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German Pages 306 Year 2014
Hanna Meißner Jenseits des autonomen Subjekts
Hanna Meißner (Dr. phil.) lehrt am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung der Technischen Universität Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gesellschaftstheorie, feministische Theorie, Wissenschaftsforschung sowie Arbeits- und Organisationssoziologie.
Hanna Meissner
Jenseits des autonomen Subjekts Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx
Diese Publikation beruht auf einer Dissertation an der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin.
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I N H AL T
1. Auftakt: Wer sind ›wir‹ und was können ›wir‹ wollen?............. 9 1.1 Theoretische Perspektiven: Butler, Foucault und Marx ................ 11 1.2 Die feministischen Debatten als paradigmatisches Verhandlungsfeld ........................................................................... 15 2. Judith Butler: Die diskursive Hervorbringung intelligibler Subjekte ........................................................................................ 19 2.1 Die normativ-diskursive Konstitution des Subjekts ...................... 24 2.1.1 Die symbolische Ordnung als historisch-dynamischer Strukturzusammenhang ........................................................ 25 2.1.2 Heteronormativität und Phallogozentrismus: historische Bedingungen der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit... 31 2.1.3 Strukturelle Dynamik: Performativität und Iterabilität ........ 36 2.1.4 Gesellschaftskritik als Dekonstruktion ................................ 39 2.1.5 Dekonstruktive Subjektkritik ............................................... 46 2.2 Subjektkonstitution: Verhaftungen und Handlungsfähigkeit ........ 49 2.2.1 Der Körper als außerdiskursives Moment ........................... 53 2.2.2 Die psychische Konstitution des Subjekts ........................... 57 2.2.3 Ambivalenz und Melancholie des Subjekts .......................... 62 3. Zwischenspiel I: Die gesellschaftlichen Bedingungen des ethischen Subjekts ................................................................. 71 3.1 Wie kommt das Neue in die Welt? ................................................ 75 3.2 Reflexivität und ethische Haltung des Subjekts ............................ 83 4. Michel Foucault: Der ›Mensch‹ als modernes abendländisches Subjekt ............................................................. 91 4.1 Wahrheit und Wirklichkeit – Die epistemischen Bedingungen der Subjektkonstitution .................................................................. 96 4.1.1 Wahrheit, Diskurs und Wirklichkeit .................................... 98 4.1.2 Der ›Mensch‹ als Subjekt und Objekt von Erkenntnis ...... 101 4.2 Historische Transformation der Macht ........................................ 104 4.2.1 Macht – Annäherung über eine begriffliche Bestimmung .. 105
4.2.2 Bio-Macht als moderne Form der Machtverhältnisse ....... 4.2.3 Das gesellschaftliche Sein des modernen Menschen ......... 4.2.4 Regierung der Menschen: die moderne Rationalität des Politischen ................................................................... 4.3 Selbsttechnologien und widerständige Praktiken ........................ 4.3.1 Handlungsfähigkeit als Ausübung strukturierter Freiheitspraktiken .............................................................. 4.3.2 Genealogie des modernen Subjekts als eines sexuellen Wesens ............................................................................... 4.3.3 Das Leben als Kunstwerk .................................................. 4.4 Dispositive – historische Formationen des Sozialen ................... 4.4.1 Dispositive als Strukturzusammenhänge mit ›Doppelcharakter‹ .............................................................. 4.4.2 Strategische Funktionalität ................................................ 4.4.3 Gesellschaft ........................................................................ 4.4.4 Flexible Normalisierung ....................................................
139 141 145 148
5. 5.1 5.2 5.3 5.4
153 158 164 173 179
Zwischenspiel II: Kritik der bio-ethischen Gewalt ................ Generativität als historisches Dispositiv ..................................... Historische Verknüpfung von Geschlecht und Begehren ........... Biopolitische Regulierung als individuelle Selbstbestimmung ... Subjektivierungseffekte biopolitischer Regulierung ...................
6. Karl Marx: Die nicht-normative Dimension des Sozialen im Kapitalismus ......................................................................... 6.1 Gegenstand und Erkenntnisperspektive ...................................... 6.1.1 Kapitalismus als abstrakter Strukturzusammenhang ......... 6.1.2 Grenzbestimmung: Produktionsweise und Gesellschaftsformation ...................................................... 6.1.3 Gesellschaftliche Objektivität der Praxis ........................... 6.2 Sachliche Herrschaft .................................................................... 6.2.1 Vergesellschaftung als Warentausch ................................. 6.2.2 Das ›Wertgesetz‹ als bestimmendes Prinzip der gesellschaftlichen Produktion ...................................... 6.2.3 Trennung und Synthesis ..................................................... 6.3 Subjektivität und Handlungsfähigkeit ......................................... 6.3.1 Die strukturelle Logik der Praxis ....................................... 6.3.2 Macht, Freiheit und sachliche Herrschaft .......................... 6.3.3 Klassenindividuum und Privatmensch: Strukturen der Subjektivität ................................................................. 6.3.4 Handlungsfähigkeit und Widerstand .................................
107 114 116 122 124 126 131 136
185 190 191 196 199 200 203 208 215 221 224 228 232 238
7. Zwischenspiel III: Ethik der konstitutiven Angewiesenheit ... 7.1 Historische Kritik: Die Sorge um sich als Sorge um Privatinteressen ............................................................................ 7.2 Normative und nicht-normative Strukturierung des Sozialen ..... 7.3 Kapitalismus, heterosexuelle Matrix und Bio-Macht .................. 7.4 Individuelle Selbstbestimmung und kollektive Fürsorge ............
243 246 252 258 265
8. Finale: An den Grenzen des Wirklichen das Mögliche erfinden ....................................................................................... 8.1 Perspektiven der Erkenntnis ........................................................ 8.2 Punkte der Häresie ....................................................................... 8.3 Kritische Ontologie der Gegenwart .............................................
271 272 276 280
Nachtrag ........................................................................................... 285 Literatur ........................................................................................... 287
1. A U F T AK T : W E R S I N D › W I R ‹ ›WIR‹ WOLLEN?
U N D W AS K Ö N N E N
»Nur dem, der Gesellschaft als eine andere denken kann denn die existierende, wird sie […] zum Problem.« (Adorno 1972: 142)
Eine andere Welt ist möglich. Dieses Credo ist wichtiger Bezugspunkt einer kritischen Gesellschaftstheorie, die gesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen als veränderbar und sogar gestaltbar begreift. Großangelegte Emanzipationsprojekte sind allerdings aus gutem Grund in Verruf geraten, sofern diese auf der Voraussetzung eines Subjekts beruhen, das – mit bestimmten Wünschen und Bedürfnissen ausgestattet – als autonomer und aufgeklärter Akteur Adressat und ausführendes Organ der Emanzipation ist. Verbunden ist eine solche Vorstellung mit der Annahme, dass Emanzipationsprojekte explizierbarer und inhaltlichnormativ begründbarer Grundlagen und Ziele bedürfen. Die Beschränkungen einer solchen Befreiungsperspektive sind aus verschiedenen Richtungen deutlich herausgearbeitet worden: Sie setzt eine partikulare Subjektivität als allgemein-menschliche und (re)produziert damit Hegemonien, Hierarchien und Ausschlüsse. Kritische Interventionen, vor allem im Rahmen feministischer und postkolonialer Debatten, haben zeigen können, dass das aufklärerische Verständnis von Emanzipation als Befreiung des Subjekts aus Abhängigkeit und Unmündigkeit eine eurozentrisch-patriarchale Perspektive impliziert. Das autonome Subjekt, das frei und rational Entscheidungen trifft, ist die phantasmatische Figur des (bürgerlichen, weißen, heterosexuellen) Mannes, der als solcher von allen geistigen und körperlichen Abhängigkeiten befreit ist und daher 9
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den Anspruch erhebt, selbstbestimmt auf der Basis innerer Relevanzstrukturen vernünftig handeln zu können. Ausgangspunkt dieser Arbeit sind grundlegende Problematisierungen, die diese Konzeption von autonomer Subjektivität und rationaler Handlungsfähigkeit in den vergangenen Jahrzehnten erfahren hat. Obgleich inzwischen eine gewisse Einigkeit darüber besteht, dass Subjekte immer nur in ihren vielfachen Verstrickungen im jeweiligen gesellschaftlich-kulturellen Kontext bestimmt werden können, sind damit keinesfalls abschließende Antworten auf die Frage nach einem angemessenen analytischen Zugang zu dieser Bestimmtheit verbunden. Ebenso wenig ist die Frage geklärt, wie die Handlungsfähigkeit der Subjekte in und gegenüber diesen bestimmenden Verhältnissen zu fassen ist. Daran ansetzend verfolge ich hier die These, dass Subjektivität und Handlungsfähigkeit gesellschaftlich konstituiert sind, dass es folglich auch keine Instanz außerhalb dieser Verhältnisse ›gibt‹, auf die sich Kritik und Widerstand stützen können. Im weitesten Sinne greife ich damit in die Diskussion über ›klassische‹ Dualismen ein, mit denen sich sozialwissenschaftliche Debatten seit ihrer Entstehung herumschlagen: Individuum/ Gesellschaft, Handlung/Struktur, Voluntarismus/Determinismus, Autonomie/Heteronomie – all diese Begriffspaare verweisen mit unterschiedlichen Akzentuierungen auf ein Spannungsfeld, in dem sich die Frage nach der möglichen Selbstbestimmung von Subjekten im gesellschaftlichen Zusammenhang situieren lässt. Unmittelbar damit verbunden ist die Frage, wie ein ›vernünftiges‹ oder wünschenswertes Verhältnis von Individuum und Gesellschaft aussehen könnte; die analytische Frage erweist sich damit zugleich als eine Frage der Ethik. Dies kann nur vor dem Hintergrund normativer Annahmen über die Kriterien der Vernunft verhandelt werden; eine solche Herangehensweise ist aber aufgrund der eben angeführten Kritik an universalistischen Annahmen über das menschliche Subjekt zumindest fragwürdig geworden. Demgegenüber will ich hier die Möglichkeit einer immanenten Kritikstrategie eruieren, die gleichwohl nicht dem Gegebenen verhaftet bleibt. Ein solches Vorhaben wirft eine Reihe von Fragen auf, die genauer diskutiert werden müssen: Führt die Abkehr von der Vorstellung eines autonomen Subjekts zwangsläufig zu einer strukturdeterministischen Perspektive? Ist Handlungsfähigkeit – verstanden als Fähigkeit, sich zu den Verhältnissen zu verhalten und diese nicht nur zu reproduzieren – nur über die Annahme einer individuellen Instanz außerhalb dieser Verhältnisse zu begründen? Sind die Kritik an den Verhältnissen und der Widerstand gegen die sie auf einen externen Standpunkt als Beurteilungskriterium und als Quelle der Reflexivität angewiesen?
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1.1 Theoretische Perspektiven: Butler, Foucault und Marx Bei der Suche nach weiterführenden Antworten greife ich mit den Arbeiten von Judith Butler, Michel Foucault und Karl Marx drei theoretische Entwürfe auf, die in ihrer je eigenen Perspektive das Spannungsfeld von Determinismus und Voluntarismus produktiv überwinden und es dadurch ermöglichen, (widerständige) Handlungsfähigkeit als immanente Effekte von Strukturen zu begreifen. Butlers Fokus liegt auf der symbolischen Ordnung, die die Bedingung der körperlichen und psychischen Intelligibilität der Subjekte konstituiert. Mit dem Konzept des Dispositivs erfasst Foucault die Strukturen sozialer Phänomene, die im Rahmen der spezifischen Macht-Wissen-Ordnung der Moderne entstehen. Diese sind mit besonderen Selbstverhältnissen der Subjekte als Begehrens- und Erkenntniswesen verbunden, denen die gesellschaftlichen Machtverhältnisse nur äußerlich einschränkend gegenüberzustehen scheinen. Marx analysiert die abstrakten Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise, was ihm ermöglicht, eine besondere Versachlichung und Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber den Subjekten zu erfassen und damit eine spezifische Zuspitzung des äußerlichen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu begründen. Obgleich sie jeweils sehr unterschiedliche Gegenstandsbereiche in den Blick nehmen, sehe ich eine grundlegende Gemeinsamkeit darin, dass Butler, Foucault und Marx Konzeptionen entwerfen, die weder hermetisch noch deterministisch sind, sondern vielmehr von einer inhärenten Dynamik der Strukturzusammenhänge ausgehen. Die Strukturen selbst erzeugen immer ein Moment, welches über sie hinausweist und damit das Potenzial für Veränderungen eröffnet – und zwar für Veränderungen, die durch das Handeln der Subjekte bewirkt werden. Diese Subjekte stellen dabei eine paradoxe Figur dar, denn sie erhalten ihre Handlungsfähigkeit gerade in der Unterwerfung unter die Bedingungen, zu denen sie sich dann wiederum verhalten können. Butler, Foucault und Marx stehen damit in der Tradition einer Kritik an der Vorstellung eines autonomen, überhistorischen Subjekts und gehen davon aus, dass keine Aussagen über ein allgemeines Wesen des Menschen möglich sind. Subjektivität wird vielmehr als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet. Ausgangspunkt ihrer Analysen ist daher nicht der Mensch, sondern sind vielmehr die Strukturen, die bestimmte Formen von Subjektivität hervorbringen. Eine entscheidende gemeinsame Pointe dieser drei analytischen Perspektiven besteht demnach darin, dass sie über die Rekonstruktion von Strukturzusammenhängen erfassen, inwiefern diese Strukturen be11
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stimmte Möglichkeiten verändernder Praktiken konstituieren. Wenn aber noch das oppositionelle Verhalten der Subjekte zu den Strukturen in diesen Strukturen selbst angelegt ist, dann ergibt sich daraus die Paradoxie, dass das Individuum nicht bloß als Moment von Gesellschaft in Erscheinung tritt, Individuum und Gesellschaft aber auch nicht einfach zwei getrennte Entitäten sind. Ohne an dieser Stelle näher auf die soziologische Debatte zu dieser Frage eingehen zu können,1 will ich auf einige wichtige Probleme und offene Fragen verweisen, die weiter zu bearbeitende Lücken darstellen: Sollen die oben genannten Dualismen nicht im Zuge ihrer Überwindung unter der Hand in die eine oder die andere Richtung aufgelöst werden, dann ist eine weitere Auseinandersetzung darüber notwendig, worauf die Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft verweist: Inwiefern ist es sinnvoll, analytisch zwischen einem individuellen Moment und einem sozialen Moment zu unterscheiden, und wie ist eine solche Unterscheidung ohne Rückgriff auf substanzialistische Annahmen möglich? Diese Fragen verweisen wiederum direkt auf den Geltungsanspruch, den Aussagen über den Zusammenhang von Individuellem und Sozialem erheben können/sollen: Sind diese immer partikular und nur lokal-temporal situiert möglich oder lassen sich universelle Verallgemeinerungen vornehmen? Ich gehe hier davon aus, dass es zwar sinnvoll ist, an einer analytischen Unterscheidung zwischen Individuum und Gesellschaft festzuhalten, um dynamische Momente der Veränderbarkeit des Gegebenen zu erfassen – und damit auch eine emanzipatorische Perspektive formulieren zu können. Das bedeutet jedoch nicht, dass ontologische Aussagen über zwei distinkte Entitäten möglich sind – ebenso wenig wie universalisierbare Bestimmungen von Subjektivität und Gesellschaft. Handlungsfähigkeit ist folglich nicht in einem von der Gesellschaft unberührten Kern des Individuums begründet, sondern entsteht in je spezifischer Weise in einem historischen Kontext. Daraus folgt dann wiederum, dass es keine absoluten Kriterien für menschliche Emanzipation geben kann; selbst abstrakte Konzepte, wie beispielsweise das der ›Selbstbestimmung‹ oder der ›Individualität‹, können sich nicht von dem konkreten gesellschaftlichen Gehalt, den sie in ihrem historischen Entstehungskontext angenommen haben, frei machen. Mit Butler, Foucault und Marx mache ich hier eine Kritikstrategie stark, die darin besteht, die historischen Bedingungen einer spezifischen Vernunft und einer spezifischen Subjektivität zu rekonstruieren und insofern »als kritische Ontologie unserer selbst […] als eine Haltung vorgestellt werden (muß), ein 1
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Vergleiche hierzu beispielsweise: Elias 1996; Giddens 1984; Kippele 1998; Ritsert 2000; 2001.
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Ethos […], in dem die Kritik dessen, was wir sind, zugleich die historische Analyse der uns gegebenen Grenzen ist und ein Experiment der Möglichkeiten ihrer Überschreitung« (Foucault 1990: 53). Der Maßstab der Kritik liegt also nicht in der Voraussetzung bestimmter Normen, an denen die Wirklichkeit gemessen wird, vielmehr geht es darum, die Funktionsweise und die Grenzen des Bestehenden sowie die mit ihm verbundene Gewaltsamkeit aufzuweisen. Der Vorzug dieser Strategie besteht darin, dass »wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen« (Marx 1961a: 344). Die Formulierung von Alternativen beruht insofern nicht auf normativen Projektionen, sondern auf einer ›Erfindung‹ der Möglichkeiten, die an diesen Grenzen des Bestehenden sichtbar werden, denn »there’s more hope in the world when we can question what is taken for granted, especially about what it is to be a human, which is a really fundamental question« (Butler 2004b). Allerdings bedeutet dies nicht, dass eine auf Autonomie und Selbstbestimmung des Subjekts zielende Vorstellung von Emanzipation einfach negiert werden kann; vielmehr stellt sie die Form da, in der Gesellschaftskritik und -veränderung in einer bestimmten historischen Situation möglich sind. Wenn nämlich das Subjekt und seine Handlungsfähigkeit radikal historisch sind, sind auch seine emanzipatorischen Bestrebungen und Möglichkeiten historisch. Die Problematisierung einer universalistischen Konzeption von Subjektivität ist daher weder gleichbedeutend mit der Verwerfung von Subjektivität und Handlungsfähigkeit, noch läuft sie darauf hinaus, dass eine bestimmte Form der Subjektivität lediglich als ideologisch betrachtet wird. Eine andere Welt ist möglich, weil sich Subjekte widerständig zur bestehenden Welt verhalten und diese auch gezielt verändern können. Das Gegebene ist anders möglich, darauf verweist der Begriff der Kontingenz der gesellschaftlichen Verhältnisse und Phänomene. Die konkreten Möglichkeiten eines Anderen sind aber durch das Gegebene und die darin implizierte Subjektivität präjudiziert: Die Kontingenz unterliegt bestimmten Bedingungen. Diese Bedingungen müssen genau analysiert und rekonstruiert werden, um zu klären, wer ›wir‹ sind und was ›wir‹ wollen können. Dieses ›Wir‹ erweist sich somit als ausgesprochen prekär und instabil; es muss genau expliziert werden, von welchen historisch-kulturellen Bedingungen gesprochen wird. In den Analysen von Butler, Foucault und Marx geht es um die Rekonstruktion der spezifischen Existenzbedingungen des modernen abendländischen Subjekts in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise. Es handelt sich dabei um Subjekte, die sich als autonom begreifen und nach Selbstbestimmung streben und die diese Autonomie in ihrer Individualität begründen (müssen). ›Unsere‹ Auto13
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nomie ist insofern zwar als historisch-kulturelle Konstruktion – und damit als kontingent – markiert, zugleich ist sie eine Bedingung ›unserer‹ Existenz als Subjekte: ›Wir‹ sind diese Konstruktion. Die Arbeiten von Butler, Foucault und Marx sind bereits vielfach diskutiert worden – auch im Hinblick auf die in ihnen implizierte Subjekttheorie. Sehr viel seltener sind sie allerdings bisher in einen systematischen Zusammenhang gestellt und in ihren jeweiligen Besonderheiten aufeinander bezogen worden. Mir geht es darum, über die Rekonstruktion ihres jeweiligen Gegenstands sowie der damit verbundenen analytischen Perspektive den subjekttheoretischen Gehalt der drei Theorieansätze auszureizen und an die jeweilige Grenze zu führen. Meine Rekonstruktion der Arbeiten von Butler, Foucault und Marx folgt keiner werkgeschichtlichen Darstellung, mir geht es auch nicht vorwiegend darum, theorieimmanente Probleme herauszuarbeiten und ›Verbesserungsvorschläge‹ zu machen. Vielmehr ist mir daran gelegen, den je besonderen Gegenstand ihrer Analysen und ihre spezifische Perspektive herauszuarbeiten, um sie nach ihrem analytischen Gehalt bezüglich der Frage von Subjektivität und (widerständiger) Handlungsfähigkeit zu befragen. Meine These ist, dass gerade der synoptisch-komparative Aufweis ihrer analytischen Reichweite die stillschweigenden Voraussetzungen oder analysestrategischen Auslassungen der einzelnen Perspektiven sichtbar machen kann. Diese stillschweigenden Voraussetzungen oder analysestrategischen Auslassungen sehe ich daher auch nicht als Lücken im jeweiligen Theoriegebäude, sondern, wie gesagt, vielmehr als deren Grenzen. In der Diskussion von Butler, Foucault und Marx geht es mir also nicht darum, dass diese sich widersprechen oder korrigieren. Vielmehr interessieren mich ihre ›Punkte der Häresie‹ (Balibar 2004), an denen sich die jeweiligen Perspektiven und Schwerpunktsetzungen im Hinblick darauf zuspitzen lassen, was sie zu einem erweiterten Verständnis von Subjektivität und Handlungsfähigkeit in einer bestimmten historischen Situation beitragen können. Ich möchte deutlich machen, dass wichtige Erkenntnisgewinne gerade dadurch ermöglicht werden, dass die jeweiligen Perspektiven in ihrer Eigenständigkeit und ihrer analytischen Unabhängigkeit bewahrt werden. Denn dadurch können die (nur analytisch zu differenzierenden) Momente von symbolischer Ordnung, Macht-Wissen-Ordnung und kapitalistischer Produktionsweise in ihrer konstitutiven Bedeutung für Subjektivität und Handlungsfähigkeit aufeinander bezogen werden, ohne sie reduktionistisch zu verkürzen.
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1.2 Die feministischen Debatten als paradigmatisches Verhandlungsfeld Für eine paradigmatische Verhandlung dieser Fragen bietet sich das diskursive Feld des Feminismus geradezu an. Viele der Problematisierungen, an die ich anknüpfe, wurden und werden in diesem Rahmen entwickelt. So gehen wichtige Impulse der Kritik an der universalistischen Subjektkonzeption der Aufklärung vom Feminismus aus. Indem die Konstruktion des bürgerlichen Subjekts in seiner Verkürzung als Mann aufgedeckt wurde, konnte der Ausschluss der Frauen oder des Weiblichen aus dem allgemein Menschlichen und damit aus dem Subjektstatus kritisiert werden. Als Kind der Moderne bewegte sich die feministische Kritik allerdings zunächst innerhalb dieses Referenzrahmens, thematisiert die Verkürzung und Vereinseitigung des Subjekts als Mann und drang auf die Einbeziehung und Anerkennung der Frau. Eine emanzipatorische Perspektive zielt vor diesem Hintergrund darauf, dass das Subjekt ›Frau‹ sich seiner Situation, seiner Wünsche und Ziele bewusst wird und aktiv auf die Befreiung aus patriarchaler Unterdrückung hinwirken kann.2 Dieses spezifische epistemische Feld der Verhandlungen ist innerhalb der feministischen Debatte selbst wiederum zum Gegenstand reflexiver Bearbeitung geworden. In den neueren Debatten wird der von der Moderne aufgespannte Referenzrahmen, der durch bestimmte Prämissen über das Subjekt, über das Verhältnis von Natur und Kultur sowie durch eine bestimmte Organisation von Kategorien gebildet wird, zum Gegenstand kritischer Diskussionen. Dabei konnte deutlich gemacht werden, dass dieser Referenzrahmen die (kritischen) Fragen, die gestellt werden können, sowie die Lösungen, die gesucht werden, vorgibt und begrenzt. Im Zuge dieser kritischen Hinterfragung des eigenen Referenzrahmens haben wichtige Kategorien der feministischen Debatte wie Geschlechterdifferenz, Frau, Mann in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen Hinsichten ihre Eindeutigkeit und Selbstverständlichkeit verloren. Einen wesentlichen Anstoß zu dieser Diskussion gaben kritische Interventionen, die spätestens seit den 1970er Jahren auf die westlichen und/oder heteronormativen Prämissen des Feminismus hinweisen 2
Gewiss, eine solche Erzählung verbleibt insofern an der Oberfläche, als innerhalb des Feminismus noch nie Einigkeit über Emanzipationsvisionen bestanden hat; weder im Hinblick auf das Subjekt noch im Hinblick auf die Ziele (vgl. beispielsweise Hark 2005). Eine Zuspitzung dieser Auseinandersetzungen stellt die Unterscheidung von Gleichheit oder Differenz als normativen Leitbegriffen feministischer Politik dar; für eine detaillierte Darstellung dieses Spannungsfeldes siehe Maihofer 1997. 15
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und damit auch die vermeintliche Einheit der Kategorie Frau hinterfragen, indem sie sie als hegemoniale Verallgemeinerung der sozialen Position der weißen, heterosexuellen Mittelschichtsfrau offenlegen.3 Diese Kritik an der Vereinheitlichung spezifischer Erfahrungen und Lebensbedingungen einiger Frauen als universell weibliche und die daraus hervorgehende Betonung der Situiertheit und Kontextualität von Wissen, Erfahrung und Identitätsbildung machen die Fragwürdigkeit eines universellen feministischen Subjekts und der auf diesem beruhenden feministischen Repräsentationspolitik deutlich. Die feministische Skepsis gegenüber ›großen‹, universalistischen Theorieentwürfen, die sich bei kritischer Betrachtung als partikulare (männliche) Perspektiven erwiesen haben, erfährt auf diese Weise eine gewisse Verschärfung. Neben der Problematisierung von Kategorien wie Geschlecht, Mann, Frau werden auch feministische Konzeptionen, wie beispielsweise das Patriarchat, als universalisierende Großentwürfe zurückgewiesen. In der Folge stellt sich allerdings die Frage, worin dann letztendlich der gemeinsame (normative) Bezugspunkt feministischer Gesellschaftskritik bestehen könnte.4 Die Auseinandersetzung befindet sich in einer gewissen Pattsituation, die sich in (mindestens) zwei Dilemmata differenzieren lässt: Erstens stellt sich die Frage, wie die theoretische Annahme der sozialen Konstruiertheit von Geschlecht für eine Analyse der gesellschaftlichen Realität der Geschlechterungleichheit nutzbar gemacht werden kann, ohne durch die dafür benötigten Kategorien wiederum die Differenz zu homogenisieren und festzuschreiben. Zweitens wirft die Kritik an der Einheitlichkeit und Autonomie des Subjekts das Problem auf, wie eine gesellschaftskritische Perspektive ohne normativen Bezug auf ein aufgeklärtes oder zumindest der Aufklärung fähiges Subjekt möglich ist. Um an diesen Fragen weiter zu arbeiten, greife ich im Folgenden die Vorschläge Butlers auf, emanzipatorische Ziele nicht durch Rückgriff auf gegebene Bedürfnisse, auf natürliche Anlagen oder ein menschliches Wesen zu bestimmen, sondern vielmehr den Blick auf die Kosten und Beschränkungen spezifischer Subjektivitätsformen zu richten und Emanzipation als Realisierung anderer Formen zu denken. Die Diskussion der drei Perspektiven auf Subjektivität und Handlungsfähigkeit mit Butler zu beginnen, wird jedoch nicht allein durch das paradigmatische Verhandlungsfeld des Feminismus nahegelegt. Auch vom Gegenstand – Subjektivität und Handlungsfähigkeit – her betrachtet ist 3 4
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Exemplarisch: bell hooks (1984); Adrienne Rich (1989). Zu dieser Debatte siehe beispielsweise das von Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell und Nancy Fraser (1993) herausgegebene Buch Der Streit um Differenz, in dem diese ihre unterschiedlichen Positionen in einer Art schriftlichem Streitgespräch gegenüberstellen.
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es sinnvoll, Butlers Perspektive an den Anfang zu stellen, da sie ihre Analysen am explizitesten am Subjekt und seiner Handlungsfähigkeit ansetzt. Sie fragt nämlich auf der Ebene der psychischen Dynamiken, wie Handlungsfähigkeit als Wille zum Widerstand genau in der Unterwerfung unter gesellschaftliche Strukturen entstehen kann. Mit Butler lässt sich begreifen, wie die Handlungsfähigkeit der Subjekte durch die symbolisch strukturierte Form der Identität bedingt und konfiguriert ist. Als Grenze dieser Perspektive arbeite ich heraus, dass Butlers Blick auf die normativ-symbolische Konstitution vergeschlechtlichter Subjekte letztlich zu abstrakt bleibt, so dass sie die Subjekte und ihre Handlungsfähigkeit nicht hinreichend gesellschaftlich-historisch situieren kann. Butler selbst betont zwar immer wieder die historische Spezifik ihrer Analysen, sie verweist in diesem Zusammenhang auf Foucault sowie (sehr viel vermittelter) auf Marx, geht dieser Frage jedoch nicht systematisch nach. Ich greife diese von ihr gelegten Spuren auf und erarbeite in drei Hauptkapiteln (Kapitel 2, 4, 6) die unterschiedlichen analytischen Perspektiven von Butler, Foucault und Marx im Hinblick auf die Frage der Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit. Dabei setze ich sie ins Verhältnis zueinander und versuche die jeweiligen Erkenntnishorizonte miteinander zu konfrontieren. Die Reihenfolge impliziert dabei keine Gewichtung oder Wertung – so soll beispielsweise nicht nahegelegt werden, dass eine gesellschaftstheoretische Fundierung in letzter Instanz erst durch Marx erfolgt. Keine der drei Perspektiven ist im Hinblick auf meine Fragestellung wichtiger oder grundlegender als die anderen, sie beziehen sich vielmehr jeweils auf unterschiedliche Dimensionen, deren Untersuchung ›uns‹ über ›unser‹ In-der-Welt-Sein informieren kann. Gerade im häretischen Verhältnis dieser drei Perspektiven lässt sich der paradoxe Zusammenhang von Totalität und Vielfältigkeit, der meines Erachtens kennzeichnend für die spezifische Dynamik moderner kapitalistischer Gesellschaften ist, erfassen. Um das Zusammenspiel der unterschiedlichen Ebenen oder Dimensionen der Analysen deutlich zu machen, diskutiere ich in drei Zwischenkapiteln (Kapitel 3, 5, 7) resümierend deren Erkenntnisgewinn sowie ihre spezifischen Grenzen im Hinblick auf (feministische) Gesellschaftskritik und emanzipatorische Strategien. Dabei geht es mir darum, eher in Form von Gedankenspielen die zuvor angestellten theoretischen Überlegungen zu konkretisieren. Diese Kapitel stellen also kein reines Zwischenfazit dar, sie erheben aber auch nicht den Anspruch rigoroser Analysen, sondern sind eben ›Zwischenspiele‹, in denen Linien des Weiterdenkens mit den systematisch rekonstruierten analytischen Werkzeugen skizziert werden. Bei aller Systematik kann das Ziel einer sol17
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chen Rekonstruktion von Analysewerkzeugen nicht im Aufbau eines abgeschlossenen Theoriegebäudes bestehen. Wenngleich die Arbeit im Hinblick auf die in ihr verfolgte Absicht mit einem ›Finale‹ endet, ist damit also keinesfalls ein Endpunkt erreicht, sondern allenfalls eine Grundlage, auf der weitere Fragen aufgeworfen werden können. Über ›unser‹ Sein und ›unser‹ Wollen müssen ›wir‹ uns immer wieder Rechenschaft ablegen – dieser Prozess der beständigen kritischen Befragung ist gewissermaßen das ›Wesen‹ emanzipatorischer Bestrebungen.
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2. J U D I T H B U T L E R : D I E D I S K U R S I V E HERVORBRINGUNG INTELLIGIBLER SUBJEKTE
Butler, Foucault und Marx repräsentieren drei unterschiedliche analytische Perspektiven einer Rekonstruktion der spezifischen Form des modernen abendländischen Subjekts. Die Auseinandersetzung mit den Arbeiten Judith Butlers stellt die erste Etappe meiner Rekonstruktion der drei analytischen Perspektiven dar. Butler hinterfragt in ihrem genealogisch-dekonstruktiven Verfahren den humanistischen Subjektbegriff und erarbeitet ein analytisches Programm, in dessen Licht Subjektivität und Handlungsfähigkeit als Effekt der Normen der symbolischen Ordnung erscheinen. Butler geht nicht davon aus, dass die Person, das ›Ich‹, der Ursprung von Handlungsfähigkeit ist, vielmehr fragt sie nach den normativen Bedingungen, die eine Person als handlungsfähiges ›Ich‹ überhaupt erst hervorbringen. Diese theoretische Perspektive ist bei Butler zudem mit einem politischen und ethischen Projekt verknüpft, da sie immer auch die Frage impliziert, wie jene Normen, die bestimmte Subjekte und ihre Handlungsfähigkeit hervorbringen, zugleich andere vom Status eines Subjekts ausschließen. Da Normen immer sowohl einen konstitutiven als auch einen ausschließenden, verwerfenden Effekt haben, können sie nicht einfach als positiver Bezugspunkt emanzipatorischer Bestrebungen dienen. Butlers gesellschaftskritische Perspektive richtet sich vielmehr auf die Inkohärenzen und die von den symbolischen Normen konstituierten Bereiche des Unaussprechlichen, die als »Riss im Gewebe unseres epistemologischen Netzes« (Butler 2002: 253) zum Ansatzpunkt für eine widerständige Praxis werden können. Butlers Konzepte und Thesen haben lebhafte Debatten ausgelöst, wobei sich eine zentrale Auseinandersetzung um die Frage dreht, inwie19
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fern ihre Position als Diskursmonismus oder als linguistischer Idealismus zu verstehen ist. Diese Kontroverse lässt sich teilweise auf Missverständnisse zurückführen – so geht beispielsweise die Lesart, dass Butler Materialität oder gar die Existenz der Körper leugne, an ihren expliziten Aussagen und Konzeptionen vorbei (vgl. Tuider 2003; Wachter 2001). Berechtigung haben kritische Einwände aber, insofern sie Butlers Fokus auf die Dimension des Symbolisch-Normativen unter dem Aspekt der Limitierung von Erkenntnismöglichkeiten problematisieren und damit das Problem der gesellschaftstheoretischen Fundierung ihrer Analysen aufwerfen. Andrea Bührmann fasst diese Linie der Diskussion folgendermaßen zusammen: »Kritisiert wird, dass Butler die historischen Bedingungen der Bezeichnungspraxen nicht untersuche und die makrosozialen Aspekte dieser Praxen vernachlässige. Vielmehr ontologisiere sie Macht, Diskurs und Kultur zu Instanzen, die sie weder kontextualisiere noch historisiere. Da ihre Analyse nicht die Ebene der Diskurse verlasse, komme es zu einer Reduktion der gesellschaftlichen Prozesse, anstatt das Zusammenspiel von Handlung und Struktur, Individuum und Gesellschaft zu analysieren. Dies führe dazu, dass der komplexe, widersprüchliche Charakter der Geschlechterverhältnisse und ihr Wandel ausschließlich aus der Eigengesetzlichkeit der Diskurse erklärt werden könne. Unreflektiert aber bleibe dann, dass das Geschlechterverhältnis in seinen spezifischen Organisationsformen nicht nur etwas diskursiv Hervorgebrachtes, sondern auch etwas innerhalb von sozialen Macht- und Herrschaftsverhältnissen Gewordenes sei: Die Konstruktion der Geschlechterdifferenzen würden nicht auf die Konstellationen von Geschlechterverhältnissen bezogen, so dass es zur Vernachlässigung einer gesellschaftstheoretischen Dimension komme.« (Bührmann 2004: 17f)
Ich zitiere Bührmann in dieser Ausführlichkeit, da sie hier den Strang der kritischen Debatten wiedergibt, an den ich anschließen möchte: Mir geht es ebenfalls um die Problematik der gesellschaftstheoretischen Fundierung von Butlers Konzeption. Allerdings enthält die Kritik, wie sie in diesem Zitat formuliert ist, Gegenüberstellungen, die sich so nicht aufrechterhalten lassen: zum einen die Annahme, Butlers Blick auf diskursive Bezeichnungspraxen schließe den Bezug auf »die makrosozialen Aspekten dieser Praxen« aus, und zum anderen die Annahme, auf der »Ebene der Diskurse« könne das »Zusammenspiel von Handlung und Struktur, Individuum und Gesellschaft« nicht thematisiert werden. Wie ich deutlich machen möchte, erfasst Butler mit ihrer Rekonstruktion der symbolischen Strukturen des Diskurses durchaus makrosoziale Aspekte und zielt mit ihrer Konzeption von Performativität genau auf das Zusammenspiel von Struktur und Handeln. Auch der Vorwurf, Butler un20
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tersuche die historischen Bedingungen der Bezeichnungspraxen nicht, muss zumindest modifiziert werden. Ich argumentiere, dass eine historische Verortung integraler Bestandteil ihrer Thesen ist, dass ihre Analysen nur vor dem Hintergrund einer solchen Fundierung verständlich werden. Gerade in aktuelleren Veröffentlichungen macht sie deutlich, dass sie ihre Analysen historisch verortet und auf moderne oder spätmoderne Phänomene bezieht (Butler 1999a; Butler 2004a). Mir geht es also darum zu zeigen, dass Butler durchaus als Gesellschaftstheoretikerin zu lesen ist, insofern sie einen gesellschaftstheoretischen Beitrag zur Frage der sozialen Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit leistet. Dieser Beitrag zeichnet sich durch eine spezifische Erkenntnisperspektive aus, deren Erkenntnismöglichkeiten – und Grenzen – ich im Folgenden herausarbeite. Butler entwirft eine analytische Perspektive, die von der Unmöglichkeit eines kohärenten Subjekts ausgeht, ohne jedoch die historische Realitätsmächtigkeit einer solchen Form der Subjektivierung zu leugnen. Sie setzt sich damit zugleich kritisch mit der Annahme auseinander, dass Theorie und Politik ein bestimmtes Subjekt voraussetzen müssen, und fragt stattdessen nach historischen Bedingungen, die es überhaupt ermöglichen, von einem politisch handelnden Subjekt zu sprechen. Es geht ihr bei der Frage nach diesen Bedingungen allerdings weniger um die soziale Positioniertheit des Subjekts (als Mittelschichtsfrau, als Wissenschaftlerin o.ä.), ihre Pointe ist vielmehr, dass es ein Subjekt, das seiner Positionierung vorgängig wäre, gar nicht gibt. Das ›Ich‹ ist nicht einfach situiert, es wird vielmehr durch diese strukturelle Position erst konstituiert. Der Horizont, in dem wir handeln, ist die Bedingung der Möglichkeit unserer Handlungsfähigkeit und nicht nur deren Schauplatz: »Das Subjekt weist nicht erst eine intakte ontologische Reflexivität auf und ist dann in einem zweiten Schritt in einem kulturellen Kontext situiert. Vielmehr ist dieser kulturelle Kontext sozusagen immer schon da als der disartikulierte Prozess der Konstruktion des Subjekts.« (Butler 1993a: 44) Genau dieser Aspekt, dass das Subjekt durch seine Situiertheit in Machtverhältnissen konstituiert ist, wird jedoch, so Butler, in der Vorstellung des Subjekts verleugnet und es scheint, als würden handlungsmächtige Subjekte den gesellschaftlichen Verhältnissen äußerlich gegenüberstehen.1 Butler nimmt also in den sozialwissenschaftlichen
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»Als Subjekt der Macht (wobei der Genitiv sowohl das ›Zugehören‹ zur Macht wie die ›Ausübung‹ der Macht bezeichnet) verdunkelt das Subjekt seine eigenen Entstehungsbedingungen; es verschleiert Macht mit Macht. Die Bedingungen ermöglichen nicht nur das Subjekt, sie gehen auch in die Formung des Subjekts ein. Sie werden vergegenwärtigt in den Handlun21
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und philosophischen Debatten um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft eine dezidierte Position ein, indem sie das handlungsfähige Subjekt als immer schon gesellschaftlich konstituiert auffasst und damit die Annahme eines (vermeintlich vorgesellschaftlichen) individuellen Kerns ablehnt – weil diese Annahme notwendig spekulativ ist und unproduktive, unbeantwortbare Fragen nach dem Verhältnis von Natur und Kultur aufwirft. Dennoch möchte ich – gerade angesichts zahlreicher kritischer Einwände gegen Butlers Subjekttheorie – betonen, dass sie keineswegs annimmt, es gebe keine Subjekte und alles ›Geschehen‹ sei quasi nur Effekt der Strukturen. Vielmehr grenzt sie sich von der humanistischen Voraussetzung eines universellen, selbstidentischen Subjekts ab,2 indem sie davon ausgeht, dass das Subjekt keine Substanz ist, keinen letzten Ursprung hat und keine überhistorische Wahrheit besitzt, sondern vielmehr als Effekt von Prozessen der Bedeutungszuschreibung innerhalb eines offenen Systems diskursiver Möglichkeiten zu verstehen ist. Emanzipatorisches Handeln kann damit weder seine normative Grundlage in der Befreiung eines universellen Subjekts finden, noch kann es auf einer subjektiven, den gesellschaftlichen Bedingungen vorgängigen und damit äußerlichen Handlungsfähigkeit beruhen. In der Rezeption wird vor allem diese Kritik an humanistischen Konzeptionen hervorgehoben (Lorey 1996; Hauskeller 2000; Engel 2001), dabei besteht jedoch die Gefahr, dass Butlers Subjekttheorie auf eine negative Subjektkritik reduziert wird. Butler geht aber davon aus, dass die Betonung der Kontingenz dieses besonderen Subjekts nicht bedeutet, dass seine Wirklichkeit und Realitätsmächtigkeit bestritten werden müsste – vielmehr betrachtet sie es als historische Singularität. Dadurch setzt sie es als (historisch) realen Bezugspunkt ihrer Geschlechtertheorie voraus. Hier setzt jedoch meine Kritik ein, da Butler die analytische Tragweite dieser Voraussetzung nicht ausreichend reflektiert. Dass sie sich in ihren Analysen auf die spezifische Gestalt des modernen Subjekts bezieht, wird von Butler zwar – vor allem in neueren Publikationen – immer wieder hervorgehoben. Meist wird dieser wichtige Aspekt jedoch lediglich implizit mittransportiert3 und bleibt auch dort, wo er explizit thematisiert wird,
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gen dieser Formung und in den auf sie folgenden Handlungen des Subjekts.« (Butler 2001a: 18) Inwiefern Butler ihre Kritik an der Vorstellung eines kohärenten Subjekts konsequent durchhält, ist allerdings umstritten (vgl. zu dieser Debatte beispielsweise Annuß 1998; Krüger 2001; Engel 2002). Deutlich wird dies beispielsweise durch ihren Verweis auf soziologische Debatten um den Begriff der Person, die eindeutig eine historische Verortung und Veränderung dieses Konzepts voraussetzen (Butler 1991: 37).
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zu wenig ausgearbeitet. Dies markiert eine Grenze ihrer Argumentation, denn Butlers Feststellung, dass die Identität dieses Subjekts »durch die stabilisierenden Konzepte ›Geschlecht‹ (sex), ›Geschlechtsidentität‹ (gender) und ›Sexualität‹ abgesichert wird« (Butler 1991: 38), führt ohne eine solche historische Verortung letztlich genau zu einem von ihr eigentlich abgelehnten Universalismus, der diese Verknüpfung als Effekt von Kultur schlechthin setzt. Die spezifische Bio-Logik (Oyĕwùmí 1997) moderner abendländischer Kulturen, die sex, gender und Sexualität in ein bestimmtes und kontinuierliches Verhältnis setzt, indem sie »ursächliche oder expressive Verbindungslinien zwischen dem biologischen Geschlecht, den kulturell konstituierten Geschlechtsidentitäten und dem ›Ausdruck‹ oder ›Effekt‹ beider in der Darstellung des sexuellen Begehrens in der Sexualpraxis« herstellt (Butler 1991: 38), erscheint ohne diese genauere Bestimmung und Kontextualisierung als universelle Struktur (vgl. auch die Kritik von Oyĕwùmí 1998). In diesem Kapitel geht es mir vorrangig darum, Butlers Perspektive in ihrem Erkenntnisgehalt bezüglich der sozialen Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit zu rekonstruieren. Dabei mache ich zugleich deutlich, dass Butlers Analysen explizit auf eine Historisierung ihres Gegenstands zielen. Im ersten Abschnitt diskutiere ich die spezifische Analyseebene Butlers, die sich auf die normativ-diskursive Konstitution des Subjekts richtet. Mit der symbolischen Ordnung fokussiert sie einen Strukturzusammenhang, dessen Rekonstruktion die historischen Bedingungen der Identität und Intelligibilität der Subjekte erfassbar macht. Zugleich begründet Butler, dass diesen Strukturen eine Dynamik immanent ist, die als solche schon Möglichkeit von Veränderung ist und damit auch zum Ansatz einer gesellschaftskritischen Perspektive werden kann. Im zweiten Abschnitt gehe ich dann der Frage nach, wie Butler trotz ihrer Kritik am autonomen Subjekt daran festhalten kann, dass Subjekte durchaus auch im emphatischen Sinne widerständig sein, also gegen jene Bedingungen, die ihr Dasein und ihre Handlungsfähigkeit überhaupt erst ermöglichen, Widerstand leisten können. Auf die analytischen Grenzen von Butlers Perspektive weise ich in diesem Kapitel zunächst nur hin, um sie dann im dritten Kapitel ausführlicher zu diskutieren und dort auch die Anschlussstellen an die Foucault’sche Perspektive zu öffnen.
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2.1 Die normativ-diskursive Konstitution des Subjekts Im Folgenden geht es mir darum, Butlers besondere Erkenntnisperspektive näher zu beleuchten, die sich zunächst so umreißen lässt, dass sie das Subjekt als linguistische Form begreift. Der Fokus liegt also auf den sprachlich-symbolischen Strukturen, die spezifische Subjektivitäten hervorbringen. Da sie diese konstitutiven Strukturen der symbolischen Ordnung als Gefüge historischer Normen begreift, denen eine spezifische Dynamik inhärent ist, eröffnet Butler die Möglichkeit der Historisierung des Subjekts. Indem sie das Konzept der Performativität aufgreift, kann sie Identitäten als Effekte von Diskurspraktiken erfassen und damit sowohl essentialistische als auch strukturdeterministische Konzeptionen vermeiden. Handelnde Subjekte gehen diesen performativen Prozessen nicht als Wesen mit bestimmten Eigenschaften voraus, vielmehr bringen sie ihre Identität hervor, indem sie sich performativ auf eine ihnen vorgängige soziale Ordnung beziehen. Aus dieser Perspektive ist eine kohärente und kontinuierliche Identität nicht deskriptives Merkmal der Persönlichkeit, sondern vielmehr eine normative Voraussetzung der Intelligibilität. Damit steht Butler in der Tradition einer feministischen Kritik am autonomen bürgerlichen Subjekt, vertritt diese jedoch in einer radikalen Form: Sie fragt nach den Bedingungen, unter denen die Vorstellung eines mit sich selbst identischen, handlungsfähigen Subjekts überhaupt erst entsteht. Butler betrachtet die Logik der Subjekt-Objekt-Dichotomie und die damit einhergehende Reifizierung des Selbst als autonomes Subjekt als eine historische Erscheinung, die unter dem Aspekt ihrer Konstruktionsprinzipien sowie ihrer (problematischen) Wirkungen untersucht werden muss. Ihre allgemeinen analytischen Überlegungen zur Subjektkonstitution durch linguistische Formen konkretisiert Butler am Beispiel der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit. Damit leistet sie einen genuin gesellschaftstheoretischen Beitrag zum Verständnis der Konstruktion und Kontextualität von Geschlecht. Sie macht einen Vorschlag, wie Geschlecht als Strukturkategorie gedacht werden kann, ohne die prinzipielle Binarität dieser Konstruktion einfach als gegeben vorauszusetzen oder als geschlossene Struktur zu reproduzieren. Verbunden ist damit auch eine spezifische Perspektive der Gesellschaftskritik: Kann sich diese nicht auf vorgängige Subjekte berufen, dann stehen ihr auch keine allgemeinen normativen Grundlagen zur Verfügung. Da das Subjekt seine Handlungsfähigkeit erst in der Unterwerfung unter heteronome Bedingungen erhält, kann emanzipatorisches Handeln nicht in der Fähigkeit des Subjekts begründet sein, sich von Heteronomie frei zu ma24
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chen. Vielmehr ist emanzipatorisches Handeln eine kollektive Arbeit an den Bedingungen der Heteronomie mit dem Ziel einer Erweiterung der Lebensoptionen. Die Praxis dieser Erweiterung fasst Butler aus ihrer analytischen Perspektive als dekonstruktive Verschiebung von Normen. Um Butlers besondere Perspektive auf die Subjektkonstitution durch linguistische Formen und die damit verbundenen spezifischen Modalitäten von Handlungsfähigkeit genauer zu erfassen, beleuchte ich in diesem Abschnitt in einem ersten Schritt zunächst den besonderen Strukturzusammenhang, den sie dabei in den Blick nimmt. Indem sie das von Jacques Lacan übernommene Konzept der symbolischen Ordnung mit dem an Foucault angelehnten Begriff der Macht-Diskurs-Regime verknüpft, kann sie einen abstrakten Strukturzusammenhang erfassen, der allen gesellschaftlichen Bedeutungskonstruktionen zugrunde liegt, der zugleich jedoch historisch dynamisch und damit prinzipiell veränderbar ist. Diesen Zusammenhang konkretisiere ich in einem zweiten Schritt an Butlers genealogischer Rekonstruktion der besonderen historischen Strukturen, durch die die Subjekte als geschlechtliche erscheinen, durch die also die Geschlechterdifferenz zutiefst in das Dasein der Individuen als Subjekte eingelassen ist. Im dritten Schritt zeichne ich die den Strukturen inhärente Dynamik genauer nach, indem ich Butlers Bezug auf die Konzepte von Performativität und Iterabilität rekonstruiere. Im vierten Schritt stelle ich Butlers besondere Strategie der Gesellschaftskritik dar. Dabei soll die Bedeutung ihrer spezifischen, auf diskursive Strukturen gerichteten Perspektive für widerständige Praxis deutlich werden; zugleich eröffnet sich die weiterführende Frage, welche Motive Subjekte für eine solche Praxis haben könnten. Dies ist dann Thema des zweiten Teils dieses Kapitels.
2.1.1 Die symbolische Ordnung als historischdynamischer Strukturzusammenhang In Butlers Analysen haben Diskurse einen zentralen Stellenwert, da sie ein je historisch-spezifisches Wissen über die Wirklichkeit hervorbringen und damit regeln, was in welcher Weise denkbar – und damit möglich – erscheint. Butler bezieht sich dabei auf Foucaults Annahme, dass dieses Wissen den gesellschaftlichen Machtverhältnissen nicht äußerlich gegenübersteht, sondern vielmehr deren Effekt und Voraussetzung ist: »Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt«
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(Foucault 1978: 55).4 Während Foucault die Verschränkung von diskursiven und institutionellen Praktiken im Hinblick auf ihre Machtwirkungen untersucht, bezieht Butler ihre Analysen vor allem auf die sprachlich-diskursive Dimension von Macht. Butler operiert dabei mit einem Begriff des Diskurses, der von dem der Sprache insofern abzugrenzen ist, als er eine geregelte, organisierte Sprache bezeichnet, also »eine(n) strukturierten Zusammenhang gemeinhin anerkannter Aussagemodi« (Wachter 2001: 64). Zur Benennung dieses sprachlich-symbolischen Strukturzusammenhangs finden sich bei Butler zwei Bezeichnungen: Neben dem Konzept der Macht-Diskurs-Regime verwendet sie den Begriff der symbolischen Ordnung. Allerdings sind diese Konzepte nicht deckungsgleich, denn während sich die symbolische Ordnung bei Lacan auf das System der Sprache bezieht, bezeichnet Foucault mit Macht-Diskurs-Regimen je spezifisch historische Verknüpfungen von Diskursen mit gesellschaftlichen Materialisierungen (Techniken, Instrumenten, Institutionen, Architektur und dergleichen) zu spezifischen Machtdispositiven.5 Da sich Butler diesen Unterschied zunutze macht, um mit Foucault die historische Spezifik der symbolischen Geschlechterordnung zu betonen, gehe ich hier auf das analytische Verhältnis von symbolischer Ordnung und historischen Macht-Diskurs-Regimen etwas genauer ein. In Butlers Erweiterung der Foucault’schen Macht- und Subjektanalysen durch den Bezug auf psychoanalytische Konzepte6 sehe ich zwei erkenntniserweiternde Effekte: Zum einen kann Butler auf diese Weise die psychische Dimension der Subjektkonstitution näher ausloten (dies diskutiere ich im zweiten Teil dieses Kapitels). Zum anderen kann Foucaults These, dass Macht und Wissen in historischen Formationen zwar konstitutiv verschränkt, aber dennoch nicht deckungsgleich sind, im Hinblick auf die heteronormative Zweigeschlechtlichkeit weiter aufgeschlüsselt werden. Es lässt sich so erfassen, dass die symbolische Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit im abendländischen Kulturkreis ein 4 5
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Foucaults Verständnis der konstitutiven Verschränktheit von Wahrheit und Macht wird im 4. Kapitel ausführlicher dargestellt. Foucaults Analyse der Machtdispositive und deren Relevanz für die Frage der gesellschaftlichen Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit diskutiere ich im 4. und 5. Kapitel; dort wird auch die These, dass Butlers Analysen eine eigenständige Erkenntnisperspektive bieten, wieder aufgegriffen. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit Butlers Rezeption verschiedener Richtungen der Psychoanalyse ist hier nicht mein Thema. Zu verschiedenen Aspekten von Butlers Rezeption psychoanalytischer Konzepte vgl. beispielsweise McNay 2000; Campbell 2001; Soiland 2004; BeckerSchmidt 2007.
