungen, die selbst auf nichts gründen können, da sie als selbstgründend von Kant gedacht werden. Daß das Geschmacksurteil auf Prinzipien a priori gründe (seien diese subjektiv oder objektiv), ist eine leere Illusion, ein transzendentaler Schein, der letztlich voraussetzt, daß das Schöne und das Wahre identisch sind. Die Idee der Funktion der Schönheit als (wahrheits-)gründende Harmonie (z.B. der Erkenntniskräfte) beruht auf einem transzendentalen Schein, den es philosophisch zu reflektieren gilt. Das, was Schönheit angeblich (oder tatsächlich) gründet, ist absolut beliebig, arbiträr, konventionell. Die transzendentalen Annahmen Kants lassen sich mit Nietzsche kritisieren: man kann sehr wohl die transzendentale Begründung der Geschmacksurteile ablehnen, ohne damit Erscheinung und Dinge an sich gleichzusetzen. Die Pointe ist ja dann gerade, daß es eben nichts anderes ‚gibt‘ als die Dinge, so wie sie uns erscheinen.49 Alles andere ist nutzlose Spekulation über Fundierungen der menschlichen Vernunft, die letztlich immer illusionär sind, d.h. sich niemals selbst erklären und gründen können, was sie doch müßten, wenn sie einen Anspruch auf transzendentale Geltung erheben. Vernunft hat ihren Sinn erst von da an, wo sie sich auf etwas anderes als sich selbst gründet. Daß dies (nicht nur) bei Kant die Schönheit ist, ist hinreichend dargetan worden. Statt auf die Schönheit wird hier vorgeschlagen, nicht nur den ästhetischen Gebrauch der Vernunft auf die paradoxale Verbindung aus Liebe und Schönheit zu gründen: wir lieben das Schöne, während uns doch das schön erscheint, was wir lieben.
XII Kants Kritik gilt sowohl dem Empirismus wie dem Rationalismus seiner Zeit: am Empirismus kritisiert er, daß dieser den Geschmack als Urteilsvermögen a posteriori versteht und damit die Differenz zwischen Schönem und Angenehmen verschleift. Am Rationalismus stört ihn, daß dieser dem Geschmack objektive Gründe unterlegt und damit das Schöne und das Gute gleichsetzt. Es muß aber laut Kant 49 „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? ...aber nein! Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!“ (Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung (in: ders.: Kritische Studienausgabe Band VI, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-77, S. 55-162), hier S. 81.
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auch Gründe des Wohlgefallens a priori geben, die mit dem Prinzip des Rationalismus zusammen bestehen können, obwohl sie nicht auf bestimmte Begriffe gründen. Weiter stellt er fest: „Der Rationalism des Prinzips des Geschmacks ist dagegen entweder der des Realisms der Zweckmäßigkeit, oder des Idealism derselben“ (KdU B 246). Die Zweckmäßigkeit ist dabei nicht objektiv gedacht, „sondern nur ästhetisch, auf die Übereinstimmung seiner Vorstellung in der Einbildungskraft mit den wesentlichen Prinzipien der Urteilskraft überhaupt, im Subjekte“ (KdU B 247). Mit der Frage, ob es sich bei dieser Zweckmäßigkeit um ein reales oder aber um ein idealistisches Prinzip handelt, befaßt sich Kant im weiteren Verlauf des Paragraphen: „Folglich kann, selbst nach dem Prinzip des Rationalisms, das Geschmacksurteil und der Unterschied des Realisms und Idealisms desselben nur darin gesetzt werden, daß entweder jene subjektive Zweckmäßigkeit im erstern Falle als wirklicher (absichtlicher) Zweck der Natur (oder der Kunst), mit unserer Urteilskraft übereinzustimmen, oder im zweiten Falle nur als eine, ohne Zweck, von selbst und zufälliger Weise sich hervortuende zweckmäßige Übereinstimmung zu dem Bedürfnis der Urteilskraft, in Ansehung der Natur und ihrer nach besondern Gesetzen erzeugten Formen, angenommen werde.“ (KdU B 247)
Die Angemessenheit von Subjekt und Welt, die wir in der Erfahrung des (Natur-)Schönen erfahren, ist nicht real (dann wäre sie objektiv-teleologisch in der Natur angelegt, was wir schlechterdings nicht wissen können), sondern bloß hypothetisch: nämlich eine idealistische Projektion, die die Welt als zweckmäßig für die Menschen begreift. Nietzsches Kritik setzt hier ein: woher nehmen wir die Berechtigung, diese Hypothese unhinterfragt zu glauben? Müssen wir nicht der harmonischen Erfahrung des Schönen abgrundtief mißtrauen, weil nichts jemals subjektiv oder objektiv begründen kann, was diese Erfahrung (durch Schönheit) angeblich begründet? Ihr auch deshalb mißtrauen, weil wir in dieser Erfahrung naiverweise einer Illusion folgen und ihrer Verführungskraft erliegen, die in unsere kulturellen Praktiken – aus welchen Gründen auch immer – unhintergehbar eingeschrieben ist? Nietzsche wird sagen, daß es die Aufgabe der Kunst sein muß, diesen Abgrund nicht durch Illusionen zu verdecken, sondern ihn gerade erfahren zu lassen: etwa durch die dionysisch genannten Techniken im Kunstwerk, die dessen Schönheit und die möglicherweise in der subjektiven Erfahrung liegende harmonische Identifikation so problematisieren, daß die Konventionalität des Schönen (seine Abhängigkeit vom kulturellen Kontext genauso wie seine kultur- und sinnstiftende Funktion) sichtbar oder erfahrbar wird. Wahrheit und Schönheit treten bei und seit Nietzsche in das Zeitalter der Problematisierung ihrer Beziehung, die fortan nicht mehr die einer einfachen wechselseitigen Stützung sein kann (cf. Kapitel 5). Eine Weise dieser Problematisierung zeigt sich im Wechsel der Thematik der Kunst im 19. Jahrhundert: auch Nichtschönes oder Häßliches wird jetzt durch die Kunst dargestellt, ohne daß es in der ästhetischen Darstellung zwangsläufig schön werden muß oder kann, wie Kant noch voraussetzte.50 Zwar redet dem Realismus der ästhetischen Zweckmäßigkeit die beobachtbare 50 „Die schöne Kunst zeigt darin eben ihre Vorzüglichkeit, daß sie Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt“ (KdU B 189).
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Naturschönheit das Wort. Die Naturschönheiten „geben der Erklärungsart durch Annehmung wirklicher Zwecke der Natur für unsere ästhetische Urteilskraft ein großes Gewicht“ (KdU B 248). Aber die Vernunft widersetzt sich der Annahme einer Zweckmäßigkeit der Natur, denn zu dieser Erzeugung des Naturschönen, das für uns zweckmäßig scheint, bedarf es nur des Mechanismus der Natur (und also keiner weiteren Absicht) (cf. KdU B 248). Beispiele hierfür sind etwa die Bildung von Kristallen oder von Eis, die wir schön finden. Die Natur als einen Inbegriff von Gegenständen des Geschmacks a priori anzunehmen heißt, sie teleologisch auszudeuten in der Weise, daß sie die für unsere Urteilskraft zweckmäßige Formen absichtlich aufstellen würde. Diese Annahme ist jedoch laut Kant zu bezweifeln, indes die „Wirklichkeit der Naturschönheiten der Erfahrung offen liegt“ (KdU B 153). Das interessante Argument Kants lautet nun: Die Zweckmäßigkeit der Natur kann für das Spiel unserer Erkenntniskräfte deshalb nicht teleologischer Naturzweck sein, weil dann dieses Spiel nichts mehr begründen könnte. Die Zweckmäßigkeit schöner Gegenstände für das Spiel unserer Erkenntniskräfte muß zufällig (d.h. hier subjektiv-notwendig, was man vielleicht als Kontingenz übersetzen könnte) und nicht objektiv-notwendig sein, da die Lust am Schönen nur etwas gründen kann, wenn sie auf einer freien Relation von Subjekt und Objekt beruht. Kant schreibt: „Was aber das Prinzip der Idealität der Zweckmäßigkeit im Schönen der Natur, als dasjenige, welches wir im ästhetischen Urteil selbst jederzeit zum Grunde legen, und welches uns keinen Realism eines Zwecks derselben für unsere Vorstellungskraft zum Erklärungsgrunde zu brauchen erlaubt, geradezu beweiset: ist, daß wir in der Beurteilung der Schönheit überhaupt das Richtmaß derselben a priori in uns selbst suchen, und die ästhetische Urteilskraft in Ansehung des Urteils, ob etwas schön sei oder nicht, selbst gesetzgebend ist51, welches bei Annehmung des Realisms der Zweckmäßigkeit der Natur nicht Statt finden kann; weil wir da von der Natur lernen müßten, was wir schön zu finden hätten, und das Geschmacksurteil empirischen Prinzipien unterworfen sein würde. Denn in einer solchen Beurteilung kommt es nicht darauf an, was die Natur ist, oder auch für uns als Zweck ist, sondern wie wir sie aufnehmen. Es würde immer eine objektive Zweckmäßigkeit der Natur sein, wenn sie für unser Wohlgefallen ihre Formen gebildet hätte; und nicht eine subjektive Zweckmäßigkeit, welche auf dem Spiele der Einbildungskraft in ihrer Freiheit beruhete, wo es Gunst ist, womit wir die Natur aufnehmen, nicht Gunst, die sie uns erzeigt. Die Eigenschaft der Natur, daß sie für uns Gelegenheit enthält, die innere Zweckmäßigkeit in dem Verhältnisse unserer Gemütskräfte in Beurteilung gewisser Produkte derselben wahrzunehmen, und zwar als eine solche, die aus einem übersinnlichen Grunde für notwendig und allgemeingültig erklärt werden soll, kann nicht Naturzweck sein, oder vielmehr von uns als ein solcher beurteilt werden; weil sonst das Urteil, das dadurch bestimmt wurde, Heteronomie, aber nicht, wie es einem Geschmacksurteile geziemt, frei sein, und Autonomie zum Grunde haben würde.“ (KdU B 252 f./alle Hervorhebungen von mir, J.S.) 51 Also jetzt doch? Vorher hieß es doch immer, daß die Urteilskraft gerade nicht selbstgesetzgebend sein könne (im Unterschied zu Verstand und Vernunft). Oder betrifft dies nur die Einbildungskraft? Hier zeigt sich jedenfalls beispielhaft der begriffliche Austausch von Urteilskraft und Einbildungskraft je nach strategischen Gründen der Argumentation. Cf. Fußnote 48 zum gleichen Thema.
126 SUBJEKTIVITÄT UND ÄSTHETIK
Was wir also durch die Lust am Schönen durch Freiheit wahrnehmen, ist eine übersinnliche Notwendigkeit, die wir den Naturerscheinungen idealistischerweise unterlegen. Die Zweckmäßigkeit des Naturschönen besteht nicht darin, daß es Wohlgefallen erregt, sondern daß es – oder sich in ihm – die Angemessenheit von Subjekt und Welt qua Lust zeigt und beweist. Ästhetische Lust ist also bloß sinnliches Mittel zur Erfahrung eines übersinnlichen Zwecks und nicht Selbstzweck, wie in der Kunst und der sie reflektierenden Theorie seit dem 19. Jahrhundert oft propagiert. Daher ist Kants Theorie letztlich auch keine Begründung der Autonomie der Kunst (was sie auch gar nicht sein will), sofern sie sich überhaupt für Kunst und nicht nur für Naturschönes interessiert. Die ästhetische Lust bzw. ihre Berechtigung ist nur begründbar, wenn sie weder auf Angenehmes noch auf Gutes als solches rekurriert, sondern funktional in Kants transzendentalphilosophisches Begründungsprojekt eingebunden ist. Die ideologische Funktion des Schönen liegt dann darin, weder einfach Lust zu bereiten (wie das bloß Angenehme und daher in seiner Güte Zweifelhafte, da es nur für mich, also subjektiv, angenehm ist), noch mit dem begrifflich ableitbaren Guten zusammenzufallen, da die Lust dann nichts mehr begründen könnte, sondern aus der Achtung vor den moralischen Ideen etc. entspränge. Die Lust am Guten ist bloß sekundäre Lust (nämlich Achtung), auf der sich nichts fundieren läßt. Gerade die Autonomie der ästhetischen Lust gegenüber dem Angenehmen und dem Guten, die gerade keine Autonomie der Lust an der Kunst oder Natur selbst ist, soll laut Kant ihre subjektive Gründungsfunktion verbürgen. Die Autonomie der ästhetischen Lust gründet nämlich in dem angeblichen Substrat der Menschheit (das in jedem Subjekt irgendwie ‚da‘ sein soll), als dessen Erfahrungsmedium der Geschmack fungiert. Durch die Existenz des Geschmacks zeigt sich, daß die Erkenntniskräfte sowohl bei allen Menschen gleichförmig funktionieren als auch die Objekte der Welt zu ihnen (den Erkenntniskräften nämlich) passen. Gerade die transzendentalphilosophische Funktion der Lust am Schönen sichert also absurderweise ihre Autonomie. Wir fühlen Lust an den schönen Dingen der Natur, als ob ihrer Schönheit der Zweck zugrundeläge, genau diese Lust in uns hervorzurufen. Die Lust beweist, daß es Dinge in der Welt gibt, die Lust hervorrufen können. Ist diese Lust also letztlich tautologisch? Und begründet die Tautologie (Lust ist eben Lust, A = A) als logische Form nicht kontextlos wahre Behauptungen? Liegt also die Überzeugungskraft der transzendentalphilosophischen Gründung der Lust in der Formulierung nicht eines Paradoxes, sondern einer Tautologie? Oder in der tautologischen Auflösung bzw. Reformulierung des Paradoxes? Das Paradox war ja: daß wir eine Lust an Dingen empfinden, die nichts mit ihrer Beschaffenheit zu tun haben soll oder zumindest nicht auf diese reduzibel ist und trotzdem nicht bloß subjektiv ist; eine Lust, die zugleich notwendig sein und auf Freiheit beruhen soll. Wenn jetzt diese Dinge nur so sind, wie sie sind, damit wir eine Lust an ihnen empfinden, dann erklärt die Lust nichts mehr (schon gar nicht transzendentalphilosophisch), sondern beschreibt nur noch eine Weise unseres Bezugnehmens auf Objekte der Welt, die nicht mehr vor anderen privilegiert wäre. Damit wäre dann das transzendentale Beantwortungsprojekt der Frage: wie synthetische Urteile a priori möglich seien (hier der ästhetischen Urteile) allerdings im Ansatz gescheitert. Denn die auf Lust beruhenden Urteile sind nicht mehr synthetische Urteile,
DIE IDEOLOGIE DES SCHÖNEN 127
sondern tautologische Urteile: ich fühle eben Lust, weil ich sie fühle und kann nicht sagen, warum. Allenfalls könnte ich historisch-empirische Regelmäßigkeiten dieser Urteile beschreiben, denen nun der Streit über ihre Richtigkeit konstitutiv (und nicht mehr bloß regulativ52 wie anscheinend von Kant) eingeschrieben ist. Gegen die tautologische Auflösung des Paradoxes (unter Rekurs auf Übersinnliches und unter dem Diktat der Forderung, alle vernünftige Erkenntnis dürfe nicht paradox oder antinomisch sein, wenn sie wahr sein soll)53 als Grundlegung der Vernunft wird hier die Unhintergehbarkeit der paradoxalen Relation von Liebe und Schönheit mindestens der Ästhetik zugrundegelegt.54 Denn einerseits lieben wir das Schöne, während andererseits uns das schön erscheint, was wir lieben. Dieses Paradox oder diesen Zirkel gilt es nicht auszuschalten, sondern allererst in seiner Ursprünglichkeit zu denken und zu denken zu wagen. Denn die Konsequenzen sind beträchtlich. Diese Arbeit plädiert dafür, daß der Zweck des menschlichen Vernunftgebrauchs sich darin gründen sollte, dem Zusammenhang von Liebe und Schönheit gerecht zu werden. Damit wird dieser Zweck, wie in der Einleitung gefordert, außerhalb der Vernunft selbst gesetzt. Was noch zu beschreiben bleibt, ist die Weise, wie wir unsere Vernunft gebrauchen sollten, um diesem Zweck gerecht werden zu können oder dies zumindest zu versuchen. Zwei Weisen eines solchen Vernunftgebrauchs sind die Ironie und das Spiel. Deren Analyse widmen sich die folgenden Kapitel.
52 „Der Begriff der Urteilskraft von einer Zweckmäßigkeit der Natur ist noch zu den Naturbegriffen gehörig, aber nur als regulatives Prinzip des Erkenntnisvermögens“ (KdU B LVI f./Hervorhebung von mir, J.S.). 53 Kant ist der Meinung, man müsse die Antinomien auflösen, weil „kein anderer Ausweg übrig bleibt“, um „die Vernunft mit sich selbst einstimmig zu machen“ (KdU B 239). 54 Das hier zugrundegelegte Ideal des philosophischen Textes ist von daher nicht rationale oder vernünftige Einhelligkeit, sondern eine der Komplexität der Wirklichkeit der Phänomene angemessene Beschreibung, verbunden mit einem selbstreflexiven Vernunftgebrauch (den man durchaus immer noch von Kant lernen kann): ad res, wie der alte Schlachtruf der Phänomenologie lautet.
4. Ironie und Poesie bei Paul de Man und Friedrich Schlegel I In diesem Kapitel werde ich eine Konzeption ästhetisch bestimmter Subjektivität im Anschluß an Paul de Man und Friedrich Schlegel diskutieren, die sich kritisch abhebt von der von Heidegger rekonstruierten neuzeitlichen Metaphysik des subjektiven menschlichen Selbstbewußtseins. Die Texte Paul de Mans stellen ihre Einsichten oftmals in einem rhetorischen Duktus dar, der sie eigentlich als Wiederentdeckungen von im Verlauf der Geschichte verschütteter Erkenntnis ausweist. Seine Texte berufen sich jedoch nicht nur einfach oberflächlich auf den Rechtsanspruch, im geschichtlichen Verlauf Verdrängtes in einer freilegenden Wiederholung wiederum präsent zu machen. Die Annahme einer grundsätzlichen Wiederholbarkeit der Erkenntnis bzw. der Fragestellung oder des Problems stellt nicht nur den Begriff der Geschichte bzw. der Geschichtlichkeit selbst in Frage, sondern sie ist bei de Man auch mit der systematischen Voraussetzung verbunden, Textstrukturen mittels rhetorischer Terminologie analysieren und sie darauf reduzieren zu können. Dabei werden nicht nur literarische oder geschichtsphilosophische Problematiken, sondern auch subjekttheoretische oder ästhetische Fragen einer rhetorischen Analyse durch die Literaturwissenschaft zugänglich gemacht. Bei de Man hat Geschichte nurmehr den Charakter eines Scheins, der erst aus den „Wechselspielen“ rhetorischer Tropen und Figuren resultiert: „Aus dem dialektischen Wechselspiel zwischen Ironie und Allegorie sowie ihrem gemeinsamen Wechselspiel mit anderen, der Mystifikation unterliegenden Sprachformen (wie der symbolischen oder der mimetischen Repräsentation), die sie aus eigener Kraft nicht verdrängen können, entsteht das, was Literaturgeschichte genannt wird.“1
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Paul de Man: Die Rhetorik der Zeitlichkeit (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 83-130), hier S. 125. Im folgenden unter dem Sigel [IÄ] zitiert. – Cf. auch Paul de Man: Rhetorik der Persuasion (in: ders.: Allegorien des Lesens, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988, S. 164-178). Im folgenden unter dem Sigel [AL] zitiert: „Als Persuasion aufgefaßt ist Rhetorik performativ, doch als ein System von Tropen betrachtet dekonstruiert sie ihre eigene Performanz. Rhetorik ist darin ein Text, daß sie zwei miteinander unverträgliche, sich wechselseitig zerstörende Blickpunkte ermöglicht und deshalb jedem Lesen oder Verstehen ein unüberwindliches Hindernis in den Weg legt. Die Aporie zwischen performativer und konstativer Sprache ist bloß eine Version der Aporie zwischen Trope und Persuasion, die die Rhetorik sowohl hervorbringt wie auch pa-
130 SUBJEKTIVITÄT UND ÄSTHETIK
„[T]emporale Artikulationen wie Erzählungen oder Geschichten [sind] ein Korrelat der Rhetorik, nicht aber Rhetorik ein Korrrelat der Geschichte.“2
Diese Ableitung der Geschichte aus dem Zusammenspiel rhetorischer Tropen erweckt zunächst den Verdacht, daß Geschichte bzw. überhaupt die Diachronie zeitlicher Vollzüge eine Unterordnung unter die Analyse synchroner Textstrukturen erfährt.3 Dieser systematische Vorrang synchroner Strukturen über diachrone Prozesse ließe sich in strukturalistischer Terminologie auch als die Annahme einer Priorität der langue vor der parole verstehen.4 Dabei muß zwischen der zeitlichen Struktur der Tropen wie etwa der Allegorie und der Unterstellung einer Stabilität der rhetorischen Synchronie der Tropen als Text unterschieden werden.5 Diese scheinbare Priorität der Synchronie vor der Diachronie wird allerdings dadurch teilweise revidiert, daß in der Analyse einiger rhetorischer Tropen, wie etwa der
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ralysiert und ihr so den Anschein einer Geschichte verleiht“ (AL 176). Hier steht also das Überzeugen als telos der Rede gegen eine Analyse rhetorischer Strukturen und Momente, die in sich die Kraft zur Persuasion transportieren. Cf. Paul de Man: Epistemologie der Metapher (in: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996, S. 414-437), hier S. 436 f. In dieser Perspektive erhellt auch die Kritik Harold Blooms an de Mans reduktivem Verständnis der Rhetorik: „A diachronic rhetoric will emerge when we can begin to see that every synchronic concept of trope is itself necessarily only another trope. [...] When de Man and Derrida [...] speak of tropes as epistemological instruments, they have turned a considerable catachresis upon the traditional concept of trope“ (Harold Bloom: Wallace Stevens. The Poems of our Climate (Cornell University, London 1976/77), hier S. 388). Ein Vergleich der Positionen de Mans und Blooms zur Ironie im besonderen und zu den rhetorischen Tropen im allgemeinen wäre sehr aufschlußreich, entgeht aber dem hier vertretenen Erkenntnisinteresse. Ein möglicher Einsatzpunkt sei hier aber zumindest kurz angedeutet. Blooms Verständnis der Tropen speist sich aus drei Traditionen: es ist rhetorisch (durch Kenneth Burke), genealogisch (durch Nietzsche) und psychoanalytisch (durch Freud und seine Nachfolger). Eine Trope ist bei Bloom eine intertextuelle (d.h. biographische) Figur der Einflußangst (eine Geste der Abwehr gegenüber der Tradition). Eine Trope ist eine Figur in der intertextuellen Ökonomie von (Dichter-)Selbst und Text, d.h. in anderer Terminologie: eine Trope ist die Ökonomie der Relation von Kraft und Produkt (Text). Allerdings räumt de Man an anderer Stelle die Möglichkeit diachroner Strukturen ein: „Diachrone Strukturen wie die Musik, die Melodie oder die Allegorie erhalten [bei Rousseau, J.S.] den Vorzug vor pseudosynchronen Strukturen wie der Malerei, der Harmonie oder der Mimesis, da diese zu dem irrtümlichen Glauben an eine Stabilität der Bedeutung verführen, die es in Wahrheit gar nicht gibt“. (Paul de Man: Die Rhetorik der Blindheit: Jacques Derridas Rousseauinterpretation (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 185-230), hier S. 217). De Man scheint eine ahistorische Stabilität rhetorischer Substitutionen wie der Tropen vorauszusetzen, auch wenn er sie nicht rein synchron versteht.
IRONIE UND POESIE
131
Ironie oder der Allegorie, de Man gerade den Versuch unternimmt, die Diachronie zeitlicher Vollzüge einer tropischen Beschreibung zugänglich zu machen und sie so in eine rhetorische Analyse von textimmanenten Strukturen zu integrieren. Im Verlauf dieses Kapitels wird es darum gehen zu klären, inwieweit dieser Versuch de Mans überzeugt. Die vorliegende Arbeit geht davon aus, daß de Mans Versuch mindestens zum Teil defizitär bleibt und daher seine Rekonstruktion der Ironie in einem Rückgang auf Friedrich Schlegel um dessen Poesiekonzeption ergänzt werden muß. Was de Mans Beschreibung aus systematischen – oder sollte man sagen rhetorischen? – Gründen entgeht, ist gerade die Dynamik subjektiver Vollzüge, die sich nicht in synchronen Textstrukturen feststellen läßt, sondern die gesetzten Textstrukturen stets aufs Neue transzendiert. Es liegt auf der Hand, daß mit der Frage einer Wiederholbarkeit von Erkenntnissen auch eine hermeneutische Problematik berührt wird, und zwar nicht nur deswegen, weil sich die Texte de Mans scheinbar nur mit der Spezifik einer Geschichte der Literatur(wissenschaft) oder der Philosophie befassen. In einem gewissen Sinn scheint die Reduktion der textuellen Strukturen auf eine Analyse der Tropen eine Konzeption der Interpretation von Texten auszuhebeln, nach der diese wesentlich durch den geschichtlichen Abstand des Interpreten zum interpretierten Text geprägt ist.6 Da die Struktur der rhetorischen Tropen bzw. die rhetorische Struktur von Texten ahistorisch beschreibbar erscheint, scheint die Möglichkeit ihrer Analyse auch die Gebundenheit der Interpretation an den historischen Kontext zu unterlaufen. Der Frage, inwieweit rhetorische Analysen tatsächlich die Geschichtlichkeit der Interpretation umgehen können, wird in dieser Arbeit jedoch nicht weiter nachgegangen.7 Das problematische Verhältnis von Text und seiner Interpretation hat aber nicht nur eine inhaltliche Relevanz in den Texten de Mans selber, sondern betrifft auch die Frage, für wie plausibel oder für wie legitim man bereits die Durchführung 6 7
Cf. z.B. H.R. Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1982), S. 657-660. Auch die Gadamersche Hermeneutik hält trotz aller Revision Schleiermachers noch daran fest, daß das Verstehen eines Textes durch den geschichtlichen Abstand von Produktion und Lektüre bedingt ist. Das Verstehen eines Textes ist aber nicht das Gleiche wie die Rekonstruktion seines Produktionskontextes, sondern vollzieht sich in der Lektüre zwischen Vorverständnis und Texterfahrung. Der geschichtliche Abstand zwischen Textproduktion und Textlektüre ist zugleich konstitutiv Bedingung der hermeneutisch produzierten Wahrheit wie negativ ein Problem, auf das die hermeneutische Methode zu antworten und so den geschichtlichen Abstand fruchtbar zu machen sucht. Aber ist nicht die Illusion, es gäbe eine einfach erzählbare Realgeschichte, ein Effekt dieser Kontextdifferenz zwischen écriture und lecture, die nur durch den Text selbst vermittelt wird? Und produziert nicht diese empfundene Kontextdifferenz die Hypothese, es gebe Geschichte bzw. geschichtliche Entwicklung oder zumindest Veränderung? Was bedeutet es dann, daß der Text selbst in seinem unmöglichen Versuch, geschichtliche Ereignisse realistisch zu beschreiben, durch seine narrative Temporalisation die Illusion der Geschichtlichkeit erst erzeugt? Und daß diese Bewegung scheinbar konstitutiv ist für die historische (!) Epoche der Neuzeit?
132 SUBJEKTIVITÄT UND ÄSTHETIK
der als vorgebliche Rekonstruktionen auftretenden Texte de Mans hält. Die Frage nach dem Verhältnis der Rekonstruktionen de Mans zu den von ihm rekonstruierten Autoren und Texten verlangt eine Entscheidung hinsichtlich dessen, welcher hermeneutische Maßstab hierfür angelegt werden soll, ob dieser Maßstab der einer ‚strengen‘ philologischen Methodik sein soll, oder aber ob ein Maßstab, der eher auf philosophische Fruchtbarkeit und Produktivität der Lektüre aus ist, hierfür angesetzt wird. Von der Wahl dieses vorentscheidenden hermeneutischen Maßstabs hängt letztlich auch die Frage der Legitimität der Lektüren de Mans ab. Die hier vorliegende Arbeit wird sich für die letztere Vorgabe entscheiden und damit bereits eine Reihe kritischer Einwendungen, die im Namen philologischer Richtigkeit gegen de Man gemacht werden könnten, substanzlos erscheinen lassen.8 Die vorliegende Rekonstruktion de Mans sieht von daher von einer ständigen Überprüfung der Plausibilität der Behauptungen de Mans aus strategischen Gründen ab. Allerdings ist festzuhalten, daß de Mans mangelnde Bereitschaft zu strenger philosophischer Reflexion und Differenzierung ein ernstes Hindernis für eine philosophische Fruchtbarmachung seiner Thesen und Beschreibungen ist. Daß es sich bei den hier zugrundegelegten Texten von de Man in erster Linie um Lektüren (früh-)romantischer Autoren handelt, verleiht dem Problem des einer Rekonstruktion zugrundeliegenden philologischen Kriteriums noch eine weitere Dimension. Der oft – schon absichtlich gewählte – fragmentarische Charakter der Texte von Friedrich Schlegel stellt die Frage nach der Legitimität des interpretatorischen Zugriffs auf diese Texte in einer noch verschärften Weise. Aufgrund des kryptischen Charakters dieser Fragmente gilt hier für jede Rekonstruktion in noch stärkerem Maße, was sowieso für jede Interpretation gilt: daß ihr nämlich ein untilgbarer Rest Willkürlichkeit innewohnt, der gerade die Freiheit des Interpreten gegenüber der überlieferten Tradition ausmacht. Im Falle der frühromantischen Texte unterliegt bereits die Auswahl der Textstellen und die Interpretation von deren rhetorischem Gestus einer untilgbaren Arbitrarität.9 Winfried Menninghaus unterscheidet in seinem Romantikbuch in Anlehnung an Walter Benjamin zwei mögliche Arten einer systematischen Interpretation des frühromantischen Textcorpus, nämlich eine Lektüre gemäß der Forderung, „einzelne Aufzeichnungen und Fragmente nur innerhalb der unmittelbar zugehörigen Kontexte zu interpretieren“ sowie zum anderen die Praxis einer „ParallelstellenLektüre quer durch die verschiedenen Notizbücher und Konvelute hindurch“. Für die Legitimität einer „systematischen Interpretation des romantischen Textcorpus“ führt er ein von Benjamin entlehntes Kriterium an, der „die romantische Erkenntnis der Ablösung des Werks vom Autor, der produktiven Nichtidentität von Intention, Werk und Kritik auf die Romantiker selbst bezogen“ habe: die Frage nach der „systematischen Beziehbarkeit“ der Textstellen sei unabhängig von der Frage zu stellen, ob die Romantiker selbst „dieses System vollständig angegeben haben oder nicht“. Ihre „Legitimation findet die problemorientierte Lektüre [...] 8
9
Cf. etwa Brian Vickers: Nietzsche im Zerrspiegel de Mans: Rhetorik gegen die Rhetorik (in: Josef Kopperschmidt/Helmut Schanze (Hg.): Nietzsche oder ‚die Sprache der Rhetorik‘, Fink, München 1994, S. 219-240). Das ist aber kein systematischer Einwand gegen das Fragment.
IRONIE UND POESIE
133
allein in sich selbst“, indem eine solche sich daran messen lassen muß, ob es ihr gelingt, die heterogenen Fragmente auf systematische Gedankengänge zu beziehen.10 Das hermeneutische Kriterium der sinnvollen Beziehbarkeit von Parallelstellen quer durch den frühromantischen Textcorpus, wie es der von Benjamin geforderte Maßstab einer Rekonstruktion ist, wird hier nicht nur de Mans Rekonstruktionen frühromantischer Autoren zugute gehalten, sondern im dritten Teil dieses Kapitels auch für diese Arbeit selbst methodisch vorausgesetzt. Da die Fülle der Implikationen der angesprochenen Problematik den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde, ist es ratsam, eine systematische Beschränkung einzuziehen. Dieses Kapitel wird sich daher wesentlich auf die Rekonstruktion der Schlegelschen Ironie durch de Man und auf den Poesiebegriff Schlegels konzentrieren, und zwar methodisch in zwei Schritten. Zunächst werde ich das Verhältnis von Geschichte, Narration und Ironie11 bei de Man rekonstruieren, und zwar in der Perspektive der Möglichkeit eines subjekttheoretischen Zugriffs (II). In einem zweiten Schritt (III) möchte ich zeigen, daß bzw. wie man de Mans (Rekonstruktion der) Ironiekonzeption in einer ‚produktiven Lektüre‘ ergänzen muß, um sie für eine subjekttheoretische Beschreibung fruchtbar zu machen, und zwar wird dies in einem Rückgang auf den Entwurf der romantischen Transzendentalpoesie bei Friedrich Schlegel geschehen.
II De Man selbst setzt sich in seinen Texten mit der Problematik der Geschichtsschreibung auseinander, und zwar tut er dies unter anderem in seinen Lektüren romantischer Autoren.12 Jeder Versuch, eine Geschichte der Romantik zu schreiben bzw. die romantischen Schriftsteller geschichtlich einzuordnen, funktioniere nach einem genetischen Prinzip. Diesem genetischen Prinzip gehorche nicht nur ein System, das „ein natürliches, organisches Prinzip ins Zentrum der Dinge stellt und eine Reihe von analogen Ausprägungen um dieses Zentrum herum aufbaut“, sondern ebenso eine „dialektische Konzeption von Zeit und Geschichte“, da selbst eine „Allegorisierung und Ironisierung des organizistischen Modells [...] das genetische Schema unangetastet läßt“. Selbst eine „kritische ‚Dekonstruktion‘“ des 10 Winfried Menninghaus: Unendliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion (Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1987), hier S. 28. 11 C.f. dazu Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2000), S. 259 ff. 12 Cf. zur Romantik und Ironie: Peter Szondi: Friedrich Schlegel und die romantische Ironie (in: ders.: Satz und Gegensatz, Insel, Frankfurt/Main 1964), S. 5-24; ders.: Poetik und Geschichtsphilospohie. 2 Bände (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974); Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1989); Sören Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (Oldenbourg, München/Berlin 1929); Alexander García Düttmann: Philosophie der Übertreibung (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2004), S. 71-90.
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organizistischen Modells, die „einschneidende Diskontinuitäten“ erzeugt und die „Geradlinigkeit des zeitlichen Ablaufs in einem solchen Ausmaß [unterbricht], daß niemals irgendeine Folge tatsächlicher Ereignisse oder ein einzelnes Subjekt von sich aus volle historische Bedeutung erlangen könnte“, sprenge für sich noch nicht das genetische Prinzip. Und zwar deshalb, weil das genetische Prinzip oder Schema, das über die begrifflichen Kategorien von „Subjekt, Absicht, Negation, Totalisierung, gestützt durch die zugrundeliegenden metaphysischen Kategorien der Identität und Präsenz“ verfügt und funktioniert, „zwangsläufig jeglichem historischen Erzählen zugrunde liegt“ (Hervorhebung vom mir, J.S.).13 Historische (und biographische) Narrationen sind deshalb ein besonderer Fall, weil diese unsere fundamentale Orientierung in der Welt organisieren. So werden z.B. unsere Handlungen nur dann sinnvoll, wenn sie narrativ eingebettet sind. Das dem historischen Erzählen inhärierende genetische Schema ist eine sinnstiftende Projektion, die die Zeit auf ein lineares Modell reduziert.14 Gene13 Paul de Man: Genese und Genealogie (in: ders.: Allegorien des Lesen, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988, S. 118-145), S. 119 ff. Im folgenden unter dem Sigel [AL] zitiert. – Der Terminus der „kritischen Dekonstruktion“ spielt anscheinend auf das archäologische Projekt von Michel Foucault an. De Man gesteht diesem zwar zu, Subjekte und Ereignisse nurmehr als „Teile eines Prozesses“ aufzufassen, „den sie weder umfassen noch reflektieren können, in dem sie jedoch ein Moment sind“. Da jedoch die Bewegung der Geschichte selbst „auf ihrer Totalisierung beruht“ und dem „Gesetz schließlicher Übereinstimmung vom Ende zum Ursprung“ gehorcht, bleibt angeblich auch eine solche „von einer teleologischen Absicht beseelte Diachronie“ oder Bewegung genetisch. Und zwar deshalb, weil jedes „einzelne Subjekt oder Ereignis, Texte eingeschlossen“, als Momente in diese Übereinstimmung eingeordnet werden könnten. Zwar fielen in der kritischen Dekonstruktion Interpretation der Geschichte und Geschichte zusammen, gleichwohl sei es wiederum das genetische Prinzip, das zwischen beiden vermittle (AL 120 f.). Hier zeigt sich bereits die Schwierigkeit, die de Man mit der Integration diachroner Vollzüge bzw. überhaupt mit zeitlicher Differenz hat. Jede Beschreibung einer diachronen Bewegung gerät ihm unter den Verdacht, eigentlich entsprechend dem genetischen Modell strukturiert zu sein, das einem metaphysischen Konzept der Identität und der Präsenz verfallen bleibt. 14 Die Selbstkonstitution von Subjekten vollzieht sich – zumindest in der abendländischen Neuzeit – wesentlich über Narrationen über das eigene Selbst, in denen qua Singularität der eigenen Autobiographie die Individualität des Lebenslaufes hergestellt und gesichert werden soll (cf. Kapitel 3 dieser Arbeit). Damit ist zugleich ein komplexer temporaler Zusammenhang von gegenwärtigen Subjektvollzügen und erinnerter und erzählter Vergangenheit sowie von entwerfender Zukunft gegeben. Diese drei „Zeitekstasen“, wie Heidegger sagt, sind in allen subjektiven Vollzügen untrennbar und so ineinander verwoben, daß sie sich nicht einfach auf ein lineares Zeitmodell applizieren lassen. Möglicherweise ist die lineare Konzeption der Zeit (als bloße historische Abfolge) nur ein Effekt einer Trivialisierung der Temporalität, die dem Erzählen als solchem notwendig eingeschrieben ist. Erzählen ist vielleicht diese Tätigkeit der Trivialisierung selbst. Auf der anderen Seite sind Autobiographien auch immer nur Erzählungen, die sich stets nach bestimmten Mustern organisieren,
IRONIE UND POESIE
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tisch ist also die narrative ordnende Verbindung von Subjekten, Ereignissen und Texten mittels einer einfachen linearen Chronologie und Kausalität.15 Das genetische Modell impliziert einen Begriff der Geschichte als ein linear gedachtes Fortschreiten der Realität, das sich je vom Vorhergehenden absetzt. Jeder Schritt auf dieser fiktiven Linie setzt sich selbst als Fort-schritt gegenüber einer zurückprojizierten Vergangenheit. Festzuhalten ist aber, daß es natürlich Alternativen zu dieser Weise des Erzählens gibt, die sich z.B. kritisch von dem einfachen Modell einer linearen Zeit absetzen. Es gibt also auch Erzählpraktiken, die sich dieser Trivialisierung der Zeit entziehen. Eine dieser Praktiken ist die Ironie. An die Schwierigkeit, die es angeblich darstellt, eine Geschichte der Romantik zu schreiben, knüpft de Man die Frage an, ob diese Schwierigkeit nicht gerade ein Beleg dafür sein könnte, daß die Romantiker möglicherweise der „Untergrabung der absoluten Autorität dieses Systems nähergekommen“ sind als alle potentiellen Nachfolger: möglicherweise sei „die Romantik (ihrerseits ein Periodenbegriff) die Bewegung [...], die das genetische Prinzip“ mit seinen Periodeneinteilungen bestritten und in Frage gestellt habe (AL 119-121/Hervorhebung von mir, J.S.). Im Rahmen einer Lektüre der Geburt der Tragödie von Friedrich Nietzsche entwikkelt de Man die These, daß genetische Modelle der Geschichte nur „ein Beispiel rhetorischer Mystifizierungen neben anderen“ seien und „sich hohl [ausnehmen], wenn sie der Klarheit eines neuen ironischen Lichtes ausgesetzt werden“. Eine Erzählung auf der Grundlage des genetischen Prinzips könne sogar selbst zu Einsichten führen, „welche die Ansprüche zerstören, auf denen die genetische Kontinuität gegründet war, die aber nicht formuliert werden können, wenn es dem Trugschluß nicht erlaubt gewesen wäre sich auszubreiten“ (AL 143 f.). Reformuliert lautet die von de Man vertretene These, daß einerseits Geschichte – und mit ihr das Muster der (Auto-)Biographie als solcher – nur eine Spezialform von Erzählungen ist, für die es charakteristisch ist, daß sie sich notwendigerweise immer gemäß einem genetischen Prinzip strukturieren. Ob die geschichtliche Abfolge als evolutionärer Fortschritt oder als Verfall, als kontinuierlich-linear oder als diskontinuierlich verstanden wird, scheint angesichts des immer zugrundegelegten genetischen Schemas ohne Belang.16 Andererseits hängt jede Möglichkeit einer Infragestellung des genetischen Modells, das dem historischen Erzählen zugrundeliegt, ihrerseits von dem Vorhandensein einer solchen Erzählung ab und kann nur im Durchgang durch diese erfolgen. Unterum überhaupt sinnvoll erscheinen zu können. Unter der Voraussetzung der These, daß ästhetische Erfahrungen wesentlich mit der Infragestellung solcher fundierenden Erzählmuster (etwa durch Antiromane) zu tun haben bzw. vielleicht sogar diese sind, wäre es naheliegend zu vermuten, daß in ästhetischen Erfahrungen die Bewegung der erzählenden Selbstkonstitution subjektiven Sinns selbst in Frage gestellt ist. 15 Kausalität ist eine notwendige idealistische Projektion auf unsere Umwelt, um dort Ordnung (=Verständigkeit) zu schaffen. Kausalität ist Effekt einer linear gedachten Konzeption der Zeit. Linear scheint die Zeit deswegen, weil alles Geschehen sich scheinbar als Ursache-Wirkungsrelationen organisiert, also kausal. 16 Cf. hierzu Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (Fischer, Frankfurt/Main 1991).
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brochen werden kann die Kontinuität einer historischen Erzählung durch Ironie. Hier wäre gegen de Man festzuhalten, daß nicht alle Erzähl- bzw. Sprechakte zwangsläufig auch historische Narrationen sind – das sind z.B. performative Äußerungen nicht. Von de Man ausgeklammert bleibt auch die Frage nach der Möglichkeit einer anderen – z.B. dekonstruktiven – Erzählpraxis. Allerdings orientiert sich seine Darstellung zunächst an historischen bzw. historisierenden Texten, für die seine Argumentation einleuchtet. Es erscheint aber wenig plausibel, daß diskontinuierliche historische Narrationen auf die gleiche Weise durch genetische Modelle strukturiert sein sollen wie lineare. Der in einer historischen Narration hergestellte Zusammenhang hat den Status eines jeder Geschichtsschreibung notwendig immanenten transzendentalen Scheins.17 Das Herstellen eines historischen Zusammenhangs durch eine sinnhafte Verknüpfung von Ereignissen, Texten und Subjekten läßt sich auf doppelte Weise als Mystifikation verstehen. Zum einen verdeckt die historische Erzählung ihren kontingenten Charakter, in dem sie Geschichte als Abfolge realer geschichtlicher Notwendigkeit präsentiert und sich so den Anschein einer natürlichen Notwendigkeit verleiht. Der Schein geschichtlicher Notwendigkeit impliziert immer eine genetische Rechtfertigung des Gegenwärtigen und Bestehenden als eines notwendig Zustandegekommenen. Geschichtliches Erzählen ist daher immer (auch) ideologische Mystifikation. Zum anderen verdeckt die eine historische Erzählung den ihr eigenen endlichen Charakter, in dem sie andere mögliche Erzählungen qua eigener Setzung ausschließt. Auch innerhalb des genetischen Schemas bleiben jedoch verschiedene historische Erzählungen möglich, da in diesem eine Pluralität von Möglichkeiten der Herstellung historischer Zusammenhänge eröffnet wird. Es liegt auf der Hand, daß dieser der historischen Narration eingeschriebene Scheinbegriff nicht das einfache Gegenstück des Wahrheitsbegriffs sein kann, denn er ist strukturell in unsere Erzählpraxis eingeschrieben. Wahrheit selbst gibt es nur im Rahmen solcher sinnstiftenden Erzählungen, deren referentieller Zugriff auf die Dinge oder Tatsachen selbst aber stets fragwürdig bleibt. Die These vom Scheincharakter der historisierenden Narrationen konstituiert ein Mißtrauen gegen ihren Ausweis der natürlichen Notwendigkeit, ohne an dessen Stelle eine andere oder höhere Wahrheit zu etablieren als die einer skeptischen Grundhaltung in Bezug auf das, was uns als scheinbar evident in solchen Erzählungen tagtäglich zugemutet wird. Die Einsicht in den Scheincharakter des historischen Erzählens kann uns den Weg zu einer im Alltag integrierten Skepsis gegenüber der ideologisch behaupteten Notwendigkeit des Bestehenden ebnen. Die Frage, ob die ‚realen‘ geschichtlichen Ereignisse und Subjekte dem genetischen Schema zu entsprechen vermögen, verliert angesichts dieser Theorie, nach der sich Geschichtsschreibung als dem realen geschichtlichen Verlauf uneinholbar nachträgliche sinnstiftende Erzählung vollzieht, an Relevanz. Da der ‚reale‘ Geschichtsverlauf sich radikal jedem erkennenden Zugriff entzieht, legt es der 17 Es liegt eine zusätzliche ironische Pointe der Texte de Mans darin, daß er das Programm einer Demaskierung mystifizierender, jeder Narration unterlegten genealogischen Verknüpfungsmuster im rhetorischen Gewand einer Revision gängiger und verfälschender (Literatur-)Geschichtsschreibung auftreten läßt.
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narrative Charakter aller Versuche, Subjekte, Texte und Ereignisse in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, nahe, historische Narrationen als Sonderfall einer allgemeinen Theorie der Narration aufzufassen und sie damit einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung zugänglich zu machen oder unterzuordnen. Mit der Frage einer solchen allgemeinen Theorie der Narration befaßt sich de Man im Rahmen einer Vorlesung aus dem Jahre 1977 mit dem Titel The Concept of Irony, auf deren Mitschrift sich meine Ausführungen im folgenden zunächst stützen werden. In diesem Text, der eigentlich eine Rekonstruktion der Ironiekonzeption Friedrich Schlegels ist, wird die Entgegensetzung von Romantik und Geschichte – ähnlich wie oben – wiederholt bzw. sogar noch radikalisiert. Kierkegaard etwa habe als Reaktion auf Friedrich Schlegels Roman Lucinde „eine ganze Theorie der Geschichte erfunden, nur um die Tatsache zu begründen, daß man Friedrich Schlegel loswerden sollte und daß er kein wahrer Ironiker sei“. Auch die ganze Disziplin der Germanistik habe sich nur „aus dem einzigen Grund entwickelt [...], die Herausforderung zu umgehen, die Schlegel und die Lucinde für die ganze Notion einer akademischen Disziplin darstellen, die sich ernsthaft mit deutscher Literatur zu beschäftigen sucht“.18 Ironie und Geschichte scheinen „auf kuriose Weise miteinander verbunden zu sein“, was sich eben darin zeige, daß Kierkegaard die Geschichte als Verteidigungsmittel gegen die Schlegelsche Ironie angerufen habe. Es sei „sehr schwer“, ein System der Geschichte zu ersinnen, das vor Ironie geschützt wäre (CI 184). Was macht die Ironie so gefährlich, daß eine Theorie der Geschichte ebenso wie die Genese einer ganzen akademischen Disziplin sich angeblich nur als Abwehrreaktion und Verteidigungsmittel dagegen verstehen lassen? Die Herausforderung durch die Ironie liegt – laut de Man – gerade darin, daß die Texte Schlegels auf eine Weise die „Kategorien des Selbst, der Geschichte und der Dialektik“ infragestellen und unterminieren, die so radikal ist, daß selbst Schlegels Verteidiger – de Man erwähnt Lukács, Benjamin und Szondi – sie im Zuge seiner Verteidigung anscheinend zwangsläufig wieder einführen (cf. CI 182). Diese radikale Infragestellung der Kategorien des Selbst und der Geschichte geschieht durch die Ironie. Die Sprengkraft, die sie anscheinend für jedes System und für jede Narration aufweist, scheint zunächst darin zu liegen, daß „das, was in der Ironie auf dem Spiel steht, immer die Frage ist, ob es möglich ist zu verstehen [...]. [Wenn die] Ironie die Frage des Verstehens aufwirft, so wird kein Verstehen der Ironie jemals dazu in der Lage sein, die Ironie zu kontrollieren und zu stoppen [...]; und wenn es der Fall ist, daß das, was in der Ironie auf dem Spiel steht, tatsächlich die Möglichkeit des Verstehens, die Möglichkeit des Lesens, die Lesbarkeit von Texten, die Möglichkeit, sich für eine Bedeutung, ein vielfältiges Set von Bedeutungen oder eine kontrollierte Polysemie von Bedeutungen zu entscheiden, ist, dann können wir sehen, daß Ironie wirklich sehr gefährlich sein kann. Es wäre etwas sehr Bedrohliches in der Ironie, 18 Paul de Man, The Concept of Irony (in: ders.: Aesthetic Ideology, University of Minnesota Press, Minneapolis/London 1996, S. 163-184), hier S. 168. Im folgenden unter dem Sigel [CI] zitiert. – Aus diesem nur auf englisch erhältlichen Text zitiere ich in von mir besorgter Übersetzung.
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gegen das Interpreten der Literatur, die ein Interesse an der Verstehbarkeit von Literatur haben, sich selbst behüten wollten [und daher versuchen] die Trope zu stoppen, stillzustellen, zu kontrollieren.“ (CI 166 f.)
Diese Bewegung der Umgehung, diese umgehende Bewegung der Frage nach der Möglichkeit des Verstehens, die von der Ironie aufgeworfen wird, wäre demnach genau die Bewegung einer Germanistik, die sich auf ernsthafte Weise um Literatur bemüht und für dieses Projekt einer Kontrollierbarkeit der Tropen bedarf. Eine Kontrolle über das „turning away“ der Tropen von buchstäblichen Bedeutungen läuft auf den Versuch eines Stillstellens der tropischen Bewegungen der Sprache hinaus. De Man scheint hier die Ironie textintern zu verorten. Sie wird als textinterne Trope aufgefaßt und kann auch nur als solche die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens aufwerfen. Zugleich bleibt jedoch das Erkennen und Verstehen einer ironischen Äußerung an die Unterstellung einer ironischen Intention des Autors gebunden, auch wenn diese fiktiv bleibt. De Man stellt die Frage nach der Intentionalität ironischer Äußerungen jedoch nicht, und zwar aus systematischen Gründen. Die Frage nach der Möglichkeit eines Verstehens der Ironie wird nämlich auf die Lektüre von Texten reduziert. Die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit einer Determination einer Äußerung durch ihren Kontext wird damit umgangen, was insbesondere für mündliche Kommunikation problematisch bleibt. Es mag für die Lektüre von Texten plausibel erscheinen, daß die Möglichkeit der Ironie die Frage ihrer Lesbarkeit aufwirft, in mündlicher Kommunikation oder im Gespräch wird es aber vermutlich doch Anzeichen in der kommunikativen Situation selbst geben, die das Erkennen einer ironischen Äußerung und ihre Interpretation ermöglichen. Auch ein Vorverständnis im Sinne einer mit der sich ironisch äußernden Person geteilten Geschichte, von geteilten Erfahrungen und vergangener Kommunikation, wird vermutlich in einem spezifischen Gesprächskontext dafür sorgen, daß ein Erkennen und Interpretieren ironischer Äußerungen möglich wird. Denn eine Ironie, die sich ihrer intersubjektiven Gegebenheit entzieht, ist nur idiosynkratisch ironisch. Ironie ist nur Ironie, wenn sie als solche in der kommunikativen Situation verstanden und interpretiert wird – ein Verstehen, dessen Identität mit den realen Autorintentionen gleichwohl problematisch bleiben mag. Zum Gelingen der Ironie bedarf es eines Zusammenspiels der Instanzen Autor/Interpret, denn wenn einer der beiden die Äußerung nicht ironisch versteht, dann gibt es überhaupt keine Ironie, sondern ein Mißverständnis. Das Erkennen der Ironie funktioniert über eine Inadäquation bzw. eine Diskrepanz von Text und Kontext, z.B. von Text und Autorintentionen. Ironie ist die Interpretation dieser Differenz von Text und Kontext (Intention). Dabei ist das Erkennen einer ironischen Äußerung vom Verstehen einer ironischen Äußerung abzuheben. Eine ironische Äußerung, die nicht als solche erkannt wird, wird auch nicht verstanden. Denn wir interpretieren die Ironie, wenn wir sie als solche klassifiziert haben, nicht als bloßen Irrtum des Sprechers, sondern als irgendwie intentional gewollten Irrtum. Ironie, die auf der Ebene eines Irrtums verharrt, ist offensichtlich keine Ironie. Zum Erkennen und Interpretieren ironischer Äußerungen braucht es also stets ein Mehr an Information über den buchstäblichen Text hinaus,
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d.h. wir müssen die Diskrepanz zwischen Kontext der Äußerungen – zu dem auch Intentionen des Sprechers zählen – und Text sowohl als beabsichtigt als auch als propositional gehaltvoll klassifizieren. Wenn ich eine Äußerung ironisch verstehe, dann verstehe ich sie fundamental anders als eine gewöhnliche Äußerung. Es gibt hier eine Art Änderung des hermeneutischen Schlüssels, mit dem der Text aufgeschlossen wird, einen anderen Zugang zum Text, einen anderen Modus der écriture bzw. lecture selbst, der der Ironie und ihrer Ambivalenz gerecht zu werden versucht. Etwas ironisch zu sagen bedeutet, nicht das zu sagen, was man eigentlich sagen will (was man meint), und zwar dies nicht aus äußerlichen Gründen, sondern deshalb, weil sich das zu Sagende als solches nur dadurch der jeweiligen Intention angemessen sagen läßt, wenn man es ironisiert. Ironie beruht vielleicht weniger auf einer Negation des Sinns (wie de Man behauptet), sondern auf einer Änderung unserer für unser Verstehen maßgeblichen hermeneutischen Muster, die für den interpretierten Sinn konstitutiv sind. Dies könnte etwa in die Richtung eines eher spielerischen Umgangs mit dem Sinn von Äußerungen erläutert werden, den die Ironie praktiziert. Die Frage der Ironie ließe sich auch metakommunikativ klären, was natürlich das Problem nur verlagert und nicht entschärft. Es bleibt jedoch die Frage, ob mit dem Hinweis auf eine soziale Pragmatik das von de Man aufgeworfene Problem sich wirklich erledigt, vor allen Dingen, wenn man mit Derrida darauf insisiert, daß es einen vollständig gesättigten Kontext einer Äußerung nur in einer idealistischen Konzeption der Bedeutung geben kann.19 Für die Ebene geschriebener Texte scheinen de Mans Ausführungen jedenfalls plausibel zu sein. Mit der Möglichkeit einer ironischen Intention wird also laut de Man die Frage der Möglichkeit einer Verständigung und des Verstehens (von Texten) aufgeworfen, und zwar aufgrund der Unentscheidbarkeit der Frage, ob der Interpret eine Äußerung ironisch auffassen soll – z.B. als Litotes – oder lieber ernsthaft. Bereits hier zeigt sich die Ambivalenz der Ironie: während sie einerseits eine dem Subjekt verfügbare Trope zu sein scheint (als kalkulierte Öffnung des Gesagten), bezeichnet sie andererseits ein nicht-subjektives, ergo sprachlich-textuelles Geschehen. Aber ist die Ironie – von der de Man bereits gesagt hat, daß sie entgegen dem (ironisch gemeinten) Titel der Vorlesungsmitschrift kein Begriff ist und daß auch der Versuch einer Definition der Ironie die „definierende Sprache in Schwierigkeiten zu bringen scheint“ (CI 165) – selbst überhaupt eine Trope? Eine Leitdifferenz der Vorlesung de Mans ist diejenige von Ironie und Narration. Im folgenden werde ich zunächst die Verbindung einer Theorie der Narration mit dem, was de Man das „tropologische System“ nennt, rekonstruieren, um dann in einem zweiten Schritt das Einbrechen der Ironie in die Kontinuität der Narration zu erläutern. 1. Das tropologische System, von de Man im Anschluß an Fichte beschrieben, entfaltet sich aus der Selbst-Setzung des Ich. Dieses sich selbst setzende Ich ist zunächst kein empirisches Ich, sondern eine leere „logische Kategorie“, ohne Eigenschaften und allen Urteilen unzugänglich. Es wird „ursprünglich“ (originally) erst 19 Cf. Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext (in: ders.: Randgänge der Philosophie, Passagen, Wien 1988, S. 325-351).
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durch die Sprache und in der Sprache gesetzt, durch einen „act of language“ (cf. CI 172), den die Sprache durch ihre Fähigkeit zur Setzung vollbringen kann. Dieser selbstsetzende Akt der Sprache entspricht – laut de Man – einer Katachrese, einer Operation des Benennens durch den falschen Gebrauch eines Wortes. Mit dem selbstgesetzten Ich beginnt eine „logische Entwicklung“ des tropologischen Systems bis hin zu den analytischen und synthetischen Urteilen. Synthetisches Urteil meint hier ein gleichsetzendes Urteil, also A = B. Ein synthetisches Urteil kann sinnvoll nur zustande kommen, wenn mindestens eine Eigenschaft X vorausgesetzt wird, in Bezug auf die sich A und B unterscheiden. Das Beispiel de Mans (und Fichtes) ist hier das Urteil „ein Vogel ist ein Tier“, das eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Tierarten voraussetzt, d.h. es muß – und zwar begrifflich – auch Tiere geben, die nicht Vögel sind, um das Urteil sinnvoll zu machen. Die Unterscheidung ist also zwischen Tieren im allgemeinen (B) und Vögeln im besonderen (A). Analytische oder negative Urteile der Form A B hingegen setzen umgekehrt eine Eigenschaft X voraus, in der sich A und B gleichen. Das Beispiel de Mans bzw. Fichtes ist hier „eine Pflanze ist kein Tier“, wobei die von Pflanze und Tier geteilte Eigenschaft das Prinzip der Selbstorganisation ist. Entscheidend wird nun, daß jedes Feststellen einer Gleichheit eines Dings eine vorausgesetzte Differenz impliziert und vice versa jede festgestellte Differenz eine Gleichheit. De Mans Schlußfolgerung lautet: „Es gibt hier eine sehr spezifische Struktur, mittels derer die Eigenschaften, die in den Entitäten isoliert sind, zwischen den verschiedenen Elementen zirkulieren. Diese Zirkulation wird selbst die Grundlage jedes urteilenden Aktes. Diese Struktur ist [...] die Struktur der Metapher, die Struktur der Tropen. Die hier beschriebene Bewegung ist die Zirkulation von Eigenschaften, die Zirkulation von Tropen in einem System des Wissens. Dies ist die Epistemologie der Tropen. Dieses System ist gleich Metaphern strukturiert – wie Figuren im allgemeinen und Metaphern im besonderen.“ (CI 174/alle Hervorhebungen von mir, J.S.)20
Dieses System des Wissens ist aber nicht nur wie Metaphern strukturiert, sondern es ist selbst eine Theorie der Trope oder der Metapher, weil „die Zirkulation der Eigenschaften, die im urteilenden Akt beschrieben ist, hier wie eine Metapher oder eine Trope strukturiert ist, und auf einem Austausch von Eigenschaften beruht“ (CI 176). Es kann sowohl als Synekdoche, als Beziehung von Teil und Ganzem (Vogel und Tier), oder wie eine Metapher, als eine Substitution aufgrund einer vorausgesetzten Ähnlichkeit und Differenzierung strukturiert sein (das Modell der Selbstorganisation). Aufgrund dieser Struktur nennt de Man es das „tropologische System“. Entscheidend ist jedoch noch ein weiteres Merkmal des tropologischen Systems, das in seiner Performanz liegt. Das System beginnt nicht nur mit einer Katachrese als einem sprachlichen „performative“, sondern aus diesem ursprünglichen setzenden Akt (des Benennens) resultierend entwickeln sich erst in einer
20 Was hier zirkuliert, ist aber zunächst einmal das Vokabular de Mans.
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Anamorphosis der Tropen die tropologischen Systeme.21 Die Beschreibung dieser Entwicklung liefert selbst wiederum eine kohärente Erzählung, und entspricht daher einer Allegorie.22 In dieser Allegorie wird die „Interaktion zwischen Trope 21 Cf. CI 176 – Ich übergehe stillschweigend die Tatsache, daß de Man hier mit einem Mal den Plural („Systeme“) einführt für etwas, das vorher nur das Fichtesche System betraf. Diese Veränderung des Numerus wirft jedoch die Frage auf, ob das tropologische System eine Theorie für die Gesamtheit möglicher Narrationen darstellt, oder ob verschiedene tropologische Systeme insofern als koexistent denkbar wären, als daß jede Erzählung ihr eigenes tropologisches System entfaltet. Die Frage zielt also auf die Möglichkeit einer Differenz zwischen Narration und Theorie der Narration. Da diese Frage aber für die hier angestrebte Darstellung nicht unmittelbar von Interesse ist, wird ihre Beantwortung ausgespart. – Die fälschliche Identifikation oder mindestens leichtfertige Gleichsetzung von setzendem Akt (Ich = Ich als eine „Thathandlung“) bei Fichte und dem performativen Akt der Sprechakttheorie wird hier geschenkt. Die Differenzen wären wohl darin zu suchen, daß es sich bei der Thathandlung Fichtes um eine ursprüngliche Setzung handelt und dieser erste Akt des Setzens alle anderen Akte allererst ermöglicht, während der Sprechakt, so wie ihn Austin beschreibt, ein Akt in der Sprache ist, der von der Existenz vorgängiger Sprach- und Sozialkonventionen abhängig ist. Ein weiterer Unterschied liegt darin, daß bei Fichte sich das Subjekt erst diesem Akt nachgängig konstituiert, während Austin die Frage der Intentionalität sprachlicher Akte aufwirft und damit implizit eine vorgängige Existenz von Subjekten voraussetzt. (cf. hierzu Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (in: Immanuel Hermann Fichte (Hg.): Fichtes Werke Band 1, de Gruyter, Berlin 1971, S. 83-328), § 1 ff.; Dieter Henrich: Fichtes ‚Ich‘ (in: ders.: Selbstverhältnisse, Reclam, Stuttgart 1982, S. 57-82); John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte (Reclam, Stuttgart 1979), bes. S. 25-88; Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext (in: ders.: Randgänge der Philosophie, Passagen, Wien 1988, S. 325-351). – Zum dritten wird hier auch der oft falsche oder laxe Umgang mit rhetorischer Terminologie geschenkt. So sind z.B. entgegen der de Manschen Gleichsetzung Tropen keine Figuren, da erstere auf Substitution beruhen, letztere dagegen auf einer Kombination. (cf. hierzu Roland Barthes: Die alte Rhetorik (in: ders.: Das semiologische Abenteuer, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988, S. 15-101); K.H. Göttert: Einführung in die Rhetorik (Fink, München 1991), bes. S. 44-64). Eine weitere Frage betrifft das Verhältnis zwischen der Diagnose einer Unkontrollierbarkeit der Effekte sprachlichen Bedeutens bzw. eines Mehr der Sprache vor dem Sprechen im Sprechakt und dem konstitutiven, quasitranszendentalen Akt Fichtes. Auch der Begriff der ‚Performanz‘ schillert zwischen einer antitranszendentalen Beschreibung im System à la Austin und Fichtes Selbstsetzungsakt der Sprache. 22 Cf. Paul de Man: Die Rhetorik der Zeitlichkeit (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 83-130). Die grundlegende Struktur der Allegorie zeigt sich als „die Neigung der Sprache zum Narrativen, als Tendenz, sich entlang der Achse einer imaginären Zeit auszubreiten, um dem Dauer zu verleihen, was in Wahrheit innerhalb des Subjekts simultan existiert. [...] ... die Allegorie existiert allein in einer idealen Zeit, die niemals hier und jetzt ist, sondern stets Vergangenheit oder endlose Zukunft.“ Die Allegorie trete „als
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auf der einen Seite und Performanz als Setzen auf der anderen“ erzählt. Sie ist daher „wie eine Theorie der Erzählung“, sie entwirft ein kohärentes System, in dem es „eine Einheit zwischen System [...] und der Form des Systems“ (CI 176) gibt.23 Diese Allegorie ist also nicht nur einfach Theorie der Erzählung, sondern sie wird vielmehr selbst in einer „narrative line“ entfaltet, also als eine Geschichte erzählt. Bringt man hierzu die de Mansche Gleichung von Erzählen und Konstruieren24 in Anschlag, so handelt es sich hier um die Konstruktion eines Systems, in dem eine Theorie der Narration erzählerisch entfaltet wird.25 Und umgekehrt müßte man annehmen, daß jede Konstruktion in Form einer erzählerischen Entfaltung zugleich eine Theorie der Erzählung impliziert.26 Zu dieser Anamorphosis der Tropen, in der die Tropen in ein System der Tropen transformiert werden, ist die korrespondierende Erfahrung diejenige eines Selbst, das über seinen eigenen Erfahrungen steht (cf. CI 177). 2. An dieser Stelle kommt nun die Ironie ins Spiel, und zwar auf eine doppelte Weise: de Man unterscheidet im Anschluß an Schlegels Lyceumsfragment [42] eine „äußere“ Ironie und eine „innere“ Ironie. Die äußere Ironie findet sich etwa als „buffo“ in der Poesie. Nach dem Vorbild dieser „buffo“ der Commedia dell’arte besteht die äußere Ironie in einer „Unterbrechung“ oder einem „Zerbrechen der narrativen Illusion“, der in der Rhetorik die Begriffe der „Parekbase“ und des „Anacoluthons“ entsprechen. Eine Parekbase ist „die Unterbrechung eines Diskurses durch einen Wechsel oder eine Veränderung (shift) im rhetorischen Register“ auf der Ebene der Semantik, durch den die erzählerische Illusion durchbrochen wird, zum Beispiel, indem sich der Erzähler in eine Erzählung einschaltet. Das Anacoluthon bezeichnet hingegen eine Unterbrechung syntaktischer Muster von Tropen oder der Modelle, nach denen Satzperioden gebaut sind. Es besteht in einem „break“: die „Syntax eines Satzes, der bestimmte Erwartungen weckt, wird plötzlich unterbrochen, und anstelle dessen, was man gemäß der verwendeten syntaktischen Reihe erwartet hätte, erhält man etwas vollkommen anderes, einen Bruch in den Erwartungen an das syntaktische Modell“ (CI 178). Die äußere Ironie funktioniert also auf der Ebene syntaktischer Textstrukturen und ist dem
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Modus des Nacheinander [auf], aus dem eine Form der Dauer hervorgeht, die eine um ihren illusionären Charakter wissende Illusion von Kontinuität ist“ (l.c., S. 124). De Man steht damit in der Tradition Quintilians, der die Allegorie als andauernde Metaphorisierung versteht, die dadurch eine bloß konventionelle Verbindung zu ihrem Referenten hält (cf. Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners: 12 Bücher (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1975), S. 223). Zur Übereinstimmung von Gehalt und Form eines Satzes bzw. Systems als Bedingung der Gewißheit cf. Johann Gottlieb Fichte: Über den Begriff der Wissenschaftslehre, (in: Immanuel Hermann Fichte (Hg.): Fichtes Werke Band 1, de Gruyter, Berlin 1971, S. 27-82), bes. § 2 und § 4. Die Übereinstimmung von Gehalt und Form ist insofern ästhetisch, als daß sie einer gängigen Definition des Schönen entspricht. CI 184: „Any attempt to construct – that is, to narrate – [...].“ Der Anamorphosis des tropologischen Systems entspricht laut de Man die „Arabeske“ Schlegels. Mit anderen Worten: die Poesie enthält eine Poetik.
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Text immanent. Sie erweist sich als ein Bruch zwischen den hermeneutischen bzw. syntaktischen Erwartungen des Interpreten, der sein Verstehen an syntaktischen Standardmodellen orientiert, und dem tatsächlichen Verlauf der Syntax, der diese syntaktischen Standards unterläuft. Die Ironie ist somit eine Unterbrechung der hermeneutischen Erwartung auf der Ebene eines materialen – d.h. syntaktischen – Verständnisses des hermeneutischen Zirkels. Durch die Subversion eines sinnvollen syntaktischen Zusammenhangs wird der Versuch des Interpreten gestört, einen Text sinnvoll zu interpretieren, indem er ihn mit den syntaktischen Standards seines Vorwissens abgleicht.27 Die Ironie ist immer ein widersprüchliches Faktum, eine Differenz zweier Positionen, die als solche erscheint und auf kein Jenseits weist. Diese Differenz kann sowohl innerhalb des Textes als Differenz zweier unvereinbarer Perspektiven als auch als Differenz von Äußerung und Intention erscheinen. Es bedarf also einer Diskrepanz (Bruch, Parekbase) im Produkt – d.h.im Text – selbst oder zwischen Text und Kontext, um der ironischen Interpretation einer Äußerung den Weg zu bereiten. Diese anfängliche Diskrepanz, auf die sich die sekundäre hermeneutische Ausdeutung der Ironie berufen muß, kann entweder zwischen der buchstäblichen Äußerung und den zugeschriebenen Autorintentionen bestehen (also in einer hermeneutischen Situation), oder aber im Text selbst als diskontinuierlicher Einbruch in die Kohärenz einer Erzählung angelegt sein (und kann dann also ein rein textimmanentes Geschehen sein, auch wenn es natürlich Subjekte braucht, um die Ironie als solche erscheinen zu lassen). Eine Äußerung ironisch zu interpretieren heißt, den auf der buchstäblichen Ebene bestehenden Irrtum oder Fehler z.B. als Unangemessenheit zwischen Text und Kontext auf einer zweiten hermeneutischen Ebene ironisch zu deuten und damit den Text (möglicherweise gegen seine Intention ironischer Sinnverweigerung) gleichwohl sinnvoll zu machen. Diese Reduktion der Ironie stellt das System des Sinns, wie es von der Ironie herausgefordert wurde, wieder her. Die Ironie wird reintegriert in ein nunmehr erweitertes hermeneutisches System, das anscheinend auch noch im Modus der Ironie funktioniert. Von daher ist de Mans These, die Ironie sprenge jeden hermeneutischen Versuch, sie zu interpretieren, falsch. Das Verstehen der Ironie mag komplexer sein als das Verstehen ‚normaler‘ Äußerungen, unmöglich ist es nicht. Wir können auch ambivalente Äußerungen sinnvoll deuten. Ironie und hermeneutisches System scheinen sich wechselseitig zu bedingen, möglicherweise im Sinne einer dialektischen Bewegung ohne telos. Das Anacoluthon unterbricht also den hermeneutischen Zirkel von Vorverständnis (den syntaktischen Standards) und dem Partikularverständnis (der gegebenen Syntax). Damit wird auch die Zirkularität des Verstehens zwischen dem Vorgriff auf Vollkommenheit und dem Teilverständnis unterbrochen28, so daß es dem Interpreten nicht mehr gelingt, den Text als eine sinnvolle Einheit und auf eine Sinntotalität hin zu interpretieren. Ästhetisch ist die ironische Suspension des narra27 Es ist allerdings die Frage, wie sich das zu der These verhält, daß die Sprachkompetenz eines Sprechers impliziert, daß dieser aus einem endlichen Set von Regeln unendlich viele Sätze bilden kann. 28 Cf. die Analyse des hermeneutischen Zirkels bei Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (J.C.B. Mohr (Paul Siebeck),Tübingen 1960/1990), S. 270-312.
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tiven Zusammenhangs der Erzählung und damit die Freigabe der Elemente und der Materialität der Signifikanten vor ihrer bedeutsamen Einbettung, um ihnen dann spielerisch neuen Sinn zuzuschreiben. Durch die Unterbrechung im Prozeß des Verstehens ist ein Text dazu in der Lage, den ihm eigenen setzenden Charakter dem Interpreten zu Bewußtsein zu bringen. Die äußere Ironie bringt in der Suspension des hermeneutischen Zirkels die Kontingenz der textuellen Setzung ins Spiel, entgegen dem Schein ihrer Notwendigkeit. Insofern ist sie produktinterne Anschlußstelle für subjektive (Selbst-)Reflexionen, die sich aus der ironischen Sinnverweigerung ergeben können. Die Differenz von Erzählung und Ironie entspricht damit derjenigen von Selbstbeschreibung und Selbstreflexion (cf. Kapitel 1 und 3 dieser Arbeit). Das heißt jedoch nicht, daß die äußere Ironie mit einer ‚objektiven Ironie‘ gleichzusetzen wäre, wie dies die Sekundärliteratur seit Benjamin immer wieder macht.29 In dieser Arbeit wird vielmehr angenommen, daß sich die Ironie in keinem Fall, weder für den Fall, der hier als die äußere Ironie gekennzeichnet wird, noch für den, der gleich als die innere Ironie erläutert wird, auf eine Subjekt/Objekt-Konstellation verrechnen läßt, wie auch immer eine solche beschaffen sein mag. Die Ironie ist weder subjektiv noch objektiv, sondern bezeichnet eine im textuellen Produkt selbst angelegte Distanzierung, ein Selbstunterlaufen der Darstellung in der und durch die Darstellung selbst. Diese textimmanente Distanz entspricht nicht der Differenz zwischen bewußtem Subjekt und äußerem Objekt, und zwar schon deshalb nicht, weil sie von der Lektüre eines Subjekts abhängt. Die äußere Ironie ist jedoch nicht nur eine einfache Unterbrechung der erzählerischen Linie durch eine Parekbase oder ein Anacoluthon, sondern sie ist eine „permanente Parekbase“: die Ironie droht überall, an jedem Punkt der Erzählung kann diese unterbrochen werden, jederzeit kann die erzählerische Linie aufgelöst werden. Die Möglichkeit der Ironie als Suspension hermeneutischer Sinnhaftigkeit von Texten bedroht insofern überhaupt die Möglichkeit des Verstehens. Da die erzählerische Verkettung bzw. die narrative Struktur mit dem tropologischen System identisch ist, läßt sich die Ironie auch als die „permanente Parekbase der Allegorie der Tropen definieren“ (CI 179). Die Kohärenz und Systematizität dieser Allegorie der Tropen unterbricht die Ironie: „Man kann daher sagen, daß jede Theorie der Ironie die Auflösung, die notwendige Auflösung jeder Theorie der Narration ist, und es ist ironisch [...], daß Ironie immer in Verbindung mit Theorien der Narration auftaucht, da Ironie genau das ist, was es für immer unmöglich macht, jemals eine Theorie der Narration zu erreichen, die konsistent wäre“ (CI 179). De Man fügt hinzu, daß dies nicht bedeute, nicht weiterhin an einer Theorie der Narration zu arbeiten, „da dies alles sei, was zu tun bleibe“, aber diese Arbeit, die Ausarbeitung einer Theorie der Narration, wird immer Gefahr laufen, von der Ironie, die sie notwendig enthält, unterbrochen zu werden.30 29 Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (in: ders.: Gesammelte Schriften I/I, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974, S. 7-122). 30 Da Erzählung und Theorie der Erzählung untrennbar verbunden scheinen, stellt sich hier auch die Frage nach der Motivation eines (Neu-)Erzählens, einer Fortführung des erzählerischen Projektes. Warum führt das Bewußtsein des ständig drohenden Selbstunterlaufens jeder Erzählung nicht zu einer Aufgabe weiterer Versuche? Wo
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Nachzutragen bleibt eine Erläuterung der inneren Ironie. Diese bezeichnet eine Negativität des Selbst, die eine „Abspaltung (detachment) in Bezug auf alles, auch im Bezug auf sich selbst und zur eigenen Arbeit des Autors (writer)“ ist, eine „radikale Distanz (die radikale Selbstnegation) in Bezug auf seine eigene Arbeit (work)“ (CI 178). Der Begriff der „Arbeit“ läßt sich hier auf doppelte Weise verstehen: er kann sich sowohl auf den fertigen Text beziehen als auch auf die Arbeit, den Prozeß des Schreibens selbst. Die innere Ironie bezeichnet also nicht nur eine radikale Distanz des Autors, d.h. des ästhetischen Subjekts, zu dem von ihm verfaßten Text, sondern die Möglichkeit dieser Distanz ist an den Prozeß des Schreibens gebunden.31 Die Distanz zwischen Autor und Text verhält sich sekundär zu diesem Prozeß des Schreibens und wird nur durch ihn möglich. Die Produktion von Texten hat einen systematischen Vorrang vor der Unterscheidung von produzierendem Autor und produziertem Text.32 Auf diese dem Prozeß des Schreibens nachträgliche Differenz von Autor und Text ließe sich etwa auch die Differenz zwischen Subjekt und Objekt übertragen. Allerdings nur unter Vorbehalt, denn Texte sind eben keine beliebigen Objekte in der Welt, sondern bestehen aus Zeichen und deren regelmäßiger Verknüpfung, die sich ihrerseits auf Gegenstände der Welt beziehen. Es wird im folgenden einerseits darum gehen, zu zeigen, daß das Produzierende hier nicht mit dem empirischen Autor eines Textes gleichzusetzen ist und andererseits darzulegen, inwiefern das zunächst nur ästhetische Verhältnis von Autor/Text als paradigmatisch für subjektive Vollzüge verstanden werden kann. Dafür wird gerade der Begriff der ‚Produktion‘ bzw. der erzählerischen ‚Konstruktion‘ im Sinne eines ‚Herstellens‘, der hier zunächst nur die spezifisch künstlerische Produktion meint, eine tragende Rolle spielen. Mit dem Begriff der ‚Produktion‘ wird liegt der Grund dafür, diese unmögliche Bewegung weiterhin auszuführen, die ständig von der Ironie unterlaufen zu werden droht und deren Vollendung daher für immer unmöglich bleibt? Genau hier liegt m. E. das Defizit de Mans, das ich im dritten Abschnitt dieses Kapitels im Rückgang auf Schlegel zu beheben versuchen werde. Als Motiv des Weitererzählens scheint mir die Unbeugsamkeit und Beharrlichkeit eines unglücklichen Bewußtseins, das sich über die Einsicht in die Unmöglichkeit des erzählerischen Projekts scheinbar im Namen einer mysteriösen Notwendigkeit hinwegsetzt, zu schmal zu sein. Ich werde daher im dritten Teil eine andere Ableitung der Motivation des Erzählens vorschlagen, die sich an der Konzeption der Poesie von Friedrich Schlegel orientiert. 31 Schreiben kennzeichnet eine Selektion des Virtuellen zum Wirklichen, das sich als Text sedimentiert. Aufgehoben wird diese Virtualität im Produkt z.B. durch Ironie. Texte sind somit immer auch Allegorien ihrer Genese, die sich nur anhand des Produkts erraten läßt. 32 Der Vorrang der Produktion vor dem Produkt und dem Produzierenden entspricht einer Analyse von Menninghaus, die dem romantischen Begriff der „Reflexion“ eine systematische Priorität vor dem Flektierten und dem Reflektierenden einräumt. Die Reflexion als ursprüngliches Zweites konstituiert erst dasjenige, auf das sie als ein scheinbar Vorgängiges reflektiert. (cf. W. Menninghaus: Unendliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1987), passim., z.B. S. 48 f., S. 56 f., S. 65 f.).
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versucht, der zeitlichen Dimension subjektiver Vollzüge Rechnung zu tragen.33 Festzuhalten bleibt hier zunächst noch, daß damit Kunst nicht in der Perspektive ihrer Erfahrung oder Rezeption betrachtet, sondern die Struktur – oder besser: der Prozeß – der künstlerischen Produktion selbst beschrieben werden soll, und zwar zunächst diejenige der Schrift- bzw. Dichtkunst. Es soll hingegen nicht behauptet werden, daß die Kunst in der Perspektive ihrer Produktion schon erschöpfend dargestellt wird oder werden kann. Es geht vielmehr um die formale Beschreibung eines herstellenden Prozesses, bei der von allen spezifischen Inhalten der Kunst abstrahiert wird. Ebensowenig soll damit eine Autonomie der Ästhetik gegenüber der theoretischen und praktischen Philosophie bestritten werden. Von daher geht es hier auch nicht darum, die Differenz des Ästhetischen zu nivellieren, indem man alles in der Welt zum ästhetischen Phänomen erklärt, das man dann etwa kulturwissenschaftlich in den Blick nimmt. De Mans Rekonstruktion der Ironie tritt mit dem Anspruch auf, diese weder als bloßes Kunstmittel zur Erreichung einer „spielerischen ästhetischen Distanz“ aufzufassen, noch sie auf eine „Dialektik des Selbst als reflexiver Struktur“ zu reduzieren, noch ironische Momente oder Strukturen in eine historische Dialektik einzubauen (cf. CI 169 f.). Auch wenn sich die Ironie nicht in eine Dialektik des über sich und die Dinge verfügenden Subjekts einbauen läßt, hat sie doch eine subjekttheoretische Relevanz, die es erlaubt, die Ironie nicht nur als Darstellungsmodus, sondern auch als ein Moment in subjektiven Vollzügen zu beschreiben. Zentral dafür sind die thetischen Urteile innerhalb des tropologischen Systems, die ich in der bisherigen Rekonstruktion übergangen habe. Thetische Urteile sind Urteile, in denen „eine Entität“ sich nicht mit etwas anderem vergleicht, sondern „sich zu sich selbst verhält“. Das Paradigma eines solchen Urteils ist die Behauptung „Ich bin“ als die Behauptung der eigenen empirischen Existenz, ein „Selbst“ oder ein „Ich“, das jetzt – im Unterschied zu dem sprachlich gesetzten Selbst, der anfänglichen Katachrese des tropologischen Systems – prädiziert werden kann. Eine mögliche Prädikation ist „Ich bin frei“ bzw. verallgemeinert: „Der Mensch ist frei“. In diesem thetischen Urteil ist die Freiheit als „Asymptote“ strukturiert, als „unendlichen Punkt“ oder „unendliche Bewegung der Annäherung“, zu dem jeder Mensch hin unterwegs ist. Dem entspricht eine Differenz von empirischem und transzendentalem Selbst, die im Subjekt selbst besteht: „[...] man kann sich dieses Selbst [das anfänglich gesetzte Ich, J.S.] als eine Art [...] transzendentales Selbst vorstellen, dem sich der Mensch annähert, als etwas, das unendlich agil, unendlich elastisch ist [...], als ein Selbst, das über jeder seiner eigenen partikularen Erfahrungen steht und zu dem jedes partikulare Selbst hin unterwegs ist“ (CI 175). Entscheidend ist hier, daß die Unerreichbarkeit des transzendentalen Selbst für das empirische Selbst eine Unerreichbarkeit seines Ursprungs und einer transparenten Selbstpräsenz ist. Beschrieben wird eine unabschließbare Bewegung der Annäherung des empirischen an das transzendentale Selbst, das selbst niemals 33 Schon Heidegger betont, daß das Werksein des Werkes den Charakter der Herstellung hat: „Das Werk als Werk ist in seinem Wesen herstellend“. (cf. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks (in: ders.: Holzwege, Klostermann, Frankfurt/Main 1950, S. 1-74), hier S. 31).
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durch die endlichen oder bestimmten Selbste, die je nur Partikularerfahrungen oder Partikularkonstruktionen des Subjekts sind, einzuholen ist. Die Totalität des Selbst bleibt dem empirischen und auch dem (selbst-)erkennenden Subjekt unzugänglich. Wenn es an dieser Stelle einmal mehr Konfusion hinsichtlich des verwendeten Vokabulars zu geben scheint, so ist dies wie so oft Paul de Mans mangelnder (philosophischer) Reflexion seiner eigenen Beschreibungen geschuldet. Festzuhalten ist jedenfalls, daß das Subjekt nicht über sich selbst verfügen kann noch sich selbst transparent ist, sich also weder rational beherrschen noch sich rational erkennen kann – wie immer man das genauer beschreiben müßte. All diese verschiedenen Subjekte sind jedenfalls durch und durch fiktiv, wie immer man sie benennt – was sie gerade erst dem ironischen Spiel, das Paul de Man mit ihnen zu treiben versucht, verfügbar macht. Verfügbar macht allerdings um den Preis einer Nivellierung des Einzelnen, der Evidenz der sinnlichen Biographie des Individuums, der subjektiven Spur, Wunde oder Narbe dessen, was dem Subjekt in seiner Geschichte angetan wurde und was als die aufgehobene Geschichte der wiederholten Versuche gelesen werden kann, das einzelne Subjekt zu nivellieren und seine Individualität auszulöschen oder zu reduzieren.34 In der Kohärenz der erzählenden Entfaltung des tropologischen Systems, liegen „radikal negative Momente“, sie ist eine „komplexe negative Erzählung“, da „das Selbst niemals dazu in der Lage ist, zu wissen, was es ist“ und „niemals als solches identifiziert“ werden kann. Die selbstreflexiven Urteile des Selbst sind daher keine „stabilen Urteile“. Man könnte hier auch von einer strukturell angelegten Verfehlung des empirischen oder realen Selbst durch das erkennende Subjekt sprechen. Möglich sind vielmehr nur allegorische Erzählungen des Selbst über sich selbst, die jeweils der Konstruktion eines partikularen Ichs entsprechen. Auch wenn diese Erzählungen einen zweifelhaften Erkenntnisgewinn über das Selbst bergen, so bleibt gleichwohl das Erzählen (und damit das Selbstbeschreiben) als das stete (Neu-)Konstruieren einer Vergangenheit (und Zukunft) des Subjekts notwendig. Jedes partikulare oder endliche – empirische – Selbst, auch die Kohärenz und Einheit eines Selbst selbst, wird von der Ironie in Frage gestellt. Der ironische Subjektvollzug, die Distanzierung des Autors von seinem Text, gleicht einer unendlichen Absetzbewegung, in der ein an sich ungreifbares Subjekt seine partikularen Selbste in einer unabschließbaren und unendlichen Transgression je aufs neue überwindet. In dieser ironischen Absetzbewegung liegt ein Moment zeitlicher Differenz bzw. Kraft, auf das ich noch zu sprechen kommen werde. Auch wenn die „reflexiven“ Urteile des Selbst über sich selbst eine „kraftvolle Negativität“ enthalten, so ist dies nicht dahingehend mißzuverstehen, daß einzelne empirische Subjekte die Erzählung bzw. das tropologische System im Ganzen in Frage zu stellen vermöchten. Die „kraftvolle Negativität“ vermag nicht die „fundamentale Intelligibilität des Systems in Frage zu stellen, weil sie immer auf ein System von Tropen reduziert und als solches beschrieben werden kann und das [...] eine inhärente Kohärenz aufweist“ (CI 176). Daß das ironische Subjekt sich der 34 Auch die unverwechselbare Zeichnung des Körpers soll Individualität gründen, in dem sie diesem ganz buchstäblich Male, Narben, Piercings und ähnliches zu- oder einfügt. Dies ist eine extreme Form der Einlösung des Anspruchs auf Individualität.
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Kontingenz seiner partikularen empirischen Ichs innewird und diese immerwährend transgressiert, bedeutet daher noch nicht, daß es diesen Vorgang auch intentional beherrschte oder Kontrolle über den Akt des Schreibens besäße. Das freie Spiel der Zeichen, die grundsätzliche Arbitrarität und Unzuverlässigkeit der Zirkulation aller Zeichensysteme macht den Akt des Schreibens vielmehr unkontrollierbar.35 Den Wörtern eignet ein gewisses Eigenleben, sie haben eine Weise, Dinge zu sagen, die „nicht diejenige ist, die man wollte, daß sie sie sagen“ (CI 181). Die unkontrollierbare Eigenständigkeit des sprachlichen Bedeutens gleicht einer „Textmaschine“, einer „unerbittlichen Determination“ bzw. einer „totalen Arbitrarität“, die den Text von den Intentionen seines Autors radikal distanziert. Diese „unbedingte Willkür“36 in der Eigenständigkeit der Sprache, wie de Man im Anschluß an Schlegel sagt, bedroht die erzählerische Konsistenz und unterläuft das reflexive wie das dialektische Modell, das jeder Erzählung zugrundeliegt: „Es gibt keine Erzählung ohne Reflexion, keine Erzählung ohne Dialektik, und das, was Ironie unterbricht [...] ist genau diese Dialektik und diese Reflexivität, die Tropen“ (CI 181). Ironie ist also laut de Man weder mit Dialektik noch mit Reflexion gleichzusetzen, wie es eine subjekttheoretische Beschreibung der Ironie vielleicht nahelegen könnte.37 Die Ironie ist nicht auf eine „Dialektik des Selbst als eine reflexive Struktur“ reduzierbar. Genau dies unterstellt ein Einwand, den de Man gegen einen seiner eigenen früheren Texte, der sich ebenfalls mit der Problematik der romantischen Ironie beschäftigt, erhebt. Es handelt sich um Die Rhetorik der Zeitlichkeit38 (1969), ein Text, zu dem sich die Vorlesungsmitschrift als „autocritique“ verhält. Der Autor des zweiten Textes distanziert sich von dem Text des ersten Autors, und er tut dies, indem er eine Reduktion der Ironie auf eine Dialektik des 35 Der Autor ist durch die vorhandene Sprache in dem gleichen Augenblick determiniert, in dem er eine punktuelle Freiheit in der exzessiven Transgression des Schreibaktes in Form einer kalkulierten strategischen Öffnung der Metaphysik gewinnt. Cf. zur Möglichkeit einer solchen Transgression des metaphysischen Feldes: Jacques Derrida: Cogito und Geschichte des Wahnsinns (in: ders. Die Schrift und die Differenz, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1997, S. 53-101). Die dekonstruierende Lektüre produziert die „signifikante Struktur“ eines Textes zwischen dem, was der Schriftsteller in den verwendeten Sprachschemata beherrscht und dem, was er nicht beherrscht. (cf. Jacques Derrida: Grammatologie (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1983), hier S. 273). 36 Allerdings scheinen Ironie und unbedingte Willkür nicht einfach zusammenzufallen, da die Ironie an die Faktizität eines textimmanenten Widerspruchs oder eines unterstellten Text/Intention-Widerspruchs gebunden bleibt. Vielleicht ist Ironie ja die Nichtadäquation von Sprache und Denken. Jedenfalls ist Ironie gegensinnig verfaßt: zugleich positiv wie negativ, wie Gleichzeitigkeit von Materie und Antimaterie. 37 Ich verstehe im Unterschied zu de Man die textinterne Ironie als Anschlußstelle für Selbstreflexionen. Selbstreflexionen verstehe ich nicht als narratives Muster, sondern als die Durchbrechung solcher Muster. Was de Man als reflexives Muster der Narrationen unterstellt, fasse ich unter den Begriff der ‚Selbstbeschreibung‘. 38 Paul de Man: Die Rhetorik der Zeitlichkeit (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 83-130). Zitiert unter dem Sigel [IÄ].
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Subjekts zurückweist. Diese Revision ist selbst ein Beispiel für das, was de Man theoretisch zu beschreiben sucht. Gleichwohl lassen sich diesem Text einige Aspekte entnehmen, die die zeitliche Struktur der Ironie genauer zu fassen vermögen. 1. In dem früheren Text scheint de Man tatsächlich die Ironie als ein Problem aufzufassen, „das innerhalb des Ichs verankert ist“ (IÄ 108). Dagegen spricht jedoch, daß er die Ironie anhand literarischer Texte und literarisch dargestellter Subjekte beschreibt. Es sei sogar besser, die Ironie anhand von Texten zu beschreiben, anstatt von Individuen zu sprechen (cf. IÄ 121). Die Beschreibung der Ironie auf der Ebene literarischer Texte scheint mir mit dem, was er im späteren Text als „äußere Ironie“ bezeichnet, durchaus vereinbar zu sein. Wesentlich ausgespart bleibt jedoch die Frage, inwieweit mit der Darstellung von Subjekten in Texten alle Möglichkeiten eines Verhältnisses von Subjekten zu Texten schon erschöpft sind. Dieses Verhältnis scheint sich vielmehr ganz verschieden denken zu lassen: a. Es kann sich, wie im früheren Text von de Man, um literarisch dargestellte Subjekte oder Subjektivität handeln oder um ironische Brüche in der Syntax eines Textes, etwa in der Form einer Parekbase. b. Empirische Subjekte können in einem interpretierenden oder rezeptiven Bezug zu Texten gedacht werden. c. Das Verhältnis von Subjekt und Text läßt sich aber auch als Produktionsverhältnis von ästhetischem Subjekt, dem Autor, zu dem von ihm verfaßten Text denken. Dies läßt sich wiederum auf dreifache Weise verstehen. Zunächst ist die hermeneutische Unterstellung einer Sinntotalität eines Textes wesentlich an die Unterstellung eines einheitlichen empirischen Autors gebunden, der diesen Text hervorgebracht hat. Zumindest konstituiert diese Unterstellung die moderne Einheit von Autor- und Werkbegriff.39 Der Autor fungiert dann als der fiktive Garant einer Sinneinheit des Textes und verhält sich komplementär zu dem Begriff des Werkes, was sich als eine notwendige heuristische Annahme im Prozeß des Verstehens verstehen läßt.40 Zum zweiten kann es sich einfach um das reale empirische Subjekt handeln, das als Autor einen Text produziert. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß der Autor autonomer Urheber seiner Texte oder seines Werkes ist. Zum dritten läßt sich jedoch das Produzieren sinnvoller Zusammenhänge und deren ironische Interruption auch für eine Beschreibung subjektiver Vollzüge nutzen. Das, was ich bisher als die „innere Ironie“ rekonstruiert habe, läßt sich als ein Moment in einem Prozeß verstehen, der nicht der Kontrolle eines bewußten Subjekts unterliegt, sondern Ausdruck und Spur einer ursprünglichen produktiven Kraft ist, die in der Sprache und durch Sprache wirkt und die eine sich selbst zeugende Struktur generiert. Für diese Lesart spricht schon im früheren Text, daß de Man dort zwar die Ironie als eine Verdoppelung im Ich beschreibt, zugleich aber des öfteren auch die fundamentale Abhängigkeit dieser Verdoppelung von der Sprache betont bzw. den Vorgang der Verdoppelung selbst als ein sprachliches Geschehen beschreibt, nämlich als eine zunehmende Distanzierung von Zeichen und Bedeutung. Die iro39 Cf. Michel Foucault: Was ist ein Autor? (in: ders.: Schriften zur Literatur, Fischer, Frankfurt/Main 1988, S. 7-31). 40 Auch das Schöne läßt sich so verstehen, daß es als Identität von Intention und Bedeutung einer Äußerung fungiert.
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nische Sprache spaltet „das Subjekt auf in ein empirisches, in einem nichtauthentischen Zustand lebendes Ich und in ein Ich, das nur in Form einer Sprache existiert, die das Wissen um diese fehlende Authentizität behauptet“. Die Aufspaltung des Subjekts ist also nur innerhalb und durch die Sprache möglich, sie ist eigentlich eine sprachliche Operation und insofern sind de Mans Ausführungen mit der späteren Konzeption nicht inkompatibel. Allerdings gibt es in der Tat auch den Zug, die Ironie in eine dialektische Bewegung des bewußten Subjekts einzubauen. Das Vermögen der ironischen „Verdoppelung“ finde sich nämlich vor allem bei denen, die mit der Sprache als handwerklichem Material arbeiten, wie dies etwa Künstler oder Philosophen tun. Die Sprache funktioniert dabei nicht wie im „alltäglichen Leben“ nur als Werkzeug: die „[...] reflexive Disjunktion tritt nicht nur mittels der Sprache in ihr Recht als privilegierte Kategorie, sie befördert das Ich auch aus der empirischen Welt in eine aus Sprache gebildete und aus Sprache bestehende Welt – eine Sprache, die das Ich in der Welt zwar mitsamt den anderen Entitäten vorfindet, die aber insofern einzigartig ist, als sie die einzige Entität darstellt, mit deren Hilfe es sich von der Welt unterscheiden kann. Die so begriffene Sprache teilt das Subjekt in ein empirisches, in die Welt eingebettetes Ich und ein Ich, das in seinem Versuch zur Differenzierung und Selbstdefinition einem Zeichen ähnlich wird.“ (IÄ 111/Hervorhebungen von de Man)41
De Mans Redeweise schwankt also eigentümlich zwischen einer Beschreibung der Ironie, der sich ein bewußtes Subjekt (etwa für seine Zwecke) zu bedienen vermag und einer entsubjektivierten Beschreibung der Ironie als eines prozeßhaften sprachlichen Geschehens, daß quasi ‚von selbst‘ abläuft, ohne daß der ironische Prozeß einem bewußten Subjekt noch kontrollierbar wäre. Zum einen ist die Sprache damit eine tiefer wirkende Kategorie als das Subjekt oder das Ich. Ein sprachliches Geschehen ermöglicht und konstituiert erst die Differenz zwischen empirischem Ich bzw. Welt und ironischem Ich. Erst das sprachliche Potential zur Transzendenz macht es möglich, sich von den konkreten physischen Eindrücken zu distanzieren (cf. Kapitel 1/I dieser Arbeit). Zum anderen wird diese Differenzierung jedoch als bewußte Leistung oder als eine Zunahme des Bewußtseins beschrieben. Insofern damit die Ironie als ein sprachliches Mittel aufgefaßt ist, dem sich bestimmte Subjekte – Künstler oder Philosophen – zu bestimmten Zwecken bedienen können, scheint de Mans Selbstkritik, er beschreibe die Ironie in einer Dialektik des Subjekts42, zuzutreffen. Vielleicht ließe sich die strukturelle Beschreibung der Ironie und der bewußte Gebrauch der Ironie durch Subjekte aber so vereinbaren, daß letzterer eine Art bewußte mimesis an einen Prozeß steter Selbstschöpfung und -vernichtung darstellt, wie er – bewußt oder unbewußt – allen subjektiven Vollzügen gemein ist. Auf diesen Punkt werde ich noch zurückkommen. 41 Es erscheint aber kaum plausibel anzunehmen, es könne für menschliche Subjekte im vollen Sinne eine empirische Welt außerhalb der Sprache geben. 42 Zudem identifiziert de Man im früheren Text Ironie und Reflexion. In der späteren Vorlesung hingegen differieren Ironie und Reflexion insofern, als daß die Ironie gerade das reflexive Modell als narratives Muster außer Kraft setzt. Cf. Fußnote 37.