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Wissen über die Geschlechter strukturiert, das zwar konstitutiv in moderne Machtverhältnisse eingelassen, zugleich aber diesen historisch vorgängig und damit analytisch von ihnen zu unterscheiden ist. So verweist die Differenz von Männern und Frauen auf eine symbolische Dichotomie, die sich bis in die abendländische Antike zurückverfolgen lässt. Dennoch hat diese Dichotomie in verschiedenen historischen Epochen eine sehr unterschiedliche Bedeutung. Sie kann daher zugleich als historisches Erbe und spezifische Erfindung der abendländischen Moderne und ihrer besonderen Machtdispositive begriffen werden.7 Die symbolische Ordnung der Geschlechterdifferenz (Butler bezieht sich auf Irigarays Konzept der différence sexuelle) stellt in der abendländischen Moderne – als eine dieser Epoche zugehörige und daher epochenspezifisch zu analysierende Formation – eine normative Struktur dar, die in die historischen Formen von Subjektivität, Sexualität, Begehren, Körper … eingeschrieben ist. Sie ist damit fundamental in die von Foucault analysierten Macht-Wissen-Verhältnisse eingelassen, ohne jedoch in einem essenziellen Sinn ›fundamental‹ zu sein: »Sexual difference is not a given, not a premise, not a basis on which to build feminism; it is not that which we have already encountered and come to know; rather as a question that prompts a feminist enquiry, it is something that cannot quite be stated, that troubles the grammar or the statement, and that remains, more or less permanently, to interrogate.« (Butler 2004a: 178)8
Hier wird bereits deutlich, was ich im Folgenden an dem Verhältnis der Konzepte von symbolischer Ordnung und Macht-Wissen-Regimen diskutieren will: Butler geht es darum, mit der symbolischen Geschlechterordnung auf einer abstrakten Ebene den Grund für die Zweigeschlechtlichkeit der Subjekte zu erfassen und diesen Grund zugleich als historisch auszuweisen. Butler betont also die Bedeutung einer Historisierung dieses symbolischen Strukturzusammenhangs und setzt sich daher kritisch mit universalistischen Setzungen der Psychoanalyse auseinander. Bei Lacan bezeichnet das Symbolische die linguistischen Strukturen, die die universellen Bedingungen für die kommunikative Funktion von Sprache darstellen. Diese sind zugleich unhintergehbare Voraussetzung der Sub-
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Historisch wird dieser Zusammenhang beispielsweise von Claudia Honegger (1991) und Thomas Laqueur (1992) rekonstruiert. Ausführlicher gehe ich darauf im 5. Kapitel ein. »Irigaray makes clear that sexual difference is not a fact, not a bedrock of any sorts, and not the recalcitrant ›real‹ of Lacanian parlance. On the contrary, it is a question, a question of our times.« (Butler 2004a: 177) 27
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jektbildung. Erst und nur indem sich die Individuen in diese Ordnung einfügen, können sie als intelligible Subjekte in soziale Interaktionen treten. Zentrales Strukturmoment dieser Ordnung ist das Gesetz des Vaters; Lacan erfasst damit die für ihn entscheidende Rolle des Phallus, der als der erste Signifikant des Symbolischen »das abgrenzende und ordnende Prinzip für das Bezeichenbare« ist (Butler 1997a: 118). Im ›Namen des Gesetzes‹ (nom-du-père) bringt der Vater (hier nicht als empirische Person, sondern als Repräsentant des Symbolischen verstanden) der Symbiose von Mutter und Kind ein ›Nein‹ (non-du-père) entgegen und befreit damit »das Subjekt aus den imaginären Umgarnungen, in denen es sich im Liebesanspruch mit der Mutter verfangen hat« (Pagel 2002: 101). Der Ödipuskomplex spielt dabei eine regulierende Rolle, indem er dem Begehren sozial lebbare Formen vorgibt. In dieser strukturellen Konzeption bezieht sich Lacan auf die Untersuchungen von Claude Lévi-Strauss, der die Existenz des Inzesttabus als grundlegende (kulturelle) Struktur menschlicher Gesellschaften konstatierte. Für Lacan gilt diese Struktur entsprechend »nicht nur für eine bestimmte Kultur zu einer bestimmten Zeit, sondern sie ist das Kulturstiftende schlechthin« (Pagel 2002: 100). Obgleich in dieser strukturalistischen Perspektive zwischen der (leeren) Form und den empirischen Erscheinungen unterschieden wird – wer also wie die strukturelle Position des ›Vaters‹ einnimmt, ist damit nicht festgelegt –, wendet Butler kritisch ein, dass eine solche Annahme abstrakter, transzendentaler Formen sich nicht völlig vom konkreten Inhalt lösen kann, vielmehr werde der soziale Gehalt im Prozess der Abstraktion verleugnet: »The formal character of this originary, pre-social sexual difference in its ostensible emptiness is accomplished precisely through the reification by which a certain idealized and necessary dimorphism takes hold.« (Butler 2000: 145) Der quasi transzendentale Status der Form fungiert daher als nicht thematisierbare Norm; heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit und alle damit verbundenen Fragen der Existenzweise (normalisierte Begehrensmuster, der Status von Trans- und Intersexuellen, sexuelle Orientierungen und Praktiken, Familienformen) werden letztlich der gesellschaftlichen Gestaltbarkeit entzogen (Butler 2000; Butler 2001b; Butler 2004a). Butler folgt Lacan insofern, als sie annimmt, dass es nichts »vor dem Gesetz« gibt: »Wird also die Sprache durch das Gesetz strukturiert und das Gesetz seinerseits durch die Sprache veranschaulicht, […] so kann die Beschreibung oder Erzählung nicht wissen, was außerhalb ihrer – d.h. vor dem Gesetz – liegt.« (Butler 1991: 116) Mit dem Begriff des Gesetzes bezeichnet Butler also allgemeine Strukturen der symbolischen Ordnung, die die Grenzziehung zwischen einem ›Innen‹ und einem ›Außen‹ markieren und damit das Intelligible (als sag- und lebbar) 28
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benennen und das Unintelligible (als unlebbar/unsagbar) ausschließen. Das Gesetz ist in diesem Sinne eine abstrakte, formelle linguistische Struktur, durch die das, was sich in Sprache ausdrücken lässt und damit kulturell möglich ist, hervorgebracht wird. Butler kritisiert jedoch Lacans Gleichsetzung dieser fundamentalen linguistischen Strukturen mit Verwandtschaftsstrukturen (Butler 2000; Butler 2004a) und besteht auf einem dezidiert historischen Verständnis von Kultur. Dieser Einwand lässt sich so verstehen, dass jeder Bezug auf bestimmte Konfigurationen dieser abstrakten Prinzipien der Grenzziehung bereits spezifische kulturelle Erscheinungen impliziert und damit die abstrakte Ebene, auf der diese Grenzen zunächst verhandelt werden, verlässt. Butler wendet also kritisch ein, dass die konkrete Bestimmung des Gesetzes – als durch den Ödipuskomplex formiertes Inzesttabu – nicht universell gültig ist, sondern vielmehr im Rückgriff auf Foucaults Machtanalyse geschichtlich begriffen werden kann: als eine historische Machtformation, die nicht ein (ursprüngliches) Begehren verdrängt, sondern vielmehr dieses produziert (Butler 1991: 118): »Das Tabu kann dahingehend verstanden werden, daß es sowohl das Begehren nach der Mutter/dem Vater, als auch die zwanghafte Verschiebung dieses Begehrens erzeugt und aufrechterhält. Demnach wird die Vorstellung von einer für immer verwehrten und verdrängten ›ursprünglichen‹ Sexualität zum Produkt des Gesetzes, das dann als dessen Verbot auftritt.« (Butler 1991: 119)
In Anlehnung an Foucault benutzt Butler daher den Begriff der Norm, um die Geschichtlichkeit des Gesetzes, also die Kontingenz der von ihm konstituierten Grenze der Intelligibilität hervorzuheben.9 Lacans Unterscheidung zwischen Symbolischem und Sozialem erscheint aus dieser Perspektive insofern unzulässig, als sie eine substanzielle Differenz bezeichnet und nicht, wie Butler es auffasst, eine Unterscheidung von analytischen Abstraktionsebenen. Das symbolische Gesetz steht bei Lacan als universelle und quasi hermetische Struktur über den konkreten und besonderen Verhältnissen: »Wenn also eine soziale Norm nicht dasselbe ist wie eine symbolische Position, dann scheint sich die symbolische Position – hier verstanden als sedimentierte Idealität der Norm – von sich selbst zu trennen. Die Unterscheidung ist nicht wirklich haltbar, denn jedesmal beziehen wir uns doch wieder auf so-
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Butler grenzt sich damit auch von feministischen Ansätzen ab, die ihre Kritik am Lacan’schen Universalismus des patriarchalen Gesetzes auf eine (›wahre‹ nicht-patriarchalische) Sexualität ›vor dem Gesetz‹ gründen (Butler 1991: 115ff). 29
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ziale Normen, wenn auch in unterschiedlichen Erscheinungsweisen. Die ideale Form ist weiter eine kontingente Norm, aber eine, deren Kontingenz als notwendige erwiesen ist, eine Form der Verdinglichung mit bedeutenden Folgen für das geschlechtsspezifische Leben.« (Butler 2001b: 43; Hervorhebung HM)
Butler beharrt also auf der Kontingenz der Norm, macht aber deutlich, dass sie diese nicht mit Beliebigkeit gleichsetzt. Ihr Interesse richtet sich vielmehr darauf, dass bestimmte – kontingente – symbolische Formen in historischen Konstellationen als Notwendigkeit erscheinen – und diese Notwendigkeit ergibt sich unter anderem aus der materiellen Eingelassenheit von Normen in historische Subjektivitätsformen. Butlers Anliegen lässt sich also weiter präzisieren: Die allgemeine Annahme über die produktiv-konstruktive Funktionsweise der symbolischen Ordnung kann nur vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichhistorischen Verortung auf bestimmte Formen, wie beispielsweise die Geschlechterdifferenz, bezogen werden. Zum einen müssen die historischen Strukturen benannt werden, die diese Differenz als notwendige Form erscheinen lassen. Dies verfolgt Butler mit ihrer spezifischen genealogischen Perspektive bis in Texte der Antike zurück. Zum anderen muss aber diese Rekonstruktion einer abendländischen Geschlechterordnung historisch gebrochen werden, indem die (spezifisch modernen) Bedingungen geklärt werden, unter denen die Annahme einer eindeutigen, körperlich begründeten Geschlechtsidentität zur grundlegenden Voraussetzung der Intelligibilität des Subjekts wird. Am ausführlichsten thematisiert Butler den Zusammenhang von symbolischer Geschlechterordnung und modernen Machtverhältnissen in ihrem Konzept der Gender Regulations (Butler 2004a). Hier macht sie deutlich, dass Gender durch gesellschaftliche Gesetze, Regeln, politische Maßnahmen und dergleichen reguliert wird und zugleich seinerseits eine regulierende Norm ist, die diese Institutionalisierungen überschreitet oder ihnen in gewisser Weise vorgängig ist. Butler weist damit das Symbolische als eine Analysedimension aus, die keine eigenständige Existenz hat, sondern als abstrakte Rekonstruktion bestimmter Strukturen zu verstehen ist. Diese symbolischen Strukturen (hier: der Geschlechterordnung) werden nur durch konkrete Praktiken und Institutionen (also Gesetze, Regeln, politische Maßnahmen etc.) realisiert; zugleich stellen sie das Raster dar, welches die Parameter dessen bestimmt, was im Sozialen möglich ist – und damit wirklich werden kann. Auch hier setzt sich Butler explizit mit Lacans Konzept der symbolischen Ordnung auseinander und macht durch die Verwendung des Begriffs der Norm die gesellschaftlich-historische Bedingtheit des Symbolischen (und damit dessen Veränderbarkeit) deutlich. Gegenüber Foucault macht sie geltend, 30
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dass erst die analytische Rekonstruktion dieser Strukturen (der symbolischen Normen der Geschlechterdifferenz) erklären kann, dass es überhaupt eine Geschlechterdifferenz gibt, die der Regulierung unterworfen ist. Butler macht also eine analytische Unterscheidung zwischen (abstrakt bestimmbaren) symbolischen Normen, die die Geschlechterdifferenz als zentrales Raster moderner Regulierungen konstituieren, und empirischen Instanzen (Gesetzen, Regeln, Institutionen, Praktiken), in die diese Differenz konstitutiv eingelassen ist und die damit deren materialisierte Gestalt darstellen. Dieses historische Dasein der Geschlechterdifferenz als symbolische Norm vollziehe ich im Folgenden anhand von Butlers Rekonstruktion der Strukturen von heterosexueller Matrix und Phallogozentrismus nach. Diese symbolischen Strukturen, so soll deutlich werden, stellen den nichtessenziellen Grund der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit dar, die sich vermittels gesellschaftlicher Regulierungen in konkreten gesellschaftlichen Phänomenen manifestiert.
2.1.2 Heteronormativität und Phallogozentrismus: historische Bedingungen der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit Das gesellschaftlich-historische Phänomen, an dem Butler ihre Analysen der Subjektkonstitution konkretisiert, ist die binäre, heteronormative Geschlechterdifferenz, die den Subjekten ihr ›Geschlecht‹ als eine Bedingung der sozialen Intelligibilität vorgibt. Im Anschluss an Michel Foucault ist Butler bestrebt, die »Unerbittlichkeit der Historizität«, die auf der Ablehnung jedes essentialistischen Verständnisses »vom Menschen und seinen Dingen« (Brieler 1998: 3) beruht, im Hinblick auf (Geschlechts-)Identität, (Geschlechts-)Körper und Sexualität zu denken. Sie weist damit jeden Rückgriff auf eine natürlich gegebene Geschlechterdualität zurück und geht davon aus, dass die ›Frau‹ (ebenso wie der ›Mann‹) keine vorgängige Essenz ›hat‹, sondern vielmehr diskursiv erzeugt wird, also nicht vor oder jenseits dieser Hervorbringung existiert. Butler unterzieht die Sex-Gender-Unterscheidung einer grundsätzlichen Kritik, denn diese bleibe insofern einem metaphysischen Ursprungsdenken verhaftet, als sie von einer vordiskursiven Existenz des körperlichen Geschlechts ausgehe. Die Unterscheidung von Mann und Frau sei aber nicht auf eine reale Existenz zweier biologischer Geschlechter zurückzuführen, vielmehr sei die Wahrnehmung binär differenzierter biologischer Körper ein Effekt diskursiver Prozesse. Aus ihrer Kritik an humanistischen Subjektkonzeptionen und darauf beruhenden normativ begründeten politischen Strategien zieht Butler die 31
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methodologische Konsequenz, dass eine kritische Perspektive auf den ontologischen Status der Kategorie Geschlecht einer Genealogie im Sinne Foucaults folgen muss:10 »Die genealogische Kritik lehnt es ab, nach den Ursprüngen der Geschlechtsidentität, der inneren Wahrheit des weiblichen Geschlechts oder einer genuinen, authentischen Sexualität zu suchen, die durch die Repression der Sicht entzogen wurde. Vielmehr erforscht die Genealogie die politischen Einsätze, die auf dem Spiel stehen, wenn die Identitätskategorien als Ursprung oder Ursache bezeichnet werden, obgleich sie in Wirklichkeit Effekte von Institutionen, Verfahrensweisen und Diskursen mit vielfältigen und diffusen Ursprungsorten sind.« (Butler 1991: 9)
Ein solches genealogisches Verfahren zielt darauf, die historische Entstehung sozialer Phänomene freizulegen und ihnen damit den Anschein von Evidenz und Natürlichkeit zu nehmen, oder vielmehr diese scheinbare Natürlichkeit selbst als Machteffekt erkennbar zu machen. Insofern ist Genealogie als Konstitutionsanalyse zu verstehen, als Suche nach gesellschaftlich-historischen Erklärungen für die Existenz bestimmter Phänomene. Hier lässt sich nun meine Aussage weiter aufschlüsseln, dass Butler ein strukturtheoretisches Konzept entwirft, mit dem sowohl die Kontingenz von Geschlecht als historischem Phänomen als auch dessen bedingte Notwendigkeit erfasst werden soll. In ihrem genealogischen Verfahren stellt sie nämlich in gewisser Weise Fragen nach dem ›Warum‹ – und damit nach der Notwendigkeit –, indem sie die gesellschaftlichen Gründe erforscht und diese in einem historischen Strukturzusammenhang verortet. Butler konkretisiert ihre genealogische Untersuchung von Geschlecht durch die Fokussierung auf die heterosexuelle Matrix sowie den Phallogozentrismus als die beiden symbolischen Konfigurationen, die jene Machtformationen regulieren, durch die wiederum die heteronormative Geschlechterdifferenz als gesellschaftliches Phänomen hervorgebracht wird. Die Annahme einer Geschlechtsidentität wird von »einem regulierenden Apparat der Heterosexualität erzwungen« (Butler 10 Moya Lloyd weist darauf hin, dass sich Butlers genealogisches Vorgehen insofern von Foucaults unterscheidet, als sie sich auf einen Aspekt, nämlich den der Problematisierung, konzentriere; ihr Bestreben sei es »to unpick the assumptions of certain theoretical texts in order to demonstrate that what one has assumed to be necessary relations between elements (e.g. sex, gender and desire) are, in fact, non-necessary« (Lloyd 2007: 162). Dieser Hinweis ist hier insofern interessant, als Lloyd annimmt, dass daraus ein begrenzter Blick auf die historischen Bedingungen der von Butler untersuchten Zusammenhänge resultiert. 32
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1997a: 36), der festlegt, dass Geschlecht binär verfasst ist und mit einem gegengeschlechtlichen Begehren verbunden ist. Zugleich sind diese dualistisch verfassten Geschlechter in ein komplementäres und hierarchisches Verhältnis gestellt. Die heterosexuelle Matrix bildet »das Raster der kulturellen Intelligibilität, durch das die Körper, Geschlechtsidentitäten und Begehren naturalisiert werden. […] Es geht darum, ein hegemoniales diskursives/epistemisches Modell der Geschlechter-Intelligibilität zu charakterisieren, das Folgendes unterstellt: Damit die Körper eine Einheit bilden und sinnvoll sind, muss es ein festes Geschlecht geben, das durch die zwanghafte Praxis der Heterosexualität gegensätzlich und hierarchisch definiert ist.« (Butler 1991: 219f)
Um nicht nur die heteronormative Binarität, sondern auch das hierarchische Verhältnis der Geschlechter zu erfassen, lässt sich das Konzept des Phallogozentrismus heranziehen, das auf Derrida zurückgeht und eine spezifische Struktur des Denkens im christlichen Abendland bezeichnet, nämlich die Suggestion einer Präexistenz der Idee vor dem Wort (Logozentrismus).11 Dieses Denken operiert in Dichotomien, in Gegensatzpaaren (Kultur/Natur; Geist/Körper; Vernunft/Gefühl; Subjekt/Objekt; Mann/Frau usw.), die hierarchisch strukturiert sind, wobei der eine Teil des Oppositionspaares als von dem anderen abgeleitet gilt. Dieser Logozentrismus ist zudem vom Phallus als der zentralen Metapher des Männlichen geprägt: Der Mann wird zum Grundmodell des Menschen erhoben, während die Frau als bloße Abweichung erscheint (Phallogozentrismus). Die im Gegensatzpaar Mann/Frau angelegte Asymmetrie und Hierarchie durchzieht alle anderen Dichotomien, deren Elemente jeweils männlich bzw. weiblich konnotiert sind. Mit den Strukturen der heterosexuellen Matrix sowie des Phallogozentrismus werden die konstitutiven Bedingungen der binär-hierarchischen Zweigeschlechtlichkeit analytisch erfasst. Auf diese Weise können die Konstruktionsprozesse, in denen die Vergeschlechtlichung der Subjekte immer wieder vollzogen wird, gesellschaftstheoretisch verortet werden. Indem Butler diese Strukturen der symbolischen Ordnung aufspürt, kann sie den Zirkelschluss analytisch aufbrechen, durch den die sprachliche Hervorbringung einer naturalisierten körperlichen Zwei-
11 Der Begriff Logos bezeichnet einen Ursprung, eine Wahrheit, das fleischgewordene Wort Gottes und bezieht sich damit auf ein kosmisches Prinzip, das der Welt und dem Menschsein zugrunde liegt; auf diesem Vernunftprinzip beruht die abendländische Metaphysik, deren Denkmodelle nach dem Ursprung sowie der (einen) zentralen Struktur von Phänomenen fragen. 33
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geschlechtlichkeit ihren Effekt (die vermeintliche Natürlichkeit) als Voraussetzung setzt. Die bestehende Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit setzt mit der Unterscheidung von Mann und Frau gewissermaßen zwei Punkte eines Kontinuums körperlicher Differenzen als einzig lebbare Geschlechtsidentitäten fest. Dass dabei dichotom unterschieden wird, erscheint nun als Muster abendländisch-logozentrischer Kategorienbildung und muss nicht als universelles Charakteristikum menschlicher Kategorisierungen gelten. Zudem kann gezeigt werden, dass die binäre Unterscheidung nicht biologischen Differenzen (Genitalien, Chromosomen, Gonaden) folgt, sondern diese vielmehr nur innerhalb einer bereits bestehenden symbolischen Ordnung als Geschlechtszeichen wahrgenommen werden.12 In dieser normativen Grenzziehung werden Geschlechtszugehörigkeit, Begehren und Generativität miteinander verknüpft; die komplementäre Konstruktion der männlichen und weiblichen Geschlechtsidentität wird durch die phallogozentrische heterosexuelle Ordnung des Begehrens vorausgesetzt und zugleich bestätigt. Die vermeintliche ontologische Notwendigkeit der Heterosexualität wird dadurch hervorgebracht, dass als relevante Geschlechtszeichen diejenigen körperlichen Organe und Funktionen herangezogen werden, die im Prozess der Fortpflanzung eine Rolle spielen (Butler 1991b: 65). Dies erlaubt einen sich selbst bestätigenden Zirkel vermeintlicher Natürlichkeit: ›Frauen‹ sind Menschen, die Kinder austragen und gebären können; um ein Kind zu zeugen, brauchen sie aber einen ›Mann‹; die Zeugung geschieht über einen ›sexuellen‹ Akt, daher ist das Begehren von Natur aus auf das andere Geschlecht gerichtet und mit einem natürlichen Trieb zur Fortpflanzung verbunden. Eine wichtige Pointe Butlers besteht folglich darin, den vermeintlich selbstverständlichen Zusammenhang von sex, gender und desire selbst als eine historische Verknüpfung erkennbar zu machen.13
12 Auf diesen reflexiven Zirkel weisen auch ethnomethodologisch-wissenssoziologische Ansätze hin: »Betrachter ›wissen‹ schon, dass jemand eine Frau oder ein Mann ist, bevor sie ›Geschlechtsmerkmale‹ identifizieren können, die ihre Zuschreibung begründen. Eine Geschlechtszugehörigkeit wird aus Indizien konstruiert, die nur auf dem Hintergrund einer bereits identifizierten Geschlechtszugehörigkeit als ›Indizien‹ erscheinen.« (Hirschauer 1999: 36) 13 Wie wir in der Diskussion des Generativitätsdispositivs im 5. Kapitel sehen werden, eröffnet diese analytische Unterscheidung die Möglichkeit, die Evidenz vermeintlicher Notwendigkeiten menschlicher Prokreation und Generativität zu erschüttern und diese als historische Phänomene – und damit als prinzipiell gestaltbar – auszuweisen. Dies ist wiederum wichtig, weil es die Möglichkeiten der kollektiven Arbeit an den Bedingungen eines ›guten Lebens‹ erweitert. 34
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Diese spezifischen Strukturen der symbolischen Ordnung sind die Voraussetzung dafür, dass Geschlecht als zentrales Moment der Identität erscheinen kann. Die symbolische Norm der Heterosexualität ist den Subjekten vorgegeben und legt zugleich eine Bedingung der Subjektwerdung fest. Die eindeutige und dauerhafte Annahme eines Geschlechts ist die Voraussetzung für soziale Intelligibilität und damit für eine kohärente Ich-Identität. Das ›Ich‹ ist also der Geschlechtsidentität nicht vorgängig: »Die ›Aktivität‹ dieses Geschlechtlich-Werdens kann streng genommen kein menschliches Handeln oder menschlicher Ausdruck sein, keine willentliche Aneignung, und ganz sicher ist sie keine Frage einer Maskierung; sie ist die Matrix, durch die alles Wollen erst möglich wird, sie ist die kulturelle Bedingung seiner Möglichkeit. Die Matrix der geschlechtsspezifischen Beziehung geht dem Zum-Vorschein-Kommen des ›Menschen‹ voraus.« (Butler 1997a: 29)
Das Geschlecht kann also insofern als ›soziale Konstruktion‹ verstanden werden, als es ein ›essenziell historisches‹ Phänomen ist, das als ›Konstruktion‹ einer strukturellen Matrix hervorgebracht wird. Zugleich erweist sich das Konzept der ›Konstruktion‹ allerdings als problematisch, da es letztlich die Vorstellung eines vorgängigen ›Konstrukteurs‹ nahelegt. Klar ist bislang, dass Butler das Subjekt nicht als den ›Konstrukteur‹ betrachtet; sie macht aber auch deutlich, dass sie den »metaphysischen Platz des Subjekts« nicht einfach »unter strukturalistischen Vorzeichen« durch einen anderen Kandidaten – »unpersönliche Kräfte wie etwa die Kultur oder de[n] Diskurs oder die Macht« – ersetzen will (Butler 1997a: 31). Vielmehr geht es ihr darum, eine Konzeption von Konstruktion zu entwerfen, bei der erstens die Strukturen als formierend nur in dem Sinne gedacht werden, dass sie durch die – von ihnen formierten – Subjekte aufgeführt werden. Zweitens ist diese Aufführung kein einmaliger Akt, sondern vollzieht sich in einem Prozess ständiger Wiederholungen; dieser Prozess der Wiederaufführung enthält zugleich das Moment der Instabilität der Strukturen in sich: »Konstruktion findet nicht nur in der Zeit statt, sondern ist selbst ein zeitlicher Prozess der mit der laufenden Wiederholung von Normen operiert; im Verlauf dieser unentwegten Wiederholungen wird das biologische Geschlecht sowohl hervorgebracht als auch destabilisiert« (Butler 1997a: 32). Diesen Zusammenhang stelle ich im Folgenden genauer dar, um dadurch Butlers Konzeption einer strukturimmanenten Dynamik zu erläutern – als formale Grundlage für die Möglichkeit widerständigen Handelns.
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2.1.3 Strukturelle Dynamik: Performativität und Iterabilität Butlers Ansatz ist also insofern ›konstruktivistisch‹,14 als sie nach den Mechanismen der sprachlich-symbolischen Konstruktion der Geschlechterdifferenz fragt. Sprache hat in dieser Perspektive eine spezifische, produktive Eigenschaft, da sie nicht einfach existierende Dinge bezeichnet oder repräsentiert, sondern vielmehr Bedeutungen hervorbringt; die Kategorie Geschlecht, die Unterscheidung von ›Frau‹ und ›Mann‹ wird damit als sprachlich konstruiert betrachtet. Der spezifische Modus dieser Konstruktion wird von Butler durch das Konzept der Performativität von Sprache15 erfasst. Performative Sprechakte bringen kraft der Bezeichnung soziale Realität hervor: »[M]it der ärztlichen Interpellation […] wechselt das Kleinkind von einem ›es‹ zu einer ›sie‹ oder einem ›er‹; und mit dieser Benennung wird das Mädchen ›mädchenhaft‹ gemacht, es gelangt durch die Anrufung des sozialen Geschlechts in den Bereich von Sprache und Verwandtschaft« (Butler 1997a: 29). Performativität wird jedoch nicht nur als einmaliger Akt wirksam, sondern vor allem auch als ständige Wiederholung: Das bei der Geburt zum Mädchen gemachte Kind wird »von den verschiedensten Autoritäten und über diverse Zeitabschnitte hinweg« (ebd.) immer wieder als solches angerufen und stellt sich selber als solches dar, wodurch der Effekt der Naturalisierung und Normierung immer wieder bestätigt und verstärkt wird. Geschlechtsidentität erscheint so als eine sprachlich-symbolische Hervorbringung, die zugleich als Prozess nie abgeschlossen ist. Die Worte, Gesten, Handlungen, durch die diese performative Herstellung der Geschlechtsidentität immer wieder vollzogen wird, drücken keine vorgängige Geschlechtszugehörigkeit aus, erzeugen aber rückwirkend den Effekt eines »inneren Geschlechtskerns« (Butler 2001a: 136). Insofern ist Butlers Konzeption von Performativität keinesfalls mit der Vorstellung eines vorgängigen subjektiven Willens verbunden, son14 Eine Diskussion verschiedener Konzeptionen des ›Konstruktivismus‹ findet sich bei Ursula Mıhçıyazgan (2008); sie kommt zu dem Schluss, dass es nicht sinnvoll ist, Butlers Analysen als ›konstruktivistisch‹ zu bezeichnen. Butler selbst äußert sich dazu ambivalent; sie kritisiert grundlegende Annahmen ›konstruktivistischer‹ Ansätze, weist diese Bezeichnung aber nicht von sich (Butler 1997a: 24ff). Auf diese Debatte kann ich in diesem Rahmen nicht weiter eingehen, mir geht es hier lediglich darum, Butlers spezifische Perspektive herauszuarbeiten, für die es wesentlich ist, dass sie Konstruktionsprozesse ohne Konstrukteure denken will. 15 Butler rezipiert Derridas kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Performativität bei Austin und Searle (vgl. dazu beispielsweise Derrida 1977; Wachter 2001). 36
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dern beruht darauf, dass performative Sprechakte symbolische Kategorien in historischen Macht-Diskurs-Regimen zitierend aktualisieren. Butler bezieht sich dabei auf den Foucault’schen Begriff von Macht, der – so weit sei hier der Diskussion im 4. Kapitel vorgegriffen – Macht als Grundlage und Voraussetzung des Sozialen erfasst, als strukturelles Gefüge, dem die Individuen ihr Dasein als Subjekte verdanken. Macht steht in diesem Sinne der individuellen Handlungsfähigkeit nicht einschränkend gegenüber, sondern ist vielmehr eine produktive Instanz, die den Subjekten ihre soziale Existenz und damit ihre spezifische Handlungsfähigkeit ermöglicht.16 Wenn die performative Herstellung gesellschaftlicher Phänomene (wie etwa der Geschlechtsidentität) sich im Rahmen von so verstandenen Machtverhältnissen vollzieht, dann impliziert dies eine Historisierung in zweierlei Hinsicht. Zum einen sind die ›Autoritäten‹ sprachlicher Anrufungen jeweils historisch durch spezifische soziale Positionen (etwa als Wissenschaftler oder als Repräsentanten einer göttlichen Ordnung) in besonderer Weise bestimmt. Dies verweist wiederum zweitens insofern auf jeweils besondere Machtverhältnisse, als die Subjekte ihnen gegenüber spezifische Stellungen einnehmen – so können Autoritäten quasi göttliche und damit unhinterfragbare Instanzen sein, sie können aber auch in besonderer Weise anfechtbar sein (etwa als Vertreter einer modernen Ordnung der Wissenschaften, in der sie zwar eine privilegierte, aber nicht unhinterfragbare Stellung zur Wahrheit einnehmen). Damit eröffnet sich die Möglichkeit, über die Analyse der je spezifischen Machtverhältnisse eine historische Bestimmung der Möglichkeiten performativer Praktiken vorzunehmen und deren besondere Freiheitsgrade genauer auszuloten. Auf diesen Zusammenhang geht Butler nicht systematisch ein. Ihre Verweise auf Foucault deuten aber an, dass eine solche historische Verortung von Subjektivität und Handlungsfähigkeit mit ihren Analysen konform geht oder gar das notwendige Pendant zu ihnen darstellt. Diese Frage führe ich im 4. Kapitel anhand der Arbeiten Foucaults näher aus; hier diskutiere ich zunächst einen weiteren theoretischen Bezug Butlers. 16 Indem sie Macht als gesellschaftliches Substrat der Subjekte begreift, steht Butler auch in der philosophischen Tradition des von Marx in den Thesen über Feuerbach formulierten historischen Verständnisses des Subjekts: »[D]as menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (Marx 1969: 6) Dies untermauert die grundlegende These dieser Arbeit, dass die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, durch die spezifische Subjekte hervorgebracht werden, eine gemeinsame Schnittstelle der Arbeiten von Butler, Foucault und Marx ist, auch wenn diese sich in ihren Untersuchungen auf jeweils unterschiedliche Dimensionen gesellschaftlicher Verhältnisse beziehen. 37
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Im Rückgriff auf Jacques Derrida macht sie nämlich eine wichtige Dimension der strukturimmanenten Dynamik der symbolischen Ordnung deutlich: Derridas Analyse der geschichtlichen Bewegung der Zeichen ermöglicht es Butler, eine formale Bedingung für die performative Verschiebung von Normen zu erfassen. In der von Foucault analysierten historischen Formation einer Macht-Wissen-Ordnung werden die spezifischen Freiheitsräume subjektiver Handlungsfähigkeit erkennbar; mit Derrida wird eine in der Zirkulation der Zeichen (durch Zeit und Raum) angelegte Bewegung fassbar, die eine Dynamik im Verweisungszusammenhang der Zeichen konstituiert. Diese Dynamik besteht darin, dass in der zitatförmigen Wiederholung der sprachlichen Elemente zugleich die Möglichkeit der Verschiebung impliziert ist, denn Zeichen werden in unterschiedlichen Kontexten, in verschiedenen Bedeutungsketten zitiert. In dieser als Iterabilität bezeichneten zeitlichen und räumlichen Bewegung der Sprache eröffnet sich die Möglichkeit der Umdeutung und Resignifizierung.17 Wie bereits dargestellt, geht Butler davon aus, dass der Strukturzusammenhang der symbolischen Ordnung dem sprechenden Subjekt vorgegeben ist; um intelligibel sein und sprechen zu können, muss es die von dieser Ordnung vorgegebenen Konventionen zitieren, und indem es sie zitiert, reproduziert es sie immer wieder. So beruht die sprachliche Zuweisung der Geschlechtszugehörigkeit auf gesellschaftlich festgelegten Zeichen, muss »aus einem Satz sprachlicher Konventionen schöpfen und diese Konventionen, die traditionell funktioniert haben, rezitieren, um eine gewisse Art von Effekten hervorzurufen« (Butler 1993b: 124). Es ist daher nicht das Subjekt, das sich eines performativen Aktes bedient, um seine vorgängigen Absichten zu verfolgen, vielmehr wird das Subjekt durch den diskursiven Prozess konstituiert – und zwar in einem wiederholten Prozess konstituiert. Nun ist aber auch deutlich, dass Butler das strukturierte System des Diskurses nicht als in sich geschlossen und selbstidentisch versteht. Es ist also nicht ›der Diskurs‹, der nun gewissermaßen den Akteurstatus erhält, vielmehr realisieren sich die Strukturen nur in ihrer Aufführung durch Subjekte. Durch ihren Bezug auf Derridas Konzept der Iterabilität kann Butler nun begründen, dass die symbolische Ordnung ein Strukturzusammenhang mit einer spezifischen immanenten Dynamik ist. Indem sie zugleich den gesellschaftlichhistorischen Charakter dieser Ordnung betont, die erst in empirischen Praktiken wirksam und damit real wird, kann sie methodologisch den 17 Eine Möglichkeit, die, so sei hier nochmals betont, ihre spezifischen Realisierungsbedingungen nur in der je historisch konstituierten Handlungsfähigkeit der Subjekte findet. Genauere Erläuterungen hierzu finden sich im 4. und im 6. Kapitel. 38
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Anschluss kenntlich machen, vermittels dessen die Analyse dieser formalen Dynamik an die Analyse historischer Bedingungen gebunden und damit die Möglichkeitsräume für Bedeutungsverschiebungen genauer eruiert werden können. Während die Norm der Geschlechterdifferenz also einerseits über die empirischen Regulierungen hinausgeht, hat sie andererseits keinen eigenständigen ontologischen Status, sondern ›existiert‹ nur in und durch konkrete (performative) Praktiken. Daraus folgt aber auch, dass die Beziehung zwischen Praktiken und Normen prinzipiell kontingent ist und die Norm somit potenziell in Frage gestellt und entidealisiert werden kann. Butler kann auf diese Weise erklären, dass die Geschlechterdifferenz in überindividuellen Strukturen verankert und dem voluntaristischen Zugriff entzogen, zugleich aber nicht statisch und unveränderbar ist: »Butler’s notion of the performative represents an attempt to get beyond an understanding of gender identity as a one-sided process of imposition or determination, without lapsing into a voluntarist model of the subject. Rather than thinking of gender as a quasi-permanent structure, it should be thought of as the temporalized regulation of socio-symbolic norms and practices where the idea of the performative expresses both the cultural arbitrariness or ›performed‹ nature of gender identity and also its deep inculcation in that every performance serves to reinscribe it upon the body.« (McNay 1999: 176)
Hier wird in Grundzügen bereits Butlers Konzept von Kritik und Widerstand deutlich, das sich nicht auf einen Außenstandpunkt beruft, sondern Kritik und Widerstand vielmehr als Potenzial der strukturellen Dynamik selbst ausweist: »To contest symbolic authority is not necessarily a return to the ›ego‹ or classical liberal notions of freedom, rather to do so is to insist that the norm in its necessary temporality is opened to a displacement from within.« (Butler 2004a: 47) Diese Konzeption der Verschiebung von innen werde ich im Folgenden diskutieren, denn damit lässt sich Butlers spezifische Perspektive der Gesellschaftskritik als immanente Suche nach dem, was über das Gegebene hinausweist, präzisieren.
2.1.4 Gesellschaftskritik als Dekonstruktion Mit dem Verfahren der Genealogie ist uns bereits eine von Butler gewählte Strategie kritischer Gesellschaftsanalyse begegnet, durch die die Historizität der Bedingungen von Subjektivität offengelegt und diese damit prinzipiell einer emanzipatorischen Gestaltung zugänglich gemacht wird. Da Butler aber den Fokus ihrer Analyse insbesondere auf 39
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die symbolisch-diskursive Dimension der Hervorbringung von Subjekten richtet, zieht sie mit der dekonstruktiven Reflexion ein weiteres Verfahren heran, das sich explizit auf die linguistische Dimension gesellschaftlicher Phänomene bezieht. Dies beleuchte ich nun etwas genauer, da diese Strategie für die Frage der formalen Bedingungen von Handlungsfähigkeit wichtige Erkenntnisperspektiven eröffnet, indem sie (widerständige) Praktiken als Ausdruck der inhärenten Dynamik symbolischer Strukturen zu begreifen erlaubt. Butler kann auf diese Weise eine Kritikstrategie begründen, die darauf verzichtet, substanzielle Subjekte als vorgängige ›Autoren‹ der Handlungen zu setzen, und somit auch den Bezug auf konkrete normative Setzungen vermeidet. Dekonstruktive Reflexion, so soll hier deutlich werden, setzt am Gegebenen an und verschiebt an den Grenzen des Bestehenden die Bedeutungen, um damit die Möglichkeiten des Lebens zu erweitern, ohne jedoch vorher festlegen zu müssen (oder zu können), wie diese Möglichkeiten genau auszusehen haben. In diesem Zusammenhang kann ich die These weiter untermauern, dass Butlers Perspektive der Gesellschaftskritik inhärent historisch ist. Dies ist sie einerseits, insofern sie sich auf Phänomene bezieht, die durch bestimmte, historische Formen konfiguriert werden: Das Gegebene und seine Grenzen sind jeweils nur in seinem spezifischen Kontext zu bestimmen. Andererseits verweist diese Strategie der Gesellschaftskritik, wie ich im weiteren Verlauf genauer ausführen werde, auf strukturell konstituierte Möglichkeitsräume für bestimmte (widerständige) Praxisformen: Dekonstruktive Widerstandspraktiken verstehe ich als spezifisch historische Formen; die von Derrida im Konzept der Iterabilität erfasste formale Möglichkeit der Bewegung wird innerhalb der von Foucault analysierten Machtverhältnisse zu einer besonderen historischen Möglichkeit von (widerständiger) Handlungsfähigkeit. Die Strategie einer dekonstruktiven Reflexion als Gesellschaftskritik lässt sich an Butlers Diskussion der Realität von Natur beziehungsweise Körpern nachvollziehen. An diesem Beispiel wird deutlich, inwiefern Butler diskursive Effekte in ihrer materiellen Realität erfassen, sie zugleich – ohne sie negieren zu müssen – als historische Materialisierungen ausweisen und somit einem kritischen (auf Veränderung zielenden) Verfahren unterziehen kann. Sie setzt also an einem historisch Gegebenen an (den vergeschlechtlichten Körpern), die sie als Realität begreift, zugleich markiert sie deren Grenzen als diskursiv gesetzt und damit prinzipiell umkämpft. Durch ihren Bezug auf Derrida, der die Konstitution von Bedeutung ausschließlich im Spiel der Zeichen, also in der relativen Position des Signifikanten zu anderen Signifikanten, verortet, kann Butler es vermeiden, über die eigentliche Materialität oder Natur der Dinge zu spekulieren. Zwar beziehen sich sprachlich konsti40
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tuierte Bedeutungen auf außersprachliche Materialität und konstituieren diese Materialität als bestimmte Gegenstände, die besondere Verfasstheit der Bedeutung ist aber ausschließlich im System der Zeichen zu verorten und kann nicht von den Gegenständen aus erklärt werden. Damit vertritt Butler eine Auffassung des Verhältnisses von Natur und Kultur, durch die sie den teilweise festgefahrenen Debatten um das Verhältnis von Konstruktion und natürlicher Basis eine fruchtbare Wendung gibt. Wie wir gesehen haben, verwirft sie die Unterscheidung von sex und gender, da sie davon ausgeht, dass auch die als Natur erscheinende Zweigeschlechtlichkeit der Körper (sex) ein Effekt der symbolischen Geschlechterordnung ist. Nun lässt sich dies noch weiter präzisieren, indem man sich vergegenwärtigt, dass Butlers Verständnis der Konstruktion von Geschlechtlichkeit nicht auf der Vorstellung von gegebenen, aber an sich bedeutungslosen Körpern als Oberfläche beruht, in die soziale Bedeutung eingeschrieben wird. Vielmehr entwickelt sie ein Verständnis von Materie als einem »Prozess der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so dass sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt, den wir Materie nennen« (Butler 1997a: 32). Diese spezifische Perspektive, die von der Materialisierung in dem und durch den Prozess diskursiver Benennung ausgeht, ist in der Rezeption Gegenstand heftiger Debatten geworden, wobei Butler vorgeworfen wurde, sie löse den Körper in Sprache auf. Dies lässt sich allerdings nicht halten, da es Butler darum geht, dass der Körper erst durch Bedeutungszuschreibungen intelligibel wird; sie will darauf hinaus, dass es jenseits der Sprache keinen Zugang zu unseren Körpern gibt.18 So lässt sich sagen, dass »physiologische Vorgänge oder die haptischen Dimensionen der Leiberlebnisse aufgrund des genealogisch ausgerichteten Analyseinteresses (für Butler) nicht Thema (sind) und weder geleugnet noch negiert (werden); vielmehr steht die Frage an, wie die Effekte gerade von Plausibilität und Wahrheit in Diskursen produziert werden« (Wachter 2001: 65).
Butler will also keinesfalls behaupten, dass Materie sprachlich produziert wird, sondern vielmehr, dass es keinen Bezug auf Materie, auf Körper gibt, der nicht sprachlich vermittelt und damit gesellschaftlich konstituiert ist. Das heißt, auch die Unterscheidung von Natur und Kultur, von Gegebenem und Konstruiertem, ist eine sprachliche Grenzziehung. In Derridas Terminologie ließe sich das so formulieren, dass die 18 Vergleiche zu dieser Diskussion beispielsweise Maihofer 1995, Rebentisch 1998, Hauskeller 2000. 41
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Bedeutung des Signifikanten ›Natur‹ nur im System der Sprache durch die relative Position zur Bedeutung des Signifikanten ›Kultur‹ entsteht: Jeder Bezug auf den reinen Körper (als ›Natur‹) ist somit bereits eine sprachliche Formierung dieses Körpers (Butler 1997a).19 Die Grenzziehung zwischen Materialität und Sprache, die das Außerdiskursive als das vom Diskurs Unabhängige bezeichnet, ist selbst eine diskursive Operation: »Insofern bezeichnet dieser außer-diskursive Bereich kein absolutes Außen in substanzlogischem Sinne, sondern vielmehr ein konstitutives Außen, das, wenn überhaupt, nur in Bezug auf diesen Diskurs gedacht werden kann und in der Folge auch prinzipiell offen für veränderbare Zuschreibungen bleibt« (Wachter 2001: 66).20 Butler fasst also die Grenzziehung zwischen Materialität und Diskurs als diskursiven Effekt; ihre Denaturalisierung von Geschlecht zielt nicht auf eine Negation der Natur, vielmehr geht es ihr darum, eben diese diskursive Markierung des ›Natürlichen‹ als Machteffekt erkennbar zu machen, der bestimmte ›natürliche‹ Grenzen des (vergeschlechtlichten) Lebens hervorbringt. Butler löst Natur folglich nicht in Diskurs auf, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf den ontologischen Effekt der (diskursiven) Markierung des Außerdiskursiven als Natur. Dadurch kann sie diesen Effekt als Machtinstrument ausweisen, das Ausschlüsse und Domänen des Undenkbaren produziert. Die Benennung von Materie als außerdiskursive Bedingung des Diskurses erscheint von daher als ein Prozess, durch den die Möglichkeiten körperlichen Lebens beschränkt werden, indem beispielsweise durch die Behauptung der prädiskursiven Natur der körperlichen Zweigeschlechtlichkeit Existenzweisen, die sich in diese Binarität nicht einordnen, als pathologisch, widernatürlich oder
19 Butler wendet sich auf diese Weise kritisch gegen die in vielen konstruktivistischen Perspektiven vorausgesetzte Unterscheidung von (bedeutungsloser) Natur und (sinnstiftender) Kultur: »I think it may be a mistake to claim that Bodies that Matter is a constructivist work or that it seeks to take into account materiality in constructionist terms. It would be equally right – or possible – to say that it seeks to understand why the essentialism/constructivism debate founders on a paradox that is not easily overcome. Just as no prior materiality is accessible without the means of discourse, so no discourse can ever capture that prior materiality; to claim that the body is an elusive referent is not the same as claiming that it is only and always constructed. In some ways, it is precisely to claim that there is a limit to constructedness, a place, as it were, where construction necessarily meets its limit.« (Butler 1998b: 278) 20 »Der als dem Zeichen vorgängig gesetzte Körper ist stets als vorgängig gesetzt oder bezeichnet. Diese Bezeichnung vollzieht sich dadurch, dass sie einen Effekt ihres eigenen Verfahrens hervorbringt, nämlich den Körper, und dennoch zugleich behauptet, diesen Körper als das zu entdecken, was jeder Bezeichnung vorhergeht.« (Butler 1993a: 52) 42
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schlicht unmöglich erscheinen. Butlers Pointe besteht darin, dass ontologische Aussagen ihr Objekt nie vollständig erfassen können, gerade weil das Außerdiskursive nicht in Sprache aufgeht, kein linguistischer Effekt ist. Aussagen über Natur oder Körper produzieren deshalb immer Ausschlüsse, verworfene Körper, die nicht intelligibel sind. Auf diesem Wege macht Butler die Grenzziehung zwischen Materialität und Diskurs selbst als ein umkämpftes Feld und damit als wichtigen Gegenstand feministischer Debatten sichtbar: »I could say ›there are abject bodies‹ and that could be a performative in which I endow ontology. I endow ontology to precisely that which has been systematically deprived of the privilege of ontology. The domain of ontology is a regulated domain: what gets produced inside of it, what gets excluded from it in order for the domain to be constituted is itself an effect of power.« (Butler 1998b: 280)
Indem sie die Grenzziehung zwischen Natur und Kultur als diskursive Hervorbringung kenntlich macht, eröffnet Butler ein neues Terrain kritischer Analysen und Interventionen. Dabei geht es nicht darum, ›eigentlichen‹ oder ›natürlichen‹ Körpern zu ihrem ihnen bisher verweigerten Recht auf ontologische Anerkennung zu verhelfen, also beispielsweise die Kategorie ›Frau‹ durch immer weitere Bestimmungen (lesbisch, schwarz, mit xxy-Chromosomensatz) aufzufüllen, bis eine vermeintliche Vollständigkeit erreicht ist. Vielmehr setzt Butlers kritischer Impuls an eben jenen Grenzen an und fragt, wie diese von innen so verschoben und in Bewegung gebracht werden können, dass das Spektrum lebbarer Subjektivitäten erweitert werden kann – ohne bereits zu wissen, wer oder was diese Subjektivitäten sind. Butler schließt hier an Derridas Konzept der Dekonstruktion an, das auf die Grenzen zielt, die der Logik eines Systems immanent sind, um aufzuspüren, was innerhalb dieses Systems vom System nicht erfasst werden kann: »Für die dekonstruktive Arbeit gilt es, die Logik totalisierender Gesten zu analysieren und der mit dieser Vorstellung der Geschlossenheit einhergehenden autoritäre Gestus, das Eingebettetsein der Argumentationsweise in Strukturen formalisierten und systematisierten Wissens auf deren Legitimationsverständnis hin zu thematisieren.« (Wachter 2001: 29)
Es geht dabei um eine grundlegende Anfechtung der Metaphysik des abendländischen Denkens, dieses »Gestus, der der Struktur ein Zentrum geben und sie auf einen Punkt der Präsenz, auf einen festen Ursprung beziehen wollte« (Derrida 1976: 422), wobei die Präsenz, die das Zentrum repräsentiert, unterschiedliche Namen erhalten hat (Gott, Natur, 43
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Mensch/Mann usw.). Eine Kritik dieses metaphysischen Denkens bleibt allerdings »in einer Art von Zirkel gefangen« (Derrida 1976: 425), sofern sie auf eine Destruktion oder Negation der Metaphysik zielt. In dem Versuch, die kritisierte Metaphysik zu überwinden, bleibt diese negative Kritik dem metaphysischen System verhaftet, da sie sich im Bestreben, das Andere der Metaphysik hervorzubringen, weiterhin im Bezugsrahmen der Metaphysik bewegt. Kritik als bloße Bewegung der Umkehrung verbleibt also innerhalb des Horizonts der kritisierten Denktradition. Derrida macht jedoch zugleich deutlich, dass es nicht möglich ist, sich gänzlich außerhalb des zu kritisierenden Systems zu stellen; es sei sinnlos, in der Kritik der Metaphysik auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten: »Wir verfügen über keine Sprache – über keine Syntax und keine Lexik –, die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre« (Derrida 1976: 425). Derrida verwendet den Begriff der Dekonstruktion, um sowohl das kritisch-destruktive als auch das affirmativ-rekonstruktive Moment zu erfassen; die Destruktion der Metaphysik hat insofern einen konstruktiven Zug, als sie »notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten Struktur zu bedienen, sich ihrer strukturell zu bedienen (hat)« (Derrida 1974: 45). Butler greift Derridas Argument auf, dass eine als Negation betriebene Kritik immer dem Kritisierten verhaftet bleibt, zugleich aber kein Standpunkt außerhalb des kritisierten Systems eingenommen werden kann. Dies lässt sich beispielhaft an der Überlegung verdeutlichen, dass Versuche, ein drittes Geschlecht (oder auch beliebig viele Geschlechter) benennbar zu machen, im Bezugsrahmen der Vergeschlechtlichung von Subjekten verbleibt, der menschliches Leben nur in Form geschlechtlicher Wesen möglich erscheinen lässt. Zugleich kann es jedoch nicht darum gehen, die Vergeschlechtlichung der Subjekte einfach zu leugnen oder als bloße Ideologie abzutun, denn sie stellt eine historisch reale Form dar, in der Subjekte ihr Sein (er)leben. Dekonstruktion ist in diesem Sinne darauf gerichtet, an dieser Form anzusetzen und nach ihren Brüchen und Grenzen zu suchen: »Die Konzepte der Materie und des Körpers dekonstruieren heißt nicht, sie zu verneinen oder abzulehnen. Vielmehr beinhaltet die Dekonstruktion dieser Begriffe, dass man sie weiterhin verwendet, sie wiederholt, subversiv wiederholt, und sie verschiebt bzw. aus dem Kontext herausnimmt, in dem sie als Instrumente der Unterdrückungsmacht eingesetzt wurden.« (Butler 1993a: 52)
Statt auf eine Destruktion oder Leugnung der Geschlechterdifferenz zu zielen, arbeitet Butler mit ihrem dekonstruktiven Vorgehen also daran, 44
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Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die naturalisierte Logik, die der Annahme eines geschlechtlich bestimmten Identitätsprinzips als inneren Kerns oder innerer Substanz von Individuen zugrunde liegt, von innen her aufgebrochen, verschoben und unterlaufen werden kann.21 Ein dekonstruktiver Feminismus ist ein paradoxes Unterfangen, das mit einem Risiko behaftet ist, da er keine Position einfach an- oder einnehmen kann und keine Gewissheit einer grundlegenden Kategorie ›Frau‹ als festen Grund von Theorie und Kritik voraussetzen kann (vgl. Menke 1995: 42f). Das heißt jedoch nicht, dass Feminismus gänzlich auf Kategorien verzichten muss oder auch nur kann; Nicole Wachter argumentiert, »dass Butler nicht für eine gänzliche Verabschiedung der Repräsentationspolitik plädiert – direkte und eindeutige Formulierungen gegen bestehende Machtverhältnisse bleiben unabdingbar –, sondern vielmehr auf diese ambivalente Gleichzeitigkeit fokussiert, mit der die sinnstiftende Etablierung und Besetzung substantieller Positionen einerseits als Notwendigkeit bestehen bleibt und andererseits zu untersuchen ist, wie diese ein ›feministisches Subjekt‹ gerade durch diejenigen Machtstrukturen hervorbringen und einschränken, die seine Emanzipation ermöglichen sollen.« (Wachter 2001: 135f)
Während die dekonstruktive Kritik von innen an der Zersetzung gegebener Werte und traditioneller Denkweisen arbeitet, enthält sie sich der Formulierung neuer Werte und Denkweisen, diese werden als noch nicht existent betrachtet; sie sind das (immer vorläufige) Ziel emanzipatorischer Bestrebungen, nicht deren Ausgangspunkt. Obgleich Butler demzufolge die konkrete Ausformulierung alternativer normativer Vorgaben ablehnt, da diese notwendigerweise dem zu entrinnenden Denkhorizont verhaftet bleiben, macht sie deutlich, dass ihre Herangehensweise weder beliebig noch ohne normativen Orientierungen ist: »Einige Leute haben ihren Unmut geäußert, dass die Theorie der Subjektkonstitution und Resignifikation keine Aussagen darüber macht, was für eine Person man sein sollte oder in welche Richtung Normen resignifiziert werden
21 »To intervene in the name of transformation means precisely to disrupt what has become settled knowledge and knowable reality, and to use, as it were, one’s unreality to make an otherwise impossible claim or illegal claim. I think that when the unreal lays claim to reality, or enters into its domain, something other than simple assimilation into prevailing norms can and does take place. The norms themselves can become rattled, display their instability, and become open to resignification.« (Butler 2004: 27f) Eine ausführliche Diskussion der dekonstruktiven Perspektive Butlers findet sich bei Wachter 2001: 133f. 45
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sollten; ich würde keine normativen Orientierungen geben. Aber ich halte es für einen Fehler zu glauben, die Theorie des Subjekts oder die Theorie der Resignifizierung würde diese politischen Prinzipien oder Normen liefern. Es gibt bei mir noch andere theoretische Bereiche, die vielleicht nicht so bekannt sind wie die genannten und die sich auf die Politik von Inklusion und Exklusion beziehen. Die Frage nach dem Subjekt und Subjektkonstitution interessiert mich immer genau deswegen, weil mich auch interessiert, wie und warum bestimmte Wesen nicht als Subjekte konstituiert werden.« (Butler 2001c: 596)
2.1.5 Dekonstruktive Subjektkritik Butlers Subjektkritik ist somit ein wichtiges Moment ihrer Argumentation, das dazu dient, aktuelle theoretische Herausforderungen gesellschaftskritischer Theorie und Praxis produktiv aufzugreifen und zu reformulieren. Wird die gesellschaftliche Konstitution des Subjekts betrachtet, dann lassen sich auch die Konsequenzen erfassen, die sich daraus ergeben, dass ein bestimmtes Subjekt in der Politik und in der Theorie vorausgesetzt wird. Wird hingegen in der gesellschaftskritischen Debatte ein Subjekt unter Verzicht auf eine solche Konstitutionsanalyse vorausgesetzt, so werden dabei zum einen bestimmte, historisch kontingente Aspekte menschlicher Existenz verdinglicht; zum anderen werden im selben Prozess andere Möglichkeiten ausgeschlossen. Auf diesen doppelten Prozess beziehen sich innerhalb der feministischen Debatte beispielsweise die kritischen Interventionen, die die Annahme eines bestimmten Subjekts (›Frau‹) als partikulare Konstruktion hervorheben, die Differenzen und Machtverhältnisse zwischen ›Frauen‹ nicht erfassen kann. Butler kann hier argumentieren, dass die Geschlechtsidentität nur ein Aspekt der linguistischen Form ist, der je nach Kontext (zeitlich, räumlich) unterschiedliche Konnotationen hat und somit in seiner Wirksamkeit bezüglich der Subjektkonstitution nicht eindeutig festgeschrieben, sondern vielmehr nur in der Verbindung mit anderen Aspekten bestimmt werden kann. Damit begreift sie die Einheitlichkeit der Geschlechtskonstruktion als eine – wiewohl realitätsproduzierende – Fiktion und entwirft zugleich ein Verständnis dieser Kategorie, das ohne die Annahme eines vorgängigen, »genuinen Kerns« (Walgenbach 2007) auskommt: »Es wäre falsch, von vornherein anzunehmen, daß es eine Kategorie ›Frau(en)‹ gibt, die einfach mit verschiedenen Bestandteilen wie Bestimmungen der Rasse, Klasse, Alter, Ethnie und Sexualität gefüllt werden muß, um vervollständigt zu werden« (Butler 1991: 35).22 22 An Butler anknüpfend diskutiert beispielsweise Elsa Dorlin (2007), inwiefern sich mit dem Konzept der Performativität die konstitutive Verknüpfung von Rassismus und Sexismus erfassen lässt. 46
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Die Kategorie Frau erscheint also als wesentlich unvollständig, sie ist immer durch bestimmte Ausschlüsse konstituiert und wird daher – und dies ist ein wesentlicher Beitrag von Butlers Perspektive – als Schauplatz eines Kampfes um Bedeutungen zu einem wichtigen Gegenstand feministischer Kritik an einer Repräsentationspolitik, die auf der Vorstellung eines einheitlichen Subjekts ›Frau‹ und auf klar bestimmbaren, allgemeinen Interessen von Frauen beruht. Aus dieser Perspektive erscheint die Annahme eines gegebenen, handlungsfähigen Subjekts nicht als emanzipatorische Hoffnung, sondern vielmehr als problematische Reifizierung: »Die für die epistemologische Betrachtungsweise charakteristische Sprache der Aneignung, Instrumentalität und Distanzierung gehört zugleich zu einer Herrschaftsstrategie, die das ›Ich‹ dem ›anderen‹ gegenüberstellt und, sobald diese Trennung einmal vollzogen ist, einen künstlichen Fragenkatalog über die Erkennbarkeit und Einholbarkeit des anderen errichtet.« (Butler 1991: 211f)
Die Konstitution des Subjekts als ein den Strukturen vorgängiges Wesen schließt das Individuum in die gesellschaftliche Form einer Identität ein und zwingt es dazu, sich als autonom zu präsentieren. Ein Subjekt aber, das sein Selbst in dieser Weise absolut setzen muss, kann dies nur auf Kosten mehr oder minder gewaltsamer Ausschlüsse tun. Die Intelligibilität des Subjekts beruht auf der Benennung dessen, was denkbar und konkret möglich ist, und diese Benennung ist angesichts der unbenennbaren Vielfalt der Lebensmöglichkeiten immer mit einem Ausschluss verbunden; muss Intelligibilität als Identität abgesichert werden, so wird dieses Ausgeschlossene als unmöglich verworfen. Derselbe Prozess, der bestimmte Subjekte handlungsfähig macht, entzieht anderen den Subjektstatus und damit die Möglichkeit zum Handeln; Handlungsfähigkeit erscheint somit als strukturell konstituiertes Privileg: »Meiner Ansicht nach gehört der Begriff der Handlungsfähigkeit zu einer Auffassung von Personen als instrumentell Handelnden, die einem äußerlichen gesellschaftlichen Feld gegenübertreten. Doch auf der Ebene, auf der das Subjekt und seine Handlungsfähigkeit formuliert und ermöglicht werden, existieren Politik und Macht immer schon. Man sollte nicht vergessen, daß die ›Handlungsfähigkeit‹ keine formale Existenz hat bzw. daß dies keine Auswirkungen auf die vorliegende Frage hat. In gewissem Sinne weigert sich das epistemologische Modell, das uns ein vorgegebenes Subjekt oder einen Handlungsträger anbietet, anzuerkennen, daß die Handlungsfähigkeit immer und ausschließlich ein politisches Vorrecht ist.« (Butler 1993a: 45)
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Butler greift mit ihrem Konzept der performativen Produktion von (Geschlechts-)Identität die Anfechtungen, die die Kategorie Geschlecht und vor allem das feministische Subjekt erfahren haben, im Rahmen einer feministischen Perspektive theoretisch auf. Auf diese Weise können die Problematisierungen und Destabilisierungen der Kategorie produktiv als Ansatz und Einsatz politischer Strategien gewendet werden, statt als Gefährdung des feministischen Projekts zu erscheinen. Nur geht es bei diesem Projekt nun nicht mehr um die Emanzipation ›der Frau‹, vielmehr wird gerade die Anfechtung dieser Kategorie zu einem Schauplatz von Auseinandersetzungen. Auch das feministische Subjekt steht nicht außerhalb der Machtverhältnisse, die es kritisiert, sondern wird von diesen hervorgebracht. Es gibt keine Position, die außerhalb oder jenseits der Macht steht – also auch keine Kritiker_innen, die außerhalb der Macht stehen. Auch das Subjekt, das Kritik formuliert, das widerständige Subjekt, ist durch Ausschließungen konstituiert: Das feministische Subjekt wird im Rahmen der Macht- und Herrschaftsmodelle konstituiert, gegen die der Feminismus antritt. Damit will Butler nicht jede feministische Kritik von vornherein als unmöglich verwerfen, vielmehr geht es ihr darum, die Grundlagen der Kritik sichtbar und somit hinterfragbar zu machen, indem sie den Blick darauf lenkt, welche Normen gesetzt werden und wer und was dadurch ausgeschlossen wird: »Die Aufgabe besteht eher darin zu fragen, was durch den theoretischen Schritt, Grundlagen festzulegen, autorisiert und was ausgeschlossen oder verworfen wird« (Butler 1993a: 37). Butler macht hierdurch deutlich, dass feministische Gesellschaftskritik Teil eines performativen Diskurses ist, in dem um Bedeutung und Wahrheit gerungen wird. Eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe besteht in diesem Sinne darin, die aktuellen Beschränkungen und Ausschlüsse geschlechtlicher Identitäten als historisch entstanden und symbolisch-normativ konstruiert sichtbar zu machen und sie damit zugleich anzufechten und zu öffnen. Statt des Verfechtens wahrer Aussagen geht es darum, die spezifischen Wahrheitsund Subjektivierungseffekte des herrschenden Macht-Diskurs-Regimes in Frage zu stellen. Damit ist Butlers gesellschaftskritische Perspektive im Kern auf den Punkt gebracht: Es geht darum, die Grenzen symbolischer Formen zu eruieren und dadurch sowohl den ontologischen Effekt der Beschränkung menschlicher Lebensmöglichkeiten als auch den damit verbundenen Ausschluss bestimmter menschlicher Daseinsformen vom Subjektstatus erkennbar zu machen. Die Praktiken einer kritischen Bearbeitung dieser Grenzen im Sinne einer Erweiterung der Lebensmöglichkeiten lassen sich in ihrer formalen Möglichkeit als dekonstruktive Verschiebungen bestimmen. Damit wird auch die Frage der Handlungsfähigkeit 48
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der Subjekte in besonderer Weise thematisch, denn es gilt diese als paradoxe Konstellation zu begreifen. Subjekte erhalten ihren Status als Handelnde und Handlungsfähige nur in der Unterwerfung unter diskursive Machtverhältnisse. Hier schließt sich nun der Bogen zur eingangs vorgestellten Konzeption des Subjekts als linguistische Form und es tauchen weitere Fragen auf: Wenn das Subjekt eine Form ist, was ist dann der Inhalt? Woher kommen Impulse zu einer Veränderung der bestehenden Formen? Können diese Impulse als Intentionen von Subjekten verstanden werden?
2.2 Subjektkonstitution: Verhaftungen und Handlungsfähigkeit In der bisherigen Darstellung ging es mir darum nachzuvollziehen, wie Butler die Konstruktion von Subjekten in Prozessen sprachlicher Performativität begreift und mit den heteronormativen und phallogozentrischen Strukturen der symbolischen Ordnung eine wichtige Dimension der gesellschaftlichen Konstitution dieser Subjekte als Geschlechtssubjekte erfasst. Es hat sich dabei gezeigt, dass sie das sprachlich-diskursive System des Symbolischen mit Foucaults Konzept historischer MachtDiskurs-Regime verknüpft und als historisch-spezifisch und offen, das heißt: veränderbar, begreift. Butlers Ansatz von Kritik als Dekonstruktion konzipiert über die Iterabilität der Zeichen eine Bewegung der Veränderung von innen an den Grenzen des Bestehenden und verzichtet bewusst auf die Setzung äußerer normativer Maßstäbe. Damit sind die Möglichkeiten der Veränderung zunächst aber nur formal auf der Ebene der sprachlichen Funktionen von Performativität und Iterabilität vorgestellt. Butler kann die von ihr formulierte Frage, wie und warum bestimmte Wesen nicht als Subjekte konstituiert werden, insofern beantworten, als sie nachvollzieht, wie das gesellschaftliche Dasein als Subjekt durch die Normen der symbolischen Ordnung hervorgebracht und begrenzt wird. Durch sprachlich vermittelte Inklusionen werden dabei intelligible Subjektweisen benannt und zugleich nicht-lebbare und nicht benennbare Wesen ausgeschlossen – wobei diese Benennung insofern prekär ist, als sie immer wieder vollzogen werden muss und in unterschiedlichen Zeiten und Kontexten abweichende (verschobene) Wirkungen entfalten kann. Für eine gesellschaftskritische Perspektive ist es jedoch entscheidend, dass mit Butler mehr als diese formale und auf dieser Ebene völlig zufällige und jeder Gestaltung entzogene Modalität von Veränderung er-
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fasst werden kann.23 In meiner Diskussion der politischen Implikationen der dekonstruktiven Kritikstrategie wurde bereits deutlich, dass es Butler auch um diese Frage gehen muss, denn sonst würde es sich erübrigen, überhaupt von (feministischer) Politik zu sprechen. Butler begreift das Subjekt als unterworfenes und zugleich handlungsfähiges und fragt, wie in den Prozessen der Unterwerfung widerstandsfähige Subjekte hervorgebracht werden können. Es stellt sich ihr also das theoretische Problem, wie in der paradoxen Figur des Subjekts über das Bestehende hinausweisende Momente zu denken sind, so dass dieses Subjekt – auch gezielt im Sinne politischen oder gestaltenden Handelns – der Reproduktion des immer Gleichen entgegenstehen kann. Obgleich Subjektivität eine von Macht- und Diskursverhältnissen hervorgebrachte Form ist, durch die das Individuum sozial intelligibel und somit handlungsfähig wird, versteht Butler dies also nicht im Sinne eines Formmonismus, der Motiv und Möglichkeit eines auf Veränderung zielenden Handelns gleichermaßen undenkbar machen würde. Sie unterscheidet begrifflich zwischen ›Individuum‹ und ›Subjekt‹: »[D]as Subjekt [ist] nicht mit dem Individuum gleichzusetzen, sondern vielmehr als sprachliche Kategorie aufzufassen […], als Platzhalter, als in Formierung begriffene Struktur. Individuen besetzen die Stelle, den Ort des Subjekts (als welcher ›Ort‹ das Subjekt zugleich entsteht), und verständlich werden sie nur, soweit sie gleichsam zunächst in Sprache eingeführt werden.« (Butler 2001a: 15)
Der Begriff des Subjekts bezeichnet also die durch die Strukturen der symbolischen Ordnung vorgegebene linguistische Form, in der ein Individuum gesellschaftlich intelligibel und handlungsfähig wird, und verweist damit auf historische Bedingungen, die es den Individuen ermöglichen, handlungsfähige Subjekte zu sein. Butler betont jedoch, »daß Handlungsfähigkeit sich nicht logisch aus ihren Bedingungen ableiten, daß sich keine Kontinuität annehmen läßt zwischen (a) dem, was Macht möglich macht und (b) den Arten von Möglichkeiten, die die Macht annimmt. Behält das Subjekt im Handeln seine Entstehungsbedingungen bei, so impliziert das nicht, daß seine gesamte Handlungsfähigkeit in diese Bedingungen ver-
23 »So richtig oder überzeugend die Iterabilitätsthese in sprachphilosophischer Hinsicht auch ist, ist es deutlich, dass die Veränderungsmöglichkeit, die sie impliziert, für sich selbst genommen keinen Raum bietet für die Idee eines individuellen, zielgerichteten Eingreifens in den Prozess der Wiederholung im Sinne gewünschter Verschiebungen von Geschlechtsidentitäten.« (Vasterling 1995: 464; Übers. HM) 50
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strickt bleibt und daß diese Bedingungen in jeder Ausübung seiner Handlungsfähigkeit die gleichen bleiben.« (Butler 2001a: 17)
In meiner Diskussion der Konzepte von Performativität und Iterabilität wurde bereits deutlich, dass Butler die Form selbst nicht als hermetisch begreift. Nun gilt es den Prozess der Subjektivation24 genauer zu betrachten, der, doppelt bestimmt – als Prozess der Unterwerfung und zugleich Prozess der Subjektwerdung –, ein Subjekt hervorbringt, das an der Instabilität der Form widerständig verschiebend ansetzen kann: »Wenn das Subjekt weder durch die Macht voll determiniert ist noch seinerseits vollständig die Macht determiniert (sondern immer beides zum Teil), dann geht das Subjekt über die Logik der Widerspruchsfreiheit hinaus, es ist gleichsam ein Auswuchs, ein Überschuss der Logik« (Butler 2001a: 22). Butler erfasst diesen »Doppelaspekt« (Butler 2001a: 8) der Subjektivation anhand der Unterscheidung zwischen den strukturellen Formen der Subjektivität und den Individuen: »[E]s gibt etwas am oder im Subjekt, das nicht vollständig durch eine diskursive Konstruktion erfasst und bezwungen werden kann, etwas, das sich diesem totalisierenden Zugriff entzieht.« (Butler 2001c: 591) Um die besondere Perspektive Butlers nachvollziehen zu können, muss aber diese Unterscheidung von Subjekt und Individuum genau betrachtet und dezidiert von Vorstellungen abgegrenzt werden, die das kritische Potenzial der Subjekte in einem unabhängig von der Strukturen bestehenden Kern verorten. Wenn Butler die Möglichkeiten von Handlungsfähigkeit in den von der Form des Subjekts nicht erfassten Momenten des Individuums verortet, dann ist es wichtig zu verstehen, dass diese Momente nicht ›an sich‹ existieren, sie sind nicht benennbar.25 Damit grenzt sich Butler wiederum von humanistischen Konzeptionen des Subjekts ab, die »in erster Linie dazu (neigen), eine substantielle Person zu unterstellen, die als Träger verschiedener, wesentlicher und unwesentlicher Attribute auftritt. Eine humanistische feministische Position würde also die Geschlechtsidentität als Attribut einer Person begreifen, die wesentlich als eine ihrer geschlechtlichen Bestimmtheit vorangehende Substanz (pregendered substance) oder als ›Kern‹ 24 Mit dem Kunstwort »subjectivation« gibt Butler den von Foucault verwendeten Begriff »assujettissement« wieder, der genau den Doppelaspekt von Unterwerfung und Subjektwerdung umfasst (Butler 2001a: 187; A.d.Ü.). 25 »Es gibt zwar ein ›Außen‹ gegenüber dem, was vom Diskurs konstruiert wird, aber es handelt sich dabei nicht um ein absolutes ›Außen‹, nicht um ein ontologisches Dortsein, welches die Grenzen des Diskurses hinter sich läßt oder ihnen entgegensteht.« (Butler 1997a: 30) 51
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charakterisiert ist und ein universales Vermögen der Vernunft, der moralischen Überlegungen oder Sprache bezeichnet.« (Butler 1991: 28)
Im Anschluss an Butler lässt sich dieses über die Form des Subjekts hinausgehende Individuum als die abstrakte Konzeption der unbenennbaren Vielfalt menschlicher Möglichkeiten und Dispositionen verstehen. Diese Vielfalt wird im Rahmen spezifischer symbolischer Ordnungen in bestimmter Weise konfiguriert, wodurch bestimmte Subjekte als die einzigen intelligiblen Seinsmöglichkeiten hervorgebracht werden. Dies schließt andere Formen des Seins aus – diese sind aber eben nicht ›an sich‹ vorhanden, sie stellen jedoch das konstitutive Außen der historisch realisierten Formen dar und verweisen damit zugleich auf die grundsätzliche Möglichkeit, dass durch eine kollektive Arbeit an den gesellschaftlichen Bedingungen der Intelligibilität neue Seinsweisen ›erfunden‹ werden. Emanzipation hieße in diesem Sinne nicht, dass ›eigentliche‹ menschliche Wesenszüge von den sie verhindernden oder sie einschränkenden Formen befreit werden, vielmehr geht es um kollektive Suchbewegungen, die ihren Ausdruck wiederum in bestimmten historischen Formen finden; ›emanzipatorisch‹ sind diese Suchbewegungen, sofern sie nach Formen streben, die weniger einengend und weniger ausschließend sind als die herrschenden. Erste Hinweise, wie Butler dieses theoretische Problem angeht, fanden sich bereits bei meiner Rekonstruktion ihres Verständnisses von Natur und Kultur. Hier hat sich das Außerdiskursive (›Natur‹) eben nicht als der sozusagen nicht kulturell kolonisierte essenzielle Kern dargestellt, sondern vielmehr als das konstitutive Außen des diskursiv (›kulturell‹) Erfassbaren. Diese Überwindung des Terrains polarisierender Essentialismusdebatten (Anlage/Umwelt; Natur/Kultur; Individuum/ Gesellschaft; sex/gender) führt Butler nun in ihrer Diskussion der psychischen Konstitution des Subjekts weiter aus. Hier steht der paradoxe Zusammenhang von existenzieller Verhaftung in gesellschaftlichen Strukturen und einer Handlungsfähigkeit, die auf die Veränderung dieser Strukturen gerichtet sein kann, im Mittelpunkt. Butler entwirft eine Konzeption dieses Zusammenhangs, die die Entgegensetzung von Struktur und Handlung vermeidet, ohne dabei beides einfach gleichzusetzen: Es geht darum, die Möglichkeit intentionalen Handelns als Effekt einer psychischen Dynamik in ihrer gesellschaftlichen Form und Bedingtheit zu erfassen; hierfür eruiert Butler die Bedeutung der psychoanalytischen Konzeption des Unbewussten als konstitutives Außen des Bewusstseins. Das Originelle ihres Beitrags liegt dabei vor allem in dem Versuch, die Grenzziehung zwischen Psyche und Sozialem, zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ zu problematisieren. Anstelle eines äußerli52
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chen Verhältnisses, bei dem sich das Soziale und die Psyche als Entitäten gegenüberstehen, geht Butler von einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis aus: Das Psychische ist durch das Soziale strukturiert, zugleich sind diese Machtverhältnisse in ihrem Bestehen von den wiederholenden Aufführungen durch die Subjekte abhängig. Die Grenzziehung selber erscheint damit als gesellschaftlich, die Psyche ist gesellschaftlich konstituiert und weist zugleich über das Gesellschaftliche hinaus. Die Psyche ist nicht durch ihre gesellschaftlichen Bedingungen determiniert, vielmehr kann sie eine Dynamik entwickeln, die diese Existenzbedingungen in Frage stellt. Um Butlers Perspektive – gerade auch gegenüber kritischen Einwänden – klarer zu profilieren, gehe ich im ersten Schritt noch einmal auf die Frage der Materialität von Körpern (und inwiefern diese als außerdiskursives Moment zum Ausgangspunkt für Kritik und Widerstand werden können) ein. Im zweiten Schritt stelle ich Butlers Konzeption des außerdiskursiven Moments der Subjekte dar, um dann zu klären, wie sie in der ambivalenten Struktur der Subjekte die Möglichkeit für Widerstand begründet, ohne auf einen vordiskursiven ›Kern‹ zurückgreifen zu müssen. Im dritten Schritt diskutiere ich die Frage, wie diese als Potenzial angelegte Widerständigkeit sich in Gesellschaft veränderndes Handeln umsetzen kann, wobei hier wiederum auch die historische Verortung sowie die Grenzen von Butlers Perspektive zum Thema werden.
2.2.1 Der Körper als außerdiskursives Moment Mit der Lesart, der zufolge Butler ihr theoretisches Interesse durchaus auf die Frage der subjektiven Motivation einer performativen Resignifizierung richtet und deren Quelle in den diskursiv nicht völlig erfassten Momenten des Individuums sucht, widerspreche ich Interpretationen, die ihr linguistischen Monismus vorwerfen (vgl. beispielsweise Maihofer 1995; Hauskeller 2000). An der Frage der Materialität der Körper haben sich heftige Kontroversen entfacht. Mit Blick auf diese Kontroversen soll nun die Frage aufgegriffen werden, inwiefern der materielle Körper als außerdiskursives Moment zum Stützpunkt von Widerstand werden kann. Als sperrig erweist sich dabei Butlers Anliegen, ein Verständnis der strukturellen Konstitution der Subjekte zu entwickeln, das strukturimmanente Dynamiken als Möglichkeitsbedingungen für Widerstand erfasst. Dies wird von manchen Kritiker_innen als unzureichend betrachtet. So sucht beispielsweise Christine Hauskeller für ein »erfolgversprechenderes« Widerstandsmodell (Hauskeller 2000: 249) nach einer Instanz außerhalb der Macht und meint diese in der individuellen Erfahrung der Leiblichkeit zu finden. Dadurch stellt sie Butlers ver53
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meintlichem Diskursmonismus jedoch letztlich eine dualistische Konzeption gegenüber, bei der das Subjekt »schon etwas ist, bevor diese Machtwirkungen auf es treffen« (Hauskeller 2000: 262).26 Es stellt sich wiederum die Frage, wie diese außerdiskursive Instanz des Körpers zu denken ist und wie sie handlungsleitend wirken kann. Wenn unser Zugang zur Welt immer diskursiv vermittelt ist, können auch körperliche Erfahrungen nur als diskursivierte Erfahrungen in Handlungen wirksam werden (was nicht damit gleichzusetzen ist, dass es sich hierbei notwendigerweise um reflektierte Prozesse handelt, denn auch unreflektierte, habitualisierte Wahrnehmungsschemata sind sozial konstituiert und finden nur in sozialen Formen einen intelligiblen Ausdruck). Vor diesem Hintergrund verbindet sich die ›Hoffnung auf Erfolg‹ hinsichtlich widerständigen Handelns weniger mit der Suche nach einem bereits vor der Einwirkung der Macht bestehenden Aspekt des Individuums, sondern vielmehr mit der Frage nach der prekären Unbestimmtheit der Machtwirkungen – die sich eben auch im Hinblick auf die Konstitution von Körperlichkeit nie als eindeutige und festgeschriebene Effekte manifestieren. Hier zeigen sich wichtige Nuancen hinsichtlich der von mir weiter oben diskutierten Frage, wie das Verhältnis von Subjekt und Individuum zu verstehen ist: Im Anschluss an Butler bezieht sich die Frage nach kritischen Instanzen auf ein Individuum, das über die von Macht-Wissen-Regimen konstituierte Form des Subjekts hinausweist – 26 Hauskeller bezieht sich in ihrer Argumentation insbesondere auf Foucaults Äußerungen, in denen dieser vom Körper und den Lüsten als »Stützpunkt des Gegenangriffs« (Foucault 1977: 187) spricht. Butler setzt sich jedoch gerade mit dieser Textstelle von Foucault kritisch auseinander (Butler 1999a; 2003b). Auch bei Foucault selber scheint mir das Verhältnis von Individuum und Macht eher eine komplexe Beziehung der Gleichzeitigkeit darzustellen, die in Hauskellers Lesart von den Körpern als »Rohform des Individuums« (Hauskeller 2000: 262), die als Angriffspunkte der Macht dieser Macht entzogen werden müssen (Hauskeller 2000: 271), zu dualistisch verstanden wird: »Die Macht funktioniert und wird ausgeübt über eine netzförmige Organisation. Und die Individuen zirkulieren nicht nur in ihren Maschen, sondern sind auch stets in einer Position, in der sie diese Macht zugleich erfahren und ausüben; sie sind niemals die unbewegliche und bewußte Zielscheibe dieser Macht, sie sind stets ihre Verbindungselemente. […] Es gilt also nicht, das Individuum als eine Art elementaren Kern, primitives Atom, als vielfältige und träge Materie aufzufassen, auf die die Macht angewandt oder treffen würde, eine Macht, die die Individuen unterwerfen oder zerbrechen würde. Tatsächlich ist das, was bewirkt, daß ein Körper, daß Gesten, Diskurse, Wünsche als Individuen identifiziert und konstituiert werden, bereits eine erste Wirkung der Macht. Das Individuum ist also nicht das gegenüber der Macht; es ist, wie ich glaube, eine seiner ersten Wirkungen.« (Foucault 1978: 82f) Ausführlicher gehe ich auf Foucaults Subjektanalyse im 4. Kapitel ein. 54
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aber als konstitutives Außen und nicht als absolutes, ontologisch bestimmbares Außen. Dies ist deutlich von einer Vorstellung zu unterscheiden, wie sie beispielsweise Hauskeller vertritt, denn dieses Individuum ›ist‹ nicht, es ›existiert‹ nur als unbenennbares Potenzial, das mit den bestehenden Formen in Konflikt geraten kann. Es ›gibt‹ in diesem Sinne auch keinen außerdiskursiven Körper – wohl aber, so will ich nun im Anschluss an Veronica Vasterling argumentieren, körperliche Erfahrungen, die sich an den bestehenden Formen ihrer Intelligibilität stoßen können. Wie ich in der Diskussion um Butlers Konzeption des Verhältnisses von Natur und Kultur diskutiert habe, leugnet sie die physiologische und haptische Dimension der individuellen Existenz nicht. Da diese jedoch nicht den Schwerpunkt ihres analytischen Interesses bildet, geht es Butler vorrangig um die Frage, wie der Körper als Materialisierung von Diskursen zu begreifen ist. Bezogen auf die körperliche Materialität kann Vasterling überzeugend darlegen, dass der Monismusvorwurf insofern nicht haltbar ist, als sich Butlers (erkenntnistheoretische) Annahme, es gebe keinen Bezug auf den Körper, der nicht sprachlich vermittelt ist, nicht einfach mit der (ontologischen) Aussage, der Körper sei eine sprachliche Substanz, kurzschließen lässt (Vasterling 1999).27 Allerdings sei Butlers Perspektive insofern problematisch, als sie mit der Aussage, dass die Sprache die Intelligibilität konstituiert, zugleich impliziere, dass der Zugang zum Körper überhaupt nur als sprachlicher möglich ist. Hier zeigt Vasterling, dass eine phänomenologische Konzeption des Körpers, der seine Präsenz signalisiert, ohne notwendigerweise intelligibel zu sein, durchaus an Butlers Argumentation anschlussfähig ist (Vasterling 1999; 2003).28 Der außerdiskursive Körper ist als 27 Butler selbst weist den Vorwurf des Diskursmonismus zurück: »Es ging nie darum, dass ›alles diskursiv konstruiert ist‹; diese Aussage, wann und wo immer sie gemacht wird, gehört zu einer Art von diskursivem Monismus oder Linguistizismus. Er bestreitet die konstitutive Kraft des Ausschlusses, der Auslöschung, der gewaltsamen Zurückweisung und Verwerflichmachung [abjection] und deren aufsprengende Wiederkehr gerade unter den Bedingungen diskursiver Legitimität.« (Butler 1997a: 30) 28 Diese wird dadurch untermauert, dass Butler selber, trotz ihrer Kritik an der mangelnden Reflexion der sprachlich-kulturellen Konstruktion von Geschlecht bei Merleau-Ponty, dessen »vielversprechende Denaturalisierung des geschlechtlichen Leibes« hervorhebt. Vor allem sein posthum veröffentlichtes Werk Das Sichtbare und das Unsichtbare bilde die Grundlage »für vieles von dem, was ich in Körper von Gewicht über das Verhältnis von Sprache und Leib sagen will. Obwohl der Leib wie eine Sprache ist und durch die Sprache zugänglich gemacht wird, überschreitet er doch auch die Sprache, von der er abhängt. In ähnlicher Weise verlangt die Sprache, dass der Leib geschrieben und gesprochen wird, aber sie 55
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Erfahrung zugänglich, die nicht intelligibel ist, die nicht sprachlich ausgedrückt werden kann. Dies kann als Mangel erfahren werden, als ein Verlangen nach Sprache, als Verlangen danach, das Unintelligible in Sprache zu fassen: »[L]ived experience is not restricted to the intelligible body. If it were, it would be hard to explain why and how, for instance, a teenager who has grown up in a community that considers heterosexuality as a natural fact feels desires that don’t fit this fact. […] Because we have access to the unintelligible body with its sometimes unintelligible desires we not only may come to feel ill at ease with the intelligible body but also may come to conceive of, for instance heterosexuality as an oppressive norm.« (Vasterling 1999: 25)
Vasterling schlägt vor, die Konzeption von Sprache als System sedimentierter Konventionen zu erweitern, um auch die Dimension von Sprache als Ausdruck von Intentionen erfassen zu können. Sie bezieht sich dabei auf Merleau-Pontys Unterscheidung von gesprochener Sprache (parole parlée) und sprechender Sprache (parole parlante): »The latter refers to language or expression at its primary stage, where the signifying intention is ›at the stage of coming into being‹ […] The former refers to the linguistic world of sedimented expressions, a world that is constituted by acts of expression. In other words, ›spoken speech‹ is a sedimentation of ›speaking speech‹.« (Vasterling 2003: 212)
Auf diese Weise lässt sich die sprechende Sprache als kreatives Moment fassen, durch das das Verlangen nach Intelligibilität Ausdruck finden kann. Zugleich ist dieses kreative Moment aber keine Neuschöpfung, da die gesprochene Sprache der sprechenden Sprache immer als Bedingung ihrer Intelligibilität vorausgesetzt ist; nur indem sich sprechende Sprache zitierend in das gegebene System der Bedeutungen einschreibt, kann sie durch Verschiebungen neue Bedeutung konstituieren. Diese Überlegungen Vasterlings lassen sich gut an Butlers Verarbeitung von Iterabilität und Performativität anschließen und erweitern diese in Richtung der Frage nach den subjektiven Motiven für performative Verschiebungen. Indem sie die prinzipielle (wenn auch nicht intelligible/ nicht benennbare) Erfahrbarkeit des sprachlich konstituierten Außen von Körperlichkeit betont, verweist Vasterling auf eine Grenze der linguisti-
löscht diese Abhängigkeit von ihm aus, ohne sie wirklich zu überwinden. Genau auf diese ›Verflechtung‹ (entrelac) macht uns Merleau-Ponty aufmerksam, und sie bleibt ein Knoten im Denken über den Leib.« (Butler 1997b: 185) 56
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schen Form, an der das Motiv zur Veränderung entstehen kann. Das sprechende, zitierende Subjekt existiert damit auch als intentionales und expressives Körperwesen, dessen Erfahrungen nicht bloße Epiphänomene oder Effekte der symbolischen Ordnung sind. Andererseits ist diese unintelligible Erfahrung jedoch nicht unabhängig von der gegebenen symbolischen Ordnung, da sie nur durch Sprache artikuliert und der Reflexion zugänglich gemacht werden kann, wobei das, was als unintelligible Empfindung dem Verlangen nach Ausdruck zugrunde liegt, durch symbolische Ausschlüsse konstituiert wird. So ist das Begehren des Jugendlichen in Vasterlings Beispiel – ganz im Sinne Butlers – das konstitutive Außen der heterosexuellen Matrix und kann nur in dieser Matrix – als homosexuelles Begehren – intelligibel werden. Für eine Konzeptualisierung der auch von Butler postulierten Verschränktheit von sozialer Konstitution und körperlicher Materialität bietet die phänomenologische Leib-Körper-Unterscheidung also die Möglichkeit einer sinnvollen Weiterführung und Ergänzung,29 die sich so konzipieren lässt, dass Butlers Einsicht in die prinzipielle Kontingenz der Unterscheidung von Diskursivem und Außerdiskursivem erhalten bleibt und sich die Theorie somit nicht »zwischen den Polen soziale Konstruiertheit versus natürliche Bestimmung verfängt« (Villa 2003: 140). Die von den herrschenden symbolischen Formen erzeugten Ausschlüsse, die mit der Intelligibilität zugleich die Unintelligibilität von körperlichen Erfahrungen konstituieren, können als eine Quelle der Motivation für die Verschiebung und Überschreitung dieser Formen gefasst werden, sie konstituieren einen über diese Formen hinausgehenden »Überschuss der Logik« (Butler 2001a: 22). Diesen Überschuss rekonstruiert Butler ihrerseits in der Konstitution des Unbewussten als psychische Dynamik, worauf ich im Folgenden genauer eingehe.
2.2.2 Die psychische Konstitution des Subjekts Wie wir gesehen haben, stellt Butler sich die Aufgabe, eine theoretische Konzeption zu entwerfen, die die Konstitution eines handlungsfähigen, reflexiven Subjekts in und durch Machtverhältnisse erfasst, ohne dabei Reflexivität und Handlungsfähigkeit auf vorgängige, von den Machtverhältnissen unabhängige Instanzen zurückzuführen. Für sie liegt die Antwort auf die Frage, warum die performativen Konstruktionsprozesse von den Subjekten immer wieder vollzogen werden, in den affektiven Verhaftungen, die das Individuum veranlassen, sich immer wieder affirmativ auf seine sprachlich konstruierte Subjektposition zu beziehen, selbst 29 Siehe dazu beispielsweise auch Villa 2000. 57
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dann, wenn es durch diese entwürdigt und unterdrückt wird. Mir geht es aber nun vor allem darum nachzuvollziehen, dass die in den performativen Prozessen immer enthaltene Möglichkeit des Scheiterns einer einfachen Reproduktion der Machtverhältnisse nicht nur formal ist, sondern dass in Butlers Konzeption die Subjekte auch willentlich Bedeutungen verschiebend zur Disposition stellen können. Zentral ist dabei die Frage, wie gesellschaftliche Normen das Individuum in seiner Form als Subjekt hervorbringen und dabei zugleich durch Ausschlüsse eine psychische Dynamik (das ›Unbewusste‹) hervorbringen. Butler betont, dass die Verinnerlichung sozialer Normen kein geradliniger Prozess der Internalisierung ist. Vielmehr können diese Normen nur durch – keineswegs immer bewusst erfolgende – Interpretationsprozesse wirksam werden, in denen das Individuum seinen Subjektstatus dadurch erlangt, dass es diese Normen durch Aktivität der Fantasie wiederholt (zitiert). Diese reflexive Wendung, durch die das Individuum die Machtverhältnisse auf sich selbst bezieht und so seine Identität konstituiert, will Butler nicht als einseitigen Prozess verstehen, in dem ›wir‹ die Bedingungen der Macht aufgrund ihrer Übermacht verinnerlichen und akzeptieren, denn dabei werde übersehen, »dass ›wir‹, die wir diese Bedingungen annehmen, in ›unserer‹ Existenz durch und durch von ihnen abhängig sind« (Butler 2001a: 8). Es geht also nicht um einen äußerlichen, konflikthaften Prozess von individuellem Willen und normativem Zwang, vielmehr wird der individuelle Wille durch die Normen erst konstituiert. Zugleich ist der Begriff des ›Willens‹ insofern ernst zu nehmen, als er wiederum die aktive Möglichkeit des Subjekts bezeichnet, die Normen zu reartikulieren, und damit eine Ressource für Abweichung und Widerstand darstellt (vgl. Butler 2001c: 591).30 Vasterlings Beharren auf der Bedeutung unintelligibler Körper-Erfahrungen findet sein Pendant in Butlers Auseinandersetzung mit Foucaults Subjektkonzeption, gegenüber der sie die Bedeutung des Unbewussten als psychischer Dynamik stark macht. Die Differenz von Subjekt und Individuum ergänzt sie durch die Unterscheidung von Seele und Psyche. Den Begriff der Seele übernimmt sie dabei von Foucault, um das normative Ideal zu erfassen, das als äußere soziale Form »aus Prozeduren der Bestrafung, der Überwachung, der Züchtigung, des 30 Butler ist sich der damit verbundenen ontologischen Paradoxie durchaus bewusst: »In dem Moment, da wir zu bestimmen suchen, wie die Macht ihr Subjekt hervorbringt, wie das Subjekt die Macht in sich aufnimmt, der es seine Entstehung verdankt, scheinen wir in dieses tropologische Dilemma zu geraten: Wir können kein Subjekt annehmen, das eine Verinnerlichung vollzieht, wo allererst die Subjektbildung zu erklären ist.« (Butler 2001a: 9f) 58
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Zwanges geboren wird« (Foucault 1977: 41f) und für das Individuum die gesellschaftlich kohärente und lebbare Identität darstellt, die es beständig anstrebt. Sie kritisiert allerdings, dass Foucault damit zwar den Aspekt der Unterwerfung erfasse, der Frage der »psychischen Form der Macht« (Butler 2001a: 8) jedoch nicht nachgehe und dadurch die doppelte Bestimmung der Subjektivation nicht wirklich ausloten könne.31 Infolgedessen könne er nicht erklären, wie es zu Widerstand gegen die normalisierende Form der Seele kommen kann. Butler liest daher Foucaults Machtanalyse und Freuds Theorie des Unterbewussten gegeneinander, um »die vorläufigen Perspektiven zu erkunden, aus der jede Theorie die andere erhellen kann« (Butler 2001a: 8). In ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse greift sie das Konzept des Unbewussten auf, um einem hermetischen Verständnis der Subjektwerdung durch bruchlose Internalisierung von Normen zu entkommen. Das intelligible Subjekt, welches durch das normative Ideal konstituiert wird, wird immer um den Preis dessen hervorgebracht, was sich der normativen Forderung entzieht und damit unbewusst bleibt: »Die Psyche, die das Unbewusste einschließt, ist somit vom Subjekt ganz verschieden; sie ist genau das, was über die einkerkernden Wirkungen der diskursiven Forderungen einer kohärenten Identität, über die diskursive Forderung, ein kohärentes Subjekt zu werden, hinausreicht« (Butler 2001a: 83). Da bei der Subjektwerdung das Verworfene »als eine Art definierender Negativität weiter (besteht)« (Butler 1997a: 262), für das Subjekt also konstitutiv ist, kann dieses niemals eine stabile, abgeschlossene Identität haben und nicht die kohärente, determinierte Wirkung eines vorgängigen Diskurses sein. Die grundlegende Paradoxie, die den Subjekten anhaftet, kann also weiter präzisiert werden: Diese sind ihren Entstehungsbedingungen leidenschaftlich verhaftet und können sie aber zugleich als Beschränkungen erfahren. Dieser Zusammenhang lässt sich näher aufschlüsseln, indem die Unterwerfung unter Normen als notwendige Bedingung des individuellen Begehrens nach Leben(sfähigkeit) verstanden wird:
31 »Meiner Ansicht nach greift Foucaults Beschreibung der Wirksamkeit von Normen in Überwachen und Strafen zu kurz. Bei Foucault werden die Gefangenen zu schnell und zu vollständig durch das Gefängnis als Gefangene konstituiert. Aber man versteht nie genau, wie und wodurch sich diese Konstitution vollzieht. Ist es ein einmaliger Akt? Ist es ein repetitiver Vorgang? Kann es misslingen? Gibt es Brüche? Gibt es Abweichungen? Gibt es die Möglichkeit, sich zu widersetzen, oder ist die Macht vollständig totalisierend?« (Butler 2001c: 590) 59
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»Übernimmt man Spinozas Auffassung, wonach jedes Streben Streben nach dem Beharren im eigenen Sein ist, und fasst man die metaphysische Substanz, die das Ideal des Strebens bildet, etwas geschmeidiger als soziales Sein, dann kann man vielleicht das Streben nach dem Beharren im eigenen Sein als etwas beschreiben, über das sich nur unter den riskanten Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens verhandeln lässt.« (Butler 2001a: 31)
Während die gesellschaftlichen Normen einerseits die Bedingung der Lebensfähigkeit als Subjekt darstellen, konstituieren sie aufgrund der Unmöglichkeit der diskursiven Erfassung aller Möglichkeiten des ›Lebens‹ immer einen nicht assimilierbaren Rest am Individuum, der sich als Unbewusstes in der psychischen Dynamik geltend machen kann. Diese Konzeption eines konstitutiven Außen der Intelligibilität beruht nicht auf einem emphatischen, substanzlogischen Begriff des Lebens, sondern geht vom gesellschaftlich Gegebenen als dem, was sich bezeichnen lässt, aus und fragt nach den spezifischen Grenzen, die es den Möglichkeiten des Lebens setzt.32 Das Individuum kann sein Beharren im Sein nur dadurch erfüllen, dass es von anderen gesehen, erkannt, anerkannt wird, was wiederum nur in gesellschaftlichen Kategorien geschehen kann. Die für Anerkennung notwendige soziale Intelligibilität beruht auf ontologischen Effekten einer symbolischen Ordnung, die »das Menschliche in einigen Fällen lesbar und (an)erkennbar macht und in anderen Fällen nicht« (Butler 2001c). Das Subjekt konstituiert sich also nur im Bezug auf Andere, durch Anerkennung; sein innerer psychischer Raum konstituiert sich im Prozess der Anwendung symbolischer Gesetze auf es selbst, wodurch Bewusstsein und Gewissen, die reflexiven Instanzen des Subjekts, als psychische Formen der Macht entstehen. Die mit der Konstitution der Psyche verbundenen »leidenschaftlichen Verhaftungen« des Subjekts an seine Unterordnung (Butler 2001a: 11ff) lassen sich für Butler paradigmatisch in der ursprünglichen Abhängigkeit des Kindes nachvollziehen, das sozial und psychisch existenziell darauf angewiesen ist, seine Bezugspersonen zu lieben; es muss sich binden und unterordnen, um überhaupt als Subjekt (weiter)leben zu können. Butler zieht daraus den Schluss, dass die existenzielle Bindung für das Subjekt als eigener Affekt erscheinen muss: »Wenn das Subjekt nicht geformt werden kann, ohne 32 So richtet sich beispielsweise Butlers Kritik an der Einschränkung des Lebens durch die Kategorie Geschlecht nicht allein darauf, dass dadurch nur zwei Geschlechter möglich sind und andere ausgeschlossen werden – die es nun zu ermöglichen gilt, indem Geschlecht vervielfältigt wird. Vielmehr besteht die Beschränkung grundsätzlich darin, dass menschliches Leben überhaupt nur in der Form der Geschlechtlichkeit denkbar/lebbar ist. 60
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leidenschaftliche Bindung an jene, denen es untergeordnet ist, dann erweist sich die Unterordnung als zentrales Motiv der Subjektwerdung« (Butler 2001a: 12). Durch diese ursprüngliche leidenschaftliche Verhaftung werden Begehren, Bewusstsein/Gewissen und Norm in der Psyche so miteinander verknüpft, dass ein Begehren der Norm als Bedingung zukünftiger Unterwerfung konstituiert wird: »Die Psyche ist also in diesem Sinne Effekt der Sedimentierung der Beziehung von Leben und Macht. Sie offenbart, dass das Gewissen im Innersten durch das Gesetz gezeichnet ist, welches es beständig hin und her wendet, integriert und zugleich verweigert, wodurch es nicht nur von der Unmöglichkeit zeugt, sich von ihm loszureißen, sondern sogar von der Unmöglichkeit, sich überhaupt ohne dessen Gegenwart zu entwickeln.« (Le Blanc 2004: 55; Übers. HM)
Die Leidenschaftlichkeit der Bindung an die Normen begründet Butler also mit dem Begehren des ›Ich‹, im eigenen Sein zu verharren. Diese fundamentale Abhängigkeit wirklich zu erkennen, kann sich das Subjekt jedoch nicht leisten; um als ›Ich‹ zu bestehen, um seine Autonomie als Subjekt zu bewahren, muss es seine Formierung in dieser Abhängigkeit und damit seine eigenen Möglichkeitsbedingungen verleugnen. Dadurch entsteht eine ambivalente Konstellation: Einerseits muss das ›Ich‹ seine konstitutive Abhängigkeit von äußeren Bedingungen verleugnen, um ein selbstidentisches Subjekt sein zu können. Andererseits führt gerade diese Verleugnung dazu, dass das ›Ich‹ die Bedingungen dieser Abhängigkeit als eigene Affekte reproduziert und damit die äußere Abhängigkeit affirmiert. Diesen Gedanken, dass die Autonomie des Subjekts auf der verleugneten Abhängigkeit von sozialen Verhältnissen beruht, teilt Butler – wie ich im 6. Kapitel genauer zeigen werde – mit Marx, der in seiner Analyse des bürgerlichen Subjekts die autonome Subjektivität als Kehrseite struktureller Objektivität der gesellschaftlichen Verhältnisse erkennbar macht. Während Marx explizit historisch singuläre Bedingungen dieser Autonomie analysiert, kann Butlers Konzeption dieses Zusammenhangs jedoch als Subjekttheorie im Sinne einer anthropologisch-universellen Bestimmung menschlicher Subjektkonstitution missverstanden werden – oder aber sie müsste in ihrer Geltung so formal sein, dass sie kaum mehr gesellschaftsanalytischen Gehalt hätte.33 Dass eine historische Verortung bei Butler allerdings angelegt ist, zeigt sich auch wieder in der Wendung, die sie dem Zitat von Spinoza gibt, indem 33 Auf diese Spannung zwischen Butlers Annahme einer prinzipiellen Umkämpftheit der Ontologie des Menschlichen und gewissen ontologischen Annahmen über das Menschliche weist auch Lloyd (2008) hin. 61
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
sie das Sein, nach dem das Subjekt strebt, als soziales Sein präzisiert. Auf die hier nur angedeuteten Grenzen der von Butler gewählten Argumentationsebene komme ich im 3. Kapitel ausführlicher zu sprechen, um dann auch die darin angelegten theoretisch-analytischen Anschlüsse am Foucault und Marx weiter zu erörtern. Vorher gilt es aber noch einen weiteren zentralen Erkenntnisgewinn zu verdeutlichen, den Butler durch ihre Konzeption einer spezifischen Dynamik des Psychischen erreicht; denn auf diesem Wege kann sie den von Foucault und Marx in ihren Perspektiven wiederum nicht erfassten Aspekt der subjektiven Motivation für widerständiges Handeln erklären.
2.2.3 Ambivalenz und Melancholie des Subjekts Der Prozess der Subjektivation stellt sich für Butler also als ein doppelter und ambivalenter dar: Das Subjekt erlangt Handlungsfähigkeit durch Unterwerfung; jede (auch widerständige) Handlung setzt die Bedingungen der Unterwerfung voraus und reproduziert sie. Um diese notwendige Wiedereinsetzung der Macht als Bedingung der Subjektwerdung nicht als quasi automatischen Prozess der Reproduktion des immer Gleichen begreifen zu müssen, ist es wichtig zu verstehen, dass Butler den Prozess der Subjektwerdung als ein psychisches Ereignis begreift und nicht lediglich als physischen Effekt auffasst (vgl. Le Blanc 2004: 56). Das Unbewusste bezeichnet einen nicht assimilierbaren Rest, den die diskursive Bezeichnung der Macht nicht erfassen kann, das Unbewusste ist der Macht jedoch nicht äußerlich – es ist keine Form der Innerlichkeit, die sich der Macht entzieht. Vielmehr ist es deren konstitutives Außen: »das Unbewusste der Macht selbst« (Butler 2001a: 100). Im Folgenden geht es mir darum nachzuvollziehen, wie Butler das psychoanalytische Konzept der Verwerfung an Foucaults Konzept des regulatorischen Ideals bindet, das bestimmte Formen des Begehrens möglich macht und andere unmöglich werden lässt (Butler 2001a: 29), und damit den theoretischen Zugang für eine historische Verortung dieser Prozesse öffnet. Mit der Figur der Wendung bezeichnet Butler die Überschussbewegung, in der die unterwerfende Macht im und durch das Subjekt Effekte hervorbringt, die sich gegen sie selbst wenden (können). Die »Begierde im Sein zu bestehen« (Butler 2001c: 592) kann nur durch die Hinwendung zu den von der symbolischen Ordnung bereitgestellten Namen oder Positionen erfüllt werden. Diese Strukturen regeln, was als wirklich und menschlich gelten kann, welche Formen des Begehrens, welche Subjektpositionen anerkannt werden, und verwerfen im gleichen Zug das, was als unwirklich, als monströs gilt. In der Bewegung der Wendung eignet sich das ›Ich‹ die gesellschaftlichen Normen als eigene Affekte an und 62
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schränkt dadurch gleichzeitig seine Lebensoptionen ein; es macht das zu seinem ›inneren Gesetz‹, zu seinem Gewissen, was ihm von außen aufgenötigt wird (vgl. Macherey 2003). Um die psychische Dynamik zu erfassen, die dabei entsteht, präzisiert Butler die Konzeption der Wendung als einen Prozess, bei dem ein Objekt des Begehrens, das aufgrund der Verwerfung in der äußeren Welt nicht existieren kann, verinnerlicht wird. Das symbolische Verbot, welches die Verwerfung begründet, trifft dabei allerdings, so sei hier wiederum betont, nicht auf ein vorgängiges Begehren, vielmehr erzeugt es, indem es ein bestimmtes Begehren als Wirklichkeit hervorbringt, zugleich im Prozess der Verwerfung dessen konstitutives Außen. Diese nicht lebbaren Möglichkeiten sind für das Subjekt nicht unmittelbar zugänglich, sie machen sich jedoch in der Psyche als Melancholie geltend. Da das ›Ich‹ die Einschränkung seiner Begehrensoptionen nicht einfach als äußere Begrenzung wahrnehmen kann, kann es diese auch nicht bewusst als Verlust an Lebensmöglichkeiten betrauern. Vielmehr verleibt es sich diesen Verlust melancholisch ein und wird zu dem, was es nicht haben kann. Der Begriff der Melancholie bezeichnet also einen Objektverlust, der nicht betrauert werden kann, weil er als Verlust gar nicht bewusst ist, da das verlorene oder ausgeschlossene Objekt im Rahmen der symbolischen Ordnung nicht als mögliches Objekt ›denkbar‹ ist. Melancholie erscheint damit als Effekt des Prozesses, in dem die soziale Welt ins Innere aufgenommen wird. Zum einen wird dabei aber dieses ›Innere‹, die Struktur der Psyche, überhaupt erst in ihrer spezifischen Form konstituiert: »Die Wendung bringt somit die Teilung zwischen Ich und Objekt, innerer und äußerer Welt erst hervor, die sie schon vorauszusetzen scheint.« (Butler 2001a: 160) Zum anderen bewirkt die Melancholie den Verlust der sozialen Welt, indem das normative Ideal der symbolischen Ordnung unsichtbar und als Idealität des Gewissens wirksam gemacht wird (Butler 2001a: 177). So wie die leidenschaftliche Verhaftung an die Bedingungen des Seins in Gestalt eigener Affekte erlebt wird, wird auch das symbolisch strukturierte Begehren als eigenes Begehren erfahren: »Die Melancholie scheint ein Verinnerlichungsprozess zu sein, und ihre Wirkungen lassen sich sehr wohl als psychischer Zustand lesen, der sich faktisch selbst an die Stelle der Welt gesetzt hat, in der er angesiedelt ist.« (Butler 2001a: 167) Diesen Mechanismus bezieht Butler auf die Konstitution der Geschlechtsidentität.34 Diese vollzieht sich in einem Prozess der produktiven Verwerfung, in dem die heterosexuelle Matrix bestimmte Formen
34 Butler geht – zumindest in kursorischen Überlegungen – davon aus, dass sich das Konzept der Melancholie auch auf ›Rasse‹ als Identitätsmoment beziehen lässt (Butler 1999b: 169f). 63
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des Begehrens und der Objektwahl als wirklich und normal konstituiert – und andere Formen zugleich als deren konstitutives Außen verwirft. Die heterosexuelle Geschlechtsidentität hat insofern immer eine melancholische Struktur, da sie auf der Verwerfung homosexuellen Begehrens beruht. Das Gesetz der Heterosexualität bringt die heterosexuelle Identität durch die nicht betrauerbare Verwerfung des homosexuellen Objekts hervor, welches jedoch als Verworfenes inkorporiert und »im und als Ich« (Butler 2001a: 125) phantasmatisch bewahrt wird. In der Melancholie wird das verlorene Liebesobjekt dadurch erhalten, dass das ›Ich‹ selbst zu ihm wird. Die Geschlechtszugehörigkeit als (heterosexueller) Mann oder Frau ist auf dieser Verwerfung begründet, heterosexuelle Melancholie lässt Männlichkeit bzw. Weiblichkeit als Subjektpositionen aus der Weigerung hervorgehen, um das Männliche bzw. das Weibliche als mögliches Liebesobjekt zu trauern (Butler 2001a: 138). Die Geschlechtsidentität ist insofern »Zeichen und Symptom einer alles durchdringenden Verleugnung« (Butler 1997a: 324): »Der heterosexuelle Mann wird zu dem Mann (ahmt ihn nach, zitiert ihn, eignet ihn sich an, nimmt ihn an), den er ›niemals‹ liebte und um den er ›niemals‹ trauerte, die heterosexuelle Frau wird zu der Frau, die sie ›niemals‹ liebte und um die sie ›niemals‹ trauerte.« (Ebd.) Heterosexuelle Melancholie ist keine individuelle Weigerung, zu homosexuellen Bindungen zu stehen, vielmehr handelt es sich um ein kulturell ritualisiertes Verbot, das vor dem Hintergrund der Strukturen von Phallogozentrismus und heterosexueller Matrix eine Kultur der Geschlechtermelancholie hervorbringt, »in der Männlichkeit und Weiblichkeit Spuren unbetrauerter und unbetrauerbarer Liebe sind, ja in der Männlichkeit und Weiblichkeit in der heterosexuellen Matrix durch die Ablehnungen, die sie vollziehen, gestärkt werden« (Butler 2001a: 132). Homosexualität wiederum ist gleichsam Hervorbringung und konstitutives Außen der Heterosexualität; das homosexuelle Begehren wird durch das Verbot nicht ausgelöscht, vielmehr werden »das Verbot und die gelebte Erfahrung des Verbots als wiederholte Entsagung durch eben jenen Trieb genährt […], dem entsagt wird« (Butler 2001a: 134).35 Die Ausbildung einer ver35 »Der Akt des Verzichts auf die Homosexualität stärkt somit paradoxerweise die Homosexualität, aber er stärkt sie als Kraft der Entsagung. Die Entsagung wird so Ziel und Werkzeug der Befriedigung. Und wir vermuten, daß es ebendie Angst der Freisetzung der Homosexualität aus diesem Zirkel der Entsagung ist, die die Hüter der Männlichkeit beim amerikanischen Militär derart in Schrecken versetzt. Was wäre ›Männlichkeit‹ auch ohne diesen aggressiven Zirkel der Entsagung, aus dem sie erst hervorgeht? Schwule in der Armee bedrohen die Männlichkeit nur, weil diese Männlichkeit auf verleugnete Homosexualität zurückgeht.« (Butler 2001a: 134f) 64
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meintlich kohärenten homosexuellen Identität trägt wiederum insofern melancholische Züge, als sie die konstitutive Verwiesenheit auf Heterosexualität nicht (an)erkennen kann.36 Durch diese Konzeption einer melancholischen Einverleibung der symbolischen Normen als eigenes Begehren kann Butler auch ihre Kritik an der Voraussetzung von (Geschlechts-)Identität als einer Grundlage für (politisches, widerständiges) Handeln weiter zuspitzen. Diese Identität kann nun nicht unmittelbar als Hoffnungsträger emanzipatorischer Bestrebungen erscheinen, da ihre Annahme durch das Subjekt den vorgängigen Ausschluss anderer Möglichkeiten bedingt. Insofern muss das Streben nach einer stabilen Identität die vorgängigen Verwerfungen immer wieder bestätigen und bleibt der melancholischen Struktur des Psychischen verhaftet. Jede kohärente Identität beruht auf Verwerfungen; »starre Formen der Geschlechtszugehörigkeit und der sexuellen Identifizierung, gleich ob hetero- oder homosexuell (sind) Folgeformen der Melancholie« (Butler 2001a: 135). Wenn das Subjekt also eine solche Form der Identität zur Grundlage seiner normativen Setzungen und politischen Forderungen macht, dann bestätigt es letztlich immer wieder die eigene Beschränkung sowie den Ausschluss des Anderen – und kann, je nachdem, was für eine gesellschaftliche Machtposition es bekleidet, anderen Individuen gar ihren Subjektstatus oder ihr Lebensrecht absprechen. Die »politische Frage nach den Kosten der Artikulation einer kohärenten Identitätsposition durch Erzeugung, Ausschluss und Verleugnung einer Sphäre verworfener Gespenster, die die willkürlich abgeschlossenen Bezirke der Subjektpositionen bedrohen« (Butler 2001a: 140) stellt sich damit als Problem einer Politik der Verleugnung gegenüber Identifizierungen, die im Rahmen der gegebenen Subjektpositionen nicht anerkannt werden können. Butler will demgegenüber eine
36 Regina Becker-Schmidt (2007) weist darauf hin, dass in der Psychoanalyse mit den Mechanismen von Verwerfung und Verdrängung zwei unterschiedliche Abwehrmechanismen bezeichnet werden, die Butler nicht näher betrachtet, so dass sie die Motive und Möglichkeiten von Handlungsfähigkeit nicht differenziert ausloten kann. Dies erscheint mir für eine Weiterführung der Butler’schen Analyse der Subjektkonstitution interessant, kann aber an diese Stelle nicht näher diskutiert werden. An Butlers Fokus auf Verwerfung scheint mir allerdings wichtig, dass sie damit die konstitutive Bedeutung von nicht-intelligiblen Lebensoptionen und somit auch die historische Partikularität der symbolischen Ordnung betont. Auf diese Weise bekommt sie in den Blick, dass die Kritik an den beschränkenden Verhältnissen sich nicht auf (individuelle oder kollektive) Arbeit am Hervorholen des Verdrängten beschränken lässt, sondern sich als kollektive ›Erfindungsarbeit‹ auf eine Erweiterung der symbolischen Möglichkeiten richten müsste. 65
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
Perspektive eröffnen, die nach den Möglichkeiten des Eingreifens in das Gesetz des Wirklichen sucht: »Es handelt sich dabei also nicht mehr darum, die Subjekte von der Macht zu befreien, […] sondern sie von sich selbst zu befreien, von dieser melancholischen Form, die sie in einem unbestimmten und illusorischen Prozess in ihrem Selbst einschließt, die sie beständig in ein ›Über-Ich-Bewusstsein‹ zurückführt, welches, wie Butler bemerkt, nicht nur der staatlichen Macht entspricht, sondern vielmehr dessen ›psychische Idealisierung‹ darstellt.« (Le Blanc 2004: 59; Übers. HM)
Ansatzpunkt für diese Möglichkeit des Aufbegehrens gegen die Normen/ Gesetze der symbolischen Ordnung ist wiederum paradoxerweise jenes Begehren nach Leben, welches die Grundlage für die leidenschaftlichen Verhaftungen an diese Normen/Gesetzen darstellt. Angewiesen auf die bereitgestellten Kategorien der Anerkennung, kann das Individuum zugleich deren Beschränkungen spüren, auch wenn es für diese keine Namen haben mag. Da die Benennung des Möglichen immer zugleich anderes unmöglich macht, kann der Moment des Widerstands dann entstehen, »wenn wir uns an unsere Beschränkung verhaftet finden, wenn wir uns gerade in unserem Verhaftetsein beschränkt finden« (Butler 2003b: 64). Ähnlich wie Vasterling in Bezug auf die Erfahrung der Beschränkung durch die verfügbaren Formen der Intelligibilität des Körpers argumentiert, sieht Butler in der Erfahrung der Beschränkung durch die verfügbaren Formen der Subjektivität die Möglichkeit eines Verlangens nach Sprache, nach der Möglichkeit, »daß das Verhaftetsein selbst weniger beschränkt leben kann« (Butler 2003b: 64). In diesen Formulierungen wird sehr deutlich, dass Butler sich von emphatischen Konzepten eines widerständigen Subjekts ebenso abgrenzen will wie von fatalistischen Annahmen einer geschlossenen Eindimensionalität des Subjekts.37 Der Impuls zum Widerstand geht folglich nicht vom Gewissen aus, das ja selbst die psychische Form der Macht darstellt, vielmehr liegt für Butler die Möglichkeit der Bewegung im Zorn, der sich im Namen des Begehrens nach Leben gegen die Melancholie richten 37 »Das Einbegriffensein der Handlungsfähigkeit in die Unterordnung ist kein Zeichen eines fatalen Selbstwiderspruchs im Kern des Subjekts und somit auch kein weiterer Beweis für dessen schädlichen oder überholten Charakter. Andererseits wird damit auch nicht in Berufung auf eine klassische, liberal-humanistische Tradition der jederzeitigen Opposition der Handlungsfähigkeit gegen die Macht ein unverfälschter Begriff des Subjekts wiederhergestellt. Die erstgenannte Auffassung ist kennzeichnend für politisch scheinheilige Formen des Fatalismus, die zweite für naive Formen des politischen Optimismus. Von beiden Haltungen hoffe ich mich hier freihalten zu können.« (Butler 2001a: 22) 66
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kann. Dieser Zorn als Ausdruck des (unbenennbaren) Verlusts von Lebensmöglichkeiten ist in gewissem Sinne die Gegenbewegung zur Melancholie: »Buchstäblich außer sich zu sein, niemand mehr zu sein, ist Effekt des Zorns, der sich nicht von der Macht befreit, jedoch von der durch die Macht hervorgebrachten Melancholie, von der Angst, die aufs Innerste mit dieser verbunden ist.« (Le Blanc 2004: 60; Übers. HM) Der Zorn über die Beschränkungen eröffnet die Möglichkeit einer kritischen Distanz zu den Normen und damit die Möglichkeit einer reflexiven Haltung zu diesen Normen. Mit der Bestimmung des Zorns als eines kritisch-reflexiven Potenzials ist jedoch noch keine Aussage über die Form verbunden, in der dieses Potenzial sich äußert. Die historische Form des autonomen Subjekts legt nahe, dass das ›Ich‹ seinen Zorn in zerstörerischen Praktiken gegen sich selbst oder gegen Andere richtet, wenn es sein Unbehagen als Aufgabe begreift, die es in autonomer Arbeit an sich selbst zu bewältigen hat, und sich damit immer weiter in die Undurchsichtigkeit und unbegriffenen Abhängigkeiten der eigenen Existenz verstrickt. Einen Ausweg daraus sieht Butler darin, die historische Problematik der Autonomie kritisch zu reflektieren und die unhintergehbare Abhängigkeit der sozialen Konstitution des Selbst anzuerkennen. Auf diese Weise kann das kritische Potenzial des Zorns über ein »Eingeständnis der Verlustspur, aus der man selbst hervorgegangen ist« (Butler 2001a: 182) zur Grundlage widerständige Praxis werden. Widerständigkeit ist damit gerade nicht auf die Autonomie des Subjekts angewiesen, da sich dieses nie von seinen konstitutiven Verhaftungen befreien kann. Widerständige Handlungsfähigkeit ist also nicht einfach auf nichtintentionale Verfehlungen der Norm beschränkt; ebenso wenig ist sie jedoch in der Fähigkeit des Subjekts begründet, sich von Heteronomie frei zu machen, denn »die ›Instituierung‹ des Ich kann ihren gesellschaftlichen Rest nicht vollständig überwinden« (Butler 2001a: 184). Transformative – also die Möglichkeiten des Seins erweiternde – Impulse sind nicht Momente widerständiger Autonomie, sie können das Individuum nicht von seinen konstitutiven Verhaftungen befreien; von der Melancholie befreit zu sein kann nicht bedeuten, von Verlusten frei zu sein. Vielmehr ist »Überleben […] eine Frage des Eingeständnisses der Verlustspur, aus der man selbst hervorgegangen ist« (Butler 2001a: 181f). Bewegungen der Transformation sind folglich auch keine individuellen Akte, in denen sich das Subjekt von den Zumutungen der sozialen Benennung frei macht. Vielmehr geht es darum, diese Spur des Verlusts zu akzeptieren und sich auf einen Prozess des Trauerns einzulassen, der die Begrenzungen des Lebens artikulierbar macht, indem er den »verblaßten gesellschaftlichen Text« (Butler 2001a: 182) aufspürt. Wie Lisa Disch zu Recht bemerkt, sollte dies nicht als esoterische Hoffnung miss67
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
verstanden werden, das Einlassen auf die Trauer könne uns zu einer ›gesunderen‹ Gesellschaft führen: »Butler aims not to prescribe mourning (as if it were a remedy) but to politicize it.« (Disch 1999: 553) Der Prozess des Trauerns ist insofern keine Lösung für das Problem von Verwerfung und Beschränkung, sondern vielmehr ein Hinweis auf den Weg, wie diese geöffnet werden können und damit ein Zugang zu Veränderungen der symbolischen Ordnung bestehen kann. Dieser Prozess kann zum einen niemals abgeschlossen werden, zum anderen ist er notwendigerweise ein kollektiver Prozess (Butler 2004) der Suche nach einem sprachlichen Leben, das über bestehende Begrenzungen hinausweist, indem der Begriff des ›Menschlichen‹ in Bewegung gebracht und für zukünftige Artikulationen geöffnet wird (Butler 2003a: 18).38 Um den Begriff des ›Menschlichen‹ aber in seiner umfassenden sozialen Konstituiertheit zu erfassen und auf allen Ebenen in Bewegung zu bringen, müssen – so meine These – weitere Analysedimensionen berücksichtigt werden. Dass das über Kategorien, Namen, Begriffe und Klassifikationen vermittelte Beharren im eigenen Sein auf ein spezifisches Selbstverhältnis des autonomen Subjekts in modernen Gesellschaften verweist, wird von Butler immer wieder betont. Sie thematisiert auch immer wieder, dass die Bedingungen des Seins nicht auf die Dimension symbolischer Normen beschränkt sind. Diesen Zusammenhang arbeitet sie allerdings nicht systematisch aus, wodurch ihre Thesen zwischen der Annahme der historischen Spezifik alles ›Menschlichen‹ einerseits und einer allgemeingültigen Formulierung der Konzepte von Sein, Begehren und Performativität andererseits zu changieren scheinen. In einem Austausch mit Catherine Mills und Fiona Jenkins (Butler 2007) wird diese latente Interpretationsoffenheit an der Frage deutlich, inwiefern die von Butler thematisierte Gewaltsamkeit der Normen eine universelle, ontologische Qualität habe. In Mills Lesart impliziert Butlers Konzept der normativen Konstitution des Subjekts, dass diese, aufgrund der für die Intelligibilität des Subjekts notwendigen Ausschlüsse, immer gewaltsam ist beziehungsweise dass es eine universelle Eigenschaft von Normen ist, Gewalt auszuüben. Diese vermeintlich ontologische Qualität der Normen unterlaufe dann aber alle ethischen Bestrebungen nach weniger gewaltsamen oder gar gewaltfreien Bedingungen er Intelligibilität: »If the appearance of the ethical subject is itself productively constrained by social norms and is thus dependent on violence,
38 Inwiefern die Bezeichnung des ›Menschlichen‹ eine ontologische Setzung ist, die wiederum Ausschlüsse und anthropozentrische Effekte produziert, diskutiert Butler in einem Interview mit Vicky Kirby (2006). 68
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then it is unclear in what sense an ethics of responsibility could be nonviolent.« (Mills 2007: 135) Butler weist diese Interpretation zurück: »I would caution against the generalization of the thesis that all normativity is founded in violence. […] There are, to be sure, regimes of power that produce and constrain certain ways of being. But I am not at all clear about affirming or denying a transcendental thesis that would dismiss power from the equation and make a violence essential to any and all ontologies.« (Butler 2007: 184)
Dass ihre Thesen aber immer wieder als universell-ontologische Aussagen gelesen werden,39 liegt meines Erachtens daran, dass Butler genau die Frage, wie die spezifischen Machtverhältnisse systematisch im analytischen Verfahren Berücksichtigung finden können, nicht wirklich verfolgt. Dadurch kann sie nicht hinreichend begründen, welche Funktionsweise Normen in einem bestimmten historischen Kontext haben und wie diese bestimmte Funktionsweise mit spezifischen Selbstverhältnissen der Subjekte verknüpft ist. Butlers Pointe, dass Subjekte immer nur in ihrer gesellschaftlich-historischen Konstitution begriffen werden können, gewinnt ihre volle Reichweite erst durch eine erweiterte Analyse der historischen Bedingungen, die bestimmte Formen und Wirksamkeiten performativer Praxis überhaupt erst ermöglichen. Es stellen sich weitere Fragen: »What are the conditions of sayability, of speakability, of visibility? Does one want a place within them? Does one want to be assimilated to them? Or does one want to ask some more profound questions about how political structures work to delimit what visibility will be and what sayability will be?« (Butler 2004b: 337) In den folgenden Relektüren der Arbeiten von Foucault und Marx diskutiere ich, inwiefern die Analysen weiterer Dimensionen des Sozialen dazu beitragen, diese Fragen genauer angehen zu können.