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2. Trotz der also mindestens zum Teil berechtigten Selbstkritik de Mans läßt sich dem früheren Text noch eine genauere Beschreibung der zeitlichen Struktur der Ironie entnehmen. In der Rhetorik der Zeitlichkeit gibt es ein eigentümliches Schwanken bezüglich dessen, ob der mit der Ironie verbundene Prozeß Ernst oder Spiel sei. In Verbindung damit scheint die Frage zu stehen, ob der ironische Prozeß eine Entwicklung beschreibt, oder ob er sich als eine unabschließbare Kette von Wiederholungen darstellt. Ernst und „alles andere als beruhigend“ scheint die Ironie für das reale empirische Ich zu sein, insofern sie einen Prozeß in Gang setzt, der „ganz und gar nicht harmlos ist. Er mag als beiläufiges Spiel mit einem losen Faden des Stoffes beginnen, aber schon nach kurzer Zeit wird das ganze Gewebe des Ichs aufgetrennt sein und auseinanderfallen“. Entscheidend ist hier, daß die Ironie als ein zeitliches Geschehen aufgefaßt wird, das an einem bestimmten Punkt mit der Infragestellung „der Unschuld oder der Authentizität unseres Weltgefühls“ (IÄ 112/alle Hervorhebungen von mir, J.S.) beginnt, eine Wegstrecke durchläuft und an deren Ende nur der Wahnsinn droht. Die Ironie „verliert sich in den immer enger werdenden spiralförmigen Windungen eines sprachlichen Zeichens, das sich von seiner eigentlichen Bedeutung immer weiter entfernt, und sie kann aus dieser Spirale nicht entkommen“ (IÄ 120/Hervorhebungen von mir, J.S.). Aber diese Projektion der Ironie auf eine linear gedachte Zeitachse ist selbst Teil der ästhetischen bzw. narrativen Muster, gegen die sich die Negativität der Ironie zu wehren und zu wenden sucht. Zudem ist hier einzuwenden, daß dieser Prozeß sich für de Man in einer luftleeren idealistischen Sprachsphäre abzuspielen scheint, ohne biographisch gewachsene Verbindlichkeit von Subjekt und Erfahrung (die vielleicht gerade durch die Wiederholung des Erzählten selbst zustandekommt), ohne eine biographisch verbürgte Referentialität der Zeichen, mittels derer man sich selbst und seine Geschichte – als Narbe, Wunde, Spur etc. – zu beschreiben sucht. Es ist eben nicht beliebig, welche biographische Geschichte ich erzähle und wie ich sie erzähle. Das ist natürlich kein Einwand gegen Ironie, die trotz allem die Kontingenz dieser Geschichten offenzulegen vermag. Aber Kontingenz und Beliebigkeit sind keinesfalls das gleiche. Kontingenz besagt nur, daß es auch anders sein könnte als es scheint. Das heißt aber nicht, daß alles gleichermaßen möglich und zu verantworten ist. Der Zunahme einer Distanz im Verlauf einer zeitlichen Entwicklung entspricht die zum Teil dramatische Beschreibung des ironischen Prozesses bei de Man. Die Ironie erscheint als existentiell bedrohliche Bewegung der Selbstauflösung, als ein Prozeß unentwegter Selbstnegation oder auch als Transzendenz der alltäglichen „Verrücktheit“. Sie ist nicht nur eine negative Erkenntnis über den Status der alltäglichen Welterfahrung und des alltäglichen Funktionierens in unreflektierten Konventionen, sondern enthüllt auch „die Existenz einer Zeitlichkeit, die vollkommen unorganisch ist, da ihre Beziehung zu ihrer Quelle, zu ihrem Ursprung ausschließlich durch Distanz und Differenz charakterisiert ist und sie kein Ende und keine Totalität kennt“ (IÄ 120). Die Ironie wird von dieser „authentischen Erfahrung der Zeitlichkeit bestimmt, die, vom Standpunkt des in der Welt engagierten Ichs be-
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trachtet, eine negative ist“.43 Sie ist „Modus der Gegenwart, sie kennt weder Erinnerung noch vorausweisende Dauer“ und hat von daher „eine synchrone Struktur“. Da die Ironie „instantan“ ist und sich als ein „Augenblicksprozeß“ vollzieht, läßt sich die ironische Differenz im Subjekt auch als räumliches Nebeneinander des empirischen und des ironischen Ichs, die beide zum gleichen Zeitpunkt gegenwärtig und unvereinbar sind, verstehen. Als räumliche oder synchrone Differenz in einem Subjekt zu einem „auf einen einzigen Moment“ reduzierten Zeitpunkt ähnelt die Ironie „dem Muster, nach dem sich Erfahrung tatsächlich gestaltet, in ihr zeigt sich die menschliche Existenz als eine von einem geteilten Ich durchlebte Abfolge isolierter Momente“. Die Ironie kennt daher im Unterschied zur Allegorie „weder Erinnerung noch vorausweisende Dauer“ (IÄ 124) und ist insofern ahistorisch. De Man beschreibt die ironische Absetzbewegung daher auch als die „Wiederkehr eines sich selbst in die Höhe schraubenden Bewußtseinsaktes“ (IÄ 118/ Hervorhebung von mir, J.S.). An anderer Stelle spricht er davon, daß die Ironie die Nichtauthentizität, die aus der unüberwindlichen Distanz und Differenz zu jedweder Quelle folgt, auf „immer bewußtere Weise erneut zum Ausdruck bringen und wiederholen“ (IÄ 120/Hervorhebung von mir, J.S.) kann. Wenn die Ironie als eine „Wiederkehr“ bzw. als sich ewig wiederholender Akt strukturiert ist, dann erscheint es jedoch wenig plausibel anzunehmen, daß die ironische Bewegung irgendwie zum Höheren führt, was in diesem Kontext nur heißen könnte: zu einem höheren Bewußtsein. Abgesehen davon, daß es völlig unklar bleibt, wie ein solches höheres ironisches Bewußtsein beschaffen sein und wie es sich vom einfachen ironischen Bewußtsein strukturell unterscheiden sollte, steht die Bestimmung der Ironie als Zunahme oder „Höherentwicklung“ auch im Widerspruch zu der behaupteten ahistorischen Struktur der Ironie.44 Allerdings muß man hier unter43 Bei dieser „Erfahrung der Zeitlichkeit“ scheint es sich um die Erfahrung einer unüberwindlichen Distanz des Subjekts zu seinem Ursprung zu handeln. Warum es sich hierbei jedoch um eine „authentische Erfahrung“ handeln soll, bleibt völlig unklar, insbesondere, wenn man in Erwägung zieht, was de Man über die ironische Sprache sagt: „eine fehlende Authentizität zu durchschauen garantiert noch keine Authentizität“ (IÄ 112). Ebenso verwundert es, daß es sich dabei um eine Erfahrung handeln soll. Dies kann nicht im strengen Sinne gemeint sein, da die Ironie angeblich gerade zu einer Aufspaltung des Subjekts in ein zeichenhaftes und ein empirisches Ich führt bzw. die Ironie die Kontinuität des empirischen Subjekts unterbricht. Die Ironie gehört daher in den Bereich einer negativen Erkenntnis des Subjekts über sich selbst, die gerade nicht der historischen oder empirischen Welt angehört, wie de Man auch des öfteren betont. Eine weitere Unschärfe liegt zudem darin, daß einerseits ein prozeßhaftes Geschehen (oder eine Tätigkeit) als Grund einer statisch beschreibbaren Differenz auftritt, deren Pole ein Resultat dieses Prozesses sind (Ironie und Empirie), während andererseits einer der beiden Pole selbst mit dem Prozeß identifiziert wird (Ironie). 44 Die Ironie überlieferter Texte über die Ironie habe es „sehr häufig auf die Behauptung abgesehen, man könne über das Wesen des Menschen sprechen, als ob es eine historische Tatsache sei. Eine historische Tatsache ist, daß die Ironie sich ihrer selbst in zunehmendem Maße bewußt wird, wenn sie unsere Unmöglichkeit demonstriert, ein wirklich geschichtliches Wesen zu sein. Wenn wir über die Ironie sprechen, so haben
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scheiden zwischen der Historizität der Erfahrung (für die Autobiographie des Subjekts) und dem ahistorischen Erfahrungsgehalt (deren systematische Subversion). Plausibler erscheint es, einer anderen Lesart zu folgen, die die Ironie als eine sich ewig wiederholende Bewegung auffaßt, die weder zu einem höheren Bewußtsein noch zwangsläufig zu einem unendlichen Abstand von Ironie und empirischer Welt bzw. empirischem Ich führen muß. Die Ironie „wiederholt sich ständig“, sie bringt „eine zeitliche Folge von Bewußtseinsakten“ hervor, „die ohne Ende ist“ (IÄ 118).45 Der ironische Prozeß besteht somit aus einer endlosen Negation subjektiver Stadien, und genau dies macht seine Unabschließbarkeit aus. Die „Unendlichkeit des Prozesses“ sichere gerade die „Freiheit als Widerwille des Geistes, irgendein im Verlauf des Prozesses erreichtes Stadium als endgültig zu akzeptieren, denn damit würde seine unendliche Beweglichkeit ein Ende finden“ (IÄ 118). Freiheit bestimmt sich hier also als bestimmte Negation eines Zustands bzw. einer Erzählung. Die Ironie kann niemals stillgestellt werden, jedes endliche Stadium des empirischen Ichs kann erneut ironisch unterlaufen werden. Die Ironie schließt daher die Möglichkeit einer „Versöhnung von Idealem und Realem“ als „das Ergebnis einer Handlung oder Tätigkeit des Geistes“ aus, sie ist gerade keine „Präfiguration einer zukünftigen Heilung oder Wiederherstellung“, sondern „ein endloser Prozeß, der zu keiner Synthese führt“ (IÄ 117 f.). Insofern entspricht die Auffassung, die de Man hier vertritt, zumindest keiner (teleologischen) Dialektik des Subjekts oder historischen Dialektik. Diese Figur eines immanenten Transzendenzstrebens ist die Bewegung des sprachlich verfaßten Subjekts schlechthin: „Der rhetorische Modus der Ironie verweist uns noch deutlicher als die Allegorie auf die Unstimmigkeit des bewußten Subjekts, dessen Bewußtsein eindeutig ein unglückliches Bewußtsein ist, das danach strebt, über sich hinaus und aus sich heraus zu gelangen“ (IÄ 120 f.).46 Diewir es nicht mit der Geschichte eines Irrtums zu tun, sondern mit einem Problem, das innerhalb des Ichs verankert ist“ (IÄ 108). Ein Problem, über das wir vielleicht nur sprechen können, wenn wir es historisieren. 45 Die Bewegung der Ironie kann daher selbst die „Dimensionen des Absoluten“ erreichen: „Die Ironie besitzt eine ihr innewohnende Tendenz, ihre Bewegung zu beschleunigen und nicht anzuhalten, bis sie ihren Weg vollendet hat; ausgehend von der nebensächlichen und scheinbar harmlosen Bloßstellung einer unbedeutenden Selbsttäuschung erreicht sie schnell die Dimensionen des Absoluten“ (IÄ 112). Ist also die Differenz zwischen den beiden Lesarten letztlich illusionär? 46 Im Gespräch über die Poesie (in: Friedrich Schlegel: Kritische und Theoretische Schriften, Reclam, Stuttgart 1978, S. 165-224) von Friedrich Schlegel heißt es: „Nie wird der Geist, welcher die Orgien der wahren Muse kennt, auf dieser Bahn bis ans Ende dringen, oder wähnen, daß er es erreicht: denn nie kann er eine Sehnsucht stillen, die aus der Fülle der Befriedigungen selbst sich ewig von neuem erzeugt. Unermeßlich und unerschöpflich ist die Welt der Poesie wie der Reichtum der belebenden Natur an Gewächsen, Tieren und Bildungen jeglicher Art, Gestalt und Farbe“ (l.c., S. 165/alle Hervorhebungen von mir, J.S.). Schlegels Konzept einer unstillbaren „Sehnsucht“, die „aus der Fülle der Befriedigungen selbst sich ewig von neuem erzeugt“, entspricht genau spiegelbildlich dem bei de Man rekonstruierten immanenten Transzendenzstreben des bewußten Subjekts. Während de Man dieses Transzendenz-
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ses strukturell angelegte, immanente Transzendenzstreben des bewußten Subjekts fällt für de Man mit der Schlegelschen „Dialektik von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“ zusammen. Diese Auffassung, nach der die Ironie den Charakter einer ständigen Wiederholung einer Selbsttranszendenz hat, schließt es aus, daß man bei dieser Bewegung von einem Anfang, einem Ende oder einer Zunahme des Bewußtseins oder des Abstands zwischen Subjekt und empirischer Welt sprechen kann. Das ironische Wissen ist laut de Man niemals auf die empirische Welt bzw. das empirische Ich anwendbar, ohne „Verrat“ am Wesen der Ironie zu begehen.47 Das ironische Subjekt muß stattdessen „die rein fiktionale Natur seines eigenen Universums geltend machen und die radikale Differenz“ aufrechterhalten, „welche die Fiktion von der Welt der empirischen Realität trennt“ (IÄ 115). Infragezustellen wäre hier jedoch, was de Man mit „Welt“ und „empirischem Ich“ eigentlich meint. Beides scheint sich nicht auf eine alltägliche soziale Pragmatik zu beziehen, sondern eher die Position eines Dings an sich einzunehmen, das durch keine Erkenntnis je eingeholt werden kann. Der Struktur einer unabschließbaren Bewegung der Selbsttranszendenz entspricht bei de Man auch ein weniger dramatisches und eher spielerisches Verständnis der Ironie. Der Prozeß fortwährender Selbsttranszendenz wird nämlich selbst wiederum als illusionär oder fiktiv beschrieben: „Der Ironiker erfindet eine Form seiner selbst, die ‚verrückt‘ ist, aber um ihr eigenes Verrücktsein nicht weiß; dann geht er dazu über, auf seine dergestalt vergegenständlichte Verrücktheit zu reflektieren“ (IÄ 114). Der ironische Vollzug bestände dann in der Konstruktion eines fiktiven Selbst, das das Subjekt nur erfindet, um sich im Akt der Reflexion zugleich davon abzusetzen. Andersherum könnte man sagen, daß erst in der Reflexion das ‚verrückte‘ Ich des Alltags konstituiert wird. Das ironische Ich erfindet also ein pseudo-empirisches Ich (also eine Selbstbeschreibung), von dem es sich je absetzt. Es handelt sich also um eine aktiv betriebene Mimesis des Subjekts an den ewigen Prozeß der Schöpfung und Zerstörung. Da die Ironie „den Fluß der zeitlichen Erfahrung in eine Vergangenheit [teilt], die reine Illusion ist, und in eine Zukunft, die stets von einem Rückfall streben jedoch als eine notwendige und unmögliche Bewegung des unglücklichen Bewußtseins beschreibt, entsteht die Sehnsucht bei Schlegel gerade aus der Fülle der Befriedigungen. Hier steht also ein aktives Schaffen aus der Fülle einem reaktiven Schaffen aus Mangel entgegen. Beiden Beschreibungen gemeinsam ist jedoch ihr antidialektischer Zug (im Sinne einer teleologisch auf Synthesis angelegten Dialektik). Weder de Mans unglückliches Bewußtsein noch Schlegels Sehnsucht sind auf eine Dialektik des Subjekts reduzierbar, weil das immanente Transzendenzstreben des Subjekts auf keine Synthese oder Versöhnung abzielt, sondern strukturell unabschließbar bleibt. Diese Konzeption eines immanenten Transzendenzstrebens ist daher von gleicher Reichweite wie der Vollzug menschlichen Lebens überhaupt, insofern menschliches Bewußtsein unhintergehbar an Sprachlichkeit gebunden ist. 47 Cf. zum Verhältnis von organischer Natur, Ironie und Zeit auch Paul de Man: Die Rhetorik der Blindheit: Jacques Derridas Rousseauinterpretation (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 185-230), hier S. 187.
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ins Nichtauthentische bedroht bleiben wird“ (IÄ 120), kann es sich bei der Erfindung verrückter Formen seiner selbst nur um verschiedene Konstruktionen partikularer Selbste handeln, die dann ironisch transzendiert werden können. Der ironische Vollzug bestände nur in einer scheinbaren Selbsttranszendenz, da sich das gegenwärtige Subjekt von einer in die Vergangenheit rückprojizierten Fiktion seines Selbst, also seiner im- oder expliziten Selbstbeschreibung distanziert. Diese Bewegung ist zwar nur eine scheinbare, bleibt aber eben doch eine Bewegung. Das Verhältnis der fiktiven (biographischen) Erzählung über die Geschichte des Subjekts zum realen empirischen Ich bleibt unhintergehbar fragwürdig. An anderer Stelle beschreibt de Man die „doppelt phantastische Eigenschaft“ jeglichen erzählerischen Realismus, die darin liegt, daß dieser „nicht nur [...] die Darstellung eines Ereignisses und nicht das Ereignis selbst [ist]“. Das „Ereignis selbst ist bereits eine Darstellung, weil jede empirische Erfahrung im Grunde phantastisch ist“ (AL 132). Die vom ironischen Subjekt erfundene verrückte Form seiner selbst kann daher nicht mit dem empirischen, in die Welt eingebetteten Ich gleichgesetzt werden. Different sind vielmehr das gegenwärtige Ich der aktualen Subjektvollzüge, das nicht verfügbar ist, und das historisch-biographische Subjekt der ironischen Selbstfiktion, also das Subjekt des Aussagens und das Subjekt der Aussage, das erzählende Ich und das erzählte Ich. In dieser Version wäre eine biographische Entwicklung des Subjekts dann nur eine Illusion, die das Subjekt dadurch erzeugt, daß es endliche Stufen seiner selbst (als Selbstbeschreibungen) in die Vergangenheit projiziert, von denen es sich immer aufs Neue absetzen und vor deren Hintergrund es sich verstehen oder entwerfen kann. Auch wenn dieser Hintergrund illusionär ist, so bleibt er doch – als eine mögliche, wenn auch fiktive Erzählung der Vergangenheit – ein Hintergrund, zu dem sich ein Subjekt in der Gegenwart verhalten kann. Gegenwärtiger ironischer Vollzug als Selbstnegation und Narration der Vergangenheit scheinen also untrennbar ineinander verschränkt. Sie schließen sich nicht nur wechselseitig aus, sondern bedingen sich dialektisch, allerdings in einer Dialektik ohne telos, d.h. ohne die Möglichkeit einer Aufhebung der Geschichte. Damit werden zwei Dinge in den Vordergrund gerückt. Zum einen wird die zeitliche Punktualität des ironischen Vollzuges betont, der also ahistorisch ist und nur im Modus der Gegenwart vollzogen werden kann. Zum anderen ist die Ironie als die bestimmte Negation eines rückprojizierten endlichen Stadiums als ein unabschließbarer Prozeß strukturiert und entspricht strukturell dem tatsächlichen Lebensvollzug empirischer Subjekte. Die Ironie ist zugleich Bewußtsein der eigenen bzw. der menschlichen Endlichkeit wie Transzendenz dieser Endlichkeit. Die ironische Transzendenz der Endlichkeit kann sich allerdings nie auf eine stabile Position feststellen, sondern muß stets aufs Neue vollzogen werden. Ironie praktiziert (und wiederholt) die Einsicht in die Beschränktheit und Endlichkeit des Menschen als konstitutive Bedingung seines subjektiven Selbst- und Weltverhältnisses. Auf diese Ambivalenz der Ironie, Ausdruck und Transzendenz der Endlichkeit zu sein, komme ich im nächsten Abschnitt zurück. Die spätere Vorlesung de Mans scheint eine falsche Alternative aufzumachen. Auf der einen Seite wird die äußere Ironie antisubjektivistisch und antidialektisch beschrieben, als ein reines Textgeschehen, ein Geschehen, daß sich dem entsub-
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jektivierten Text vollständig immanent vollzieht. Diese Beschreibung richtet sich gegen eine Auffassung, nach der der empirische Autor eines Textes der autonome Urheber des Textsinns und eine selbstbewußte Kontrollinstanz sprachlichen Bedeutens ist. Auf der anderen Seite weist der Selbsteinwand de Mans zu Recht eine Reduktion der Ironie auf eine Dialektik des bewußten Subjekts zurück. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß die Ironie eine Struktur beschreibt, die genau diejenige subjektiver Vollzüge ist. Mit der Zurückweisung eines subjektdialektischen Verständnisses der Ironie ist diese für jede subjekttheoretische Beschreibung daher nicht schon verloren. Auch wenn die Kritik subjektivistischer Metaphysik, soweit sie den Autor als sich selbstpräsenten Urheber seiner Texte oder als selbsttransparenten Grund vorstellt und die Bedeutung eines Textes vollständig aus den Intentionen seines Autors zu erschließen hofft, plausibel erscheint, läßt sich mittels dessen, was de Man als innere Ironie bezeichnet, der Prozeß subjektiver Vollzüge beschreiben. Der Autor läßt sich nicht als der autonome Urheber seiner Texte oder als intentional selbstpräsentes Subjekt denken. Das ironische Selbstunterlaufen einer Darstellung ist daher überhaupt kein Verweis auf den empirischen Autor eines Textes oder auf dessen Intentionen48, sondern ein Geschehen auf der Ebene textueller Strukturen, wie es auch Subjekten eingeschrieben ist. Bei der Unterstellung eines einheitlichen Autors handelt es sich hingegen um eine heuristische Annahme, die im Prozeß des Verstehens notwendig impliziert ist. Der Autorbegriff bliebe daher dem Textbegriff sekundär, insofern in letzterem die Abwesenheit der realen Autorintentionen impliziert ist.49 Es ließe sich daran anschließend fra48 Im übrigen scheint die Ironie nur insofern die Frage der Lesbarkeit von Texten aufwerfen, als man sie an die Intentionen des Autors knüpft. Ironie wäre dann das Auseinanderfallen von Autor und Text, Sprecher und Äußerung, Intention und Spur. Der Begriff der Ironie wäre also komplementär zum Begriff des Schönen als Identitätsfigur von Intention und Bedeutung. 49 Autor und Werk scheinen in Bezug auf die Einheit eines Textes komplementäre Begriffe zu sein. Kontrastieren läßt sich der Werkbegriff durch den Begriff des Textes, der mit einer Praxis verbunden erscheint, in der écriture und lecture zusammenfallen. Der Text ist nicht mehr auf eine teleologische Bewegung hin auf eine Sinneinheit oder -totalität reduzibel, mit dem Ziel eines das Werk abschließenden hermeneutischen Sinns oder Signifikats: „L’œuvre se ferme sur un signifié. [...] Le Texte, au contraire, pratique le recul infini du signifié, le Texte est dilatoire; son champ est celui du signifiant [...] l’infini du signifiant ne renvoie pas à quelque idée d’ineffable (de signifié innommable), mais à celle du jeu.“ (Roland Barthes: De l’œuvre au texte (in: ders.: Le bruissement de la langue, Éditions du seuil, Paris 1984, S. 69-77), hier S. 72). Während der Autor zum Werk die Position eines Vaters und Eigentümers einnimmt, in der ihm alle Autorenrechte zugesichert bleiben, liest sich der Text nicht nur „sans l’inscription du Pére“, sondern läßt sich auch nicht mehr auf die biologische oder rhetorische Metapher des Organismus oder der (organischen) Entwicklung (das Ganze entsteht aus einem Keim) reduzieren: „...la métaphore du Texte est celle du réseau; si le Texte s’étend, c’est sous l’effet d’une combinatoire, d’une systématique [...] aucun ‚respect‘ vital n’est donc dû au Texte: il peut être cassé [...]; le Texte peut se lire sans
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gen, ob nicht die strukturelle Abwesenheit der Intentionen des empirischen Autors paradigmatisch für jede hermeneutische Situation ist. Den sich hieraus ergebenden systematischen bzw. hermeneutischen Vorrang der Interpretation vor den Autorintentionen im Zugriff auf die Bedeutung eines Textes werde ich im folgenden selbst in Anspruch nehmen, indem ich die Ironiekonzeption de Mans in einem Rückgang auf die Konzeption der (Transzendental-)Poesie Friedrich Schlegels ergänze.50 Im gewissen Sinne werde ich damit eine modifizierte subjekttheoretische Konzeption der Ironie gegen de Mans im späteren Text geäußerte Kritik stark machen, indem ich zeige, daß eine subjekttheoretische Lesart der Ironie noch nicht bedeuten muß, sie in eine Dialektik des bewußten Subjekts einzubauen. Die Ironie ist weder dialektisch noch subjektiv zu verstehen, sie ist weder auf eine Dialektik des Subjekts als Präfiguration einer zukünftigen Synthesis noch auf eine Dialektik des bewußten Subjekts im Sinne einer kontrollierten Verfügbarkeit reduzibel. Zudem scheint de Man in beiden Texten über die Ironie diese als eine synchrone Struktur zu beschreiben, einmal als instantanes räumliches Nebeneinander von empirischem und ironischem Selbst in einem Subjekt, zum anderen als synchrones Syntagma eines Textes. In beiden Texten handelt es sich bei der Ironie um eine Beziehung von Widersprüchen, die weder Entwicklung noch Versöhnung zuläßt. De Mans Selbstkritik gründet in einer plausiblen Absage an eine letztlich immer metaphysische Bewußtseinsphilosophie der Subjektivität, die aber die Frage nach der faktischen oder pragmatischen Subjektivität vernachlässigt. Ihm entgeht so die Möglichkeit alternativer Beschreibungen subjektiver Vollzüge. Ich werde im dritten Abschnitt dieses Kapitels entgegen dieser Auffassung de Mans versuchen, die Ironie in eine diachrone Struktur subjektiver Vollzüge einzuschreiben. Subjekte wären in der revidierten Fassung nicht mehr als Urheber oder Grund la garantie de son père; la restitution de l’inter-texte abolit paradoxalement l’héritage“. Was nicht heißt, daß der Autor nicht in seinen Text zurückkommen kann, sich nicht wieder als ein „titre d’invité“ in das Spiel der Signifikanten einschrieben ließe: „il s’y inscrit comme l’un de ses personnages, dessine dans le tapis; son inscription n’est plus privilégée, paternelle, aléthique, mais ludique: il devient, si l’on peut dire, un auteur de papier [...] le je qui écrit le texte n’est jamais, lui aussi, qu’un je de papier“ (l.c., S. 74 f.). Cf. hierzu auch den Vortrag von Michel Foucault: Was ist ein Autor? (in: ders.: Schriften zur Literatur, Fischer, Frankfurt/Main 1988, S. 7-31). 50 Diese produktive Ergänzung eines Werkes durch die Kritik entspricht dem Schlegelschen Begriff der „Kritik“, die „über die Grenzen des sichtbaren Werkes mit Vermutungen und Behauptungen hinausgeht. Das muß alle Kritik, weil jedes vortreffliche Werk, von welcher Art es auch sei, mehr weiß als es sagt, und mehr will als es weiß. [...] Jene poetische Kritik will gar nicht wie eine bloße Inschrift nur sagen, was die Sache eigentlich sei, wo sie in der Welt steht und stehn solle: dazu bedarf es nur eines vollständig ungeteilten Menschen, der das Werk so lange als nötig ist, zum Mittelpunkt seiner Tätigkeit mache [...]. Der Dichter und Künstler hingegen wird die Darstellung von neuem darstellen, das schon Gebildete noch einmal bilden wollen; er wird das Werk ergänzen, verjüngen, neu gestalten“. (Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister (in: ders.: Kritische und Theoretische Schriften, Reclam, Stuttgart 1978, S. 143-164), S. 158/alle Hervorhebungen von mir, J.S.).
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der Texte zu denken, sondern als Effekte und Austragungsorte eines Spiels von Freiheit und Regel, das mit einer sich selbst erzeugenden Prozessualität identisch ist und das sich in Texten materialisiert. Ganz entgangen kann de Man dieses Moment der Ironiekonzeption Schlegels nicht sein, da er schreibt: „Schlegel spricht manchmal von diesem endlosen Prozeß auf etwas überschwengliche Weise, was nicht verwunderlich ist, da er die Freiheit einer sich selbst hervorbringenden Schöpfung beschreibt“ (IÄ 118/Hervorhebung von mir, J.S.).
III Ich beabsichtige nicht, im folgenden de Mans Rekonstruktion der Ironiekonzeption von Schlegel im Namen eines philologisch ‚richtigeren‘ oder ‚besseren‘ Verständnisses zu kritisieren. Ich werde vielmehr zu zeigen versuchen, daß das, was de Man als die „innere Ironie“ bezeichnet, nicht nur eine Entsprechung in den Fragmenten von Friedrich Schlegel findet, sondern auch produktiv um dessen Verständnis der Poesie ergänzt werden muß. Die Bewegung einer Distanzierung des Autors von seinem Text, die mit der inneren Ironie gemeint ist, läßt sich für eine Beschreibung zeitlicher Vollzüge des Subjekts verwenden. In dem Athenäumsfragment Nr. [238] schreibt Friedrich Schlegel: „Es gibt eine Poesie, deren eins und alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist, und die also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzendentalpoesie heißen müßte. [...] So wie man aber wenig Wert auf eine Transzendentalphilosophie legen würde, die nicht kritisch wäre, nicht auch das Produzierende mit dem Produkt darstellte, und im System der transzendentalen Gedanken zugleich eine Charakteristik des transzendentalen Denkens enthielte: so sollte wohl auch jene Poesie die in modernen Dichtern nicht seltnen transzendentalen Materialien und Vorübungen zu einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung [...] vereinigen, und in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein.“51
Als „Transzendentalpoesie“ wird hier also einerseits eine Darstellung oder ein Produkt verstanden, in dem immanent auch das Darstellende oder Produzierende selbst mitdargestellt ist (man könnte auch sagen: mitdargestellt ist das Bedingende im Bedingten), und andererseits besteht die Transzendentalpoesie in einem Verhältnis von Idealem und Realem. In der Poesie wird zum einen eine Poetik als Theorie mit dargestellt. Zum anderen bezeichnet der Begriff der „Kritik“ die immanente Rückbezüglichkeit der Darstellung. 51 Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe Band II (Schöningh, München/Paderborn/ Wien/Zürich 1967), hier S. 127/alle Hervorhebungen von mir, J.S. Im folgenden unter dem Sigel [KA II] zitiert. – Fragmente aus den Athenäumsfragmenten werden mit [AT] entsprechend der Standardnummerierung Nr.[...] und unter Angabe der Seitenzahl in der Kritischen Ausgabe zitiert. Gleiches geschieht mit Zitaten aus den Lyceumsfragmenten (abgekürzt: [L]) und mit Zitaten aus den Ideen (abgekürzt [ID]).
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Der Transzendentalpoesie entspricht zunächst das, was in der bisherigen Rekonstruktion als „äußere Ironie“ beschrieben wurde. Die Diskrepanz zwischen erwartetem und tatsächlichem Verlauf der Syntax kann den endlichen und kontingenten Charakter einer Darstellung herausstellen, wenn dadurch die Fiktionalität der Darstellung zutage tritt. Dieses Selbstunterlaufen einer Darstellung mittels Ironie kann daher die Dargestelltheit oder Produziertheit einer Darstellung mitdarstellen und sichtbar machen, was insofern einem Rückgang auf das Produzierende entspricht, als damit die Kohärenz des tropologischen Systems unterbrochen wird, das jeder Darstellung bzw. Erzählung zugrundeliegt, also in der Quasi-Position eines Á%#J?J# ist. Die Unterbrechung der erzählerischen Kohärenz verweist daher auf die unhintergehbare Abhängigkeit einer Darstellung vom tropologischen System und kann so zu dessen indirekter Darstellung dienen. Zugleich gibt es aber auch die Möglichkeit, dieses System durch Ironie zu transgressieren. Diese Lesart findet auch eine Entsprechung in anderen Fragmenten Schlegels, etwa im Athenäumsfragment Nr. [121]: „Eine Idee ist ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stete sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken. Ein Ideal ist zugleich Idee und Faktum [...]“ (KA II 115). Die Ironie ist hier nicht nur als eine Art Harmonie absoluter Widersprüche beschrieben, sondern auch als abhängig von der Materialität einer Darstellung („Faktum“). Die Ironie bezeichnet also einen nur im und durch das Produkt möglichen Modus der Darstellung, einen internen Selbstwiderspruch oder eine Selbstdifferenz, der/die die Kontingenz und den setzenden Charakter einer Darstellung herausstellt. Diese Selbsttranszendenz der Darstellung entspricht dem Idealen in der Transzendentalpoesie, das von der Realität einer Darstellung abhängig ist. Insofern ist die Transzendentalpoesie „ein Verhältnis des Idealen und des Realen“. Zugleich wird die Ironie aber als ein sich selbst erzeugender steter Wechsel und damit als dynamisch aufgefaßt. Diese Dynamik erlaubt es, sie als Moment in einem Prozeß aufzufassen, der auch subjektiven Vollzügen eigen ist. Um diese Lesart zu begründen, möchte ich zunächst zwei Fragmente aus den Ideen Schlegels lesen. Anhand des Fragments Nr. [43] aus den Ideen läßt sich zunächst darlegen, daß ästhetische Subjektvollzüge als paradigmatisch für menschliche Subjektivität überhaupt gelten können: „Was die Menschen unter den anderen Bildungen der Erde, das sind die Künstler unter den Menschen“ (KA II 260). In diesem Fragment werden zwei Relationen verglichen: menschliche Subjekte nehmen eine ausgezeichnete Stellung unter den Bildungen der Erde ein, während die künstlerischen Subjekte vor anderen Subjekten ausgezeichnet sind. Wie dies zu verstehen ist, erhellt ein zweites Fragment aus den Ideen (Nr. [131]): „Der geheime Sinn des Opfers ist die Vernichtung des Endlichen, weil es endlich ist. Um zu zeigen daß es nur darum geschieht muß das Edelste und Schönste gewählt werden; vor allem der Mensch, die Blüte der Erde. Menschenopfer sind die natürlichsten Opfer. Aber der Mensch ist mehr als die Blüte der Erde; er ist vernünftig, und die Vernunft ist frei und selbst nichts anderes als ein ewiges Selbstbestimmen ins Unendliche. Also kann der Mensch nur sich selbst opfern, und so tut er auch in dem allgegenwärtigen Heiligtum von dem der Pöbel nichts sieht. Alle Künstler sind Dezier, und ein Künstler heißt nichts anders
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als sich den unterirdischen Gottheiten weihen. In der Begeisterung des Vernichtens offenbart sich zuerst der Sinn göttlicher Schöpfung. Nur in der Mitte des Todes entzündet sich der Blitz des ewigen Lebens.“ (KA II 269/alle Hervorhebungen von mir, J.S.)
Als Künstler gilt Schlegel nicht nur ein Mensch, der Kunstwerke produziert: „Nicht die Kunst und die Werke machen den Künstler, sondern der Sinn und die Begeisterung und der Trieb“ (L Nr. [63]/KA II 154). Künstlersein ist offensichtlich nicht abhängig vom Besitz bestimmter (z.B. handwerklicher) Fertigkeiten, sondern bezeichnet eine Lebensweise und ein Verhältnis zu sich und zur Welt. Insofern kann der Künstler als paradigmatisch für eine Form subjektiver Vollzüge gelten, die ich im folgenden mit dem ‚ästhetischen Subjekt‘ gleichsetzen werde. Allerdings handelt es sich bei der ästhetischen Gestalt des Subjekts niemals um einen stabilen Zustand desselben, sondern um eine Transformation des Subjekts durch eine ästhetische und in einer ästhetischen Erfahrung. Daher ist die Rede vom ästhetischen Subjekt nur eine Abkürzung für einen Erfahrungsgehalt, den wir u.a. dem Umgang mit Kunstwerken zuschreiben. Die Selbstaufopferung des Künstlers ist nicht nur eine mögliche Verhaltensweise des ästhetischen Subjekts unter anderen, sondern bezeichnet gerade die wesentliche Differenz zu anderen subjektiven Vollzügen bzw. Selbstverhältnissen: „Der Künstler, der nicht sein ganzes Selbst preisgibt, ist ein unnützer Knecht“ (ID Nr. [113], KA II 267). Der Vernichtung des Endlichen als Selbstopferung des ästhetischen Subjekts entspricht der Ironie als dem Selbstunterlaufen einer bestimmten Darstellung, die damit ihren endlichen Charakter herausstellt. Der Prozeß der Selbstvernichtung wird im Ideenfragment Nr. [131] jedoch als eine freie und vernünftige Handlung beschrieben, die nur den Künstlern vorbehalten ist. Durch den bewußten Vollzug der Selbstvernichtung wird der „Sinn der göttlichen Schöpfung“ offenbart, der gerade in einem Wechselverhältnis von Leben und Tod besteht. Die Freiheit durch Destruktion als eine Erfahrung des ästhetischen Subjekts reetabliert ein souveränes Subjekt, das darin souverän ist, daß es seine Selbstvernichtung bewußt betreibt. Diese Freiheitskonzeption steht quer zu derjenigen Heideggers, die Freiheit als setzende Gerechtigkeit versteht. Der ästhetische Subjektvollzug ist insofern frei, als daß dieser die Vernichtung aller endlichen Stadien des Selbst bewußt betreibt und damit einen Prozeß des unendlichen Selbstbestimmens inauguriert. Freiheit gibt es nur in einer Dialektik von Selbstschöpfung (oder -setzung, vollzogen als Selbstbeschreibung) und bestimmter Negation durch die Ironie, wobei es sich hier (anders als in Abschnitt II) um eine nichtteleologische Dialektik handelt (hier trifft also de Mans Kritik nicht). Diesem Wechsel von Leben und Tod entspricht derjenige zwischen Selbstschöpfung und -vernichtung, den Schlegel im Athenäumsfragment Nr. [51] als Ironie versteht: „Naiv ist, was bis zur Ironie, oder bis zum steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung natürlich, individuell oder klassisch ist, oder scheint. Ist es bloß Instinkt, so ists kindlich, oder albern; ists bloße Absicht, so entsteht Affektation. Das schöne, poetische, idealische Naive muß zugleich Absicht, und Instinkt sein. Das Wesen der Absicht in diesem Sinne ist die Freiheit. Bewußtsein ist noch bei weitem nicht Absicht. Es gibt ein
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gewisses verliebtes Anschauen eigner Natürlichkeit oder Albernheit, das selbst unsäglich albern ist. Absicht erfordert nicht gerade einen tiefen Calcul oder Plan. Auch das Homerische Naive ist nicht bloß Instinkt: es ist wenigstens so viel Absicht darin, wie in der Anmut lieblicher Kinder, oder unschuldiger Mädchen. Wenn Er auch keine Absichten hatte, so hat doch seine Poesie und die eigentliche Verfasserin derselben, die Natur, Absicht.“ (KA II 109/alle Hervorhebungen von mir, J.S.)
Der stete Wechsel von Selbstschöpfung und -vernichtung ist also nicht an einen bewußten ironischen Vollzug eines ästhetischen Subjekts gebunden, sondern beschreibt ein prozessuales Geschehen, das zugleich Absicht und Instinkt ist. „Absicht“ bezeichnet hier nicht die Absicht oder das Kalkül eines bewußten Individuums, sondern beschreibt ein Moment der Freiheit in diesem Prozeß52 , während sich „Instinkt“ auf ein Moment der Notwendigkeit bezieht. Freiheit kann somit als das destruktive Moment der Selbstvernichtung einer endlichen Darstellung verstanden werden, die stets aufs neue darzustellen gleichwohl notwendig bleibt, um den Prozeß, der der Prozeß des Lebens überhaupt ist und der „Sinn der göttlichen Schöpfung“, fortzuschreiben. Als eigentliche Verfasserin poetischer Werke erscheint nicht der empirische Autor, sondern die Natur. Dem entspricht die Auffassung der Poesie als einer ursprünglichen Kraft, die je in allen Menschen wirkt.53 Im Gespräch über die Poesie54 heißt es: 52 Das sieht auch bei aller Betonung einer Differenz zu F. Schlegel Kierkegaard: „Ironie bezeichnet zugleich den subjektiven Genuß, indem das Subjekt sich durch die Ironie von der Gebundenheit befreit, in der die Kontinuität der Lebensverhältnisse es festhält, wie man ja deshalb auch von dem Ironiker sagen kann, daß er sich amüsiert. Hierzu kommt, daß die Verstellung, falls man sie in ein Verhältnis zum Subjekt bringen will, eine Absicht hat, aber diese Absicht ist eine äußerliche, eine der Verstellung selber fremde Absicht; dagegen hat die Ironie keine Absicht, ihre Absicht ist in ihr selber immanent, es ist eine metaphysische Absicht. Die Absicht ist nichts anderes als die Ironie selber. Wenn der Ironiker sich nun anders zeigt, als er wirklich ist, so könnte es allerdings scheinen, als sei es seine Absicht, andere dies glauben zu machen; aber seine eigentliche Absicht ist es doch, sich frei zu fühlen, dies aber ist er eben durch die Ironie, und so hat also die Ironie keinerlei andere Absicht, sondern ist Selbstabsicht.“ (Sören Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (Oldenbourg, München/Berlin 1929), S. 213 f.). 53 Der Begriff ‚Poesie‘ wird gegen Ende des 16. Jahrhunderts aus frz. ‚poésie‘ entlehnt, das sich über das lat. ‚poiesis‘ aus dem griech. %#?)+ herleitet. $#?)+ meint im griechischen ein doppeltes: zum einen bedeutet es das Machen, die etwas hervorbringende Tätigkeit, die Schöpfung in einem allgemeinen Sinn. Poiesis bezeichnet also allgemein die herstellende Tätigkeit des Menschen. Zum anderen bezieht sich %#?)+ im engeren Sinne auf die dichterische Tätigkeit oder die Praxis des Dichtens. Daraus leitet sich die Poetik als die Theorie des dichterischen Hervorbringens im Sinne einer Technik und einer theoretischen Reflexion auf die Kunst im Sinne einer Gattungstheorie her. 54 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie (in: ders.: Kritische und Theoretische
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„Die Vernunft ist nur eine und in allen dieselbe: wie aber jeder Mensch seine eigne Natur hat und seine eigne Liebe, so trägt auch jeder seine eigne Poesie in sich. Die muß ihm bleiben und soll ihm bleiben, so gewiß er der ist, der er ist, so gewiß nur irgend etwas Ursprüngliches in ihm war; und keine Kritik kann und darf ihm sein eigenstes Wesen, seine innerste Kraft rauben [...]. Aber lehren soll ihn die hohe Wissenschaft echter Kritik, wie er sich selbst bilden muß in sich selbst, und vor allem soll sie ihn lehren, auch jede andre selbständige Gestalt der Poesie in ihrer klassischen Kraft und Fülle zu fassen, daß die Blüte und der Kern fremder Geister Nahrung und Same werde für seine eigne Fantasie. [...] Und was sind sie [die Gedichte, J.S.] gegen die formlose und bewußtlose Poesie, die sich in der Pflanze regt, im Lichte strahlt, im Kinde lächelt, in der Blüte der Jugend schimmert, in der liebenden Brust der Frauen glüht? – Diese aber ist die erste, ursprüngliche, ohne die es gewiß keine Poesie der Worte geben würde. Ja wir alle, die wir Menschen sind, haben immer und ewig keinen andern Gegenstand und keinen andern Stoff aller Tätigkeit und aller Freude, als das Gedicht der Gottheit, dessen Teil und Blüte auch wir sind – die Erde. Die Musik des unendlichen Spielwerks zu vernehmen, die Schönheit des Gedichts zu verstehen, sind wir fähig, weil auch ein Teil des Dichters, ein Funke seines schaffenden Geistes in uns lebt und tief unter der Asche der selbstgemachten Unvernunft mit heimlicher Gewalt zu glühen niemals aufhört.“ (GP/KTS 165 f./alle Hervorhebungen von mir, J.S.)
Die Poesie wird hier als eine innere schaffende Kraft vorgestellt, die allen Menschen eigen ist und insofern der Charakterisierung der romantischen Poesie als einer „Universalpoesie“55 entspricht. Zugleich wird die Singularität der Poesie mit der Allgemeinheit der Vernunft kontrastiert. Hier zeigt sich also die Diskrepanz zwischen dem Konzept eines allgemeinen Vernunftsubjekts und einem durch poetische Kraft individualisierten Subjekt. Diese Kraft ist zugleich eine ursprüngliche in jedem Menschen, die jedoch einer Bildung durch echte Kritik bedarf, um die Erzeugnisse der Poesie im engeren Sinn, also sprachliche Kunstwerke hervorzubringen. Die Erde selbst wird als ein „Gedicht“ und „unendliches Spielwerk“ des Hervorbringens neuer Bildungen verstanden, deren „Musik“ – also eine nichtsprachliche Kunst – wir durch die poetische Anlage, die in jedem vorhanden ist, vernehmen können. Von dieser ursprünglichen Poesie, die Schlegel hier mit einer ursprünglichen Kraft identifiziert, ist die „Poesie der Worte“, also die Dichtkunst, nur abgeleitet. An derselben Stelle heißt es weiter:
Schriften, Reclam, Stuttgart 1978, S. 165-224) – Im folgenden wird aus diesem Buch unter dem Sigel [KTS] und unter Angabe des abgekürzten Titels des Aufsatzes zitiert [Georg Forster (KTS, S. 21-45) als [GF]/Über Lessing (S. 46-75) als [ÜL]/Über Goethes Meister (S. 143-164) als [GM]/Gespräch über die Poesie (S. 165-224) als [GP]] – Bei Zitaten aus dem Gespräch über die Poesie wird auf eine Differenzierung bezüglich der Zuordnung der Gesprächsbeiträge zu den verschiedenen Teilnehmern aus pragmatischen Gründen verzichtet. 55 AT Nr. [116]: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie“ (KA II 114).
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„Es ist nicht nötig, daß irgend jemand sich bestrebe, etwa durch vernünftige Reden und Lehren die Poesie zu erhalten und fortzupflanzen, oder gar sie erst hervorzubringen, zu erfinden, aufzustellen und ihr strafende Gesetze zu geben, wie es die Theorie der Dichtkunst so gern möchte. Wie der Kern der Erde sich von selbst mit Gebilden und Gewächsen bekleidete, wie das Leben von selbst aus der Tiefe hervorsprang, und alles voll ward von Wesen die sich fröhlich vermehrten; so blüht auch Poesie von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor [...]. Nur Gestalt und Farbe können es nachbildend ausdrücken, wie der Mensch gebildet ist; und so läßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie.“ (GP/KTS 166 f./alle Hervorhebungen von mir, J.S.)
Die Poesie im besonderen als künstlerisches Hervorbringen in der Sprache entspringt also „von selbst“ aus dieser poetischen „Urkraft“ und ist insofern auch „Poesie der Poesie“. Das menschliche Subjekt selbst ist nur ein Produkt dieser bildenden Kraft, der „Mensch ist ein schaffender Rückblick der Natur auf sich selbst“, wie es in der Idee Nr. [28] auch heißt (KA II 258). Die Erde wird selbst als ein Kunstwerk aufgefaßt, das aus dem Spiel der schaffenden Urkraft in einer sich selbst erzeugenden Prozessualität stets neu produziert wird, d.h. niemals in einem Produkt stillgestellte Kraft und Zeit ist, sondern nur transitorisch in Produkten erscheint. Die „heiligen Spiele der Kunst“ sind daher „nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk“. Daher wird im Gespräch über die Poesie von der Literatur gefordert, daß sie ironisch sein solle, und zwar indem in ihr „die Begebenheiten, die Menschen, kurz das ganze Spiel des Lebens [von der Literatur, J.S.] wirklich auch als Spiel genommen und dargestellt sei“ (GP/KTS 198). Die vollzogene Ironie ist also Spiel. Auf diese ursprüngliche Verbindung zwischen Ironie und Spiel werde ich zurückkommen. Die bewußte Handhabung der Ironie durch das ästhetische Subjekt ist somit nur eine Nachbildung des spielerischen Prozesses einer unentwegten Selbstschöpfung und -vernichtung allen Lebens, die von einer ursprünglichen Kraft angetrieben wird. Im Athenäumsfragment Nr. [375] beschreibt Schlegel diese Kraft als Energie und bindet sie an die subjektiven Vollzüge von Selbstbildung und Handeln: „Der energische Mensch benutzt immer nur den Moment, und ist überall bereit und unendlich biegsam. Er hat unermeßlich viele Projekte oder gar keins: denn Energie ist zwar mehr als bloße Agilität, es ist wirkende, bestimmt nach außen wirkende Kraft, aber universelle Kraft, durch die der ganze Mensch sich bildet und handelt“ (KA II, S. 144). Der ästhetische Subjektvollzug wäre demnach eine Art mimesis an die ursprüngliche Kraft und den Prozeß des Aufbauens und Zerstörens. Das ironische Subjekt steht in einem spielerischen Selbstverhältnis, in dem es zugleich unendlich viele Projekte und gar keine hat. Die Ironie ist Ausdruck des Bewußtseins über diesen steten Prozeß der Selbstschöpfung und -vernichtung, den das ästhetische Subjekt gewinnt.56 Dem entspricht Schlegels Charakteristik des Zynikers (gemeint ist aber wohl eher ein Kyniker), der durch den Verzicht auf Besitz ein Moment der Freiheit über 56 ID Nr. [69]: „Ironie ist klares Bewußtsein der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos“ (KA II 263).