39 Mills steht mit dieser Art von kritischen Anfragen an Butler keineswegs alleine da; vgl. beispielsweise auch Lloyd 2008; Mahmood 2001; Mıhçıyazgan 2008; Oyĕwùmí 1998. Diese Kritik greife ich im folgenden Kapitel wieder auf. 69
3. Z W I S C H E N S P I E L I: D I E G E S E L L S C H AF T L I C H E N BEDINGUNGEN DES ETHISCHEN SUBJEKTS
Mit ihrer Frage nach den Konstitutionsprozessen des Subjekts überschreitet Butler »den Rahmen des Emanzipationsdiskurses der Moderne« (Klinger 1995: 805), der darauf zielt, vorhandene Subjekte adäquat zu repräsentieren und sie damit ihre ursprünglichen Rechte erlangen zu lassen. Indem sie Geschlecht als performative Hervorbringung im Rahmen der Strukturen von Phallogozentrismus und heterosexueller Matrix begreift, kann Butler die Zirkelstruktur überwinden, in der sich viele Auseinandersetzungen der feministischen Debatte bewegen: Jede Untersuchung von Geschlechtsunterschieden und -ungleichheiten scheint implizit bereits das Wissen darüber, was die Geschlechter unterscheidet, voraussetzen zu müssen. Im Hinblick auf die gesellschaftspolitische Stoßrichtung des Feminismus verlässt Butlers Konzeption des Subjekts das argumentative Terrain der Gleichheits/Differenz-Debatte und nimmt eine Reformulierung der Problemstellung vor. Sie fragt nicht mehr, wer wie ist oder wer wie sein sollte, sondern fragt nach den symbolisch-diskursiven Konstitutionsprozessen bestimmter Subjektivitäten und den dadurch produzierten Ausschlüssen. Ihre Perspektive der Kritik zielt darauf, diese Ein- und Ausschlüsse sichtbar und damit in ihrer Kontingenz und Veränderbarkeit zugänglich zu machen. Das Subjekt entsteht in einer etablierten Ordnung, aber es gilt den ontologischen Status dieser Ordnung zu hinterfragen: »Wer gilt als Person? Was gilt als kohärente Geschlechtszugehörigkeit? Wer ist als Bürger qualifiziert? Wessen Welt ist als reale legitimiert? Subjektiv fragen wir: Wer kann ich in einer Welt werden, in der die Bedeutungen und Grenzen des Subjektseins für mich schon festgelegt sind? Und was passiert, 71
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
wenn ich etwas zu werden beginne, für das es im vorgegebenen System der Wahrheit keinen Platz gibt?« (Butler 2002: 259)
Gesellschaftskritik muss sich demnach nicht auf natürliche Subjekte und deren Bedürfnisse berufen, sondern bewegt sich vielmehr auf dem Feld, in dem die Kämpfe um die normativen Bedingungen von Subjektivität stattfinden, um die Kategorien, die menschliches Leben benennen und damit sowohl lebbar machen als auch beschränken. Das (nie endgültig erreichbare) emanzipatorische Ziel besteht darin, die Grenzen, die durch spezifische Subjektivitäten und Identitäten gegeben sind, in Frage zu stellen, sie zu öffnen und in Bewegung zu bringen. Butler enthält sich jeder Vorformulierung inhaltlicher Ziele oder neuer Begriffe; dies sei nicht Aufgabe abstrakter Theorie, da die konkrete gesellschaftliche oder politische Praxis einer kontextbedingten Kontingenz unterliegt und damit durch theoretische Überlegungen nicht einzuholende Unwägbarkeiten birgt (Butler 1999b: 166). Dennoch gehöre es zu den Möglichkeiten und Aufgaben theoretischer Reflexion, zum einen auf nicht-intendierte Effekte kritischer Interventionen hinzuweisen.1 Zum anderen sieht Butler eine gesellschaftspolitische Aufgabe theoretischer Reflexion darin, in die ›ontologischen‹ Kämpfe performativ einzugreifen, indem sie in einer paradoxen Operation beispielsweise verworfenen Körpern einen ontologischen Status verleiht. Dies bezeichnet sie als einen absichtlichen performativen Widerspruch: »[I]f I say, ›there are abject bodies that do not enjoy a certain kind of ontological status‹, I perform that contradiction on purpose. I am doing that precisely to fly in the face of those who would say, ›but aren’t you presupposing …?‹ No! My speech does not necessarily have to presuppose … Or, if it does, fine! Perhaps it’s producing the effect of a presupposition through its performance […] But it is to roundly inaugurate an ontological domain, it is not to presuppose an already given one. It is discursively to institute one.« (Butler 1998b: 280f)
Butlers Konzeption von Subjektivität und Handlungsfähigkeit ist keinesfalls unumstritten. Den in diesem Zusammenhang häufig diskutierten Vorwurf, ihre genealogisch-dekonstruktive Hinterfragung des Subjekts verwerfe zusammen mit der Annahme eines vorgesellschaftlichen Kerns
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So diskutiert Butler beispielsweise die Frage, inwiefern die ›Homoehe‹ zwar einerseits die Möglichkeiten mancher Paare erweitert, andererseits aber den Ausschluss von Verwandtschaftsbezügen verfestigt, die nicht auf eheähnlichen Verbindungen und entsprechenden Familienkonstellationen beruhen (Butler 2004a: 5).
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des Individuums zugleich jede Möglichkeit von Handlungsfähigkeit, habe ich in der Darstellung von Butlers Analysen der gesellschaftlichen Konstitution der Psyche zurückgewiesen. Wie sich gezeigt hat, kann Butler begründen, dass auch das diskursiv konstituierte Subjekt eine reflexiv-kritische Haltung gegenüber seinen Existenzbedingungen einnehmen kann. Nun will ich jedoch auf einen anderen Aspekt zu sprechen kommen, den ich im vorigen Kapitel angesprochen, nicht aber ausgeführt habe: Butler setzt die radikale Historizität des Subjekts voraus und kann diese mit Verweis auf die unterwerfende Subjektivation durch historisch veränderbare Normen begründen. Allerdings bleiben ihre Analysen abstrakt; mit ihrem Fokus auf die symbolisch-diskursive Hervorbringung der Subjekte kann Butler die Besonderheit der Subjektivierungseffekte spezifischer historischer Machtverhältnisse nicht systematisch erfassen und damit die gesellschaftlich-historische Begrenzung ihrer Analysen nicht klar genug ausweisen. So wirft Evelyn Annuß Butler vor, ihre Hinweise auf kulturelle und historische Zusammenhänge und auf den »zeitlichen Prozess« der Konstruktion sowie ihre Fragen nach den »Grenzen des Handelns« blieben »rhetorisch im schlechten Sinne« (Annuß 1996: 509). Diese Kritik greife ich in gemäßigter Form auf. Ich gehe ebenfalls von der Annahme aus, dass Butlers Thesen implizit auf gesellschaftstheoretische Desiderata hinweisen, möchte diese weiter verfolgen und dabei zugleich aber die eigenständige Bedeutung ihrer Perspektive bewahren. Butlers Verweise auf kulturelle und historische Zusammenhänge, auf gesellschaftliche Machtverhältnisse, Institutionen und Hierarchien sind insofern nicht so sehr schlechte Rhetorik als vielmehr Hinweise auf theoretische Ansprüche, die sie im Rahmen ihres Gegenstandsbereichs nicht einlösen kann. Es geht mir in gewisser Weise also um eine Kritik mit Butler an Butler, indem ich nach diesen Grenzen und impliziten Voraussetzungen frage und sie als Anschlussstellen interpretiere. Butler betont die Bedeutung einer genealogischen Perspektive und damit die historische Besonderheit ihres Gegenstands. Da sie ihre Analysen aber auf das Symbolische beschränkt, kann sie ihre Annahmen letztlich nur in einem sehr abstrakt-allgemeinen Gestus formulieren. Ihre Theorie der Subjektkonstitution erweist sich insofern als ambivalent. Sie wird zwar immer wieder als gesellschaftlich spezifische Analyse präsentiert, könnte in ihrer Ausführung aber durchaus als allgemeingültige, universelle Aussage aufgefasst werden. Butler betont die Bedeutung struktureller Zusammenhänge und begreift das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaftlich-Symbolischem als Entfremdung, bei der das Subjekt seine soziale Existenz durch die Unterwerfung unter Normen sichert, die sich seinem Zugriff entziehen: »Bedingungen ausgesetzt, die 73
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man nicht selbst geschaffen hat, beharrt man immer auf diese oder jene Weise mittels Kategorien, Namen, Begriffen und Klassifikationen, die eine primäre und inaugurative Entfremdung im Sozialen markieren« (Butler 2001a: 32). Die universelle Annahme, dass sich die Individuen die Gesellschaft, in die sie hineingeboren werden, nicht aussuchen, sich deren Gesetzen aber unterwerfen müssen, um als Subjekte sozial intelligibel zu sein, bleibt jedoch insofern formal und damit gesellschaftstheoretisch leer, als sie genau die besonderen Bedingungen, die spezifische historische Formen der Subjektivität und damit auch der Handlungsfähigkeit konstituieren, nicht erfassen kann. Analog kann auch die Annahme eines individuellen Begehrens nach Anerkennung als Voraussetzung der Subjektkonstitution als universelle Aussage ebenfalls nur formal und abstrakt formuliert werden und ist insofern für eine konkrete Gesellschaftsanalyse unergiebig. Im Folgenden gehe ich daher der Frage nach, wie diese Annahmen durch weitere analytische Dimensionen erweitert werden müssen, um fundierteren gesellschaftstheoretischen Gehalt zu erlangen. Zunächst geht es mir vor allem darum, die Anschlussstellen an die Analysen von Foucault zu eruieren und zu zeigen, dass das Konstitutionsverhältnis von Subjekt und Gesellschaft im Rahmen moderner Machtverhältnisse näher bestimmt werden muss, damit dessen historische Spezifik genauer erkennbar wird. Dies ist wiederum wichtig, um deutlich zu machen, inwiefern sich gesellschaftsgestaltendes Handeln nicht auf eine dekonstruktive Reflexionsarbeit beschränken kann, sondern sich zugleich der Problematik der Dynamik moderner Machtverhältnisse stellen muss. Butler weist mit ihrer Perspektive auf das gesellschaftstheoretische und -politische Gewicht von Sinnproduktion und Bedeutungszuschreibungen hin und macht deutlich, dass gesellschaftskritische Debatten einen Einsatz in der diskursiv-performativen Herstellung der ›Wirklichkeit‹ und ihrer ontologischen Beschreibung darstellen. In der folgenden Auseinandersetzung soll diese besondere gesellschaftskritische Perspektive gewürdigt und zugleich auf ihre spezifischen Grenzen hin befragt werden. Im ersten Schritt frage ich, wie Butler, nachdem sie subjektseitig die Quelle für Widerständigkeit in einer Empfindung des Beschränktseins durch die eigenen Existenzbedingungen begründet hat, erklären kann, auf welche Weise sich performative Widerständigkeit in gesellschaftlichen Veränderungen realisieren kann. Ausgehend von dieser Frage lässt sich die These begründen, dass Butler mit ihrem Blick auf symbolisch-diskursive Prozesse die gesellschaftlichen Bedingungen nicht ausreichend erfasst, um widerständige Impulse und gestaltende Effekte performativer Praktiken zu erklären: Nicht nur die symbolischen Normen sind historisch, auch das Verhältnis der Subjekte zu diesen 74
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Normen und die daraus entstehende Reflexivität und Handlungsfähigkeit sind als historisch spezifisch zu betrachten. In einem zweiten Schritt diskutiere ich die gesellschaftlich-historischen Voraussetzungen, die bestimmte Subjekte mit bestimmten Selbstverhältnissen und damit einer bestimmten Stellung zu den symbolischen Normen und einer bestimmten Handlungsfähigkeit hervorbringen.
3.1 Wie kommt das Neue in die Welt? Im Hinblick auf die gesellschaftliche Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit halte ich es für eine entscheidende Qualität von Butlers Perspektive, dass mit ihrem Konzept der Performativität die Unabgeschlossenheit und Unvollständigkeit von Identitäten begründet und damit die konstitutive Kontextgebundenheit der Subjekte erfasst werden kann. Ebenso wichtig ist, dass sie das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft nicht als ein äußerliches begreift, sondern eine Theorie der gesellschaftlichen Konstitution der Psyche entwirft und in dieser die Grundlage für (widerständige) Handlungsfähigkeit verortet. Butler formuliert ein Verständnis von Identität und Handlungsfähigkeit, das Subjektivation als Prozess von Unterwerfung und Subjektwerdung erfasst. Da jede für das soziale (Über-)Leben notwendige Identifikation konstitutiv mit einer Verwerfung verbunden ist, kann dieser Verlust zum Ausgangspunkt einer subversiven Unterwanderung und Resignifizierung des Gegebenen werden, die darauf abzielt, bisher nicht benennbare Territorien des Lebens zugänglich zu machen. Nachdem zunächst vor allem die prinzipielle Möglichkeit von widerständiger Handlungsfähigkeit im Mittelpunkt stand, soll nun der Blick darauf gerichtet werden, wie Butler die Möglichkeit konkretisiert, dass Opposition gegen die gesellschaftlichen Bedingungen materiell wirksam wird. Wie kann die Stimme des ›Ich‹, die ihrem gesellschaftlichen Ursprung nicht entkommen kann, dennoch politische Veränderungen hervorrufen? Vor allem in Hass spricht (1997a) lotet Butler die Bedingungen und Möglichkeiten der aufständischen (insurrectionary) Rede aus, das heißt von Sprechakten, die sich anerkannten Bedeutungszusammenhängen widersetzen und diese von innen durch subversive Aneignung und Verschiebung in Bewegung bringen. Butler geht dabei dem Problem nach, dass das Konzept der Performativität in einen gesellschaftlich-historischen Kontext eingebettet werden muss, um zu erfassen, wie die mit der Iterabilität rein formal gegebene Möglichkeit der Veränderung tatsächlich als gestaltendes Eingreifen begriffen werden kann. Dies vollziehe ich nun anhand eines
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konkreten Beispiels in Butlers Text nach, um daran den Blick für spezifische Grenzen ihrer Perspektive zu schärfen. Grundlegend für Butlers These, dass die Normen der symbolischen Ordnung einem historischen Prozess unterliegen, ist die Annahme, dass diese Normen nicht vollständig determinieren, wie die Subjekte sich in der sozialen Praxis auf sie beziehen. Effekte von Sprache sind immer zu einem gewissen Grad unkontrollierbar, sprachliche Bedeutungen können nicht durch die Intention eines Subjekts garantiert werden, hegemoniale Normen sind von ihrer Umsetzung in der Praxis zu unterscheiden. Butler setzt sich in diesem Zusammenhang mit Verfechter_innen einer staatlich-juristischen Zensur bestimmter verletzender Äußerungen (hate speech)2 auseinander und kritisiert, dass diese, indem sie Worte mit Taten gleichsetzen, die Differenz zwischen Sprache und Verhalten, zwischen dem Symbolischen und der Praxis übergehen. Gegen diese Entdifferenzierung macht sie Austins Unterscheidung von illokutionären und perlokutionären Sprechakten geltend; die Nichtidentität von Intention und Effekt des perlokutionären Sprechakts, dessen Wirkungen zeitlich und daher kontingent sind, eröffnet die Möglichkeit für aufständisches Sprechen, für subversive Resignifizierung. Allerdings wendet Butler gegenüber Austin ein, dass auch illokutionäre Sprechakte, die ihren Effekt mit der Äußerung selbst erzielen, diese Wirkung nur in einem sozialen Kontext entfalten können, der nicht auf die Sprechsituation zu begrenzen ist: »Der ritualisierte Augenblick stellt […] eine kondensierte Geschichtlichkeit dar: Er überschreitet sich selbst in die Vergangenheit und die Zukunft, sofern er ein Effekt vorgängiger und zukünftiger Konven2
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Butler bezieht sich auf die in den USA geführten politischen und juristischen Debatten über die verletzende Macht von Sprache in Zusammenhang mit rassistischen und sexistischen Äußerungen, Pornographie und Homophobie im Militär. In dieser Debatte stehen Forderungen nach Verbot und Zensur auf der einen Seite dem Insistieren auf dem Recht auf freie Meinungsäußerung auf der anderen Seite gegenüber. Butler geht es nicht darum, endgültig zu entscheiden, ob und inwiefern Sprache verletzt, vielmehr befragt sie die unterschiedlichen Positionen nach der ihnen zugrunde liegenden Theorie von Sprache, Macht und Verhalten, um die damit verbundenen Voraussetzungen, Implikationen und Konsequenzen offenzulegen. Ihr politisches Anliegen besteht darin, Handlungsmöglichkeiten jenseits staatlicher und juristischer Formen auszuloten: »Selbst wenn hate speech funktioniert, indem sie durch diskursive Mittel ein Subjekt konstituiert, stellt sich die Frage, ob diese Konstitution unbedingt endgültig und effektiv ist. Oder anders gefragt: Gibt es eine Möglichkeit, die durch dieses Sprechen hervorgerufenen Effekte zu stören und zu unterlaufen? Ist eine Bruchstelle erkennbar, die dazu führen könnte, diesen Prozeß der diskursiven Konstitution aufzulösen? Und welche Art von Macht schreibt man dem Sprechen zu, wenn es die Macht besitzt, das Subjekt so erfolgreich zu konstituieren?« (Butler 1998a: 34)
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tionen ist, die den einzelnen Fall der Äußerung konstituieren und sich ihm zugleich entziehen.« (Butler 1998a: 12) Effekte von Sprechakten werden also generell durch Strukturen vermittelt, die ihnen vorgängig sind und die über den Augenblick ihrer Äußerung hinausgehen. Durch ihre Kritik an einer unmittelbaren Gleichsetzung von Sprache und Praxis betont Butler also die Bedeutung des sozialen Kontexts von Sprachhandlungen und stellt die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen von verletzender sowie von aufständischer Rede. In diesem Zusammenhang wendet sie kritisch ein, dass Derrida den Bruch mit dem Kontext als allgemeines Strukturmerkmal von Sprache fasst und damit »eine gesellschaftliche Analyse der wirkungsvollen Äußerung (lähmt)« (Butler 1998a: 213). Um die Stabilität und Beharrungskraft sozialer Strukturen zu erfassen, diskutiert sie Bourdieus Habitus-Feld-Konzept, gegen das sie jedoch wiederum einwendet, dass es genau jenen Bruch nicht erfassen könne: »Weil für ihn gesellschaftliche Institutionen statisch sind, gelingt es Bourdieu nicht, die Logik der Iterierbarkeit zu erfassen, die die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Wandels beherrscht« (Butler 1998a: 208).3 Wie sich aus Butlers Perspektive der Zusammenhang von widerständigem Sprechakt, sozialem Kontext und sozialer Transformation darstellt, soll hier an dem von ihr angeführten Beispiel von Rosa Parks nachvollzogen werden, die sich 1955, als im US-amerikanischen Montgomery noch eine Apartheidsgesetzgebung herrschte, weigerte, ihren Sitzplatz im Bus für einen ›weißen‹ Fahrgast frei zu machen. Butler selbst spricht diese Geschichte nur sehr kurz an – wie ich im Folgenden anhand der Interpretationen von Terry Lovell und Lisa Disch zeige, lassen sich daraus dennoch wichtige Folgerungen ziehen, die auf Reichweite und Probleme von Butlers Ansatz hinweisen.
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Allerdings belässt es Butler bei dieser äußerlichen Gegenüberstellung von Derrida und Bourdieu, ohne genauer zu klären, ob und inwiefern beide Perspektiven einander erhellen können. Christine Hanke weist darauf hin, dass Butler hier vom dekonstruktiven Verfahren abweicht. Indem sie Bourdieu von Derridas Standpunkt aus bemängelte und umgekehrt, verfolge sie hier eine »klassische Art von Lektüre, die den Texten jeweils Auslassungen vorwirft, um die dann dementsprechend zu ergänzen« (Hanke 1998: 57). Demgegenüber »wäre (es) beispielsweise vorstellbar gewesen, an der Konzeption von wiederholter Einverleibung sozialer Normen in Bourdieus Habitus-Konzept anzusetzen und es von hier aus zu reformulieren. Ausgehend von der Figur der Wiederholung ließen sich möglicherweise auch hier Inkohärenz, Brüchigkeit und damit Verschiebungsmöglichkeiten lesen« (ebd.). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Bourdieus Habituskonzept und Butlers Ansatz der Performativität könnte sehr produktiv sein; vgl. dazu beispielsweise McNay 2000, Lovell 2003, Tuider 2003. 77
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Butlers Einsatz bei diesem Beispiel besteht darin, gegenüber Bourdieu geltend zu machen, dass hegemoniale Normen auch durch nichtautorisierte, also nicht durch die Strukturen des ›Feldes‹ legitimierte Sprechakte in Bewegung gebracht werden können. Bourdieu hingegen knüpfe die Wirksamkeit von Sprechakten nahezu ausschließlich an die Position, die der Sprecher im Feld hat, so dass nur strukturell autorisierte Subjekte performativ sprechen können: »Als Rosa Parks im vorderen Abteil des Busses saß, hatte sie dazu kein vorgängiges Recht, das irgendeine Rassentrennungskonvention der Südstaaten garantiert hätte. Und trotzdem verlieh sie, indem sie ohne vorgängige Autorisierung Anspruch auf dieses Recht erhob, ebendieser Handlung eine gewisse Autorität und leitete den Umsturz der bestehenden Legitimitätscodes ein.« (Butler 1998a: 208)4
Wie Lovell argumentiert, klärt Butler dabei allerdings nicht weiter, inwiefern diese Widerständigkeit als ein fehlerhaftes oder falsches Aufrufen in komplexere soziale Prozesse eingebettet sein muss, um wirksam sein zu können. Butler deutet Rosa Parks Weigerung als Reiteration im Sinne eines fehlerhaften oder falschen Aufrufens (Butler 1998a: 208), da sie als ›Schwarze‹ unter den Apartheidsgesetzen in den US-amerikanischen Südstaaten der 1950er Jahre keine vorgängige Legitimität besaß, einen Anspruch auf diesen Sitzplatz zu behaupten. Lovell hält Butlers oben zitierte Formulierung, Parks habe dieser Handlung eine Autorität verliehen – she »endowed a certain authority on the act« (Lovell 2003: 2) – für bezeichnend, da sie Butlers Tendenz, gesellschaftlich-historische Handlungsfähigkeit mit dem performativen Selbst in eins zu setzen, zum Ausdruck bringe. Lovell kann deutlich machen, dass Rosa Parks’ Möglichkeit, ihrer Handlung eine gewisse Autorität zu verleihen, nur im Rahmen des historischen Kontexts erklärt werden kann, in dem die Legitimität der Apartheid bereits brüchig war und von verschiedenen Seiten angefochten wurde:5 »It was not just Parks’ act, nor the sledgehammer response of the white authorities, but also the response of the Montgomery black community organizers, and ultimately, the actions of thousands of black people in supporting the boycott, thus granting, provisionally, the recognition upon which the authority
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Die anschließende Verhaftung von Rosa Parks war der Auslöser für eine Welle von ›Busprotesten‹ in Montgomery. So war es beispielsweise weder das erste Mal, dass Rosa Parks sich der Sitzordnung in öffentlichen Bussen widersetzte, noch war sie die Einzige, die das tat.
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of their ›representatives‹ depended, in the context of an emergent civil rights movement, which ›endowed‹ Parks’ act with a retrospective authority that the earlier incidents, including those that involved Parks herself, lacked.« (Lovell 2003: 9)
Lisa Disch interpretiert dieselbe Textstelle gewissermaßen unter anderen Vorzeichen: »The story of Rosa Parks beautifully exemplifies Butler’s contentions that agency does not begin and end with the speaker, that it is complicit with the forces it opposes, and that it is citational rather than original« (Disch 1999: 556). Dies untermauert sie durch den Verweis auf jene Prozesse, die auch Lovell anführt: die bereits seit Längerem bestehende Praxis des zivilen Ungehorsams (sowohl von Parks selbst als auch von anderen) sowie die Suche politischer Aktivisten nach einer ›geeigneten‹ Person »who could break the law yet not be branded a criminal for doing it« (Disch 1999: 556), die dem Protest ein Gesicht geben und eine qualitative Wende einleiten konnte.6 Aufgrund ihres sozialen Status und ihres Habitus sowie ihres bereits bestehenden Engagements in der Bürgerrechtsbewegung erschien Rosa Parks als diejenige, die ihren Widerstand gegen das Gesetz ehrerbietig und respektabel vollziehen konnte: »Parks made her resistance in deference to the law and from a position of respectability« (Disch 1999: 556). So sei es kein Zufall gewesen, dass unter den Personen, die sich geweigert hatten, ihren Sitzplatz aufzugeben, ausgerechnet Rosa Parks von den Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung als Galionsfigur gewählt wurde: »A women of ›working-class station and middle-class demeanor‹, she was sufficiently incongruous with the stereotypes of black criminality that were held by whites and blacks alike to challenge those stereotypes and to precipitate a transformation of the laws that sustained them. Hers was an insurrectionary act enabled by the same racist conventions and class distinctions that it aimed to overturn.« (Disch 1999: 557)
Die sich zunächst vermeintlich widersprechenden Interpretationen von Disch und Lovell lassen sich insofern zusammenführen, als Dischs Lesart, hier werde Butlers Annahme, dass Widerstand nur vom Inneren der Machtverhältnisse aus wirksam wird, beispielhaft deutlich, ihre Plausibilität genau über jene Kontextanalysen gewinnt, die Butler, wie Lovell
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Zwei weitere Frauen, die zeitnah aus demselben Grund wie Rosa Parks verhaftet wurden, waren Claudette Colvin und Mary Louise Smith. Erstere war eine unverheiratete schwangere Schülerin, die sich zudem ihrer Verhaftung tatkräftig widersetzte, Letztere eine Frau, die mit ihrem alkoholkranken Vater in großer Armut lebte. 79
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zu Recht kritisiert, nicht vornimmt. Dies wiederum erscheint nicht als eine einfache Auslassung, sondern ist vielmehr symptomatisch für Butlers Argumentationsebene, bei der sie sich auf die abstrakte Bestimmung der Möglichkeit einer Verschiebung symbolischer Normen konzentriert und abgesehen von einzelnen konkretisierenden Hinweisen weitgehend darauf verzichtet, diese systematisch in einer spezifischen gesellschaftlichen Situation zu verorten. Das begrenzt den Fokus und damit den Anspruch, den sie mit ihrem Vorgehen erheben kann: »Aus der philosophischen Kritik des Subjektbegriffs […] lassen sich keine konkreten Handlungsmöglichkeiten ableiten« (Annuß 1998: 89). Butler öffnet zwar den Blick für die Möglichkeit und Notwendigkeit der Öffnung und Anfechtung von Kategorien und Normen; um dies jedoch als einen gezielten gesellschaftlichen Prozess denken zu können, müssen die sozialen Bedingungen eines solchen Prozesses genauer geklärt werden (vgl. auch McNay 1999; 2000; Lovell 2003). Lovell und Disch führen zu Recht an, dass die Fragen, wie die prinzipielle Möglichkeit von Handlungsfähigkeit in einem historisch-spezifischen Kontext konkret wirksam werden und wie es zu gesellschaftlichen Transformationen kommen kann, die über zufällige Verschiebungen in der symbolischen Ordnung hinausgehen, nur durch die Einbeziehung des jeweiligen sozialen Kontexts geklärt werden können. Nur eine solche historisch-empirische Analyse kann letztlich rekonstruieren, wie performative Handlungen ›real‹ werden. Meine kritischen Fragen an Butler schließen an diese Einwände an, beziehen sich aber – wiederum an Butler anknüpfend – auf eine andere gesellschaftstheoretische Ebene. Mir geht es um die Frage, inwiefern diese ›Kontexte‹ von Sprachhandlungen einer Analyse unterzogen werden können, die über die von Lovell und Disch eingeforderte (empirische) Feldbeschreibung hinausgeht. Dies lässt sich an Butlers Konzept der Gender Regulations (vgl. Kapitel 2.1) illustrieren: Eine Feldbeschreibung würde nach dem spezifischen Zusammenspiel von Gesetzen, Institutionen, gesellschaftlichen Gruppen und dergleichen fragen, die bestimmte Geschlechterverhältnisse in einem bestimmten, historischen Feld hervorbringen. Butler macht hingegen deutlich, dass die Frage, inwiefern es überhaupt bestimmte (vergeschlechtlichte) Subjekte gibt, die in besonderen (feldspezifischen) Verhältnissen zueinander stehen, nur auf einer anderen Analyseebene zu klären ist, nämlich durch die Rekonstruktion der symbolisch-diskursiven Struktur (von heterosexueller Matrix und Phallogozentrismus). Daran anschließend will ich in diesem Kapitel nun meine These, dass die Analysedimension der linguistischen Strukturen nicht ausreichend ist, um die historisch besondere Subjektkonstitution zu erfassen, erweiternd präzisieren. Butler nimmt an, dass 80
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Handlungsfähigkeit gesellschaftlich konstituiert ist; sie bezieht dies auf die Normen der symbolischen Ordnung und findet die formalen Bedingungen der Handlungsfähigkeit in der strukturellen Dynamik von Performativität und Iterabilität. In Hass spricht verbindet sie dies jedoch mit dem wichtigen Hinweis, dass der Bruch mit dem Kontext als allgemeines Strukturmerkmal von Sprache zu abstrakt ist, um eine gesellschaftliche Analyse wirkungsvoller Äußerungen (oder: widerständigen Handelns) vornehmen zu können. Um diesem Hinweis nun weiter nachgehen zu können, müssen über die epistemisch-diskursiven Strukturen der symbolischen Ordnung hinaus weitere gesellschaftliche Bedingungen bestimmt werden, die eine historische Spezifik der Selbstverhältnisse und damit auch der Handlungsfähigkeit der Subjekte konstituieren. Mit diesen Überlegungen knüpfe ich an Saba Mahmood an, die vorschlägt, dass »we think of agency not as a synonym for resistance to relations of domination, but as a capacity for action that historically specific relations of subordination enable and create« (Mahmood 2001: 203). Damit wirft sie die Problematik der gesellschaftlichen Einbettung von Handlungsfähigkeit auf einer ganz anderen Ebene auf, als es Lovell und Disch tun: Bevor wir eruieren können, unter welchen Bedingungen widerständiges Handeln zu gesellschaftlichen Veränderungen führen kann, stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen und in welcher Hinsicht Handlungsfähigkeit überhaupt als Potenzial für kritische Reflexion und veränderndes Eingreifen verstanden werden kann. Butler begründet mit ihrer Konzeption einer gesellschaftlichen Konstitution psychischer Dynamiken, dass die Möglichkeit einer ethischen Haltung des Subjekts nicht die Vorstellung eines autonomen, selbstidentischen Subjekts voraussetzt. Damit das ›Ich‹ sich moralische Fragen stellen kann – ›Was soll ich tun?‹ –, muss es zwar jemand sein, an den es diese Frage überhaupt richten kann, es muss also ein ›Ich‹ sein, das zu Selbstreflexion fähig ist. Diese Möglichkeit der Selbstreflexion ist aber nicht außerhalb der gesellschaftlichen Strukturen verortet, sondern entsteht überhaupt erst in der leidenschaftlichen Verhaftung an die Bedingungen der subjektivierenden Unterwerfung. Wie ich hier beispielhaft an Butlers Argumentation in Hass spricht deutlich gemacht habe, weisen ihre Fragen nach den sozialen Bedingungen der Selbstreflexivität durchaus über den Fokus auf die symbolisch-linguistische Konstitution des ›Ich‹ und seiner psychischen Dynamiken hinaus. Butler wirft die Frage nach gesellschaftlichen ›Kontexten‹ auf, in denen sich diese Dynamiken in bestimmter Weise entfalten können, in denen sich also dem Subjekt ethische Probleme in bestimmter Weise stellen können: »Wenn ich frage: ›Was soll ich tun?‹ – beziehe ich mich dann nicht immer schon auf eine soziale Welt, in der ganz bestimmte Arten von Optionen möglich sind und andere nicht?« (Butler 81
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2003a: 8) Um die funktionalen Verschränkungen zu erfassen, die Normen der symbolischen Ordnung mit sozialen Institutionen und Hierarchien verbinden, und auf diese Weise konkrete, inhaltliche Beschränkungen und Schranken der Anerkennung zu erfassen, müssen weitere Dimensionen struktureller Bedingungen analysiert werden, denn Selbstverhältnisse und gesellschaftliche Hierarchien und Ungleichheiten werden nicht nur durch symbolische Kategorien konstituiert. Dies ist Butler durchaus klar; eine wichtige These in Hass spricht lautet, wie gesagt, dass die verletzende Macht von Worten nur im Zusammenhang mit dem Kontext der jeweiligen Sprachäußerung geklärt werden kann. Diese Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bedingungen führt sie im weiteren Sinne auch im Hinblick auf ethische Fraugen aus, deren Geltung und Bedeutung nur in ihrem Kontext beurteilt werden könne: »Wenn das ›Ich‹ versucht, über sich selbst Rechenschaft abzulegen, kann es sehr wohl bei sich beginnen, aber es wird feststellen, dass dieses Selbst bereits in eine gesellschaftliche Zeitlichkeit eingelassen ist, die seine eigenen narrativen Möglichkeiten überschreitet. Ja, wenn das ›Ich‹ Rechenschaft von sich zu geben sucht, Rechenschaft oder eine Erklärung seiner selbst, die seine eigenen Entstehungsbedingungen mit angeben muss, dann muss es notwendig zum Gesellschaftstheoretiker werden.« (Butler 2003a: 20)
Dass mit den gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen nicht nur die symbolische Ordnung gemeint ist, ist explizit in Butlers Konzeption der Gender Regulations7 (Butler 2004a) enthalten und wird in verschiedenen anderen Textpassagen durch weitere Argumente untermauert, etwa wenn sie von institutionellen Bedingungen und sozialer Ungleichheit spricht (Butler 1998a) oder wenn sie betont, dass die politische Ökonomie des Kapitalismus konstitutiv mit der Reproduktion von Heterosexualität verknüpft ist (Butler 1998c: 42). Damit deutet sie an, dass die Subjektkonstitution nicht allein als Frage von performativen Bedeutungszuschreibungen begriffen werden kann. Wie die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen jenseits der normativ-linguistischen Dimension jedoch zu denken sind, was es also heißt, zur Gesellschaftstheoretiker_in zu werden, gilt es über den von Butler gewählten Blick auf die symbolisch-diskursive Ordnung hinaus weiter zu klären. Im nächsten 7
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Wie in Kapitel 2.1 dargestellt, bezieht sich Butlers Konzept der Gender Regulations auf den komplexen Zusammenhang von symbolischer Ordnung und konkreten Institutionen und Praktiken. Sie geht davon aus, dass die Funktionsweise von Normen, das heißt das konkrete Verhältnis von (abstrakten) Normen und (konkreten) sozialen Regeln historisch spezifisch ist und dass Gender Regulations in diesem Sinne moderne Phänomene sind (vgl. Butler 2004a: 48f).
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Schritt dieser Klärung frage ich daher nach den historischen Bedingungen, die jene Selbstverhältnisse hervorbringen, die Butler in ihrer Konzeption eines ethischen Subjekts voraussetzt.
3.2 Reflexivität und ethische Haltung des Subjekts »Wie ließe sich die Frage der Moralphilosophie, eine Frage, die mit dem Verhalten, also mit dem Handeln zu tun hat, im heutigen gesellschaftlichen Rahmen stellen?« (Butler 2003a: 12) – diese Frage wirft Butler einleitend zu ihren ›Adorno-Vorlesungen‹ auf. Indem sie mit der Iterabilität performativer Handlungen das produktive Scheitern autonomer Identitäten zum Ansatzpunkt für Handlungsfähigkeit macht, muss sie die ethische Disposition des Subjekts gerade nicht an dessen Souveränität und Selbsttransparenz binden, sondern kann vielmehr genau an den konstitutiven Grenzen des ›Ich‹ dessen moralisches Vermögen begründen. In diesem Sinne heißt »Verantwortung für sich selbst übernehmen […] in der Tat, sich die Grenzen des Selbstverständnisses einzugestehen und diese Grenze nicht nur zur Bedingung des Subjekts zu machen, sondern als die Situation der menschlichen Gemeinschaft überhaupt anzunehmen« (Butler 2003a: 94). Auf diese Weise kann Butler zugleich konkrete normative Setzungen für eine ethische Haltung und damit auch die Festlegung auf bestimmte, historische Kriterien der Vernunft vermeiden. Mit Mahmood lässt sich nun aber einen Schritt weiter gehen und problematisieren, dass Butlers Öffnung der Moral insofern noch auf einer bestimmten normativen Grundlage beruht, als sie die ethische Disposition der Subjekte mit einem (wenn auch gesellschaftlich konstituierten) Willen zum Widerstand gegen soziale Normen gleichsetzt (vgl. Meißner 2008). Mahmood problematisiert, dass damit ein bestimmtes Streben nach Freiheit von Unterwerfung als universelles Begehren naturalisiert und so eine universalistische Konzeption von ethischer Handlungsfähigkeit vorausgesetzt werde: »Although the transcendental liberal subject undergirding the two notions of freedom discussed above is clearly questioned in Butler’s analysis (as is the notion of the autonomous will), what remains intact is the natural status accorded to the desire for resistance to social norms, and the incarceration of the notion of agency to the space of emancipatory politics.« (Mahmood 2001: 211)8 8
Zu den »two notions of freedom« schreibt Mahmood: »Negative freedom refers to the absence of external obstacles to self-guided choice and action, 83
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Butler bricht also mit dem epistemischen Rahmen der humanistischen Subjekttheorie, setzt aber die darin implizierte Konzeption subjektiven Freiheitsstrebens als Bestimmung von widerständiger Handlungsfähigkeit voraus. Hier kann ich nun den Bogen zu der These schlagen, dass Butler die historische Realitätsmächtigkeit des humanistischen Subjekts durchaus als eine bestimmte historische Form voraussetzt, und meinen Einwand, dass sie die Historizität dieser Form nicht ausreichend reflektiert, weiter ausführen. Nicht nur die Konzepte von Iterabilität und Performativität, auch die Konzeption des ›Ich‹, das seine eigenen Grenzen als schmerzhaft erlebt und sich im Zorn gegen deren Begrenzungen erheben kann, bleibt gesellschaftstheoretisch abstrakt, denn es setzt ein Subjekt voraus, das seine Wahrheit in einem inneren Begehren verortet und die äußeren Normen als Einschränkung oder Fehlrepräsentation dieses Begehrens erleben kann. Butler kritisiert an Foucault, dass dieser die Dynamiken der Subjektkonstitution nur unzureichend erfasst und deshalb keine Erklärung für (widerständige) Handlungsfähigkeit geben kann. Während Butler in dieser Hinsicht über Foucaults Arbeiten hinausgeht und einen wichtigen Beitrag zu dieser theoretischen Frage bietet, ist aber ihre Konzeption der Subjektkonstitution wiederum nur vor dem Hintergrund seiner Analysen zu verstehen: Wenn Butlers Arbeiten insofern als eine kritische Erweiterung der Foucault’schen Analysen gelesen werden, dann wird deutlich, dass es um die psychische Konstitution bestimmter Subjekte mit einer bestimmten ethischen Haltung und einem bestimmten Freiheitsstreben geht, deren historische Besonderheiten und Existenzbedingungen den Gegenstand von Foucaults Untersuchungen darstellen. Eine Voraussetzung, von der Butler in ihrer Konzeption einer ethischen Handlungsfähigkeit ausgeht, ist die prinzipielle Selbstreflexivität des Subjekts, die darauf beruht, dass Normen nicht nur performativ zitierend angewandt, sondern vielmehr auch subjektiv angeeignet werden müssen; »gesellschaftliche Normen (können) nicht wirksam das Subjekt hervorbringen […], ohne dass das Subjekt diese Normen reflexiv in Form einer Ethik artikuliert« (Butler 2003a: 10). Die Abstraktheit dieser Annahme lässt sich, analog zum Vorgehen im vorigen Abschnitt, in zwei Schritten plausibilisieren. Der erste Schritt schließt unmittelbar an die von Lovell vorgebrachten Einwände an und spitzt diese auf die konwhether imposed by the state, corporations, or private individuals. Positive freedom, on the other hand, is understood as the capacity to realize an autonomous will, one generally fashioned in accord with the dictates of ›universal reason‹ or ›self-interest‹, and hence unencumbered by the weight of custom, transcendental will, and tradition.« (Mahmood 2001: 207) 84
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kreten Ausdrucksmöglichkeiten des Subjekts zu: Von der prinzipiellen Begründung der Möglichkeit von Selbstreflexivität durch ein Unbehagen an den normativen Formen des Seins lässt sich nicht unmittelbar auf eine Möglichkeit der Artikulation dieses Unbehagens schließen. Wie kann ein zunächst nicht benennbares Unbehagen in ein Verlangen nach Sprache transformiert und zum Ausdruck gebracht werden? Welche ›Werkzeuge‹ stehen dem Subjekt zur Verfügung, um dieses Unbehagen in eine – zumindest als Distanz zu den Normen artikulierbare – Kritik zu wenden? Edwina Barvosa-Carter schlägt vor »to look more closely at the web or field of ›enabling constraints‹ that Butler describes«, um damit die von Butler vernachlässigten Aspekte von »formation and engagement of the self in a diverse field of multiple and varying discourses and structures« (Barvosa-Carter 2001: 127) in den Blick zu bekommen. Denn dadurch, dass Subjekte nicht nur in einem einzigen und einheitlichen Feld ›ermöglichender Zwänge‹ konstituiert werden, bilden sie multiple Identitäten aus, die dem ›Ich‹ eine Bandbreite unterschiedlicher Handlungsfacetten (»many sets of tools«) ermöglichen: »As the subject picks up one set of tools (i.e., inhabits one of several identities) and leaves other sets of tools aside in a given context, the taking up of one set of tools vis-à-vis another gives the self a reflexive space, a critical distance and a competing perspective (via the socially constituted set of meanings, values, and practices that comprise those tools) with which it can see anew, critique, and potentially vary its own identity performances.« (Barvosa-Carter 2001: 127)
Hier schließt sich nun aber der zweite Schritt der kritischen Reflexion an, denn der Vorschlag Barvosa-Carters ist seinerseits gesellschaftstheoretisch voraussetzungsvoll, indem er auf einen Zusammenhang verweist, den sie (zumindest an dieser Stelle) nicht weiter ausführt. Die Konstitution der Subjekte in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern mit unterschiedlichen, teilweise sogar widersprüchlichen normativen Anweisungen setzt eine Differenzierung der Gesellschaft voraus, die in der sozialwissenschaftlichen Diskussion allgemein als ein Kennzeichen moderner Gesellschaften betrachtet wird. Zudem muss Barvosa-Carter davon ausgehen, dass sich das Subjekt über seine Involviertheit in unterschiedliche gesellschaftliche Felder hinaus als einheitliches Selbst erlebt, dessen innerer Kern gegenüber äußeren Anforderungen identisch bleibt. Nur ein solches Subjekt, das den Anspruch hat und erfüllen muss, homogen und autonom zu sein, kann eine individuelle Distanz gegenüber den Normen entwickeln und hat, über die verschiedenen Handlungsfelder vermittelt, die ›Werkzeuge‹, um diese Distanz als Kritik zu 85
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
artikulieren. Hier lässt sich Butlers These, dass die Subjektkonstitution über ein Beharren im eigenen (sozialen) Sein erfolgt, erweitern. Nicht nur das Sein ist also gesellschaftlich bestimmt, auch das Begehren, in diesem Sein zu beharren, ist spezifisch: ein Begehren, seine Identität in Auseinandersetzung mit äußeren Normen artikulieren zu können. Die Entfremdung dieser Subjekte besteht dann auch nicht allein darin, dass sie sich die Normen der Anerkennung ihres Seins nicht ausgesucht haben, vielmehr müssen sie beständig die Erfahrung machen, sich selber fremd zu sein, und sind mit der Aufgabe konfrontiert, ihr eigenes Selbst zu ergründen und gegebenenfalls gegenüber den Normen als Verlangen nach anderen Normen geltend zu machen. Butler verweist in diesem Zusammenhang auf Foucaults Konzeption des Wahrheitsregimes, welches die Bedingungen festlegt, »unter denen Selbstanerkennung möglich ist« (Butler 2003a: 31). Sie betont dabei, dass das Wahrheitsregime zwar über die Form der Anerkennung entscheide, diese jedoch nicht vollständig festlegen könne: »›Entscheidet‹ ist vielleicht ein zu starkes Wort, denn das Wahrheitsregime bietet einen Rahmen für den Schauplatz der Anerkennung; es legt fest, wer als Subjekt der Anerkennung in Frage kommt, und es bietet verfügbare Normen für den Akt der Anerkennung selbst. In Foucaults Sicht besteht jedoch immer eine Beziehung zu diesem Regime, eine Beziehung zu den fraglichen Normen und eine Beziehung, die hinterfragt wer das ›Ich‹ in Beziehung zu diesen Normen sein wird.« (Butler 2003a: 32)
Diese Beziehung begründet die Verfügbarkeit der Normen für kritische Reflexivität, da »jede Beziehung zum Wahrheitsregime zugleich eine Beziehung zu mir selbst ist« (ebd.). Hinsichtlich der hier ins Auge gefassten Dimension der gesellschaftlich-historischen Verortung scheint mir Butler in ihrem Bezug auf Foucault das analytische Potenzial, das er bietet, allerdings zu unterschätzen. Denn wie ich im folgenden Kapitel ausführe, erfasst Foucault nicht nur die je besonderen Normen des Wahrheitsregimes, sondern vielmehr auch die in einer bestimmten Macht-Wissen-Ordnung konstituierten Selbstverhältnisse und damit das besondere Verhältnis der Subjekte zu den Normen in ihrer historischen Spezifik – als Subjektivierungsweise in der abendländischen Moderne. Der Erkenntnisgewinn, der in einer solchen Präzisierung liegt, soll hier wieder an der Problematik der Geschlechterdifferenz illustriert werden. Während die genealogische Betrachtung der strukturellen Formierung der symbolischen Ordnung durch Heteronormativität und Phallogozentrismus wichtige Antworten auf die Frage gibt, warum Geschlecht als natürliche Zweigeschlechtlichkeit erscheint und Individuen sich als 86
ZWISCHENSPIEL I
männliche oder weibliche Subjekte identifizieren, kann die Analyse der gesellschaftlichen Konstitution der Geschlechtsidentität ohne eine weitere gesellschaftstheoretische Fundierung nicht vollständig sein, will sie nicht ihren eigenen Anspruch der Historisierung dieser Kategorie unterlaufen. Butler macht immer wieder durch Hinweise deutlich, dass sie die Existenz von Geschlecht als kulturspezifische Erscheinung auffasst. Da sie dies jedoch nicht ausführt und auch keine explizite Einschränkung des Geltungsbereichs ihrer Thesen vornimmt, kann der Eindruck entstehen, sie vertrete letztlich doch ein universalisierendes Konzept von ›Kultur‹. Bestimmte Probleme, mit denen sich Butler auseinandersetzt – wie beispielsweise die Bedeutung des Körpers und des Begehrens, das Verhältnis von Natur und Kultur, von sex und gender – erhalten ihren konstitutiven Kontext nur, wenn sie in der abendländischen Moderne verortet werden. So bemerkt Oyèrónké Oyĕwùmí spitz: »The splitting of hairs over the relationship between gender and sex, the debate on essentialism, the debates about differences among women, and the preoccupation with gender/blending that have characterized feminism are actually feminist versions of the enduring debate on nature versus nurture that is inherent in Western thought and in the logic of its social hierarchies. These concerns are not necessarily inherent in the discourse of society as such but are a culture-specific concern and issue.« (Oyĕwùmí 1997: 13)
Oyĕwùmí verweist damit nachdrücklich auf die historische Singularität der Geschlechtsidentität.9 Diese will ich nun auf besondere Selbstverhältnisse zurückführen, die ihrerseits mit Foucault in den spezifischen MachtWissen-Verhältnissen der abendländischen Moderne verortet werden können. Das autonome Subjekt, das nicht durch göttliche Bestimmung oder gesellschaftlichen Stand sondern vielmehr durch die inneren Tiefen seines authentischen Wesens bestimmt zu sein scheint, entsteht im Zuge der Lösung der Individuen aus vormodernen Bezügen und Machtverhältnissen. Gerade in dem Maß, in dem sich die gesellschaftlichen Felder differenzieren und der Diskurs sich in vielfältige Teildiskurse verfeinert, erscheint nun ›der Mensch‹ in seiner ahistorischen Endlichkeit als überge9
Auch Ursula Mıhçıyazgan kommt zu dem Schluss, dass Butlers Theorie einen ›totalisierenden Gestus‹ aufweise; nicht nur begrenze sie den Geltungsanspruch ihrer Thesen nicht konsequent genug, vielmehr unterlaufe sie eine solche Begrenzung, »weil sie von einem (universalen) Diskurs, von einem einfachen diskurstheoretischen Regel-Modell ausgeht« (Mıhçıyazgan 2008: 259). So weise Butler etwa die Schlüsselstellung des Begehrens als ›Substanz‹ des Subjekts nicht als Spezifik des ›westlichen‹ Diskurses aus. Dadurch unterstelle sie, »dass jedes Subjekt durch das Verbot eines Begehrens gebildet werde« (Mıhçıyazgan 2008: 261). 87
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
ordnetes, sinnstiftendes Moment.10 Wie ich im folgenden Kapitel rekonstruiere, können wir bei Foucault aber auch lernen, dass sich dieser moderne abendländische Mensch durch eine spezifische Doppelrolle auszeichnet, die ihn zu einem aporetischen Wesen macht: Er ist zugleich erkennendes Subjekt und Gegenstand der Erkenntnis – Foucault bezeichnet diese Figur als »historisch-transzendentale Dublette« (Foucault 1974: 384). In diesem Sinne muss die Identität als essenzielle Verfasstheit des Subjekts, die quasi als Wahrheit dessen Körper innewohnt, als besondere gesellschaftlich-historische Erscheinung begriffen werden. Von hier aus lässt sich wiederum die Problematik der Anerkennung präzisieren: Das moderne abendländische Subjekt ist vor die Aufgabe gestellt, eine kohärente und authentische Identität an den Tag zu legen. Einerseits muss es also dauerhafte Qualitäten beweisen, die ihre Grundlage in innerlichen Eigenschaften zu haben scheinen, die im Körper verankert sind. Andererseits ist die individuelle Existenz im Zuge der Individualisierungsprozesse in spezifischer Weise kontingent geworden, die eigene Identität muss daher beständig reflektiert und so bearbeitet werden, dass sie über Veränderungen im Lebenslauf hinweg weiterhin authentisch und kohärent erscheint (vgl. Hark 1999b). Anerkennung ist in diesem Sinne also kein bloßes Zurkenntnisnehmen von Selbstverständlichem, sondern vielmehr ein Prozess, bei dem (Selbst-)Darstellung und (Fremd-)Wahrnehmung in einem interaktiven Verhältnis stehen. Dieser Prozess beruht auf gesellschaftlichen Parametern der Intelligibilität und ist insofern immer prekär, als eine zu große Abweichung oder Distanz von diesen zu einer Verweigerung der Anerkennung und damit der Existenz als kompetentes und lebensfähiges Subjekt führen kann. Die von Butler in das Feld der Auseinandersetzungen eingeführte ontologische Frage, was die menschliche Natur ist, wie dieser Mensch sich selbst und seinen Körper wahrnimmt, entfaltet sich genau auf der Grundlage dieser Figur der Dublette. Butler kristallisiert gewissermaßen das bestimmte – nun näher als historisch zu bezeichnende – kritische Potenzial, das in dieser Figur steckt, heraus. Sie macht die fundamentale Endlichkeit des Menschen (der als Erkenntniswesen in der Selbsterkenntnis immer am Ungedachten, am Undenkbaren scheitert und sich daher in letzter Instanz immer intransparent bleiben muss) zur Bedingung der 10 »Der Mensch hat keine Geschichte mehr oder vielmehr: da er spricht, arbeitet und lebt, findet er sich in seinem eigentlichen Sein völlig mit Geschichten verflochten, die ihm weder völlig homogen noch untergeordnet sind. Durch die Zerstückelung des Raums […], durch das Zusammenrollen eines jeden so freigemachten Gebiets mit seinem Werden ist der Mensch, der am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts erscheint, ›enthistorisiert‹.« (Foucault 1974: 441f) 88
ZWISCHENSPIEL I
Möglichkeit von Ethik, indem sie die Forderung nach narrativer Kohärenz des Subjekts als deren Grundlage zurückweist: »Verantwortung für sich selbst übernehmen heißt in der Tat, sich die Grenzen des Selbstverständnisses einzugestehen und diese Grenze nicht nur zur Bedingung des Subjekts zu machen, sondern als die Situation der menschlichen Gemeinschaft überhaupt anzunehmen« (Butler 2003a: 94). Indem sie die Forderung nach Selbstidentität als »ethische Gewalt« (Butler 2003a: 54ff) markiert, kann sie zugleich begründen, dass sich auch die Prozesse der Anerkennung nie vollständig und in absoluter Wechselseitigkeit vollziehen können. Sie entwirft daher eine Ethik, die »auf unserer gemeinsamen und unabänderlichen Teilblindheit in Bezug auf uns selbst gründet« (Butler 2003a: 54).11 Wie sich aber bereits an der Interpretation Mills, dass Butler Normen grundsätzlich für gewaltsam erachte, gezeigt hat (Kapitel 2.2), muss die hier als ›Forderung nach Selbstidentität‹ präzisierte Gewalt in ihren besonderen historischen Entstehungsbedingungen noch genauer aufgeschlüsselt werden. Und dies nicht allein aus analytischem Interesse, sondern vielmehr auch deshalb, weil noch zu klären ist, inwiefern diese Entstehungsbedingungen selbst zum Gegenstand (widerständigen) gestaltenden Handelns gemacht werden können. Mit ihrem hier dargestellten Entwurf gelingt es Butler, die kritischethische Disposition moderner abendländischer Subjekte zu konzipieren, ohne eine bestimmte moralische Substanz dieser Subjekte voraussetzen zu müssen. Gesellschaftskritik bedeutet in diesem Sinne eine Kritik an den Normen, die die ontologischen Grenzen der Intelligibilität von Subjekten festlegen. Eine dieser Normen ist die Voraussetzung der körperlichen Zweigeschlechtlichkeit: »Das ›biologische Geschlecht‹ ist […] nicht einfach etwas, was man hat, oder eine statistische Beschreibung dessen was man ist: Es wird eine derjenigen Normen sein, durch die ›man‹ überhaupt erst lebensfähig wird, dasjenige, was einen Körper für ein Leben im Bereich kultureller Intelligibilität qualifiziert.« (Butler 1997a: 22) Die jeweilige individuelle, praktische ›Gestaltung‹ dieser Geschlechtsidentität im Bemühen um Anerkennung ist in einem Feld der Normalität verortet, das ein Kontinuum von Normalität und Devianz konstituiert: »Devianz bezeichnet in diesem Kontext keine wesensmäßige Verschiedenheit, sondern die Bereiche, die zu weit vom Durchschnitt entfernt sind. Devianz ist insofern nicht eindeutig vom Normalen geschieden, vielmehr dient sie als be11 »Die Einsicht, dass man nicht jederzeit ganz der ist, der man zu sein glaubt, könnte umgekehrt zu einer gewissen Geduld gegenüber Anderen führen, so dass wir zunächst einmal von der Forderung ablassen, dass der Andere jederzeit selbstidentisch zu sein hat.« (Butler 2003a: 54f) 89
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
ständige Versicherung der eigenen Normalität wie als Drohung, dass letztere immer nur einen Steinwurf von der Zone des Abweichenden entfernt ist.« (Hark 1999b: 69)
Deviante Praktiken als Pluralisierung der Normalität der Zweigeschlechtlichkeit können von devianten Praktiken unterschieden werden, die die normative Vorgabe der Zweigeschlechtlichkeit grundsätzlich in Frage stellen. Obgleich sich widerständige Praktiken immer auf das regulierende Gesetz der Zweigeschlechtlichkeit beziehen müssen, kann gefragt werden, unter welchen Umständen und inwiefern sie dieses Gesetz auch grundlegend in Unordnung versetzen können: »To veer from the gender norm is to produce the aberrant example that regulatory powers (medical, psychiatric, and legal, to name a few) may quickly exploit to shore up the rationale for their own continuing regulatory zeal. The question remains, though, what departures from the norm constitute something other than an excuse or rationale for the continuing authority of the norm? What departures from the norm disrupt the regulatory process itself?« (Butler 2004a: 52f)
Um diese Frage aber anzugehen, so meine These, ist es notwendig, über die kritische Möglichkeit der verschiebenden Gestaltung der Normen hinaus genau jene Bedingungen zur Disposition zu stellen, die die aporetische Struktur der empirisch-transzendentalen Dublette konstituieren. Nur wenn diese Bedingungen selbst zum Gegenstand gestaltender Praktiken gemacht werden, kann letztlich die spezifische Rationalität, die der Norm der natürlichen Endlichkeit des Menschen Autorität verleiht, hinterfragt werden, um damit die gesellschaftlichen Bedingungen seines Seins in ihrer Kontingenz und Gestaltbarkeit deutlicher sichtbar zu machen. Um also beispielsweise die Auseinandersetzungen um die Norm der Zweigeschlechtlichkeit – ganz im Sinne Butlers – aus dem epistemischen Terrain der Naturalisierungen lösen zu können, sind weitere Dimensionen des Gesellschaftlichen zu beachten und in die kritische Gestaltung einzubeziehen. Diese Überlegungen führe ich nun in der Auseinandersetzung mit Foucaults Analyse der modernen Subjektkonstitution im Rahmen von gouvernementaler Rationalität und Bio-Macht näher aus.