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die Welt erlangt, „denn alle Sachen, die ein Mensch hat, haben ihn doch in gewissem Sinne wieder“ (AT Nr. [35]/KA II 108). Wir besitzen Dinge also nicht nur, sondern wir sind zugleich von ihnen besessen. Das Bewußtsein der eigenen Agilität und der eigenen Freiheit führt dazu, sich nicht von den Sachen bzw. der Welt bestimmen zu lassen, sondern sich über diese hinwegzusetzen, „denn überall, wo man sich nicht selbst beschränkt, beschränkt einen die Welt; wodurch man ein Knecht wird“ (L Nr. [37]/KA II 151). Was Schlegel hier als Kennzeichen des Zynikers auffaßt, bezeichnet er im Lyceumsfragment Nr. [160] als die „Sokratische Ironie“: „[...] In ihr soll alles Scherz und alles ernst sein, alles treuherzig offen, und alles tief verstellt. Sie entspringt aus der Vereinigung von Lebenskunstsinn und wissenschaftlichem Geist [...]. Sie enthält und erregt ein Gefühl von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und Bedingten, der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung. Sie ist die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg; und doch auch die gesetzlichste, denn sie ist unbedingt notwendig. [...]“ (KA II 160/alle Hervorhebungen von mir, J.S.)
Die Ironie ist also nicht nur auf ein Verhältnis in textuellen Darstellungen im engeren Sinne beschränkt, sondern sie entspringt einem „Lebenskunstsinn“, der von der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer Mitteilung mit Anspruch auf Vollständigkeit weiß. Sie ist auch eine Art freier Vollzug einer gesetzlichen Notwendigkeit und gleicht insofern tatsächlich einer mimesis an den Prozeß unentwegter Selbstschöpfung und -vernichtung als dem unendlichen Spiel der Welt. Als „Lebenskunstsinn“ ist die Ironie nicht nur Gefühl vom unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und Bedingten, sondern auch die subjektive Handlung einer Selbsttransgression des Subjekts, das sich so im ironischen Vollzug über die Endlichkeit seiner selbst und die Beschränkung durch die Welt hinwegsetzen kann. Die Ironie bringt so Performanzbewußtsein in konstative Äußerungen, z.B. über die subjektive Lebenswelt. Sie ist als ästhetisches Selbstverhältnis des Subjekts praktiziertes Kontingenzbewußtsein. Die Ironie ist also zugleich mimetische Vollzugsform des ästhetischen Subjekts und ein Gefühl für bzw. eine Reflexion auf die sich selbst erzeugende Prozessualität der Welt.57 Insofern subjektiver Vollzug in einem ursprünglich herstellenden Welt- und Selbstverhältnis besteht, markiert die Ironie deren jeweilige Suspension und Unterlaufung, um ‚Platz‘ für neue Darstellungen zu schaffen. Der Tod des Alten ist Bedingung des neuen Lebens. Die Mitdarstellung des Darstellenden – also die innere Ironie – bleibt an das immanente Selbstunterlaufen der realen Darstellung gebunden, wie es die äußere Ironie beschreibt. Sie vollzieht sich zunächst als das Herausstellen des Hergestelltseins des Produkts. Die Vernichtung der Darstellung durch die Darstellung selbst verweist negativ auf die Unendlichkeit der darstellenden Kraft. Die Ironie bezeichnet den Moment, in dem die wiederholende Vernichtung des Endlichen, Bestimmten, Realen und Bedingten das Unendliche, Unbestimmte, Bestimmen57 Entsprechend wird von der künstlerischen Poesie im AT Nr. [238] gefordert, daß sie „überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein“ soll (KA II 127).
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de, Ideale und Unbedingte indirekt zur Darstellung bringen kann. Genauer: das Unendliche etc. bezeichnet den produktinternen Überschuß über das Endliche. Da jede subjektive Äußerung eine sprachliche Darstellung und insofern ein Text ist, verweist die Ironie in der Darstellung auf die Unendlichkeit anderer möglicher Darstellungen des sich äußernden Subjekts. Eine vollständige buchstäbliche Mitteilung bleibt aber nicht nur insofern unmöglich, weil sie immer eine bestimmte und damit eine endliche Darstellung ist, sondern auch deswegen, weil das Subjekt weder der autonome Urheber seiner Äußerungen ist noch über eine transparente Selbstkenntnis verfügt.58 In der Lucinde schreibt Schlegel: „Denn wie ich auch die Vergangenheit überdenke, und in mein Ich zu dringen strebe, um die Erinnerung in klarer Gegenwart anzuschauen und dich anschauen zu lassen: es bleibt immer etwas zurück, was sich nicht äußerlich darstellen läßt, weil es ganz innerlich ist. Der Geist des Menschen ist sein eigner Proteus, verwandelt sich und will nicht Rede stehn vor sich selbst, wenn er sich greifen möchte. In jener tiefsten Mitte des Lebens treibt die schaffende Willkür ihr Zauberspiel. [...] Nur was allmählig fortrückt in der Zeit und sich ausbreitet im Raume, nur was geschieht ist Gegenstand der Geschichte. Das Geheimnis einer augenblicklichen Entstehung kann man nur erraten und durch Allegorie erraten lassen.“59
Da sich das „Zauberspiel“ der „schaffenden Willkür“ nicht zur Darstellung bringen läßt, kann nur eine Allegorie in „göttlichen Sinnbildern“ andeuten, was der 58 Schlegel wendet sich explizit gegen die Möglichkeit einer rationalen Selbsterkenntnis: „Ganz und im strengsten Sinn kennt niemand sich selbst. Von dem Standpunkt der gegenwärtigen Bildungsstufe reflektiert man über die zunächst vorhergegangene, und ahnet die kommende: aber den Boden, auf dem man steht, sieht man nicht. Von einer Seite hat man die Aussicht auf ein paar angrenzende: aber die entgegengesetzte Scheibe des beseelten Planeten bleibt immer verdeckt. Mehr ist dem Menschen nicht gegönnt“ (ÜL/KTS 63). Die Metaphorik dieser Stelle entspricht genau dem zeitlichen Charakter der Ironie bei de Man, die in einer räumlichen Spaltung zeitlich verschiedene Stadien des Selbst vereinigt, ohne den Boden zu sehen, auf dem man steht, d.h. ohne Selbsttransparenz des Subjekts und ohne Selbstgründung eines autonomen Subjektes. – Der Autor ist nicht der autonome Urheber seiner Texte: „Ein Autor, er sei Künstler oder Denker, der alles was er vermag, oder weiß, zu Papier bringen kann, ist zum mindestens kein Genie“ (ÜL/KTS 59). Cf. auch Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit (in: Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe Band II, Ferdinand Schöningh, München/Paderborn/Wien/Zürich 1967, S. 363-372): „Ja das Köstlichste was der Mensch hat, die innere Zufriedenheit selbst hängt, wie jeder leicht wissen kann, irgendwo zuletzt an einem solchen Punkte, der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte. Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fordert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde. Und ist sie selbst diese unendliche Welt nicht durch den Verstand aus der Unverständlichkeit oder dem Chaos gebildet?“ (l.c., S. 370). 59 Friedrich Schlegel: Lucinde (Reclam, Stuttgart 1963, S. 78/Hervorhebungen von mir, J.S.).
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Darstellung notwendig entgeht. Das Verständnis der Allegorie als eine erzählerische Verräumlichung der Zeit entspricht de Mans Definition der Allegorie als narrativer Dauer. Die „schaffende Willkür“ im Inneren des Subjekts läßt sich nur durch allegorische „Andeutungen“ zur Darstellung bringen. Die Mitteilung ist aber auch notwendig, da der narrative Prozeß wesentlich an die Performanz interaktiven Sprechens gebunden ist. Der Mensch geht, um „sicher sich selbst immer wieder zu finden, immer von neuem aus sich heraus, um die Ergänzung seines innersten Wesens in der Tiefe eines fremden zu suchen und zu finden. Das Spiel der Mitteilung und der Annäherung ist das Geschäft und die Kraft des Lebens, absolute Vollendung ist nur im Tode“ (GP/KTS 167). Die mitteilende Äußerung ist auch die Bedingung der Selbstkenntnis: niemand kennt sich, „insofern er nur er selbst und nicht auch zugleich ein anderer ist. Je mehr Vielseitigkeit also, desto mehr Selbstkenntnis“ (ÜL/KTS 64). Die Selbstkenntnis des Subjektes ist also nur möglich durch den Horizont des Anderen bzw. des Bezuges zum Anderen.60 Das Subjekt muß danach trachten, seine Ansichten über die Poesie ständig zu erweitern und eben dies geschieht in dem Spiel von Mitteilung und deren ironischer Subversion bzw. Suspension. Es ist das Wesen und Gesetz des Geistes, „sich selbst zu bestimmen und im ewigen Wechsel aus sich heraus zu gehn und in sich zurückzukehren“ (GP/KTS 192). Die romantische Poesie soll daher „die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen“ (AT Nr. [116], KA II 114). Dieser zirkulierenden Bewegung des Aus-sichHerausgehens in einer Äußerung und In-sich-Zurückkehrens entspricht die Komplementarität eines Subjekts, das zugleich Autor seiner Äußerungen und Interpret fremder und eigener Äußerungen ist. Auch eine Selbstkenntnis des Subjekts bleibt an die Performanz sprachlicher Äußerungen gebunden. Diese irreduzible Komplementarität des Subjekts als Autor und Interpret von Äußerungen ist die Weise des menschlichen In-der-Welt-seins. Daher gibt es auch keine Möglichkeit einer 60 Das anschließende Thema der Intersubjektvität kann hier nur angedeutet werden. Das Intersubjekt, das nicht einfach das Zwischen (die Beziehung) zweier Subjekte ist, konstituiert sich in der Einheit der Relation und der Differenz und Temporalität der Pole. Das Intersubjekt ist wesentlich sprachlich, es ist ein Code und ein System in der Sprache. Es ist daher verfehlt, auf der Einheit, Unzeitlichkeit und Autonomie des Subjekts zu beharren. Das ‚Subjekt‘ Genannte konstituiert sich erst durch das oder im Intersubjekt, es besteht nie außerhalb der Relation (des Systems und des Codes) ‚Intersubjekt‘ oder gar dieser vorgängig. Das Intersubjekt ist eine Sprechweise, eine Gewohnheit, eine Sprache der Freundschaft: es ist je spezifisch (es kann auch mehr als zwei Personen umfassen) und es ändert sich ständig (so daß das Kontinuierliche ‚Subjekt‘ genannt wird (eine notwendige Illusion), das Diskontinuierliche ‚Beziehung‘). Dieses Modell kann die moralische Forderung nach Mimesis ans Konkrete (die besondere Situation) ersetzen durch die Einsicht in die Vorrangigkeit des Intersubjektes bzw. die Abhängigkeit des Subjektes vom Intersubjekt: das heißt als Verhalten, nicht auf der Einheit seines Selbst zu beharren, keine überzeitliche Allgemeinheit, dagegen spielerische Flexibilität, verschiedene Rollen und Masken probieren. Es bleibt nichts, wozu mimetisch sich zu verhalten wäre, was bleibt, sind die Doppelrelationen von Ego und Alter.
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Privatsprache singulärer Subjekte, da es dem Gebrauch sprachlicher Zeichen wesentlich eingeschrieben ist, öffentlich zu sein. Gleichwohl ruht die Kunst „auf dem Wissen“ (GP/KTS 171), die „innere Vorstellung kann nur durch die Darstellung nach außen, sich selbst klarer und ganz lebendig werden“, und eben diese Darstellung ist „Sache der Kunst“ (GP/KTS 186). Die Poesie muß daher auch als Kunst im Sinne einer techne, einer Handfertigkeit betrachtet werden. Es ist voreilig, „die Poesie oder die Prosa Kunst zu nennen, ehe sie [die Künstler, J.S.] dahin gelangt sind, ihre Werke vollständig zu konstruieren. Daß das Genie dadurch überflüssig werde, steht nicht zu besorgen, da der Sprung vom anschaulichsten Erkennen und klaren Sehen dessen, was hervorgebracht werden soll, bis zum Vollenden immer unendlich bleibt“ (AT Nr. [432], KA II 154). Es wird daher von den Dichtern bzw. den ästhetischen Subjekten gefordert, daß sie „selbst Künstler und Meister sind, mit sichern Werkzeugen zu bestimmten Zwecken auf beliebige Weise zu verfahren“ (GP/KTS 186). Dies gilt zunächst im Ästhetischen. Die Differenz zwischen den alltäglichen Welt- bzw. Selbstbezügen des Subjekts und den Kunstwerken bzw. dem ästhetischen Subjekt liegt in dem, was Schlegel als die „rückwirkende Selbsttätigkeit“ (GF/KTS 43) des Verstandes oder auch als eine rückwirkende Durchbildung bezeichnet. Diese rückwirkende Durchbildung ist aber wiederum keine reine Tätigkeit eines autonom schaffenden künstlerischen Subjekts61, sondern ist ein Selbstverhältnis der ursprünglich herstellenden Kraft, das sich als Ironie in den Text einschreibt. Jedes Werk sei „korrekt“, „welches dieselbe Kraft, die es hervorbrachte, auch wieder rückwirkend durchgearbeitet hat, damit sich Innres und Äußres entspreche“ (GF/KTS 39/Hervorhebung von Schlegel).62 Ganz ähnlich schreibt Schlegel in Über Goethes Meister: „Die Darstellung einer sich wie ins Unendliche immer wieder selbst anschauenden Natur war der schönste Beweis, den ein Künstler von der unergründlichen Tiefe seines Vermögens geben konnte“ (GM/KTS 160).63 Insofern das Kennzeichen des ästhetischen Subjektes selbst bereits die rückwirkende und selbsttätige Durchbildung ist und „jeder Mensch, der gebildet ist, und sich bildet, in seinem Innern einen Roman“ (L Nr. [78], KA II 156) enthält, kann das ästhetische Subjekt daher selbst bereits als ein Kunstwerk betrachtet werden.64 Schlegel kann somit schreiben: „Ein recht freier und gebildeter Mensch 61 L Nr. [1]: „Man nennt viele Künstler, die eigentlich Kunstwerke der Natur sind“ (KA II 147). 62 Cf. zum Begriff des „Korrekten“ auch AT Nr. [253] (KA II 129). 63 AT Nr. [168]: „Und welche Philosophie bleibt dem Dichter übrig? Die schaffende, die von Freiheit, und dem Glauben an sie ausgeht, und dann zeigt wie der menschliche Geist sein Gesetz allem aufprägt, und wie die Welt sein Kunstwerk ist“ (KA II 120). Die Welt ist also ein Produkt des menschlichen Geistes. Der subjektive Vollzug besteht zwar in der Herstellung dieser Welt, dieser Herstellungsprozeß ist jedoch nicht der Kontrolle bewußter Subjekte unterworfen. 64 Daß der Begriff des „Kunstwerks“ auch auf Subjekte anwendbar ist, geht auch aus dem Athenäumsfragment Nr. [67] hervor: „Es wäre illiberal, nicht vorauszusetzen, ein jeder Philosoph sei liberal, und folglich rezensibel; ja es nicht zu fingieren, wenn man auch das Gegenteil weiß. Aber anmaßend wäre es, Dichter ebenso zu behandeln;
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müßte sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit, und in jedem Grade“ (L Nr. [55], KA II 154). Ein solches Subjekt wäre zugleich schwach, denn es betreibt seine eigene Vernichtung und hält sich so im Unbestimmten (als Resultat bestimmter Negationen), wie auch stark, denn es gewinnt in dem ästhetischen Selbstbezug und in der bewußt betriebenen Selbstvernichtung eine unendliche Freiheit zur Selbstbildung und -verfügung über sich selbst. In dieser Selbstverfügung des ästhetischen Subjekts über sich – die gerade nicht eine herrschaftliche Verfügung über Objekte impliziert – gewinnt es eine ihm eigene Souveränität, die es aber immer nur negativ – als Destruktionserfahrung – in der ästhetischen und als die ästhetische Erfahrung bestimmen kann. Souverän ist das Subjekt, weil es mit dem (ironisch praktizierten) Prozeß des Aufbauens und Zerstörens einen spielerischen Selbstbezug erlangt und in begrenztem Maße über sich durch ein instrumentelles Selbstverhältnis (es kann sich beliebig „stimmen“) verfügen kann. Aufbauen und Zerstören sind also nicht nur Momente der künstlerischen Produktion von Kunstwerken, sondern zeigen sich auch im (ironischen) Selbstverhältnis des ästhetischen Subjekts. Wir lernen aus der ästhetischen Erfahrung der Kontingenz aller Setzung auch für ein anderes alltägliches Selbstverhältnis. Allerdings gibt es das Sich-selbst-willkürlich-stimmen-können zunächst nur in der ästhetischen Erfahrung, also im ästhetischen oder als ästhetisches Spiel. Insofern ist hier keine auch alltägliche Selbstverfügung oder Selbstherrschaft qua Verstand impliziert, wie es ja gerade der von Schlegel kritisierte Rationalismus postuliert. Die ästhetische Selbstverfügung ist Hingabe an das freie Spiel der Kräfte, nicht deren Beherrschung. Man sollte daher eher davon sprechen, daß sich das Subjekt in der ästhetischen Erfahrung beliebig stimmen läßt. Wenn jedoch die Iroes müßte denn einer durch und durch Poesie und gleichsam ein lebendes und handelndes Kunstwerk sein.“ (KA II 110) – Auch ein Gespräch kann ein Kunstwerk sein, „wenn es durch gebildete Fertigkeit zur höchsten Vollendung in seiner Art geführt wird, und in Stoff und Gestalt ursprünglichen geselligen Sinn und Begeisterung für die höchste Mitteilung verrät“ (GF/KTS 42). – Schlegel verwendet auch den Begriff des „Individuums“ nicht nur für Subjekte, sondern unter diesen fallen u.a. auch „Projekte“ (AT Nr. [22], KA II 106 f.), „historische Individuen“ (AT Nr. [55], KA II 109), „Zeitalter“ (AT Nr. [426], KA II 152), die „alte Poesie“ (AT Nr. [242], KA II 127) und literarische Werke, etwa Romane und Gedichte (z.B. GP/KTS 220). Selbst alle „Systeme sind Individuen“, so wie umgekehrt „alle Individuen auch wenigstens im Keime und der Tendenz nach Systeme“ (AT Nr. [242], KA II 127 f.) sein können. Der Begriff des „Individuums“ übergreift also bei Schlegel die Differenz von Mensch und Kunstwerk, Geschichte und Zukunft. Anschließbar wäre hier der Versuch einer Charakteristik dessen, wie der Begriff des Individuums strukturell von Schlegel bestimmt wird. Es scheint sich nicht um eine unteilbare Einheit oder um ein unhintergehbares Einzelnes zu handeln, sondern um die Einmaligkeit eines bestimmten strukturellen Verhältnisses. So bestehe etwa das „Eigentümliche [...] nicht in diesem oder jenem einzelnen Bestandteil, oder in dem bestimmten Maß desselben; sondern in dem Verhältnis aller“ (GF/KTS 44 f.).
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nie der Austrag des ästhetischen Spiels ist, dann kann sie diesen Austrag auch im Alltäglichen ermöglichen. Die Ironie praktiziert ein anderes Selbstverhältnis zur ursprünglich produktiven Kraft auch in dem alltäglichen (letztlich vergeblichen) Versuch einer Kontrolle dieser Kräfte selbst: nämlich diese spielen zu lassen und sich diesem Spiel hinzugeben. Das aber ist eben keine absolute Herrschaft, sondern souveräne Selbstpreisgabe. Allerdings zeigt sich hier (wie schon bei Kant), daß die Beschreibungen ästhetischer Subjektivität immer ambivalent sind: das ästhetische Subjekt ist zugleich eine Steigerung der Mächtigkeit des alltäglichen Subjekts wie dessen totale Ohnmacht in der Selbstauslieferung an unkontrollierbare Kräfte. Diese Dialektik von subjektiver Macht und Ohmacht bezeichnet ja gerade das ästhetische Spiel von setzender Selbstbeschreibung und verunsichernder Selbstreflexion, von bewußtem Mitspielen des Subjekts und der Hingabe an übersubjektive Kräfte. In der Selbstaufgabe liegt also ein Moment gelungener Selbstverfügung, allerdings nur im negativen Modus. Die Souveränität der Selbstpreisgabe – das Selbstopfer – kann nur im Modus der (subjektiven) Ohnmacht vollzogen werden, denn sonst wird sie falsch – nämlich positiv bzw. bloß (subjekt-)ermächtigend, etwa als Zynismus. Die Aufgabe seines alltäglichen Selbst als bewußter Kontrollverzicht ist das einzige Moment, über den das Subjekt frei verfügt. Das Subjekt ist dann qua ironischer Selbstnegation Medium einer sich in den Text setzenden ursprünglichen Kraft. Dieses ursprüngliche Ins-Werk-setzen der Kraft kann sich nur ereignen unter der Voraussetzung einer Preisgabe der alltäglichen Scheinindividualität mit ihren angeblichen Bedürfnissen. Souverän zu sein heißt gerade nicht, als Subjekt in der Weise autonom zu sein, daß man sich selbst das Gesetz gibt. Souverän ist vielmehr die Aufgabe des Anspruchs auf autonome Subjektivtät und ihrer (defensiven) Selbsterhaltung zugunsten einer erfahrenden und sich ereignenden Medialität, die die Mitte markiert zwischen aktiven und passiven Verhaltungen des Subjekts (cf. Kapitel 1). Der ästhetische Subjektvollzug ist also vor der Allgemeinheit subjektiver Vollzüge insofern ausgezeichnet, als daß er expliziter Vollzug des Selbstverhältnisses der poetischen Kraft ist.65 Er ist expliziter Vollzug der Herstellung oder Produktion von Darstellungen oder Texten, in denen qua Ironie auch die herstellende Kraft, nach Schlegel also die Poesie, indirekt mitdargestellt ist. Der Text ist die Allegorie seiner Genese, d.h. der ihn produzierenden Kraft, die sich im Ironischwerden des Textes zeigt. Ein Kunstwerk wäre formal betrachtet eine endliche und bestimmte 65 Dem Künstler kommt daher gegenüber den Nichtkünstlern auch eine vermittelnde Aufgabe zu: „[...] Nur der Mensch unter Menschen kann göttlich dichten und denken und mit Religion leben. Sich selbst kann niemand auch nur seinem Geiste direkter Mittler sein, weil dieser schlechthin Objekt sein muß, dessen Zentrum der Anschauende außer sich setzt. Man wählt und setzt sich den Mittler, aber man kann sich nur den wählen und setzen, der sich schon als solchen gesetzt hat. Ein Mittler ist derjenige, der Göttliches in sich wahrnimmt, und sich selbst vernichtend preisgibt, um dieses Göttliche zu verkündigen, mitzuteilen, und darzustellen allen Menschen in Sitten und Taten, in Worten und Werken. Erfolgt dieser Trieb nicht, so war das Wahrgenommene nicht göttlich oder nicht eigen. Vermitteln und Vermitteltwerden ist das ganze höhere Leben des Menschen, und jeder Künstler ist Mittler für alle übrigen“ (ID Nr. [44]/KA II 260).
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Darstellung der herstellenden Kraft, die Spur einer Kraft, die selbst undarstellbar und damit Á%#J?J# bleibt. D%#J?J#ist hier also nicht wie bei de Man das tropologische System der rhetorischen Substitutionen, sondern eine ursprünglich herstellende Kraft. Die Ironie ist als Verhaltensweise des ästhetischen Subjekts bereits expliziter und bewußter Vollzug des poetischen Herstellungsverhältnisses. Sie ist selbst bereits Theorie und Vollzug nach dem Vorbild künstlerischen Hervorbringens überhaupt und überträgt damit das durchs ästhetische Spiel gewonnene Kontingenzbewußtsein auch in den Alltag. Subjekte sind bei Schlegel weder selbsttransparent noch autonome Urheber ihrer Äußerungen.66 Sie sind vielmehr der Ort, an dem sich die Bewegung der Selbstdarstellung der schaffenden Kraft vollzieht. Zugleich sind Subjekte konstitutiv auf textuelle (Selbst-)Beschreibungen bezogen. Das Subjekt gründet sich durch Texte, und erst mittels dieser kann es das Subjekt als Selbstverhältnis überhaupt geben. Die Spur dieser undarstellbaren Kraft ist als die mitteilende Äußerung des Subjekts zugleich unmöglich bzw. unvollständig und notwendig. Die allegorischen Erzählungen (mit ihren im- und expliziten Selbstbeschreibungen) als Spuren dieser Kraft stehen daher in einem unhintergehbar nachträglichen Verhältnis zur Kraft selbst, auf die nur die Ironie negativ hinzuweisen vermag. In diesem Sinn läßt sich auch die „Transzendentalpoesie“ als eine Mitdarstellung der schaffenden Kraft verstehen. Die „innere Ironie“ bezeichnet den Überschuß der produzierenden Kraft über jedes ihrer Produkte. Auf das Paradigma Autor/ Text übertragen heißt das, daß zwar jeder Text notwendig einen Sinnüberschuß über die Intentionen des Autors aufweist, andersherum jedoch der allegorische Text der einzig mögliche Zugriff auf diese Kraft ist. Die Ironie verweist auf dieses Verhältnis von hervorbringender Kraft und hervorgebrachtem Resultat, dem Text. Diese hervorbringende Kraft ist weder nur auf die Kunst beschränkt noch ist sie als ‚subjektivistisch‘ zu verstehen. Die Hervorbringung ist an sich überhaupt kein bewußter Akt, sondern von gleicher Ausdehnung wie jeder subjektive Vollzug. Ebensowenig ist das Produzieren ‚Ausdruck‘ eines selbstbewußten und autonomen Subjekts, das den Akt des Produzierens intentional kontrollierte. Die künstlerische Produktion ist vom Prozeß unentwegter Produktion nur insofern unterschieden, als daß jene sich durch die rückwirkende Durchbildung als ein Selbstverhältnis der darstellenden Kraft – also als Produkt – sedimentiert und damit diese Kraft in sich aufhebt. Damit läßt sich der explizite Vollzug des Prozesses der Selbstschöpfung und -vernichtung qua Ironie durch das ästhetische Subjekt bzw. den Autor als paradigmatisch für jeden subjektiven Vollzug verstehen. Kunst wird damit nicht unter dem Aspekt einer Kunsterfahrung bzw. -rezeption betrachtet, sondern dem des künstlerischen Produktionsprozesses zunächst schriftlicher bzw. poetischer Kunst. 66 So beschreibt auch Niklas Luhmann: „Das Herstellen kann [...] nicht, oder nur in unzureichender Formalisierung, als Mittel zu einem externen, bereits bei Arbeitsbeginn klaren Zweck begriffen werden. Es entzieht sich daher auch der Planung und Programmierung [...]“ (Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1995), S. 68). Der Prozeß des Herstellens ist dem Kalkül des Künstlers nicht vollständig zugänglich – und zwar prinzipiell nicht, d.h. qualitativ, nicht nur graduell.
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Auch Kierkegaard betont das Moment der subjektiven Freiheit in der oder durch die Ironie: „Die Ironie ist eine Bestimmung der Subjektivität. In der Ironie ist das Subjekt negativ frei; denn die Wirklichkeit, die ihm Inhalt geben soll, ist nicht da, es ist von der Gebundenheit frei, in der die gegebene Wirklichkeit das Subjekt festhält, aber es ist negativ frei und als solches schwebend, weil nichts da ist, das es hält. Aber eben diese Freiheit, dies Schweben gibt dem Ironiker einen gewissen Enthusiasmus, indem er sich gleichsam an der Unendlichkeit der Möglichkeiten berauscht, [...]. Diesem Enthusiasmus gibt er sich indessen nicht hin, er begeistert und nährt nur den Enthusiasmus der Vernichtung in sich selber. – Aber da der Ironiker das Neue nicht in seiner Macht hat, so könnte man fragen, womit er das Alte vernichtet, und darauf muß man antworten: er vernichtet die gegebene Wirklichkeit mit der gegebenen Wirklichkeit selber [...].“67
Ironische Vernichtung ist also nur durch die Weise des Gegebenseins wirklicher Produkte möglich. Die Ironie hebt den Exzeß des Virtuellen, des immer auch Möglichen, gegenüber dem Faktischen in sich auf, indem sie das Unbestimmte im Bestimmten offen hält – z.B. als Kunstwerk. Das markierte dann dessen utopischen Gehalt. Die Kunstwerke heben den virtuellen und utopischen Horizont des Wirklichen in sich auf. Subjektiver Vollzug besteht in einem sich selbst zeugenden Prozeß der Produktion, in dem das Subjekt ein Welt- und Selbstverhältnis als Entwurf in die Zukunft oder als Erfindung fiktionaler Vergangenheiten in Form historischer bzw. biographischer Narrationen herstellt. Die Ironie kennzeichnet eine Freiheit des Subjekts vor jeder bestimmten Erzählung. Hier ließe sich zwar einwenden, daß nicht jeder subjektive Vollzug notwendig mit einer bewußten Handhabung der Ironie einhergeht. Dieser Einwand trifft jedoch deshalb nicht, weil die hier beschriebene Ironie nicht die eines bewußten Subjekts ist, sondern ein Moment der Suspension in einem Prozeß beschreibt, über den Subjekte zwar Bewußtsein erlangen, den sie jedoch nicht einer intentionalen Kontrolle unterwerfen können, da er sich von jedem subjektiven Bewußtsein unabhängig vollzieht, ohne allerdings auf Objektivität reduzibel zu sein. Die souveräne Selbstpreisgabe gibt sich z.B. als eine andere Schreib- und Erzählpraxis, nämlich als eine Selbstauslöschung der Individualität im rauschhaften Ereignen einer Kraft, die sich ins Werk (Text) setzt, wenn man sie läßt. Der einzig mögliche subjektive Kommentar dazu ist: Ironie. Die Ironie markiert eine Freiheit der Zeichenverkettung oder -verwendung gegenüber dem gewohnten Zeichengebrauch. Wahre Freiheit ist solche Freiheit der souveränen Zeichenverkettung, wenn auch um den Preis dessen, daß man nicht sagt oder sagen kann, was man meint: die Ironie verweist durch bestimmte Negation auf ein Unbestimmtes. Freiheit gibt es nur im und durch den Akt des Erzählens. Das eröffnet die Möglichkeit einer anderen Weise des (Selbst-)Erzählens, nämlich autodestruktiv-ironisch als Aufhebung der Dissemination – d.h. der unkontrollierbaren 67 Sören Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (Oldenbourg, München/Berlin 1929), S. 219.
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Ausstreuung der Gabe – im Produkt bzw. Text selbst, soweit das möglich ist. Ironie ist Bewußtsein der Kontingenz jeder bestimmten Zeichenverkettung und Ergreifen der souveränen Freiheit der Zeichenverwendung im Modus der subjektiven Ohnmacht. Insofern richtet sich die Ironie sowohl gegen einen kritiklosen Positivismus und als auch gegen einen Zynismus als aufgebende Einwilligung in das als falsch Erkannte. Der Vollzug der Ironie ist vielmehr die aktive Bejahung der Dissemination und damit ein Weise des Vollzugs dessen, was Nietzsche mit amor fati zu bedenken gab: aktives Geschehenlassen dessen, was sich ereignet. Da es sich hier um eine rein formale Beschreibung eines Prozesses handelt, läßt sich sowohl von allen spezifischen Inhalten der erzählenden Allegorie als auch von der Differenz zwischen biographischen und historischen Erzählungen absehen. Da diese Erzählungen selbst nur die Spur der Bewegung einer Kraft sind, die sowohl Subjekte konstituiert als auch die Differenz von Subjekten und Welt erst hervorbringt, spielt die Spezifik dessen, was in einer Erzählung erzählt wird, keine Rolle. Abschließen möchte ich dieses Kapitel mit einem Zitat von Jacques Derrida, das einerseits den konstituierenden Charakter der Kraft für die Erzählung und die Schrift belegen soll und andererseits ein metaphysisches Verständnis der Kraft umgeht. Die folgende Passage soll auf die Richtung verweisen, in der eine Analyse der Binnenstruktur der schaffenden Kraft Schlegels fortzuführen wäre. Derrida schreibt, daß das „System [des Gabentausches, J.S.] einen wesentlichen Bezug auf die Zeit hat, einen Bezug auf einen Aufschub oder Verzug, auf ein Differieren in der Zeit“. Diesen zeitlichen Aufschub – ein „Termin“ – bestimmt er als die „différance“, die „das Ding selbst [(ist)]“, das in diesem System getauscht wird. Das, was zur „Gabe und Gegengabe treibt“, ist „eine Kraft [...], eine Eigenschaft, die dem Ding immanent ist“. Angetrieben von dieser „mysteriösen Kraft, verlangt das Ding nach Gabe und der Rückgabe, es erfordert die ‚Zeit‘, den ‚Termin‘, den ‚Aufschub‘ oder das ‚Intervall‘ des Temporisierens, das Zeitgewinn-Werden der Verzeitlichung [...] und dieses Begehren wäre (eingeschrieben in) das Ding selber. [...] Nur in diesem Verlangen hätte das Ding seine ‚innere Kraft‘ oder virtus, sein Wesen eines Dinges, nur in ihm wäre ein Ding ein Ding. [...] Das Ding ist nicht in der Zeit, es ist oder es hat die Zeit, oder vielmehr, es verlangt einfach, Zeit zu haben, sie zu geben oder zu nehmen – und zwar die Zeit als einen Rhythmus, der eben nicht eine vorgängige homogene Zeit akzidentiell rhythmisierte, sondern sie ursprünglich strukturiert. Die Gabe gibt, verlangt und nimmt Zeit. Das Ding gibt, verlangt oder nimmt Zeit. Dies ist mit einer der Gründe dafür, daß dieses Ding der Gabe eine Verbindung mit der inneren Notwendigkeit einer gewissen Erzählung oder einer gewissen Poetik der Erzählung eingehen wird. [...] Das Ding als gegebenes Ding trägt sich, wenn es sich zuträgt, nur in der Erzählung und in ihrem poetischen Simulakrum, dem Prosagedicht zu. [...] Die Gabe wäre so stets die Gabe einer Schrift, einer Erinnerung, eines Gedichts oder einer Erzählung, auf jeden Fall vermachte oder hinterließe sie einen Text.“68
68 Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit Geben I (Fink, München 1993), S. 55-63/letzte Hervorhebung von mir, J.S.
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Kraft ist die zeitliche Differenz von Gabe und Rückgabe, die das Tauschsystem, also die Ökonomie, konstituiert und terminiert. Während sich die Ironie als Differenz von Unendlichkeit und Endlichkeit in einem Produkt auffassen läßt, läßt sich die Kraft als Differenz von Wirklichkeit (Gabe) und Virtualität (Gegen- oder Rückgabe) in einer gegebenen Aktualität auffassen. Kraft ist dabei nur als differentiell gegebenes Kraftfeld wirksam. Als Prozessierende ist die Kraft zeitlich differentiell in sich verfaßt, d.h. sie ist von begrenzter und rhythmisierender Instabilität (es gibt nur eher stabile Zustände oder eher instabile Phasen der Veränderung).
5. Sprache, Musik und Spiel in der ästhetischen Erfahrung (Nietzsche) I Nietzsches frühe Schrift Die Geburt der Tragödie wird oftmals in den Kontext einer Metaphysik gestellt, die in der Kunsterfahrung einen privilegierten Zugang zu einer höheren Wahrheit vermutet hat, die auf anderen kulturellen Gebieten – insbesondere der Philosophie und der wissenschaftlich-rationalen Erkenntnisse – nicht zu erfahren ist. Solche Interpretationen folgen darin implizit oder explizit der dreiteiligen Periodisierung seines Werkes durch Andreas-Salomé1, die die Geburt der Tragödie einer frühen metaphysischen Phase Nietzsches zuordnet, von der er sich erst nach seinem Bruch mit Wagner um 1876 abzusetzen beginnt.2 Gemäß diesem Interpretationsschema folgt die ästhetische Metaphysik der Geburt der Tragödie aus einer Übernahme der Schopenhauerischen Metaphysik mitsamt ihres platonischen Dualismus, entweder aus Treue gegenüber der ästhetischen Position Wagners3 oder aus einem Mangel an eigenständiger Terminologie des frühen Nietzsche, dem „andere philosophische Mittel“ als die von Schopenhauer übernommenen noch „nicht zur Verfügung“4 standen. In der Tat scheinen das Vorwort an Richard Wagner, das die Kunst als die „eigentlich metaphysische[] Thätigkeit dieses Lebens“5 im Sinne Wagners bestimmt und die buchstäbliche Übernahme ganzer Passagen aus den Schriften Schopenhauers diese Lesart nahezulegen. Der schopenhauerischen Opposition von Wille und Vorstellung entspräche dann eine durch die apollinische Kunst transpor1 2 3
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Cf. Lou Andreas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken (Konegen, Wien 1894). Cf. z.B. Volker Gerhardt: Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst (in: Nietzsche-Studien Band 13, de Gruyter, Berlin/New York 1984, S. 374-393). Cf. Klaus-Detlef Bruse: Die griechische Tragödie als ‚Gesamtkunstwerk‘ – Anmerkungen zu den musikästhetischen Reflexionen des frühen Nietzsche (in: NietzscheStudien Band 13, de Gruyter, Berlin/New York 1984, S. 156-176). Cf. Heinrich Niehues-Pröbsting: Ästhetik und Rhetorik in der ‚Geburt der Tragödie‘ (in: Josef Kopperschmidt/Helmut Schanze (Hg.): Nietzsche oder ‚Die Sprache ist Rhetorik‘, Fink, München 1994, S. 93-108), hier S. 103 f. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (in: ders.: Kritische Studienausgabe 15 Bände, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, Berlin/New York 1967-1977 u. 1988, Band I, S. 11-156), hier S. 24. Im folgenden wird aus dieser Ausgabe unter dem Sigel [KSA] und Numerierung der Bandausgabe zitiert. Zitate aus der Geburt der Tragödie werden zusätzlich mit dem Sigel [GdT] markiert.
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tierten, dionysischen höheren Wahrheit über das Wesen der Dinge oder des Seins. Gestützt wird diese Voraussetzung scheinbar auch durch Nietzsches Versuch einer Selbstkritik, den er 1886 der Geburt der Tragödie voranstellt: „Wie sehr bedauere ich es jetzt, dass ich damals noch nicht den Muth (oder die Unbescheidenheit?) hatte, um mir in jedem Betrachte für so eigne Anschauungen und Wagnisse auch eine eigne Sprache zu erlauben, – dass ich mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Werthschätzungen auszudrücken suchte, welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen giengen!“ (GdT/KSA I 19)
Folgt man diesem Hinweis, so müßte eine Interpretation der Geburt der Tragödie sich ihrer Problematik entlang einer Berücksichtigung der Divergenz der Wagner, Kant und Schopenhauer geschuldeten „Sprache“ und der Eigenständigkeit der philosophischen Intuition des frühen Nietzsche nähern, die weder mit der Schopenhauerischen Metaphysik noch mit der auf dieser aufruhenden Musikästhetik Wagners einfach konvergierte. Wenn Nietzsche die ästhetischen Probleme in der Geburt der Tragödie mit den theoretischen Mitteln zu lösen versucht, die ihm Wagner und Schopenhauer zur Verfügung stellen, so bedeutet dies jedoch nicht einfach nur die Nichtadäquation von Nietzsches Sprache und seinem philosophischen Denken, sondern führt – zumindest im Ergebnis – zu einer Subversion und Destruktion der von Schopenhauer übernommenen dualistischen Metaphysik, in der sich bereits Nietzsches späteres Projekt einer Experimentalphilosophie6 ankündigt, das auf eine grundlegende Umwertung aller überlieferten Werte und eine strategische Umgestaltung der philosophischen Tradition mitsamt ihrer dualistischen bzw. platonischen Metaphysik zielt. Nietzsche richtet sich in all seinen Texten im- oder explizit gegen eine platonisch-christliche moralische Weltdeutung.7 Schon die „ganze Artisten-Metaphysik“ der Geburt der Tragödie diente dem Zweck, die „Moral selbst in die Welt der Erscheinung [...] herabzusetzen“ und sie darüberhinaus als „Schein, Wahn, Irrthum, Ausdeutung, Zurechtmachung, Kunst“ (GdT/KSA I 18) zu entlarven, wie es in der späteren Selbstkritik Nietzsches heißt. Die Geburt der Tragödie steht dann weniger in der „romantischen“ Tradition ästhetischer Metaphysik als daß sie auf eine „rein artistische, eine antichristliche“ „Gegenwerthung des Lebens“ (GdT/KSA I 19) abzielt, die weniger in der Kunst eine Metaphysik als vielmehr in dieser eine künstlerisch produzierte Illusion vermutet, die eine Philosophie des Lachens und eine „Kunst des diesseitigen Trostes“ irgendwann zum Teufel zu schicken vermag (GdT/KSA I 22). Die vorliegende Arbeit faßt die Divergenz von Sprache und philosophischer Intuition Nietzsches als die Differenz zwischen einer von Schopenhauer übernommenen dualistischen Metaphysik und ihrer internen Subversion und Destruktion 6
7
Cf. Volker Gerhardt: ‚Experimental-Philosophie‘ Versuch einer Rekonstruktion (in: ders.: Pathos und Distanz: Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Reclam, Stuttgart 1988, S. 163-187). Cf. Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie (Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 1985).
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auf, unabhängig von der Frage, in welchem Maße ein solches metaphysikkritisches Projekt den realen Intentionen des frühen Nietzsche entsprochen haben mag, wie es der späte Nietzsche in seinen Selbstinterpretationen, etwa in Ecce Homo nahelegt.8 Dabei setzt diese Arbeit kein einfaches Nebeneinander von trennbaren metaphysischen und nichtmetaphysischen Schichten in der Geburt der Tragödie voraus, sondern nimmt eine faktische Subversion der Schopenhauerischen Metaphysik in einer zu rekonstruierenden dekonstruktiven Strategie des frühen Nietzsche an.9 Entgegen der These von einer Diskontinuität oder einem Bruch in der Entwicklung Nietzsches, die eine frühe metaphysische Phase ihrer späteren Destruktion kontrastiert10, folgt diese Arbeit der Prämisse, daß sich schon in seiner ersten ver8
Thomas Böning führt den Nachweis, daß Nietzsche sich bereits um 1868, also lange vor der Abfassung der Geburt der Tragödie, vom Einfluß der Schopenhauerischen Metaphysik zu befreien suchte und erklärt die spätere Wiederaufnahme mit der Treue Nietzsches zu den musikästhetischen Ansichten Wagners (Thomas Böning: Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche (de Gruyter, Berlin/New York 1988) S. 1-21 und S. 322-336). Allerdings findet sich die frühe Schopenhauerkritik Nietzsches, die dessen Metaphysik nicht logisch kritisiert, sondern sie als Kunst entlarvt, auch im Vorwort an Richard Wagner wieder: „Wenn Nietzsche in dem Richard Wagner gewidmeten Vorwort der Geburt der Tragödie ausführt, Kunst sei die ‚eigentlich metaphysische [...] Thätigkeit des Menschen‘ (GdT/KSA I 24), so ist dabei der gegen Schopenhauer gerichtete Hinter-Sinn ‚Metaphysik ist Kunst‘, d.h. Illusion mitzuhören“ (l.c., S. 345). Inwieweit Nietzsches frühe Selbstinterpretation seiner Nähe zu Wagner auf einem (Selbst-)Mißverständnis beruht, kann hier nicht näher dargelegt werden. Jedenfalls weist auch schon die musikästhetische Position des frühen Nietzsche erhebliche Differenzen zu derjenigen Wagners auf, wie Klaus Kropfinger dies beispielhaft an der Divergenz der Auffassung von der „absoluten Musik“ dargelegt hat. Cf. Klaus Kropfinger: Wagners Musikbegriff und Nietzsches ‚Geiste der Musik‘ (in: Nietzsche Studien Band 14, de Gruyter, Berlin/New York 1985) S. 1-12. 9 Cf. Lacoue-Labarthe: „[D]ie Geburt der Tragödie ist nicht ein Text. Sie unterhält einen [...] uneindeutigen Bezug zu ihren eigenen Vorstudien und zu den bereits abgeschlossenen Schriften, die ihr vorausgehen. Der ‚endgültige‘ Text trägt an den Folgen: in ihm kreuzen und überlagern sich Diskurse, die nicht wirklich übereinkommen, sich nicht decken, und zu deren spröder Versöhnung es der Entfaltung einer hyperbolischen ‚Beredsamkeit‘ – und/oder der Hilfe einer bestimmten Dialektik – bedarf“ (Philippe Lacoue-Labarthe: Der Umweg (in: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich, Ullstein, Frankfurt/Main 1986, S. 76-110), hier S. 92. – Cf. zum Verhältnis der Vorarbeiten zur Genese der Geburt der Tragödie auch Klaus-Detlef Bruse: Die griechische Tragödie als ‚Gesamtkunstwerk‘, l.c. (Fußnote 3). 10 Dieser Voraussetzung folgt auch ein Teil der französischen Nietzschelektüren. Lacoue-Labarthe etwa führt die angeblich erst nach der Geburt der Tragödie einsetzende Destruktion der logozentrischen Metaphysik der Präsenz auf Nietzsches Entdeckung der Rhetorik zurück: „Was die Rhetorik also, im zugleich entscheidendsten und zerbrechlichsten Gelenk der Geburt der Tragödie zerstört: den Unterschied von Dionysischem und Apollinischem selbst, oder zumindest das, was dieser Unterschied noch an Entgegensetzung und Widerspruch enthielt. Was die Rhetorik, anders ge-
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öffentlichten philosophischen Schrift eine Problematik ankündigt, die sich durch seine diversen Texte hindurch wiederholt und stets ein ähnlich gelagertes Problem reflektiert. Damit ist keine Annahme eines überhistorischen Sinns der Texte Nietzsches gemacht, sondern nur die These einer kontinuierlichen Wiederholung oder Wiederkehr eines strukturellen Problems im Denken Nietzsches aufgestellt, auf das die diversen Texte Nietzsches verschieden antworten:11 z.B. wie kann Kunst ihrer Zeit und Kultur zum Heilmittel werden? Es scheint zwar zunächst so, als würde die Leitdifferenz der Geburt der Tragödie von Dionysisch und Apollinisch die dualistischen Oppositionen von Ding an sich und Erscheinung von Kant und die von Wille und Vorstellung von Schopenhauer wiederaufnehmen bzw. wäre analog zu diesen gebaut. Die Durchführung dieser Opposition führt jedoch de facto dazu, den dualistischen Platonismus Schopenhauers zu sabotieren. Ob Psychologie, Geschichte, Geschichtsphilosophie oder Ästhetik: auf alle diese Gebiete erfährt die pseudodialektische Opposition von Dionysischem und Apollinischem ihre Anwendung. Das die Verbindung von Apollinischem und Dionysischem regelnde Vokabular einer genetischen Metaphorik „ist auf verschiedenen Ebenen wirksam“ (AL 122). Die Opposition von Apollinisch und Dionysisch wird in der Durchführung exzessiv auf eine Reihe von offensichtlich nicht analog gelagerten Differenzen angewendet, was im Resultat den Erklärungsgehalt und die Stabilität dieser Opposition selbst unterläuft.12 Die Fülle der Differenzen, die auf diese Opposition reduziert werden13, macht es schwierig, sie als grundlegendes sagt, beschwört, ist die unvermeidliche Gefahr, daß die nichtdialektische Einheit (Differenz) von Apollinischem und Dionysischem (die immer vorgängige, doch nie ursprüngliche, Zerstückelung oder Zerstreuung des Dionysos unter der Maske Apollos) sich nicht wie eine einfache Differenz zwischen der Präsenz und ihrem Gegenteil öffnet, die zuletzt durch Kunst und Tragödie aufgehoben würde.“ (cf. Philippe Lacoue-Labarthe, l.c. (Fußnote 9), S. 99 f.) – Der Voraussetzung eines Bruchs zwischen einer Metaphysik des frühen Nietzsche und deren späterer Destruktion folgt auch Sarah Kofman in: Nietzsche et la métaphore (Payot, Paris 1972). Cf. zur Kritik an dieser Voraussetzung der französischen Nietzscherezeption auch Paul de Man: Genese und Genealogie (Nietzsche) (in: ders.: Allegorien des Lesens, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988, S. 118-145), hier S. 129 f. Im folgenden unter dem Sigel [AL] zitiert. 11 Diese Arbeit folgt darin der These de Mans, daß sich Nietzsches Werk als ganzes nicht wie eine Erzählung strukturiert, „deren Gestalten sich vom Falschen zum Wahren, von Blindheit zu Einsicht bewegen“, sondern „allegorisch“ ist, „das heißt wiederholend auf eine potentielle Verwirrung von figurativer und referentieller Aussage bezogen ist“ (cf. Paul de Man: Die Rhetorik der Tropen (in: ders.: Allegorien des Lesens, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988, S. 146-163), hier S. 160). 12 Daß eine die dualistischen Oppositionen unterlaufende Schreibpraxis ein sich durchhaltender Zug in den Schriften Nietzsche ist, hat Jacques Derrida anhand der Opposition männlich/weiblich gezeigt. (Jacques Derrida: Sporen. Die Stile Nietzsches (in: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich, Ullstein, Frankfurt/Main 1986, S. 129-168)). 13 So erstreckt sich die Wirksamkeit der dionysisch-apollinischen Dialektik „über alle Völker“ (KSA I 48).
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Ordnungsprinzip der Geburt der Tragödie weiterhin ernstzunehmen. Eine diese Maßlosigkeit der Anwendung nachvollziehende Lektüre würde den Effekt einer Erschütterung der dualistischen Metaphysik aufzeigen.14 Die Verschiebungen und Verlagerungen der Opposition von Apollinisch und Dionysisch wecken daher eher Zweifel an der Gültigkeit dualistisch operierender Ordnungsprinzipien der Metaphysik, als daß sie die Metaphysik Schopenhauers restituieren. Nietzsche entfaltet seine systematischen Argumente – etwa über die scheinbare Leitdifferenz von Apollinisch und Dionysisch – im Rahmen einer historischen Erzählung, die bei der griechischen Tragödie ansetzt und mit der Möglichkeit ihrer Wiedererweckung durch die Musikdramen seines Zeitgenossen Wagner abschließt. Die Beschreibung des antiken Griechentums erfolgt in einer kritischen Perspektive auf das, was Nietzsche als die „sokratische Kultur“ bezeichnet: eine Kultur, die gemäß einer rationalistischen Epistemologie und eines theoretischen Optimismus (cf. GdT/KSA I 100) operiert. Deren Voraussetzungen – „eine tiefsinnige Wahnvorstellung [...], jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigieren im Stande sei“ (GdT/KSA I 99) – ruhen allesamt auf dem Mythos eines anthropomorphen Wesens des Seins, unter der Annahme, daß das Sein dem Menschen prinzipiell transparent und erkennbar ist. Das Ideal dieser Wissenschaft ist der theoretische Mensch, der eine unverhüllte nackte Wahrheit sucht (cf. GdT/KSA I 98), nach der ihm ewig hungert (cf. GdT/KSA I 120 u. 146). Dieser Mythos beruht nun nicht nur auf einer Täuschung und metaphysischen Illusion, sondern gemäß Nietzsches Gegenwartsdiagnose ist seine Glaubwürdigkeit intern, d.h. innerhalb der herr14 Dies hat einer der Mitherausgeber der Kritischen Gesamtausgabe der Schriften Nietzsches, Michael Kohlenbach, beispielhaft anhand der Inkonsequenz der genetischen Zeugungs-, Geburts- und Verschmelzungsmetaphorik gezeigt, in der Apollo und Dionysos relationiert werden (Michael Kohlenbach: Die ‚immer neuen Geburten‘ (in: Tilman Borsche (Hg.): ‚Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, de Gruyter, Berlin/New York 1994) S. 351-382). Die dominante Metaphorik ignoriert daher nicht nur „souverän“ jegliche „kausallogischen Ansprüche“, sondern verwirrt in der Konsequenz das Verhältnis von Apollinischem und Dionysischem (l.c., S. 359). Kohlenbach interpretiert die exzessive Geburts- und Zeugungsmetaphorik der Geburt der Tragödie als schriftstellerische Praxis einer paradoxen Selbstzeugung des Autors Nietzsche: das „Kind“ Nietzsches, der Text, zeugt seinen Vater, den Autoren Nietzsche, der „Autor Nietzsche kommt mit der Geburt der Tragödie zur Welt“ (l.c., S. 360). Der Charakter der Geburt der Tragödie als zum „Zeitpunkt ihres öffentlichen Erscheinens festgehaltene Textgestalt eines progredierenden Denk- und Schreibprozesses“ (l.c., S. 364) läßt zudem „in Nietzsches schriftstellerischer Arbeitsweise ein Prinzip sprachlicher Produktivität erkennen, das nicht in einem einmal erreichten Resultat zur Ruhe kommt“ (l.c., S. 377). Eine solche Schreibpraxis läßt ihre Resultate daher auch nicht in der Sicherheit einer Metaphysik einfassen. – Eine u.a. auf Nietzsches frühen Schriften basierende Theorie auctorialer Selbstzeugung hat Harold Bloom ausgearbeitet (cf. Harold Bloom: Einfluss-Angst. Eine Theorie der Dichtung, Stroemfeld/Nexus, Basel u. Frankfurt/Main 1995).
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schenden sokratischen Kultur, fragwürdig geworden. Das Fundament der sokratischen Kultur mit ihrer optimistischen und heiteren Erkenntnislust (cf. GdT/KSA I 94) und dem „Glauben an das Erdenglück aller“ (GdT/KSA I 117) ist erschüttert, und zwar einerseits durch die Furcht vor ihren eigenen Konsequenzen, andererseits durch den Zweifel an der ewigen Gültigkeit ihrer epistemologischen Voraussetzungen. Nietzsches Kritik an der sokratischen Kultur beruht aber nicht einfach auf einer Ersetzung eines Wertesystems durch ein anderes (z.B. eines sokratischen Wertesystems durch ein dionysisches), sondern auf der Reflexion der im sokratischen Wertesystem implizierten Illusionen. Solche reflexive Ideologiekritik ist von daher selbst nicht einfach eine weitere Ideologie unter anderen, sondern strukturell negativ auf unsere Alltagswelt bzw. die sokratische Kultur bezogen. Es wird dann allerdings nicht mehr eine höhere Wahrheit ästhetisch mitgeteilt; gleichwohl aber gibt es immer noch eine Wahrheitsdimension in der ästhetischen Erfahrung, weil sie sich kritisch auf unsere alltäglichen für wahr gehaltenen bzw. wahre Erkenntnisse generierenden Selbst- und Weltverhältnisse bezieht. Nietzsche beruft sich in der Kritik der „sokratischen Kultur“ auf die von Kant und Schopenhauer geleistete Vorarbeit einer Selbstkritik der Vernunft (cf. GdT/KSA I 118)15, und in der Tat scheint die Originalität seiner Argumente eher in der Radikalisierung dieser Kritik als in ihrer Neuheit zu liegen. Die Pointe von Nietzsches früher Kritik an der „sokratischen Kultur“ liegt nämlich darin, daß der Rationalismus der sokratischen Kultur selbst einen Mythos zugrundelegt – den einer allmächtigen Vernunft und eines anthropomorphen Wesens des Seins – und daher ein Ausspielen aufklärerischer Ratio gegen den unvernünftigen Mythos äußerst fragwürdig wird. Als Aufklärung über die rationalistische Aufklärung bzw. die Erkenntnisweise der modernen Wissenschaften spielt Nietzsches frühe Rationalismuskritik also nicht den Mythos gegen rationale Erkenntnis aus, sondern sucht als die Basis des Rationalismus selbst einen von diesem seinerseits vorausgesetzten und vergessenen (oder hinweggelogenen) Mythos freizulegen. In der Geburt der Tragödie lassen sich zwei gegenläufige Bewegungen der Kritik am Sokratismus ausmachen. Zum einen wird der Sokratismus als eine wie auch immer zu verstehende Bewegung der Demystifikation aufgefaßt, also als eine aufklärererische Kultur, der Nietzsche vorhält, daß sie das Fehlen eines gesicherten metaphysischen Fundaments hinweglügt. Zum anderen ist jedoch der Haupteinwand gegen den Sokratismus, daß dieser selbst auf einem Mythos beruht, dessen Freilegung ihn in seinem Geltungsanspruch substantiell bedroht, was konzeptionell eher in einer Aufklärung über die (rationalistischhumanistische) Aufklärung mündet.16 Die Freilegung dieses Mythos als Mythos bezeichnet Nietzsche als „tragische Einsicht“ oder auch als „dionysische Weisheit“ 15 Die Kritik Kants liegt darin, die Behandlung von „Raum, Zeit und Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster Gültigkeit“ in seine Grenze zu weisen und infragezustellen (GdT/KSA I 118/cf. auch GdT/KSA I 128). 16 Dies wird auch durch andere Texte Nietzsches aus der Zeit der Abfassung der Geburt der Tragödie gestützt, insbesondere durch den Text Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne und seine Rhetorikvorlesung von 1872. Cf. hierzu Paul de Man: Die Rhetorik der Tropen, l.c. (Fußnote 11) und Lacoue-Labarthe: Der Umweg, l.c. (Fußnote 9), passim.
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bzw. „Wahrheit“, wobei hier zunächst offen bleiben muß, mit Hilfe welcher Mittel diese Wahrheit sich einsichtig macht: ob qua Kunst oder qua reflekiertem Gebrauch der Vernunft. Im folgenden werde ich versuchen, dem Zusammenhang zwischen dionysischer Wahrheit und Kunst eine nichtmetaphysische Deutung zu geben. Bereits in dem später der Geburt der Tragödie zugesetzten Versuch einer Selbstkritik wird die fundamentale Opposition von Sokratisch/Dionysisch deutlich, die durch die Dialektik von Appolinischem und Dionysischem eher verdeckt wird. Auf der einen Seite steht die dionysisch-leichtfüßige „Artistenmetaphysik“, die „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers [...], die Kunst aber unter der des Lebens“ (GdT/KSA I 14) zu sehen versucht. Und das im Namen des „KünstlerGott[es]“ Dionysus, „der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit inne werden will, der sich, Welten schaffend, von der Noth der Fülle und Ueberfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze löst“ (GdT/KSA I 17). In dieser Perspektive scheint die Moral (besonders die christliche) nur Erscheinung und Täuschung und damit in der ästhetischen Perspektive ein Kunstphänomen unter anderen zu sein, während die Kunst als die „eigentlich metaphysische Thätigkeit des Menschen hingestellt“ (GdT/KSA 1 17) wird.17 Metaphysik ist nach dieser Logik also nichts anderes als künstlerisch hergestellte Illusion.18 Als Theorie der Sinnlichkeit und des schönen Scheins fungiert die Ästhetik als explizites Gegenmodell gegen eine moralische Weltdeutung. Auf der anderen Seite steht die kritisierte moderne „sokratische“ Kultur mit ihrem „Sieg des Optimismus, [der] vorherrschend gewordene[n] Vernünftigkeit, [dem] praktische[n] und theoretische[n] Utilitarismus, gleich der Demokratie selbst, mit der er gleichzeitig ist“ (GdT/KSA I 16) – allesamt als ein „Symptom der absinkenden Kraft“ der modernen Kultur denunziert. Diese gegensätzliche Polarisierung von Sokrates und Dionysus wird in der Tat den gesamten Text strukturieren und ein Großteil der Probleme konfigurieren, mit der jede Interpretation zu kämpfen hat. Alles in allem bleibt es unklar, ob Nietzsche eine historische oder eine systematische These über das Verhältnis von Sokrates und Dionysus vertritt: ob sie zwei gegensätzliche Kultur- oder Kunstarten bezeichnen, oder ob das Dionysische die (metaphysische) Ergänzung oder kritische Reflexion der rationalistischen (Wissenschafts-)Kultur ist. In dem Verhältnis von Dionysus und Sokrates liegt von daher eine gewisse Zweideutigkeit. Nietzsches Beschreibung des Verhältnisses von Kultur und Kunst schwankt nämlich zwischen zwei unterschiedlichen Positionen. Die Frage ist, ob das Verhältnis von Dionysus und Sokrates ein supplementierendes oder ein substituierendes ist. Auf der einen Seite scheint die herrschende sokratische Kultur aus sich heraus und als ihr Supplement die tragische Kunst hervorzubringen.19 Die Entstehung der dionysischen Kunst wäre eine Konsequenz der 17 Die christliche Moral ist in ihrem Vorbehalt gegen das Diesseits sowohl kunst- wie auch lebensfeindlich, denn alles Leben „ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit des Perspektivischen und des Irrtums“ (GdT/KSA 1 18). 18 Cf. Böning: Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche, l.c. (Fußnote 8). 19 Cf. GdT/KSA I 96: „vielleicht [...] ist das [dem Sokrates, J.S,] Nichtverständliche doch nicht auch sofort das Unverständige? [...] Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft?“
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rationalistisch und wissenschaftlich bestimmten – d.h. sokratischen – Kultur, deren Anspruch intern an ihre Grenzen gestoßen ist und die diese Grenzerfahrung in der sie supplementierenden Kunst reflektiert. Der sokratische Wahn kommt intern an seine Grenzen, „an denen sie [die Wissenschaft, J.S.] in Kunst umschlagen muss“ (GdT/KSA I 99). Der Optimismus der sokratischen Kultur wird einerseits dadurch erschüttert, daß diese sich vor ihren eigenen Konsequenzen fürchtet, andererseits durch den Zweifel an der ewigen Gültigkeit ihrer Fundamente (cf. GdT/KSA I 119). An der Grenze der Wissenschaft, im Unaufhellbaren, „bricht die neue Form der Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht“ (GdT/KSA I 101).20 In einer entstehenden tragischen Kultur wäre dann die Wissenschaft durch die Weisheit als höchste Form des Wissens (nämlich die dionysische Wahrheit und das Wissen um das Leiden) supplementiert. Nach diesem Modell wäre die ästhetische Erfahrung eine Reflexionserfahrung: das Dionysische ist die Selbstreflexion des Sokratischen, nicht aber dessen Transgression. Auf der anderen Seite erscheint die dionysische bzw. apollinisch-dionysische Kunst21 als das schlechthin andere der sokratischen Kultur und der schlechten sokratischen (weil individualistischen und rationalistischen) Kunst, das diese nicht supplementieren, sondern substituieren oder überschreiten soll.22 Dionysisch-apollinische Kunst hätte dann unter dem Lockruf eines dionysischen Vogels (cf. GdT/KSA I 149 u. 154) die strategische Funktion, die sokratische Kultur langfristig durch eine dionysisch-apollinische Kultur zu ersetzen, in der die wiederum dionysisch-apollinische Kunst im Mittelpunkt zu stehen hätte.23 Nach diesem Modell wird das sokratische Wertesystem durch ein dionysisches ersetzt. Nietzsche schwankt in der Tat zwischen diesen beiden Varianten einer möglichen Ideologiekritik an der rationalistischen Kultur. Die vorliegende Arbeit argumentiert für die erste Variante. Es liegt aber auch in Nietzsches Bestimmung der kritischen Funktion der ästhetischen Erfahrung eine gewisse Zweideutigkeit. Nach dem einen Modell ist die Kunst kritisch auf den alltäglichen Rationalismus bezogen. Das hätte zur Konsequenz, daß nach einer gelungenen Revision des Rationalismus die Kunst überflüssig würde. In dem zweiten Modell wird die Kunst daher so ver20 Cf. auch GdT/KSA I 111: „erst nachdem der Geist der Wissenschaft bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf universale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu hoffen sein: für welche Culturform wir das Symbol des musiktreibenden Sokrates [...] hinzustellen hätten.“ 21 Es wird zu zeigen sein, daß jede nichtsokratische und nichtapollinische Kunst nur in dieser Doppelung von Dionysus und Apollo existieren kann, es also eine ‚reine‘ dionysische Kunst niemals geben kann. 22 Cf. GdT/KSA I 14: „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens...“ 23 Die Frage ist also, ob die tragische Einsicht durch die dionysisch-apollinische Kunst lediglich artikuliert oder aber allererst hergestellt wird (Cf. hierzu Christoph Menke: Die Tragödie und die Freigeister (in: Andreas Steffens (Hg.): Nach der Postmoderne, Bollmann, Düsseldorf/Bensheim), S. 235-264) hier S. 248 f. Im folgenden unter dem Sigel [TuF] zitiert.
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standen, daß sie überhaupt kritisch auf die alltägliche Lebenswelt bezogen ist, wie auch immer diese gerade beschaffen sein mag. Damit würde Kunst zu einem unverzichtbaren Korrektiv alles Bestehenden, das zu jedem Zeitpunkt eine wichtige Funktion hätte.24 Allerdings verschwindet die Differenz zwischen diesen beiden Lesarten, wenn man von der Annahme ausgeht, daß unsere alltägliche Welt notwendigerweise immer rationalistisch dominiert ist. Diese Arbeit geht davon aus, daß durch eine ästhetisch vollzogene Selbstreflexion des einfachen Rationalismus dieser reflexiv wird, was ich im einleitenden Kapitel auch als ‚Hyperrationalismus‘ bezeichnet habe. Damit wird der Rationalismus nicht durch etwas anderes substituiert, sondern bleibt in seiner reflektierten und reflektierenden Gestalt in der Kultur wirksam. Die reflexive (Selbst-)Überwindung des Rationalismus kann also ein historischer Vorgang sein, auch wenn dieser letztlich unabschließbar bleibt und in keinem gesicherten Resultat je zur Ruhe kommen kann. Ein gewises Schwanken Nietzsches zeigt sich auch in der Antwort auf die Frage, wie sich das ästhetische Erleben von Kunst im allgemeinen und von Musik im besonderen zu außerästhetischen Vollzügen des Subjekts verhält. Es gibt hier eine weitere Doppeldeutigkeit in der Weise, wie der Erkenntnischarakter der Kunst bzw. der Musik zu verstehen ist: zum einen die These, daß wir eine Erfahrung am dionysischen Kunstwerk (d.h. hier vor allem der Wagneroper) machen, die grundsätzlich verschieden ist von unseren sonstigen (Alltags-)Erfahrungen oder (wissenschaftlichen/verstandesmäßigen) Erkenntnissen.25 Die ästhetische Erfahrung wäre dann die Erfahrung einer Metawahrheit: die am Kunstwerk gemachte und durch das Kunstwerk erst hergestellte Erfahrung ist selbst diese Erfahrung der Grenze rationalistischer Erkenntnis. Dem entspricht die Charakterisierung der dionysischen Erfahrung als eine Art unbewußte Erkenntnis oder als eine unmittelbare Ganzheitserfahrung. Die Kunst verbürgt eine Meta- oder Wahrheitserfahrung, die nur in ihr und durch sie gemacht werden kann. Hier gründet die Autonomie unseres Verhältnisses zur Kunst. Diese Wahrheitserfahrung kann entweder metaphysische Wahrheit (z.B. über das Sein) oder (nichtmetaphysisch) reflexive Verunsicherung der alltäglichen subjektiven Selbst- und Weltverhältnissen sein. Zum anderen die These, daß die Vernunft bzw. verstandesmäßige Wissenschaft selbst gewissermaßen intern (historisch) an ihre Grenze gekommen ist, was die Kunst lediglich artikuliert. Der daraus folgenden tragischen Einsicht in die Unerkennbarkeit der Natur und der drohenden Gefahr einer Resignation des Willens (Schopenhauer) begegnet die Kunst als ein funktionales Supplement der Wissenschaft (cf. GdT/KSA I 96). Die Kunst artikuliert eine vorgängige (negative) Erkenntnis über rationalistische Wissenschaft oder auch den illusionären Charakter der Welt der Individuation und gibt zugleich einen metaphysischen Trost darüber. Die ästhetische Erfahrung der Kunst wäre nur eine Erfahrung neben anderen ohne Privileg eines spezifischen Zugangs zu 24 Cf. hierzu auch Jens Szczepanski: Das Subjekt als Medium. Bemerkungen zur ästhetisch bestimmten Subjektivität (in: Michael Lüthy/Christoph Menke (Hg.): Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, Diaphanes, Zürich/Berlin 2006, S. 69-85). 25 Cf. hierzu Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991).
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einer Metawahrheit. Das wäre ein eher konservatives Modell, in dem Kunst als bloße Kompensation der rationalistischen Alltagskultur erscheint. Schon de Man hat festgestellt, daß in dem Verhältnis von Sokrates und Dionysus und nicht erst in dem von Dionysus und Apollo in der Tat die Hauptschwierigkeit für ein Verständnis der Geburt der Tragödie liegt, der sich eine Lektüre ausgesetzt sieht. Die dualistische Scheindialektik von Apollo/Dionysus wird strategisch überboten durch die Einführung eines Dritten, des Sokratismus, der nicht nur die Antipode zu der Opposition Apollinisch/Dionysisch ist, sondern auch deren Wertigkeiten grundlegend in Frage stellt. Zwar scheint der Text der Geburt der Tragödie „durch die Pseudopolarität des dialektischen Verhältnisses Apollon/Dionysos [zusammengehalten zu werden], die eine wohlgeordnete Teleologie ermöglicht, weil die ontologischen Karten von Anbeginn richtig verteilt worden sind“ (AL 123). Aber schon die „diachronische, sukzessive Struktur“ ist eine „Täuschung“, da „immer dann, wenn eine Kunstform beschrieben wird, die drei durch Dionysos, Apollon und Sokrates vertretenen Seinsweisen gleichzeitig vorhanden sind“ (AL 124). Zudem scheint jedoch das „dialektische Zusammenspiel von Apollon und Dionysos“ in etwas Fundamentalerem zu gründen, in dem „diese Polaritäten selber [...] verwurzelt sein“ (AL 128) müssen. Die scheinbare Abwertung der apollinischen Erscheinung gegenüber der dionysischen Wahrheit wird nämlich dadurch revidiert, daß einerseits in der Geburt der Tragödie „zwei miteinander unvereinbare Erzähler“ am Werk sind26, andererseits sich anhand einiger zeitgleich zur Tragödie entstandenen Fragmente zeigen läßt, daß „das gesamte Wertesystem, das in der Geburt der Tragödie am Werk ist, willkürlich umgekehrt werden kann“ und damit die Pole von dionysischer Wahrheit und apollinischem Schein beide ihrer Autorität beraubt werden. De Man hat überzeugend gezeigt, daß sich vor dem Hintergrund dieser Fragmente eine „in der letzten Fassung implizite Ironisierung“ nahelegt, die die „epistemologische Autorität des in der publizierten Fassung entfalteten Systems“ radikal zerreißt. Die „Bewertung des Dionysos als der ersten Quelle der Wahrheit [ist] viel eher eine taktische Notwendigkeit als eine substantielle Behauptung [...]. Nietzsche muß zu seinem Auditorium in Begriffen des Dionysischen reden, weil es, anders als die Griechen, unfähig ist, die apollinische Sprache von Figur und Erscheinung zu verstehen“ (AL 161). In dieser theoretischen Ambivalenz zeigt sich das untergründige Wirken der Ironie, die den buchstäblichen dionysischen (Wahrheits-)Pathos Nietzsches unterläuft. Dieser Konflikt zwischen Pathos und Ironie erscheint geradezu konstitutiv für Nietzsches Philosophie. Die implizite Ironisierung unterläuft die Opposition von Apollinisch und Dionysisch zugunsten einer sokratischen Ironie oder eines ironischen Sokratismus, der im Text selbst durchgängig explizit negativ bewertet wird. Das würde auch Nietzsches Polemik gegen die sokratische Wissenschaftlichkeit relativieren zugunsten
26 „Die Erzählung zerfällt in zwei Teile oder, was auf dasselbe hinausläuft, sie benötigt zwei miteinander unvereinbare Erzähler. Der Erzähler, der gegen den Subjektivismus der Lyrik und gegen den Abbildrealismus argumentiert, macht die Glaubwürdigkeit des anderen Erzählers zunichte, für welchen dionysische Einsicht die tragische Wahrnehmung ursprünglicher Wahrheit ist“ (AL 139).
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einer ironischen Handhabung derselben.27 Ironischer Sokratismus wäre dann eine über sich aufgeklärte und reflektierte Praxis des Rationalismus. Stützen ließe sich diese Annahme durch Nietzsches späteren Versuch einer Selbstkritik: „Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Nothwehr gegen – die Wahrheit? [...] Oh Sokrates, Sokrates, war das vielleicht dein Geheimnis? Oh geheimnissvoller Ironiker, war dies vielleicht deine – Ironie? – –“ (GdT/ KSA I 12 f.).28 Wird vielleicht das sokratische Vokabular zuletzt gebraucht, um einem verblendeten Publikum die appollinisch-dionysische Dialektik verständlicher zu machen?
II Die Musik hat in der ästhetischen Debatte des 18. Jahrhunderts eher ein Schattendasein geführt. Paradigmatische Künste der Ästhetik als Kunstlehre bzw. der Poetik und Rhetorik waren vor allem die Dichtkunst und die bildenden Künste (z.B. in Lessings Laokoon29). Dies liegt daran, daß die Künste in erster Linie innerhalb einer Ästhetik der Repräsentation, der Nachahmung oder der mimesis reflektiert wurden. Die Musik läßt sich mit einer an der Nachahmung orientierten Ästhetik offenbar nicht angemessen beschreiben, da sie etwas nicht Sichtbares darstellt, was auch immer dies ist. Paul de Man stellt fest, daß die „klassischen Theorien der Repräsentation des 18. Jahrhunderts [...] beharrlich [versuchen], Musik und Dichtkunst auf den Status der Malerei zu reduzieren“30, und zwar im Sinne einer Ästhetik der Abbildung des Sichtbaren. Zwischen 1780 und 1820 ändert sich dies. Die Kunst übernimmt „die Rolle der Theorie [...] im philosophisch-eminenten Sinne“31. Im 19. Jahrhundert wird die Musik zum ästhetischen Paradigma der Reflexion über Kunst aufgewertet, vor allem von Nietzsche und Schopenhauer. Heidegger schreibt, daß bei Schopenhauer, Wagner und Nietzsche die „Musik in der Gestalt der Oper zur eigentlichen Kunst“ 27 „Die Beziehung zwischen Wissenschaft und Kunst ist von Anbeginn sehr viel komplizierter [als es die Annahme einer unkritischen Vorliebe für die irrationalen zuungunsten der rationalen Fähigkeiten des Menschen es nahe legte, J.S.], und bereits in der Geburt der Tragödie befürwortet Nietzsche den Gebrauch epistemologisch rigoroser Methoden als dem einzig möglichen Mittel, die Grenzen eben dieser Methoden zu bedenken“ (AL 125). 28 In Der Fall Wagner wertet Nietzsche explizit die Erkenntnis vor der Sinnlichkeit auf (KSA VI 43). 29 Cf. G.E. Lessing: Laokoon (Reclam, Stuttgart 1964). 30 Paul de Man: Die Rhetorik der Blindheit: Jacques Derridas Rousseauinterpretation (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 185-230), hier S. 209. 31 Heinrich Niehues-Pröbsting: Ästhetik und Rhetorik in der ‚Geburt der Tragödie‘ (in: Josef Kopperschmidt/Helmut Schanze (Hg.): Nietzsche oder ‚Die Sprache ist Rhetorik‘, Fink, München 1994, S. 93-108), hier S. 96 f.
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wird (N I 84 f.). Die „Herrschaft der Kunst als Musik ist gewollt und damit die Herrschaft des reinen Gefühlszustandes“ (N I 85). Die Kunst wird zum funktionalen Äquivalent der unglaubwürdig gewordenen Religion, indem sie den Bezug auf das Ganze oder Absolute organisiert. Sie wird zur Bildungsreligion.32 Damit bildet sie zugleich ein Kompensationsmedium für die zweifelhaft gewordenen rationalen Wissenschaften, die Nietzsche in der Geburt der Tragödie als „sokratisch“ kritisiert. Die sokratisch verfaßte Kultur hat gerade den Bezug zur wahren, d.h. dionysisch-apollinischen Kunst (d.h. der Opern Wagners) verloren und muß deshalb ersetzt werden durch eine tragische Kultur, in deren Zentrum die Kunst steht. Damit wird die Ästhetik zu einer Metaphysik der Kunst, die scheinbar den Mythos über die Ratio stellt. Durch ihren scheinbar irrationalen Charakter scheint gerade die Musik prädestiniert dafür, den Mythos darzustellen und sich gegen die rationale Vernünftigkeit zu wenden. Ich werde im folgenden zu zeigen versuchen, daß auch eine nichtmetaphysische Interpretation der ratiokritischen Funktion der Musik im Anschluß an Nietzsche möglich ist. Die ästhetische Reflexion über Musik vollzieht sich im allgemeinen in vier Hinsichten: 1. Die Musik verläuft in der Zeit, sie ist wesentlich ein prozessuales Geschehen. Sie unterhält keine Beziehung zum Raum. Daher ist die ästhetische Erfahrung der Musik wesentlich eine Erfahrung der Temporalität. 2. Die Musik wird in mathematisch-physikalischen Relationen beschrieben: als Verhältnis von Frequenzen, Intervallen und Tondauer. 3. Die Musik ist eine nichtrationale allgemeine Sprache, z.B. eine des Gefühls, der Emotionen oder des Körpers. Das die Musik aufnehmende Medium ist nicht der Verstand, sondern der Leib. 4. Die Musik stellt etwas Nichtsichtbares oder Unsichtbares vor. Sie steht in keiner mimetischen Beziehung zum Sichtbaren, kann allerdings z.B. Affekte, den Willen oder Stimmungen abbilden oder ausdrücken. Es ist bekannt, daß Kants Kritik der Urteilskraft33 nicht nur als Kritik der Urteilskraft und des teleologischen Denkens (der Zweckmäßigkeit ohne Zweck) einen ` zweifelhaften Status als Ästhetik im Sinne der ))+ hat, sondern sich nur unwillig und sekundär mit einer Ästhetik als Theorie der schönen Künste beschäftigt, welche als Theorie der erhabenen Kunst fast gänzlich fehlt.34 Im Zentrum der 32 Eine funktionale Bestimmung der gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstehenden Poesie gibt Karl Eibl in seinem Buch: Die Entstehung der Poesie (Insel, Frankfurt/ Main u. Leipzig 1995). 33 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (hg. von W. Weischedel, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974). Im folgenden wird nach der Ausgabe B unter dem Sigel [KdU B] zitiert. 34 ‚Fast gänzlich fehlt‘, d.h., daß die erhabene Kunst in und durch eine Klammer aus dem eigentlichen Diskurs der Kritik der Urteilskraft ausgeschlossen bleibt und nur eine supplementäre Funktion beanspruchen kann. Das Erhabene außerhalb der Erfahrung von Naturobjekten (also in der Kunst) wird in einer eingeklammerten Textstelle auf die Übereinstimmung von Kunst und Natur reduziert: „(das [Erhabene der
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Kritik der Urteilskraft steht nicht das Kunstwerk, sondern die – allerdings noch nicht explizit so genannte – ästhetische Erfahrung des Rezipienten, und, in weit geringerem Maße, die Künstlerdialektik von naturhaftem regelsetzenden Genie und regelkonformen Schaffen. Zudem hat die dritte Kritik eine Scharnierfunktion zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, zwischen der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der praktischen Vernunft.35 In der Kritik der Urteilskraft nimmt die Musik hinter der „Dichtkunst“ den zweiten Rang innerhalb einer Hierarchie der Künste ein, und zwar deswegen, weil sie „den redenden [Künsten, J.S.] am nächsten kommt“ (KdU B 218), auch wenn sie „durch Vernunft beurteilt, weniger Wert [hat], als jede andere der schönen Künste“ (KdU B 218). Die Musik bewegt sogar „das Gemüt mannigfaltiger, und, obgleich bloß vorübergehend, doch inniglicher“ als die Poesie, ist jedoch gleichwohl „mehr Genuß als Kultur“, weil das durch die Musik erregte „Gedankenspiel“ bloß „die Wirkung einer gleichsam mechanischen Assoziation“ ist (KdU B 218). Dieses Gedankenspiel kann die Musik gerade wegen ihres sprachähnlichen Charakters erregen. Jeder „Ausdruck der Sprache [hat] im Zusammenhange einen Ton [...], der dem Sinne desselben angemessen ist“. Dieser Ton bezeichnet „mehr oder weniger einen Affekt des Sprechenden“, den er auch „im Hörenden hervorbringt“ und so in „diesem umgekehrt auch die Idee erregt, die in der Sprache mit solchem Tone ausgedrückt wird“. Der „Reiz“ der Musik liegt darin, daß sie „so wie die Modulation gleichsam eine allgemeine jedem Menschen verständliche Sprache der Empfindungen ist, die Tonkunst diese für sich allein in ihrem ganzen Nachdrucke, nämlich als Sprache der Affekten ausübe, und so, nach dem Gesetze der Assoziation, die damit natürlicher Weise verbundenen ästhetischen Ideen allgemein mitteile“ (KdU B 218 f.). Was der Musik als Sprache fehlt, ist deren vernünftiger Charakter (die Intelligibilität des Sinns); was sie mit der Sprache verbindet, ist, daß sie einen tonalen Zusammenhang in der Zeit organisiert. Durch diesen tonalen Zusammenhang fungiert Musik als eine allgemeinverständliche Sprache. Da die ästhetischen Ideen, die die Musik so mitteilt, „keine Begriffe und bestimmte Gedanken sind“, bringt sie „vermittelst einer proportionierten Stimmung“ von Harmonie und Melodie, die „mathematisch unter gewisse Regeln gebracht werden kann“, die „ästhetische Idee eines zusammenhängenden Ganzen einer unnennbaren Gedankenfülle“ (KdU B 219) zum Ausdruck. Nur diese mathematische Form, die nicht durch bestimmte Begriffe vorgestellt werden kann, sichert das Wohlgefallen an der bloßen „Reflexion über eine solche Menge einander begleitender oder folgender Empfindungen mit diesem Spiele derselben“ und damit die „für jedermann gültige Bedingung seiner Schönheit“ (KdU B 219). Schön – und nicht bloß angenehm – ist die Musik daher, weil sie nicht allein auf „bloßem Sinneneindruck“ beruht, sondern als „die Wirkung einer Beurteilung der Form im Spiele vieler Empfindungen anzusehen“ (KdU B 213) ist und damit eine Reflexion ermöglicht, die „von Empfindungen zu unbestimmten Ideen“ (KdU B 221) führt. Da die Musik jedoch „bloß mit Empfindungen spielt“ und ihre Wirkung immer nur „transitorisch“ ist, ihre Wirksamkeit Kunst, J.S.] wird nämlich immer auf die Bedingungen der Übereinstimmung mit der Natur eingeschränkt)“ (KdU B 76). 35 Cf. hierzu Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit.
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also an die Zeitdauer ihres Erklingens gebunden ist, kann sie nicht wie die anderen Künste „die Einbildungskraft in ein freies und doch zugleich dem Verstande angemessenes Spiel versetzen“ und damit „zugleich ein Geschäft“ betreiben, indem sie „ein Produkt zu Stande bringen, welches den Verstandesbegriffen zu einem dauerhaften [...] Vehikel“ zur Förderung der „Urbanität der obern Erkenntniskräfte“ (KdU B 220 f.) dient. An der Musik wird also kritisiert, daß sie kein bleibendes Produkt generiert. Daher kommt der Musik „nach der Kultur“ geschätzt nur der unterste Rang der Künste zu (KdU B 220).36 Die Musik wird also von Kant gerade wegen ihres sprachähnlichen Charakters geschätzt, während ihre Inkompatibilität mit der Vernunft bzw. dem Verstand ihr abträglich ist. Sprachähnlich ist die Musik, weil sie analoges Material wie die gesprochene Sprache verwendet, nämlich Töne und Laute, und weil sie diese Töne als eine zusammenhängende Abfolge organisiert. Damit entspricht sie nur der materiellen oder lautlichen Seite der Sprache bzw. dem, was Derrida als Körperlichkeit der Schrift verstanden hat, nicht aber ihrer intelligiblen und erkenntniszuträglichen Seite, also der Sphäre des Sinns und des Verstands.37 Der Vernunft entgegengesetzt ist die Musik also gerade wegen ihres sprachähnlichen Charakters, weil sie im rationalen Sinne keine Sprache des Sinns ist. Die Sprachähnlichkeit rührt aus der zur Sprache analogen Gestalt der Musik als Abfolge zusammenhängender Töne. Kant charakterisiert die Musik auch als körperliches Spiel: „In der Musik geht dieses Spiel von der Empfindung des Körpers zu ästhetischen Ideen (der Objekte für Affekten), von diesen alsdann wieder zurück, aber mit vereinigter Kraft, auf den Körper“ (KdU B 224 f.). Sie ist eine Art allgemeine Sprache (da keine besondere Muttersprache voraussetzend), die gerade aufgrund ihrer Allgemeinheit eine Art körperliches Spiel durch die empfundenen Töne hervorruft. Die Musik ist so die paradigmatische Kunst einer Ästhetik des Spiels. Das zeigt sich schon in unserem Sprachgebrauch, wenn wir davon sprechen, daß jemand ein Instrument spiele. Im folgenden werde ich Kants Kritik der Musik in eine Kritik der rationalen Sprachauffassung durch Musik bzw. die ästhetische Erfahrung der Musik umwenden. Eine rationalistische Sprachauffassung verkennt nämlich gerade die musikalische bzw. semiotisch-materiale Seite der Sprache. Auch Paul de Man reflektiert den Zusammenhang von Musik und Sprache in seiner Kritik der Rousseauinterpretation Derridas. Die Musik ist etwa bei Rous36 Ein „gewisser Mangel der Urbanität“ haftet der Musik auch insofern an, als daß sich ihr „Einfluß“, ähnlich wie ein „sich weit ausbreitende[r] Geruch“, weiter ausdehnt, „als man ihn verlangt“, nämlich „auf die Nachbarschaft“ (in diesem Fall Kant selbst), welche „entweder mit zu singen oder ihr Gedankengeschäft niederzulegen“ genötigt ist und damit der „Freiheit andrer, außer der musikalischen Gesellschaft, Abbruch tut“ (KdU B 221 f.). Der biographische Kontext dieser späteren Zusetzung zur Kritik der Urteilskraft ist hinreichend bekannt. 37 Dieser Doppelcharakter der Sprache – die Körperlichkeit oder Materialität der Schrift einerseits und die die Intelligibilität des Zeichens garantierende Iterabilität oder Idealität andererseits – folgt einer Analyse von Jacques Derrida. Cf. Jacques Derrida: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation (in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1972, S. 351-379), bes. S. 375.
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seau „höher als die Literatur eingestuft“38. Er „kehrt die in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts vorherrschende Hierarchie um und gibt der Musik den Vorrang vor der Malerei“. Die Musik ist der Malerei gerade wegen ihres Mangels an „Substanz“ überlegen: sie ist „ein reines System von Beziehungen, das in keiner Weise von der substantiellen Behauptung einer Anwesenheit, sei es als Sinnesempfindung oder als Bewußtsein, abhängig ist“. Die Musik ist „Spiel von Beziehungen“ und „reine Struktur“, ihre Zeichen haben einen „semiotischen und nichtsinnlichen Status“ (IÄ 212). Das musikalische Zeichen ist nicht identisch wiederholbar, da es keine Substanz bezeichnet, muß sich aber gerade deswegen „ständig in einer zwangsläufig endlosen Bewegung wiederholen“.39 Dem entspricht die Iterabilität des Zeichens selbst. Diese „Bewegung dauert an, ob eine Illusion der Anwesenheit entsteht oder nicht und ohne Rücksicht auf die Art und Weise, wie das Subjekt ihre Intentionalität interpretiert – sie wird bestimmt durch die Natur des Zeichens als Bezeichnendes, durch die Natur der Musik als Sprache“. Das daraus resultierende Wiederholungsmuster ist der Grund für die Zeitlichkeit der Musik. Sie steht in dem Paradox, einerseits dazu verdammt zu sein, „stets nur als Moment zu existieren, als ständig scheiterndes Streben nach Bedeutung“ und andererseits gerade durch dieses Scheitern davor geschützt zu sein, „im Moment aufzugehen“ (IÄ 213). Musik ist daher „die diachrone Version des Musters der Nichtübereinstimmung innerhalb des Moments“. Ihre „sukzessive Struktur“ ist „eine unmittelbare Folge ihres nichtmimetischen Charakters“. Die Musik „ahmt nicht nach, denn ihr Referent ist die Negation ihrer eigentlichen Substanz, des Tons“ (IÄ 214). Rousseau habe die Musik und Sprache gleichgesetzt, indem er ihren musikalischen Charakter ernstnimmt: „Für Rousseau ist erst in dem Augenblick eine Sprache gegeben, wenn das Sprechen einem Prinzip gemäß strukturiert wird, das dem Strukturprinzip der Musik entspricht“. Wie die Musik „ist auch die Sprache ein diachrones System von Beziehungen, die sukzessive Abfolge einer Erzählung“ (IÄ 215). Bei Rousseau erhalten diachrone „Strukturen wie die Musik, die Melodie oder die Allegorie [...] den Vorzug vor pseudosynchronen Strukturen wie der Malerei, der Harmonie oder der Mimesis, da diese zu dem irrtümlichen Glauben an eine Stabilität der Bedeutung verführen, die es in Wahrheit gar nicht gibt“ (IÄ 217). De Man schließt, daß auch die späte Selbstkritik Nietzsches an der Rolle, die Wagner in der Geburt der Tragödie spielt, der Anwesenheit Wagners in dem Text gilt, die „der Musikalität als der Allegorie des von Nietzsche angestrebten rhetorischen Modus im Weg stand“ (IÄ 225), nämlich lieber zu singen als zu reden. Auf den ‚sprachkritischen‘ Aspekt der Musik wie auf die Musikalität bei Nietzsche werde ich weiter unten noch zu sprechen kommen. Die paradigmatische Rolle der Musik als höchste oder tiefste Erfahrung der Kunst und als ästhetische Mustererfahrung wird von Nietzsche bereits in seiner frühen Schrift Geburt der Tragödie von Schopenhauer übernommen und zugleich 38 Paul de Man: Die Rhetorik der Blindheit: Jacques Derridas Rousseauinterpretation (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 185-230), hier S. 199. Im folgenden unter dem Sigel [IÄ] zitiert. 39 Allerdings gilt auch für sprachliche Zeichen, daß sie im strengen Sinne nie identisch wiederholbar sind.
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umgewertet. Hier ist nicht der Ort, das komplizierte Verhältnis von Schopenhauer und Nietzsche zu reflektieren. Allerdings übernimmt Nietzsche den bereits bei Kant vorhandenen doppelten Charakter der Musik – als Sprache und als Spiel – und wertet ihn um: gerade ihr Charakter als nicht-rationale Sprache macht die Musik tauglich für eine Einlösung des vernunftkritischen Anspruchs der Kunst in der Ästhetik der Geburt der Tragödie. Nietzsche übernimmt damit nicht nur die Konzeption der Musik als Sprache, sondern auch den Antagonismus von Musik und Vernunft bzw. Verstand. Musik wirkt nicht auf den Verstand, sondern auf den Leib. Gerade das sichert das vernunftkritische Potential der Musik. Die intelligibel-materielle Doppelstruktur der Sprache erlaubt es, eine dekonstruierte Variante des Verhältnisses von Sprache und Musik zu formulieren. Die Opposition von Intelligibilität (Wiederholbarkeit) des Sinns bzw. des Signifikats und der Materialität der Schrift, des Lautes und des Zeichens (Signifikant) teilt die Sprache in eine bewußte, rationale, sokratische Seite und eine mythische, musikalische und sinnliche Seite. Als beide übergreifendes Moment läßt sich ein von Roland Barthes entlehnter Terminus, der der Signifikanz verstehen. Signifikanz bezeichnet das Spiel der Signifikanten und die Arbeit des Sinns, also die Weise des zur-Bedeutung-Kommens im Prozeß der Bedeutsamkeit selbst.40 Musik wäre dann ein – besser das – Beispiel eines nicht-intelligiblen Signifikationsspiels, in dessen Namen Musik auch als kritische Instanz gegenüber der (sokratischen) Metaphysik neuzeitlicher rationaler Erkenntnisweisen funktioniert. Damit wäre die These verbunden, daß Nietzsche eine Ästhetik, die den sprachlichen Text über die Musik stellt, nicht einfach nur umdrehte (was nur eine Umkehrung innerhalb eines einheitlichen Raumes der Metaphysik wäre), sondern die Relation von Musik und Sprache dekonstruiert, d.h. sowohl ihre metaphysischen Implikationen offenlegt als auch eine ‚diesseitige‘ Variante ihrer Relation anbietet. Innerhalb einer eher hermeneutischen Problemstellung entspräche eine Konzeption der Musik als Signifikanz ihrer Fassung als einer Sprache mit uneinholbarer Bedeutungsfülle. Musik ist auf eine Weise bedeutsam, die nicht hermeneutisch eingeholt werden kann. Das liegt daran, daß die Musik keine Interpretation von etwas in der Sprache Gesagtem ist. Umgekehrt erscheint vielmehr die Sprache als Produkt einer ursprünglichen Musikalität oder Signifikanz. Die Musik produziert eine Bilderflut, die sich in der Sprache als Metapher sedimentiert. Die Musik kann der Sprache zudem eine tiefe Bedeutsamkeit verleihen. Die Sprache ist in sich gespalten: sie kann entweder die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musik nachahmen 40 Roland Barthes: Der Körper der Musik. Zuhören (in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1990, S. 249-263): „Drittens ist das, worauf da und dort gehört wird (hauptsächlich im Feld der Kunst, deren Funktion oft utopisch ist), nicht das Auftreten eines Signifikats, das Objekt eines Wiedererkennens oder einer Entzifferung, sondern die Streuung schlechthin, das Spiegeln der Signifikanten, die ständig um ein Zuhören wetteifern, das ständig neue hervorbringt, ohne den Sinn jemals zum Stillstand zu bringen: Dieses Phänomen nennt man Signifikanz (es unterscheidet sich von der Bedeutung)“ (l.c., S. 262 f./Hervorhebungen von mir, J.S.). „Die Streuung schlechthin“ ist das, was Derrida als „Dissemination“ bezeichnet hat.
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(cf. GdT/KSA I 49). Das Bild verbindet Musik und Sprache: während Musik Bilder produziert, ist Sprache sowohl produzierte Bildlichkeit (sie besteht aus stillgestellter Metaphorik) als auch produktive Metaphorizität. Auch Begriffe sind Resultate dieses ursprünglich musikalischen Prozesses. Hier wäre im Anschluß an Nietzsche eine musikalische und eine rhetorische Sprachkonzeption zu unterscheiden. Die Signifikanz der Musik – das differentielle Spiel ihrer Signifikanten – läßt sich in keinem bestimmten oder bestimmbaren Sinn und in keiner bestimmten oder bestimmbaren Bedeutung stillstellen. Auf die Frage, warum das durch Musik Dargestellte von analytischer Sprache nicht eingeholt werden kann, lautet die Antwort: weil sie das nichtsichtbare semiotische Spiel darstellt, und das heißt: daß sie strenggenommen ‚nichts‘ darstellt, sondern etwas herstellt: mehr oder weniger freies Spiel der Signifikanten. In diesem Spiel kommt es zu einem Freisetzen der materialen Signifikanten gegenüber der Bedeutungsstiftung des Signifikats durch die Weise der formalen Anordnung der Elemente im Kunstwerk.41 Als Resultat dieses Prozesses können zwar Bilder (reale oder Metaphern) stehen, aber die Musik selbst ist keine Abbildung der sichtbaren Welt. Als mathematisch erfaßbare Struktur verläuft sie in der Zeit. Daher ist Musik auch keine Interpretation des in der Sprache Gesagten, sondern eine nicht-rationale Sprache, die zum Leib spricht. Die gewöhnliche Sprache des alltäglichen Gebrauchs verdeckt gerade in ihrer Sinnhaftigkeit ihre Signifikanz. Es ist aber die Signifikanz, die als ihren Effekt einen feststellbaren Sinn produziert. Die zugrundegelegte Signifikanz erlaubt es nicht nur, die Analogie von Sprache und Musik herauszustellen, sondern plausibilisiert auch die These, daß Musik eine nichtmetaphysische Metaerfahrung über Sprache bzw. die Weise sprachlicher Signifikation überhaupt ermöglicht. Allerdings gilt auch für Lyrik, daß sie eine hermeneutisch uneinholbare Bedeutsamkeit generiert. Eine hier einsetzende Analyse der Geburt der Tragödie hat Rudolf Fietz geliefert.42 Fietz entwickelt eine semiotische Lesart der These Nietzsches, daß die „musikalische Tragödie“ zugleich „den Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes danebenstellen und uns das Werden des Wortes, von innen heraus, verdeutlichen“ (GdT/KSA I 138) kann. Fietz geht von einer „radikal antimetaphysischen Semiotik“ des frühen Nietzsche aus, in der sich ein antimetaphysisches Verhältnis von Musik und Sprache trotz aller Übernahmen des Vokabulars von Schopenhauer bzw. Wagner formulieren läßt (cf. AM 144-148). Die Charakteristik der Musik als Tonsprache diente demzufolge seit Mitte des 18. Jahrhunderts dazu, die Instrumentalmusik selbst ästhetisch als eine bedeutungshafte Sprache zu begründen. Der Mangel an 41 Cf. Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991); Ruth Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2000). 42 Rudolf Fietz: Am Anfang ist Musik. Zur Musik- und Sprachsemiotik des frühen Nietzsche (in: Tilman Borsche (Hg.): ‚Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, de Gruyter, Berlin 1994, S. 144-166). Im folgenden unter dem Sigel [AM] zitiert. Ausführlicher zum selben Thema auch: ders.: Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche (Königshausen & Neumann, Würzburg 1992).