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4. M I C H E L F O U C AU L T : D E R ›M E N S C H ‹ AL S M O D E R N E S AB E N D L ÄN D I S C H E S S U B J E K T
Michel Foucault hat sein allgemeines theoretisch-analytisches Anliegen als »historische Ontologie unserer selbst« (Foucault 1984: 82) bezeichnet. Seine Arbeiten lese ich daher als Entwurf einer historischen Theorie der Subjektivität, als Versuch, »eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten werden« (Foucault 1994a: 243). Diese bei Foucault häufig anzutreffende Benennung eines ›wir‹ und ›unserer‹ Kultur verstehe ich als Verortung seiner Analysen und damit als Begrenzung des Geltungsanspruchs seiner Aussagen auf eine bestimmte, historisch kontextualisierte Form des Subjekts: das moderne abendländische Subjekt.1 Der gesellschaftskritische Anspruch dieses Projekts ist darin begründet, das ›Menschliche‹ als unentrinnbar gesellschaftlich und damit als historisch kontingent zu denken. ›Menschen‹ erscheinen in diesem Sinne immer als bestimmte Subjekte, die sich durch bestimmte, kontingente Selbstverhältnisse und damit auch durch bestimmte Formen von Handlungsfähigkeit und Wi1
Kritisch dazu: Mıhçıyazgan 2008. Im Unterschied zu ihr gehe ich allerdings nicht davon aus, dass Foucaults Analysen notwendigerweise eine »dichotome Unterscheidung zwischen den Kulturen« implizieren und er »die ›abendländische Gesellschaft‹ als Gegensatz zum ›Rest der Welt‹ betrachtet« (2008: 35). Vielmehr halte ich es für sinnvoll, die Kontextualisierung und Beschränkung seiner Analysen ernst zu nehmen und darauf zu bestehen, dass er mit diesen keinerlei Aussagen über ›andere‹ Kontexte machen kann. Inwiefern die Konstruktion eines Anderen – im Sinne eines konstitutiven Außen – fundamental für die Selbstgewissheit des abendländischen Subjekts ist, diskutiert beispielsweise Yeğenoğlu 1998. Zum komplexen Verhältnis von Regionalisierung/Kontextualisierung und Universalisierung in der Moderne siehe beispielsweise Chakrabarty 2000. 91
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derständigkeit auszeichnen. Der originäre Beitrag Foucaults zur Problematik der gesellschaftlichen Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit besteht darin, dass er diese Frage über die Analyse historischer Verhältnisse angeht, die sich als Macht-Wissen-Komplexe umreißen lassen. Diese Verhältnisse rekonstruiert er im Laufe seiner Forschungstätigkeit aus verschiedenen Richtungen: Er fragt nach dem historischen Verhältnis zur Wahrheit, durch das der ›Mensch‹ zum Subjekt und Objekt von Erkenntnis wird, er analysiert die Machtpraktiken, durch die sich Subjekte mit spezifischen Potenzialen und Handlungsweisen konstituieren, und geht der Frage nach den ethischen Formen nach, durch die sich Individuen als Akteure konstituieren und anerkennen (vgl. Foucault 1994b: 275).2 Der gesellschaftskritische Anspruch geht aber über den Nachweis der Historizität und Kontingenz der Subjekte und ihrer gesellschaftlichen Bedingungen hinaus. Wie ich bereits in der Diskussion von Butlers Arbeiten argumentiert habe, kann die reine Rekonstruktion der formalen Möglichkeit einer ›anderen Welt‹ nur ein Schritt zu einer kritisch gestaltenden Praxis sein. In der folgenden Darstellung geht es mir daher vor allem auch darum, nachzuvollziehen, inwiefern der kritische Impuls der Historisierung bei Foucault mit der Frage nach den besonderen Möglichkeitsräumen verbunden ist, die sich in der abendländischen Moderne für widerständiges, gestaltendes Handeln eröffnen. Foucaults Kritik beschränkt sich nicht darauf, die historische Singularität des Gegebenen aufzuweisen, vielmehr erfasst sie auch die Gewaltsamkeit dieser Verhältnisse. Die Frage, wie diese Verhältnisse zu überwinden sind, erweist sich als komplex, weil Foucault deutlich machen kann, dass jeder Widerstand notwendigerweise in die Machtverhältnisse verstrickt ist, gegen die er vorgehen will. Dass aber eine Kritik dieser Verhältnisse überhaupt möglich ist, weist auf spezifische Räume der Freiheit hin: Gerade dadurch, dass moderne Machtverhältnisse in besonderer Weise auf die Subjektivität der Individuen zurückgreifen, implizieren sie eine Handlungsfähigkeit, die sich kritisch und widerständig gegen sie selber wenden kann. Allerdings ist diese Freiheit eine problematische, weil sie
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Ich folge damit einer Lesart, die die verschiedenen Untersuchungsachsen Foucaults – Archäologie, Genealogie und Ethik – nicht als strikt zu unterscheidende Phasen seines Werks ansieht, deren Übergänge als Brüche zu kennzeichnen wären, sondern vielmehr die Kohärenzen und Kontinuitäten hervorhebt (z.B. Lemke 1997; Brieler 1998). Diese Interpretation wird von Aussagen Foucaults gestützt, der sein Werk als die Arbeit an einer leitenden Fragestellung, nämlich der nach den historischen Verfahren der Subjektivierung, darstellt (Foucault 1994a; Foucault 1990; Foucault 1992a).
MICHEL FOUCAULT
konstitutiv in gewaltsame Verhältnisse verstrickt und damit in spezifischer Weise begrenzt ist. Indem ich nun Foucaults Analysen dieses komplexen Zusammenhangs von Macht, Subjektivität und Freiheit/Handlungsfähigkeit rekonstruiere, will ich die in der Auseinandersetzung mit Butler entwickelte These weiter verfolgen, dass die Kritik der modernen abendländischen Subjektivität über die Formen der symbolischen Ordnung hinausgehen muss, um einerseits die Historizität und damit auch die besonderen kritischen Potenziale, andererseits die Grenzen und Gewaltsamkeiten dieser Subjektivität zu erfassen. Foucault macht deutlich, dass es nicht ausreicht, »zu sagen, dass das Subjekt in einem symbolischen System gebildet wird. Das Subjekt bildet sich nicht einfach im Spiel der Symbole. Es bildet sich in realen und historisch analysierbaren Praktiken« (Foucault 1994b: 289). Butlers Einwand gegen Lacan, dass auch die Strukturen der symbolischen Ordnung historisch kontingent sind, lässt sich weiter zuspitzen: Das Verhältnis der Subjekte zur symbolischen Ordnung und damit die Art und Weise, wie sie (performativ) in diese Ordnung eingreifen können – die spezifische Form der (widerständigen) Praxis – ist historisch. Eine zentrale These, die in diesem Kapitel begründet werden soll, lautet, dass Foucault die historischen Bedingungen und die mit ihnen jeweils verbundene spezifische Subjektivität nachzeichnet, die performativ-dekonstruktive Praxis als kollektive, gezielte Verschiebung und Verunsicherung von Normen möglich werden lassen. Zugleich lassen sich in dieser Perspektive aber auch die Grenzen einer solchen Praxis erkennen, denn nicht nur die symbolischen Normen müssen verändert werden, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse der Macht-Wissen-Ordnung, die dafür verantwortlich sind, dass die Normen immer wieder in einem spezifischen (gewaltsamen) Kontext wirksam werden. In diesem Kapitel geht es mir zunächst wieder darum, die besondere Perspektive Foucaults auf die gesellschaftliche Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit mit Blick auf ihren spezifischen Erkenntnisgehalt herauszuarbeiten und in einer Art ›Dialog‹ mit Butlers Perspektive in ihren Konturen zu schärfen. Bei dieser Rekonstruktion von Foucaults Analysen ihre verschiedenen Dimensionen soll erkennbar werden, dass das Besondere an seinem Gegenstandsbezug darin besteht, dass er den gesellschaftlichen Konstitutionszusammenhang moderner Subjektivität über dessen Vielfalt und Uneinheitlichkeit zu erschließen sucht. Ihm geht es darum, gesellschaftliche Phänomene und Subjektivitäten zu erklären, indem er deren Entstehungsbedingungen als Beziehungsgefüge heterogener Elemente rekonstruiert, die nicht in ursächlichen Beziehungen zueinander stehen. Oder genauer: Die Ursächlich93
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
keit der Beziehungen verschiedener Elemente der sozialen Welt – oder ihr funktionales Verhältnis zueinander – ist nur in einem spezifischen Strukturzusammenhang zu bestimmen, der als Zusammenhang überhaupt erst diese Ursächlichkeit konstituiert und dabei in sich so dynamisch ist, dass er zugleich immer auch die Möglichkeit dysfunktionaler Entwicklungen beinhaltet. Gerade mit Blick auf moderne Gesellschaften, die sich durch die Ausdifferenzierung vielfältiger Funktionen in je eigenen ›Sphären‹ und Institutionen auszeichnen, wird auf diese Weise eine Rekonstruktion von Zusammenhängen möglich, die die relative Autonomie der unterschiedlichen Elemente ernst nimmt und dabei zugleich strukturelle Beziehungen, Abhängigkeiten, Hierarchien zwischen ihnen erkennen lässt. Zugleich ist dieser Blick auf die Vielfalt, auf Diskontinuität und Ereignishaftigkeit aber mit dem Anspruch verbunden, die hinter den verschiedenen Erscheinungen liegenden Systematizitäten zu suchen (vgl. Foucault 1981; Foucault 1974). Foucaults metaphysikkritischer Impetus veranlasst ihn also keinesfalls dazu, die Möglichkeit (und gesellschaftsanalytische Bedeutung) der Rekonstruktion von Strukturzusammenhängen, die den empirischen Phänomenen analytisch vorgängig sind, zu verwerfen; er will diese Strukturzusammenhänge jedoch insofern als offene Systeme begreifen, als er nach der Pluralität sowie der strukturimmanenten Dynamik fragt, die die Möglichkeit der Verschiebung beinhaltet. In der Darstellung von Foucaults besonderer Perspektive auf die Frage der gesellschaftlichen Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit gehe ich in vier Schritten vor, wobei ich den ›klassischen‹ Dreiklang der Darstellung – Archäologie (Wahrheit), Genealogie (Macht), Ethik (Selbstverhältnisse) – um die Diskussion des Konzepts des Dispositivs, mittels dessen Foucault spezifische gesellschaftliche Zusammenhänge rekonstruiert, erweitere. Über die Analyse von Dispositiven werden nämlich erst die konkret-historischen Bedingungen erfassbar, unter denen die spezifischen Konstellationen von Wahrheit, Macht und Selbstverhältnissen ihre Wirkungen entfalten. In meiner Darstellung beziehe ich die allgemeinen Thesen Foucaults immer wieder konkretisierend auf das Phänomen der Sexualität – dies liegt insofern nahe, als die Problematik der Sexualität für Foucault einen Schlüssel zur Erkenntnis moderner abendländischer Gesellschaften und Subjekte darstellt und zugleich einen direkten Anschluss an die Problematik der Geschlechterdifferenz bietet.3 3
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Angesichts dieser analytischen Möglichkeiten für feministische Fragestellungen sticht bei Foucault sein weitgehendes Schweigen zur Geschlechterdifferenz hervor. Seltsam unproblematisch erscheint bei ihm das Phänomen, dass moderne Subjekte Männer oder Frauen sind – der Frage der
MICHEL FOUCAULT
Im ersten Abschnitt dieses Kapitels diskutiere ich die (archäologische) Frage, inwiefern die Fähigkeit des Subjekts zur Welterkenntnis, zum Selbstentwurf und zum (widerständigen) Handeln durch bestimmte epistemische Bedingungen konstituiert wird. Hier wird die bereits im vorigen Kapitel angesprochene Figur des modernen abendländischen Menschen als ›empirisch-transzendentale Dublette‹ unter dem Aspekt ihrer historischen Subjektivierungseffekte beleuchtet. Zudem wird deutlich, inwiefern die von Butler vorausgesetzte kritische Distanz zu den Normen in dieser spezifischen epistemischen Konstellation allererst entsteht: Das Verhältnis des Subjekts zur Ordnung des Symbolischen ist historisch. Im zweiten Abschnitt stelle ich Foucaults (genealogische) Analyse moderner Machtverhältnisse dar, die als ›Bio-Macht‹ einen besonderen Zugriff auf das Individuum und damit ein besonderes Verhältnis von Individuum und Gesellschaft konstituieren. Auf diese Weise lässt sich der Zusammenhang von Machtverhältnissen und epistemischer Ordnung der Wahrheit in der Form historischer Macht-Wissen-Komplex fassen, die eine bestimmte Rationalität und infolgedessen auch bestimmte Strategien und Praktiken der Kritik implizieren. Wie diese gesellschaftlich konstituierte Möglichkeit kritischer Praxis auch als (ethische) Handlungsfähigkeit der Subjekte begriffen werden kann, ist Thema des dritten Abschnitts; hier geht es um die bereits mit Butler aufgeworfene Frage der historischen Gestalt des ethischen Subjekts und um die besondere Weise, in der sich diesem Subjekt die Frage stellt: ›Was soll ich tun?‹ Wenn sich mit dieser dreistufigen Rekonstruktion begrünEntstehung von Zweigeschlechtlichkeit geht er nicht systematisch nach. Zur Kritik dieser Leerstelle bei Foucault gibt es mittlerweile eine Fülle an Literatur (zusammenfassend: Ludewig 2002), wobei diese Geschlechtsblindheit meist eher als eine Lücke in seinem Werk denn als ein grundsätzliches theoretisches Problem gesehen wird (vgl. McNay 1992: 37f). In vielen Ansätzen, die die Geschlechterdifferenz systematisch in eine Foucault’sche Perspektive integrieren wollen, geschieht dies in Form einer bloß additiven Ergänzung. Dabei wird Geschlecht zwar als historisch kontingent betrachtet, erscheint aber letztlich gewissermaßen als Black Box, da diese Differenzkategorie – gerade aufgrund der großen Sensibilität gegenüber Essentialismen – eher vorausgesetzt denn erklärt wird. Diese Dimension einer nicht-essentialistischen Erklärung der binären Geschlechterdifferenz hatte ich als einen besonderen Erkenntnisbeitrag von Butlers Konzeption herausgestellt. Ihre Arbeiten sollten daher auch nicht auf eine Geschlechtertheorie ›aus Foucault’scher Perspektive‹ verkürzt werden, vielmehr geht es mir (vor allem im 5. Kapitel) darum, beide Perspektiven aufeinander zu beziehen und dabei in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit wahrzunehmen. Dabei soll deutlich werden, dass die symbolische Ordnung von Phallogozentrismus und heterosexueller Matrix als Gegenstand der Analyse eine eigenständige Dimension ausmacht, die nicht einfach in Foucaults Konzept der Macht-Wissen-Komplexe aufgeht. 95
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den lässt, dass Handlungsfähigkeit und Kritik immer konstitutiv in die Verhältnisse eingelassen sind, an denen sie sich abarbeiten, dann heißt dies, dass die historische Analyse sich immer auch mit den konkreten gesellschaftlichen Phänomenen befassen muss; Kritik arbeitet sich an bestimmten Problemen ab und ist daher nicht nur in der abstrakten Form ihrer Möglichkeit, sondern vielmehr auch in der materialen Gerichtetheit ihrer Wirklichkeit durch diese Probleme konfiguriert. Diesen Zusammenhang erfasst Foucault mit seinem Konzept des Dispositivs, das ich im vierten Abschnitt diskutiere. Mittels dieses Konzepts rekonstruiert Foucault von bestimmten ›Gegenständen‹ ausgehend die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die diese ›Gegenstände‹ erst hervorbringen. Dispositive stellen also die je konkreten Verwirklichungsbedingungen von Macht und Widerstand dar; über ihre Rekonstruktion lassen sich zugleich die materialen ›Substanzen‹ des Handelns in ihrer historischen Kontingenz und Bedingtheit erfassen und lässt sich infolgedessen die historische Spezifik der Einsätze und Ziele emanzipatorischer Bestrebungen begründen. Über das Konzept des Dispositivs lassen sich schließlich auch die Grenzen der Foucault’schen Perspektive erkennen, an denen sich die Anschlussstellen zu den Marx’schen Analysen der kapitalistischen Produktionsweise eröffnen: In ihrer Vielfalt und Heterogenität verweisen die gesellschaftlichen Dispositive der abendländischen Moderne bei Foucault immer auch auf einen übergreifenden Imperativ, den er als Forderung einer (ökonomischen) Effizienz markiert, nicht jedoch systematisch in seine Analysen einbindet. Diese Frage greife ich im 5. Kapitel wieder auf, um dann im 6. Kapitel im Zuge der Marx-Rekonstruktion zu diskutieren, wie ein solcher übergreifender Imperativ im Zusammenhang mit einer prinzipiellen Vielfalt und relativen Autonomie gesellschaftlicher Dispositive gedacht werden kann.
4.1 Wahrheit und Wirklichkeit – Die epistemischen Bedingungen der Subjektkonstitution Während Butler generell die Produktivität von Sprache als Voraussetzung für performative Praktiken thematisiert, untersucht Foucault die besonderen historischen Regeln, die nicht nur den Unterschied zwischen wahren und falschen Aussagen festlegen, sondern vielmehr bestimmte Aussagen möglich machen, während andere undenkbar und daher unsagbar sind. Dadurch wird die Möglichkeit von Bedeutungsverschiebungen über das formal-linguistische Prinzip der Iterabilität hinaus gesellschaftlich-historisch in der je spezifischen »Ordnung der Wahrheit« 96
MICHEL FOUCAULT
(Foucault 1978: 51) verortet. Der Gegensatz zwischen dem Wahren und dem Falschen erscheint als eine jeweils besondere Grenzziehung, die die Regeln für das, was gesagt werden kann, festlegt. In ›jeder Gesellschaft‹4 werden bestimmte Aussagen als richtig oder wahr akzeptiert, während andere als falsch, unsinnig oder gar undenkbar verworfen sind; es können bestimmte Methoden oder Techniken identifiziert werden, die Erkenntnis hervorbringen, und es lassen sich Kriterien erkennen, nach denen deren Ergebnisse als wahr oder falsch beurteilt werden. Wahrheit beruht für Foucault auf einem spezifischen gesellschaftlichen Wissen, welches wiederum in eine besondere historische Ordnung von Praktiken und Institutionen eingebunden ist.5 Aus dieser Perspektive lässt sich begründen, inwiefern symbolische Positionen keine überhistorischen, kulturstiftenden Konstanten sind, die sich lediglich mit besonderen sozialen Bedeutungen füllen, sondern vielmehr selbst historische Konfigurationen darstellen: »Als der christliche Gott die antiken Götter von ihrem Thron vertrieb, veränderte sich der Thron selbst und nicht nur dessen Inhaber.« (Veyne 2001: 25; Übers. HM)6 In diesem Sinne deutet Foucault auch die ödipale Struktur der symbolischen Ordnung nicht als eine Grundstruktur des menschlichen Daseins, sondern als eine historische Struktur, die in spezifische Macht-Wissen-Verhältnisse eingebunden ist: »Wenn Sie sagen, das System des familiären Daseins, der Erziehung, der auf das Kind verwendeten Sorge bringe das Begehren des Kindes dazu, als erstes – als zeitlich erstes – Objekt die Mutter zu wählen, so kann ich Ihnen zustimmen. Denn dann sprechen wir über die geschichtliche Struktur der Familie, der Pädagogik, der auf das Kind verwandten Sorge. Wenn Sie aber sagen, die Mutter sei das Urobjekt, das wesentliche Objekt, das fundamentale Objekt, das ödipale Dreieck sei charakteristisch für die Grundstruktur des menschlichen Daseins, dann sage ich nein.« (Foucault 2003: 130) 4
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›Gesellschaft‹ bezeichnet zunächst einen »bestimmten historischen Bereich« (Foucault 2003: 142), der sich gewissermaßen erst aus einer theoretisch-analytischen Konstruktionsleistung ergibt. Eine Präzisierung dessen, was dieser Begriff bei Foucault bezeichnet, erfolgt in dem Abschnitt über das Konzept des Dispositivs (Kapitel 4.4). Eine ausführliche Diskussion dieses Zusammenhangs findet sich bei Lemke 1997: 327ff. Paul Veyne führt an diesem Beispiel weiter aus, dass das Wort ›Gott‹ selbst eine andere Bedeutung annahm: Der neue Gott war ein gigantisches, allmächtiges, transzendentales, ewiges und liebendes Wesen; er war der Welt, die er schuf, vorgängig. Die heidnischen Götter waren, neben den Tieren und den Menschen, eine der drei Gattungen der Fauna, die eine Welt, deren Ursprünge sich dem Gedächtnis entzog, bevölkerten (vgl. Veyne 2001: 25). 97
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Eine wichtige Pointe der Foucault’schen Argumentation in diesem Zusammenhang besteht darin, dass eine historische Ordnung der Wahrheit nicht nur spezifische Objekte (der Erkenntnis) hervorbringt, sondern zugleich auch ein spezifisches Subjekt der Erkenntnis, das in seiner historischen Form eine je besondere Stellung zur Wahrheit und zur Ordnung des Symbolischen hat. Im Verlauf dieses Kapitels wird sich zeigen, dass darin je besondere Möglichkeiten impliziert sind, wie sich Subjekte widerständig oder gestaltend zu dieser Ordnung verhalten können. In diesem Abschnitt geht es mir zunächst vor allem um den Zusammenhang von Wahrheitsordnung und Subjektivität. Im ersten Schritt stelle ich Foucaults Zugang zu den Begriffen von Wahrheit, Diskurs und Wirklichkeit dar. Dabei soll deutlich werden, dass Foucault die Vorstellung einer universellen Wahrheit verwirft, ohne zu behaupten, dass es keine Wahrheit gebe: Es gibt historische Wahrheiten, deren Konstitutionsregeln und (realitätserzeugende) Effekte nachvollziehbar sind. Im zweiten Schritt geht es dann um Foucaults Analysen der besonderen Stellung des modernen abendländischen Subjekts zu ›seiner‹ historischen Wahrheitsordnung: Es erscheint als Subjekt und Objekt der Erkenntnis, als ein Subjekt, das die verborgene Wahrheit nicht nur der Dinge, sondern auch seiner selbst zu erkunden hat und das sich dadurch immer auch in einer Konfliktkonstellation zwischen dieser inneren Wahrheit und ihrer äußeren ›Erkennbarkeit‹ befindet.
4.1.1 Wahrheit, Diskurs und Wirklichkeit Wesentliches Moment von Foucaults Historisierung der Wahrheit ist die Auseinandersetzung mit der modernen abendländischen Vorstellung des Subjekts als Quelle und Garanten von Erkenntnis. In gewisser Weise dreht Foucault eine der großen Problemstellungen moderner Philosophie – nämlich diejenige nach der Möglichkeit von Erkenntnis: Wie können wir zur Wahrheit gelangen? – um. Statt in der Wahrheit die Lösung zu sehen und entsprechend nach einem abgesicherten Zugang des (Erkenntnis-)Subjekts zum (Erkenntnis-)Objekt zu suchen, macht er die Wahrheit zum Problem und rekonstruiert die Regeln, nach denen das moderne abendländische Subjekt wahre Aussagen über ein Objekt machen kann. Die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis/Wissen liegen demzufolge nicht im erkennenden Subjekt, in der »Souveränität des Bewusstseins« (Foucault 1981: 23; auch Foucault 1983: 14f), sondern vielmehr in den historischen Diskursen und Praktiken des Erkennens und Wissens. Die Folgerung, dass es ›die‹ (universelle) Wahrheit nicht gibt, bedeutet jedoch nicht, dass alle Aussagen – eingeschlossen die Foucaults – gleichermaßen (un)gültig sind. Vielmehr betont Foucault die »Präsenz einer 98
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realen und intelligiblen Geschichte […], die Präsenz einer Serie kollektiver rationaler Erfahrungen, die einer Gesamtheit präziser, angebbarer Regeln folgen« (Foucault 1996a: 48). Diese reale und intelligible Geschichte zu rekonstruieren, ist ein wichtiges Anliegen seiner Arbeit: »[d]ie Gesamtheit von Bedingungen in Erscheinung treten zu lassen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt und in einer bestimmten Gesellschaft das Auftreten von Aussagen regieren, ihre Aufbewahrung, die zwischen ihnen errichteten Beziehungen, die Weise, in der man sie zu ordnungsgemäßen Gesamtheiten gruppiert, die Rolle, die sie ausüben, das Spiel der Werte und die Sakralisierungen, von denen sie affiziert werden, die Art und Weise, in der sie in Praktiken und Verhaltensweisen eingebettet sind, die Prinzipien, gemäß deren sie zirkulieren, verdrängt, vergessen, zerstört oder reaktiviert werden« (Foucault 2001a: 902).
Foucault greift also nicht in den Streit um die angemessene Wahrheit im Inneren der Diskurse ein, sondern will vielmehr deren historische Existenzbedingungen rekonstruieren. Damit nimmt er eine Stellung der Äußerlichkeit oder Distanz zur modernen abendländischen Denktradition ein: »Ich versuche tatsächlich, mich außerhalb der Kultur, der wir angehören, zu stellen, um ihre formalen Bedingungen zu analysieren, um gewissermaßen ihre Kritik zu bewerkstelligen: aber nicht um ihre Werte herabzusetzen, sondern um zu sehen, wie sie tatsächlich entstanden sind. Indem ich die Bedingungen unserer Rationalität analysiere, stelle ich auch unsere Sprache, stelle ich meine Sprache, deren Entstehung ich analysiere, in Frage.« (Foucault 2000a: 12)7
Es geht ihm also darum, eine Dimension zu rekonstruieren, die diesem Denken in seiner Immanenz nicht denkbar ist. Der Begriff des Diskurses lässt sich insofern gewissermaßen auch als Bezeichnung eines kulturellen Unbewussten begreifen, im Sinne von den sprechenden Subjekten verborgenen Gesetzen, die die historischen Objekte in ihrer Singularität hervorbringen (vgl. Veyne 2001: 25f; 2003: 31).8
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Angesichts von Foucaults Prämisse, dass alles Wissen historisch bedingt ist, kann diese Distanz oder Äußerlichkeit nicht im Sinne eines universellen Orts der Wahrheit aufgefasst werden. Vielmehr muss diese Möglichkeit der Distanzierung selbst als historische Möglichkeit der Reflexivität gesehen werden, die sich im Rahmen der modernen Ordnung der Wahrheit darbietet. Foucault spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Archiv, welches das »Spiel der Regeln« umfasst, »die in einer Kultur das Auftreten 99
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Ebenso wie die ›Wahrheit‹ ist auch die ›Wirklichkeit‹, auf die sich diese Wahrheit bezieht, historisch. Wenn in Diskursen nicht über gegebene Objekte verhandelt wird, sondern die Diskurse diese erst hervorbringen, dann stehen Wahrheit und Wirklichkeit in einem komplexen Konstitutionszusammenhang. Auch dies wiederum bedeutet nicht, dass alle Aussagen über eine gegebene Wirklichkeit gleichermaßen gültig oder ungültig sind; auch hier lassen sich bestimmte diskursive Formen und Regelmäßigkeiten (einschließlich ihrer Dynamiken und Instabilitäten) rekonstruieren, die eine bestimmte, historische Wirklichkeit hervorbringen. Foucault führt den Begriff der Problematisierung ein, um zu erfassen, wie und warum bestimmte ›Dinge‹ in einem bestimmten gesellschaftlich-historischen Kontext zum Problem – im Sinne eines Gegenstands sozialer Regulierung – werden (vgl. Foucault 1996b: 178f). Er grenzt dadurch sein Verständnis des Verhältnisses von Realem und Diskursivem sowohl gegen repräsentationstheoretische als auch gegen diskursmonistische Perspektiven ab: »Selbst wenn ich nicht sagen würde, daß das, was als ›Schizophrenie‹ bezeichnet wird, etwas Realem in der Welt entspricht, so hat dies nichts mit Idealismus zu tun. Denn ich denke, daß es eine Beziehung gibt zwischen dem Ding, das problematisiert wird, und dem Prozeß der Problematisierung. Die Problematisierung ist eine Antwort auf eine konkrete Situation, die real ist.« (Foucault 1996b: 179)
Mit dem Begriff der Problematisierung verbindet sich eine gesellschaftstheoretische Perspektive, die die Verknüpfung von Diskursivem und Materiellem erfasst, denn die Aussage, dass die Problematisierung eine Antwort auf eine konkrete Situation ist, impliziert die Frage, »[w]ie und warum … unterschiedliche Dinge in der Welt zum Beispiel unter dem Begriff der ›Geisteskrankheit‹ zusammengefasst, gekennzeichnet und behandelt (wurden)« (Foucault 1996b: 179). Auch das in Foucaults Arbeiten zentrale Phänomen der Sexualität lässt sich als Effekt einer Problematisierung fassen – Foucault geht es nicht um historisch veränderte Formen des Bezugs auf Sexualität als vermeintlich biologische Tatsache, vielmehr fragt er danach, »wie sich die ›Idee des Sexes‹ als einer biologischen Naturanlage, auf die ein korrekter Standard des Sexualverhaltens zu reagieren hat, aus präzisen historischen Gründen gebildet hat« (Brieler 1998: 406). Das Diskursive ist also konstitutiv mit allen gesellschaftlichen Phänomenen verwoben, es strukturiert diese und und das Verschwinden von Aussagen, ihr kurzes Überdauern und ihre Auslöschung, ihre paradoxale Existenz als Ereignisse und Dinge bestimmen« (Foucault 2001a: 902). 100
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wird von ihnen strukturiert – ohne dabei jedoch deren notwendiger Ausdruck zu sein. Mit Foucault lässt sich von einer funktionalen Verknüpfung ausgehen: Diskurse sind insofern strategisch, als sie eine bestimmte gesellschaftliche Situation bearbeiten und diese dadurch mitformieren. Da sie jedoch mit dieser Situation weder deckungsgleich sind noch von ihr determiniert werden, kann es zu Dysfunktionalitäten und Verschiebungen oder gar Brüchen kommen.
4.1.2 Der ›Mensch‹ als Subjekt und Objekt von Erkenntnis Die Vorstellung, dass es eine universelle menschliche Natur gebe, die sich erkennen lasse und damit zur Referenz der Unterscheidung von normal und anormal werden könne, fasst Foucault als eine für die abendländische Moderne spezifische historische Problematisierungsweise (vgl. Lemke 2007: 38). Damit betont er, dass es sich bei dieser Vorstellung sowie der damit verbundenen Normalisierung des ›Menschen‹ weder um eine Fiktion noch um eine überhistorische Realität handelt, sondern dass dieser ›Mensch‹ eine historische Existenzweise ist, die sich in verschiedenen gesellschaftlichen Phänomenen materialisiert. In Die Ordnung der Dinge zeichnet er den epistemologischen Bruch nach, der an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert den Übergang der klassischen zur modernen Episteme (im Sinne epochenbestimmender Denkmuster und -regeln) bedeutet und den Menschen in die Doppelrolle eines Subjekts und Objekts von Erkenntnis/Wissen bringt.9 Dieser Mensch ist also ein historisches Produkt, eine Seinsweise, die sich im modernen abendländischen Denken herausgebildet hat (Foucault 1974: 413). Seine spezifische Subjekthaftigkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass dieser Mensch sowohl die Quelle von Erfahrung und Wissen als auch empirisches Objekt dieses Wissens ist. Er ist den Gesetzen der natürlichen und gesellschaftlichen Ordnung unterworfen, kann diese jedoch zugleich erkennen und sich zunutze machen – der Mensch konstituiert sich also als ein Wesen, »dessen Natur (die es de9
Foucaults »Vermutung ist die, dass an der Schwelle zum 19. Jahrhundert, als die von der Zeichenförmigkeit der Wirklichkeit überzeugte Vorstellungswelt der Klassik daran zu scheitern beginnt, dass die Wissenschaften in der organischen Natur und in der sozialen Welt auf Phänomenbereiche eigener Art, also auf eine nicht auf ihre Zeichenfunktion reduzierbare Realität stoßen, unvermittelt der Mensch in das Zentrum des kulturellen Wahrnehmungsraumes rückt. Er übernimmt fortan in der europäischen Moderne die kognitive Schlüsselfunktion, die in dem klassischen Denkmodell die Sprache innehaben musste, weil sie zwischen dem alles umhüllenden Zeichensystem und der in sich ruhenden Realität das einzige Vermittlungsglied darstellte.« (Honneth 1989: 130) 101
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terminiert, es festhält und seit der Tiefe der Zeit durchdringt) es wäre, die Natur und infolgedessen sich selbst als natürliches Wesen zu erkennen« (Foucault 1974: 375). Zu dieser Natürlichkeit gehört, dass das einzelne Subjekt mit einer inneren Wahrheit ausgestattet ist, die seine Individualität ausmacht. Die Handlungsfähigkeit dieses Subjekts (seine Verhaltensformen und Ziele) erscheinen als Ausdruck dieser inneren essenziellen Wahrheit. Der Mensch der Moderne konstituiert sich insofern als freies und autonomes Subjekt. Frei von den Bindungen traditioneller Autoritäten, wird er nicht mehr durch seinen Stand oder dergleichen bestimmt, sondern ist aufgefordert, sich als authentisches Wesen mit innerer Tiefe zu begreifen, die er zum Ausdruck bringen muss und die von anderen anerkannt werden muss.10 Wenn nun aber individuelles Handeln nicht in erster Linie eine Frage des standesgemäßen Verhaltens ist, sondern Ausdruck der inneren, essenziellen Verfasstheit des Subjekts, dann werden Fragen der Begründung und Erklärung individueller Identität in besonderer Weise virulent. Diese spezifische Subjektkonstitution ist mit einer bestimmten Ordnung der Wahrheit verbunden; es setzt sich eine Form der Erkenntnis durch, die es nahelegt, nach logisch widerspruchsfreien, auf natürlichen oder sozialen Gesetzmäßigkeiten beruhenden Erklärungen zu suchen. Der moderne Mensch ist nicht auf göttliche Weisheit angewiesen, sondern erhebt den Anspruch, mit Hilfe seiner empirischen Wissenschaften die Wahrheit, die sich hinter den Erscheinungen der Dinge und in den wesenhaften Tiefen seines (natürlichen) Selbst verbirgt, entdecken und sie sich zunutze machen zu können. Es etabliert sich damit ein Spiel der Wahrheit, welches zum einen den Menschen in seiner natürlichen Endlichkeit zum Fokus der Wahrheitssuche und (ob seiner Endlichkeit) zum Problem und zum Gegenstand von Optimierung macht. Zum anderen aber eröffnet dieses Spiel der Wahrheit auch die Möglichkeit, dass ›der Mensch‹ und ›die Dinge‹ auf spezifische Weise, nämlich reflexiv, zum Thema werden können – und damit eine bestimmte Form der Kritik überhaupt erst formulierbar wird.11 Ein Charakteristikum der modernen abendländischen Wahrheitsordnung ist, dass sie vor allem in 10 Vergleiche hierzu auch Taylor 1997. 11 Dies kann als eine spezifische Lesart des Topos der ›Entzauberung‹ in der Moderne verstanden werden. Foucault folgt allerdings nicht der üblichen Erzählung einer Überwindung irrationaler mystischer Vorstellungen zugunsten einer rationalen Wahrheitsfindung. Vielmehr geht es ihm um die Etablierung einer spezifischen Rationalität, die sich in bestimmten Spielregeln der Wahrheitsfindung ausdrückt. Die Frage, die sich stellt, ist, welche besonderen Möglichkeiten der Kritik durch diese Spielregeln eröffnet werden – und damit ist zugleich immer auch die Frage nach den besonderen Begrenzungen dieser Kritik gestellt. 102
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Form wissenschaftlicher Diskurse organisiert ist, wobei nach Foucaults Ansicht den Humanwissenschaften eine Schlüsselstellung zukommt. Diese stellen die zentralen materiellen Praktiken dar, in denen Erkenntnismethoden und -instrumente entwickelt werden, mit denen der moderne Mensch die Gesetzmäßigkeiten seines Daseins erforschen und durchdringen kann. Es entsteht dabei insofern eine spezifische Paradoxie, als die individuelle innere Wahrheit nur durch ein spezialisiertes Expertenwissen zu entschlüsseln ist, wobei dieses Wissen aber auf die Formierung von Geständnispraktiken angewiesen ist, in denen die zu erkennenden Subjekte ihre Innerlichkeit selbst erforschen und preisgeben. Im Hinblick auf die Frage der gesellschaftstheoretischen Fundierung von Butlers Thesen lässt sich an dieser Stelle also festhalten, dass die Konstituierung des ›Ich‹ durch den Eintritt in die sprachlichen Gesetze der symbolischen Ordnung jeweils in historisch besonderer Weise erfolgt. Die von Butler mit dem Konzept der Entfremdung erfasste allgemeine Aussage, dass Menschen sich den Kategorien der symbolischen Ordnung unterwerfen müssen, um sozial intelligibel zu sein, lässt sich für den modernen Menschen nun präzisieren: Wenn das Besondere des modernen Subjekts in seiner inneren, natürlichen Wahrheit liegt, dann lässt sich die historische Spezifik der Entfremdung dadurch bestimmen, dass diese Wahrheit von den gegebenen Kategorien des Wissens verfehlt wird und dass das Individuum dies als Beschränkung seines Daseins erfahren kann. Zudem werden die historischen Bedingungen sichtbar, unter denen das von Butler angeführte notwendige Scheitern an der Bestimmung der eigenen Identität als Problematik für die Subjekte überhaupt erst denkbar wird. Dies impliziert auch die historische Situierung der performativen Praxis; diese erhält die spezifische Funktion der Darstellung jener inneren Wahrheit im Ringen um deren Anerkennung. Um diesen Zusammenhang aber genauer zu fassen, müssen die sozialen Bedingungen, auf denen die Problematisierung des modernen Menschen beruht, noch näher beleuchtet werden. Gewissermaßen als Kehrseite der Innerlichkeit des modernen Subjekts erscheint sein Verhältnis zu den gesellschaftlichen Bedingungen als äußerlich. Die Gesellschaft steht diesem inneren Subjektkern als externe Macht gegenüber – als »reine Schranke der Freiheit« (Foucault 1983 107). Foucault analysiert, inwiefern das moderne Selbstverhältnis spezifische Machtverhältnisse impliziert. Im folgenden Abschnitt gehe ich der Frage nach, wie sich dieses besondere Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als äußerliches Verhältnis von Autonomie und Heteronomie durch Foucaults Machtanalyse weiter präzisieren lässt.
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4.2 Historische Transformation der Macht Foucault geht davon aus, dass die spezifischen Praktiken, in denen sich der Mensch als Subjekt und Objekt von Erkenntnis konstituiert, mit bestimmten gesellschaftlichen Machtverhältnissen verknüpft sind. Seine historische These ist, dass die Formierung des modernen Menschen mit der Entstehung des modernen Staates und insofern mit spezifischen Machtverhältnissen einhergeht (vgl. Brieler 2002: 63). Während in vorneuzeitlichen Formen der Herrschaft die Herrschenden einer gesichtslosen Masse gegenüberstanden und am Einzelnen nur insofern interessiert waren, als er zu dienen und Tribute zu entrichten hatte, steht im modernen Staat das Individuum als Objekt der Formung, Führung und Erziehung im Mittelpunkt. Zwei zentrale Annahmen schließen sich daran an. Erstens entsteht ein besonderes Verhältnis von Individuum und Macht, bei dem nicht der rechtliche Status der Individuen, sondern vielmehr ihr Dasein als »lebendige, arbeitende, wirtschaftende Wesen« im Mittelpunkt steht (Foucault 1993b: 180). Zweitens – und daran anschließend – sind moderne Gesellschaften in besonderer Weise von Machtverhältnissen durchzogen. Ihre Effizienz entsteht vor allem daraus, dass sie in historisch singulärer Weise »mit den Subjekt-Kräften des Menschen« kalkulieren (Brieler 2001: 184). Dies impliziert aber zugleich eine besondere Konfiguration des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft in dem Sinne, dass die Machtverhältnisse von den Subjekten als äußere Grenze ihres vermeintlich unversehrten inneren Freiheitsraums wahrgenommen werden: »Nur unter der Bedingung, daß sie einen wichtigen Teil ihrer selbst verschleiert, ist die Macht erträglich […] Reine Schranke der Freiheit – das ist in unserer Gesellschaft die Form, in der sich die Macht akzeptabel macht« (Foucault 1983: 107). In diesem Abschnitt steht Foucaults genealogische Rekonstruktion der modernen abendländischen Subjektivität im Mittelpunkt und damit die Frage, wie sich der moderne abendländische Mensch in bestimmten Machtverhältnissen über bestimmte Technologien als Wesen konstituiert, das sowohl individuell-einzigartig als auch Teil eines Gesellschaftskörpers ist. Im ersten Schritt betrachte ich zunächst den Begriff der Macht und stelle eine Art allgemein-abstrakter Bestimmung vor: Macht erscheint bei Foucault als Substanz des Sozialen. Damit soll deutlich werden, dass es Foucault zwar darum geht, die historisch besonderen Machtverhältnisse zu analysieren, dass Macht jedoch als solche nicht der Gegenstand der Kritik ist. Im zweiten Schritt konkretisiere ich dann entsprechend Foucaults Fokus auf bestimmte, nämlich abendländisch-moderne Machtverhältnisse, die er als Bio-Macht bezeichnet und deren spezifische Effekte ihn in kritischer Absicht interessieren. Im 104
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dritten Schritt greife ich die im 2. Kapitel referierte Kritik Butlers auf, Foucaults Konzept der Seele fokussiere zu einseitig die Momente der Unterwerfung. Hier geht es mir darum, im Gegenzug wiederum Foucaults Perspektive in ihrem Erkenntnisgehalt zu profilieren: Er kann damit die Unterwerfung in ihrer historischen Form als spezifische Leistung des Subjekts erfassen. Daran anschließend diskutiere ich im vierten Schritt Foucaults Analyse der modernen abendländischen Rationalität, der auch kritische Praktiken unterliegen. Durch die besondere Eingebundenheit des Subjekts in die Machtverhältnisse stellt dieses Subjekt selbst seine Subjektivität zunehmend in den Mittelpunkt widerständiger Bestrebungen. Foucault warnt jedoch davor, diese Subjektivität umstandslos zum emanzipatorischen Gegenpol zu den Machtverhältnissen zu machen.
4.2.1 Macht – Annäherung über eine begriffliche Bestimmung Foucaults Zugang zur Thematik der Macht erfolgt über die Interpretation historischer Prozesse; er selbst besteht darauf, dass er keine Machttheorie formuliere, sondern lediglich eine Analytik der Macht betreibe (Foucault 1983: 102). Dies lässt sich im Sinne seines Beharrens deuten, dass ›Macht‹ ein historisches Phänomen ist, über das keine allgemeingültigen inhaltlichen Aussagen möglich sind. Dennoch entwirft Foucault für seine Machtanalytik ein theoretisches Instrumentarium, das systematisch-begrifflich als Ensemble von verallgemeinerbaren (abstrakten) Aussagen über Machtphänomene rekonstruiert werden kann.12 Bereits im Zusammenhang mit Butlers Subjektverständnis war eine solche, auf Foucault rekurrierende, generalisierbare Annahme aufgetaucht: dass nämlich Macht die historische Substanz des Subjekts darstelle. Entsprechend stellt die Analyse historischer Machtverhältnisse ein unerlässliches Element für die Beantwortung der Frage dar, wie der Mensch in unterschiedlichen Epochen in je spezifischer Form zum Subjekt wird. Aber was ist nun ›Macht‹ in Foucaults Verständnis? Ausführlich geht er selber in einer Passage aus Der Wille zum Wissen auf diese Frage ein
12 Foucault thematisiert selbst diesen spannungsreichen Zusammenhang von generalisierbaren Begriffen und historischen Objekten: »Brauchen wir eine Theorie der Macht? Da jede Theorie eine vorhergehende Objektbildung voraussetzt, kann keine als Grundlage der analytischen Arbeit dienen. Aber die analytische Arbeit kommt nicht ohne weiterführende Begriffsbildung voran. Und diese Begriffsbildung impliziert kritisches Denken: ein ständiges Überprüfen.« (Foucault 1994a: 243f) 105
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(Foucault 1983: 113ff).13 Hier bestimmt er zunächst negativ, dass Macht kein bestimmtes historisches Phänomen bezeichne: »weder die Souveränität des Staates noch die Form des Gesetzes noch die globale Einheit einer Herrschaft« (Foucault 1983: 113). Unter Macht versteht Foucault keine Substanz, sondern vielmehr eine relationale Kategorie, die eine heterogene Vielheit von Verhältnissen bezeichnet: »die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren« (Foucault 1983: 113). In dieser Hinsicht kann Macht als Substanz des Sozialen betrachtet werden, sie »ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt« (Foucault 1983: 114). Als weitere negative Abgrenzung ist festzuhalten, dass sich mit der Kategorie der Macht nicht bestimmte Interaktionsbeziehungen von anderen abgrenzen lassen. Auch ist Macht nicht das Privileg von bestimmten Personen, Gruppen oder institutionellen Instanzen. Vielmehr besteht die »Allgegenwart der Macht« darin, dass sie sich »in jedem Augenblick und an jedem Punkt – oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeugt« (Foucault 1983: 114). Macht ist also zunächst ganz allgemein eine Beziehung zwischen sozialen Elementen, die aufeinander wirken. In diesem Sinne ist auch Widerstand nicht etwas substanziell anderes als Macht. Machtverhältnisse sind insofern von Gewaltverhältnissen zu unterscheiden, als sie immer auf der Handlungsfähigkeit der beteiligten Subjekte beruhen und daher immer ein Moment von Freiheit implizieren. Wie diese Freiheit jedoch genau beschaffen ist, welche Handlungsmöglichkeiten mit ihr verbunden sind, zeigt sich allein in einer historisch-empirischen Untersuchung. Nur durch die Rekonstruktion bestimmter »strategischer Situationen« lassen sich historische Konstellationen von Hegemonie und Opposition in ihrem gegenseitigen Konstitutionsverhältnis sichtbar machen (Foucault 1983: 116f; Foucault 1994a). Dieser allgemeine Begriff von Macht erscheint notwendigerweise amorph, da »Macht keine Substanz (ist)« – und »auch keine geheimnisvolle Eigenschaft, nach deren Ursprüngen man forschen müsste« (Foucault 2005a: 218). Der analytische Gewinn zeigt sich daher nur anhand historischer Untersuchungen. Denn in diesem Rahmen lassen sich »in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien« durchaus »große Linien und institutionelle Kristallisierungen« der Macht erkennen (Foucault 1983: 113f), die als verschiedene Formen von Herrschaft bezeichnet werden können – diese sind jedoch nicht mit Macht generell gleichzusetzen, sie 13 Eine genaue Interpretation dieser viel zitierten und diskutierten Passage findet sich bei Saar 2007 (206f); für eine Interpretation der werkgeschichtlichen Entwicklung von Foucaults Machtanalytik siehe Lemke 1997. 106
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sind nicht die Voraussetzungen von Machtverhältnissen, sondern deren Effekte. Auf diese Weise bezeichnet Macht in der konkreten Analyse jeweils eine (historische) Struktur der Verfestigung bestimmter Machtgefüge. Zugleich impliziert der Begriff der Macht aber auch eine dieser Struktur inhärente Dynamik, die »in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kräfteverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt« (Foucault 1983: 113).14
4.2.2 Bio-Macht als moderne Form der Machtverhältnisse Foucault rekonstruiert in seinen historischen Analysen, inwiefern sich implizite strategische Ziele und Funktionsweisen der Machtverhältnisse in der Transformation von der ständisch-feudalen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung ändern. Die hegemoniale Machtform des Feudalismus beruhte als Souveränitätsmacht auf dem »Recht über Leben und Tod«; sie zielte als »Abschöpfungsinstanz« (Foucault 1983: 162) vor allem auf die Aneignung von Abgaben und Diensten und stellte damit ein Zugriffsrecht auf Güter, Dienste und letztlich sogar das Leben selbst der Untertanen dar. Im Unterschied dazu funktionieren moderne Machtverhältnisse wesentlich über die Verwaltung des Lebens; sie sind vor allem produktiv, bringen Kräfte hervor, entwickeln und ordnen sie: »Die ›Abschöpfung‹ tendiert dazu, nicht mehr die Hauptform zu sein, sondern nur noch ein Element unter anderen Elementen, die an der Anreizung, Verstärkung, Kontrolle, Überwachung, Steigerung und Organisation der unterworfenen Kräfte arbeiten.« (Foucault 1983: 163) Foucault bezeichnet die moderne Form als Bio-Macht – im Gegensatz zur souveränen Macht über den Tod richtet sich diese neue Macht auf das Leben: »Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen.« (Foucault 1983: 165)15 Es handelt sich um eine For14 Diesen Zusammenhang greife ich weiter unten in der Auseinandersetzung mit dem Konzept des Dispositivs wieder auf (Kapitel 4.4), wobei ich insbesondere auf den Aspekt der Strategie (im Sinne einer besonderen Funktionalität) als Bestimmungsmoment einer spezifischen Machtstruktur sowie auf die Frage des immanenten Verhältnisses von Macht und Widerstand eingehe. 15 Foucault macht deutlich, dass er diese neue Form der Machtverhältnisse, obgleich er ihre Spezifik in der Verwaltung und dem Schutz des Lebens sieht, nicht als weniger mörderisch betrachtet. Vielmehr habe diese moderne Macht zu den blutigsten Kriegen der Geschichte geführt, die paradoxerweise genau im Namen des Lebens – nämlich der biologischen Existenz der Bevölkerung – geführt wurden: »Kriege werden nicht mehr im Namen eines Souveräns geführt, der zu verteidigen ist, sondern im Namen aller. Man stellt ganze Völker auf, damit sie sich im Namen der 107
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mierung der Macht, die sich nicht in erster Linie auf Gesetze und Verbote stützt, sondern zunehmend über die Modellierung der Subjekte funktioniert (vgl. Brieler 2001: 179): Der moderne Mensch ist nicht nur Subjekt und Objekt von Erkenntnis, sondern auch in besonderer Weise Subjekt und Objekt von Machtverhältnissen. Diese spezifisch moderne Form der Macht ist vor allem durch zwei Technologien geprägt – die Disziplinen sowie die bio-politischen Regulierungen. Sie entwickeln sich historisch zeitlich versetzt, ergänzen sich jedoch in ihren unterschiedlichen Funktionsweisen und überlagern die historisch vorgängige Technik der (juridischen) Souveränität – ohne diese jedoch ganz zum Verschwinden zu bringen (vgl. Foucault 1999: 276ff). Zunächst entstehen im 17. und 18. Jahrhundert neue Machttechniken, die auf den individuellen Körper und die Maximierung der nutzbaren Kräfte durch Übung, Dressur und Techniken zielen. In Überwachen und Strafen zeichnet Foucault die Durchsetzung dieser Technologien der Disziplin nach, die sich für ihn paradigmatisch im Strafsystem abbilden lässt. Während die Strafpraxis der juridischen Souveränitätsmacht vor allem als körperliche Bestrafung im Rahmen grausamer öffentlicher Spektakel wirkte, ist die moderne Form der Gefängnisstrafe gewissermaßen unkörperlich und gleicht eher einem administrativen Akt, der sich im Verborgenen vollzieht. Foucault deutet diese Entwicklung nicht in erster Linie im Sinne einer ›Humanisierung‹ der Strafpraktiken, sondern vielmehr als eine Veränderung der Objekte und Ziele des Strafens (Foucault 1977: 26). Statt einer über körperliche Marter vollzogenen Sühne, die das Recht des Souveräns gegenüber dem Verbrecher restituiert, zielen die modernen Strafpraktiken auf die Besserung und Umerziehung der Delinquenten. Damit verschieben sich sowohl das Objekt als auch die Zielsetzungen und Methoden der Strafe.16 Der KörNotwendigkeit ihres Lebens gegenseitig umbringen. Die Massaker sind vital geworden.« (Foucault 1983: 163) Zentral ist dabei der moderne Rassismus, der es erlaubt, Bevölkerungen zu differenzieren, innerhalb eines »biologischen Kontinuums« zu fragmentieren (Foucault 1992a: 42) und aus der Sicht des Überlebens der einen Gruppe die Ausgrenzung oder gar Eliminierung der anderen zu legitimieren: »Das Töten, der Imperativ des Tötens, sind im System der Bio-Macht nur dann zulässig, wenn sie nicht nach dem Sieg über den politischen Gegner streben, sondern danach, die biologische Gefahr zu eliminieren und, mit dieser Eliminierung direkt verknüpft, die Spezies selbst oder die Rasse zu stärken.« (Foucault 1992a: 42) 16 Um diesen Zusammenhang zu erfassen, bietet sich wiederum Foucaults Konzept der Problematisierung an: Weder wird mit dem modernen Verständnis von Delinquenz einfach ein bereits existierendes Objekt neu dargestellt, noch handelt es sich um die Erschaffung eines bisher nicht existierenden Objekts. Vielmehr geht es darum, »die Veränderungen in den 108
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per ist nicht mehr selber Zielscheibe der Bestrafung, sondern Vermittler, durch den auf etwas Transzendentales, nämlich das Individuum und seine ›Seele‹, gezielt wird. Gegenstand der Verhandlung ist nun nicht mehr vorrangig die Tatsache, ob ein Verbrechen geschehen ist und wer es begangen hat, sondern vielmehr die Suche nach den Beweggründen, die den Täter zur Tat getrieben haben: »Als Verbrechen oder Vergehen beurteilt man immer noch Rechtsgegenstände, die vom Gesetzbuch definiert sind, aber gleichzeitig urteilt man über Leidenschaften, Instinkte, Anomalien, Schwächen, Unangepasstheiten, Milieu- oder Erbschäden; man bestraft Aggressionen, aber durch sie hindurch Aggressivitäten; Vergewaltigungen, aber zugleich auch Perversionen; Morde, die auch Triebe und Begehren sind.« (Foucault 1977: 27)
Damit ist eine veränderte Wahrheitsfrage ins Spiel gekommen – nämlich die nach der inneren Natur des Vergehens sowie des Delinquenten – und dies geht mit einer spezifischen Verbindung von Macht und Wissenspraktiken einher: »Eine andere Wahrheit hat die von der Justizmechanik erforderte Wahrheit durchdrungen, eine Wahrheit, die in ihrer Verwicklung mit dieser aus der Schuldbehauptung einen sonderbaren wissenschaftlich-juristischen Komplex macht« (Foucault 1977: 29). Obgleich der Begriff der Disziplinen zunächst vor allem die Assoziation von Repression nahelegt, hebt Foucault insbesondere deren produktive Effekte hervor. Unter Disziplinen sind verschiedene institutionelle Praktiken zu verstehen, die sich auf die Verbesonderung, den Vergleich, die Kontrolle und den Einsatz der Individuen richten; ihre Wirkungen bestehen in der Konstitution bestimmter Fähigkeiten, Gewohnheiten und Wahrnehmungsweisen. Foucault untersucht und vergleicht unterschiedliche Einrichtungen – wie Gefängnisse, Militär, Schulen, Krankenhäuser, Manufakturen – sowie deren Praktiken. Er kommt zu dem Ergebnis, dass in diesen unterschiedlichen Institutionen mit ihrer jeweils eigenen Aufgabenstellung nach und nach Erkenntnisse und Verfahren entwickelt wurden, die Parallelen und Analogien in ihren Wirkungen zeigen. Ohne dass diesen Prozessen ein zentraler Plan oder eine Koordination zugrunde läge, führen sie zu dem Effekt einer Normierung menschlichen Körperverhaltens. Die verstreuten und zugleich synergetisch wirkenden Techniken der Disziplin erzielen »beachtliche Nützlichkeitseffekte« (Foucault 1977: 176), indem sie auf die Körper zugreifen und diese in Raum und Zeit anordnen, ihnen Funktionsstellen Problematisierungen der Beziehungen zwischen Delinquenz und Strafe durch die Strafpraktiken und die Institutionen der Strafverfolgung am Ende des 18. Jahrhunderts zu analysieren« (Foucault 2007d: 228). 109
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und Positionen in einer hierarchischen Anordnung zuweisen.17 Die Einzelnen werden durch die disziplinierende Übung in ihrer Individualität konstituiert, und ihnen wird ein bestimmter Platz sowie eine bestimmte Aufgabe im gesellschaftlichen Gefüge zugewiesen (dies geschieht vor allem über die Formierung des individuellen Arbeitsvermögens). Zugleich erscheint aber der Effekt dieser Prozeduren (die Individualität) als deren Voraussetzung; die Disziplinen scheinen an bestimmten, vorgängigen inneren Qualitäten der Individuen anzusetzen. Diesen Zusammenhang erfasst Foucault mit dem Begriff der ›Seele‹: Der disziplinierende Zugriff auf die Körper zielt auf etwas Transzendentales, auf ein Inneres des Individuums, das jedoch als solches überhaupt erst im Prozess dieses Zugriffs hervorgebracht wird. In diesem paradoxen Zusammenhang, bei dem etwas als ursächlich erscheint, zugleich aber überhaupt erst in seiner Wirksamkeit konstituiert wird, scheint wieder die aporetische Figur der ›empirisch-transzendentalen Dublette‹ hervor: Der moderne Mensch ist in der Paradoxie gefangen, dass seine innere – autonome – Wahrheit in einem Verhältnis existenzieller Abhängigkeit zu den gesellschaftlichen Bedingungen steht. Foucault stellt mit der Rekonstruktion dieses Zusammenhangs den Prozess der Individualisierung in der abendländischen Moderne in einem besonderen Licht dar: Gesehen wird nicht eine Lösung von (vorgängigen) Individuen aus persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen und damit vermeintlich generell aus Machtverhältnissen, sondern vielmehr eine neuartige Einbindung in individualisierende Machtverhältnisse mit dem Effekt einer neuartigen Hervorbringung und Nutzung individueller Qualitäten.
17 Die einzelnen Körper werden dabei zu Segmenten, die ihre Funktion in der Relation zu anderen Körpern entfalten; die Körper werden »durch eine Lokalisierung (individualisiert), die sie nicht verwurzelt, sondern in einem Netz von Relationen verteilt und zirkulieren läßt« (Foucault 1977: 187). Die Tätigkeiten werden zeitlich strukturiert, indem sie zergliedert, reglementiert und sowohl in einzelnen Abläufen als auch in der Dauer ihres Einsatzes einem bestimmten Rhythmus unterworfen werden. Es handelt sich dabei um eine lineare, chronologische Zeit, die es erlaubt, verschiedene Serien zu einem Ablauf zusammenzufügen: »Die Zeit der einen muß sich so an die Zeit der anderen fügen, daß aus allen ein Höchstmaß an Kräften herausgezogen und zu einem optimalen Resultat kombiniert werden kann.« (Foucault 1977: 213) Die Abstimmung der räumlich und zeitlich gegliederten Kräfte wird durch Kontrollverfahren gewährleistet, die ein hohes Maß an Übersichtlichkeit und Transparenz voraussetzen: »Die Disziplinarinstitutionen haben eine Kontrollmaschinerie hervorgebracht, die als Mikroskop des Verhaltens funktioniert; ihre feinen analytischen Unterscheidungen haben um die Menschen einen Beobachtungs-, Registrier- und Dressurapparat aufgebaut.« (Foucault 1977: 224) 110
MICHEL FOUCAULT
In dieser Schilderung deutet sich auch die Verquickung von Machtverhältnissen und Wissen an. Die beständige Optimierung eines spezifischen Wissens über die Individuen erscheint als produktiver Effekt und zugleich Bedingung der disziplinären Zurichtung der Körper. Durch Beobachtung, Klassifizierung und Sanktionierung werden einzelne Verhaltensweisen, Leistungen und Fähigkeiten dokumentiert und es konstituieren sich Normen als »Mischung aus Gesetzmäßigkeit und Natur, aus Vorschrift und Konstitution« (Foucault 1977: 392), die es erlauben, Mindestanforderungen, Durchschnittswerte oder optimale Werte zu bestimmen und die Leistungen und Fähigkeiten der Einzelnen im Hinblick darauf einzuordnen, zu bewerten und zu optimieren. Foucault schreibt also mit seiner Analyse dieser Macht-Wissen-Praktiken eine Geschichte der historischen Prozesse, die einen spezifischen Zugriff auf die Körper bedingen und dabei bestimmte Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Fähigkeiten und Empfindungen konstituieren.18 Diese Geschichte ist zugleich die einer spezifischen Subjektkonstitution, bei der der Körper als Ansatzpunkt für den Zugriff auf individuelle Eigenschaften und Fähigkeiten erscheint, deren produktives Potenzial durch Verfahren der ›Dressur‹ ausgebildet, geformt und nutzbar gemacht werden kann. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts tritt neben die Disziplinen eine weitere Machttechnologie, die sich nicht auf den individuellen Körper richtet, sondern auf den Gesellschaftskörper – und zwar nicht als Summe der Individuen, sondern als biologische Entität, beruhend auf dem »Spezies-Menschen« (Foucault 1992a: 30). Die Bevölkerung erscheint als ein Gebilde mit eigenen Dynamiken, Prozessen und Lebensäußerungen, die sich in Geburten- und Sterberate, Lebenserwartung, Gesundheitsniveau, Produktivität und ähnlichen Parametern ausdrücken lassen. Diese werden nun zum Gegenstand gezielter Verwaltung und Optimierung einer Bio-Politik, die sich über Instrumente der Erfassung, Statistik und Vorhersage mit der Bevölkerung befasst, »mit der Bevölkerung als politischem Problem, als zugleich wissenschaftlichem und politischem Problem, als biologischem Problem und als Problem der Macht« (Foucault 1992a: 33). Bio-politische Regulierungen operieren über Mechanismen der Sicherheit, um die Zufälligkeiten und Gefahren der Prozesse der Bevölkerung zu erkennen und durch »Gleichgewichtszustände und Regel18 Auch in diesem Zusammenhang sei betont, dass »das den Disziplinarprozessen erwachsende Wissen vom Körper […] nicht die Realität seiner organischen und physiologischen Natur (bestreitet), sondern […] sie in ihrer historisch verfügbaren Form (aufnimmt), um sie effektiv modellieren zu können« (Brieler 1998: 391). Zur Schwierigkeit der Interpretation dieses Zusammenhangs siehe Butler 2001a: 81ff; 2003b. 111
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mäßigkeiten« zu bewältigen: »[E]s geht darum, das Leben zu erfassen, die biologischen Prozesse der Spezies Mensch, und in Bezug auf diese keine Disziplinierung, sondern eine Regulierung zu gewährleisten« (Foucault 1992a: 34). Das Ziel besteht also darin, Risiken, die die Bevölkerung betreffen, auszumachen und durch Techniken der Regulierung einzudämmen. Wichtig erscheint mir dabei, dass die Techniken der Disziplin durch die bio-politischen Regulierungen nicht ersetzt werden, die Disziplinartechniken bilden vielmehr deren Grundlage, da sie differenzierte Individuen – mit individuellen Fähigkeiten, Problemen, Risiken – hervorbringen, die überhaupt erst zum Ansatzpunkt für Techniken der Regulierung werden können.19 Foucault stellt die These auf, dass sich als Effekt dieser Prozesse ein spezifisch modernes Verhältnis von Biologischem und Gesellschaftlichem herausbildet.20 Dessen Besonderheit besteht darin, dass der moderne Staat eingreift, um das Ausgeliefertsein der Körper an die Geschichte zu regulieren. Die Endlichkeit der empirisch-transzendentalen Dublette ›Mensch‹ erscheint, zumindest vorrangig oder in letzter Instanz, als Problem der Natur. Die Gesetze dieser Natur gilt es folglich zu entschlüsseln, um damit die Probleme lösbar oder zumindest beherrschbar zu machen. Der (natürliche) Körper in seiner Endlichkeit wird so zum Gegenstand (bio-)politischen Handelns (vgl. Brieler 1998: 392). Bio-politische Interventionen manifestieren sich unter anderem in der Entstehung gesellschaftlicher Systeme der sozialen Sicherung – Gesundheitssystem, Sozialpolitik und dergleichen – sie rufen jedoch auch individuelle Vorsorgeleistungen und eine individuelle Lebensplanung hervor, indem etwa Versicherungen abgeschlossen und Familienplanung betrieben wird: »Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann.
19 Ich gehe also davon aus, dass sich in der Entwicklung der Moderne verschiedene Techniken (Souveränität, Disziplin, Regulierung) miteinander verknüpfen (vgl. Brieler 2001). Es kommt dabei zu historischen Dominanzen; zeitdiagnostisch lässt sich sicherlich eine zunehmende Bedeutung der Regulierung konstatieren. Im Unterschied zu manchen Interpretationen lese ich bei Foucault allerdings nicht die These, dass die Disziplin in der Spätmoderne quasi bedeutungslos ist (so zum Beispiel Soiland 2005). 20 Es geht ihm dabei nicht »um die Behauptung, daß es damit zum ersten Kontakt zwischen dem Leben und der Geschichte gekommen sei« (Foucault 1983: 169), vielmehr darum, die Besonderheit dieses Verhältnisses in der Moderne zu erfassen. 112
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Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen.« (Foucault 1983: 170)
Die besondere historische Form der Subjektkonstitution lässt sich insofern durch eine weitere Facette bestimmen: Das Subjekt erscheint als Wesen, dessen Individualität Ausdruck eines biologischen Fundaments ist. Dieses ist Quelle individueller Potenziale, die nutzbar zu machen sind, und zugleich stellt es eine individuelle Konfiguration von Risiken dar, die es zu regulieren gilt. Erst durch subjektivierende Disziplinierung und massenkonstituierende Regulierung kann das Individuum als Subjekt einen produktiven Platz im Gesellschaftskörper einnehmen und behalten. Eine Schlüsselstellung nimmt in dieser historischen Konstellation von Machtverhältnissen die Sexualität ein. Foucault zeichnet nach, wie gesellschaftliche Transformationsprozesse ab Mitte des 18. Jahrhunderts – insbesondere die Industrialisierung sowie die demographische Entwicklung – veränderte Anforderungen schaffen, die durch neues Wissen und neue Praktiken bearbeitet werden und unter anderem den historischen Gegenstand der ›Sexualität‹ als Schnittpunkt von Disziplin und Regulierung (Foucault 1992a: 39) hervorbringen. Der Sex wird zu einem zentralen Ansatzpunkt sowohl für die (Selbst-)Erkenntnis des Subjekts als auch für die Regulierung der Bevölkerung. Das moderne Sexualitätsdispositiv bezeichnet eine spezifische Problematisierung: »Es handelt sich hier um das Werden eines Wissens, das wir an seiner Wurzel fassen möchten: in den religiösen Institutionen, in den pädagogischen Maßnahmen, in den medizinischen Praktiken, in den Familienstrukturen, in denen es sich formiert hat, aber auch in den Zwangswirkungen, die es auf die Individuen ausgeübt hat, sobald man sie davon überzeugte, sie hätten in sich selber die geheime und gefährliche Kraft einer ›Sexualität‹ zu entdecken.« (Foucault 1983: 7)
Sexualität erhält eine zentrale Funktionalität in der »Politischen Ökonomie der Bevölkerung« (Foucault 1983: 39). Die Intensivierung der Diskurse um den Sex, die Produktion eines enormen Befragungs-, Wissens-, und Verwaltungsapparats lässt die Sexualität zum »Einsatz zwischen Staat und Individuum« (Foucault 1983: 39) werden. Durch die Möglichkeit, den Sex in der Form eines Wissens über die Körper und Seelen zu erfassen und als individuelle Erfahrung disziplinierend in normalisierten Formen einzuüben und zu artikulieren, entstehen neue Kontrollmöglichkeiten am Scharnier zwischen Individuum und Gesellschaftskörper.
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4.2.3 Das gesellschaftliche Sein des modernen Menschen Foucaults Konzeption der Subjektkonstitution, wie sie bisher entfaltet wurde, hat einen gewissen objektivistischen Überhang; im Vordergrund steht das Moment der Unterwerfung unter die Verfahren der Disziplinierung und der Regulierung. Wie wir gesehen haben, kritisiert Butler, dass Foucault damit eine gesellschaftliche Form des Individuums als ›Seele‹ fassen kann, nicht aber erklärt, wie in dieser für die Subjektivierung notwendigen Unterwerfung wiederum Momente des Widerstands entstehen können. Für Butler ist diese Kritik ein Ansatzpunkt ihrer Konzeption psychischer Dynamiken, die zwar durch die Form der Seele konstituiert werden, zugleich aber über diese hinausweisen. Nun will ich allerdings hierbei noch etwas verharren und diese Form der Seele genauer betrachten, denn sie verweist bei Foucault auf gesellschaftliche Bedingungen, die Butler wiederum vernachlässigt (vgl. Kapitel 3). Indem sie den Begriff der Seele als normatives und normalisierendes Ideal (Butler 1997a: 60; 2001a: 82) interpretiert, betont Butler den Aspekt der normierenden Kategorien, die die Intelligibilität des Subjekts ermöglichen. Sie abstrahiert dabei allerdings von einem wichtigen Aspekt des gesellschaftsanalytischen Potenzials der Foucault’schen Konzeption, in der gerade dieses Verhältnis von Seele und Körper (als eines der Innerlichkeit, die ihren äußeren Ausdruck finden muss) historisiert und auf seine gesellschaftlichen Bedingungen und Funktionalitäten hin befragt wird. Butlers Konzeption der ›leidenschaftlichen Verhaftungen‹ des Subjekts an seine Unterordnung aufgrund seines Strebens nach dem Beharren im (sozialen) Sein lässt sich mit Foucault als ein spezifisch modernes Streben nach dem Beharren in einem bestimmten gesellschaftlichen Sein präzisieren. Das Sein des modernen Subjekts erscheint als Ausdruck seiner inneren Wahrheit, die in äußeren Verhältnissen Anerkennung finden muss und sich zu diesem Zweck unter anderem über angemessene Körperpraktiken manifestiert. Wenngleich der »Disziplinarblick« (Foucault 1977: 225) zwar im Wesentlichen über eine hierarchische Überwachung und Beurteilung der Einzelnen funktioniert und Bio-Politik zunächst vor allem als staatliche Administration erscheint, macht Foucault deutlich, dass es gerade auch die Subjekte selber sind, die Kontrolle über sich selbst ausüben. Die Unterwerfung unter die Technologien der Bio-Macht ist zugleich ein Prozess der Konstitution von Subjekten, die in einem spezifischen Verhältnis zu sich, ihren Leistungen und Fähigkeiten stehen. Sie erfahren ihren Körper oder ihre Arbeitskraft als Besitz, der durch Übung, Disziplinierung und (Vor-)Sorge zu größeren Leistungen und höherem Ertrag gebracht werden kann. Die Aussage, eine Besonderheit moderner 114
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Machtverhältnisse bestehe darin, durch den Körper auf etwas Transzendentes (die Seele) zu zielen, kann nun präzisiert werden: Diese Transzendentalität der Seele ist selbst ein Effekt der Machtverhältnisse und keine generalisierbare Bestimmung. Der Begriff der Seele steht als Metapher für eine spezifische Form der Subjektivität. Sie ist »das Element, in welchem sich die Wirkungen einer bestimmten Macht und der Gegenstandsbezug eines Wissens miteinander verschränken« und ist »selber ein Stück der Herrschaft […], welche die Macht über den Körper ausübt« (Foucault 1977: 42). Mit ›Seele‹ wird ein historisches Phänomen bezeichnet, das keine überhistorische Konstante menschlicher Individualität darstellt, zugleich aber weder bloße Illusion noch ideologischer Begriff ist (vgl. Foucault 1977: 41), sondern der Effekt einer spezifischen Problematisierung. Es wird dabei die ›Innerlichkeit‹ des Subjekts zu einem Problem, das durch äußere Maßnahmen reguliert, geformt, beschränkt und optimiert werden muss. Zugleich steht das Subjekt vor der Aufgabe, die Wahrheit dieser Innerlichkeit zu er- und begründen. In modernen Gesellschaften ist das Subjekt nicht durch seinen Platz in der gesellschaftlichen Ordnung definiert. Es muss diesen Platz erst durch die übende Aneignung der gesellschaftlich vorgeschlagenen Formen, durch die innere Potenziale entfaltet und gefährliche Neigungen gebändigt werden, finden – und es muss diesen Platz potenziell immer verteidigen. Diese gesellschaftliche Verortung des Subjekts über seine individuelle Identität bringt zugleich einen spezifischen Zugriff der verwaltenden Bio-Politik mit sich, die sich auf bestimmte, dem Subjekt eigene Bedürfnisse und Risiken stützt. Die historische Bedeutung des bei Butler so zentralen Konzepts der Anerkennung lässt sich auf diese Weise genauer erfassen. Erst durch die Konstitution der subjektiven Innerlichkeit als eines Gegenstands der Verhandlung (in philosophischen, juridischen, erzieherischen, psychologischen Praktiken) wird die interaktive Beziehung der Anerkennung zu einem entscheidenden Moment der Identität. Unter diesen Bedingungen bekommt wiederum auch das Konzept der Entfremdung eine historische Komponente. Indem das Streben nach Anerkennung beständigen Aushandlungsprozessen unterliegt – und damit auch einer besonderen Gefahr des Scheiterns –, ist es in spezifischer Weise zu einem Problem geworden. Infolgedessen sind gesellschaftliche Bedingungen benennbar, unter denen die Kategorien der Anerkennung vom Individuum als äußere Beschränkung (oder gar Verhinderung) seines eigentlichen, inneren Seins empfunden werden können. Dieses wahre ›Ich‹ und seine äußeren Beschränkungen sind der historische Bezugspunkt Butlers. Hier setzt sie ihre de-essentialisierende Kritik an; da allgemeingültige Aussagen über eine innere Wahrheit des Subjekts nicht möglich sind, richtet sie ihren 115
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Blick auf die je subjektiven Erfahrungen von Beschränkungen als Quelle widerständiger Performativität. Dass es sich dabei um eine historisch besondere Form der Praxis handelt, lässt sich nun mit Foucault näher begründen: Nur ein Subjekt, das ein Verhältnis von innerer Wahrheit und äußeren Bedingungen als Problem erfährt, kann die Motivation zur gezielten Verschiebung dieser Bedingungen entwickeln. Performativität kann nun als historische Möglichkeit einer praktischen Kritik an den Anmaßungen sich als natürlich und zeitlos präsentierender Identitätszuweisungen sowie den damit verbundenen Subjektformen begriffen werden. Mit Foucault schließt sich daran jedoch eine weitere Frage an. Da er die materiale Gestalt der individuellen Identitäten über Normen an konkrete Macht-Wissen-Verhältnisse bindet, sind auch die Kämpfe um andere, erweiterte Normen in diese Verhältnisse eingelassen und müssen sich in der Konsequenz auch gegen diese richten, sofern sie einengend, verhindern oder gar gewaltsam sind. Damit richtet Foucault den Blick auf die spezifische politische Rationalität, innerhalb derer auch kritische Praktiken performativer Verschiebungen sich zunächst bewegen. Seine These, die ich dem folgenden Abschnitt voranstelle, lautet, dass sich in den modernen abendländischen Gesellschaften eine spezielle politische Rationalität entwickelt hat. Diese muss selbst zum Ziel von Kritik werden, wenn vermieden werden soll, dass widerständige Praktiken in den bestehenden Spielen der Macht befangen bleiben. Wird die Frage »Wie werden die Machtverhältnisse rationalisiert?« nicht gestellt, dann laufen kritische Praktiken Gefahr, sich auf einzelne Institutionen zu beschränken, ohne verhindern zu können, dass »andere Institutionen mit denselben Zielen und denselben Wirkungen ihren Platz einnehmen« (Foucault 2005a: 219).
4.2.4 Regierung der Menschen: die moderne Rationalität des Politischen Eine hinterfragende, reflexive Distanz zu Verhältnissen, die sich als (natur)notwendig und allgemeingültig präsentieren, kann mit Foucault als die »Haltung der Moderne« (Foucault 1990: 41) bezeichnet werden. Indem das Gegebene in seiner Differenz zu Vergangenem reflektiert wird, erscheint die eigene historische Seinsweise in ihren Grenzen – die dadurch als überwindbar imaginiert und zum Ansatzpunkt für Veränderungen werden können.21 Zu dieser Haltung gesellt sich aber ein weite-
21 »Für die Haltung der Moderne ist der hohe Wert der Gegenwart nicht von der verzweifelten Anstrengung zu trennen, sie sich vorzustellen, sie sich anders vorzustellen als sie ist und sie zu transformieren, nicht durch Zer116
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rer kritischer Anspruch, der sich gegen die Anmaßungen einer dogmatisierten Vernunft richtet, einer Vernunft, die selber zum Instrument der Steigerung von Macht wird.22 Laut Foucault besteht seit Kant die Rolle der Philosophie nicht nur darin, die »Vernunft daran zu hindern, die Grenzen dessen, was in der Erfahrung gegeben ist, zu überschreiten«, sondern auch darin, die »Missbräuche der politischen Rationalität zu überwachen« (Foucault 2005a: 189). Von dieser Feststellung einer »Verbindung zwischen der Rationalisierung und der politischen Macht« (Foucault 2005a: 189) ausgehend will Foucault die heterogenen Prozesse analysieren, die einen bestimmten Typ von Rationalität hervorgebracht haben, der in spezifischer Weise Individualisierung und Totalisierung miteinander verknüpft:23 Es handelt sich dabei um eine eigenständige politische Rationalität, die »von metaphysischen Fesseln und moralischen Setzungen« (Brieler 1998: 503) entbunden ist. Dieser besondere Typ von Rationalität liegt dem modernen Staat zugrunde, der die Legitimität seiner Herrschaft weder auf göttliche Bestimmung noch auf Naturgesetze begründen kann, sondern aus irdischen Gründen und Zielen zu erklären hat. Mit der Entstehung des modernen Staates und seiner spezifischen politischen Rationalität wird auch »das Verhältnis von Souverän und Untertan« revolutioniert (Brieler 1998: 501). In der Analyse dieses Verhältnisses findet nun die These, dass die Hervorbringung des modernen Subjekts mit der Entstehung des modernen Staates einhergeht, ihre vollständige Entfaltung. Waren die spezifischen Machtverhältnisse der Moderne als Bio-Macht spezifiziert worden, so kann der Staat als eine he-
störung, sondern durch ein Erfassen dessen, was sie ist.« (Foucault 1990: 44) 22 »Erstens war es die positivistische Wissenschaft, d.h. eine Wissenschaft, die ein vollständiges Vertrauen zu sich hatte, wofern sie gegenüber jedem ihrer Ergebnisse sorgfältig kritisch war. Zweitens die Entwicklung eines Staates oder eines staatlichen Systems, das sich selbst als grundlegende Vernunft oder Rationalität der Geschichte ausgab und dessen Methoden Rationalisierungen der Wirtschaft und der Gesellschaft waren. Drittens entstand schließlich an der Nahtstelle zwischen diesem wissenschaftlichen Positivismus und dieser Staatenentwicklung eine Staatswissenschaft oder ein ›Etatismus‹. Zwischen ihnen knüpft sich ein Netz von engen Beziehungen, insofern die Wissenschaft für die Entfaltung der Produktivkräfte immer bestimmender wird und zum anderen die Staatsgewalten sich in immer raffinierter werdender Techniken vollziehen.« (Foucault 1992b: 19) 23 Foucault nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf die Frankfurter Schule, zu der eine gewisse »Position der Brüderlichkeit« (Foucault 1992b: 25f) bestehe. Zu Foucaults kursorischem – und kritischem – Bezug auf die Frankfurter Schule siehe ferner Foucault 1996a; Foucault 2005a. 117
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gemoniale Strukturierung moderner – politischer – Macht bestimmt werden. Den besonderen Zusammenhang von Subjektkonstitution und politischer Rationalität erfasst Foucault mit dem Konzept der Gouvernementalität. Diese historische Konstellation der Macht zeichnet sich dadurch aus, dass sie den Anspruch, die Allgemeinheit zu vertreten, über den individualisierenden Zugriff auf die Subjekte realisiert: Sie ist zugleich totalisierend und individualisierend (Foucault 1994a: 248). Das Besondere an der Form des modernen Staates ist, dass das Regieren der Menschen zur zentralen politischen Aufgabe wird. Aus Foucaults genealogischer Perspektive entsteht diese besondere Form des Staates aus diversen Prozessen der Adaption, Verknüpfung und Umformung historischer Formen von Politik und jüdisch-christlicher Pastoralmacht.24 Letztere bezeichnet ein spezifisches Verhältnis von Hirte und Herde, bei dem der Hirte die Verantwortung für das Seelenheil jedes einzelnen Mitglieds der Herde trägt und damit auch ein besonderes Wissen über jedes der ihm anbefohlenen Individuen haben muss: »Diese Form der Macht ist auf das Seelenheil gerichtet (im Gegensatz zum Prinzip der Souveränität) und individualisierend (im Gegensatz zur juridischen Macht). Sie erstreckt sich über das gesamte Leben und begleitet es ununterbrochen; sie ist mit einer Produktion von Wahrheit verbunden, der Wahrheit des Individuums selbst.« (Foucault 1994a: 248)
Regieren als politische Kunst wird über diese Verknüpfung mit dem Erbe der Pastoralmacht zu einer Regierung der Menschen. 25 Souveränitätsmacht strebt das Heil aller über den Gehorsam der Subjekte/Untertanen an; das Allgemeingut besteht »im Gehorsam der Subjekte, in ihrem Respekt gegenüber der etablierten Ordnung« (Foucault 1993a: 14), also in der Einhaltung der von dieser Ordnung vorgegebenen Gesetze. Demgegenüber umfasst die Kunst des Regierens eine Vielzahl von Praktiken, die darauf gerichtet sind, einen bestimmten
24 Für eine systematische Rekonstruktion dieses Zusammenhangs bei Foucault siehe Lemke 1997; vgl. auch Brieler 1998. 25 Foucault nimmt dieser heute banal erscheinenden Form von Regierung ihre Evidenz. Historisch lässt sich nachvollziehen, dass diese Konzeption der abendländischen Antike fremd war: »Die Idee, daß es Menschen sind, die regiert werden, ist weder griechisch noch römisch. In der Schiffsmetapher ist es die polis selbst (das Schiff), die als Objekt der Regierung bezeichnet wird, und nicht die Individuen (der Kapitän lenkt nicht die Matrosen, sondern das Schiff). Die Menschen werden nur indirekt regiert, soweit sie sich ebenfalls an Bord des Schiffes befinden. Die neue Idee der Regierung der Menschen ist im christlichen und im vorchristlichen Orient zu finden.« (Foucault 1993a: 17) 118
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Komplex von Menschen und Dingen so zu leiten, dass die darin sich vollziehenden Prozesse sachgemäß ablaufen und immer weiter optimiert werden. Diese Form der Machtausübung vollzieht sich über die (lenkende) Einflussnahme auf das Verhalten der Menschen,26 sie stellt sich zunächst als Problem des Regierens im Allgemeinen dar (die Erziehung der Kinder, die Führung eines Heeres, das Lenken einer Familie …). Der moderne Staat greift diese Techniken der Menschenführung auf und überführt sie in ein spezifisches politisches Wissen; Ziel des Regierens wird die optimale Steuerung der Prozesse des Lebens. Neben bestimmten Techniken des Führens und Verwaltens ist dazu auch ein spezifisches Wissen funktional erforderlich: In verschiedenen Dimensionen (Bevölkerung, Naturbedingungen, Ökonomie, Beziehungen zwischen Staaten ) werden Regelmäßigkeiten gesucht (vor allem die Statistik erhält hier eine prominente Funktion), die Auskunft darüber geben, welche Ziele anzustreben sind und was zu tun ist, um diese zu erreichen.27 Auch aus diesem Blickwinkel lässt sich wiederum die Schlüsselstellung der Sexualität in den modernen abendländischen Machtverhältnissen feststellen. Foucault sieht in der christlich-pastoralen Seelsorge mit ihrer Sexualmoral, ihrer Vorstellung von Sünde und Buße sowie dem Ritual der Beichte einen entscheidenden historischen Praxisstrang, der zur Entstehung der modernen Problematisierung von Sexualität geführt hat. Ende des 18. Jahrhunderts erfuhren diese Praktiken eine Transformation ins Weltliche, es entstand »eine ganz neue Technologie des Sexes, die zwar von der Thematik der Sünde nicht ganz unabhängig war, sich jedoch im wesentlichen dem kirchlichen Bereich entzog. Vermittelst der Pädagogik, der Medizin und der Ökonomie macht sie aus dem Sex nicht nur eine Laiensache sondern eine Staatssache. Oder besser: eine Angelegenheit, in der sich der gesamte Gesellschaftskörper und fast jedes seiner Individuen der Überwachung unterziehen mußten.« (Foucault 1983: 140) 26 Auf diese Weise wird plausibel, dass die juridische Form der Macht eine andere Bedeutung erhält, ohne jedoch als solche zu verschwinden. Regieren funktioniert eben nicht in erster Linie über den Gesetzesgehorsam. Das bedeutet aber nicht, »daß das Recht irrelevant wurde oder verschwand, sondern allein, daß ihm in der modernen Gesellschaft schrittweise andere Funktionen zukamen« (Dreyfus/Rabinow 1994: 167). 27 Um diesen Zusammenhang zu erfassen, bietet sich wiederum Foucaults Begriff der Problematisierung an: Die historische Rekonstruktion befasst sich mit der Frage, wie und warum bestimmte ›Dinge‹ in einem bestimmten gesellschaftlich-historischen Kontext zum Problem – und damit zum Gegenstand sozialer Regulierung – wurden. Als konstitutiv für Problematisierungsweisen erweist sich nun auch die spezifische politische Rationalität. 119
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Der weltliche Geständnisdiskurs ist dabei gegenüber der christlichen Beichte erweitert, sowohl was die Verfahren und Rituale betrifft, die sich nunmehr in verschiedensten Konstellationen vollziehen und in unterschiedlichsten Beziehungen praktiziert werden (gegenüber dem Arzt, dem Psychologien, dem Richter, in Freundschaften, in Eltern-Kind-Beziehungen), als auch was die Inhalte angeht, denn es geht nicht mehr allein um vollzogene Handlungen, sondern um die Rekonstruktion der damit einhergehenden Gedanken, Bilder, Zwangsvorstellungen sowie der Qualität und Veränderungen der Lüste (Foucault 1983: 81f). Das enorme »Archiv der Lüste des Sexes« wird von den Wissenschaften, vor allem der Medizin, der Psychiatrie und der Pädagogik, aufgegriffen, gesammelt und mittels neuer Techniken der Wissensproduktion systematisiert.28 Im Rahmen der modernen Bio-Macht ordnet sich die Sexualität »dem Gesundheitswesen und dem Normalitätsgebot unter« (Foucault 1983: 141), sie erscheint als etwas, das dem Sozialen durch Perversionen sowie die Übertragung oder Vererbung von Krankheiten potenziell gefährlich werden kann. Jede_r kann damit »in die Position einer biologischen Verantwortlichkeit für das Menschengeschlecht« (Foucault 1983: 142) gestellt werden und das Sexualverhalten der Individuen rückt in den Blickpunkt politischer Regulierungen.29 Anhand der Sexualität als einem wichtigen Schlüssel sowohl zu den Selbstverhältnissen als auch zu den Regulierungsverfahren moderner Staatlichkeit lässt sich nachvollziehen, inwiefern Foucault bestrebt ist, die Dichotomie von Autonomie und Herrschaft zu überwinden. Er verfolgt eine Analysestrategie, »die Selbstverhältnisse und politisch-gesellschaftliche Strukturen auf ein und derselben Untersuchungsebene als Regierungstechnologien behandelt« (Lemke 1997: 297). Der Begriff der 28 Foucault nennt als Verfahren der Verwissenschaftlichung: 1. »eine klinische Kodifizierung des ›Sprechen-Machens‹«, 2. »das Postulat einer allgemeinen und diffusen Kausalität«, 3. »das Prinzip einer der Sexualität innewohnenden Latenz«, 4. »die Methode der Interpretation«, 5. »die Medizinisierung der Wirkungen des Geständnisses« (Foucault 1983: 84ff). 29 Foucault betont in seinen Analysen der modernen Sexualität die produktive Dimension von Macht: Im Vordergrund steht nicht die Repression des Triebes, sondern vielmehr dessen diskursive Hervorbringung. Im Hinblick auf den Umgang mit AIDS weist Butler allerdings darauf hin, dass die juridische Dimension von Macht nicht unterschätzt werden darf: »Within the medico-juridical discourse that has emerged to manage and reproduce the epidemic of AIDS, the juridical and productive forms of power converge to effect a production of the homosexual subject as a bearer of death.« (Butler 1996: 61) Unter dieser Perspektive wird wiederum die klare Unterscheidung von juridischer und produktiver Macht in modernen Gesellschaften fraglich; Butler schlägt vor, beide als Dimensionen von Macht in unterschiedlicher Ausprägung zu betrachten. 120
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Regierung soll also die Artikulation der verschiedenen Dimensionen seiner Machtanalyse leisten. Da Macht grundsätzlich auf Freiheit beruht, zeichnen sich Machtverhältnisse dadurch aus, dass in dem Bestreben, auf das Verhalten des Anderen einzuwirken, dessen Status als Subjekt – und damit dessen Möglichkeit, sich zu diesem Bestreben zu verhalten – anerkannt und erhalten bleibt.30 Um diese Spezifik von Machtverhältnissen zu erfassen, schlägt Foucault den Begriff der Führung vor, der »zugleich die Tätigkeit des ›Anführens‹ anderer (vermöge mehr oder weniger strikter Zwangsmechanismen) und die Weise des Sich-Verhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten« (Foucault 1994a: 255) bezeichnet. Führung bezeichnet also sowohl das Einwirken auf andere als auch das Einwirken auf sich selbst. Foucault bestimmt nun Technologien der Regierung als »Führen von Führungen« (Foucault 1994a: 255). Damit können strukturelle Verfestigungen von Machtverhältnissen erfasst werden, die allerdings nicht so dauerhaft und starr sind wie Herrschaftsstrukturen. Der Begriff Regierung bezeichnet also eine etablierte Ordnung, die die Bedingungen der individuellen Existenz vorgibt und damit konstitutiv für die Seinsweise der Individuen ist. Da diese Ordnung (als Führung von Führungen) jedoch wiederum konstitutiv auf dem Subjektstatus der Individuen beruht, also durch deren eigenverantwortliches Handeln realisiert wird, kann sie seitens dieser Subjekte zum Gegenstand der Reflexion gemacht werden. Diese Möglichkeit der kritischen Distanz unterliegt gesellschaftlichen Bedingungen, die sich durch die Rekonstruktion historischer Rationalitäten von Regierung erfassen lassen. Die besondere Rationalität moderner Menschenregierung zu entschlüsseln, stellt also eine wichtige Aufgabe kritischer Reflexion dar, denn sie gibt weitere Auskunft über spezifische Möglichkeiten und Grenzen widerständiger Praktiken. Foucault kann nun die moderne Form einer kritischen Haltung definieren: als »Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden« (Foucault 1992b: 12). Deutlich wird dabei, dass es offenbar nicht darum gehen kann, sich von Verfahren der Regierung (also von gesellschaftlicher Bestimmtheit – oder mit Butler gesprochen: von unhintergehbaren Bindungen) gänzlich frei zu machen. Vielmehr richtet sich der Fokus emanzipatorischer Projekte auf die Art und Weise der Machtausübung und die damit verbundenen Effekte der jeweiligen Form und Rationalität der Regierung. Zeitdiagnostisch stellt Foucault fest, dass »der Kampf gegen die Formen der Subjektivierung, gegen die Unterwerfung durch Subjektivität« (Foucault 30 Hiervon lassen sich als Sonderfall Gewaltverhältnisse abgrenzen, in denen der Subjektstatus der Unterworfenen gewaltsam negiert wird. 121
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1994a: 247) im Verhältnis zu Kämpfen gegen Herrschaft und Ausbeutung zunehmend an Bedeutung gewinnt (ohne jene allerdings völlig verschwinden zu lassen). Subjektivität wird hier also explizit als Form der Unterwerfung, der Beschränkung thematisiert – die den Subjekten selbst zunehmend zu einem Problem wird. Wenn die Rationalität der Menschenregierung die Individuen als Subjekte hervorbringt, dann wird allerdings klar, dass Strategien der Kritik, die dem Staat das Individuum und seine Interessen entgegensetzen, ebenso zu kurz greifen (oder in Foucaults Worten: gefährlich sind) wie Strategien, die ihm die Gemeinschaft und ihre Ansprüche entgegensetzen (Foucault 2005a: 219).31 Während Butler mit der Metapher des Zorns die psychischen Dynamiken erfasst, die den Willen entstehen lassen können, nicht dermaßen regiert zu werden, können mit Foucault wiederum die gesellschaftlichen Bedingungen und Formen, in denen dieser Zorn einen Ausdruck finden und wirksam werden kann, näher beleuchtet werden. Daraus folgt erstens, dass der Zorn an sich keine ausreichende Bedingung für emanzipatorisches Handeln darstellt; erst unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen können aus der psychischen Dynamik dieses Unbehagens widerständige Praktiken entstehen. Zweitens lässt sich keine universelle ontologische Qualifizierung bestimmter Praktiken als widerständige Praktiken formulieren. Mit Butler und Foucault gilt es daher, die spezifischen Möglichkeiten, die ein historisches Sein den Subjekten zur Verfügung stellt, immer wieder zu eruieren. Um die Frage genauer zu klären, in welchen Formen sich der Zorn als ethische Haltung des modernen abendländischen Subjekts äußern kann, diskutiere ich im folgenden Abschnitt Foucaults Analysen der modernen Selbsttechnologien und sein Konzept der ›Lebenskunst‹ als ethischer Haltung.
4.3 Selbsttechnologien und widerständige Praktiken Bisher standen die gesellschaftlichen Bedingungen im Mittelpunkt bei der Beantwortung der Frage, wie Subjektivierung als paradoxer Modus 31 »Die Bevölkerung tritt als Subjekt von Bedürfnissen und Bestrebungen, aber ebenso auch als Objekt in den Händen der Regierung hervor; der Regierung gegenüber weiß sie, was sie will, zugleich aber weiß sie nicht, was man sie machen lässt. Das Interesse als Bewusstsein jedes einzelnen der Individuen, aus denen sich die Bevölkerung zusammensetzt, und das Interesse als Interesse der Bevölkerung unabhängig von den individuellen Interessen und Bestrebungen derer, aus denen sie sich zusammensetzt, werden die Zielscheibe und das fundamentale Instrument der Regierung der Bevölkerungen sein.« (Foucault 2000b: 61) 122
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gefasst werden kann, durch den im Prozess der Unterwerfung/Anpassung Handlungsfähigkeit – und damit die Möglichkeit von Widerständigkeit – entsteht. Butler bezieht sich, wie wir gesehen haben, insofern kritisch auf Foucault, als sie seine Konzeption der Subjektivierung über den Begriff der Seele für zu totalisierend hält. Diese Diskussion greife ich nun nochmals auf. Butler kann mit ihrer Unterscheidung von Seele und Psyche eine Dynamik im Inneren des Subjekts erfassen, durch die dieses ein Motiv entwickeln kann, die eigenen gesellschaftlichen Existenzbedingungen in Frage zu stellen. Da Butler sich dabei jedoch vor allem auf Foucaults Ausführungen zur paradoxen Konstitution des Subjekts in Überwachen und Strafen bezieht, greift sie insofern etwas zu kurz, als sie Foucaults Erweiterung des Verständnisses der Historizität der ›Seele‹ und vor allem des praktischen Selbstbezugs des Subjekts in seinen späteren Arbeiten über die Technologien des Selbst nicht ausreichend einbezieht. Mit diesen Überlegungen Foucaults zu den je besonderen Formen, über die sich das Subjekt praktisch selbst konstituiert, kann Butlers These, dass das Soziale und die Psyche in einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis stehen, aber theoretisch präzisiert werden. Mit Foucault können gesellschaftliche Bedingungen erfasst werden, die spezifische Ausdrucksmöglichkeiten des Zorns entstehen lassen. Dadurch lässt sich wiederum begründen, dass Performativität – die bei Butler weitgehend ahistorisch als selbstidentisches Prinzip erscheint – unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen zu einer gezielten politischen Praxis von Subjekten werden kann. Mit anderen Worten, die bedingte Freiheit, die Butler durch die begriffliche Differenzierung von Seele und Psyche erfasst, kann mit Foucault näher als historische Konfiguration von Freiheit begriffen werden. In seinen späten Arbeiten unternimmt Foucault den Versuch, seine Perspektive insofern zu verschieben, als er das Feld der Machtverhältnisse nicht mehr von den Herrschaftstechniken, sondern von den Selbsttechniken aus betrachtet (Foucault 1984: 36). In allen Gesellschaften gebe es neben den Techniken der Produktion, den Techniken der Kommunikation sowie den Herrschaftstechniken auch Technologien des Selbst, »die es Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, daß sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen« (Foucault 1984: 35f).
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Obgleich beim späten Foucault die Selbstpraktiken im Mittelpunkt stehen, geht es nicht um eine Perspektive der reinen Innerlichkeit, sondern vielmehr um die gesellschaftlich-historischen Formen, die bestimmte Existenzmöglichkeiten, Erfahrungsspektren und Handlungsspielräume der Individuen konstituieren (Foucault 1989: 18f). Foucault rollt diese Problematik über die Frage auf, wie es kommt, dass sich das moderne Individuum als ›sexuelles Subjekt‹ erfährt. Über den Begriff der Erfahrung stellt er damit den Zusammenhang zwischen Subjektivität und Macht-Wissen her; er benennt sein Anliegen als Analyse »der Spiele des Wahren und des Falschen, in denen sich das Sein historisch als Erfahrung konstituiert« (Foucault 1989: 13). In diesem Abschnitt stelle ich im ersten Schritt einige allgemeine Überlegungen zu Foucaults Verständnis eines praktischen Selbstverhältnisses an, um auf diese Weise die im vorigen Abschnitt dargestellte ›Definition‹ von Macht gewissermaßen subjektseitig durch den Aspekt der Handlungsfähigkeit oder, anders gesagt, durch den im Begriff der Macht implizierten Begriff des ›freien Subjekts‹ zu ergänzen. Im zweiten Schritt skizziere ich Foucaults historische Thesen zur Genealogie der Sexualität als moralischer Erfahrung, um daran seine Genealogie des ethischen Subjekts der abendländischen Moderne deutlich zu machen. Im dritten Schritt nehme ich Foucaults Diktum vom Leben als Kunstwerk zum Ausgangspunkt für die Darstellung seiner zeitdiagnostischen Perspektive auf die Möglichkeit widerständiger Praktiken – hier stelle ich dann den Bezug zu Butlers Thesen zu Performativität als Modus und Zorn als Motiv von Widerständigkeit her.
4.3.1 Handlungsfähigkeit als Ausübung strukturierter Freiheitspraktiken An dieser Stelle lässt sich der Bogen zu einer These Foucaults schlagen, die ich diesem Kapitel vorangestellt hatte und die nun in ihrer ganzen Tragweite nachvollzogen werden kann: Foucault bezeichnet es als unzureichend, wenn die Konstitution von Subjekten lediglich durch das »Spiel der Symbole« erklärt wird. Vielmehr gehe es darum, die historisch analysierbare Praxis herauszuarbeiten, die als spezifische Technologie der Selbstkonstitution »die symbolischen Systeme zugleich verwendet und durchkreuzt« (Foucault 2007c: 216). Foucault geht also davon aus, dass Subjekte nicht lediglich Effekte von Macht-WissenKomplexen sind, sondern sich vielmehr praktisch – über den Einsatz bestimmter Techniken – selbst konstituieren und sich dabei, in je spezifisch zu bestimmender Weise, auch widerständig zu diesen Verhältnissen verhalten können. Wenn Butler Widerständigkeit als grundsätzliche 124
MICHEL FOUCAULT
Möglichkeit der performativen Verschiebung symbolisch-normativer Kategorien begreift, dann lässt sich dies also – so soll im Folgenden deutlich werden – als historische Möglichkeit präzisieren, bestimmte Praktiken auszuüben. Vor diesem Hintergrund liegt auf der Hand, dass es für Foucault keine allgemeine Theorie ›des‹ Subjekts und ›seiner‹ Handlungsfähigkeit geben kann, sondern dass auch hier nur die historisch besonderen Formen, die diese jeweils annehmen, analysiert werden können. Dennoch ist es sinnvoll, einige grundsätzliche und verallgemeinerbare Überlegungen Foucaults voranzustellen, um den Rahmen dieser Analysen abzustecken. Dabei geht es zum einen um die grundsätzliche Gesellschaftlichkeit von Handlungsfähigkeit, zum anderen um das komplexe Verhältnis von Macht und Freiheit. Foucault führt mit seinen Thesen zu den Selbstpraktiken keine Dichotomie von Individuum und Gesellschaft ein, sondern ist weiterhin an deren je besonderen Konstitutionsverhältnissen interessiert. Seine Perspektive richtet sich nun aber darauf, dass sich Subjekte zu den gesellschaftlichen Verhältnissen verhalten können, und er stellt fest, dass dies sowohl ein Verhältnis zur äußeren Wirklichkeit als auch »ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst« (Foucault 1989: 40) impliziert. Damit ist aber kein seiner selbst bewusstes Wollen gemeint, vielmehr konstituiert sich das Subjekt durch Praktiken, deren Formen ihm sozial vorgegeben sind. Das Subjekt ist also nicht Ausdruck eines Selbstbewusstseins, vielmehr ist Subjektivität »offensichtlich nur eine der gegebenen Möglichkeiten zur Organisation eines Selbstbewusstseins« (Foucault 2007e: 251). Wie Christoph Menke (2003: 288) ausführt, wird Handlungsfähigkeit (sowohl nach außen als auch im Bezug auf sich selbst) durch Übung gewonnen und kann durch Übung erweitert werden. ›Üben‹ bedeutet aber den Erwerb sozial konstituierter Fähigkeiten und Fertigkeiten; das Gelingen von Handlungen ist durch eine gemeinsame (soziale) Beurteilungsperspektive definiert. Das Können, welches die Handlungsfähigkeit eines Subjekts ausmacht, ist daher nicht natürlich, sondern durch Übung erworben; es ist auch nicht Ausdruck eines freien Willens, denn »ich kann nur wollen, was ich kann« (Menke 2003: 288).32 Foucault geht es darum, die im Begriff der Handlungsfähigkeit implizierten Momente von Freiheit und Kreativität ernst zu nehmen – sie 32 Der Begriff der Übung erscheint mir für diesen Prozess der individuellen Strukturierung und Hervorbringung von Fähigkeiten und Kompetenzen als sehr hilfreich, da er einen beständigen Prozess impliziert; diese Fähigkeiten und Kompetenzen müssen dabei beständig aktualisiert werden, sie werden nie endgültig in einem fertigen ›Ich‹ stabilisiert und sind daher immer der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt. Zum Begriff der Übung bei Foucault siehe beispielsweise Foucault 2007b. 125
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also nicht auf reine Effekte der Macht zu reduzieren. Zugleich begreift er diese aber auch nicht als unabhängige Gegenspieler der Macht. Macht und Freiheit stehen sich nicht äußerlich gegenüber, sondern bilden ein gegenseitiges Konstitutionsverhältnis. »Macht«, so Foucault, »wird nur auf ›freie Subjekte‹ ausgeübt und nur insofern diese ›frei‹ sind« (Foucault 1994a: 255). Die einschränkenden Anführungszeichen weisen darauf hin, dass Freiheit immer nur als historischer Raum von Möglichkeiten zu verstehen ist und keine absolute, essenzielle Potenz des Individuums darstellt. Dennoch verwirft Foucault diesen Begriff nicht, denn er führt weiter aus, dass Freiheit als Existenzbedingung von Macht zu verstehen ist (Foucault 1994a: 256). Dies kann als eine subjekttheoretische Ausformulierung der These verstanden werden, dass Macht ein Verhältnis des Einwirkens von Handeln auf Handeln bezeichnet, welches immer zugleich auch Widerstand impliziert.