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Bedeutungshaftigkeit gegenüber der normalen Sprache, der nichtwortsprachliche Charakter der Musik wird jedoch im neunzehnten Jahrhundert von einem Mangel zu einem „Garanten ihrer [der reinen Instrumentalmusik, J.S.] ästhetischen Souveränität“ (AM 148). Musik ist demnach als eine allgemeine Sprache „reine bewegte Signifikanz, die nicht aufgeht in kodifizierter Bedeutung“. Musik ist Sprache vor der Wortsprache: die Signifikantenbewegung der Musik bleibt vor-wortlich oder vor-signifikativ, „d.h. nicht in konventioneller Bedeutung sich feststellendes Spiel“, die sich im Unterschied zur Wortsprache nicht in festgestellten Bedeutungen oder Begriffen sedimentiert. Allerdings muß hier gegen Fietz eingewendet werden, daß die europäische Musik durchaus konventionell – in ihrer Syntax und der Befolgung diverser Regeln – ist. Nur der fehlende semantische Gehalt von Musik erlaubt es ihr, sich der Konventionalität z.T. zu entziehen. Nietzsches Rede von der Musik als einer allgemeinverständlichen Sprache verweist daher nicht auf einen einheitlichen Code zur Entzifferung musikalischer Strukturen, sondern die musikalische Sprache ist „gerade wegen des Fehlens einer verbindlichen Kodierung offen für je eigene, individuelle Rezeptionsvollzüge“ (AM 150) – zumindest in einem abendländisch-europäischen Raum eines tradierten Kulturvollzuges, müßte man wohl hinzufügen. Daher gibt es – zumindest im Rahmen dieses kulturellen ‚Raumes‘ – „die Möglichkeit eines freien, unmittelbaren und unreglementierten Zugangs für einen jeden“. Es handelt sich also um eine demokratische Kunst. Die Musik ist dabei nicht asemantisch, sondern ein „syntaktisches Gefüge ohne kodifizierte semantische Dimension“, d.h., daß erst „in ihrer vorwortlichen Universalität, in ihrer Gesamtheit als Beziehungsgefüge“ Musik bedeutend und „‚Symbol‘ des Weltwillens“ werden kann. Ähnlich wie die Elemente der reinen Logik „rein syntaktisch, durch das differentielle Spiel der (leeren) Signifikanten unter- und gegeneinander“ (AM 151) definiert sind, ist auch die musikalische Harmonie durch die formalen Verhältnisse von Tönen charakterisiert. Die Musik ist „tönende Form, deren Elemente in ständiger hitziger Bewegung sind und nie in bestimmter oder bestimmbarer Position sich fixieren lassen, eine dynamische, im unendlichen Spiel der Differenz sich je neu konstituierende und destruierende Totalität“ (AM 152). Eine Erläuterung der trivialen Tatsache, daß es natürlich identifizierbare Elemente in der Musik gibt und für ihr ‚Verständnis‘ geben muß, liefert Fietz später im Anschluß an Wittgenstein und Goodman nach. Die Musik kann auch Abbild des „Ur-Einen“ sein, da „dieses selbst nicht als Fülle des Seins, als Präsenz und Substanz gedacht ist“, sondern den Widerspruch in sich trägt, da das Ur-Eine als „Widerspruch, Streit, Unterschied, Differenz, von sich selbst getrennt und gespalten“ von Nietzsche konzipiert ist. Am Anfang ist daher „die Differenz“, und dieses Ur-Eine als „Mangel und Widerspruch liegt ‚vor‘ aller Erscheinungswelt, ist Bedingung der Möglichkeit von Erscheinungen überhaupt, insofern diese erst durch gegenseitige Differenzierung als Erscheinungen sich konstituieren“. Das Ur-Eine bezeichnet daher kein metaphysisches Konzept eines Dings an sich oder eines tragenden Grundes mehr, sondern der „Grund ‚ist‘ der innerhalb der Erscheinungswelt (nicht seiende, sondern) wirkende Abgrund, der das Sein (der Erscheinungen) allererst stiftet. Der Wille ist ‚nicht nur leidend, sondern gebärend‘. Sein ‚Sein‘ ist Wirken“ (AM 152).
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Der Wille als „persistierender Entzug“ bleibt daher das „schlechthin Unbestimmbare“; er ‚ist‘ daher kein Seiendes, sondern „Werden, das Seiendes erst hervorbringt, ein asubstantieller leerer Punkt, der sich fortwährend in jene Lücke entzieht, die Substanzen gegeneinander sich profilieren und dadurch sein läßt“. Diese „Geburt der empirischen Welt aus dem werdend-wirkenden Widerspruch versteht Nietzsche als künstlerischen Urprozeß“: „‚Real‘, weil wirkend, ist die Dissonanz, das Störend-Häßliche, der indifferente Punkt: das, was sich nicht auf eine letzte beruhigende Konsonanz und substantielle Einheit reduzieren und festsetzen läßt, was alle Konsonanz und Einheit durchkreuzt und in diesem Durchkreuzen zugleich ‚erzeugt – aus jenem indifferenten Punkte‘“. Die „unaufhörliche Bewegung der Differenz ist der schöpferische Urprozeß, den der Mensch im künstlerischen Schaffen wiederholt“ (AM 153). Dieser Urprozeß ist eine „musikalische Bewegung“, so daß die „Musik als freies Signifikantenspiel [...] eine Wiederholung dieses Urprozesses [ist] und [...] daher ‚wahre allgemeine Sprache‘ des Urgrundes der Welt sein“ kann. Musik bringt so ‚zur Sprache‘, „was Sprache verheimlicht, sie hebt an, wo die Sprache (sich) versagt. Sprache ist Produkt der ursprünglichen differentiellen (musikalischen) Bewegung“ (AM 154). Es handelt sich also eigentlich um ein semiotisches Geschehen, das Sprache wie Musik eher übergreift, als daß die eine der beiden auf die andere reduzibel wäre. Beide kennzeichnen verschiedene semiotische Bedeutungsfunktionen. Die Sprachanalogie wählt der junge Nietzsche dabei lediglich aus Mangel an zur Verfügung stehendem semiotischen Vokabular, wie es – laut Fietz – erst Saussure, Jakobson, Lacan, Wittgenstein und Goodman bereitstellen.43 Die dionysische Wahrheit des Signifikantenflusses entspricht weder der „adaequatio“ noch der „aletheia“, da sie nicht verallgemeinerbar ist, sondern an den „individuellen musikalischen Vollzug“ (AM 155 f.) gebunden bleibt. Fietz resümiert, daß das „Zeigen der [generativen] Form“ das „Transzendentale des Sagens von Inhalten“ sei, so daß „das Sich-Zeigen der Zeichenhaftigkeit selbst“ das eigentlich Ästhetische ist. Das Zeigen der Signifikanz bzw. der Zeichenhaftigkeit, das Freisetzen des materialen Signifikantenspiels vor signifikativer Bedeutungszuschreibung ist das der ästhetischen Erfahrung der Musik Zugrundeliegende. Musik symbolisiert daher beim jungen Nietzsche das Ur-Eine, indem „sie den künstlerischen Urprozeß (das differentielle Spiel des Werdens) wiederholt. In ihrer dynamischen Form zeigt die Musik ihre eigene, Formen generierende und destruierende Bewegungsenergie und stellt sie zugleich als die des unsagbaren Ur-Einen aus, von dem her sie, die Musik, ‚gesagt wird‘. [...] Die (exemplifizierende) Musik erweist sich als das Transzendentale der (denotierenden) Sprache. Insofern ist sie Anfang.“ (AM 157)
Oder vielleicht besser: Ursprung. Von hier ausgehend läßt sich der Mensch als ästhetisches Subjekt denken und dieses als musikalisches Subjekt. Die These vom Mensch als Musiker impliziert, daß der Mensch im „(produzierenden wie rezipierenden) Vollzug von Musik [...] die Täuschung nicht nötig“ hat, sondern „für eine 43 Zur semiotischen Deutung des Sprachvokabulars im Anschluß an Wittgenstein und Goodman cf. AM 154 ff.
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kurze Zeitspanne [...] in der ‚Wahrheit‘ des Signifikantenflusses“ lebt, indem er „sein Selbstbewußtsein an diesen Fluß“ entäußert. Dies ließe sich auch als Überwältigungserfahrung der Temporalität des Zuhörers verstehen, in der sich dieser einer ihm äußerlichen zeitlichen Organisation durch die ursprünglich rhythmisierende Musik hingibt. Insofern hört der musikalisch berauschte Mensch auch auf, individueller Mensch, d.h. sich „reflexiv seiner personalen Identität“ versicherndes Ich zu sein (AM 162). Damit transformiert sich das alltägliche Individuum zum ästhetischen Subjekt, das seine rationale Selbstkontrolle im musikalischen Spiel der Kräfte aufgibt. Mit einer von hier ausgehenden Rekonstruktion von Nietzsches Konzept der ästhetischen Subjektivität im Kontext der Geburt der Tragödie beschäftigt sich der vierte und letzte Abschnitt dieses Kapitels, in dem die Freilegung einer nichtmetaphysischen ästhetischen Subjektivität mit einer nichtmetaphysischen Ästhetik des Spiels zu verknüpfen versucht wird. Musik erscheint dann als paradigmatische Kunst einer Ästhetik des souveränen Spiels44 von Herstellen und Zerstören. Musik und semiotische Potenz der Sprache sind beide unsichtbar und objektivieren sich im Bild – sei es dem der Plastik, dem der Malerei oder als Metapher. Sprache ist dann nicht mehr transparenter Träger von Bedeutungen, sondern sie stellt die ihre eigene Medialität gegenüber einer idealistischen Identitätstheorie der Bedeutung – z.B. als Lyrik – aus. Die Materialität des Lautes und des schriftlichen Zeichens im differentiellen Spiel der Signifikanz läßt sich als Basis der Bedeutsamkeit der Sprache auffassen, während die Idealität des sprachlichen Sinns durch die von der neuzeitlichen Herrschaft der Ratio sichergestellte ideale Wiederholbarkeit der Zeichen in ihrem Gebrauch garantiert wird.45 Als Fazit läßt sich festhalten, daß die Musik über keine begriffliche Allgemeinheit verfügt, sondern auf die Erscheinung eines Einzelnen (als einzigartiger struktureller Zusammenhang, als spezifische Relation) angewiesen bleibt und insofern ästhetisch ist. Die Allgemeinheit der Musik ist konkret und unbestimmt, sie ist reine Relation von Elementen (also Signifikanten), ohne jedoch die Relationen unsubstituierbar zu machen. Zudem ist Musik zeitlich prozessierende Relationalität und damit analog zu sprachlichen Vollzügen, aber ohne die Doppelstruktur der sprachlichen Zeichen (Signifikant/Signifikat; Laut/Bedeutung etc.) aufzuweisen. 44 Nietzsche gibt zwei verschiedene Ansätze zu einer nichtmetaphysischen Ästhetik: zum einen durch den Begriff des Spiels, zum anderen durch die Rückführung der Ästhetik auf die Physiologie der Leiblichkeit. Cf. z.B. Der Fall Wagner (in: Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe 15 Bände, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-1977 u. 1988, Band VI, S. 9-54). 45 Das Verhältnis von Musik und Sprache wird hier also auf das einer semiotischen Analogie reduziert. Davon unberührt bleibt jedoch die Vielfalt anderer möglicher Beziehungen von Musik und Sprache: Sprache in der Musik; Sprache als Beschreibung der ästhetischen Erfahrung bzw. des ästhetischen Erlebens; Musik und Gesang entweder von der Sprache ausgehend oder von der Musik ausgehend; Musik als Sprache der Emotionen und Empfindungen; Programmmusik (Musik als Darstellung von Begriffen oder Empfindungen); analytische Beschreibungen von Musik auf verschiedenen Ebenen (Funktionsharmonik, Motivabfolgen und -konstellationen, Melodiebeschreibung etc.) und der Komplex Partitur/Notentext – Aufführung/Reproduktion/Interpretation.
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Allgemeinheit und Allgültigkeit der Musik implizieren ein Mehr des Kunstwerks vor jeder einzelnen Interpretation. Dieses Mehr ergibt sich aus der konkreten internen Weise des ästhetischen Zusammenhängens der Elemente, der musikalischen Konstruktion.46 Die Musik organisiert in ihren Strukturen (syntaktische Muster, formale Beziehungen, Perioden, Variationen, Wiederholung etc.) Zeit und rhythmisiert sie ursprünglich.47 Schließlich ist Musik in Bezug auf Sichtbares weder darstellend noch mimetisch, weder abbildend (imitatio) noch repräsentierend, sondern ist mathematische Relation in zeitlicher Prozessualität. Allenfalls Gefühle, Stimmungen oder gar der „Wille“ – also Nichtsichtbares – können durch Musik dargestellt werden. Zudem wirkt Musik direkt auf den Leib und kann so dessen Empfindungen beeinflußen.
III Nietzsche entwickelt in der Geburt der Tragödie eine dialektische Darstellung der Konfiguration von Apollo und Dionysus, die alles andere als klar ist. Einmal werden sie als zwei „Triebe“ wahlweise der Kunst oder der Natur zugeschrieben, die der Künstler nur nachahmt. In dieser vorkünstlerischen Erläuterung wird Apollo mit dem schönen Schein, der Traumwelt (cf. GdT/KSA I 26), einer „höhere[n] Wahrheit“ (GdT/KSA I 27) sowie dem unerschütterlichen Vertrauen in das principium individuationis (cf. GdT/KSA I 28) identifiziert. Der schöne Schein der Traumwelten ist analog zum apollinischen Schein der Kunst, der eigentlich bereits Schein des Scheins ist, denn die empirische Welt ist selbst bereits Erscheinung, Schein. Das Apollinische ist zudem an ein kontemplatives Schauen gebunden. Auf der anderen Seite wird das Urdionysische mit dem Grausen bzw. Irrewerden identifiziert, das einen „plötzlich“ ergreift, wenn „der Satz vom Grunde [...] eine Ausnahme zu erleiden scheint“ (GdT/KSA I 28), d.h. wenn der sokratische Erkenntnisanspruch an einem Phänomen zerbricht. Neben dieses Grausen tritt eine „wonnevolle Verzückung“ beim Zerbrechen des principii individuationis im dionysischen Rausch; ein Moment der rauschhaften Versöhnung von Natur und Mensch; ein Zerbrechen der Alltagswelt und alltäglichen Individualität. Grausen, Verzückung und Versöhnung zusammen führen zu einem dionysischen Tanz, nachdem die Individuen in der Masse aufgegangen sind und „Gehen und Sprechen verlernt“ (GdT/KSA I 30) haben. Der Mensch in der urdionysischen Erfahrung ist selbst Kunstwerk, d.h. Produkt eines Schaffens und nicht autonom Schaffender: in der (ur-)dionysischen Erfahrung des Tanzens ist der „Mensch [...] nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden“ (GdT/KSA I 30).48 Nietzsche beschreibt das Verhältnis von Apollinischem und Dionysischem allerdings auch als einen Riß, der ursprünglich die Musik durchzieht: während in der 46 Die Konstruktion fungiert als ein Gegenbegriff zur Inspiration. 47 Cf. Ruth Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2000), bes. S. 138 ff. 48 In diesem Punkt der Beschreibung ästhetischer Subjektivität ähnelt Nietzsches Entwurf demjenigen von Schlegel. Cf. Kapitel 4/III dieser Arbeit.
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dorischen Architektonik der Musik der Rhythmus dominiert, bringen Melos und Harmonie dionysische Elemente in die Musik. In der Fusion dieser drei Elemente der Musik, d.h. im „dionysischen Dithyrambus“, gilt es jetzt, „das Wesen der Natur symbolisch“, zum Beispiel in der „rhythmisch bewegende[n] Tanzgebärde“ auszudrücken. Zugleich wachsen die „anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie“ (GdT/KSA I 33 f.) plötzlich ungestüm. Symbolisch ist die Darstellung deshalb, weil in ihr eine harmonische Einheit – eine Versöhnung – von apollinischen und dionysischen Elementen stattfindet. Hiervon ausgehend orientiert Nietzsche die diversen Ebenen seiner Argumentation am angeblichen Gegensatz apollinisch/dionysisch.49 Die folgende Rekonstruktion versucht weitgehend, von allen geschichtlichen, geschichtsphilosophischen, philosophie-, musik- und kunsthistorischen sowie ursprungstheoretischen Fragen abzusehen. Auf allen diesen Ebene bemüht Nietzsche die Pseudodialektik von Apollo und Dionysus. Das „schwierige Verhältnis“ (wie Nietzsche selber sagt) von Apollo und Dionysus läßt nur eine Minimaldefinition zu: sie sind koextensiv und aufeinander angewiesen, d.h. es gibt sie nur gemeinsam. Nietzsche selbst gebraucht diese Differenz alles andere als konsequent, eine Analyse der Verschiebungen dieser Dichotomie bleibt hier jedoch ausgespart. Diese Arbeit zielt vielmehr zunächst auf eine Erläuterung des internen Verhältnisses von Apollo und Dionysus ab (III). Im letzten Abschnitt dieses Kapitels (IV) wird es auf dreifache Art erläutert: zum einen in einer strukturellen Lesart, d.h. kunstwerkintern – etwa in der griechischen Tragödie oder in Wagners Opern; zum anderen in einer temporalen Lesart, die den Gegensatz auf doppelte Weise begreift: einerseits rezeptionsästhetisch und andererseits produktionsästhetisch. Das interne Verhältnis von Apollinischem und Dionysischem ist doppelt asymmetrisch: auf der einen Seite entsteht das Apollinische erst als eine (abwehrende) Reaktion auf das Dionysische („Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben!“ (GdT/ KSA I 40)); auf der anderen Seite kann das Dionysische nur als Apollinisches erscheinen, und zwar zum einen faktisch und zum anderen, weil es als rein Dionysisches unerträglich wäre („Die apollinischen Erscheinungen, in denen sich Dionysus objectivirt“ (GdT/ KSA I 64)). Historisch-gesellschaftlich erklärt dies die Genese der dorischen Kunst. Diese entstand als apollinische Abwehr eines ursprünglichen Einfalls des Dionysischen überall dort, „wo der erste Ansturm ausgehalten wurde“. Daher gleicht die dorische Kunst einem „fortgesetzte[n] Kriegslager des Apollinischen“, während „überall dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet“ wurde (GdT/KSA I 41). Dieses Szenario wirft allerdings eine Reihe von Fragen auf. Ursprünglicher Einfall dionysischer Gewalt 49 Nietzsche wendet die Differenz Apollo/Dionysus auf verschiedenen Ebenen an: in einer gesellschaftlichen Dialektik, als geschichtsphilosophisches Prinzip, als reale geschichtliche Abfolge kultureller Stufen. Er faßt sie als Kunsttriebe auf, verbindet sie mit einer Ursprungsthese über Kunst sowie mit einer Prophezeiung einer Wiedergeburt der Tragödie bei Wagner. Auch wird sie auf verschiedener Künste aufgeteilt (Musik = dionysisch, Malerei = apollinisch) oder musikintern angewendet (auf verschiedene Musikarten und -instrumente, auf verschiedene Elemente der Musik). Schließlich wird sie auch rezeptionsästhetisch aufgefaßt.
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in was? In eine ursprünglich harmonische apollinische Kultur? Einbruch der Barbaren und des Barbarisch-Dionysischen in die griechische Kultur? Einbruch des Melos und der Harmonie in die dorische Musik der Rhythmik? Einbruch des orgiastischen Rausches und des Festes in die apollinisch-dorische Traumwelt? Nietzsche erzählt die Dialektik von Dionysus und Apollo einerseits als pseudohistorische Geschichte und andererseits als metaphysische Erzählung. Die Möglichkeit der Differenz dieser beiden ineinander verwickelten Erzählungen liegt in der Territorialität oder Exterritorialität des Dionysischen. Einmal mehr beruht sie auf der metaphysischen Differenz von Außen und Innen. In der historischen Erzählung bricht das Dionysische von außen in eine ursprünglich apollinische Welt ein. Gegen das von außen kommende Dionysische der Barbaren und ihrer Feste errichtet die dorische Kunst ihre apollinische Abwehr, hinter der sie „eine Zeit lang völlig gesichert und geschützt“ war. Geschützt war bis zu dem historischen Punkt, an dem „endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus sich ähnliche Triebe Bahn brachen“, auch wenn das barbarisch Dionysische und das griechisch Dionysische von vornherein durch eine „ungeheure Kluft“ geschieden sind, die im Grunde nicht zu überbrücken ist. Trotzdem kommt es zu einer „Versöhnung zweier Gegner“ – Apollo und Dionysus – (GdT/KSA I 32), die gemeinsam ein Kind zeugen: die attische Tragödie und den dramatischen Dithyrambus (cf. GdT/KSA I 42). Diese Versöhnung beschreibt Nietzsche auch als „Ereignis“ (cf. GdT/KSA I 32). Andererseits ist das Verhältnis der beiden „Kunsttriebe der Natur“ (GdT/KSA I 31) das von wechselseitigen Geburten, die die hellenische Kunstgeschichte hervorbringen. In dieser Lesart kommt das Dionysische nicht aus einem barbarischen Außen der griechischen Kultur, sondern ist ihr als ihr latenter Urgrund eingeschrieben. Das Verhältnis von Apollinischem und Dionysischem läßt sich dann nur gleichursprünglich und ohne zeitliche Priorität denken. Auf der einen Seite ruht das Apollinische auf dem Dionysischen; Apollo kann nicht „ohne Dionysus leben“. Auf der anderen Seite droht das Dionysische stets damit, erneut in die apollinische Traumwelt einzubrechen. So steht am Anfang der griechischen Kultur nicht ein paradiesischer Zustand, sondern eine naive Kunst, die aus Abwehr gegen Dionysus ganz und gar apollinisch ist. Apollinische Reaktion bringt sowohl die Kunst hervor wie die olympische Götterwelt. Am Ursprung der Kultur – wenn es sich hier noch um einen einfachen Ursprung handelte – steht die silenische tragische Einsicht in die Nichtigkeit, den Schrecken und die Entsetzlichkeit des Daseins, nach der es besser sei, nicht zu sein, als ein menschliches Individuum zu sein (cf. GdT/KSA I 35 f.). Die Kultur ist nichts anderes als die fortgesetzte Reaktion und die wiederkehrende Sublimierung des Schreckens und Leidens an dieser unerträglichen dionysische Wahrheit. Die kulturelle Kunstpraxis ist die stete Produktion eines erlösenden Scheins als Reaktion auf ein Leiden oder einen Schrecken. Nietzsches These ist nicht, daß es auch Kunst gibt, die auf Schrecken und Leiden reagiert, sondern daß dies jedes gelungene Kunstwerk notwendig tun muß, weil dieses Leiden für den Menschen existentiell ist, denn es ist die Bedingung seines Daseins selbst.50 In 50 Diese Nötigung zum erlösenden Schein durch die im Kunstwerk zugleich vergessende Qual hat Adorno als Verrat des ästhetischen Scheins am realen Leiden der Welt historisiert und der Kulturindustrie als Schuld angelastet.
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dieser Einsicht wurzelt die apollinische Scheinwelt, die so quasi im Dienste des Lebens kraftvolle Illusionen schafft, eine Welt, in deren „triumphirende[m] Dasein[] [...] alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist“ (GdT/KSA I 35). Das Apollinische ist daher eine Art Schleier vor der dionysischen Einsicht in die Abgründigkeit des Daseins und kehrt so die silenische Weisheit – daß es besser sei, nicht zu sein, als zu sein – um. Insofern ist der apollinische Kunsttrieb der Vater der olympischen Welt, die den Schrecken des Daseins überwindet, verhüllt und dem Anblick entzieht. Der Schrecken gebiert den apollinischen Schönheitstrieb so „wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen“ (GdT/KSA I 36). Die apollinisch-dionysische Kunst kann so einen metaphysischen Trost spenden, indem sie nämlich zeigt, „dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei“ (GdT/KSA I 56). Als Darstellung einer Wahrheit über das Leben begegnet die Kunst einem drohenden Nihilismus, einer buddhistischen Willensverneinung (z.B. à la Schopenhauer) und einem Ekel vor der alltäglichen Wirklichkeit, den sie allerdings selbst erst erzeugt, da anscheinend nur die Kunst den Blick in die dionysische Wahrheit über die alltägliche Wirklichkeit organisieren kann. Die Kunst vermag aber auch den „Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt“, nämlich dem Erhabenen und dem Komischen (GdT/KSA I 57). Da der wahre Quell des Leidens gerade Leiden an der Individuation und der Zerstückelung des Dionysus ist („Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen entstanden“ (GdT/KSA I 72))51, erhält die Kunst „die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit“ als einer dritten Wiedergeburt des Dionysus (GdT/KSA I 73). Diese Lesart ist metaphysisch, weil die Kunst eine höhere Wahrheit artikuliert und weil hier ein teleologisches Modell der Geschichte vorausgesetzt ist. In den apollinischen „Wahnvorspiegelungen und lustvollen Illusionen“, die die Natur hervorbringt, um das Leiden am Dasein zu erlösen, zeigt sich ein Selbstverhältnis des Willens52, wie Nietzsche in Anspielung auf Schopenhauer sagt: „In den Griechen wollte der ‚Wille‘ sich selbst, in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen“ (GdT/KSA I 37). In diesem anschauenden Selbstverhältnis des Willens gründet die Schönheit der Kunst wie der olympischen Welt. Dieses anschauende Selbstverhältnis gründet in der „metaphysischen Annahme“, „dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht“ (GdT/KSA I 38). Dieser Schein wird „als ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als empirische Realität“ empfunden. Realität, Welt und empirisches Dasein gründen in der „in jedem Moment erzeugte[n] Vorstel51 Nietzsche faßt die Differenz von Apollinisch und Dionysisch auch als Differenz zweier Kunstwelten, nämlich der Plastik und der Musik. 52 Es ist natürlich die Frage, wie sich diese Bestimmung zu derjenigen Schlegels verhält, nach der das ästhetische Subjekt ein Selbstverhältnis der herstellenden Kraft ist. Wie verhalten sich also Nietzsches „Wille“ und Schlegels „Kraft“ zueinander? Auf diese Frage habe ich keine gute Antwort.
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lung des Ur-Einen“. Gegenüber diesem empirischen Schein verhält sich der Traum als Schein des Scheins. Das „Depotenziren des Scheins zum Schein“ eröffnet die apollinische Kultur und die naive Kunst. Der Schein ist zum einen dionysischer „Widerschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge“, zum anderen aus diesem Schein gewonnene Vision einer „neue[n] Scheinwelt“ des Apollinischen. Dionysus und Apollo ernötigen sich wechselseitig, sie haben eine „gegenseitige Nothwendigkeit“ (GdT/KSA I 39). Die Welt hat die Qual nötig, „damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde“ (GdT/KSA I 39). Reformulieren läßt sich die Differenz von Apollinischem und Dionysischem als darstellungsinterne Differenz von (sinnlich-schöner) Erscheinung und dem durch die formale Anordnung des Materials in dieser Erscheinung Erscheinenden. Die dionysische Destruktion apollinischer Zeichenhaftigkeit zeigt an sich den Täuschungs- und Erscheinungscharakter der Kunst selbst. Während das Apollinische eine lustvolle Täuschung über die dionysisch-tragische Einsicht der Nichtigkeit der Individualität und des wissenschaftlich-rationalen Zugangs zum Sein ist, entstammt das Dionysische aus der Ent-täuschung über das Apollinische, in der dieses als (Kultur-)Lüge, Illusion oder anthropomorphe Fiktion destruiert wird. Das Dionysische entsteht als Destruktion alltäglicher Sinnzusammenhänge, als Scheitern rationalistischer Wissenschaft und als Erfahrung der Auflösung der Individualität. Die ästhetische Lust am Dionysischen ist „Lust an der Destruktion“ (TuF 240). Das Dionysische ist sinnverwirrend und -suspendierend, während das Apollinische sinnstiftend und ordnend ist. Ihrem Verhältnis entspricht daher auch die Dialektik von Selbstreflexion und Selbstbeschreibung, die hier schon im Kunstwerk selbst angelegt scheint. In der apollinisch-dionysischen Kunst (ver)sucht Nietzsche, Erhabenes und Schönes in der Kunstrezeption selbst zu integrieren.53 Die ästhetische Erfahrung impliziert sowohl Lust am schönen Schein wie erhabene Lust an dessen Zerstörung. Das Apollinische läßt sich auch als dreistellige Relation erläutern: schön ist eine Entsprechung von Betrachter, Bild und Welt (cf. TuF 242)54, während das Dionysische nicht höhere metaphysische Wahrheit über das Wesen des Seins ist, sondern Wahrheit über die Fiktionalität des schönen Scheins und der durch Schönheit gegründeten Übereinstimmung von Subjekt und Welt (cf. TuF 244). Dies wäre eine nichtmetaphysische Lesart der dionysischen Wahrheitserfahrung, da diese keine Metawahrheit über das Wesen des Seins, sondern Wahrheit über den (negativen) Weltbezug des Subjekts ist.55 Das Schöne fungiert dann als ideo53 Cf. Norbert Bolz: Die Verwindung des Erhabenen – Nietzsche (in: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene, VCH/Acta Humaniora, Weinheim 1989, S. 163-169). 54 Cf. Friedrich Nietzsche: KSA VI 123: „Im Grunde spiegelt sich der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft“. Allerdings kann auch die Darstellung von nicht Schönem – also Häßlichem, Schmerz, Leiden etc. – dieser Relation entsprechen. Die Kunst ist nicht auf die Darstellung des Schönen eingeschränkt. 55 Allerdings faßt Nietzsche den dionysischen Wahrheitsbegriff sehr weit. Unter anderem ist er Erkenntnis über die Fiktionalität der (apollinischen) Individualität; Erkenntnis des wahren Menschen (cf. GdT/KSA I 58); Erkenntnis über den illusorischen Charakter der Kultur als die sich als die Realität gebende Kulturlüge (cf. GdT/KSA I 58) oder über empirische Alltagsrealität; Kritik an der wissenschaftlichen Erkenntnis
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logische Verkennung einer eigentlichen Nicht-Entsprechung von Subjekt und Welt, die (nämlich die Verkennung) im Dionysischen dekonstruiert wird. Diese Ideologie des Schönen – die Illusion einer Harmonie von Subjekt und Welt – scheint unserem Alltag bzw. der rationalistischen Kultur notwendig zu inhärieren, so daß wir die apollinisch-dionysische Kunst brauchen, um uns der Fiktionalität der geglaubten metaphysischen Fundamente unserer rationalistischen Kultur und unserer Welt je wieder bewußt zu werden. Hier erscheint es also so, als wäre unser Alltag notwendigerweise rationalistisch geprägt (cf. S. 182 dieser Arbeit). Versteht man die Differenz Dionysus/Apollo als die zweier Reflexionsformen, so kann man von einer dionysischen „depotenzierenden Reflexion“ und einer „begründenden Reflexion“ (TuF 236) sprechen. Dem entspricht meine Unterscheidung von verunsichernder Selbstreflexion und fundierender Selbstbeschreibung. Auf einer künstlerischen Ebene bezeichnet Apollo die Form, Distanz, Begrenzung und alltägliche Bestätigung, also Sinnverdichtung. Das Dionysische dagegen bezeichnet ein Ausbrechen aus der festgefügten Welt des Sinns und ein Sich-verlieren im Nichtsinn, ist also Sinnsubversion. Die dionysische Metawahrheit ist Wahrheit über den illusionären Charakter der apollinischen Darstellung, bleibt aber in der Bedingung ihrer Möglichkeit vollständig an die apollinische Darstellung gebunden (wie die Ironie bei Schlegel). Dem dionysischen Moment in der apollinischen Darstellung, d.h. ihrer Selbstdestruktion, entspricht strukturell dem, was de Man mit Schlegel als die äußere Ironie bezeichnet hat: ein darstellungsinternes und darstellungsabhängiges Selbstunterlaufen der Fiktionalität des schönen Scheins apollinischer Darstellung bzw. von Texten, z.B. durch die formale Anordnung des Materials. Die Dialektik von Apollinischem und Dionysischem als Feststellen im Schein und dessen Destruktion ähnelt strukturell der Relation von schaffender Poesie und selbstdestruktiver Ironie bei Schlegel. Feststellen in einem Werk und dessen Destruktion, Schaffen und Zerstören sind alle Teil eines künstlerischen Urprozesses. Auf der depotenzierenden Reflexion dionysischer Kunst soll sich laut Nietzsche eine zu schaffende „Kultur der Freiheit“ gründen. Nietzsches Theorie der Kunst zielt so auf eine normative und kritische Theorie der Kultur (cf. TuF 238). Hier zeigt sich eine basale Ungleichzeitigkeit von Apollinischem und Dionysischem: während das Apollinische in der Präsenz einer (schönen) Darstellung – eines Bildes – besteht, zu der sich der Rezipient kontemplativ-anschauend verhält, ist das Dionysische immer nur vor oder nach dem Apollinischem. Es ist zugleich aber nur in dieser apollinischen Perspektive überhaupt zugänglich: als rückprojizierter Urzustand oder als zukünftige Wirkung – also in der Rezeption – der (das dem rationalistischen Erkenntnissubjekt (Sokrates) Nichtverständliche ist nicht zugleich das Unverständige (cf. GdT/KSA I 96)); Erkenntnis über die Grausamkeit (cf. GdT/KSA I 56) bzw. geschlechtliche Allgewalt (cf. GdT/KSA I 58) der Natur; Erkenntnis über das unzerstörbare Leben und Bewußtsein einer ursprünglichen oder zugrundeliegenden Einheit, die verloren ist und die die Kunst wiederherstellen kann oder soll (cf. GdT/ KSA I 58); Erkenntnis über die Grausamkeit der Weltgeschichte (cf. GdT/KSA I 56); Erkenntnis über die Gottesnähe des Menschen bzw. seine Erhabenheit (Anteil des Künstlers bzw. echten Zuhörers an einer ursprünglichen Zeugungslust) und Erkenntnis über Ding an sich vs. Erscheinung (cf. GdT/KSA I 59).
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Wagneropern. Der rückprojizierte dionysische Urzustand wird bei freundlicher Lesart – wenn man Nietzsche mit charity liest, wie Fietz dies tut – als ursprüngliche Differenz oder ewiger Widerspruch begreifbar. Bei weniger freundlicher Lesart ist der Urzustand jedoch auch als harmonische Einheit eines „Ur-Einen“, eines selbstpräsenten Ursprungs oder als Verschmelzungserfahrung von Künstler und dem „wahrhaft einen“ Subjekt interpretierbar. Nietzsche selbst legt sich in der Doppelung seiner Formulierungen nicht fest, oder besser: die Unklarheit ist der Übernahme Schopenhauerischer Metaphysik und Terminologie geschuldet, etwa der Dichotomie von Willen und seiner Objektivation in der Vorstellung. Dann stünde einer metaphysischen Lesart – Metaphysik des Ursprungs als Einheit – eine dekonstruktive Lesart – am Anfang steht eine ursprüngliche Differenz, die nicht einfach anfänglich sein kann – entgegen. Die Entscheidung der Frage, welche Lesart die richtige ist, soll hier dahingestellt bleiben. Faßt man die Darstellung als apollinisch auf, das in ihr Erscheinende als dionysisch, so stellt sich die Frage, was indirekt in dem selbstinszenierten Scheitern der apollinischen Erscheinung zur Darstellung gelangt. Es ist weder das tropologische System der Sprache (wie bei de Man) noch eine ursprünglich-herstellende Kraft (wie die Poesie bei Schlegel), sondern eine Mischung aus Wahrheitserfahrung (Wahrheit über den fiktiven Charakter der apollinischen schönen Bilderwelt), schmerz- und lustvoll erfahrener Destruktion der Individualität des Künstlers und der alltäglichen Sinnzusammenhänge, orgiastischem Rausch und sich objektivierendem Willen (im Anschluß an Schopenhauer). Im Anschluß an Fietz ließe sich auch die Signifikanz, das Zeigen der Zeichenhaftigkeit, als in der apollinischen Darstellung erscheinende dionysische ‚Wahrheit‘ auffassen, die zugleich ein Zeigen der im Kunstwerk operierenden Kraft ist. Die Signifikanz wäre dann das Á%#J?J# der musikalischen Darstellung und erschiene mittels Selbstdestruktion des Apollinischen. In jedem Fall ist die durch die Kunst vermittelte Wahrheit eine durch das Apollinische im Kunstwerk hergestellte Wahrheit, sie ist innerhalb des Kunstwerks nur eine rhetorische Metapher, die der Künstler produziert. Es ist augenscheinlich, daß bei Nietzsche Wahrheit und Schönheit – gegen die Tradition des Deutschen Idealismus – auseinandertreten. Die Gleichung von Wahrheit und Schönheit wird in sich fraglich: die dionysische Wahr- oder Weisheit ist nicht schön, sondern schrecklich und unerträglich, da sie die Wahrheit über die Nicht-Entsprechung von menschlicher Welt und Sein des Seienden zu Tage fördert. Die apollinische Bilderwelt täuscht über diese unerträgliche „dionysische“ Wahrheit mit Hilfe des schönen Scheins hinweg, womit eine Konzeption des schönen Scheins als Gegenteil der Wahrheit, also Schönheit als (notwendige) Lüge, formuliert wird. Damit sind bereits die moralischen Werte von Wahrheit und Lüge umgedreht: da die Wahrheit (1) (als reale Nicht-Korrespondenz von Subjekt und Welt) unerträglich ist, kann nur die über diese hinweglügende Schönheit die menschliche Welt stabilisieren, indem sie die Konventionen erfindet, die wiederum Wahrheit (2) (qua Konvention) verbürgen. Hier zeigt sich zugleich die Differenz der ästhetischen Wahrheitserfahrung bei Nietzsche zu derjenigen Baumgartens. Während Baumgarten verworrene Erkenntnisse und dunkle Empfindungen in eine Ästhetik als verlängerter Erkenntnistheorie integriert, ist bei Nietzsche die
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ästhetische Wahrheitserfahrung eine vom Kunstwerk produzierte Metaerfahrung über die Fiktionalität anthropomorpher und rationalistischer Metaphysik. Es sei noch festgehalten, daß Nietzsche insgesamt drei Kunstarten unterscheidet (auch wenn er diese Unterscheidung nicht konsequent durchhält): es gibt erstens rein apollinische – d.h. bildhafte – Kunst (Plastik, Epik, Malerei), deren Medium das in der Zeit festgestellte Bild ist und deren Rezeption in einer Kontemplation besteht. Zweitens eine – heftig kritisierte – sokratische Kunst, die individualistisch, rationalistisch und die Realität abbildend ist.56 Sokratische Kunst beschränkt das – und sich auf das – Apollinische, weil es das Dionysische vergißt oder verdrängt.57 Drittens schließlich die apollinisch-dionysische Kunst (Lyrik, Musik), die etwas an sich Nichtsichtbares zum Ausdruck bringt. Apollinisch-dionysische Kunst sind der Dithyrambus, eine bestimmte Lyrik, Gedichte, die Opern Wagners und die ältere attische Tragödie. Eine rein dionysische Kunst ist unmöglich, da rein dionysisch nur die Verausgabung einer rauschhaften Orgie sein kann, der Künstler aber nur in der Distanz zum Rausch bzw. dionysischen Zustand produktiv sein kann. Die Grenzziehungen zwischen diesen drei Kunstarten sind wahrscheinlich nicht streng durchzuhalten, da Nietzsche sie im Durchgang seines Textes selber verschleift. Man kann daher auch wie Paul de Man davon sprechen, daß „immer dann, wenn eine Kunstform beschrieben wird, die drei durch Dionysos, Apollon und Sokrates vertretenen Seinsweisen gleichzeitig vorhanden sind, und daß es unmöglich ist, eine zu erwähnen, ohne auch die anderen miteinzubeziehen“ (AL 124).58 56 Als Hauptvertreter und Begründer dieses „ästhetischen Sokratismus“ erscheint Euripides. Dieser habe den Alltagsmenschen und Zuschauer auf die Bühne gebracht (cf. GdT/KSA I 76) und auf der Bühne einfach die Realität abgebildet. Zugleich habe er den Zuschauer in eine beurteilende Instanz verwandelt (cf. GdT/KSA I 78). Das dramatisierte Epos von Euripides bleibt rein apollinisch und erhält als episch-apollinische Kunst jederzeit die anschauende Distanz bei, die in der dionysisch-apollinischen Kunst verschwindet (cf. GdT/KSA I 83). Statt apollinischer Anschauungen und dionysischer Entzückungen biete Euripides lediglich „paradoxe Gedanken“ und „feurige Affekte“ (GdT/KSA I 84). Alles muß „verständig sein, um schön zu sein“. Nietzsche kritisiert die Elemente der Euripidischen Dramen: den Prolog als „rationalistische Methode“, das Erzeugen von Pathos und den deus ex machina (GdT/KSA I 85 f.). Nietzsches Kritik der rationalistischen Ästhetik, wie sie Euripides angeblich begründet, ist also bloß eine Wiederholung der die Ästhetik gründenden Kritik am Rationalismus, d.h. Nietzsche wiederholt die Kritik Baumgartens an Descartes innerhalb der Ästhetik selbst (Re-entry der metaphysischen Deutung der Differenz Ratio/ Sinnlichkeit auf der Seite der Ästhetik), wobei des Subjektive (=Ästhetische) in der Kunst jetzt zunächst der „Instinkt“ ist (cf. KSA I, S. 540 ff.). Beim späteren Nietzsche ist es dann der Leib bzw. dessen Triebe. 57 Es ist aber die Frage, inwieweit sich die von Nietzsche behauptete Differenz von apollinischer und sokratischer Kunst angesichts dieser Bestimmung noch halten läßt. 58 Eine ironische Pointe der Geburt der Tragödie liegt darin, daß der Text sich exakt der narrativen und dramaturgischen Muster bedient, die er selbst in der „sokratischen“ Kunst denunziert, wie dies de Man gezeigt hat. Es ist eine sokratische Ironie, die es ermöglicht, das gesamte Wertesystem umzudrehen. Der denunzierte Sokrates wäre der
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IV Im folgenden werde ich das Verhältnis von Apollinischem und Dionysischem auf dreifache Weise erläutern: erstens als temporale Bestimmung in der Perspektive einer Produktionsästhetik, zweitens als strukturelle Bestimmung innerhalb von Kunstwerken und drittens wiederum temporal als rezeptionsästhetische Wirkung von apollinisch-dionysischer Kunst. Daran schließt viertens eine Erläuterung ästhetischer Subjektivität im Rahmen einer Ästhetik des Spiels an. Das ästhetische Subjekt tritt in der Geburt der Tragödie an zwei Positionen in Erscheinung: zum einen als Kunstrezipient in dem Antagonismus von „ächtem“ Zuhörer und sokratischem Kunstkritiker59, zum anderen als künstlerisch tätiges Subjekt. Das ästhetische Subjekt ist bei Nietzsche nicht das der Poesie wie bei Schlegel, sondern das der Musik und der Lyrik, und zwar eher in der Rezeption als der Produktion. In der Tat scheint Nietzsche Rezipienten und Komponisten bzw. komponierende Tätigkeit in eins zu setzen60 – eine problematische Konfiguration, wie schon Heidegger bemerkte. Diese Arbeit geht davon aus, daß apollinische und dionysische Elemente nicht nur in jedem gelungenem Kunstwerk, Statthalter einer metafigurativen Ironie Nietzsches, der Tatsache, daß man Wissenschaft – z.B. Philologie – braucht, um Wissenschaft kritisieren zu können. Indem man voraussetzt, was man denunziert. – Die Bemerkung de Mans läßt sich in der Tat auch für die Kultur plausibilisieren: „je nach der Proportion der Mischungen haben wir eine vorzugsweise sokratische oder künstlerische oder tragische Cultur: oder wenn man historische Exemplificationen erlauben will: es giebt entweder eine alexandrinische oder eine hellenische oder eine buddhaistische Cultur“ (GdT/KSA I 116). 59 Nietzsche kritisiert den (rationalistischen) urteilenden Zuschauer der Tragödie. Der echte Zuschauer ist weder der „ewig Hungernde“ noch der lust- und kraftlose Kritiker (cf. GdT/KSA I 120). Nach Nietzsche hat sich der Zuschauer aller Kritik und allen Urteilens zu entheben: er muß alle theoretischen, praktischen und ästhetischen Urteile suspendieren, um in der Verschmelzung mit dem schaffenden Ursubjekt die dionysische Wahrheit und ihren metaphysischen Trost zu spüren. Also kein Urteil, weder des Geschmacks noch über die Schönheit, denn die Kategorie des Schönen macht nur in der apollinischen Kunst – Epik, Malerei und Plastik – Sinn, nicht aber in der apollinisch-dionysischen Musik. Damit ist zugleich die anthropologische Bestimmung des Menschen als nach Erkenntnis Hungerndem fragwürdig geworden, dem in der Kunstrezeption die Position des rationalistischen Kritikers entspricht (cf. GdT/KSA I 120 u. 146). Cf. zum Kritiker als Signum der Moderne auch die Zweite Unzeitgemäße Betrachtung (in: Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe 15 Bände, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-1977 u. 1988, Band I, S. 243-334). 60 Cf. z.B. Der Fall Wagner (in: Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe 15 Bände, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-1977 u. 1988, Band VI, S. 9-53): „[...] diese Musik [gemeint ist Bizets Carmen, J.S.] nimmt den Zuhörer als intelligent, selbst als Musiker [...]. Ich vergrabe meine Ohren noch unter diese Musik, ich höre deren Ursache. Es scheint mir, dass ich ihre Entstehung erlebe [...]“ (l.c., S. 14/Hervorhebungen von mir, J.S.).
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sondern auch im Prozeß der Kunstproduktion wie der -rezeption zu finden sind. 1. Produktionsästhetische Erläuterung. Zu den apollinisch-dionysischen Kunsttrieben der Natur verhält sich der Künstler nachahmend. Er kann sowohl „apollinischer Traumkünstler“ wie „dionysischer Rauschkünstler“ sein oder aber beides zugleich. Letzteres in dem Moment, in dem er entweder griechische Tragödien oder Wagneropern verfaßt oder Lyriker ist: „Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nöthigte. Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegenüber ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss: daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik [...].“ (GdT/KSA I 51)
Das ist die Geburtsstunde des „dithyrambische[n] Dionysusdiener[s]“ als des ersten Künstlers, der zu jener „Höhe der Selbstentäusserung“ gelangen muß, die „in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will“. Eine Aussprache, die allerdings nur „von Seinesgleichen verstanden“ wird (GdT/KSA I 34). In diesem dionysischen Zustand ist der Mensch „nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches“ (GdT/KSA I 30).61 Als Künstler wiederum sinkt er „einsam und abseits“ von der dionysischen Trunkenheit nieder und träumt jetzt einen apollinischen Traum. Der Künstler muß also gerade der urdionysischen Orgie und damit dem unreflektierten Rausch den Rükken kehren, also eine Distanz vor dem unmittelbaren Erleben des Dionysischen einnehmen. Die ästhetische Urerfahrung ist also nicht identisch mit einer dionysischen Rauscherfahrung, sondern muß anders beschrieben werden. Der vorgängige dionysische Zustand im künstlerischen Produktionsprozeß ist der einer Bejahung der Depotenzierung des schönen Scheins als dionysische Destruktionserfahrung durch das Subjekt. Nietzsche beschreibt das ästhetische Subjekt als Künstler der Musik und der Lyrik – das durch eine Kluft vom Epiker und Plastiker getrennt ist – als Ineinanderspielen dreier Zustände und als dreistufige Erfahrung. Auf ei61 Heidegger schreibt: Der „Rausch als Gefühlszustand sprengt gerade die Subjektivität des Subjektes. Im Gefühl-haben für die Schönheit ist das Subjekt über sich hinaus gekommen, also nicht mehr subjektiv und Subjekt. Umgekehrt: die Schönheit ist kein vorhandener Gegenstand eines bloßen Vorstellens; als das Bestimmende durchstimmt sie den Zustand des Menschen. Die Schönheit durchbricht den Kreis des weggestellten, für sich stehenden ‚Objektes‘ und bringt dieses in die wesenhafte und ursprüngliche Zugehörigkeit zum ‚Subjekt‘. Der ästhetische Zustand ist weder etwas Subjektives noch etwas Objektives. Die beiden ästhetischen Grundworte Rausch und Schönheit benennen in derselben Weite den ganzen ästhetischen Zustand und das, was in ihm sich eröffnet und ihn durchherrscht“ (N I 124).
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nen Moment dionysischer Depotenzierung folgt als Reaktion erst ein musikalischer Zwischenzustand und dann eine apollinische Bilderflut. Depotenziert wird die Individualität des ästhetischen Subjekts, „weil wir den subjectiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven, Erlösung vom ‚Ich‘ fordern, ja ohne Objectivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben können“ (GdT/KSA I 42 f.). Im Anschluß an Schiller beschreibt Nietzsche die erste Stufe des produktionsästhetischen Geschehens – in diesem Fall der Dichtung – als eine „musikalische Stimmung“, in der der Lyriker „zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden“ ist. In einem sekundären Prozeß „producirt [der Lyriker] das Abbild dieses Ur-Einen als Musik“. Der „bild- und begriffslose Widerschein des Urschmerzes in der Musik“ wird wiederum als gleichnissartiges Traumbild sichtbar und erzeugt eine „zweite Spiegelung“. In diesem dionysischen Prozeß hat der Künstler seine Subjektivität aufgegeben und versinnlicht den „Urwiderspruch und Urschmerz“, den Abgrund des Seins, in einer apollinischen Traumszene aus dionysisch-musikalischer Verzauberung, in der gleichsam „Bilderfunken“ als lyrische Gedichte entstehen (cf. GdT/KSA I 44).62 Wesentlich ist hier die Sekundarität des Bildes gegenüber der nichtsichtbaren Musik, die unmittelbar nach dieser Passage zu einer Abqualifizierung des Plastikers und des Epikers dient, die „in das reine Anschauen der Bilder versunken“ sind.63 Am Anfang ist nicht das Bild – d.h. in der Sprache nicht die Metapher –, sondern eine Erfahrung der Entgrenzung und individuellen Aufgabe als Bedingung künstlerischen Schaffens. Die daraus resultierende Kunst ist im strikten Sinne weder nachahmend noch abbildend, weder imitatio noch ?)+ im Bezug auf die sicht-
62 Auch der Lyriker kann dionysischer Künstler sein. Statt zuerst eine Abfolge von Bildern zu sehen, schafft der Lyriker qua seiner Identität mit dem Musiker als dionysischer Künstler: „Er ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik [...]; jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleichnissartigem Traumbilde, unter der apollinischen Traumeinwirkung sichtbar. Jener bild- und begriffslose Widerschein des Urschmerzes in der Musik mit seiner Erlösung im Scheine, erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichnis oder Exempel. Seine Subjektivität hat der Künstler bereits in dem dionysischen Prozess aufgegeben [...]“ (GdT/KSA I 44). 63 Dazu im Widerspruch steht allerdings eine Passage, in der Nietzsche das „aesthetische Urphänomen“ des „ächten Dichters“ beschreibt, in dem die Metapher nicht rhetorische Figur ist, „sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffs, vorschwebt“ und das er anschaut. Also eine ursprüngliche Metaphorizität am Ursprung des Dichtens, die absolut im Widerspruch steht zu der Beschreibung einer ursprünglich bildlosen musikalischen Stimmung. Hier scheint die Metapher eine ursprüngliche Substitution des Begriffs durch das Bild zu implizieren (cf. GdT/KSA I 60). In der mit Euripides identifizierten sokratischen Kunst ist die Metapher dagegen nur noch rhetorische Trope als Schmuck (cf. GdT/KSA I 81).
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bare Welt64, sondern schafft erst selbst eine Welt aus der Erfahrung dionysischer Destruktion des Apollinischen oder der Depotenzierung des schönen Scheins.65 Die „Bilder des Lyrikers“ sind „nichts als er selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt ‚ich‘ sagen darf: nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch-realen Menschen“ (GdT/KSA I 45). In der ästhetischen Erfahrung kommt es zu einer Auflösung des Subjekts und der Subjekt/Objekt-Relation: „Wir behaupten vielmehr, dass der ganze Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer die Künste einteilt, der des Subjectiven und des Objectiven, überhaupt in der Ästhetik ungehörig ist, da das Subjekt, das wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung des Kunst gedacht werden kann. Insofern aber das Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seine Erlösung im Scheine feiert. [...] wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer derselben [der Kunstwelt, J.S.] schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsre höchste Würde haben – denn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: – während freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung kaum ein andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben. [...] Nur soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeu64 In der Frage der Abbildung in der Kunst gründet auch Nietzsches Kritik an der Renaissanceoper: Während diese immer nur die Suche nach äußerlichen Analogien inauguriert und eine schlechte abbildorientierte Tonmalerei hervorbringt, wird in der apollinisch-dionysischen Kunst „der Mythus [...] als ein einziges Exempel einer in’s Unendliche hinein starrenden Allgemeinheit und Wahrheit anschaulich empfunden“ (GdT/KSA I 112). Der Mythus – der hier eine Verbindung aus Mythologie und Fabel bezeichnet – wird aus der Musik geboren, eine Geburtsstunde, auf deren Wiederholbarkeit die ganze kunst- und philosophiegeschichtliche Metaphysik Nietzsches beruht: die Möglichkeit einer Wiedergeburt der dionysisch-apollinischen Kunst durch Wagner (cf. GdT/KSA I 111/cf. auch GdT/KSA I 107). Nietzsches Polemik gegen die (Kultur der) Oper kulminiert in dem Vorwurf, diese habe den sprachlichen Text über die Musik bzw. den Kontrapunkt gestellt und diese dadurch zu einer Imitation sprachlicher Metaphorizität reduziert (cf. GdT/KSA I 123/ cf. auch GdT/KSA I 126). Die Oper beruht zudem auf der falschen Meinung, daß „eigentlich jeder empfindende Mensch Künstler sei“ (GdT/KSA I 124). Allerdings bringt Nietzsche an anderer Stelle Formulierungen, die die Tätigkeit des Rezipienten explizit in Analogie bringen zum kunstproduzierenden Subjekt (cf. Fußnote 60). 65 In der Götzen-Dämmerung spricht Nietzsche von der „Psychologie des Künstlers“, dessen „ästhetisches Thun und Schauen“ eine „physiologische Vorbedingung“ hat, den Rausch. Der Rausch ist ein „Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle“, aus der heraus die Dinge „vergewaltigt“ werden, indem man sie idealisiert. Schaffen bezeichnet ein „ungeheures Heraustreiben der Hauptzüge“ (Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung (Kritische Studienausgabe 15 Bände, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-1977 u. 1988, Band VI, S. 55-161), hier S. 116).
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gung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Mährchens gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer.“ (GdT/KSA I 47 f./Hervorhebungen von Nietzsche)
Der lyrische Künstler ist also bereits nicht mehr das Individuum des Alltags, sondern „fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande eine Bilder- und Gleichniswelt hervorwachsen“ (GdT/KSA I 44), die nicht derjenigen des Epikers oder Plastikers entspricht. Die Bilder der Lyrikers sind vielmehr „Objectivationen“ einer „im Grunde der Dinge ruhenden Ichheit“, die nicht die des „wachen, empirisch-realen Menschen“ ist. In diesem Zustand ist der Künstler von seiner alltäglichen Subjektivität erlöst und „gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subjekt seine Erlösung im Scheine feiert“. Dieses ästhetische Subjekt, das „im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt“ ist in diesem Zustande zugleich „Subjekt und Objekt, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer“ (GdT/KSA I 48). Wie ist dies zu verstehen? Das Dionysische ist hier sowohl die zuvor erlittene Gewalt einer Destruktion des Alltagsindividuum wie eine Lust an der künstlerischen Produktivität: „Was theilt der tragische Künstler von sich mit? Ist es nicht gerade der Zustand ohne Furcht vor dem Furchtbaren und Fragwürdigen, das er zeigt?“ (KSA VI 127). Auch bei Nietzsche zeigt sich also, was bereits bei Kant und bei Schlegel zu Tage trat: von ästhetischen Zuständen des Subjekts läßt sich nur reden, wenn man diese ambivalent beschreibt. Sie stehen in der Dialektik eines souveränen Mitspielens und Selbstbestimmens des Subjekts (fundierende Selbstbeschreibung) einerseits und der Aufgabe der Subjektivität zugunsten einer kräfteerfahrenden Medialität andererseits (subjektive Verunsicherung). Das ästhetische Subjekt ist paradoxerweise zugleich stärker und schwächer als das alltägliche Subjekt. 2. Die strukturelle Erläuterung des kunstwerkinternen Verhältnisses von Apollinischem und Dionysischem faßt beide als Elemente eines Kunstwerks – etwa der attischen Tragödie oder der Wagneroper – auf. In der attischen Tragödie gründet alles auf dem dionysischen Element des Satyrchors, der sich in Visionen „immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderflut entladet“. Das Drama ist „die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen“ und ist als solches „Objectivation eines dionysischen Zustandes“, der nicht „apollinische Erlösung im Scheine, sondern im Gegentheil das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein“ darstellt (GdT/KSA I 62). Während also der Chor das dionysische Moment markiert, ist der Schauspieler und der Dialog apollinisches Moment (cf. GdT/KSA I 64). Das Apollinische entsteht als Maske der „Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden“, die aus einem Blick ins „Innere und Schreckliche der Natur“ als Reaktion entsteht, der doch zugleich erst durch die Kunst zustande kommt. Das Apollinische der Kunst entsteht als Reaktion auf die dionysische Wahrheit (cf. GdT/KSA I 65). Die ästhetische Lust an der Tragödie folgt aus der vom Zuschauer erfahrenen oder erlebten Vernichtung des Heldens, durch die das Zerbrechen des Individuums zur Darstellung gelangt (cf. GdT/KSA I 108).
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Die Musik bestimmt Nietzsche im Anschluß an Schopenhauer als unmittelbares Abbild des Willens selbst. Daher fällt die Musik aus der Kategorie des Schönen heraus: schön sind nur die apollinischen Elemente der Kunstarten und Kunstwerke (cf. GdT/KSA I 104/ cf. auch GdT/KSA I 127). Schön ist alles, was dem Menschen sein Bild zurückwirft und ihn sich spiegeln läßt („Im Grunde spiegelt sich der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft [...]“ (KSA VI 123)). Das ergibt eine dreistellige Relation: schön ist die Übereinstimmung vom Weltbild, Kunstwerk und Subjekt. Apollinisches wie Dionysisches sind beide in einem Kunstwerk als Spiel von Erhaltung und Bestätigung der Regel und Transgression des Bestehenden (zugleich das Bestehende zerstörend und das Neue schaffend) wirksam. Das Apollinische zeigt sich so als das Erhaltende und Schöne, als Bestätigung der Regel und des Begriffs, während das Dionysische zerstörend, transgressierend, transzendierend ist und ein schöpferisches, produktives Moment bezeichnet, produktionsästhetisch also die Position des Genies. Musik und Mythos sind in der dionysisch-apollinischen Kunst – also der attischen Tragödie und der Opern Wagners – voneinander untrennbar. Die Musik gebiert den anschaubaren Mythos66 ebenso wie den individuellen tragischen Helden: „Die Tragödie stellt zwischen die universale Geltung ihrer Musik und den dionysisch empfänglichen Zuhörer ein erhabenes Gleichniss, den Mythus“. Der Mythos „schützt uns vor der Musik“, die ohne Bild unerträglich wäre (GdT/KSA I 134), wie es etwa die Musik des dritten Aktes des Tristan wäre, wenn man sie als Symphonie hörte. Erst der apollinische Mythos und der individuelle Held machen sie erträglich. Umgekehrt verleiht die Musik dem Mythos eine metaphysische Bedeutung, die er für sich allein nicht erreichen könnte. Aus der dionysischen Musik bricht „die apollinische Kraft“ hervor, die auf „Wiederherstellung des fast zersprengten Individuums gerichtet“ ist und jetzt eine wonnevolle Täuschung hervorbringt (GdT/KSA I 136). Das apollinische Gleichnisbild des Mythos „rettet“ uns vor „dem ungedämmten Ergusse des unbewußten Willens“, indem es uns der „dionysischen Allgemeinheit“ entreißt und für den individuellen Helden entzückt. Das Bild, der Begriff und die ethische Lehre konstituieren die apollinische Täuschung, die Musik wäre Darstellung eines Bildes, während es sich doch in Wahrheit andersherum verhält und die Musik erst den Text und die Bildlichkeit aus sich erzeugt (cf. GdT/KSA I 137). Es scheint dann so, als ob „das Dionysische, im Dienste des Apollinischen, dessen Wirkungen zu steigern vermöchte“ (GdT/KSA I 137). Die Wallungen des Willens sind gleichsam sichtbar geworden wie eine Fülle lebendig bewegter Linien und Figuren, die der Zuhörer vor sich sieht (cf. GdT/KSA I 140). In der „prästabilirten Harmonie“ zwischen Drama und Musik erreicht die Tragödie einen „sonst unzugänglichen Grad von Schaubarkeit“. Bühnenbild, Charaktere, Text und Handlung bzw. Mythos sind bereits selbst Objektivationen oder Versinnlichungen der dionysischen Musik, die die direkte Einwirkung der Musik auf den Zuhörer oder -schauer abmildern und diese Musik erst erträglich machen. 3. Temporale Erläuterung der Relation Apollo/Dionysus als Rezeptionsver66 Unter Mythus versteht Nietzsche ein „zusammengezogene[s] Weltbild“ und eine „Abbreviatur der Erscheinung“ (GdT/KSA I 145).
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hältnis. Die Wirkung der Tragödie bzw. Wagneroper liegt in der gleichnishaften Versinnlichung der Musik in sichtbaren Bildern – seien es im Drama selbst sichtbare auf der Bühne oder die im Rezipienten erzeugten. Der höchste Moment der dionysisch-apollinischen Kunst liegt in der Selbstverneinung des Apollinischen, d.h. in der Vernichtung des individuellen Helden. Das zeichnet die apollinisch-dionysische Kunst vor der rein apollinischen Kunst (Epik, Plastik, etc.) aus, in der sich alles im schönen Schein bewegt und die in einem kontemplativen Schauen rezipiert wird. Die Tragödie hingegen erhebt seine Zuschauer durch die Dialektik von apollinischer Versinnlichung und dionysischer Destruktion des schönen Scheins. Die Kräfteverhältnisse sind daher genau umgekehrt: der dionysische Zauber, „der, zum Schein die apollinischen Regungen auf‘s Höchste reizend, [vermag] doch noch diesen Ueberschwang der apollinischen Kraft in seinen Dienst zu zwingen“. Der tragische Mythus „ist nur zu verstehen als eine Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel; er führt die Welt der Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst verneint und wieder in den Schooss der wahren und einzigen Realität zurückzuflüchten sucht“ (GdT/ KSA I 141). Es stehen hier also zwei Rezeptionsmodelle gegeneinander: zum einen eine kontemplative anschauliche Kunsterfahrung etwa der Plastik und eine Überwältigungserfahrung durch das Dionysische der Musik. Die apollinische Täuschung schützt und rettet „vor dem unmittelbaren Einssein mit der dionysischen Musik“ (GdT/KSA I 150). Das Apollinische garantiert eine ästhetische Distanz zum Dionysischen, das als reines nicht zu ertragen wäre. Das Dionysische kann deshalb nicht direkt und unmittelbar wirken, weil seine Wirkung dann nicht mehr ästhetisch(-es Spiel) wäre, sondern reales Geschehen und damit so unerträglich wie die Objekte erhabener Natur, wenn keine Distanz zu ihnen besteht. Die apollinischen Gleichnisbilder scheinen „eben sowohl Etwas zu offenbaren als zu verhüllen“ oder anders: das Apollinische offenbart nur das verhüllte Dionysische. Das Dionysische fungiert als Statthalter einer ästhetischen Sehnsucht, nämlich „schauen zu müssen und zugleich über das Schauen hinaus sich zu sehnen“ (GdT/KSA I 150/ cf. GdT/KSA I 153) und markiert so einen Überschuß der Darstellung über das Dargestellte, der analog ist zur Konzeption der Ironie durch Schlegel. Nietzsche faßt die Frage nach der ästhetischen Wirkung der apollinisch-dionysischen Kunst als Frage nach dem Verhältnis der Musik zu Bild und Begriff (cf. GdT/KSA I 104). Wir verstehen einerseits die Musik als die „Sprache des Willens unmittelbar“, indem wir sie „in einem analogen Beispiel uns“ verkörpern. Andererseits „kommt Bild und Begriff unter der Einwirkung einer wahrhaft entsprechenden Musik, zu einer erhöhten Bedeutsamkeit“ (GdT/KSA I 107). Das musikalische Kunstwerk hat so eine doppelte Wirkung: die Musik reizt zum gleichnisartigen Anschauen der dionysischen Allgemeinheit und läßt sodann das gleichnisartige Bild in höchster Bedeutsamkeit hervortreten. In einer eher hermeneutischen Perspektive könnte man von einer Polysemie oder Dissemination der Musik sprechen, die hermeneutisch nie eingeholt werden kann, weil sie – z.B. durch ihre eigene semiotische Signifikanz – immer einen strukturellen Überschuß vor jedem Feststellen eines Sinns markiert und produziert. Das scheinbare Übergewicht des Apollinischen über das „dionysische Urele-
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ment der Musik“ in der Oper ist eine Täuschung, denn die apollinische Fiktion wird „durchbrochen und vernichtet“. Die „Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee“. Die Musik „redet“ aus dem Herzen der Welt (GdT/KSA I 138). Das Drama erreicht „als Ganzes eine Wirkung, die jenseits aller apollinischen Kunstwirkungen liegt“. In der „Gesammtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische wieder das Übergewicht“. Und „damit erweist sich die apollinische Täuschung als das, was sie ist, als die während der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der eigentlichen dionysischen Wirkung: die doch so mächtig ist, am Schluss das apollinische Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es sich selbst und seine apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich das schwierige Verhältniss des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisiren: Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist.“ (GdT/KSA I 139 f.)
Die temporale Erläuterung der Differenz von Apollo und Dionysus als Rezeptionsverhältnis eröffnet eine weitere Zweideutigkeit. Auf der einen Seite steht eine harmlosere Lesart: das Dionysische der Musik bewirkt eine apollinische (Begriffsoder) Bilderflut im Rezipienten, die jedoch den Inhalt oder das Wesen der Musik nicht angemessen sichtbar machen und zur Anschauung bringen kann. Auf der anderen Seite eine stärkere Lesart: die Erfahrung dionysischer Musik geht mit einer Überwältigung67 des Hörers einher, der sich nur durch apollinische Projektionen (Schein, Illusionen, Visionen) gegen diese Überwältigung wehren kann. Das Kunstwerk hat eine dionysische Wirkung, auf die der Rezipient apollinisch reagiert. Das Dionysische überwältigt den Zuhörer, und insofern fühlt dieser die durch das Kunstwerk organisierte Zeit als gegenläufig zu seiner individuellen Zeitrhythmik. Die Zeit ist das Medium der Organisation tonaler Zusammenhänge, die die Musik ursprünglich rhythmisiert. Die kunstwerkinterne Organisation von Zeit in tonalen Zusammenhängen erweckt zugleich die Illusion eines Verstehens einer allgemeinen Sprache als Effekt der musikalischen Signifikanz. Nietzsche kritisiert den „ästhetischen Sokratismus“ von Euripides, weil dieser den Menschen des alltäglichen Lebens auf die Bühne gebracht habe und damit ästhetisch einen Abbildrealismus inauguriert habe: „Im Wesentlichen sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Doppelgänger auf der euripideischen Bühne“ (GdT/ KSA I 77). Zudem habe sich Euripides mit der kritisierten sokratischen Aufklärung verbunden. Der Zuschauer der dionysischen Tragödie dagegen soll nicht sich selbst wiedererkennen, sondern mit dem Urwesen selbst verschmelzen: 67 Cf. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft (in: ders.: Kritische Studienausgabe 15 Bände, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-1977 u. 1988, Band III, S. 343-638), Nr. 84: „Vor allem aber wollte man den Nutzen von jener elementaren Überwältigung haben, welche der Mensch an sich beim Hören der Musik erfährt: der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach [...]“ (l.c., S. 440).
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„Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken [...]. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust [...]; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als Individuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind.“ (GdT/KSA I 109)
Was Nietzsche hier beschreibt, ist eine Verschmelzung des Zuschauers der dionysischen Kunst mit der dargestellten Zerstörung des individuellen Helden. Es scheint so, als böte Nietzsche zwei gegensätzliche Rezeptionsmodelle an: entweder affiziert die dionysisch-apollinische Musiktragödie den Zuhörer bzw. Zuschauer unmittelbar, dann müßte sie das bei allen Zuschauern unmittelbar tun, was offensichtlich nicht Nietzsches These ist. Zum anderen soll der Zuschauer als „ächter Musiker“ eine spezifische Disposition mitbringen. Und zwar muß er mindestens dazu bereit sein, weder verstandesmäßig erkennen zu wollen, noch die Position des Kritikers einzunehmen, noch moralische Urteile zu fällen. Der Zuschauer darf also weder theoretisch noch ästhetisch (im Sinne eines Geschmacksurteils) noch moralisch über das Werk urteilen, wenn er es – normativ richtig – erfahren will. Und normativ richtig erfährt der Rezipient das Kunstwerk, wenn er es unter Ausschaltung seines Verstandes (seiner rationalen Vermögen) durch seinen Leib (als Medium) erfährt. Das Ineinsfühlen mit einer ursprünglichen Zeugungslust ist jedoch nicht identisch mit dem Zeugungsakt des Künstlers noch wäre es als These einer unmittelbaren Wirkung der dionysischen Kunst aufzufassen, wie aus einem zeitgleich zur Geburt der Tragödie entstandenen Fragment erhellt: „Dem Lyriker ähnlich sind alle diejenigen Musikhörer, welche eine Wirkung der Musik auf ihre Affekte spüren: die entfernte und entrückte Macht der Musik appelliert bei ihnen an ein Zwischenreich, das ihnen gleichsam einen Vorgeschmack, einen symbolischen Vorbegriff der eigentlichen Musik giebt, an das Zwischenreich der Affekte. [...] Der Lyriker deutet sich die Musik durch die symbolische Welt der Affekte, während er selbst, in der Ruhe der apollinischen Anschauung, jenen Affekten enthoben ist. [...] Sollte man hier nicht zur Einsicht in das kommen müssen, was der Lyriker ist, nämlich der künstlerische Mensch, der die Musik sich durch die Symbolik der Bilder und Affekte deuten muß, der aber dem Zuhörer nichts mitzutheilen hat. [...] Nur für den Mitsingenden giebt es eine Lyrik, giebt es Vokalmusik: der Zuhörer steht ihr gegenüber als einer absoluten Musik.“68
Der Zuhörer setzt also in der Rezeption ein Zwischenreich schon gedeuteter Affekte gegen den Ansturm der Musik. Er übt eine Tätigkeit aus, nämlich Mitzusingen (cf. KSA VI 14). Die Kunstrezeption bedarf eines aktiven Subjektes. Nietzsche setzt 68 Friedrich Nietzsche: Fragment 12 [1] (in: ders.: Kritische Studienausgabe 15 Bände, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-1977 u. 1988, Band VII, S. 364-369), Hervorhebung von mir, J.S.
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allerdings den Rezipienten mit dem „ächten Musiker“ gleich, einem Subjekt, das die Musik in seinem „Mutterschoss“ hat und „mit den Dingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in Verbindung“ steht (GdT/KSA I 135). Auch der Zuhörer übt eine „aesthetische Thätigkeit“ (GdT/KSA I 142) aus. Nietzsche spricht gar von einer doppelten Wiedergeburt: sowohl die Tragödie als auch der ästhetische Zuhörer sollen neu entstehen. Die Hoffnung dieser Wiedergeburt liegt in einer verborgenen Kraft, die transhistorisch ist und die Kultur befruchtet. Nietzsche begreift sie – auf geradezu völkische Weise – als eine „herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft“ von Volk und Kultur, die aber verborgen ist (GdT/KSA I 146 f.). An den Erfahrungen des „wahrhaft aesthetischen Zuhörers“ läßt sich auch der tragische Künstler vergegenwärtigen. Der künstlerische Produktionsprozeß wird hier als temporale Abfolge beschrieben, jedoch in umgekehrter Reihenfolge: der Künstler schafft zuerst apollinische Individuen, um in deren Vernichtung „eine höchste künstlerische Urfreude im Schoose des Ur-Einen ahnen zu lassen“ (GdT/KSA I 141). In diesem Modell folgt die dionysische Destruktion erst sekundär aus der Selbstnegation der apollinischen Bilderwelt. Der ästhetische Zuhörer ist gerade nicht ein Kritiker, der – seien es ästhetische oder andere – Urteile fällt, sondern er läßt sich von dem „gewaltige[n] Kunstzauber“ entzücken. Damit richtet sich Nietzsche zugleich gegen ein Theater als moralische Volkserziehungsanstalt à la Schiller, in der die Kunst zu einem „Unterhaltungsobject der niedrigsten Art“ für die ästhetische Kritik geworden sei (GdT/KSA I 144). Die richtige ästhetische Erfahrung bzw. Wirkung ist dagegen sowohl unerwartet als auch „gänzlich unverständlich[]“. 4. Während das ästhetische Subjekt (als Künstler) bei Schlegel ein Selbstverhältnis der herstellenden Kraft ist, ist das ästhetische Subjekt bei Nietzsche im wesentlichen der Musikrezipient und seine Temporalität, und nur in Analogie zu diesem auch der Künstler. Die ästhetische Erfahrung der Musik wird von Nietzsche auf doppelte Weise beschrieben. Zum einen ist sie eine Überwältigungserfahrung, zum anderen eine spielerische Erfahrung: a. Das ästhetische Subjekt der Musik ist wesentlich temporal bestimmt. Die subjektive Zeit des apollinischen Individuums in den drei Zeitekstasen Vorgriff, Erinnerung und Gegenwart steht der Verlaufszeit der Musik (auch die Zeit der Musik impliziert Vor- wie Rückgriffe im tonalen Zusammenhang) gegenüber: das Subjekt ordnet sich den Gefühlsaffektionen durch die Musik unter. Die Zeit, in der die musikalischen Zusammenhänge sich darstellen, drückt dem Subjekt gewaltsam eine ihm fremde temporale Gewalt auf. Der Rezipient begegnet dieser Gewalt, in dem er apollinische Bilder aus dem „Zwischenreich“ schon gedeuteter Gefühle gleichsam als Schutz produziert. Im Musikhören gibt es so etwas wie ein Aussetzen des normalen und gewöhnlichen individuellen Zeitrhythmus bzw. des Verfliessens von Zeit. Musik ist in der Zeit prozessierende Relationalität. Die kunstwerkinterne Organisation von Zeit in Melodie, Harmonie, Wiederholung und Variation begründet die Autonomie des musikalischen Kunstwerks. Der gewöhnliche Zeitfluß des Rezipienten wird kraft werkautonomer Zeit überwältigt, d.h. daß es zu einer Aufgabe des Individuums bzw. des individuellen Zeitflusses kommt.
SPRACHE, MUSIK UND SPIEL IN DER ÄSTHETISCHEN ERFAHRUNG
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b. Auf der anderen Seite ist die ästhetische Erfahrung bei Nietzsche eine des Spiels mit den im Kunstwerk neu angeordneten Elementen der Wirklichkeit. Die ästhetische Tätigkeit ist eine des Zerstörens und Schaffens aus der Kraft einer ästhetischen Lust.69 In diesem Spiel hat das ästhetische Subjekt auch eine Verfügung über die Zeit. Das Verhältnis der Temporalität musikalischer Zusammenhänge und der Temporalität subjektiver Vollzüge läßt sich daher auch als ein spielerisches auffassen, ohne eine Überwältigung des Rezipienten durch die Zeit der Musik. Das ästhetische Subjekt ist in der ästhetischen Fiktion eines Spiels analog zu der Position Gottes. In der ästhetischen Erfahrung kann das Subjekt über sich verfügen, allerdings nur im negativen Modus bestimmter (Selbst-)Negation. Einmal mehr bedeutet dies nicht, daß das Subjekt ein herrschaftliches Verhältnis zu den Objekten gewinnt. Allerdings gewinnt es eine andere Perspektive auch auf die Elemente des Kunstwerks (die etwa alltäglichen Zusammenhängen entnommen sein können). Das Kunstwerk etabliert einen neuen Zusammenhang und eine neue Relationierung der Elemente, die sich damit auch in anderer Perspektive zeigen. Innerhalb des Apollinischen gibt es so die Möglichkeit eines Spieles von Aufbauen und Zerstören. Das ästhetische Subjekt steht in der Dialektik von souveräner Selbstfundierung (und souveränem Mitspielen) und ohnmächtiger Hingabe an unkontrollierbare Kräfte, die das Subjekt mit seiner rationalen Selbstkontrolle depotenzieren. Nietzsche gibt also auch eine Beschreibung ästhetischer Subjektivität in einer Perspektive des ästhetischen Spiels aus einer ästhetischen Lust heraus. Das „höchste Pathetische“ ist auch nur ein „aesthetisches Spiel“ (GdT/KSA I 142). Neben der Überwältigung des Zuhörers durch das musikalische Kunstwerk gibt es auch eine spielerische Ironisierung des durch das Kunstwerk transportierten Pathos. Das ästhetische Spiel übergreift die Differenz Künstler/Zuhörer oder -schauer. Zuschauer wie tragischer Künstler erfahren zum einen die volle Lust am apollinischen Schein und am Schauen, zum anderen verneinen sie diese Lust und haben „eine noch höhere Befriedigung an der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt“. So läßt sich auch am Häßlichen und Disharmonischen eine „höhere Lust“ percipiren – Antwort auf die alte Frage, wie man ästhetische Lust gegenüber dem Nichtschönen und dem Leiden empfinden kann. Kunst ist damit nicht nur „Nachahmung der Naturwirk69 In Nietzsche contra Wagner heißt es: „es giebt zweierlei Leidende, einmal die an der Überfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Einsicht und Aussicht auf das Leben – und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer oder aber den Rausch, den Kampf, die Betäubung von Kunst und Philosophie verlangen. [...] Der Reichste an Lebensfülle, der dionysische Gott und Mensch, kann sich nicht nur den Anblick des Fürchterlichen und Fragwürdigen gönnen, sondern selbst die furchtbare That und jeden Luxus von Zerstörung, Zersetzung, Verneinung, – bei ihm erscheint das Böse, Sinnlose und Hässliche gleichsam erlaubt, wie es in der Natur erlaubt erscheint, in Folge eines Überschusses von zeugenden, wiederherstellenden Kräften [...]“ (Friedrich Nietzsche: Nietzsche contra Wagner (in: ders.: Kritische Studienausgabe 15 Bände, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-1977 u. 1988, Band VI, S. 413-445), hier S. 425 f.).
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lichkeit [...], sondern gerade ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit [...], zu deren Überwindung neben sie gestellt“ (GdT/KSA I 151). Die ästhetische Lust rechtfertigt auch das Nichtschöne, indem es in ein ästhetisches Spiel einbezogen oder als solches aufgefaßt wird: „Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen Anlauf in eine Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen, indem ich den früheren Satz wiederhole, dass nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint: in welchem Sinne uns gerade der tragische Mythus zu überzeugen hat, dass selbst das Hässliche und Disharmonische ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt.“ (GdT/KSA I 152/Hervorhebungen von mir, J.S.)
In der Musik entspricht dem Nichtschönen die musikalische Dissonanz, die der Rezipient lustvoll empfindet und so Schmerz in ästhetische Lust verwandelt. Die musikalische Dissonanz bringt den Zuhörer in einen Zustand, in dem „wir hören wollen und über das Hören uns zugleich hinaussehnen“. Dieses Streben ins „Unendliche, der Flügelschlag der Sehnsucht, bei der höchsten Lust an der deutlich percipirten Wirklichkeit, erinnern daran, dass wir in beiden Zuständen ein dionysisches Phänomen zu erkennen haben, das uns immer von Neuem wieder das spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust offenbart, in einer ähnlichen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft.“ (GdT/KSA I 153)
Die ästhetische Lust ist die Lust am Spiel von Aufbauen (Setzung) und Zerstören (Negation), Apollinischem und Dionysischem, stiftender Selbstbeschreibung und verunsichernder Selbstreflexion, von Individualität und deren Destruktion, das der Wille mit sich selbst spielt. Aus dieser Dialektik des (ästhetischen) Spiels läßt sich ein Kontingenzbewußtsein (alles Geschaffene kann wieder zerstört werden) gewinnen, das auch auf nichtästhetische Subjektvollzüge übertragbar ist. Alles „Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz… damit es die ewige Lust des Schaffens giebt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muss es auch ewig die ‚Qual‘ der Gebärerin geben“ (KSA VI 159). Die ästhetische Erfahrung ist eine des Spiels mit den im Kunstwerk neu angeordneten Elementen der Wirklichkeit. In der ästhetischen Fiktion eines Spiels kann das Subjekt über sich verfügen, allerdings nur im negativen Modus bestimmter (Selbst-)Negation. Der Künstler erreicht eine Freiheit durch Kunstproduktion in der Erfahrung eines Schaffens und Zerstörens, die analog ist zu der Destruktionserfahrung des die apollinisch-dionysische Kunst rezipierenden Subjekts. Die spielerische Erfahrung am Kunstwerk ist analog zu derjenigen eines Kindes. In Also sprach Zarathustra heißt es über die drei Verwandlungen des Geistes: „Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe. [...] Unschuld ist das Kind und
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Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“70
Aus der Möglichkeit solchen (ironischen) Spiels71 läßt sich ein gelassenes Kontingenzbewußtsein gewinnen. Allerdings steht der Unschuld des kindlichen Spiels ein Begriff der Verantwortlichkeit gegenüber der Setzung entgegen. Tatsächlich ist das Kind nicht einfach Kind, sondern ist Resultat dreier Verwandlungen des Geistes, wobei die dritte Verwandlung vom Löwen zum Kamel eine genuin ästhetische Transformation ist: vom kritischen Geist zur schöpferischen Kraft. Es ist weniger Rückprojektion als das Ergebnis einer Transformation. Ist es übertrieben, hier auf eine fundamentale Analogie zwischen Ästhetik und Rhetorik hinzuweisen? Aristoteles fordert nämlich vom Rhetor, daß dieser dazu in der Lage sein muß, auch „eine gegenteilige Ansicht überzeugend darzulegen“. Spielerisch ist der Redner darin, daß er eine Sache von verschiedenen Seiten argumentativ betrachten und darstellen kann. Allerdings dient diese Freiheit nicht einem Selbstzweck, sondern ordnet sich strategisch unter, denn der Redner soll „nicht zum Schlechten überreden“. Die spielerische Verfügung über Argumente dient daher dazu festzustellen, „wie es sich verhält, und damit wir selbst entkräften können, wenn ein anderer die Unterredung in unrechter Weise gebraucht“.72 Das Spiel mit verschiedenen Argumentationsketten dient als Vorübung zur Durchsetzung rhetorischer Strategien, die allerdings je vom Rhetor verantwortet werden müssen. Der Rhetor muß gute Gründe geben können in seiner Argumentation. Solche Verantwortlichkeit in der Setzung ist das Gegenteil einer angeblichen postmodernen Beliebigkeit. Musik wie Mythos sind Resultate des kindlichen Spiels des Willens mit sich selbst, die beide „mit den Stacheln der Unlust“ spielen und die „durch dieses Spiel die Existenz selbst der ‚schlechtesten Welt‘“ rechtfertigen. Die Antwort auf die Frage, wie aus Schmerz, Disharmonie, musikalischer Dissonanz, Häßlichem etc. ästhetische Lust entstehen kann oder wie solche Phänomene von Lust begleitet sein können, lautet also: als ästhetisches Spiel, in dem es eine Verknüpfung von Schmerz und Lust gibt. In einer Neubeschreibung des Verhältnisses von Dionysus und Apollo zeigt sich jetzt, daß das Dionysische „die ewige und ursprüngliche Kunstgewalt“ ist, die „überhaupt die ganze Welt der Erscheinung in‘s Dasein ruft: in deren Mitte ein neuer Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt der Individuation im Leben festzuhalten“. Nietzsche spricht von einer „Menschwerdung der Dissonanz“, die „um leben zu können“ eine „herrliche 70 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (in: ders.: Kritische Studienausgabe 15 Bände, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 19671977 u. 1988, Band IV), hier S. 29 ff. 71 Cf. hierzu Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (in: ders.: Kritische Studienausgabe 15 Bände, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-1977 u. 1988, Band I, S. 873-890), hier S. 888 f. 72 Aristoteles: Rhetorik (Wilhelm Fink Verlag, München 1980), S. 10 f.
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Illusion“ braucht, „die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke“. Hieraus ergibt sich die Faktizität einer Metaphysik und Ökonomie der Kräfte: „Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in’s Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann, so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind.“ (GdT/KSA I 155)
Die Ökonomie dieser Kräfte steht also unter der Forderung einer ewigen Gerechtigkeit, die sich aus dem ästhetischen Spiel des Willens selbst setzt.
6. Fazit I Abschließend sei noch einmal an den Gang der Argumentation dieser Studie ab dem zweiten Kapitel erinnert. Nachdem das erste Kapitel eine Reihe von einführenden (Hypo-)Thesen und systematischen Bemerkungen zur Metaphysik, Philosophie und ästhetischen Erfahrung dargelegt hatte, begann das zweite Kapitel mit der Rekonstruktion neuzeitlicher Metaphysik der Subjektivität des Selbstbewußtseins bei Descartes bzw. durch Heidegger. In der neuzeitlichen Metaphysik ist ein isoliertes und ideales Erkenntnissubjekt als paradigmatisch für Subjektivität überhaupt vorgestellt. Das ausgezeichnete Subjekt der Neuzeit ist der Mensch mit seiner rationalistischen Zugangsweise zu den Objekten und seinem unbedingten Herrschaftsanspruch über die Dinge. Heideggers Diagnose der Herrschaft dieser Metaphysik ist insofern zutreffend, als daß solche Fassung der Subjektivität in der Tat historisch und faktisch vielfach wirksam ist. Das heißt aber gerade nicht, daß es keine theoretischen und praktischen Alternativen zu ihr gäbe. Gegen diese Metaphysik wurden daher andere Beschreibungen von Subjektivität geltend gemacht, die weder herrschaftlich noch primär erkennend noch selbstgründend sind und die sich vor allem in ästhetischen Theorien finden lassen. Dazu wurde zunächst im zweiten Kapitel summarisch das Verhältnis von rationalistischer Philosophie, Ästhetik und Subjekttheorie im Rückgriff auf Descartes und Baumgarten rekonstruiert. Bei Kant wurde bereits gezeigt, daß das Subjekt in einer dynamischen Dialektik von Selbstreflexion und fundierender Selbstbeschreibung steht. So versucht sich das Individuum durch die Weise seiner Selbstbeschreibung als solches zu konstituieren. Es gibt also Subjektivität nur vermittelt über Texte, zu denen Subjekte sich je entweder affirmativ oder aber reflexiv verhalten können. Eine Weise des affirmativen und damit gründenden Bezugs von Subjekten auf Texte bezeichnet die Schönheit bzw. unsere Liebe zu dem, was wir schön finden. Dieser gründende Bezug auf Texte wird durch reflexive Momente (z.B. durch Ironie) im Text oder Kunstobjekt selbst je unterbrochen, die das Subjekt in Frage stellen. Der spielerische Vollzug dieser Dialektik von Stiftung und Destruktion heißt ästhetisch. An diesem ästhetischen Spiel gewinnt das Subjekt Anteil, indem es sich ihm hingibt; und das heißt, daß es die sich spielerisch austragenden Kräfte auch frei spielen läßt, also darauf verzichtet, sie kontrollieren zu wollen. Ästhetisches Verhalten des Subjekts ist also Hingabe an dieses Kräftespiel von Aufbauen und Zerstören. Das zeigt sich bei Kant auch in der Beschreibung des genialen Künstlers, also an einem genuin ästhetisch bestimmten Subjekt, das als paradigmatisch für alle Subjektvollzüge gelten kann. Das Genie ist
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bei Kant selbst als Medium einer regelsetzenden Natur gedacht, die man auch als eine durch das Subjekt wirkende ursprüngliche Kraft verstehen kann. In der Rekonstruktion von Kant wurde auch auf die Ursprünglichkeit des ästhetischen Zirkels von (subjektiver) Liebe und (objektiver) Schönheit hingewiesen, der dem Vernunftgebrauch auch außerästhetisch zugrundegelegt sein sollte. Problematisch blieb bei Kant aber der Ansatz, die Analyse des Schönen und des Geschmacks in das transzendentale System einzubauen. Fragwürdig war vor allem die These, daß sich durch die lustvolle Erfahrung des Naturschönen die grundsätzliche Angemessenheit unserer Erkenntniskräfte zu den Dingen der Welt zeigen soll. Die ästhetische Erfahrung gründet so bei Kant die transzendentale Subjektivität. Die ästhetischen Entwürfe von Friedrich Schlegel, Friedrich Nietzsche und im Anschluß an beide von Paul de Man verstehen dagegen die ästhetische Erfahrung nicht mehr als Gründung von Subjektivität, sondern als deren kritische Depotenzierung. Bei aller Ähnlichkeit der Kritik an der Metaphysik des Subjektivismus durch de Man, Schlegel und Nietzsche nehmen die vorgeschlagenen Alternativen allerdings verschiedene Optionen wahr. In diesen Beschreibungen ist nicht mehr das menschliche Subjekt Á%#J?J#, sondern – bei de Man – das tropologische System (die rhetorische Struktur) der Sprache, – bei Schlegel – die Kraft bzw. Poesie, und – bei Nietzsche – die Signifikanz bzw. Zeichenhaftigkeit. Tropologisches System und poetische Kraft gelangen durch eine ironische Selbstdestruktion zur Darstellung. Bei Nietzsche gibt es eine ähnliche Figur. Die Autodestruktion des Apollinischen läßt das Dionysische erscheinen. Dies solcherart zur Darstellung Gelangende ist bei Nietzsche weder das tropologische System der Sprache noch eine poetische Kraft. Die ästhetische Erfahrung des Dionysischen ist vielmehr zum einen die Erfahrung der Signifikanz, zum anderen eine Wahrheitserfahrung. Letztere ist eine Erfahrung über die Fiktionalität des apollinischen Scheins und über die Fiktion eines anthropomorphen Wesens des Seins. Damit ist sie tragische Einsicht in die Nichtigkeit der sokratischen rationalistischen Kultur und Individualität. In allen drei Fällen handelt es sich um eine Darstellung, die nur im negativen Modus – als bestimmte Negation – etwas zur Darstellung gelangen läßt. Es scheint, daß sich alle diese sich kritisch mit der rationalistischen Subjektphilosophie auseinandersetzenden Theorien immer noch als Transzendentalphilosophie verstehen lassen. Das Transzendentale (als Bedingung der Möglichkeit) zeigt oder offenbart sich als Wahrheit im Ästhetischen. Darin stimmen Kant, Schlegel, Nietzsche, Derrida, de Man und Fietz überein – nur daß das Transzendentale je verschieden gefaßt wird. Das erklärt auch den Wahrheitsanspruch des Ästhetischen: die ästhetische Erfahrung ist Erfahrung der Wahrheit über das, was verborgen auch unsere alltäglichen Selbst- und Weltverhältnisse konstituiert. Eine Differenz zwischen den diskutierten Autoren gibt es nur in Bezug auf das, was je für die alltägliche Subjektivität als transzendental angesetzt wird und sich in der ästhetischen Erfahrung zeigen soll: z.B. eine poetische Kraft bei Schlegel, das tropologische System bei de Man oder eine tragische Wahrheit bei Nietzsche. Sowohl bei Kant wie auch bei Schlegel und Nietzsche führte die Analyse zu einer Beschreibung ästhetischer Subjektivität in einer nichtteleologischen Dialek-
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tik von Setzung und deren Destruktion, also von fundierender Selbstbeschreibung und verunsichernder Selbstreflexion, die aber je verschieden durchgeführt ist. Bei Nietzsche ist diese Dialektik als diejenige von apollinischer Setzung und dionysischer Destruktion bestimmt, in der das ästhetische Subjekt fundiert. Bei Schlegel ist es die über das Produkt vermittelte Ironie, die das ästhetische Subjekt rückbezieht auf das hervorbringende Potential einer poetischen Kraft, der es sich hingibt. Das so konstituierte Subjekt ist zugleich stark und souverän (in der Selbstnegation) und schwach (durch die Selbstnegation). Es erlangt eine Selbstverfügung durch Selbstvernichtung; und nur um den Preis solcher bestimmter Negation kann es Freiheit für das Subjekt geben. Dabei scheint bei Nietzsche die Destruktionserfahrung eher vom Rezipienten her konzipiert, während bei Schlegel der Künstler aktiv seine Selbstaufopferung betreibt. Zudem ist das ästhetische Subjekt bei Schlegel dasjenige der Poesie, während Nietzsche ein musikalisch (oder lyrisch) bestimmtes Subjekt beschreibt. Beidesmal aber erlangt das Subjekt eine gewisse negative Freiheit in der Dialektik von Selbstsetzung und -destruktion. Ästhetische Subjektivität verhält sich bei Schlegel mimetisch zu einem ursprünglichen prozessualen Geschehen bzw. einer ursprünglichen Produktivität. Bei Nietzsche ist die Selbstdestruktion mediale Teilhabe an einer ursprünglichen Zeugungslust. Beide ähneln sich in der Beschreibung der Ambivalenz des ästhetisch bestimmten Subjekts, die sich im übrigen schon bei Kant angelegt findet. Das ästhetisch bestimmte Subjekt wird paradoxerweise stets so beschrieben, daß es zugleich stärker und schwächer als das alltägliche Subjekt ist. Seine Stärke scheint in einer ästhetisch gewonnenen Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu liegen, die aber gleichzeitig – und das markiert gerade die Schwäche dieses Subjekts – nur im ästhetischen Modus vollzogen werden kann. Diese Ambivalenz ließe sich auch so beschreiben, daß das ästhetische Subjekt das ästhetische Spiel zwar (aktiv und bewußt) mitspielt, andererseits aber dieses Mitspielen impliziert, daß das Subjekt seine rationale Selbstkontrolle gerade zugunsten dieser auch als Kräftespiel zu beschreibenden Dialektik von Selbststiftung und Selbstdestruktion aufgibt und damit seine alltägliche Gestalt in dieses Spiel einbringt. Zwar muß sich das Subjekt auf das ästhetische Spiel (intentional) einlassen, hat es dies aber erst einmal getan, so wird es zu einem Medium der ästhetisch spielenden Kraft, von der es sich je bestimmen läßt. Dieses (Los-)Lassen der alltäglichen Individualität erscheint geradezu als konstitutiv für ästhetische Erfahrungen. Im Überschwang dieses Kräftespiels scheint es dann so, als wäre das ästhetische Subjekt stärker als das alltägliche. Die Pointe dieser Beschreibung ist ja aber gerade, daß das Subjekt dieses Kräftespiel nicht kontrollieren kann, was ja auch schon daraus folgt, daß es die alltägliche Selbstkontrolle überschreitet. Die aus dieser Erfahrung zu gewinnende subjektive Stärke liegt dann vielleicht darin, auch im Alltäglichen ein Bewußtsein für die Kontingenz aller Setzungen zu entwickeln und sich damit ein Moment der Freiheit gegenüber dem Bestehenden zu bewahren. Der Künstler erreicht bei Nietzsche eine Freiheit durch Kunstproduktion in der Erfahrung eines Schaffens und Zerstörens, die analog ist zu der Destruktionserfahrung des die apollinisch-dionysische Kunst rezipierenden Subjekts. Die Freiheit des künstlerischen wie des rezipierenden Subjekts wird in der und durch die Kunst
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hergestellt. Freiheit ist hier negativ begriffen als Freiheit durch Destruktion, nicht als setzende Freiheit aus Gerechtigkeit wie bei Heidegger.1 Allerdings kann man – wie schon bei Schlegel – auch von einer Dialektik der Freiheit sprechen, nämlich derjenigen von Setzung und bestimmter Negation. Der künstlerische Prozeß als Spiel von Schaffen und Zerstören ist analog zu alltäglichen subjektiven Vollzügen. Die ästhetischen Vollzüge des Subjekts lassen sich auf nichtästhetische, alltägliche subjektive Vollzüge beziehen. Die Implantierung des Ästhetischen im Alltäglichen leisten sowohl die Ironie wie auch das Spiel. Vom Künstler ist die Destruktionserfahrung als durch die Kunst hergestellte Freiheitserfahrung und als Einsicht in die Kontingenz alles Menschlichen abzulernen. Die „Pointe der ästhetischen Lust ist die Freiheit radikaler Distanz“ (TuF 248). Die künstlerische Urerscheinung ist nicht das Produzieren von Kunstwerken, sondern eine „Erfahrung dionysischer Destruktion“. Der Prozeß des Produzierens ist hier zweistufig begriffen: der Künstler „erfährt erst die dionysische Macht der Destruktion, um sodann aus dieser Erfahrung heraus zu schaffen“ (TuF 261). Dem dionysischen Moment in der apollinischen Darstellung, d.h. ihrer Selbstdestruktion, entspricht strukturell dem, was de Man mit Schlegel als die „äußere Ironie“ bezeichnet hat: ein darstellungsinternes und darstellungsabhängiges Selbstunterlaufen der Fiktionalität des schönen Scheins apollinischer Darstellung bzw. von Texten. Die Dialektik von Apollinisch und Dionysisch als Feststellen im Schein und dessen Destruktion, die allererst ein Werden ermöglicht, ähnelt strukturell der Relation von schaffender Poesie und selbstdestruktiver Ironie bei Schlegel. Schaffen und Zerstören sind Teil eines künstlerischen Urprozesses. Für Schlegel ist ein Kunstwerk formal betrachtet eine endliche und bestimmte Darstellung der herstellenden Kraft, die Spur einer Kraft, die selbst undarstellbar bleibt. Solche Kraft zeigt sich auch in dem Selbstverhältnis des ästhetischen Subjekts, das sich zu sich selbst als beliebig stimmbares Kunstwerk verhält. Daher ist die Ironie als Verhaltensweise des ästhetischen Subjekts bereits expliziter und bewußter Vollzug des poetischen Herstellungsverhältnisses. Die Analyse der Ironie und Poesie bei de Man bzw. Schlegel endete in dem Hinweis auf die Kraft als Differenz von wirklich und virtuell in der Aktualität des gegebenen Dings. Das ästhetische Subjekt, das als paradigmatisch für alle subjektiven Vollzüge dargestellt wurde, gründet nicht in einem erkennenden Selbstverhältnis, sondern ist ein Selbstverhältnis der herstellenden Kraft. Die Ironie bezeichnet dieses Verhältnis eines Produktes, nämlich des Textes, zu der ihn hervorbringenden Kraft und hält so die Potentialität dieser Kraft im Produkt offen, indem sie diese in den Text einschreibt. Während sich die Ironie als Differenz von Unendlichkeit und Endlichkeit in einem Produkt auffassen läßt, läßt sich die Kraft im Anschluß an Derrida als Differenz von Wirklichkeit (Gabe) und Virtualität (Gegen- oder Rückgabe) in einer gegebenen Aktualität auffassen. Kraft ist dabei nur als differentiell gegebenes Kraftfeld wirksam. Aus der Analyse ergibt sich, daß in der Tat sich in der Ästhetik – d.h. in einigen Theorien und Schriften der ästhetischen Tradition – zur rationalistischen Metaphysik der Subjektivität alternative Subjektkonzeptionen finden lassen. Subjektivität 1
Cf. Kapitel 2, Abschnitt II dieser Arbeit.