4.3.2 Genealogie des modernen Subjekts als eines sexuellen Wesens Foucault verfolgt im Hinblick auf die Selbstverhältnisse die historische Frage, »wie sich in modernen abendländischen Gesellschaften eine ›Erfahrung‹ konstituiert hat, die die Individuen dazu brachte, sich als Subjekte einer ›Sexualität‹ anzuerkennen« (Foucault 1989: 10). Dass Sexualität mit Foucault nicht als ahistorische Substanz zu begreifen ist, sollte inzwischen deutlich geworden sein. Wenn er nun Sexualität als historisch einzigartige Erfahrung bezeichnet, dann geht es ihm darum, eine spezifische Korrelation zu dechiffrieren, »die in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjektivierungsformen besteht« (Foucault 1989: 10). Diese Erfahrung wird durch das Zusammenwirken eines Feldes von Wissensformen (Begriffe und Theorien unterschiedlicher Disziplinen), eines Regelwerks (das zwischen Verbotenem und Erlaubtem, Natürlichem und Monströsem, Normalem und Pathologischem, Konformität und Devianz unterscheidet) sowie eines Modus des Selbstverhältnisses der Individuen (durch den sie sich und andere als sexuelles Subjekt (an-)erkennen können) konstituiert. Der Begriff der Erfahrung bezeichnet also nicht ein persönliches Erleben, sondern eine soziale Konstellation. Das Subjekt ist daher auch nicht die Quelle von Erfahrung, vielmehr ist es umgekehrt »die Erfahrung, die die Rationalisierung eines selbst vorläufigen Prozesses ist, der auf ein Subjekt oder vielmehr auf Subjekte hinausläuft« (Foucault 2007e: 251). Obgleich er also nicht ein persönliches Erleben bezeichnet, soll der Begriff der Erfahrung gerade auch die subjektseitige Dimension erfassen, die spezifischen (und veränderbaren) Möglichkeiten, die der Mensch sich 126
MICHEL FOUCAULT
selbst schafft, um »auf sich selbst einzuwirken, die Bedingungen des Lebens und seines eigenen Lebens zu ändern« (Foucault 1996a: 51). Auch dieser Zusammenhang lässt sich wiederum am Problem der Sexualität verdeutlichen. Foucaults These ist, dass Sexualität eine besondere Schnittstelle zwischen den individualisierenden Disziplinen und der Regulierung der Bevölkerung bildet. Wie ich bereits dargestellt habe, handelt es sich um eine spezifische Problematisierung, durch die das Phänomen der Sexualität in bestimmter Weise hervorgebracht wird und bestimmte gesellschaftliche Effekte entfaltet. Ein zentraler Effekt besteht darin, dass sich das moderne Subjekt als sexuelles Wesen erfährt und (an)erkennt und dass diese Erfahrung seine Handlungsfähigkeit (als aktive Einwirkung auf ›das Leben und sein eigenes Leben‹) strukturiert. Eine der zentralen Pointen der Foucault’schen Subjektanalyse läuft darauf hinaus, dass Sexualität in der abendländischen Moderne ihre besondere Wirkung darüber entfaltet, dass sie als moralisches Problem erfahren wird, bei dem sich Verbote in besonderer Weise mit der Forderung verbinden, die eigenen Begierden und Wünsche zu analysieren und die Wahrheit über sich selbst auszusprechen. Foucaults historische Frage ist nun die, »wie, warum und in welcher Form […] die sexuelle Aktivität als moralischer Bereich konstituiert worden (ist)« (Foucault 1989: 17). Foucault stellt die These auf, dass diese stark an Regeln und Verbote gekoppelte Form der Moral eine singuläre Erscheinung der abendländischen Moderne ist. Um das besondere Zusammenwirken von Wissensformen, Regelwerken und Selbstverhältnissen, welches diese Moral kennzeichnet, besser konturieren zu können, wendet er sich der Antike zu. Hier findet er zum einen eine Epoche, in der die regulierenden Effekte von Wissen und normativen Systemen weniger stark ausgeprägt waren. Zum anderen hofft er innerhalb des abendländischen Kulturkreises andere historische Selbstverhältnisse zu entdecken, die die Spezifik sowie die Grenzen moderner Erfahrungen deutlich machen können.33
33 Es geht Foucault ausdrücklich nicht darum, antike Formen der Selbsttechniken als Vorbild oder Alternative zu präsentieren, sondern in deren Anderssein Argumente gegen vermeintliche anthropologische Notwendigkeiten zu finden: »Eine Periode, die nicht die unsere ist, besitzt keinen exemplarischen Wert […] nichts, zu dem man zurückgehen könnte. Aber wir haben ein Beispiel einer ethischen Erfahrung, die eine sehr starke Verbindung von Lust und Begehren implizierte. Wenn wir das mit unserer jetzigen Erfahrung vergleichen, wo jeder, der Philosoph oder der Psychoanalytiker, erklärt, wichtig sei das Begehren, und Lust sei gar nichts, dann können wir uns fragen, ob diese Nichtverbindung nicht ein historisches Ereignis war, das keineswegs notwendig und weder an die menschliche Natur noch an irgendeine anthropologische Notwendigkeit gebunden war.« (Foucault 1994b: 271) 127
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Eine wichtige historische Zäsur rekonstruiert Foucault im Übergang von der griechisch-römischen Antike zum Christentum. Hinsichtlich der Thematisierung moralischer Probleme stellt er zunächst grundlegende Kontinuitäten zwischen Antike und Christentum fest; so sind zentrale Inhalte christlicher Moralvorstellungen – sexuelle Treue, Enthaltsamkeit und Abwertung von Homosexualität – durchaus auch wichtiger Gegenstand antiker Abhandlungen. Um den entscheidenden Bruch zwischen beiden Epochen bestimmen zu können, nimmt Foucault eine analytische Trennung von Moral und Ethik vor. Dadurch kann er erfassen, dass moralische Vorschriften einerseits, andererseits die Art und Weise, wie sich die Individuen als moralisch Handelnde konstituieren (Ethik), in einem je historisch besonderen Verhältnis zueinander stehen. Foucault differenziert diese Unterscheidung weiterhin in drei verschiedene Dimensionen: zum einen das tatsächliche Moralverhalten, zum zweiten den Moralcode und zum dritten die Beziehung, die die Individuen zu sich selber haben sollen, um als Moralsubjekte handeln zu können (Ethik). Indem das Verhältnis dieser Aspekte zueinander in seiner historischen Variabilität betrachtet wird, lassen sich spezifische Formen moralischer Erfahrung entziffern. Während das Christentum sich stark auf den Moralcode stützt, strenge Regeln und Handlungsanweisungen formuliert, denen sich das Moralsubjekt unterwerfen muss, und die Subjektivierung eine »quasi juridische Form« (Foucault 1989: 41) annimmt, zeichnet sich die moralische Erfahrung in der Antike durch ein asketisches Prinzip aus, bei dem das (männliche) Moralsubjekt aufgefordert ist, angesichts bestimmter moralischer Problematiken durch gezielte Praktiken seine eigenen Leidenschaften klug und maßvoll zu regieren und damit sein Leben ästhetisch zu gestalten. Foucault kommt zu dem Ergebnis, dass die großen Veränderungen zwischen der antiken und der christlichen Moral »nicht den Code betreffen, sondern das, was ich ›Ethik‹, also das Verhältnis zu sich nenne« (Foucault 1994b: 278). Um diese historische Veränderung der moralischen Erfahrung noch genauer erfassen zu können, differenziert Foucault den Begriff der Ethik in vier verschiedene Dimensionen: erstens die ethische Substanz, also den Teil des Selbst, auf den sich die moralische Beurteilung bezieht (Handlungen, Gefühle, Absichten, Begehren); zweitens die Weise der Unterwerfung, also die Grundlage, auf der das Individuum aufgefordert wird und es akzeptiert, den moralischen Pflichten nachzukommen (göttliches Gesetz, Naturrecht, kosmologische Ordnung); drittens die Selbstformierungstätigkeit, also die Mittel, mit denen das Individuum die jeweilige ethische Substanz bearbeitet (Askese, Praktiken der Reinigung, Beichte); viertens die Teleologie, also das Ziel, die Art des Seins, die angestrebt wird (Freiheit, Unsterblichkeit, Reinheit) (Foucault 1994b: 128
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275ff). Foucault erhält damit ein Instrumentarium, mit dem er die historischen Beziehungen dieser Dimensionen zueinander, ihre Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten untersuchen kann. Im Christentum bildet das Fleisch (Lust, Begehren) die ethische Substanz; die Unterwerfung erfolgt aufgrund des göttlichen Gesetzes. Die christliche Moral zeichnet sich entsprechend durch eine differenzierte Kodierung der sexuellen Akte aus, die Erlaubtes und Verbotenes festlegt, sowie durch Verfahren der Dechiffrierung des Selbst, die das Erkennen der sexuellen Gedanken und Begierden gewährleisten sollen.34 Das christliche Selbst erscheint als undurchsichtige Tiefe mit potenziell gefährlichen sexuellen Gedanken, Wünschen und Begierden, die es zu ergründen und zu kontrollieren gilt. Es besteht eine Verpflichtung zur beständigen Suche nach der Wahrheit des Selbst, die Foucault als eine spezifische Hermeneutik des Selbst bezeichnet. Da die Unterwerfung des Subjekts unter die moralischen Gebote des Glaubens als Möglichkeit erscheint, Reinheit und Freiheit zu erlangen, ist diese juridische Form der Moral weniger durch Zwang als durch freiwilligen Gehorsam gekennzeichnet. Im Ringen um seine innere Reinheit ist das Subjekt jedoch auf äußere Autoritäten angewiesen, denen es seine Probleme gestehen und deren Anweisungen und Ratschlägen es folgen soll: »Die Eigenart des Christentums besteht in dieser Kopplung von Subjektivität und Macht, die über das Bekennen und Aussprechen der Wahrheit funktioniert. Die Wahrheit ist das Band, das das christliche Subjekt mit seinem Hirten verbindet« (Lemke 1997: 293). Vor diesem Hintergrund erscheint die Antike insofern aufschlussreich, als hier die aphrodísia (Lust, Begehren, Handeln) die Substanz der Ethik darstellen: Nicht die Innerlichkeit des Begehrens steht auf dem Prüfstand, sondern »die mit Lust und Begehren verbundene Handlung« (Foucault 1994b: 276). Auch die Weise der Unterwerfung ist eine andere, denn sie erfolgt über die individuelle Wahl eines ethisch-politischen Verhaltens. Im Unterschied zum christlichen Subjekt, das die moralische Pflicht hat, sich einem universellen Gesetz zu unterwerfen, be34 »In der christlichen Moral des sexuellen Verhaltens wird die ethische Substanz nicht durch die aphrodísia definiert, sondern durch einen Bereich von Begierden, die sich in den geheimen Kammern des Herzens verbergen, und eine Menge von Akten, die in ihrer Form und in ihren Bedingungen genau festgelegt sind; die Unterwerfung wird nicht die Form einer Geschicklichkeit annehmen, sondern die einer Anerkennung des Gesetzes und eines Gehorsams gegenüber der pastoralen Autorität; nicht so sehr die vollkommene Beherrschung seiner durch sich in der Ausübung einer männlichen Tätigkeit wird das Moralsubjekt charakterisieren, sondern eher die Selbstverleugnung und eine Reinheit, die ihr Vorbild in der Jungfräulichkeit findet.« (Foucault 1989: 121f) 129
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sitzt das Subjekt in der griechischen Antike offenbar eine gewisse Autonomie, seine eigene Lebensführung moralisch gut zu gestalten. Der springende Punkt ist dabei nicht, dass es weniger oder weniger strenge Moralvorschriften gab. Interessant ist, dass die Art und Weise der Befolgung dieser Ver- und Gebote, die Techniken und Verfahren, die das Subjekt dabei anwenden konnte, und die Ziele, die es dabei anstrebte, völlig unterschiedliche waren (vgl. Foucault 1994b: 266). Foucault bezeichnet die besondere Subjektivierungsform der klassischen Antike als Ästhetik der Existenz. In diesem Begriff kommt zum Ausdruck, dass diese Ethik vor allem danach strebt, ein schönes, gelungenes Leben zu führen: »Die Griechen akzeptieren diese Vorschriften also bewußt um der Schönheit oder Glorie der Existenz willen. Die Entscheidung, die ästhetische oder politische Entscheidung, um derentwillen sie diese Art von Existenz akzeptieren, – das ist die Weise der Unterwerfung« (Foucault 1994b: 278). Foucault bezeichnet diese ethischen Praktiken nicht von ungefähr als Weise der Unterwerfung. Der Begriff der Ethik verweist auf spezifische Seinsmöglichkeiten und Handlungsspielräume von Individuen in einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Situation und ist damit immer auch ein Ausdruck von Freiheit. Aber es handelt sich um eine spezifische Form der Freiheit, die durch die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt – und somit den Individuen vorgängig ist.35 Ethische Praktiken zeichnen sich durch ein Verhältnis zum Wahren aus, ein je spezifisches Verhältnis zu einem je spezifischen Wahren. Die Frage ›Was soll ich tun?‹ stellt sich in unterschiedlichen Epochen in ganz unterschiedlicher Weise: Während das christliche Subjekt in der Pflicht der Dechiffrierung seiner selbst steht und die Spuren des Begehrens im Raum der Seele seinen Erkenntnisbereich darstellen, ist das Verhältnis des antiken Subjekts zur Wahrheit »eine strukturelle, instrumentelle und ontologische Bedingung der Einrichtung des Individuums als eines mäßigenden und maßvoll lebenden Subjekts« (Foucault 1989: 118). Aber auch bei der antiken Ästhetik der Existenz sind die Kriterien für ein gutes und schönes Leben sozial und verweisen somit auf eine historische Ordnung der Wahrheit und auf komplexe intersubjektive Anerkennungsbeziehungen. Die Fähigkeit, im Sinne dieser Kriterien richtig zu handeln, muss durch Üben erworben werden – auch dies verweist wiederum auf soziale Beziehungen, denn nicht nur die ethischen Kriterien sind historisch und gesellschaftlich variabel, sondern auch die Verfahren und Praktiken, anhand derer diese übend erworben werden.
35 »Die Freiheit ist die ontologische Bedingung der Ethik. Aber die Ethik ist die reflektierte Form, die die Freiheit annimmt.« (Foucault 1985: 12) 130
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Foucault geht noch einen Schritt weiter und argumentiert, dass die Freiheit »in sich selbst politisch« ist (Foucault 1985: 14). Hier bezieht er die möglichen Freiheitspraktiken auf die spezifischen Machtverhältnisse; die Art und Weise der Führung des Selbst ist immer auch durch die Art und Weise der Führung Anderer konstituiert. So betont Foucault, dass – gegenüber dem ›demokratisierten‹ Verständnis von Freiheit und Subjekthaftigkeit in der Moderne – Freiheit und ein entsprechender Subjektstatus in der Antike das Privileg einer männlichen Elite (in Abgrenzung zu Frauen und Sklaven) ist und die entsprechenden Selbstpraktiken immer auch die Sicherstellung dieser Distinktion gewährleisten müssen: »In dem Maße, wie die Freiheit für die Griechen bedeutet, nicht Sklave zu sein (was ja schon eine von der unseren ganz verschiedene Definition ist), ist das Problem bereits durch und durch politisch« (Foucault 1985: 14). Damit nimmt er eine historische Bestimmung vor, die Butlers These, dass Handlungsfähigkeit immer ein politisches Privileg sei, untermauert. Trotz eines gegenüber der Antike ›demokratisierten‹ Verständnisses von Freiheit und Subjekthaftigkeit bezieht Foucault diese These auch auf die Moderne. Es kann als ein zentrales Anliegen seiner Arbeiten verstanden werden, den hoch problematischen Status der Freiheitsräume moderner abendländischer Subjektivität offenzulegen. Foucault begründet diese besondere Problematik in der gouvernementalen Rationalität der Bio-Macht (vgl. Kapitel 4.2). Er verweist dabei immer wieder darauf, dass die Problematik dieser Rationalität auch in einem bestimmten abstrakten Imperativ der ökonomischen Verwertung begründet ist. Diesen Gesichtspunkt arbeitet er jedoch nicht systematisch aus, sondern verhandelt ihn lediglich in – teilweise widersprüchlichen – Bemerkungen und Hinweisen.36 Auf diesen Aspekt gehe ich in den folgenden Kapiteln (5 und 6) genauer ein; hier geht es mir aber zunächst noch darum, Foucaults Perspektive auf die Frage der Möglichkeit kritischer Handlungsfähigkeit von modernen abendländischen Subjekten ausführlicher zu diskutieren.
4.3.3 Das Leben als Kunstwerk In einem Gespräch über historische Selbstverhältnisse wirft Foucault die Frage auf, ob nicht »das Leben eines jeden Individuums ein Kunstwerk sein (könnte)« (Foucault 2007c: 201). Dies lässt sich als programmatische Formulierung einer Haltung (Ethik) der Kritik verstehen, mit der 36 Mit Brieler lässt sich vermuten, dass es Foucaults dabei – »ängstlich bemüht, jede Behauptung einer Kausalität zu vermeiden« (Brieler 1998: 556) – darum geht, die relative Autonomie der Subjektivierungsmodi gegenüber ihren historischen Möglichkeitsbedingungen hervorzuheben. 131
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Foucault die (gesellschaftlich-historische) Konkretisierung einer seiner grundlegenden Thesen vornimmt – dass dort, wo Macht ist, immer auch Widerstand ist. Er zielt damit auf ein spezielles Ethos des Subjekts, das diesem erlaubt, zu den gesellschaftlich vorgegebenen Formen der Subjektivität eine kritische Distanz einzunehmen und gegenüber normierenden Identitäten den Anspruch auf Individualität geltend zu machen. Explizit grenzt Foucault diese Programmatik gegen Praktiken ab, die darauf zielen, das eigene Leben mittels eines Wissens um »die Wahrheit über das Begehren, das Leben, die Natur, den Körper usw.« zu perfektionieren (Foucault 2007c: 201). Demgegenüber sollte die Bezeichnung des Lebens als Kunstwerk zunächst allgemein als Hinweis auf dessen ›Künstlichkeit‹ im Sinne der gesellschaftlich-historischen Konstituiertheit verstanden werden. Die Grundlage einer kritischen Haltung besteht demzufolge in der Erkenntnis, dass das Selbst erstens nicht als Essenz gegeben ist und dass es zweitens nicht durch Normen und Wissen determiniert ist, sondern im praktischen – performativen – Bezug auf diese erst hervorgebracht wird. Die Konsequenz aus dieser Einsicht besteht darin, Widerständigkeit als schöpferische Praxis im Sinne einer kreativen Suche nach anderen Möglichkeiten zu begreifen. Im Unterschied zu geläufigen Vorstellungen von Emanzipation, die auf die Befreiung unterdrückter Subjektivität zielen, geht es Foucault also um eine Haltung der Kritik, deren Sinngehalt darin besteht, an den Grenzen des Bestehenden nach den Möglichkeiten für noch nicht genau benennbares und nie abschließend erreichbares Anderes zu suchen.37 Damit ist wiederum auch die Lesart des ästhetischen Selbstbezugs als freie Schöpfung eines autonomen Subjekts zurückgewiesen, denn obgleich nicht determinierend, sind gesellschaftliche Strukturen konstitutiv für die soziale Existenz als Subjekt. Freiheitspraktiken sind nicht auf eine angeborene Freiheit der Seele zurückzuführen. Es handelt sich vielmehr um gesellschaftliche Praktiken, deren Formen dem Subjekt durch die historischen Weisen von Moral und Ethik – also der spezifischen Substanz, der Unterwerfungsweise, der Praktiken sowie des Telos – vorgegeben sind. Das Subjekt ästhetischer Freiheitspraktiken ist nicht autonomer Sinnstifter, es ist nicht unabhängig von den gesellschaftlichen Machtstrukturen, 37 »Das zentrale philosophische Problem ist wohl das der Gegenwart und dessen, was wir in eben diesem Moment sind. Wobei das Ziel heute weniger darin besteht, zu entdecken, als vielmehr abzuweisen, was wir sind. Wir müssen uns das, was wir sein könnten, ausdenken und aufbauen, um diese Art von politischem ›double-bind‹ abzuschütteln, der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung durch moderne Machtstrukturen besteht. […] Wir müssen neue Formen von Subjektivität zustande bringen, indem wir die Art von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückweisen.« (Foucault 1994a: 250) 132
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seine Praktiken sind nicht von ihm selbst entworfen. Vielmehr kann auch dieses Subjekt seine Praktiken nur in den Schemata entfalten, »die es in seiner Kultur vorfindet, die ihm von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner sozialen Gruppe vorgeschlagen, nahegelegt und aufgezwungen werden« (Foucault 1985: 19). Foucault konkretisiert dies wiederum an der moralischen Erfahrung der Sexualität. So konstatiert er in der Transformation zur abendländischen Moderne weitere Verschiebungen im ethischen Gefüge. Ein wichtiger Gegenstand (die Substanz) ethischer Sorge ist nun der Sex; die Unterwerfung beruht auf psycho-medizinischen Normen, die Tätigkeit der Selbstformierung ist maßgeblich durch Analysepraktiken entsprechender Autoritäten geprägt; Ziel ist die Befreiung des Subjekts. Foucaults zeitdiagnostische These lautet, dass es innerhalb der Moderne zu weiteren Verschiebungen kommt und die kodifizierte Moral, die »Enteignung des Selbst im Namen von Fortschritt und Normalität, Wissenschaft und Emanzipation« (Kammler/Plumpe 1987: 191f) im 20. Jahrhundert zunehmend brüchig wird: »[D]ie Idee einer Moral als Gehorsam gegenüber einem Regelkodex ist heute im Verschwinden begriffen und ist schon verschwunden. Und diesem Fehlen von Moral will und muß die Suche nach einer Ästhetik der Existenz antworten« (Foucault 1984: 136). In der daraus entstehenden Notwendigkeit und Möglichkeit einer anderen Konstitution von Moral und Ethik sieht Foucault die gesellschaftspolitische Aufgabe, an Formen der Subjektivierung zu arbeiten, die nicht mehr durch Praktiken der Unterwerfung, sondern durch Praktiken der Befreiung und der Freiheit bestimmt sind (Foucault 1984: 137f). Der Bezug zu Butler liegt an dieser Stelle auf der Hand, gründet sie doch ihre Perspektive widerständigen Handelns in der performativen Reproduktion gesellschaftlicher Normen, die über eine mögliche Distanzierungsbewegung des Subjekts auch in einer gezielten Verschiebung dieser Normen resultieren kann. Deutlicher als Foucault kann Butler über den Rückgriff auf psychoanalytische Theoreme die psychischen Dynamiken ausloten, die überhaupt erst Möglichkeitsräume für eine vom Individuum ausgehende Distanzierungsbewegung gegenüber den Normen eröffnen. Damit kann sie den bei Foucault eher appellativen Charakter der Evozierung dieser Lebenskunst überwinden und nach den psychisch-motivationalen Bedingungen fragen, die den Subjekten eine solche Haltung möglich – und eventuell auch lebbar – machen. Im Gegenzug kann mit Foucault aber nun nachvollzogen werden, inwiefern spezifische, gesellschaftlich hervorgebrachte Trennungen (innen/außen, Individuum/Gesellschaft) konstitutiv sind – sowohl für diese psychische Dynamik als auch für die von Butler anvisierten Möglichkeiten der strategischen Intervention in die symbolische Ordnung. 133
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Wie sich in der Diskussion des Konzepts der Regierung gezeigt hat, geht es Foucault um die Bestimmung einer historischen Form der Kritik, die sich darauf richtet, »nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren« (Foucault 1992a: 12f) regiert zu werden.38 Diese Form der Kritik bildet die Kehrseite einer Regierungsintensivierung, die Foucault mit der Etablierung der christlichen Dogmatik und vor allem mit der zunehmenden Verweltlichung der religiösen, pastoralen Regierung in Verbindung bringt. »Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen – und zwar durch Machtmechanismen, die sich auf Wahrheit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin« (Foucault 1992a: 15). Denn Machtmechanismen, die den Anspruch erheben, über allgemeine wissenschaftlich verbürgte Regeln und »eine spezielle und individualisierende Erkennung der Individuen« (Foucault 1992a: 10) zu wirken, sind spezifischen Risiken ausgesetzt: Die Wissenschaftlichkeit ihrer Begründung impliziert Verfahren der Wahrheitsfindung, die es wiederum ermöglichen, eben diese Grundlage ihrer Legitimität zu hinterfragen. Dies verstehe ich in einer weiter gehenden Interpretation als These, dass das moderne Wahrheitsspiel eine im Vergleich zu historisch vorgängigen Wahrheitsspielen enorme Produktivität entfaltet. Zum einen erweitert sich durch die – prinzipielle – Demokratisierung der Kreis der ›Mitspieler_innen‹ oder zumindest der Kreis derer, die den Anspruch erheben, am Spiel der Wahrheit teilzunehmen. Zum zweiten erhöhen sich durch die spezifischen Regeln des Spiels sowohl die Variabilität als auch die Anfechtbarkeit der Erkenntnisse. Auch der individualisierende Zugriff auf die innere Wahrheit der Subjekte eröffnet besondere Möglichkeiten der Anfechtung, denn diese können sich verkannt fühlen und die Rechtmäßigkeit und Gerechtigkeit der ihnen auferlegten Zuschreibungen, Regeln, Verfahren und dergleichen hinterfragen oder zurückweisen. Während in den historischen Konfigurationen der abendländischen Moral die entscheidenden Verschiebungen vor allem im Verhältnis von Substanz, Unterwerfungsweise und Selbstformierung stattfanden, steht in der (Spät-)Moderne offenbar der Moralcode selbst in historisch neuer Weise zur Disposition. Die praktisch-ethische Arbeit am Selbst steht da38 Foucault knüpft hier an die Tradition der Aufklärung an, die er als Ausdruck historischer Bedingungen versteht, durch die eine bestimmte Frage, nämlich die nach der Ontologie der eigenen Existenz möglich wird – »Wer sind wir in diesem präzisen Moment der Geschichte?« (Foucault 1994a: 250) 134
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durch vor der Herausforderung, in diesen Code so gestaltend einzugreifen, dass soziale Regeln und Maßstäbe die Möglichkeitsräume des Lebens erweitern, anstatt sie einzuschränken – genau dies ist Butlers Thema. Foucault betont mit seiner Schwerpunktsetzung auf den (Selbst-)Praktiken stärker als Butler, dass die Arbeit an den symbolischen Formen immer auch auf die Frage der praktisch-konkreten Lebenszusammenhänge verweist: Für ihn steht weniger die Diversifizierung und Öffnung von Identitäten im Mittelpunkt als vielmehr die Arbeit an der Vielfältigkeit von Beziehungen, die neue Lebensformen ermöglicht, nicht indem sie sie entdeckt, sondern indem sie sie erfindet (Foucault 2007a: 70).39 Auch hier setzt die Arbeit der Erfindung am Gegebenen an, an Existenzen, die außerhalb oder quer zu hegemonialen Existenzen liegen. An dieser Stelle treffen sich Foucaults Thesen mit Butlers Annahme, dass die aus dem Zorn geborenen Bewegungen der Transformation keine individuellen Akte sind, sondern sich in kollektiven Praktiken realisieren. Der Anspruch, nicht so regiert werden zu wollen, ist kein individueller, wie auch der damit verbundene politische Anspruch kein individuell einzulösender ist. Foucault diskutiert dies beispielsweise im Zusammenhang mit Homosexualität, die er nicht als eine Identität oder eine besondere Form des Begehrens begreift, sondern als eine Lebensform, die eine historische Gelegenheit bietet, »Beziehungsund Gefühlsmöglichkeiten neuerlich zu eröffnen, und zwar nicht so sehr wegen bestimmter innerer Eigenschaften der Homosexualität, sondern weil die Diagonalen, die jemand, der ›quer‹ zum sozialen Geflecht steht, darin ziehen kann, solche Möglichkeiten sichtbar zu machen vermögen« (Foucault 2007a: 72). Mit Foucaults Beharren darauf, Homosexualität nicht als Identität oder Form des Begehrens zu begreifen, lässt sich der Bogen zu den im vorigen Abschnitt angesprochenen ›Gefahren‹ kritischer Praktiken schlagen. Weder aus einer individuellen Identität noch aus einem generalisierbaren Interesse menschlicher Gemeinschaften lassen sich emanzipatorische Forderungen oder Ansprüche formulieren; beides würde historische Begrenzungen hypostasieren und damit in Gewalt umschlagen. Vielmehr gilt es eine ethische Haltung einzunehmen, die die aktuellen Möglichkeiten der Freiheit eruiert, um in den praktischen Beziehungsgefügen neue Formen zu erfinden – ohne dabei aus dem Blick zu verlieren, dass diese Freiheit (wenn schon nicht ›immer‹, so doch zu39 Hier will ich keine falschen Gegensätze aufbauen, mir geht es eher um den besonderen Fokus der unterschiedlichen Perspektiven. Auch Butler thematisiert beispielsweise die Veränderung von Beziehungsformen als praktische Realisierung erweiterter Lebensmöglichkeiten (z.B. Butler 2004a; 2005). 135
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mindest unter den Verhältnissen der abendländischen Moderne) problematisch ist. Diese Problematik verweist auf gesellschaftliche Zusammenhänge, die bestimmte Hierarchiegefüge und damit auch privilegierte Subjektpositionen konstituieren. Foucault macht deutlich, dass er mit der ethischen Haltung der Lebenskunst einen solchen Zusammenhang fokussiert: »Es geht darum, ob es möglich ist, eine neue Wahrheitspolitik zu konstituieren. Es geht nicht darum, das ›Bewußtsein‹ der Leute oder das zu verändern, was in ihren Köpfen ist, sondern um eine Veränderung des politischen, ökonomischen, institutionellen Regimes der Wahrheitsproduktion« (Foucault 1993a: 67). Dieser Begriff des Regimes der Wahrheitsproduktion impliziert einen gesellschaftlichen Zusammenhang, dessen Rekonstruktion ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels anhand von Foucaults Konzept des Dispositivs unternehme, um daran zu diskutieren, inwiefern er diesen Zusammenhang gegenstandsorientiert erfasst, statt ihn aus einem Ganzen, aus einer Totalität abzuleiten. Auf diese Weise würden sich dann die konkret-materialen Bedingungen des Handelns in ihrer historischen Bedingtheit – und damit auch in ihrer prekären Instabilität – darstellen lassen.
4.4 Dispositive – historische Formationen des Sozialen Mit Foucault lässt sich die Perspektive einer Gesellschaftskritik entwerfen, die sich sowohl gegen utopische Vorstellungen der Befreiung von Macht wendet als auch gegen kulturpessimistisch-resignative Annahmen über die essenzielle Bösartigkeit von Macht. Stattdessen finden sich bei ihm Analyseinstrumente, mit denen nach den Möglichkeiten geforscht werden kann, die das Hier und Jetzt in seiner historischen Gewordenheit und Dynamik bietet und an denen es anzusetzen gilt, um Räume für neue, andere, erweiterte – und weniger hierarchisierte, weniger brutale – Erfahrungen zu eröffnen. Dass solche Möglichkeiten gegeben sind, verweist auf ein Moment von Freiheit, das allen Machtverhältnissen immanent ist: Das in der Unterwerfung konstituierte Subjekt verfügt über Spielräume, im Rahmen derer es sich zu diesen Verhältnissen verhalten kann. Diese Freiheit, so sollte deutlich geworden sein, ist eine historisch konstituierte Freiheit. Die Möglichkeiten, sich zu den Verhältnissen zu verhalten, sind durch diese Verhältnisse konstituiert – auch kritisch nach Veränderung strebendes Handeln bezieht sich auf das Gegebene und ist dadurch in seinen Perspektiven präfiguriert: Wirklich kann werden, was möglich ist.
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MICHEL FOUCAULT
Die spezifisch moderne Form der Freiheit habe ich in den vorangegangenen Abschnitten in drei nur analytisch zu unterscheidenden Dimensionen rekonstruiert: Sie zeichnet sich erstens durch eine bestimmte Stellung der Subjekte zum Regime der Wahrheit aus, sie wird zweitens durch spezifische Machtformationen als individuelle Freiheit gegenüber äußerlichen Zwängen konstituiert und sie beruht drittens auf besonderen Selbstverhältnissen der Subjekte. Die allgemeine These, dass die Kritikfähigkeit des Subjekts und das, wogegen es rebelliert, Hervorbringungen gesellschaftlicher Verhältnisse sind – dass also Kritik und Widerstand konstitutiv in die Verhältnisse eingelassen sind, gegen die sie sich richten – wird von Foucault somit für die abendländische Moderne spezifiziert. In dieser historischen Konstellation erfahren die Individuen die Formen der Subjektivität selbst zunehmend als ein Problem und machen sie deshalb zu einem wichtigen Einsatz sozialer Kämpfe. Diese Kämpfe können sich in taktischen Ausweichmanövern und Verweigerungen auf Seiten der Individuen äußern, die versuchen, ihr Leben als Kunstwerk zu gestalten, indem sie herrschende Subjektivierungsprogramme immer wieder unterlaufen (vgl. Bröckling 2007). Wie sich in den Ausführungen zu Foucaults Verständnis von Widerstand als Lebenskunst gezeigt hat, besteht er jedoch darauf, diese Kämpfe um Subjektivierungsformen nicht auf das Subjekt zu beschränken, sondern sie vielmehr vor allem als kollektive Arbeit an den praktisch-konkreten Lebenszusammenhängen zu begreifen. Den Hinweis von Foucault, dass es bei seinem Verständnis von Lebenskunst als einem in der Moderne möglichen Ethos der kritischen Distanz gerade nicht um individuelle Praktiken der Selbstperfektionierung geht, will ich in diesem Abschnitt dahingehend zuspitzen, dass solche individuellen Praktiken aus einer emanzipatorischen Perspektive systematisch zum Scheitern verurteilt sind. Zum einen führen sie zu einer permanenten Selbstüberforderung des Subjekts, insofern sie darin bestehen, dass ein inneres Selbst im Rahmen der ihm gegebenen äußeren Bedingungen das Beste aus sich zu machen versucht, ohne jedoch an diesen Bedingungen etwas verändern zu können. Zum anderen beruht diese Form der Praxis auf einem Subjektstatus, den bei weitem nicht alle Individuen gleichermaßen einnehmen können und der somit ein Privileg darstellt, das auf einer Festschreibung hierarchischer Verhältnisse basiert. Bestimmte, auf das Subjekt beschränkte Freiheitspraktiken scheinen geradezu Bestandteil der hegemonialen Machtverhältnisse zu sein. Wie lassen sich mit Foucault aber solche hegemonialen Machtverhältnisse erfassen, ohne dabei Macht als Besitz einzelner Individuen, Gruppen oder Institutionen zu begreifen oder die Machtverhältnisse als unmittelbare Effekte grundlegender Strukturen abzuleiten? Um dieser
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Frage nachzugehen, greife ich nun Foucaults Begriff des Dispositivs40 auf, den ich als Konzeption eines gesellschaftlichen Zusammenhangs verstehe. Nur vor dem Hintergrund des Begriffs eines Zusammenhangs lässt sich eine bestimmte Konfiguration von Machtverhältnissen als »einer der grundlegendsten Züge der abendländischen Gesellschaften« (Foucault 1983: 124) erkennen, die den Lebenszusammenhängen in ihrer Vielfältigkeit eine bestimmte strukturelle Gerichtetheit verleiht. Implizit war Foucaults Verständnis eines solchen Zusammenhangs bereits in der Darstellung seiner Machtanalysen Thema. Dort hatte ich argumentiert, dass sich sein Verständnis von historischen Machtverhältnissen auf bestimmte strukturelle Verfestigungen bezieht, die sich als eine gewisse Gleichgerichtetheit verschiedener gesellschaftlicher Phänomene ausmachen lässt. In meiner Darstellung der historischen Untersuchungen Foucaults fand sich diese Gerichtetheit eher unterschwellig durch Verweise auf das Zusammenspiel unterschiedlicher Prozesse und deren Parallelität in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und deren Qualifizierung als Taktiken mit ›Nützlichkeitseffekten‹, als Optimierung und dergleichen. In diesen Begriffen wurde ein Interpretationsmodus angedeutet, den ich im Bezug auf die Konstitution der Seele mit dem Begriff der Funktionalität bereits ins Spiel gebracht, aber vorerst noch nicht weiter ausgeführt hatte: Mit Foucault lassen sich nicht nur spezifisch Taktiken identifizieren, sondern auch deren Formierung im Rahmen von Strategien, die im Hinblick auf strategische Imperative bestimmten Funktionalitäten unterliegen. Im Folgenden soll nachvollzogen werden, dass Foucault mit der Analyse von Dispositiven den Blick auf Strukturen richtet, die mittels des Konzepts der Funktionalität als Zusammenhang rekonstruiert werden können. In einem ersten Schritt kläre ich, dass dieser Zusammenhang dynamisch und offen ist, da er sowohl Wirkungsbedingung als auch Manifestation von Machtpraktiken darstellt und daher beständigen Verschiebungen unterliegt. In einem zweiten Schritt gehe ich dann genauer auf die Frage ein, wie der Zusammenhang unter Rückgriff auf den Terminus der Funktionalität gedacht werden kann, um dann das bei Foucault eher implizit vorhandene Verständnis von ›Gesellschaft‹ genauer zu rekonstruieren. Abschließend schlage ich im dritten Schritt wieder den Bogen zu performativen Prak-
40 Für eine ausführliche Diskussion des theoretischen und methodologischen Stellenwerts des Dispositivs bei Foucault siehe beispielsweise Deleuze 1991; Hubig 2000. Seit einigen Jahren intensivieren sich die Debatten darüber, wie sich das Konzept des Dispositivs für empirische Untersuchungen operationalisieren lässt (siehe beispielsweise Bührmann 2004; Caborn 2007; Bührmann/Schneider 2008). 138
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tiken als Widerstandspraktiken, deren gesellschaftlich-historische Bedingungen, aber auch Grenzen sich sodann genauer benennen lassen.
4.4.1 Dispositive als Strukturzusammenhänge mit ›Doppelcharakter‹ Foucaults Zugang zu Macht als Analysegegenstand erfolgt, wie wir gesehen haben, nicht über die Frage, wer sie ausübt und wie sich diese Ausübung legitimiert, sondern über die Entschlüsselung besonderer strategischer Funktionen als »Rationalität von Taktiken, […] die sich miteinander verketten, einander gegenseitig hervorrufen und ausbreiten, anderswo ihre Stütze und Bedingung finden und schließlich zu Gesamtdispositiven führen« (Foucault 1983: 116). Mit dem Begriff des Dispositivs bezeichnet Foucault einen Strukturzusammenhang, der durch das spezifische Zusammenspiel ontologisch heterogener Momente des Sozialen (Diskurse, Institutionen, architektonische Formen der Raumorganisation, Gesetze und dergleichen) (Foucault 1978: 120) konstituiert wird.41 Diese unterschiedlichen und heterogenen Elemente stehen in einem Beziehungsgefüge, dessen Einheit über eine spezifische strategische Funktion im Sinne einer »Reihe von Absichten und Zielsetzungen« (Foucault 1983: 116) rekonstruiert werden kann. Wichtig ist allerdings, dass Foucault damit weder eine transzendentale Begründung einführen noch die ontologische Geschlossenheit dieser Struktur behaupten will. Die einem Dispositiv zugrunde liegende strategische Funktion ist der Effekt einer spezifischen historischen Situation und damit konstitutiv mit den komplexen sozialen Verhältnissen verbunden. Abstrakt lässt sich lediglich feststellen, dass die strategische Funktion eines Dispositivs darin besteht, »zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt […] auf einen Notstand (urgence) zu antworten« (Foucault 1978: 120). Wie dieser ›Notstand‹ konkretisiert werden kann, welche funktionalen Erfordernisse sich daraus ergeben, ist eine Frage, die jeweils nur im Rahmen
41 Ich gehe hier bewusst nicht auf die von Foucault an dieser Stelle eingeführte Unterscheidung von Diskursen und außerdiskursiven Momenten ein, da ich sie in diesem Zusammenhang für missverständlich halte. Sie suggeriert eine Differenzierung, die selbst analytisch kaum durchzuhalten ist, da alles Soziale immer schon ›diskursiv‹ ist. Foucault selber hat sich in der Folge auch immer wieder unwillig gezeigt, diese Differenz genauer zu bestimmen: »[F]ür das, was ich mit dem Dispositiv will, ist es kaum von Bedeutung, zu sagen: das hier ist diskursiv und das nicht.« (Foucault 1978: 125) Zu einer ausführlicheren Diskussion dieser Problematik siehe zum Beispiel Waldenfels 1991; Wrana/Langer 2007. 139
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historisch-empirischer Machtanalysen geklärt werden kann.42 Als erste Definition lässt sich also festhalten, dass der Begriff des Dispositivs ein Gefüge sozialer Elemente bezeichnet, das im Hinblick auf einen »strategischen Imperativ« (Foucault 1978: 120) funktional ist. Dieser strategische Imperativ wiederum ist ein funktionales Erfordernis, das in einer spezifischen historischen Konstellation entsteht. Die besondere Pointe liegt darin, dass Problem (oder funktionales Erfordernis) und Lösung in diesem Verständnis nicht in einem äußerlichen Verhältnis stehen, sondern vielmehr konstitutiv miteinander verschränkt sind.43 Analytisch betrachtet ist der Foucault’sche Begriff des Dispositivs in eigentümlicher Weise doppelt charakterisiert: Es kann als eine spezifische Manifestation von Macht betrachtet werden und stellt zugleich die Wirkungsbedingung dieser besonderen Form der Machtausübung dar. Jürgen Habermas spricht daher von einer »irritierenden Doppelrolle« (Habermas 1985: 322) der Foucault’schen Machtanalyse. Die Genealogie soll sowohl die empirische Analyse der Machtpraktiken sein, die den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang hervorbringen, als auch die transzendentale Rolle von Machtverhältnissen als Konstitutionsbedingungen dieser Praktiken erfassen; sie soll dadurch »beides in einem sein – funktionalistische Sozialwissenschaft und historische Konstitutionsforschung zugleich« (Habermas 1985: 322). Während Habermas diese Zweigleisigkeit als theoretisch nicht zulässig kritisiert, sehe ich in ihr im Anschluss an Christoph Hubig (2000) eine produktive Pointe der Foucault’schen Herangehensweise, die darin besteht, den Doppelcharakter der Dispositive zu erfassen und diese somit als dynamische Strukturen zu charakterisieren. Hier findet sich wieder das Motiv einer strukturimmanenten Dynamik, das bereits in der Darstellung von Butlers Perspektive aufgetaucht war: Die Ausübung von Macht wird in ihrer jeweiligen 42 »Das hat zum Beispiel die Resorption einer freigesetzten Volksmasse sein können, die einer Gesellschaft mit einer Ökonomie wesentlich merkantilistischen Typs lästig erscheinen mußte: es hat da einen strategischen Imperativ gegeben, der die Matrix für ein Dispositiv abgab, das sich nach und nach zum Dispositiv der Unterwerfung/Kontrolle des Wahnsinns, dann der Geisteskrankheit, schließlich der Neurose entwickelt hat.« (Foucault 1978: 120) 43 Gilles Deleuze bezeichnet Foucaults Herangehensweise als »neuen Funktionalismus« (Deleuze 1992: 39); sie unterscheidet sich vom ›klassischen‹ soziologischen Funktionalismus gerade dadurch, dass sie nicht bestimmte historische Verhältnisse als gesellschaftliche Wesenseigenschaften im Sinne universeller funktionaler Erfordernisse hypostasiert, um dann die Gesellschaft aus diesem Wesen zu erklären (vgl. hierzu auch Brenner 1994). Auf die konstitutive Verschränkung von Problem und Lösung gehe ich im folgenden Kapitel am Beispiel des Generativitätsdispositivs genauer ein. 140
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Form durch Dispositive strukturiert; diese stellen die Verwirklichungsbedingungen von Macht dar, also die Bedingungen, unter denen sich spezifische Machteffekte realisieren können. Zugleich werden diese Strukturen nur in der gesellschaftlichen Praxis realisiert, wobei die Struktur eines Dispositivs niemals sämtliche Effekte determinieren kann, die von den im Rahmen dieser Struktur möglichen Praktiken erzeugt werden können – so ist es möglich, dass Wirkungen entstehen, die über das Dispositiv hinausweisen und daher auf dieses zurückwirken können. Foucault spricht von einer funktionellen Überdeterminierung des Dispositivs, »sofern nämlich jede positive oder negative, gewollte oder ungewollte Wirkung in Einklang oder Widerspruch mit den anderen treten muss und eine Wiederaufnahme, eine Readjustierung der heterogenen Elemente, die hier und da auftauchen, verlangt« (Foucault 1978: 121). Diese Überdeterminierung bedingt, dass die dispositiv ermöglichten Praktiken nicht in eindeutiger Weise bestimmt sind, sondern vielmehr im »Prozeß einer ständigen strategischen Wiederaufführung« (Foucault 1978: 121) im Hinblick auf den funktionalen Imperativ disparate, überschüssige oder sogar dysfunktionale Effekte hervorbringen können. In gewisser Weise lässt sich also dieser Prozess der strategischen Wiederaufführung als gesellschaftstheoretische Variante des von Butler aufgegriffenen sprachtheoretischen Prinzips der Iterabilität verstehen: Die Praktiken müssen sich auf den funktionalen Imperativ des Dispositivs beziehen, können aber – aufgrund der Heterogenität und Komplexität der Elemente und der zeitlichen Abfolge – Wirkungen entfalten, die die Konstellation des Dispositivs verschieben. Mittels einer solchen analytischen Bezugnahme auf die spezifische Funktionalität des Dispositivs lassen sich historisch besondere Möglichkeiten und Wirkungsweisen performativer Praktiken erkunden.
4.4.2 Strategische Funktionalität Das Konzept der funktionalen Überdeterminierung verweist darauf, dass die Struktur des Dispositivs disparate Momente unter einem Imperativ zusammenfasst. Dieser Imperativ ist allerdings weder einem dieser Momente ursächlich zuzuordnen, noch determiniert er deren Interaktionen. Er konstituiert vielmehr ein dynamisches Netz, innerhalb dessen es zu Verschiebungen der Funktionen und Kausalbeziehungen kommen kann: »So kann dieser oder jener Diskurs bald als Programm einer Institution erscheinen, bald im Gegenteil als ein Element, das es erlaubt, eine Praktik zu rechtfertigen und zu maskieren, die ihrerseits stumm bleibt, oder er kann auch
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als sekundäre Reinterpretation dieser Praktik funktionieren, ihr Zugang zu einem neuen Feld der Rationalität verschaffen.« (Foucault 1978: 120)
Ein Dispositiv beruht auf der (Re-)Konstruktion eines Strukturzusammenhangs, der heterogene Elemente so zueinander in Beziehung bringt, dass ›etwas‹ (ein soziales Phänomen im weitesten Sinne) entsteht, das mehr ist als die Summe der einzelnen Elemente. Zugleich werden diese Elemente selbst in ihrer spezifischen Gestalt durch das Gefüge des dispositiven Netzes überhaupt erst hervorgebracht. Am Beispiel sozialreformerischer und -gesetzgeberischer Maßnahmen im 19. Jahrhundert verdeutlicht Foucault, wie sich unterschiedliche und disparate Interessen bündeln und über ihre einzelnen Wirkungen hinaus als Gesamteffekt ein neues spezifisches Netz von Kräfteverhältnissen hervorbringen können, als dessen Ursprung oder Grundlage (ex post) die rationale Strategie einer Sozialpolitik erscheint, »von der man aber nicht mehr zu sagen wüßte, wer sie entworfen hat« (Foucault 1978: 133). Dieses Netz verbindet unterschiedliche Elemente (Arbeitersiedlungen, Sparkassen, philanthropische Diskurse, Arbeitgeberverbände), die erst im Zusammenhang dieses Netzes ihre historische Gestalt und Existenz erhalten – auch wenn sie nicht notwendigerweise ausschließlich in diesem Dispositiv wirken. Aus der Dynamik dieses Dispositivs gehen als unvorhergesehene Effekte neue Problematisierungen hervor, wie zum Beispiel die Verknüpfung des »Problems der Frauenarbeit« mit dem »Problem der Einschulung der Kinder«, die zu einem neuen Gegenstand gesetzlicher und institutioneller Regulierung wird. Dieses Netz oder Dispositiv ›antwortet‹ auf einen Notstand, nämlich das Problem, die Arbeiter dort halten zu müssen, wo sie für die Schwerindustrie gebraucht werden. Es wird jedoch – so die Pointe Foucaults – weder durch diesen Notstand ursächlich hervorgebracht noch von einzelnen Subjekten oder Gruppen oder Elementen gezielt durchgesetzt. Vielmehr ist es das kontingente Ergebnis verschiedener Manöver unterschiedlicher Instanzen und Interessengruppen, die nur rückblickend im Bezug auf die Problemlage als rational konvergierend erscheinen – und es erzeugt neue Effekte und Problematisierungen, die wiederum zur Entstehung neuer regulierungsbedürftiger Notstände beitragen können. An diesem Beispiel lässt sich die besondere ›funktionalistische‹ Perspektive Foucaults verdeutlichen: Ein historisches Problem stellt eine Situation bedingter Kontingenz dar, in der sich bestimmte Lösungen entwickeln, die wiederum das Problem verändern und/oder neue Probleme hervorbringen, die wiederum Lösungen entstehen lassen, die wiederum das Problem affizieren und so weiter und so fort.
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Am Beispiel des Dispositivs der Inhaftierung lässt sich nachvollziehen, inwiefern dieses Dispositiv einzelne Elemente hervorbringt, die wiederum unvorhergesehene Effekte erzeugen können. Damit wirkt das Dispositiv als Manifestation von Machtverhältnissen im Prozess der strategischen Wiederaufführung selber wiederum machtgenerierend. Das Dispositiv der Einsperrung bringt laut Foucault mit der Konstituierung eines – historisch neuen – Milieus der Delinquenz unvorhergesehene Effekte hervor: »Das Gefängnis hat die Rolle der Filtrierung und Konzentration, der Professionalisierung und Abschließung eines Milieus der Delinquenz übernommen. Ungefähr seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts erlebt man eine unmittelbare Wiedernutzbarmachung dieses unfreiwilligen und negativen Effekts in einer neuartigen Strategie, die […] dessen Negativität ins Positive gekehrt hat: das Milieu der Delinquenz wurde zu diversen politischen und ökonomischen Zwecken (etwa um aus der Lust Profit zu schlagen – mithilfe der Prostitution) ausgenutzt.« (Foucault 1978: 121f)
Vor diesem Hintergrund lässt sich Foucaults Aussage, zwischen Macht und Widerstand bestehe kein ontologischer Gegensatz, auch so begreifen, dass Macht und Widerstand unter denselben dispositiven Verwirklichungsbedingungen operieren. Dies bedeutet einerseits, dass jeder Widerstand Gefahr läuft, sich im Netz dessen zu verfangen, wogegen er opponiert. Andererseits heißt dies aber auch, dass über eine Dispositivanalyse die je besonderen Bedingungen und Möglichkeiten widerständigen Handelns und zugleich die durch den strategischen Imperativ begründeten je besonderen Grenzen dieses Handelns benannt werden können. 44 Mit dem Konzept des Dispositivs – als Ergebnis von Macht und zugleich deren Voraussetzung – geht es Foucault darum, gesellschaftliche Phänomene zu erklären, indem er deren Entstehungsbedingungen als Beziehungsgefüge heterogener Elemente rekonstruiert. Diese Strategie der Erklärung beruht weder darauf, gesellschaftliche Phänomene als ontologische Realität vorauszusetzen, noch darauf, sie aus vermeintlich grundlegenderen Strukturen (beispielsweise generellen funktionalen Erfordernissen) abzuleiten. Dies lässt sich wieder am Phänomen der Sexualität verdeutlichen. Foucault bezeichnet Sexualität als den »Namen, den
44 Andrea Bührmann (1995) beispielsweise fokussiert diesen Zusammenhang in Bezug auf Bestrebungen in Teilen der Frauenbewegung, der patriarchalen Deformierung von Sexualität eine ›authentische‹ weibliche Sexualität entgegenzustellen. Mit Foucault argumentiert sie, dass damit dem Dispositiv einer normalisierten Sexualität nicht zu entkommen ist. 143
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man einem geschichtlichen Dispositiv geben kann« und macht deutlich, dass er damit keine »zugrunde liegende Realität, die nur schwer zu erfassen ist« meint, »sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der Kontrollen und der Widerstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten« (Foucault 1983: 128). Das Dispositiv der Sexualität ist der Effekt einer spezifischen Konstellation von Wissen über anatomische Körper, körperliche Praktiken, Fortpflanzung, Gesundheit, Liebe usw., die mit bestimmten institutionellen Gefügen, wie Ehe, Familie, psychologischen, psychiatrischen und medizinischen Einrichtungen verknüpft ist. Diese Konstellation organisiert die Erfahrung und die Praktiken menschlicher Körperlichkeit in einer besonderen Weise – und bringt diese Körperlichkeit in ihrer besonderen Form dadurch überhaupt erst hervor.45 Sexualität ist also keine anthropologische Konstante, sondern Effekt einer historisch spezifischen Problematisierung. Sie ist auch nicht aus einem generellen funktionalen Erfordernis (Fortpflanzung) ableitbar, sondern ›antwortet‹ auf einen historischen ›Notstand‹, der in der Notwendigkeit besteht, disziplinierende Individualisierung mit normierender Regulierung zu verknüpfen, um »die Gesellschaft in eine Produktionsmaschine umzuwandeln« (Foucault 2007c: 232). Mit diesem Verweis auf den für das Sexualitätsdispositiv konstitutiven Imperativ der Verwandlung ›der Gesellschaft‹ in eine Produktionsmaschine deutet sich an, dass Foucault die Frage der spezifischen Funktionalität des Sexualitätsdispositivs offenbar auf einen außerhalb dieses Dispositivs gelegenen gesellschaftlichen Zusammenhang bezieht. Hier besteht in Foucaults Werk eine eigentümliche Spannung, der ich im folgenden Abschnitt nachgehen will: Einerseits zeigt er sich gegenüber Konzepten eines umfassenden gesellschaftlichen Zusammenhangs oder historischer Epochen ausgesprochen kritisch. Andererseits verweist er immer wieder explizit und implizit auf die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise als Konstitution einer besonderen historischen Situation mit besonderen funktionalen Erfordernissen.