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wird darin weder als epistemologisches Selbstverhältnis noch als Herrschaftsverhältnis zu den Dingen beschrieben. Allerdings ist mit der Verabschiedung subjektivistischer und rationalistischer Metaphysik das Problem der Beschreibung subjektiver Vollzüge nicht vom Tisch. Es bleibt eine philosophische Aufgabe, Ressourcen alternativer Subjektbeschreibungen auszumachen und zu rekonstruieren. Dies kann auf der Basis einer Kritik oder Dekonstruktion herrschaftlicher oder erkenntnismäßiger Subjektivität geschehen, wie sie sowohl die Frühromantik wie auch die Dekonstruktion beispielhaft durchgeführt haben.
II Die ästhetische Erfahrung scheint ihr subversives Potential vor allem so entfalten zu können, daß sie die subjektive Selbstgewißheit der rationalen Selbstbeherrschung in Frage stellt. Dies scheint vor allem für zwei ästhetische Erfahrungstypen zu gelten. Zum einen für den eines Spiels von Sinnstiftung und Sinnsubversion, Aufbau und Zerstörung, das sich sowohl im künstlerischen Produktionsprozeß wie auch in der subjektiven Rezeption eines Kunstwerks vollzieht. Zum anderen für den einer Selbstdarstellung einer schaffenden Urkraft, deren Spur das einzelne Kunstwerk ist. Dabei trifft die aktive Kraft der Gestaltung bzw. Sinnstiftung im Medium des Subjekts (Künstler wie Rezipient) auf den Horizont oder den Rahmen des ästhetischen Objekts, das bestimmte Sinnstiftungen privilegiert und andere ausschließt. Die ästhetische Erfahrung ist von daher weder subjektiv-willkürlich noch objektiv determiniert, sondern resultiert aus dem Zusammenspiel von subjektiver Sinnstiftung und objektivem Sinnvermögen.2 Die ästhetische Erfahrung ist reflexiv auf die rationalistische Alltagskultur bezogen. Dieser vernunftkritische Zug, der in der ästhetischen Erfahrung liegt, zeigt sich explizit u.a. bei Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche.3 Demnach erfährt sich der Mensch in der ästhetischen Erfahrung nicht mehr als Herrn der Welt, als autonomes Individuum und als selbstbewußtes und transparent-selbstbestimmtes Vernunftsubjekt, sondern als Medium einer autopoietischen Kraft, deren Spur in Kunstprodukten lesbar wird. Das Subjekt wird ästhetisch gerade, indem es seine 2
3
Dies ließe sich auch verstehen als Zusammenspiel von potentia activa (Subjekt) und potentia passiva (Kunstobjekt), von Dissemination der subjektiven Sinnstiftung und Polysemie als Sinnpotential des Kunstobjekts. Cf. Christoph Menke: Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion: Zu Genese und Dialektik der Ästhetik (in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, S. 19-48). – Eine Beschreibung, nach der das ästhetisch affizierte Subjekt seine alltägliche Individualität transzendiert und zum Medium eines Kräftespiels wird, findet sich allerdings schon bei Platon – also lange vor der Erfindung der Ästhetik. Platon beschreibt den vortragenden Rhapsoden als „enthusiastisch“, d.h. als Medium einer göttlichen Kraft, der er sich hingibt. Cf. Platon: Ion (in: ders.: Sämtliche Werke 4 Bände, Rowohlt, Hamburg 1957-1959 und 1994, Band 1, S. 65-82). Hier S. 72-74 (533c9-535a2).
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alltägliche Verfügungsgewalt über sich und die Dinge aufgibt und sich dem ästhetischen Prozeß ohne Rückhalt hingibt. Damit ist es dazu bereit, den Bestand seiner empirischen Person in die ästhetische Erfahrung so einzubringen, daß jene aufs Spiel gesetzt wird und damit die Möglichkeit ihrer Veränderung eröffnet wird. Es handelt sich bei der ästhetisch angelegten Verhaltensweise des Menschen von daher um eine aktive und souveräne Selbstpreisgabe der kontrollierten Alltagsindividualität und des verfügenden Weltverhältnisses, um in den ästhetischen Prozeß von Konstruktion und Destruktion von Sinn als ein Moment einzugehen. Allerdings gibt es eine gewisse Zweideutigkeit in der Weise, wie die ästhetische Erfahrung auf den Alltag bezogen sein soll. Dieser Bezug läßt sich entweder so verstehen, daß sich die ästhetische Erfahrung kritisch auf den im Alltag implizierten Rationalismus bezieht. Das hätte aber zur Konsequenz, daß dieser kritische Bezug bei einer gelungenen historischen Revision des Rationalismus verloren ginge oder überflüssig würde. Eine zweite Lesart des Verhältnisses von ästhetischer Erfahrung und Alltag nimmt daher an, daß Kunst bzw. die an ihr vollzogene Erfahrung überhaupt kritisch auf den Alltag und das je Bestehende gerichtet ist. Damit wäre Kunst stets ein wichtiges Mittel gesellschaftlicher oder kultureller Reflexion. Allerdings ist diese Alternative noch zu einfach. Denn die in dieser Studie rekonstruierte Selbstreflexion des Rationalismus vollzieht sich ja gerade über ästhetische Paradigmen. Kunst – und die an ihr zu machende Erfahrung – ist also ein notwendiges Ingredienz einer reflexiv-rationalistischen Gesellschaft, wie sie die postmoderne vermutlich ist. Denn die Tendenz zur Metaphysik kann nicht ein für alle mal ausgeschaltet werden, sondern liegt in unseren Praktiken und unserem Sprachgebrauch, soweit sie rationalistisch sind, notwendig begründet. Der notwendige Gebrauch unserer rationalen Vermögen, bedarf einer kritischen Begleitung durch die in der Kunst vollzogene Reflexion der aus dieser rationalistischen Praktik folgenden Illusionen, Irrtümer und auch Gewalt.4 Diese ideologiekritische und reflexive Funktion der Kunst macht diese notwendig zu jedem historischen Zeitpunkt in einer postrationalistischen Kultur. ‚Postrationalistisch‘ oder ‚hyperrationalistisch‘ heißt dabei der reflexiv gewordene einfache Rationalismus; eine Reflexion, die niemals abzuschließen sein wird, da sie strukturell notwendig ist. Das bedeutet aber auch, daß wir in unserem Alltag nicht einfach auf den Rationalismus verzichten könnten. Damit zeigt sich zugleich, daß die Bedingung der reflexiven Funktion der ästhetischen Erfahrung gerade die Differenz von Kunst und Leben (oder alltäglicher Lebenswelt) ist. Es sei kurz in drei Hinsichten angedeutet, wie der ästhetische Bezug zu den Dingen sich vom alltäglichen abhebt und korrigierend oder reflexiv auf diese bezogen ist. Erstens impliziert das Ästhetische Gerechtigkeit gegenüber dem Singulären, während im Alltag das Besondere ‚einfach‘ unters Allgemeine subsumiert wird. Das zeigte sich z.B. in Kants Bestimmung der ästhetisch verfahrenden Urteilskraft, die ausgehend vom Einzelnen das Allgemeine finden soll. Zweitens gibt sich das ästhetische Subjekt an ein Kräftegeschehen hin, indem es seine alltägliche Individualität zugunsten des ästhetischen Spiels aufgibt. Diese 4
Gewalt gegenüber dem Einzelnen liegt z.B. in dessen Subsumption unter das Allgemeine.
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ästhetische Hingabe negiert die alltägliche rational(istisch)e (Selbst-)Kontrolle des Subjekts bzw. seiner Kräfte oder Vermögen. Drittens schließlich steht dem ästhetischen Spielgeschehen der alltägliche Ernst der Verantwortung für das je Gesetzte entgegen. Das ästhetisch sich aufs Kunstwerk einlassende Subjekt öffnet sich einem Experiment mit ungewissem Ausgang, vollzieht eine kalkulierte Öffnung oder ein offenes Kalkül in der abgesicherten Ökonomie des Individuums. Der Bestand oder die Selbsterhaltung5 des Subjekts werden von diesem ins ästhetische Spiel eingebracht bzw. aufs Spiel gesetzt, im Experiment einer ästhetischen Begegnung von Subjekt und Objekt, deren Ausgang nicht vorherzusagen ist und in der das Subjekt das Risiko seiner Veränderung erfährt und auszuhalten lernt. Das Subjekt muß sich auf die rätselhafte Fremdheit (die sich in der Frage: was soll das? Was meint das? etc. äußert), in der das Kunstwerk dem Subjekt zunächst begegnet, einlassen. Die Kunst erschafft alternative Weltentwürfe und konkrete Materialkonstruktionen (Einzelnes, Individuelles), die dem Subjekt zunächst fremd erscheinen und zu denen es sich mimetisch verhält, wenn es eine ästhetische Erfahrung macht. Die ästhetische Erfahrung wäre dann – ganz adornitisch – ein Einüben in einen anschmiegenden Umgang mit dem Nicht-Identischen, also dem Singulären. Die ästhetische Erfahrung beginnt mit einer Mimesis ans Einzelne oder Nicht-Identische am Kunstwerk, 5
Cf. zur Theorie der subjektiven Selbsterhaltung Hans Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne (Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1976). Dem Begriff einer letztlich defensiv und konservativ (Dieter Henrich spricht z.B. ganz offen von „conservatio sui“ (Dieter Henrich: Die Grundstruktur der modernen Philosophie (in: Hans Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, l.c., S. 97-121), hier S. 99) gedachten Selbsterhaltung des Subjekts wäre der Begriff der ‚Autopoiesis‘ als aktive und andauernde Selbsthervorbringung entgegenzuhalten. Dies hat vor Luhmann und seinen Vorgängern im übrigen bereits Kant im zweiten Teil der Kritik der Urteilskraft getan, der die produktive stetige Selbstzeugung als Merkmal des Lebendigen definiert: „Zweitens erzeugt ein Baum sich auch selbst als Individuum. Diese Art von Wirkung nennen wir zwar nur das Wachstum; aber dieses ist in solchem Sinne zu nehmen, daß es von jeder andern Größenzunahme nach mechanischen Gesetzen gänzlich unterschieden, und einer Zeugung, wiewohl unter einem andern Namen, gleich zu achten ist. Die Materie, die er zu sich hinzusetzt, verarbeitet dieses Gewächs vorher zu spezifischeigentümlicher Qualität, welche der Naturmechanism außer ihr nicht liefern kann, und bildet sich weiter aus, vermittels eines Stoffes, der, seiner Mischung nach, sein eignes Produkt ist. Denn, ob er zwar, was die Bestandteile betrifft, die er von der Natur außer ihm erhält, nur als Edukt angesehen werden muß: so ist doch in der Scheidung und neuen Zusammensetzung dieses rohen Stoffs eine solche Originalität des Scheidungs- und Bildungsvermögens dieser Art Naturwesen anzutreffen, daß alle Kunst davon unendlich weit entfernt bleibt, wenn sie es versucht, aus den Elementen, die sie durch Zergliederung derselben erhält, oder auch dem Stoff, den die Natur zur Nahrung derselben liefert, jene Produkte des Gewächsreichs wieder herzustellen“ (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (hg. von W. Weischedel, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974), § 64, S. B 287.
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an das wahrgenommene physisch-Konkrete (die spezifische Relation der Elemente) unter Preisgabe unserer verfügenden Individualität des Alltags. Der Begriff und die Theorie der ästhetischen Subjektivität besitzen ein kritisches Potential, herkömmliche Auffassungen von Subjektivität zu hinterfragen. In der ästhetischen Erfahrung reflektiert das Subjekt auf die Bedingungen seines Welt- und Selbstverhältnisses. Subversiv ist die ästhetische Erfahrung hinsichtlich dessen, daß sie die Brüchigkeit der Voraussetzungen unserer alltäglichen subjektiven Praxis und unseres rationalistischen Weltbildes zeigt, indem sie diese reflektiert und unterminiert. Kunst – und die ästhetische Debatte – können eine kritisch auf die alltägliche Welterfahrung gerichtete Perspektive vermitteln bzw. allererst herstellen. Kunst hebt zudem das Virtuelle und Utopische gegenüber dem Alltäglichen und Wirklichen auf, indem sie alternative Welten entwirft. Die Pointe ist dann weniger, daß die Kunst Kritik zur Darstellung bringt, sondern daß sie alternative und subversive Erfahrungen ermöglicht, die sie qua ihrer Autonomie erst herzustellen vermag. Kunst und Ästhetik rehabilitieren zudem die aus dem rational(istisch)en Diskurs ausgeschlossene Sinnlichkeit und Körperlichkeit. Diese rationale Selbstrevision ist bereits in der Ästhetik Baumgartens angelegt und wird sich in ihrer weiteren Geschichte dann so entfalten, daß diese rationalistische Selbstreflexion gerade über ästhetische Paradigmen vollzogen wird. So schreibt sich in der ästhetischen Debatte eine Art Gegendiskurs zur logozentrischen und subjektzentrischen neuzeitlichen Metaphysik fort, den es zu rekonstruieren gilt. Damit zugleich reflektiert sie die in unseren Alltag eingeschriebenen Modelle von Subjektivität, die sich an der Metaphysik des subjektiven Selbstbewußtseins orientieren, die den Menschen zur unbedingten Herrschaft über die Dinge ermächtigt. Die gesellschaftliche Praxis ist nicht einfach naturgegeben, sondern impliziert bestimmte (metaphysische) Grundannahmen über Subjektivität, die in der Analyse zu hinterfragen sind. Sowohl die gesellschaftliche Praxis wie die sie reflektierenden oder gründenden ökonomischen und gesellschaftlichen Theorien sind niemals neutral, sondern enthalten immer bestimmte Konzeptionen hinsichtlich dessen, wie Subjektivität und Welt jeweils bestimmt sind. Man könnte nun gegen die hier vorgebrachte ästhetische Theorie einwenden, daß sich die ästhetische Erfahrung, verstanden als Selbstrevision und -reflexion des Rationalismus, nicht mit der Gesamtheit der möglichen Erfahrungen deckt, die an ästhetischen Phänomenen bzw. an der Kunst gemacht werden können. Es gibt auch ästhetische Erfahrungen als freies und lustvolles quasi ‚unschuldiges‘ Spiel, ohne daß damit ein reflexiver (Meta-)Wahrheitsanspruch verbunden sein muß. Die ästhetische Erfahrung ist dann Affirmation und Selbstgenuß der im Medium des Leibes ästhetisch mit sich spielenden Kräfte. Diesem Einwand läßt sich entgegenhalten, daß das ästhetische Spiel selbst bereits eine Überschreitung der kontrollierten rational(istisch)en Ökonomie ist, mittels derer das Subjekt über die Dinge verfügt und sich selbst (d.h. seine Sinnlichkeit durch den Verstand) beherrscht. Die Frei- oder Aufgabe dieser Selbstbeherrschung an das Spiel der Kräfte ist Kennzeichen einer jeden ästhetischen Erfahrung. In diesem Sinne ist jede ästhetische Erfahrung eine Öffnung in der ökonomischen Rationalität unserer kontrollierten Alltagskultur und hat insofern schon phänomenologisch ein
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vernunftkritisches Potential, daß die in dieser Arbeit diskutierten ästhetischen Theorien jedoch funktional verschieden ausdeuten und erschließen. Bereits in der dialektischen Bewegung zwischen Selbstbeschreibung und Selbstreflexion, als die sich das ästhetische Spiel vollzieht, liegt ein kritischer Bezug auf alltägliche Subjektivität. Denn in der ästhetischen Erfahrung wird der affirmative Bezug des Subjekts auf das von ihm ‚schön‘ Gefundene, d.h. auf diejenigen Selbstbeschreibungen, mit denen es sich identifiziert, unterbrochen durch die in der formalen Anordnung des Kunstwerk liegenden reflexiven Momenten. Die metaphysische Tendenz der Neuzeit neben der Zentralstellung der Ratio im oder durch den Rationalismus betrifft die Reduktion der Subjektivität auf den Menschen bzw. die Erfindung der ideologischen Figur des Menschen.6 Alles andere – mit Heidegger zu sprechen: Tier, Pflanze, Stein – verliert in der Neuzeit seine Fähigkeit, Substanz, Subjekt oder Hypokeimenon (also Zugrundeliegendes) zu sein. Allein der Mensch steht im Zentrum der Welt mit seinem unbedingten Herrschaftsanspruch über die Dinge, die er sich zweckrational-instrumentell unterwirft. Hier schließen anthropologische Theorien und Metaphysiken an. Sowohl Heidegger wie im Anschluß an ihn Derrida haben darauf hingewiesen, daß jeder Humanismus metaphysisch ist.7 Diese Arbeit übt daher Kritik an einer Art menschlicher Hybris: nämlich die Welt vom (transzendentalen) Subjekt als Zentrum aus zu denken und als dieses exklusiv das Selbstbewußtsein des Menschen und seine Ratio einzusetzen. Sie ist gerichtet gegen die hybride Selbstermächtigung des Menschen, die noch Heidegger als Aufbruch der Neuzeit aus dem unfreien Zustand der Heilsgewißheit affirmiert. Demgegenüber wird hier versucht, über die Ideologie des Allzumenschlichen hinauszuschreiben hin auf das Ende des Menschen, der als ideologische Figur bzw. metaphysische Gestalt gleichwohl nicht aufhört, das Denken heimzusuchen. Es bedarf eines Eingedenkens der Endlichkeit alles Menschlichen, um kritisch zu werden gegen die Ideologie – verstanden als falsches Bewußtsein des Menschen von seiner metaphysischen Situation in der Welt, also als Verdrängung seiner Endlichkeit sowie als der Glaube, durch seine rationalen Vermögen sich und die Dinge der Welt (vollständig) beherrschen zu können. Ideologie ist hier also verstanden als falsches Bewußtsein über die Stellung des Menschen in der Welt. Die größte Illusion, die sich die Menschheit stets wieder macht, ist die, es könnte etwas Menschliches geben, das nicht endlich ist (z.B. auf Dauer und Allgemeinheit gestellte Theorien). Dabei ist festzuhalten: man muß radikal ausgehend von der Menschlichkeit – und eben nicht: Göttlichkeit – den Menschen denken. Und das impliziert, ihn als eine Einheit des endlichen Leibes zu denken, der sich in seiner physischen Erfahrung der Welt dem Dualismus von Geist und Körper zu entziehen sucht bzw. diesem vorgängig ist. Eben das meint Nietzsche, wenn er schreibt: „Brüder, bleibt der Erde
6 7
Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1971), besonders S. 367-462; Martin Heidegger: Nietzsche. 2 Bände (Neske, Stuttgart 1961). Jacques Derrida: Fines hominis (in: ders.: Randgänge der Philosophie, Passagen, Wien 1988, S. 133-157), hier S. 139; Martin Heidegger: Brief über den Humanismus (in: ders.: Wegmarken, Klostermann, Frankfurt/Main 1976, S. 313-364), hier S. 321.
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treu“.8 Diese die Metaphysik korrigierende Leiberfahrung hat ihren privilegierten Ort in der Kunsterfahrung. Der Mensch schafft und eröffnet heute mehr Möglichkeiten als er noch zu kontrollieren imstande sein wird. Die Selbstüberschätzung des Menschen kündigt sich (nicht nur) in der Hybris der Gentechnik bereits an. Schon Nietzsche stellt in seinem Text Zur Genealogie der Moral fest: „Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Empfindsamkeit; Hybris ist unsre Stellung zu Gott, [...] Hybris ist unsre Stellung zu uns, – denn wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf.“9
Man kann wohl sagen, daß sich diese Hybris seit Nietzsches Schrift noch gesteigert hat und sich heutzutage u.a. in der Handhabung der Gentechnik bzw. -schrift manifestiert. Die Hybris ist ein menschlicher Irrtum, der in die Katastrophe führen wird, wenn er nicht korrigiert wird. Nichtsdestotrotz ist er aber kein Irrtum, der einfach zu korrigieren wäre, denn er ist tief in das Begegnen von Welt und Mensch eingeschrieben. Die Kritik an der menschlichen Hybris richtet sich gegen alle Formen von Hypostasierung und Substantialisierung des Subjekts, namentlich auch in der gesellschaftlichen und ökonomischen Praxis, wie etwa dem Konzept des bürgerlichen Subjekts. Aber ob als historische Ablösung oder als strukturelle Ver-windung der Metaphysik: in jedem Fall bleibt die Aufgabe metaphysikkritischer Beschreibungen subjektiver Vollzüge ein Gebot unserer Zeit, allein schon deshalb, weil es gilt, den anthropologischen Schlummer des Menschen, der sich als Hybris vollzieht, zu beenden, um die drohende Katastrophe einer weitgehenden Auslöschung des Lebens auf der Erde vielleicht noch zu verhindern. Denn die Katastrophe ist der anmaßende und vor dem Leben respektlose Versuch der herrschaftlichen Lenkung der Erde durch den Übermut der menschlichen Vernunft bzw. Rationalität. Eine Menschheit, die sich die Schöpfung gnadenlos untertan macht und der nichts mehr heilig ist, wird keinen Bestand haben, und zwar schon deshalb, weil sie damit ihre eigenen Grundlagen zerstört. Denn die Grundlagen der menschlichen Subjektivität liegen außerhalb des Subjekts.
8
9
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (in: ders.: Kritische Studienausgabe Band IV, Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-1977 u. 1988), hier S. 15. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral (in: ders.: Kritische Studienausgabe Band V (Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 19671977 u. 1988, S. 245-412), hier S. 357. Cf. zur ‚Hybris‘ auch Gianni Vattimo: Nietzsche und das Jenseits vom Subjekt (in: ders.: Jenseits vom Subjekt, Passagen, Wien 1986, S. 36-64).
Anhang
Alphabetische Übersicht über die wichtigsten Sigel AL: Paul de Man: Allegorien des Lesens (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988) AM: Rudolf Fietz: Am Anfang ist Musik. Zur Musik- und Sprachsemiotik des frühen Nietzsche (in: Tilman Borsche (Hg.):‚Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, de Gruyter, Berlin 1994, S. 144-166) CI: Paul de Man: The Concept of Irony (in: ders.: Aesthetic Ideology, University of Minnesota Press, Minneapolis/London 1996, S. 163-184) DES: Ernst Cassirer: Descartes: Lehre, Persönlichkeit, Wirkung (Meiner, Hamburg 1995) DLS: René Descartes: Die Leidenschaften der Seele (Meiner, Hamburg 1996) IÄ: Paul de Man: Die Ideologie des Ästhetischen (hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993) KA II: Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe Band II, (Schöningh, München/Paderborn/Wien/Zürich 1967) KdU B: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (hg. von W. Weischedel, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974, zitiert nach Ausgabe B) KSA: Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe 15 Bände (Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-1977 u. 1988). Zitate aus der Geburt der Tragödie werden zusätzlich mit dem Sigel [GdT] markiert. KTS: Friedrich Schlegel: Kritische und Theoretische Schriften (Reclam, Stuttgart 1978) MPP: René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia (Reclam, Stuttgart 1986) N I/ N II: Martin Heidegger: Nietzsche. 2 Bände (Neske, Stuttgart 1961) PBB: Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts (Meiner, Hamburg 1983) TÄ: Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica (zitiert nach der gekürzten Fassung mit dem Titel: Theoretische Ästhetik (Meiner, Hamburg 1988)) TuF: Christoph Menke: Die Tragödie und die Freigeister (in: Andreas Steffens (Hg.): Nach der Postmoderne, Bollmann, Düsseldorf/Bensheim, S. 235-264) VDM: René Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung (Meiner, Hamburg 1960)
Literaturliste und Sigelverzeichnis Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1973) ders.: Negative Dialektik (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1975) ders.: Noten zur Literatur (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1981) ders.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1997) Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken (Konegen, Wien 1894) Aristoteles: Rhetorik (Fink, München 1980) Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (Reclam, Stuttgart 1979) Barthes, Roland: De l‘œuvre au texte (in: ders.: Le bruissement de la langue, Éditions du seuil, Paris 1984, S. 69-77) ders.: La mort de l‘auteur (in: ders.: Le bruissement de la langue, Éditions du seuil, Paris 1984, S. 61-67) ders.: Le bruissement de la langue (Éditions du seuil, Paris 1984) ders.: Die helle Kammer (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1985) ders.: Die alte Rhetorik (in: ders.: Das semiologische Abenteuer, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988, S. 15-101) ders.: Der Körper der Musik. Zuhören (in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1990, S. 249-263) Baeumler, Alfred: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1967) Baumgarten, Alexander Gottlieb: Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts (Meiner, Hamburg 1983). Unter dem Sigel [PBB] zitiert. ders.: Aesthetica (zitiert unter dem Sigel [TÄ] nach der gekürzten Fassung mit dem Titel: Theoretische Ästhetik, Meiner, Hamburg 1988 ) Benjamin, Walter: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (in: ders.: Gesammelte Schriften I/I, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974, S. 7-122) Bloom, Harold: Wallace Stevens. The Poems of our Climate (Cornell University, London 1976/77) ders.: Einfluss-Angst. Eine Theorie der Dichtung (Stroemfeld/Nexus, Basel u. Frankfurt/Main 1995) Blumenberg, Hans: Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution der neuzeitlichen Rationalität (in: Hans Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1976, S. 144-207) Bolz, Norbert: Die Verwindung des Erhabenen – Nietzsche (in: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene, VCH/Acta Humaniora, Weinheim 1989, S. 163-169) Böning, Thomas: Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche (de Gruyter, Berlin/New York 1988) Borsche, Tilman (Hg.): ‚Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche (de Gruyter, Berlin 1994) Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1999)
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Bruse, Klaus-Detlef: Die griechische Tragödie als ‚Gesamtkunstwerk‘ – Anmerkungen zu den musikästhetischen Reflexionen des frühen Nietzsche (in: Nietzsche-Studien Band 13, de Gruyter, Berlin/New York 1984, S. 156-176) Bubner, Rüdiger: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik (in: ders.: Ästhetische Erfahrung, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1989, S. 9-51) ders.: Ästhetische Erfahrung (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1989) Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung (J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1932) ders.: Descartes: Lehre, Persönlichkeit, Wirkung (Meiner, Hamburg 1995). Unter dem Sigel [DES] zitiert. Caygill, Howard: The Art of Judgement (Basic Blackwell Ltd., Oxford 1989) ders.: Über Erfindung und Neuerfindungen der Ästhetik (in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49, Akademie-Verlag, Berlin 2001, S. 233-241) Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte (Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1980) Deleuze, Gilles: Nietzsche. ein Lesebuch von Gilles Deleuze (Merve, Berlin 1979) ders.: Nietzsche und die Philosophie (Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 1985) ders.: Differenz und Wiederholung (Fink, München 1992) ders.: Die Falte. Leibniz und der Barock (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2000) Derrida, Jacques: Cogito und Geschichte des Wahnsinn (in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1972, S. 53-101) ders.: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation (in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1972, S. 351-379) ders.: Die Schrift und die Differenz (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1972) ders.: Sporen. Die Stile Nietzsches (in: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich, Ullstein, Frankfurt/Main 1986, S. 129-168) ders: Signatur Ereignis Kontext (in: ders.: Randgänge der Philosophie, Passagen, Wien 1988, S. 325-351) ders.: Fines hominis (in: ders.: Randgänge der Philosophie, Passagen, Wien 1988, S. 133-157) ders.: Die différance (in: ders.: Randgänge der Philosophie, Passagen, Wien 1988, S. 31-56) ders.: Randgänge der Philosophie (Passagen, Wien 1988) ders.: Vom Geist. Heidegger und die Frage (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988) ders.: Gesetzeskraft. Der mythische Grund der Autorität (Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1991) ders.: Die Wahrheit in der Malerei (Passagen, Wien 1992) ders.: Falschgeld. Zeit Geben I (Fink, München 1993) ders.: Grammatologie (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1994) ders.: Die Stimme und das Phänomen (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003) ders.: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2004) Descartes, René: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wis-
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senschaftlichen Forschung (Meiner, Hamburg 1960). Zitiert unter dem Sigel [VDM]. ders.: Meditationes de Prima Philosophia (Reclam, Stuttgart 1986). Unter dem Sigel [MPP] zitiert. ders.: Die Leidenschaften der Seele (Meiner, Hamburg 1996). Zitiert unter dem Sigel [DLS]. Dünkelsbühler, Ulrike: Kritik der Rahmen-Vernunft. Parergon-Versionen nach Kant und Derrida (Fink, München 1991) Düttmann, Alexander García: Philosophie der Übertreibung (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2004) Eagleton, Terry: The Ideology of the Aesthetic (Blackwell, Oxford u.a. 1990) Ebeling, Hans (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1976) Eibl, Karl: Die Entstehung der Poesie (Insel, Frankfurt/Main und Leipzig 1995) Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (in: Immanuel Hermann Fichte (Hg.): Fichtes Werke Band I, de Gruyter, Berlin 1971, S. 83-328) ders.: Über den Begriff der Wissenschaftslehre (in: Immanuel Hermann Fichte (Hg.): Fichtes Werke Band I, de Gruyter, Berlin 1971, S. 27-82) Fietz, Rudolf: Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche (Königshausen & Neumann, Würzburg 1992) ders.: Am Anfang ist Musik. Zur Musik- und Sprachsemiotik des frühen Nietzsche (in: Tilman Borsche (Hg.): ‚Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, de Gruyter, Berlin 1994, S. 144-166). Unter dem Sigel [AM] zitiert. Flasch, Kurt: Das philosophische Denken im Mittelalter (Reclam, Stuttgart 2000) Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1969) ders.: Die Ordnung der Dinge (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1971) ders.: Was ist ein Autor? (in: ders.: Schriften zur Literatur, Fischer, Frankfurt/Main 1988, S. 7-31) Frank, Manfred: Was ist Neostrukturalismus? (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1983) ders.: Die Unhintergehbarkeit von Individualität (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1986) ders.: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1989) Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1960/1990) Gamm, Gerhard: Perspektiven nachmetaphysischen Denkens (in: Andrea Kern/ Christoph Menke (Hg.): Philosophie der Dekonstruktion, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, S. 103-124) ders.: Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität (Philo & Philo Fine Art GmbH, Berlin/Wien 2004) Gerhardt, Volker: Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst (in: Nietzsche-Studien Band 13, de Gruyter, Berlin/New York 1984, S. 374-393) ders.: ‚Experimental-Philosophie‘. Versuch einer Rekonstruktion (in: ders.: Pathos
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und Distanz: Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Reclam, Stuttgart 1988, S.163-187) Göttert, K. H.: Einführung in die Rhetorik (Fink, München 1991) Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (in: ders.: Schriften zur Literatur, Reclam, Stuttgart 1972, S. 12-196 (Auszug)) Gross, Steffen W.: Felix Aestheticus und Animal Symbolicum (in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49, Akademie-Verlag, Berlin 2001, S. 275-298) Hamacher, Werner (Hg.): Nietzsche aus Frankreich (Ullstein, Frankfurt/Main 1986) Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.): Was heißt ‚Darstellen‘? (Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1994) Hegel, G. W. F.: Ästhetik (Reclam, Stuttgart 1971) ders.: Vorlesungen über Ästhetik I (in: ders.: Werke Band 13, Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1986) ders.: Phänomenologie des Geistes (in: ders.: Werke Band 3, Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1986) Heidegger, Martin: Der Ursprung des Kunstwerks (in: ders.: Holzwege, Klostermann, Frankfurt/Main 1950/2003, S. 1-74) ders.: Nietzsche. 2 Bände (Neske, Stuttgart 1961). Unter den Sigeln [N I] bzw. [N II] zitiert. ders.: Brief über den Humanismus (in: ders.: Wegmarken, Klostermann, Frankfurt/Main 1976, S. 313-364) ders.: Unterwegs zur Sprache (Klostermann, Frankfurt/Main 1985) ders.: Zeit und Sein (in: ders.: Zur Sache des Denkens, Niemeyer, Tübingen 1988, S. 1-26) ders.: Sein und Zeit (Niemeyer, Tübingen 1993) Henrich, Dieter: Selbsterhaltung und Geschichtlichkeit (in: Hans Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1976, S. 303-313) ders.: Die Grundstruktur der modernen Philosophie (in: ders.: Selbstverhältnisse, Reclam, Stuttgart 1982, S. 83-108) ders.: Fichtes ‚Ich‘ (in: ders.: Selbstverhältnisse, Reclam, Stuttgart 1982, S. 57-82) ders.: Über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung. Probleme und Nachträge zum Vortrag über ‚Die Grundstruktur der modernen Philosophie‘ (in: ders: Selbstverhältnisse, Reclam, Stuttgart 1982, S. 109-130) ders.: Kant und Hegel. Versuch zur Vereinigung ihrer Grundgedanken (in: ders.: Selbstverhältnisse, Reclam, Stuttgart 1982, S. 173-208) ders.: Selbstverhältnisse (Reclam, Stuttgart 1982) Herder, Johann Gottfried: Viertes Kritisches Wäldchen (in: ders.: Werke in zehn Bänden, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt/Main 1985, Band 2, S. 250289) Horkheimer, Max: Vernunft und Selbsterhaltung (in: Hans Ebeling (Hg.): Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1976, S. 41-75)
LITEARATURLISTE UND SIGELVERZEICHNIS
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Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung (Fischer, Frankfurt/Main 1988) Jauß, H. R.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1982) Kaminski, Nicola: Kreuz-Gänge. Romanexperimente der deutschen Romantik (Schöningh, München/Paderborn/Wien/Zürich 2001) Kant, Immanuel: Reflexionen zur Logik Nr. 1802a (in: ders.: Kants Gesammelte Schriften Band 16, hg. Von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Reimer, Berlin 1902 ff.) ders.: Kritik der reinen Vernunft (hg. von W. Weischedel, Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1974) ders.: Kritik der Urteilskraft (hg. von W. Weischedel, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974). Nach der Ausgabe B unter dem Sigel [KdU] zitiert. Kern, Andrea: Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2000) dies.: Ästhetischer und philosophischer Gemeinsinn (in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, S. 81-111) Kern, Andrea/Sonderegger, Ruth (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002) Kierkegaard, Sören: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates (Oldenbourg, München/Berlin 1929) Kocka, Jürgen/Nipperdey, Thomas (Hg.): Theorie und Erzählung in der Geschichte (Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1979) Kofman, Sarah: Nietzsche et la métaphore (Payot, Paris 1972) Kohlenbach, Michael: Die ‚immer neuen Geburten‘ (in: Tilman Borsche (Hg.): ‚Centauren-Geburten‘. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, de Gruyter, Berlin/New York 1994, S. 351-382) Kopperschmidt, Josef/Schanze, Helmut (Hg.): Nietzsche oder ‚Die Sprache ist Rhetorik‘ (Fink, München 1994) Kropfinger, Klaus: Wagners Musikbegriff und Nietzsches ‚Geist der Musik‘ (in: Nietzsche Studien Band 14, de Gruyter, Berlin/New York 1985, S. 1-12) Kulenkampff, Jens: Metaphysik und Ästhetik: Kant zum Beispiel (in: Andrea Kern/ Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, S. 49-80) Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1993) Lacoue-Labarthe, Philippe: Der Umweg (in: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich, Ullstein, Frankfurt/Main 1986, S. 76-110) Leibniz, Gottfried Wilhelm: Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels (Meiner, Hamburg 1996) Lessing, G. E.: Laokoon (Reclam, Stuttgart 1964) Longinus: Vom Erhabenen (Reclam, Stuttgart 1988) Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1995)
236 SUBJEKTIVITÄT UND ÄSTHETIK
ders.: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1987) Lyotard, Jean-Francois: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? (in: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion, Reclam, Stuttgart 1990, S. 33-48) ders.: Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen (Fink, München 1994) Man, Paul de: Rhetorik der Tropen (Nietzsche) (in: ders.: Allegorien des Lesens, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988, S. 146-163). Unter dem Sigel [AL] zitiert. ders.: Genese und Genealogie (Nietzsche) (in: ders.: Allegorien des Lesens, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988, S. 118-145). Unter dem Sigel [AL] zitiert. ders.: Rhetorik der Persuasion (Nietzsche) (in: ders.: Allegorien des Lesens, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988, S. 164-178). Unter dem Sigel [AL] zitiert. ders.: Allegorien des Lesens (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1988). Unter dem Sigel [AL] zitiert. ders.: Zeichen und Symbol in Hegels ‚Ästhetik‘ (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 39-58) ders.: Die Rhetorik der Zeitlichkeit (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 83-130). Unter dem Sigel [IÄ] zitiert. ders.: Die Rhetorik der Blindheit: Jacques Derridas Rousseauinterpretation (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 185-230). Unter dem Sigel [IÄ] zitiert. ders.: Hegel über das Erhabene (in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993, S. 59-82) ders.: Die Ideologie des Ästhetischen (hg. von Christoph Menke, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993). Unter dem Sigel [IÄ] zitiert. ders.: The Concept of Irony (in: ders.: Aesthetic Ideology, University of Minnesota Press, Minneapolis/London 1996, S. 163-184). Unter dem Sigel [CI] zitiert. ders.: Epistemologie der Metapher (in: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996, S. 414-437) Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1968) Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991) ders.: Umrisse einer Ästhetik der Negativität (in: Franz Koppe (Hg.): Perspektiven der Kunstphilosophie, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991, S. 191-216) ders.: Die Tragödie und die Freigeister (in: Andreas Steffens (Hg.): Nach der Postmoderne, Bollmann, Düsseldorf/Bensheim 1992, S. 235-264). Unter dem Sigel [TuF] zitiert. ders.: Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion: Zur Genese und Dialektik der Ästhetik (in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, S. 19-48) Menninghaus, Winfried: Unendliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1987)
LITEARATURLISTE UND SIGELVERZEICHNIS
237
ders.: Das Versprechen der Schönheit (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003) Momberger, Manfred: Sonne und Punsch. Die Dissemination des romantischen Kunstbegriffs bei E.T.A. Hoffmann (Fink, München 1986) Niehues-Pröbsting, Heinrich: Ästhetik und Rhetorik in der ‚Geburt der Tragödie‘ (in: Josef Kopperschmidt/Helmut Schanze (Hg.): Nietzsche oder ‚Die Sprache ist Rhetorik‘, Fink, München 1994, S. 93-108) Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe 15 Bände (Deutscher Taschenbuch Verlag/de Gruyter, München/Berlin/New York 1967-1977 u. 1988). Unter dem Sigel [KSA] und Numerierung zitiert. Zitate aus der Geburt der Tragödie werden zusätzlich mit dem Sigel [GdT] markiert. Paetzold, Heinz: Ästhetik des deutschen Idealismus (Steiner, Wiesbaden 1983) Platon: Ion (in: ders.: Sämtliche Werke 4 Bände, Rowohlt, Hamburg 1957-1959 und 1994, Band 1, S. 65-82) Polheim, Karl Konrad (Hg.): Der Poesiebegriff der deutschen Romantik (Schöningh, München/Paderborn/Wien/Zürich 1972) Pries, Christine (Hg.): Das Erhabene (VCH/Acta Humaniora, Weinheim 1989) Quintilianus, Narcus Fabius: Ausbildung des Redners: 12 Bücher (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1975) Rahn, Dieter: Die Plastik und die Dinge. Zum Streit zwischen Philosophie und Kunst (Rombach, Freiburg 1993) Rebentisch, Juliane: Ästhetik der Installation (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003) Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1992) Schadewaldt, Wolfgang: Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1978) Schlegel, Friedrich: Lucinde (Reclam, Stuttgart 1963) ders.: Kritische Ausgabe Band II (Schöningh, München/Paderborn/Wien/Zürich 1967). Unter dem Sigel [KA II] zitiert. Fragmente aus den Athenäumsfragmenten werden mit [AT] entsprechend der Standardnummerierung Nr.[...] und unter Angabe der Seitenzahl in der Kritischen Ausgabe zitiert. Gleiches geschieht mit Zitaten aus den Lyceumsfragmenten (abgekürzt: [L]) und mit Zitaten aus den Ideen (abgekürzt [ID]). ders.: Georg Forster (in: ders.: Kritische und Theoretische Schriften, Reclam, Stuttgart 1978, S. 21-45). Zitiert unter dem Sigel [GF/KTS]. ders.: Über Lessing (in: ders.: Kritische und Theoretische Schriften, Reclam, Stuttgart 1978, S. 46-75). Zitiert unter dem Sigel [ÜL/KTS]. ders.: Über Goethes Meister (in: ders.: Kritische und Theoretische Schriften, Reclam, Stuttgart 1978, S. 143-164). Zitiert unter dem Sigel [GM/KTS]. ders.: Gespräch über die Poesie (in: ders.: Kritische und Theoretische Schriften, Reclam, Stuttgart 1978, S. 165-224). Zitiert unter dem Sigel [GP/KTS]. ders.: Kritische und Theoretische Schriften (Reclam, Stuttgart 1978). Zitiert unter dem Sigel [KTS]. Schulz, Walter: Ich und Welt (Neske, Pfullingen 1979) ders.: Subjektivität im nachmetaphysischen Zeitalter (Neske, Pfullingen 1992)
238 SUBJEKTIVITÄT UND ÄSTHETIK
Schumacher, Eckhard: Die Ironie der Unverständlichkeit (Suhrkamp, Frankfurt/ Main 2000) Seel, Martin: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1997) ders.: Ästhetik des Erscheinens (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003) Sonderegger, Ruth: Für eine Ästhetik des Spiels. Hermeneutik, Dekonstruktion und der Eigensinn der Kunst (Suhrkamp, Frankfurt/Main 2000) Spinoza, Baruch: Ethik (Röderberg, Köln 1987) Szczepanski, Jens: Das Subjekt als Medium. Bemerkungen zur ästhetisch bestimmten Subjektivität (in: Michael Lüthy/Christoph Menke (Hg.): Subjekt und Medium in der Kunst der Moderne, Diaphanes, Zürich/Berlin 2006, S. 69-85) Szondi, Peter: Friedrich Schlegel und die romantische Ironie (in: ders.: Satz und Gegensatz, Insel, Frankfurt/Main 1964, S. 5-24) ders.: Poetik und Geschichtsphilospohie. 2 Bände (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974) Vattimo, Gianni: Das Fliegenglas, das Netz, die Revolution und die Aufgaben der Philosophie. Ein Gespräch mit ‚Lotta continua‘ (in: ders.: Jenseits vom Subjekt, Passagen, Wien 1986, S. 15-35) ders.: Nietzsche und das Jenseits vom Subjekt (in: ders.: Jenseits vom Subjekt, Passagen, Wien 1986, S. 36-64) ders.: Jenseits vom Subjekt (Passagen, Wien 1986) ders.: Das Ende der Moderne (Reclam, Stuttgart 1990) Vickers, Brian: Nietzsche im Zerrspiegel de Mans: Rhetorik gegen die Rhetorik (in: Josef Kopperschmidt/Helmut Schanze: Nietzsche oder ‚die Sprache der Rhetorik‘, Fink, München 1994, S. 219-240) Wellmer, Albrecht: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno (in: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1985, S. 48-114) ders.: Adorno, Anwalt des Nicht-Identischen. Eine Einführung (in: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1985, S. 135-166) ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno (Suhrkamp, Frankfurt/Main 1985) ders.: Das musikalische Kunstwerk (in: Andrea Kern/Ruth Sonderegger (Hg.): Falsche Gegensätze. Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, S. 133-175) Welsch, Wolfgang/ Christine Pries (Hg.): Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean-Francois Lyotard (VCH, Acta Humaniora, Weinheim 1991) White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (Fischer, Frankfurt/Main 1991) Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen (Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1984)
Danksagung Mein Dank gilt zunächst Christoph Menke für die Betreuung dieser Arbeit. Für Kritik, Diskussionsbereitschaft und Korrekturfreudigkeit möchte ich im weiteren Robin Celikates, Christoph Menke und Thomas Khurana danken. Auch den TeilnehmerInnen meiner diversen Proseminare, des Potsdamer Institutskolloquiums und des Doktorandenkolloquiums von Christoph Menke möchte ich für kritische Diskussionen danken. Für Diskussionen im Umfeld meines Dissertationsthemas danke ich auch den Mitgliedern der ersten Förderperiode des Sonderforschungsbereichs 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“. Bedanken möchte ich mich auch bei meinen Eltern, meinen Geschwistern und Freunden für die vorbehaltslose Unterstützung auch in schweren Zeiten. Dank auch an Mechthild Flemming für die Unterstützung beim Layout.
Berlin 2007
Jens Szczepanski
Edition Moderne Postmoderne Dirk Quadflieg Differenz und Raum Zwischen Hegel, Wittgenstein und Derrida November 2007, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-812-4
Judith Siegmund Die Evidenz der Kunst Künstlerisches Handeln als ästhetische Kommunikation Oktober 2007, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-788-2
Hans-Joachim Lenger, Georg Christoph Tholen (Hg.) Mnêma Derrida zum Andenken Oktober 2007, ca. 230 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-510-9
Iris Därmann, Harald Lemke (Hg.) Die Tischgesellschaft Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen Oktober 2007, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-694-6
Fabian Goppelsröder Zwischen Sagen und Zeigen Wittgensteins Weg von der literarischen zur dichtenden Philosophie Oktober 2007, ca. 150 Seiten, kart., ca. 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-764-6
Martin Nonhoff (Hg.) Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe Oktober 2007, ca. 180 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-494-2
Harald Lemke Die Kunst des Essens Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks September 2007, ca. 180 Seiten, kart., ca. 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-686-1
Jens Szczepanski Subjektivität und Ästhetik Gegendiskurse zur Metaphysik des Subjekts im ästhetischen Denken bei Schlegel, Nietzsche und de Man August 2007, 242 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-709-7
Ludger Schwarte (Hg.) Auszug aus dem Lager Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas in der politischen Philosophie Juli 2007, 318 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-550-5
Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer, Hannes Kuch (Hg.) Verletzende Worte Die Grammatik sprachlicher Missachtung Juli 2007, 372 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-565-9
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Edition Moderne Postmoderne Andreas Niederberger, Markus Wolf (Hg.) Politische Philosophie und Dekonstruktion Beiträge zur politischen Theorie im Anschluss an Jacques Derrida Juni 2007, 186 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 978-3-89942-545-1
Daniel C. Henrich Zwischen Bewusstseinsphilosophie und Naturalismus Zu den metaphysischen Implikationen der Diskursethik von Jürgen Habermas März 2007, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-620-5
Alice Pechriggl Chiasmen Antike Philosophie von Platon zu Sappho – von Sappho zu uns 2006, 188 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-536-9
Ulrike Ramming Mit den Worten rechnen Ansätze zu einem philosophischen Medienbegriff 2006, 252 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-443-0
Stefan Blank Verständigung und Versprechen Sozialität bei Habermas und Derrida 2006, 232 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-456-0
Peter Janich (Hg.) Wissenschaft und Leben Philosophische Begründungsprobleme in Auseinandersetzung mit Hugo Dingler 2006, 274 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-475-1
Reinhard Heil, Andreas Hetzel (Hg.) Die unendliche Aufgabe Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie
Johann S. Ach, Arnd Pollmann (Hg.) no body is perfect Baumaßnahmen am menschlichen Körper. Bioethische und ästhetische Aufrisse
2006, 288 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-332-7
2006, 358 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-427-0
Jens Badura (Hg.) Mondialisierungen »Globalisierung« im Lichte transdisziplinärer Reflexionen
Tobias Blanke Das Böse in der politischen Theorie Die Furcht vor der Freiheit bei Kant, Hegel und vielen anderen
2006, 318 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-364-8
2006, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-465-2
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Edition Moderne Postmoderne Gerald Hartung, Kay Schiller (Hg.) Weltoffener Humanismus Philosophie, Philologie und Geschichte in der deutschjüdischen Emigration 2006, 224 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-441-6
Christoph Henning Philosophie nach Marx 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik
Christoph Ernst, Petra Gropp, Karl Anton Sprengard (Hg.) Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie 2003, 334 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-159-0
Hans-Joachim Lenger Vom Abschied Ein Essay zur Differenz 2001, 242 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-933127-75-4
2005, 660 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-367-9
Christian Schulte, Rainer Stollmann (Hg.) Der Maulwurf kennt kein System Beiträge zur gemeinsamen Philosophie von Oskar Negt und Alexander Kluge 2005, 272 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-273-3
Arnd Pollmann Integrität Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie 2005, 394 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-325-9
Hans-Joachim Lenger Marx zufolge Die unmögliche Revolution 2004, 418 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-211-5
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de