45 Dies bedeutet nicht, dass diese oder ähnliche Erfahrungen und Praktiken in anderen Zeiten und Kulturen nicht existieren; es heißt nicht, dass in anderen Kulturen nicht auch Vorstellungen über Liebe und Fortpflanzung existieren. Es geht um die spezifische Konstellation von Praktiken, Vorstellungen und Normen. Mit seiner Rekonstruktion des Sexualitätsdispositivs der abendländischen Moderne macht Foucault keine Aussagen über andere kulturelle und historische Kontexte. 144
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4.4.3 Gesellschaft Wie lässt sich also der Begriff der ›Gesellschaft‹ bei Foucault verstehen? Zunächst ist festzustellen, dass er keine systematische, gesellschaftstheoretische (Re-)Konstruktion eines solchen Zusammenhangs anstrebt. Dadurch kann er Reduktionen vermeiden, die durch vereinheitlichende Prinzipien wie ›Moderne‹ oder ›Kapitalismus‹ den Blick auf Kontingenzen, historische Verschiebungen oder gar Brüche verstellen. Allerdings wird ebenso deutlich, dass Foucault seine Analysen durchaus vor dem Hintergrund einer epochalen Konstellation durchführt, nämlich der abendländischen Moderne mit kapitalistischer Produktionsweise. Foucaults Perspektive richtet sich jedoch nicht auf diese abstrakte Konstellation, sondern auf die Vielfalt und Heterogenität der Phänomene, die aus dieser historischen Konstellation hervorgehen. Das Konzept des Dispositivs kann als »analytischer Code für die komplexe Konfiguration des Gesellschaftlichen« (Brieler 2002: 54) bezeichnet werden, der sich dadurch auszeichnet, dass der gesellschaftliche Zusammenhang vom Gegenstand her rekonstruiert wird. Dies impliziert eine punktuelle – gegenstandsbezogene – Synthese von vermeintlich Heterogenem.46 Um also beispielsweise ein Phänomen wie ›Sexualität‹ zu erfassen, wird ein Zusammenhang zwischen verschiedenen Momenten, die zunächst als heterogen erscheinen, rekonstruiert. Da Foucault dabei nun explizit nicht auf ahistorische Funktionalitäten rekurriert, muss dieser Zusammenhang (genealogisch) aus einer spezifischen gesellschaftlich-historischen Konstellation erklärbar sein. Da es sich bei einem Dispositiv um die begriffliche Synthesis der Existenzbedingungen gesellschaftlicher Phänomene handelt, liegt es zudem auf der Hand, dass sich für eine Epoche oder eine Gesellschaft verschiedene Dispositive rekonstruieren lassen, die »auf sehr unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sein können, sowohl was ihre Konkretion oder Allgemeinheit betrifft, als auch, was ihren funktionalen Zusammenhang untereinander angeht« (Hubig 2000: 39). Zugleich heißt dies, dass ›die‹ Gesellschaft als übergreifender Strukturzusammenhang keine vorgängige Existenz hat, sondern immer die begriffliche (Re-)Konstruktion eines komplexen Zusammenhangs unter bestimmten Gesichts46 Die Dispositivanalyse überschreitet dabei »von der Ambition her jede sektorale (Sozial-, Kultur-, Politik-, Wissenschafts-) Geschichte. So ist eine Geschichte des Sexualitätsdispositivs eben nicht auf das Feld der körperlichen Praktiken und ihrer ideologischen Imaginationen zu beschränken, wie eine Geschichte des Gefängnisdispositivs sich von einer bloß rechtsgeschichtlichen Perspektive verabschieden muss.« (Brieler 2002: 55f) 145
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punkten darstellt. Auch als eine solche (Re-)Konstruktion ist die Gesellschaft »kein einheitliches Gebilde, in dem nur eine einzige Macht herrscht, sondern ein Nebeneinander, eine Verbindung, eine Koordination und auch eine Hierarchie verschiedener Mächte, die dennoch ihre Besonderheit behalten« (Foucault 2007c: 224). Offenbar ist das Konzept der strategischen Funktionalität komplexer und komplizierter, als es zunächst erschien, denn es lassen sich für ein Dispositiv verschiedene Imperative ausmachen, die zum Teil im Einklang miteinander, zum Teil jedoch auch im Widerspruch zueinander stehen können. So ermöglicht es der – allerdings noch analytisch näher zu bestimmende – Verweis auf die kapitalistische Produktionsweise, bestimmte Gerichtetheiten (im Sinne der Funktionalität) von Machtverhältnissen zu begreifen. Als eine wichtige Funktion von Sexualität erscheint dann die Regulierbarkeit der Subjekte im Hinblick auf eine bestimmte produktive Effizienz. Sexualität als historisches Phänomen kann aber weder aus dieser Funktionalität hergeleitet werden, noch beschränkt sie sich in ihren Effekten auf diese Funktionalität. Der Erkenntnisgewinn einer derartigen Rekonstruktion eines – jeweils historischen – Zusammenhangs besteht darin, die Existenz- und Wirkungsbedingungen von Machtverhältnissen als komplexe Konfigurationen von Relationen zu erklären, die weder auf einzelne Institutionen noch auf Subjekte zurückgeführt werden, sondern »in der Gesamtheit des gesellschaftlichen Netzes (wurzeln)« (Foucault 1994a: 258). Gerade in modernen Gesellschaften, die sich durch die Ausdifferenzierung vielfältiger Funktionen in je eigene ›Sphären‹ und Institutionen auszeichnen, können auf diese Weise funktionale Konstellationen so rekonstruiert werden, dass sowohl die relative Autonomie der unterschiedlichen Elemente sichtbar bleibt als auch strukturelle Zusammenhänge, Abhängigkeiten, Hierarchien zwischen ihnen als Gleichgerichtetheiten im Sinne funktionaler Imperative erkennbar werden.47 Zugleich lassen sich aber auch strukturell angelegte Reibungen und Dysfunktionalitäten innerhalb und zwischen den Dispositiven ausmachen. Die abstrakteste und übergreifendste Formulierung eines funktionalen Imperativs in modernen Gesellschaften findet sich bei Foucault in den auf die Optimierung des Lebens zielenden Strategien der BioMacht. Hier verbinden sich Individualisierung und Totalisierung zu ei47 Die Attraktivität eines solchen Vorgehens für die feministische Debatte liegt auf der Hand, gehört doch zu ihren zentralen Einsichten die Erkenntnis, dass die Problematik hierarchischer Geschlechterverhältnisse sich über sämtliche gesellschaftliche Bereiche erstreckt und auch deren Erklärung weder in einem einzelnen dieser Felder verortet noch in einer einzelnen ursächlichen Funktion gefunden werden kann. 146
MICHEL FOUCAULT
ner spezifischen Rationalität, die von Machttechnologien der Disziplin und bio-politischer Regulierung umgesetzt wird. Am Beispiel der Disziplinen diskutiert Foucault, wie bestimmte Verfahren in verschiedenen Institutionen wie Armee, Schule, Fabriken gleichermaßen wirksam werden. Insofern lässt sich für diese Institutionen einerseits ein gemeinsamer strategischer Imperativ ausmachen. Zugleich können sie aber untergeordneten Dispositiven mit je eigenen funktionalen Anforderungen zugeordnet werden: Kriegsführung, Erziehung/Ausbildung, Ökonomie, in denen diese Institutionen in einem jeweils bestimmten Beziehungsgefüge mit anderen Institutionen, Diskursen und Praktiken stehen. Diese spezifischen funktionalen Imperative können durchaus in Konflikt miteinander kommen oder zu internen funktionalen Friktionen führen und infolgedessen auch unvorhergesehene Effekte hervorrufen. So ist beispielsweise die disziplinierend-selektive Funktion der Schule mit einer handlungserweiternd-befähigenden Funktion verbunden; die von Seiten der Ökonomie an die Schule gestellte funktionale Anforderung der Ausbildung passgerechter Arbeitskräfte kann etwa mit der funktionalen Anforderung seitens des Dispositivs der Demokratie – nämlich der Hervorbringung urteilsfähiger und kritischer Subjekte – in Konflikt geraten. Gesellschaftliche Dynamik selbst bekommt in Foucaults Konzeption also eine historische Komponente. Aufgrund der hohen Komplexität moderner Gesellschaften und damit der Vielfältigkeit der Dispositive zeichnen sich diese durch ein hohes Maß an Kontingenz aus – mit Foucault lässt sich dies durch die Potenziale für Verschiebungen und Dysfunktionalitäten innerhalb und zwischen den verschiedenen Dispositiven begründen. Vor diesem Hintergrund können auch die spezifischen Möglichkeiten subversiver oder widerständiger performativer Eingriffe in die symbolische Ordnung dadurch begründet werden, dass sich diese Ordnung angesichts der beständig zunehmenden Komplexität moderner Gesellschaften als äußerst flexibel erweisen muss, um die verschiedenen, teilweise konfligierenden funktionalen Anforderungen akkommodieren zu können. Butlers Plädoyer dafür, den Begriff des symbolischen Gesetzes, welches das Intelligible vom Nichtintelligiblen trennt, durch den der Norm zu ersetzen, um damit die Historizität dieser Grenzziehung erfassen zu können, lässt sich nun gesellschaftsanalytisch genauer als eine Unterscheidung im Hinblick auf eine spezifische historische Anordnung verstehen. Darüber hinaus kann aber auch näher geklärt werden, inwiefern der Fokus auf diese Ebene der normativ-symbolischen Anordnung nicht ausreicht, um gesellschaftliche Entwicklungen und hierarchische Verhältnisse zu verstehen, geschweige denn darauf hinzuwirken, diese zu ändern. 147
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
4.4.4 Flexible Normalisierung Foucault geht davon aus, dass mit der Entwicklung der Bio-Macht »das Gesetz immer mehr als Norm funktioniert« (Foucault 1983: 172). Während eine Souveränitätsmacht das Subjekt der Gesetzesübertretung mit dem Tod bedroht, muss eine Macht, die auf die Sicherung des Lebens gerichtet ist, dieses regulieren und kontrollieren, indem es »das Lebende in einem Bereich von Wert und Nutzen« (Foucault 1983: 171) organisiert.48 Foucault unterscheidet dabei zwischen der Norm, die als immobiles Maß (normal/anormal; erlaubt/verboten) eher im Sinne eines Gesetzes operiert, und der Norm als Festlegung verschiedener Normalitätskurven (im Sinne von statistischen Verteilungen), die einen Raum der Streuung um einen Durchschnitt herum eröffnet (vgl. Foucault 1993a: 7ff). Moderne abendländische Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass Normen nicht auf die Dimension einer festen Grenzziehung mit präskriptiver Funktion beschränkt sind, sondern vor allem mit flexiblen Normalitätskurven operieren. Die Beobachtung und Erfassung von Prozessen des ›Bevölkerungskörpers‹ bringt statistische Regelmäßigkeiten und Durchschnittswerte hervor, die als empirische Normen zum Ansatzpunkt für Sicherheitstechniken werden – so können beispielsweise im Hinblick auf Erkrankungen besondere Risikogruppen identifiziert und zum Ansatzpunkt regulierender Eingriffe gemacht werden. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von Normalisierung statt von Norm; bio-politische Regulierungen haben flexible Aufgaben: »[D]ie unterschiedlichen Formen der Normalität müssen in Bezug aufeinander eingerenkt werden; die am meisten abweichenden auf den Kurvendurchschnitt zurückgedrängt werden. […] In der Disziplin wurde von einer Norm ausgegangen und das Normale vom Anormalen unterschieden. Hier nun finden wir die Festlegung verschiedener Normalitätskurven, wobei die Normalisierung darin besteht, diese Kurven miteinander ins Spiel zu bringen; die vorteilhaftesten Verteilungen dienen als Norm.« (Foucault 1993a: 9f)49
Die Norm kann gewissermaßen als Scharnier zwischen den individualisierenden Techniken der Disziplin und den auf die Bevölkerung zielenden Techniken der Regulierung gelten (vgl. Hark 1999b: 77). Die poten48 Weiter heißt es: »Eine solche Macht muß eher qualifizieren, messen, abschätzen, abstufen, als sich in einem Ausbruch manifestieren. Statt die Grenzlinie zu ziehen, die die gehorsamen Untertanen von den Feinden des Souveräns scheidet, richtet sie die Subjekte an der Norm aus, indem sie sie um diese herum anordnet.« (Foucault 1983: 172) 49 Für ausführlichere Diskussionen der Konzepte von Norm und Normalisierung bei Foucault vgl. Macherey 1991 und Link 2006: 116ff. 148
MICHEL FOUCAULT
zielle Vielfältigkeit der Subjekte wird disziplinierend durch (stets verfeinerbare) Individualitätskategorien gebändigt, die zugleich eine Voraussetzung für die statistische Erfassung sind. Die Regulierung erfolgt also gerade über die disziplinierende Konstitution differenter, aber kategorial fassbarer Individuen. Kategorien haben dabei eine spezifische Bedeutung; sie bezeichnen Subjekte, die besondere Eigenschaften und Fähigkeiten haben, aber auch je besondere Konstellationen statistischer Risikofaktoren in sich vereinigen. Normalisierung ist somit nicht eine generelle Funktion menschlicher Kategorien (also der symbolischen Ordnung als solcher), sondern ein funktionaler Effekt bestimmter historischer Machtdispositive. Die als Normalisierung bezeichnete Flexibilisierung des Prinzips von Intelligibilität/Nicht-Intelligibilität beruht zwar durchaus noch auf einer Grenzziehung zwischen Normalem und Anormalem. Diese Grenze ist jedoch keine absolute, sondern nimmt die Gestalt einer beweglichen Trennung von Normalem und Pathologischem an – einer Trennung, die beständig umkämpft ist und deren Stabilisierung daher dauernde Anstrengungen erfordert.50 Für die Individuen bedeutet dies, dass sie ihren gesellschaftlichen Platz als handlungsfähige Subjekte nur über ihre Einordnung in die Normalität erhalten und halten können. Jedem Individuum – sofern es als Subjekt kategorial fassbar und ›normal‹ ist – winkt das Versprechen eines eigenen Platzes im Gesellschaftskörper; allerdings muss es diesen Platz finden und daran arbeiten, ihn einzunehmen und zu behalten. Symbolische Kategorien haben also als Platzanweiser im Feld des Normalen historische Subjektivierungseffekte. Die Subjekte haben in der abendländischen Moderne im Prozess ihrer Subjektivierung insofern eine aktive Rolle, als sie nach Anerkennung streben; dieses Streben ist ein Streben nach Anerkennung des eigenen Seins als normal – und dies funktioniert immer auch über die Ab- und Ausgrenzung nicht-normaler Seinsweisen. Im Gegenzug lässt sich auch die bereits oben angesprochene spezifisch moderne Gefahr des Scheiterns der Anerkennung als Gefahr präzisieren, ins Pathologische abgedrängt zu werden und damit entweder ins Visier intervenierender und korrigierender Maßnahmen zu geraten oder gar der gewaltsamen Negierung seiner Daseinsberech50 »Die Fixierung einer stabilen Grenze auf dem prinzipiell homogenen Kontinuum Normalität-Anormalität kann aber nur durch die Zuschreibung semantisch und symbolisch diskontinuierlicher Qualitäten in Verbindung mit materiellen Grenzen erfolgen. Insofern hat Foucault in Überwachen und Strafen beschrieben, wie symbolische und materielle Dispositive der ›großen Einschließung‹ der protonormalistischen Strategie dazu dienen, mittels symbolischer und materieller Mauern nunmehr die neue Population der ›Anormalen‹ deutlich von der Population der ›Normalen‹ zu trennen.« (Link 2006: 124) 149
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
tigung ausgesetzt zu sein. Butler schlägt vor, »das Streben nach dem Beharren im eigenen Sein als etwas (zu) beschreiben, über das sich nur unter den riskanten Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens verhandeln läßt« (Butler 2001a: 31). Diese riskanten Bedingungen lassen sich nun als Kontingenz moderner Gesellschaften fassen, die mit dem Versprechen einer individuellen Freiheit jenseits starrer Gesetze lockt – einer Freiheit, die allerdings insofern höchst prekär ist, als sie nur um den Preis der beständig zu aktualisierenden »Anpassung an einen Apparat der Normalisierung« (Hark 1999b: 67) zu haben ist. Der Gedanke, dass dieser Apparat der Normalisierung selber dynamisch ist, ist bereits in Foucaults Überlegungen zu spätmodernen Formen der Gouvernementalität angelegt (Foucault 2000b; Foucault 2008a; 2008b) und wird in zahlreichen Studien aufgegriffen (als Überblick: Bröckling u. a. 2000; Krasmann/Volkmer 2007). In seiner Arbeit zum »unternehmerischen Selbst« als einem dominanten Subjektivierungsprogramm der Spätmoderne macht Ulrich Bröckling (2007) beispielsweise deutlich, dass die Flexibilisierung der Identitätskonstruktionen inhärenter Bestandteil dieses Programms ist. Hier kann offenbar selbst noch die kritische Distanz zu den Identitätskategorien, die Butler zu einer Grundlage ihres Konzepts von Widerständigkeit macht, als produktives Moment einer Subjektivierungsweise integriert werden, deren funktionaler Sinngehalt die individuelle (und damit auch individuelle Distinktion erfordernde) Selbstoptimierung ist. So kritisiert Bröckling zu Recht, dass »die nomadischen, ›queeren‹ oder hybriden Subjekte, die als emphatisch aufgeladene Gegenanrufungen poststrukturalistische Theorien […] bevölkern, […] zwar den auch in einer nachdisziplinären Gesellschaft noch wirksamen Homogenisierungsdruck mit einem Vexierspiel unscharfer oder wechselnder Identitätskonstruktionen unterlaufen (mögen), dem Flexibilisierungsimperativ einer radikalisierten Marktökonomie haben sie wenig entgegenzusetzen« (Bröckling 2007: 285).
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass kritische Interventionen in Normalisierungsprozesse, isoliert betrachtet, gesellschaftliche Hierarchisierungen und Verwertungsimperative höchstens verschieben, nicht aber überwinden können – wenn sie sich nicht gar am Ende nahtlos in funktionale Imperative hegemonialer Dispositive einbinden lassen.51 Allerdings geht der Hinweis darauf, dass marktradikale (oder neoliberale) Gouvernementalität geradezu auf Flexibilisierung beruht, häufig darüber 51 Vergleiche zu dieser Debatte beispielsweise Genschel 1996; Engel 2002; Woltersdorff 2004. 150
MICHEL FOUCAULT
hinweg, dass Flexibilisierung umgekehrt nicht notwendigerweise mit Neoliberalismus verbunden sein muss, sondern durchaus – in Butlers Sinn – ein Moment emanzipatorischer Bestrebungen sein kann, die auf eine Erweiterung der Lebensmöglichkeiten zielen. Es müssen daher Kriterien formulierbar sein, die eine solche Unterscheidung möglich machen. Bröcklings weitere Ausführung geben dazu einen Anhaltspunkt, denn er stellt fest, dass die Flexibilität des ›unternehmerischen Selbst‹ deutliche – und benennbare – Grenzen hat: Es ist ›der Markt‹, der ›entscheidet‹, welche Differenzierungen als Merkmal von Besonderheit und damit als »Alleinstellungsmerkmal privilegiert« und welche Differenzierungen demgegenüber »als unverwertbar aus dem gesellschaftlichen Verkehr« ausgeschlossen werden (Bröckling 2007: 286). Bleibt es allerdings bei einem bloßen Verweis auf den Markt, dann wird damit eher eine Leerstelle markiert, als dass tatsächlich ein Beitrag zur Klärung möglicher Kriterien und Grenzen emanzipatorischer Flexibilisierung geleistet wird. Was dabei offenbleibt, ist die Frage nach den dispositiven Bedingungen der spezifischen Funktionalität des ›Marktes‹ und daran anschließend die Frage, inwiefern diese Bedingungen selber zum Gegenstand widerständiger Praktiken werden können. Denn nur wenn solche Praktiken möglich sind, besteht die Hoffnung, dass sich das moderne Subjekt nicht damit begnügen muss, Herr oder Frau des eigenen Selbst, des eigenen Begehrens zu sein, welches es beständig befragt und überwacht, um den Preis, dass es dabei der Untertan gesellschaftlicher Machtverhältnisse bleibt, die es als gegeben und unveränderbar hinnimmt. Gelingt es aber, diese Machtverhältnisse als Gegenstand menschlicher Gestaltung deutlich zu machen, dann kann widerständige Praxis auch darauf hinwirken, dass die gesellschaftlichen Grenzen, die zum Ausschluss von Individuen ›aus dem gesellschaftlichen Verkehr‹ führen, bearbeitet werden, um Bedingungen anzustreben, die weniger exklusiv und hierarchisch sind. Die Chiffre des ›Marktes‹ erscheint mir dafür als sinnvoller, zugleich aber unzulänglicher Anknüpfungspunkt. Sinnvoll, insofern sie zum einen auf bestimmte, in der abendländischen Spätmoderne dominante funktionale Imperative verweist. Unzulänglich jedoch, insofern dabei zugleich die Perspektive verengt wird, denn der Blick richtet sich auf den ›Markt‹ als ein bestimmtes Phänomen, das zwar Ausdruck dieser funktionalen Imperative ist, aber keinesfalls schon eine Analyse der Verhältnisse darstellt, die diese konstituieren. Zudem lässt diese Verengung nicht erkennen, inwiefern das ›Leben‹, auf das sich Strategien der Bio-Macht beziehen, auch in Dispositiven formiert wird, die über die Mechanismen des ›Marktes‹ hinausweisen und insofern zu Friktionen und Dysfunktionalitäten im Verhältnis von Bio-Macht und ›Markt‹ 151
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
führen können.52 Foucault ist aus gutem Grund zurückhaltend gegenüber der Formulierung eines allgemeinen, alle Dispositive durchziehenden funktionalen Prinzips, um die grundsätzliche Kontingenz und Vielfältigkeit gesellschaftlicher Prozesse nicht quasi ableitungslogisch zu reduzieren. Zugleich tauchen bei ihm Hinweise auf die Existenz solch allgemeiner Prinzipien durchaus auf. So macht er keinen Hehl daraus, dass die Durchsetzung der Bio-Macht für ihn in untrennbarem Zusammenhang mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise steht. Seine Aussagen über die Funktion der Bio-Macht als Optimierung des Lebens und die damit verbundene normalisierende Einteilung nach ›Wert und Nutzen‹ werfen die Frage auf, wie denn ›Wert und Nutzen‹ bestimmt sind und im Hinblick auf welche Ziele es das Leben zu optimieren gilt. Der Verweis auf die Anforderungen ›des Marktes‹ macht deutlich, dass die Prinzipien und Dynamiken der kapitalistischen Produktionsweise in diesem Zusammenhang ein wichtiger Fokus der Gesellschaftsanalyse sein sollten. Der Eintritt des Lebens in die Geschichte konstituiert aber nicht nur ein historisches Dispositiv zur Reproduktion bestimmter (ökonomischer) Effizienzkriterien; es eröffnet sich damit zugleich auch ein Feld der Kämpfe um die Bestimmung und die Möglichkeiten eines guten Lebens. Dass sich diese Kämpfe gegen die Beschränkungen symbolischer Kategorien richten müssen, macht Butler am Beispiel der historischen Ordnung binärer Zweigeschlechtlichkeit deutlich; dass sie sich auch auf die Strukturen der Produktionsweise richten sollten, wird aus den kritischen Diskussionen um die Begrenzung symbolischer Kämpfe deutlich. Diese Diskussion nehme ich im folgenden Kapitel auf, um daran anschließend auch die Anschlussmöglichkeiten an die Kapitalismusanalyse von Marx zu konturieren.
52 Mir scheint, dass Bröckling (2007) beispielsweise diesen Zusammenhang der Koexistenz unterschiedlicher und teilweise konfligierender ›Subjektivitätsprogramme‹ im Hinblick auf die Subjektkonstitution unterschätzt. Wie schon Becker-Schmidt und Knapp (1984) mit ihrem Theorem der ›doppelten Vergesellschaftung‹ deutlich machen konnten, ist es für die spezifische Subjektivität und die damit verknüpfte Kritik- und Handlungsfähigkeit von großer Bedeutung, dass moderne Subjekte nicht nur von einem ›Programm‹ angerufen werden. 152
5. Z W I S C H E N S P I E L II: K R I T I K D E R B I O - E T H I S C H E N G E W AL T
Foucaults Rekonstruktion der für die abendländische Moderne spezifischen Konstellation von Machtverhältnissen und Wissensordnung erfasst historische Formen, in denen Individuen als Subjekte handlungsfähig sind. Das Begehren, im eigenen Sein zu bestehen, kann insofern als ein historisch besonderes Begehren bestimmt werden. In diesem Begehren ist Subjektivität in spezieller Weise mit individueller Autonomie und Authentizität verknüpft: Der moderne Mensch versteht sich als Subjekt mit einer inneren Wahrheit, die ihm als Quelle und letzte Begründung für seine Wünsche, Motive und Handlungen gilt. Das Subjekt hat so auch eine besondere Stellung im Hinblick auf die gesellschaftlichen Bedingungen. Seine konstitutive Abhängigkeit von diesen Bedingungen stellt sich für dieses Subjekt als Verhältnis der Äußerlichkeit dar. Dies ermöglicht eine bestimmte Form der Kritik- und Handlungsfähigkeit, denn erfährt sich das Subjekt als authentische Quelle seiner selbst, dann ist ihm in spezifischer Weise eine kritische Distanz zu diesen Bedingungen möglich: Das Subjekt erhebt den Anspruch auf individuelle Autonomie und kann dadurch, wie Butler deutlich macht, ein Motiv für intentionale Veränderungspraktiken entwickeln; es kann die bereitgestellten Kategorien als nicht völlig zutreffend oder einschränkend empfinden und letztlich versuchen, sie zu verschieben. Performativität kann damit als formale Voraussetzung von Handlungsfähigkeit gesehen werden, aus der unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen (widerständiges) Handeln hervorgehen kann. Jenseits von voluntaristischen, aber auch von strukturdeterministischen Perspektiven wird damit ein gesellschaftlich bestimmter Raum von Handlungsfreiheit erfassbar. 153
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
Diese besondere Freiheit des modernen Subjekts ist aber zugleich eine problematische Freiheit. Während Butler diese Problematik durch die vorausgesetzte Unterwerfung unter nicht selbst gewählte Normen bestimmt und die Entfremdung des Subjekts in abstrakter Weise als uneinholbares Ausgeliefertsein an den Anderen thematisiert, können mit Foucault besondere historische Konfigurationen von Macht-WissenKomplexen analysiert werden, die diese Entfremdung historisch präzisieren. Die besondere Problematik der Handlungsfähigkeit moderner abendländischer Subjekte konstituiert sich im Feld der Bio-Macht als des dominanten Machtdispositivs. Das Leben wird dabei zum zentralen Gegenstand von Machttechnologien – und damit zugleich zum zentralen Einsatz für widerständige Bestrebungen. Dieses Leben stellt in Foucaults Sinn keine ontologische Substanz, sondern vielmehr eine dispositiv hervorgebrachte Problematisierung dar. Gerade dadurch kann das Leben, so wie es im Dispositiv der Bio-Macht erscheint, überhaupt erst zum Einsatz sozialer Kämpfe um ein gutes Leben werden – und damit als Gegenstand menschlicher Gestaltung erscheinen. Im Folgenden befasse ich mich nun aber mit den besonderen Grenzen, die das historische Dispositiv der Bio-Macht den Spielräumen der (widerständigen) Praktiken der Subjekte setzt: Der Anspruch auf Autonomie im Sinne eines selbstbestimmten Lebens bricht sich an der vermeintlichen Unverfügbarkeit konstitutiver Bedingungen und erscheint lediglich als Wahlmöglichkeit zwischen gegebenen Alternativen; das Subjekt ist individuell aufgefordert, das Beste aus diesen Bedingungen zu machen. Mit Foucault ließ sich die von Butler sehr allgemein formulierte Problematik der Entfremdung so in ihrer historischen Spezifik näher bestimmen: Das Besondere an den modernen abendländischen Machtverhältnissen besteht darin, dass sie als äußere Beschränkung einer inneren, subjektiven Freiheit erscheinen. Wie wir gesehen haben, ermöglicht dieses spezifische Verhältnis von Subjekt und Bedingungen überhaupt erst eine bestimmte Form der kritischen Haltung, bei der das Subjekt sowohl sein eigenes Sein als auch die Verhältnisse, in denen es lebt, hinterfragen kann. Genau dadurch zeichnet sich, mit Butler gesprochen, die ethische Haltung moderner Subjekte aus. Zugleich – und hierin besteht die historische Kritik der abendländischen Konstellation der Bio-Macht – ist der Dispositionsspielraum dieser Kritik aber durch vermeintlich unveränderbare Grundtatsachen des ›Lebens‹ begrenzt. Die problematischen Effekte dieser Begrenzung lassen sich in drei Dimensionen präzisieren. Erstens beruhen die disziplinierenden Verfahren der Individualisierung auf biologisierenden oder naturalisierenden Prämissen, durch die bestimmte Unterscheidungsmerkmale als physische und psychische Wesenseigenschaf154
ZWISCHENSPIEL II
ten der Individuen erscheinen und hieraus auch ihre unverrückbare Legitimität beziehen. Diese Legitimierungsstrategie fokussiert Butler in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit. Zweitens greifen biopolitische Regulierungsverfahren auf eine Konzeption der Bevölkerung als Gesamtheit von Lebewesen zu, die in ihrer natürlichen Disposition bestimmten Risiken (Krankheiten, sozialen Auffälligkeiten) ausgesetzt sind. Diese Probleme und Risiken werden über statistische Verfahren bestimmten Bevölkerungsgruppen zugeordnet, denen die individualisierten Subjekte qua Unterscheidungsmerkmalen angehören – unabhängig davon, ob und welche Probleme sie als Einzelne überhaupt haben. Hier manifestiert sich das Verhältnis von Äußerlichkeit, bei dem Subjekt und Bevölkerung als zwei Pole der Bio-Macht erscheinen (vgl. Bublitz 2000: 31), zugleich aber konstitutiv aufeinander verweisen. Drittens kann diese Verknüpfung von individualisierten Subjekten mit statistisch formierten Problemgruppen Anschlussstelle für Exklusionspraktiken ein, die bestimmte Individuen oder ganze Bevölkerungsgruppen im Namen der Lebensqualität der Gesamtheit ausschließen.1 Nicht die problematischen Bedingungen stehen zur Disposition, sondern diese Individuen/Gruppen erscheinen als ›Problem‹. Die historische Kritik an diesem spezifischen politisch-epistemischen Rahmen, innerhalb dessen soziale Problematisierungen stattfinden, lässt sich pointiert so formulieren, dass Gesellschaftsfragen über die Definition individueller Eigenschaften in »Bevölkerungsfragen, in Fragen der Gattung oder der Menschheit« (Schultz 2006: 56) transformiert werden. Erscheinen aber historische Problematisierungen als Gattungsfragen, dann ist die Art und Weise, wie sie verhandelt werden können, in besonderer Weise – nämlich durch apodiktische Annahmen über natürliche Notwendigkeiten – konfiguriert. Der moderne Gestaltungsoptimismus,2 in dessen Licht soziale Probleme
1
2
Diese Exklusion kann verschiedene Formen bis hin zur Vernichtung annehmen. Foucault spricht in diesem Zusammenhang der modernen Form des Rassismus eine entscheidende Bedeutung zu. Rassismus kann in den auf das Leben gerichteten Verhältnissen der Bio-Macht die vermeintliche Notwendigkeit des Tötens (vermeintlich schädlichen und unwerten Lebens) legitimieren (Foucault 1999: 296f). »Die moderne Kultur ist geradezu beseelt davon, an die Gestaltbarkeit der Welt, an den Fortschritt der menschlichen Geschichte und an die nahezu universale Problemlösungskompetenz von Wissenschaft, Politik und Ökonomie zu glauben: Wissen gegen das Vorurteil der Religion und Metaphysik, Demokratie gegen den Herrschaftsanspruch feudaler und geistlicher Aristokraten; Unternehmergeist und Arbeitsmoral gegen die Wohlstandsmängel der Subsistenzwirtschaft und die soziale Not von Mangelökonomien.« (Nassehi 2001: 211) 155
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
nicht mehr als (göttliches) Schicksal, sondern als prinzipiell durch menschliches Handeln lösbar erscheinen, lässt sich vor diesem Hintergrund genauer qualifizieren: Er ist entscheidend durch den Glauben an die technische Lösbarkeit von ›Defekten‹ oder ›Unzulänglichkeiten‹ in der natürlichen Disposition der Menschen geprägt. Gesellschaftliche Anforderungen werden den Subjekten als (physische und psychische) Eigenschaften zugeordnet; sie erscheinen dadurch als individuelle Probleme und werden damit zugleich weitgehend dem Bereich kollektiver Gestaltung entzogen – oder, anders betrachtet, die Gestaltungsmöglichkeiten erscheinen in sehr spezifischer Weise konfiguriert: Sie beruhen auf bestimmten Annahmen über natürliche Gattungsmerkmale, die die zu lösenden Probleme sowie die denkbaren Lösungsmöglichkeiten definieren. Um diesen Zusammenhang beispielhaft zu verdeutlichen, wende ich mich im Folgenden der Problematik der Generativität zu,3 die in Foucaults Darstellung der Bio-Macht eine zentrale Stellung hat. Bei der historischen ›Entdeckung‹ der Bevölkerung als politisches und wissenschaftliches Problem bildeten Prozesse »wie das Verhältnis von Geburtund Sterberaten, de[r] Geburtenzuwachs, die Fruchtbarkeit einer Bevölkerung usw.« erste »Wissensobjekte« und erste »Zielscheiben biopolitischer Kontrolle« (Foucault 1999: 280f). Mir geht es darum, nachzuvollziehen, inwiefern sich in diesem Komplex naturalisierende Disziplinierungen mit biopolitischen Regulierungen zu einem historischen Dispositiv verschränken, das im Gewand natürlicher Notwendigkeit auftritt.4 Dadurch wird der (in spezifischer Weise beschränkte) politischepistemologische Rahmen bestimmbar, innerhalb dessen das gesellschaftliche Phänomen der Generativität überhaupt denkbar und thematisierbar ist. Zudem lässt sich zeigen, inwiefern die biopolitische Wahrnehmung von Problemen und Risiken so mit bestimmten Selbstpraktiken verknüpft ist, dass die auf die Bevölkerung zielenden Regulierungen als Ausdruck individueller Bestrebungen erscheinen. An diesem Beispiel lassen sich die drei eben skizzierten Dimensionen der Kritik verdeutlichen: Erstens ist in das Dispositiv der Generativität eine Naturali3
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Ich verwende den Begriff der Generativität im allgemeinen Sinne der Sorge um nachwachsende Generationen. Mir geht es darum, diesen Komplex als historisches Dispositiv zu markieren: Weder geht es nur um Fortpflanzung/Prokreation im engeren Sinne, noch handelt es sich um Prozesse, deren natürliche Notwendigkeit sich unabhängig von kulturellen Vorannahmen bestimmen ließe. Das Verhältnis der Technologien von Disziplinierung und Regulierung unterliegt zeitlichen, aber auch örtlichen Verschiebungen und Ungleichzeitigkeiten, die ich hier nicht näher berücksichtigen kann; vgl. dazu beispielsweise Schultz 2006.
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ZWISCHENSPIEL II
sierung vermeintlicher Notwendigkeiten des Lebens konstitutiv eingelassen und über disziplinierende Individualisierung in die Subjekte hinein verlagert. Zweitens gibt diese spezifische Konstitution von Generativität als gesellschaftliche Absicherung natürlicher Notwendigkeiten über individuelle Dispositionen den Rahmen vor, innerhalb dessen bestimmte Regulierungsverfahren auf die Individuen zugreifen und vor allem mittels deren Selbstbestimmung als Subjekte wirksam werden. Drittens geben diese Naturalisierungen den Referenzrahmen der Kriterien vor, die über den Subjektstatus und infolgedessen darüber entscheiden, wer aufgrund seiner natürlichen Dispositionen als selbstbestimmtes Subjekt ein lebenswertes Leben führen kann. Im ersten Schritt diskutiere ich die historische Gestalt von Generativität als Dispositiv der abendländischen Moderne; insbesondere geht es mir dabei darum, wie über die Naturalisierung der Rolle von Individuen in der Fortpflanzung eine heteronormative Geschlechterdualität konstitutiv in die ›natürlichen Notwendigkeiten‹ der Generativität eingelassen ist. Im zweiten Schritt skizziere ich die besonderen Subjektivierungseffekte dieses Dispositivs, das über eine Verknüpfung von heterosexueller Matrix und Sexualitätsdispositiv bestimmte Selbstverhältnisse autonomer, selbstverantwortlicher Subjekte mit bestimmten Qualitäten – (hetero)sexuellem Begehren, partnerschaftlicher Liebe, mütterlicher Liebe und dergleichen – hervorbringt. Dabei soll deutlich werden, inwiefern eben diese ›Substanz‹ der Subjekte nur über die Rekonstruktion historischer Dispositive bestimmbar ist. Im dritten Schritt komme ich dann auf die Kritik zurück, dass das in die Rationalität der Bio-Macht eingelassene Generativitätsdispositiv bestimmte Probleme und infolgedessen auch bestimmte Lösungskonstellationen präfiguriert, die den Entscheidungsrahmen der Subjekte darstellen. Auf diese Weise lässt sich die Forderung moderner abendländischer Subjekte nach Selbstbestimmung in ihren spezifischen Grenzen erfassen. Die Individuen sind als Subjekte aufgefordert und erheben den Anspruch, selbstbestimmt und verantwortungsvoll Entscheidungen zu treffen, unterliegen dabei aber bestimmten (biowissenschaftlichen) Rationalitätskriterien, die sie individuell nicht beeinflussen können. Dies führt dann zu der Frage der positiven Subjektivierungseffekte, die ich im vierten Schritt diskutiere: Welche Wirkungen kann diese spezifische Rationalität im Hinblick auf die Konstitution der Subjekte entfalten – und wo sind mögliche Spielräume für strategische Wiederaufführungen, um diese Rationalität eventuell zu modifizieren? Mit der (vorläufigen) Antwort auf diese Frage wird deutlich, dass die Problematik der Anerkennungsverhältnisse nicht nur in der Dimension der symbolischen Normen zu verorten ist, vielmehr verweisen die historischen Macht-Wissen-Verhältnisse auf 157
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
eine bestimmte Rationalität, die nur durch die Arbeit an gesellschaftlichen Dispositiven veränderbar ist. An dieser Stelle führt die Antwort dann aber auch an die Grenzen der archäologisch-genealogischen Perspektive. Es tauchen Bedingungen der Rationalität auf, die nicht im Rahmen von kollektiver Arbeit an Anerkennungsverhältnissen bearbeitet werden können: Die Optimierung des Lebens als funktionaler Imperativ der Bio-Macht verweist auf Effizienzkriterien, die Foucault explizit mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise in Verbindung bringt. Wie diese Verhältnisse zu analysieren sind und inwiefern sie auch zum Gegenstand von kollektiver Gestaltung werden können, macht er allerdings nicht zum Fokus seiner Überlegungen.
5.1 Generativität als historisches Dispositiv Generativität erscheint zunächst als eine historisch-kulturell besondere Gestaltung prinzipiell natürlicher Phänomene. So wie Menschen essen, trinken, schlafen, sich vor Kälte und Hitze schützen müssen (und so weiter), müssen sie sich auch fortpflanzen und für ihren Nachwuchs sorgen. Sie tun dies in verschiedenen kulturellen Kontexten zwar in unterschiedlicher Weise, aber allen Gesellschaften ist die fundamentale (natürliche) Notwendigkeit gemeinsam. Diese bestimmte Perspektive auf Generativität soll hier nun im Anschluss an Butler und Foucault problematisiert werden. Wo der natürliche Kern eines gesellschaftlichen Phänomens ist, lässt sich nie endgültig bestimmen und bleibt damit letztlich müßige Spekulation. Mehr noch: Mit Butler und Foucault kann die Spekulation über natürliche Grundlagen selbst als ein konstitutives Moment der Phänomene und als ein wichtiger Stützpunkt zur Absicherung bestimmter (eben ›natürlicher‹) Notwendigkeiten – und damit auch einer bestimmten Rationalität gesehen werden; die vermeintliche Natürlichkeit wird zur letzten Ursache und Begründung aller Phänomene. Als paradigmatischer Zugang zu diesem ontologischen Machteffekt von Naturalisierungen drängt sich der Blick auf die Geschlechterdifferenz geradezu auf; sie ist in der abendländischen Gegenwart ein Hauptstützpunkt naturalisierender oder biologisierender Unterscheidungen und Deutungen menschlichen Lebens. In welchem Maße das spezifische Problem des Lebens und damit auch die geboten scheinenden biopolitischen Regulierungsmaßnahmen durch diese binäre Differenz konfiguriert sind, lässt sich anhand der tief verankerten Überzeugung verdeutlichen, dass Menschen, um sich fortpflanzen zu können, zwei verschiedene ›Geschlechter‹ haben müssen. Selbst unter denjenigen, die Kritik an Biologisierungen des Geschlechterunterschieds üben und sogar teilweise der 158
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kritischen Auseinandersetzung mit der Sex-Gender-Unterscheidung zustimmen, finden sich nicht wenige, die daran festhalten, dass es eine unhintergehbare biologische Grundlage einer – wie auch immer ›dünn‹5 definierten – Zweigeschlechtlichkeit geben müsse. So geht beispielsweise Susanne Schröter von der Universalität einer binären Geschlechtskategorie aus, die darauf beruhe, dass der menschliche Körper nicht nur dichotom wahrgenommen werde, sondern faktisch entweder männlich oder weiblich sei: »Morphologisch, physiologisch, gonodal und endokrinologisch existieren Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die als Ausgangsbasis für die kulturellen Konstruktionen von Geschlecht fungieren« (Schröter 2002: 212f). Die Kategorie Geschlecht erscheint dabei als notwendiges Erfordernis der Generativität, denn nur die Existenz von Männern und Frauen garantiere »den Fortbestand der Spezies homo sapiens sapiens« (Schröter 2002: 227). Auch Hilge Landweer weist zwar die Ableitung von gender aus sex zurück, geht aber zugleich davon aus, »daß in jeder Kultur in Zusammenhang mit Mortalität und Natalität die Generativität zu Kategorisierungen von ›Geschlecht‹ führt« (Landweer 1994: 151). Ist ›Geschlecht‹ eine Kategorie, die in einem – wie auch immer gearteten – Zusammenhang mit Fortpflanzungsfunktionen steht, dann kann sie letztlich gar nichts anderes als eine Variation der Zweiwertigkeit sein. Mit Butler und Foucault lässt sich jedoch die Frage stellen, ob genau dieser Zusammenhang zwischen Generativität und der Existenz einer Geschlechterkategorie universell ist. Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dass Prokreation (noch?)6 auf eine Binarität biologischer Substanzen und anatomischer Körper angewiesen ist. Allerdings lässt sich mit dieser Feststellung nicht die Notwendigkeit einer derart umfassenden und komplexen Kategorie wie Geschlecht begründen, die nicht nur auf körperliche Potenzen der Fortpflanzung verweist, sondern
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Dieser Begriff wird von Wolfgang Detel (1998) in die Diskussion eingebracht. Auch hier scheinen die technologischen Möglichkeiten noch nicht an ihre Grenzen gekommen zu sein, was sich seit einiger Zeit beispielsweise an den Diskussionen um das Klonen von Lebewesen zeigt. Ob und inwiefern Entwicklung und Einsatz solcher Verfahren wünschenswert sind, ist sicherlich eine wichtige Frage. Diese jedoch mit dem Verweis auf natürliche Grenzen, die nicht überschritten werden sollen/dürfen, beantworten zu wollen, führt die Debatte auf das Terrain fundamentalistischer Argumentation: Wer entscheidet, welche natürliche Grenze an welchem Punkt die endgültige Grenze sein muss? Im Anschluss an Butler und Foucault scheint es hilfreicher, nach den Bedingungen zu fragen, unter denen diese Technologien entwickelt werden, sowie nach den Effekten, die deren Einsatz hervorbringen kann. 159
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zugleich eine Differenz markiert, die für individuelle Identität und Subjektivität konstitutiv ist. Auch kann aus der biologischen Fortpflanzung nicht auf ein so umfassendes und komplexes Gebilde wie die je historisch-spezifische Organisation der Sorge um nachwachsende Generationen geschlossen werden, die wiederum in gesellschaftliche Institutionen eingelassen ist. Dass Prokreation in menschlichen Gesellschaften eine wichtige Rolle spielt und deshalb Mechanismen und Regulation der biologischen Reproduktion stets Gegenstand von Kategorisierungen, Erzählungen und Mythen waren und sind, die in den meisten bekannten Gesellschaften offenbar zu – gleichwohl sehr unterschiedlichen – Vorstellungen von Männern und Frauen geführt haben, lässt nicht unbedingt auf eine universelle Notwendigkeit dieser beiden Kategorien schließen.7 Barbara Drinck (2005a) zeichnet anhand einer historischen Betrachtung des Zeugungsdiskurses nach, wie sich im abendländischen Denken Annahmen über die menschliche Fortpflanzung mit Annahmen über fundamentale Dualismen verknüpft haben. Dadurch lässt sich Butlers genealogischer Rückbezug der modernen abendländischen Geschlechterdifferenz auf die Verknüpfung von heterosexueller Matrix und Phallogozentrismus in der symbolischen Ordnung historisch konkretisieren. Drinck stellt einerseits fest, dass in der abendländischen symbolischen Ordnung seit der Antike die fundamentalen Dualismen (Ideenwelt/Sinnenwelt; Form/Stoff; aktiv/passiv) stets mit Vorstellungen von zwei Geschlechtern (Mann/Frau; männlich/weiblich; Vater/Mutter) verbunden waren. Andererseits zeigt sie, dass diese symbolische Verknüpfung im historischen Verlauf in unterschiedlichen epistemischen Ordnungen unterschiedliche Konnotationen haben kann. So verknüpfte beispielsweise Aristoteles den Geschlechterdualismus mit dem Dualismus von Stoff und Form; der Vater erschien dabei als der Formgeber, wäh7
Kritisch zu der Annahme von Geschlecht als universeller, notwendiger Kategorie äußert sich beispielsweise Oyĕwùmí (1997). Sie argumentiert, dass in der vorkolonialen Gesellschaft der Yoruba die Distinktion der Funktionen in der Fortpflanzung nicht mit einer Existenz von ›Mann‹ und ›Frau‹ als Kategorien, die auf Identitäten oder soziale Rollen verweisen, einherging. Zwar verweisen im Yoruba die Begriffe obìnrin und okùnrin auf die jeweilige Rolle des Körpers in der Fortpflanzung, im Unterschied zu männlich und weiblich seien damit jedoch keine Annahmen über soziale Stellung, Persönlichkeit oder Neigungen und Eignungen verbunden: »Thus the distinction between obìnrin and okùnrin is actually one of reproduction, not one of sexuality or gender, the emphasis being on the fact that the two categories play distinct roles in the reproductive process. This distinction does not extend beyond issues directly related to reproduction and does not overflow to other realms such as the farm or the oba’s (ruler’s) palace.« (Oyĕwùmí 1997: 36) Oyĕwùmí bezeichnet diese Unterscheidung daher als »a distinction without social difference« (ebd.).
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rend die Mutter nur die Ernährerin des Kindes sei. Thomas von Aquin übernahm diese Vorstellung und reicherte sie durch den Dualismus von aktiv (Mann, Formgeber) und passiv (Frau, Ernährerin) an. Dieses Verständnis von Elternschaft hielt sich im Wesentlichen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Erst in dieser Zeit verändert sich im Gefolge der Darwin’schen Evolutionstheorie die Deutung des Form-Stoff-Dualismus; nicht mehr die Form, sondern vielmehr der Stoff, das Materielle, erscheint nun als das Wesentliche, das in immer anderen Formen erscheinen kann. Die Frau bleibt zwar die Passive, wird zugleich aber als der authentische Elternteil aufgewertet; der Mann hingegen ist der Aktive, der jedoch »weniger biologisch als sozial mit seinem Kind verbunden zu sein scheint« (Drinck 2005a: 64). Mit Verweis auf Foucault lässt sich diese Genealogie weiter konkretisieren, indem über eine Analyse historischer Machtdispositive die je besondere Funktion der Bedeutungen erfasst wird. Hier kann ich diesen Zusammenhang nur andeuten: So lässt sich beispielsweise die Funktionalität der (vormodernen) Verknüpfung von Aktivität und (wesentlicher) Formgebung in der Begründung und Legitimierung einer patrilinearen Organisation der Abstammung erkennen, wobei die Dominanz der Form individuelle Dispositionen und Aufgaben als Ausdruck der gesellschaftlichen Stellung und Funktion des Subjekts erscheinen lässt. Die (moderne) Wende zur eher sozial gedeuteten Rolle des Vaters kann wiederum als Hinweis auf eine verstärkte Diskursivierung ›sozialer‹ Aspekte der Generativität gelten, die die Funktion haben, den Wert der Vaterschaft vor dem Hintergrund der neuen Bedeutung der Innerlichkeit oder des ›Stoffes‹ zu erhalten. Die Dominanz des ›Stoffes‹ lässt nun das innere ›Wesen‹ des Individuums zur Ursache seiner Dispositionen und Aufgaben werden; dieses ›Wesen‹ muss aber durch Verfahren der Disziplin (unter anderem eben durch die Erziehung des Kindes) eine angemessene Form erhalten. Der Fokus auf das Dispositiv der Prokreation kann auf diese Weise den Blick auf die spezifische gesellschaftlich-historische Verknüpfung der Funktion von Körpern in der Generativität mit einer sozial relevanten Kategorie Geschlecht schärfen: »Geschlechter sind verschieden und die Differenz fängt bei den Prokreationsleistungen an.« (Drinck 2005a: 64) Damit ist allerdings die im abendländischen Kontext vermeintlich evidente Kausalität unsicher: Nicht das Geschlecht bestimmt die Prokreationsleistung, vielmehr geht die Bestimmung der Geschlechtlichkeit aus jener hervor. Diese Prokreationsleistungen stehen zudem selbst zur Disposition, insofern sie historisierbar sind (was für Prokreation und Generativität notwendig ist, kann daher nicht durch Verweis auf Natur begründet werden). Die Kausalität von Prokreation und Geschlechterdifferenz erscheint so als historisch. Sie kann nur in der Rekonstruktion des je be161
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sonderen Generativitätsdispositivs als je besondere Kausalität bestimmt werden. Bevor ich im nächsten Abschnitt auf die historische Konstitution von Notwendigkeiten der Generativität näher eingehe, will ich hier zunächst die Problematik jener Naturalisierung der Fortpflanzung, die den ursächlichen Zusammenhang von Geschlecht und Prokreation als evident erscheinen lässt, noch etwas weiter ausführen und diskutieren, inwiefern die analytische Unterscheidung von Geschlecht, Sexualität und Fortpflanzung hilfreich ist, um deren jeweilige distinkte begriffliche Funktion herausarbeiten und damit zugleich ihren vermeintlichen inneren Zusammenhang sowohl nachvollziehen als auch dekonstruktiv destabilisieren zu können (vgl. auch Ott 1998). Moderne abendländische Subjekte sind nicht nur im Foucault’schen Sinn Begehrensmenschen, sondern zugleich im Rahmen der heterosexuellen Matrix binär-komplementär vergeschlechtlichte Begehrensmenschen. Butler differenziert zwischen sex, gender und desire. Erst im Lichte dieser analytischen Unterscheidung lässt sich ein historisch besonderes Dispositiv analysieren, in dem biologisch differenzierte Körper (sex) mit bestimmten individuellen Dispositionen (gender) sowie mit einer besonderen Ausrichtung des Begehrens (als im Sinne der Fortpflanzung normativ heterosexuell) verknüpft sind. Wie Butler argumentiert, stehen diese drei Elemente in einem gegenseitigen Verweisungszusammenhang: Gender scheint sich aus sex zu ergeben, zugleich wird die Binarität von sex erst durch die Zweiwertigkeit von gender plausibel; (sexuelles) Begehren erscheint als Folge des körperlichen Geschlechts, zugleich erschließt sich die binäre Formierung des Begehrens erst über die binäre Form von gender – und der Kreis der Verweisungen ließe sich weiter verfolgen. Der springende Punkt ist der, dass über die Entschlüsselung dieses Verweisungszusammenhangs ein gegenseitiges Konstitutionsverhältnis erkennbar wird und damit die historische Singularität der einzelnen Elemente (sex, gender, Begehren) nachvollzogen werden kann. ›Normale‹ Geschlechtskörper sind im Denken der abendländischen Moderne »vor allem Sexual-, Zeugungs-, Schwangerschafts-, Gebär- und Nahrungskörper« (Drinck 2005a: 65), die vor dem Hintergrund eines fundamentalen ›Prokreationsdualismus‹ wahrgenommen werden. Körper und sexuelle Praktiken, die nicht diesem Dualismus entsprechen, erscheinen als Ausnahme, Abweichung, Anomalie oder Pathologie.8 Seine historische Funktion erhält dieser Zusammenhang im Rahmen der Bio-Macht 8
Diese Abweichung kann als verworfene Unmöglichkeit oder im Rahmen der Normalisierung als Devianz in einem Kontinuum der Normalität erscheinen; beides verbleibt aber im biowissenschaftlichen Referenzrahmen eines natürlichen, heteronormativen Fortpflanzungstriebs.
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als Verknüpfung der individuellen Körper mit dem Leben der Bevölkerung. Die Disziplinierung der Körper erfolgt in binär vergeschlechtlichten Formen, die diesen Körpern im Hinblick auf die Regulierung des Lebens bestimmte Rollen zuweisen. Diese Rollenzuweisung bezieht sich nicht nur auf die heterosexuelle Organisation der biologischen Fortpflanzung, sondern vielmehr auf die gesamte Konfiguration des Dispositivs der Generativität – so sind auch die über Zeugung, Austragung und Gebären hinausgehenden Praktiken der Sorge für nachwachsende Generationen heteronormativ vergeschlechtlicht; Männern und Frauen werden dabei unterschiedliche Affekte, Fähigkeiten, Bedürfnisse zugeschrieben, aus denen sich dann gewissermaßen naturwüchsig unterschiedliche Zuständigkeiten und Aufgabenbereiche ergeben. Generativität erscheint mit der Durchsetzung der Bio-Macht als biopolitisch zu regulierendes Problem, das durch den funktionalen Imperativ der Optimierung des Menschen präfiguriert ist. Dabei geht es zum einen um die Quantität der Nachkommen, zum anderen aber auch um deren Qualität, also deren Heranwachsen zu vernünftigen, nützlichen Gesellschaftsmitgliedern;9 von Bedeutung ist dabei einerseits der Komplex der Erziehung im weitesten Sinne, andererseits aber auch die Frage der Gesundheit. Generativität erscheint so als ein spezifisches Gebilde, das durch unterschiedliche Diskursstränge, Institutionen und Praktiken konstituiert ist: Medikalisierung der Fortpflanzung, Pädagogisierung des Umgangs mit jungen Menschen, sozialpolitische Regulierung durch Gesundheits-, Familien- und Bildungspolitik und auf Seiten der Individuen entsprechende Praktiken des verantwortungsvollen Umgangs durch vernünftige Partnerwahl, Familienplanung (Zeitpunkt, Anzahl, Abstand der Geburten), Sorge um die richtige Erziehung und Förderung der Kinder. Der mit Foucault erkennbare Clou ist, dass dabei nicht lediglich reine Notwendigkeiten (Fortpflanzung, Versorgung, Erziehung) in besonderer 9
Diese beiden Aspekte (Quantität und Qualität) können in sehr unterschiedlicher Gewichtung wirksam werden. So lässt sich zeigen, dass es in bevölkerungspolitischen Programmen, die sich an Frauen in den Ländern des Südens richten, vor allem um die Quantität geht (um die Eingrenzung einer vermeintlichen ›Bevölkerungsexplosion‹); hier interferieren rassistische Verhältnisse und Bevölkerungspolitik (Schultz 2006). In den reichen Industrieländern finden sich hingegen eher Bestrebungen, die Qualität der geborenen Kinder zu beeinflussen, wobei es im Zuge der Debatten um die ›Überalterung‹ durchaus – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen – auch um die Quantität gehen kann (Waldschmidt 2003a). Susanne Schultz verweist darauf, dass die in den Industrieländern zunehmend gängige Praxis vorgeburtlicher Diagnostik nicht zu der Annahme verleiten sollte, die Sorge um die ›Qualität des Babys‹ sei die generelle Erscheinung biopolitischer Regulierung, vielmehr sei ein komplexes Nebeneinander verschiedener Strategien und Verfahren zu verzeichnen (Schultz 2006: 322). 163
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Weise miteinander kombiniert werden, vielmehr werden diese Notwendigkeiten in ihrer historischen Form erst hervorgebracht und konstituieren damit ein besonderes Dispositiv der Generativität. So zeichnet sich diese spezifische Anordnung in der abendländischen Moderne beispielsweise dadurch aus, dass sexuelles Begehren in seiner normalisierten Form als Liebe Ausdruck findet. Elternschaft und Verwandtschaft sind in der Form der Familie heterosexuell strukturiert; Verwandtschaftsbeziehungen, vor allem aber die Beziehungen von Eltern und Kindern werden als Liebesbeziehungen erfahren (oder als solche idealisiert). Gesundheit und sozialer Erfolg der Nachkommen werden zu einer Frage der Verantwortung, die in entscheidendem Maße auch der liebenden Fürsorge der Eltern zugeschrieben wird. Die Chancen der Kinder auf ein gelungenes Leben scheinen vor allem durch die individualisierende Sorge um Gesundheit und Bildung gewährleistet, für die zunächst in erster Linie die Eltern zuständig sind. Diese dispositive Anordnung bedingt eine spezifische Form der Subjektivität, deren historische Genese ich im Folgenden unter dem Gesichtspunkt einer besonderen Verknüpfung von Biologie, sexuellem Begehren und bestimmten individuellen Fähigkeiten und Neigungen (als Eigenschaften des Individuums) darstelle.
5.2 Historische Verknüpfung von Geschlecht und Begehren In der feministischen Debatte wird bereits seit Längerem die These vertreten, dass mit der abendländischen Moderne zugleich eine neue, historisch singuläre Ordnung der Geschlechter entstanden sei.10 So konstatiert beispielsweise Karin Hausen (1976) insofern eine neue Qualität, als Geschlecht nicht mehr wie im Feudalismus eine Standesdefinition ist, sondern vielmehr zur Eigenschaft einer Person wird. Inzwischen liegen zahlreiche Untersuchungen vor, in denen – teilweise direkt im Anschluss an Foucault – die Prozesse nachvollzogen werden, durch die Geschlecht mit der Entstehung der abendländischen Moderne zu einem physischen und psychischen Merkmal des Subjekts geworden ist (zum 10 In ihrer Untersuchung zur Entstehung der modernen abendländischen Geschlechterordnung vertritt Claudia Honegger die These, dass mit der Entstehung der Moderne ein »Transformationsprozess der Geschlechterkodierungen« (Honegger 1991: 4) verbunden gewesen sei. In diesem Prozess wurden bestehende Vorstellungen über Männer und Frauen transformiert und erhielten die Geschlechtskategorien im Rahmen eines neuen gesellschaftlichen Kontextes eine qualitativ veränderte Bedeutung. 164
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Beispiel: Honegger 1991; Laqueur 1992; Schiebinger 1993). Das moderne Verständnis von Geschlecht zeichnet sich durch Vereindeutigung und Biologisierung dieser Kategorie aus. Mit der Etablierung einer »one-body-one-sex rule« (Dreger 1998: 197) wird die Geschlechterdifferenz in die Körper eingeschrieben und werden zwei eindeutige und exklusive Geschlechtskörper hervorgebracht. Von diesen eindeutig vergeschlechtlichten Körpern wird auf ein inneres Wesen, eine Substanz geschlossen; sie konstituiert die Basis der Geschlechtsidentität. Der Prokreationsdualismus lagert sich in die Subjekte ein, in ihre Sexualität, ihr Begehren, ihre Wünsche, ihre Neigungen und so weiter. In Verfahren der Disziplinierung üben sich die Subjekte in den entsprechenden Fähigkeiten und Qualitäten zur Formung und Perfektionierung ihrer vermeintlichen inneren Bestimmung.11 Eine entscheidende Rolle in den Prozessen der Vereindeutigung und Vereigenschaftlichung spielen die Wissenschaften als moderne Instanzen der Welterklärung.12 Die im 18./19. Jahrhundert auftauchende »Sonderanthropologie des Weibes« (Honegger 1991) zeugt von einem historischen Macht-Wissen, durch das gesellschaftliche Differenzen und Ungleichheiten biologisch begründet und legitimiert werden. Das sich etablierende Wissen
11 Im Zusammenhang mit der Geschlechterdifferenz wird dies konventionell als ›geschlechtsspezifische Sozialisation‹ diskutiert; kritisch dazu beispielsweise Hagemann-White 1984. Die Skizze einer Foucault’schen Reformulierung der Problematik der ›Sozialisation‹ als ›Übung‹ findet sich hier in Kapitel 4.3. 12 Etwa Mitte des 18. Jahrhunderts etablierte sich die vergleichende Anatomie als wichtige Instanz der Erklärung der Geschlechterdifferenz; die bis dahin metaphysisch begründete Ordnung der Geschlechter wurde durch naturwissenschaftliche Begründungen abgelöst (vgl. Schiebinger 1993). Foucault spricht von einer sich im 18. Jahrhundert ausbreitenden »Anatomie-Politik des menschlichen Körpers« (Foucault 1999: 280). Diese Suche nach der Substanz der Differenz wird auch heute betrieben, wenn auch auf anderen Feldern (Genetik, Hirnforschung). Sie war niemals unumstritten, allerdings konnten sich Positionen, die die vermeintliche Eindeutigkeit der Erkenntnisse über die Differenz grundsätzlich in Frage stellen, (bisher) nicht durchsetzen (z.B. Schiebinger 1993; Fausto-Sterling 2000; Hanke 2007). Die schier unermüdliche Wissensproduktion über Kategorien menschlicher Differenz kann als Effekt einer Art ontologischen Vakuums interpretiert werden, das dadurch entsteht, dass jeder Versuch, die als gegeben und an den Körpern ablesbar vorausgesetzten Differenzen in Kategorien zu fixieren, angesichts der Vielfältigkeit der Abweichungen doch wieder zu einem ›Ausfransen‹ der Kategorien führt und eben gerade aufgrund des Beharrens auf der vermeintlichen Evidenz der Differenzen zu immer weiteren Bemühungen führt, diese dingfest zu machen (vgl. Hanke 2007). 165
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»über den Menschen und sein Weib inthronisierte in der Aufklärungszeit die Differenz zwischen den Geschlechtern, die auf einer zur idealen Komplementarität aufgewerteten Herabwürdigung, und zwar einer physiologischen Herabwürdigung des weiblichen Organismus beruht. Damit erst wird ›sexuelle Differenz‹ im modernen Sinne zum alles erklärenden und alles legitimierenden Grundstock von Wissenschaft und Kultur. Damit auch erst wird der Körper in moderner Weise zum ›Analogien-Operator‹ (Pierre Bourdieu), der unsere Identität, vor allem unsere geschlechtliche Identität, zu regulieren sich anheischig macht.« (Honegger 1990: 245)
Der Körper wird also in besonderer Weise als ›Ort‹ der Differenz konstituiert. Erklärungen für Unterschiede und vor allem auch für soziale Ungleichheiten zwischen Menschen werden als Ausdruck des inneren Wesens am Körper abgelesen.13 Mit dieser historischen Verknüpfung ist unter anderem eine Wende zur biologistischen Sicht auf ›Mütterlichkeit‹ verbunden, die es zu einer wesentlichen Qualität der Frau werden lässt, eine leiblich-emotionale Bindung zu ihren Kindern zu haben; die Praktiken der ›mütterlichen‹ Fürsorge erscheinen damit als Ausdruck des weiblichen Begehrens; der Mann hingegen übernimmt eher sozial-vorsorgende Aufgaben gegenüber seinen Kindern.14 Die Geschlechter erhalten im Rahmen der modernen Kleinfamilie mit ihrer besonderen Privatheit und Getrenntheit von der Sphäre des Erwerbs je spezifische Rollen und Funktionen, die als Ausdruck ihrer inneren Bestimmung er13 Das heißt wiederum nicht, dass Menschen in vormodernen Zeiten keine körperlichen Differenzen wahrgenommen haben, allerdings haben sich Bedeutung und Eindeutigkeit der Wahrnehmung dieser Differenzen verändert. Thomas Laqueur beispielsweise argumentiert in seinen Untersuchungen, dass in Europa bis ins 19. Jahrhundert die Vorstellung herrschte, es gebe nur ein einziges Geschlecht. Weibliche und männliche Sexualorgane wurden als homolog betrachtet – die einen waren im Inneren des Körpers, während die anderen nach außen gestülpt waren. Die körperlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen wurden daher nicht als wesentlich betrachtet, sondern als unterschiedliche Ausprägungen des einen Geschlechts – allerdings galt die Frau als weniger vollkommene Ausprägung (Laqueur 1992). 14 Inwiefern diesen Rollen von Mutter und Vater ontologisch reale Figuren entsprachen/entsprechen oder ob es sich vielmehr um diskursiv umkämpfte Bilder oder Ideale handelt, kann hier nicht weiter erörtert werden. Drinck (2005b) beispielsweise diskutiert diese Frage in ihrer Untersuchung zu ›Vatertheorien‹. Sie skizziert darin unter anderem anhand einer Analyse pädagogischer Handbücher aus dem 18. und 19. Jahrhundert die historische Entwicklung des diskursiven Ideals des Vaters, der als Hausvater, Erzieher, Lehrer, Beschützer seiner Kinder seine Vaterliebe zum Ausdruck bringt, hin zu einem Modell, bei dem (frühkindliche) Erziehung gewissermaßen als Teil des Fortpflanzungsprozesses erscheint, in dem die Mutter ihren ›Stoff‹ an Geist und Liebe an das Kind weitergibt. 166
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scheinen und die Zerrissenheit der Verhältnisse in Erwerbsleben und Privatleben harmonisieren (Hausen 1976).15 Als eine Besonderheit des modernen abendländischen Generativitätsdispositivs kann also die Verknüpfung einer biologisierten körperlichen Differenz (sex) mit bestimmten Fähigkeiten und Eigenschaften (gender) und einer bestimmten Begehrensstruktur (desire) ausgemacht werden. Diese spezifische Vereindeutigung und Vereigenschaftlichung der Geschlechterdifferenz ist historisch durch die Verknüpfung von heterosexueller Matrix und Sexualitätsdispositiv zu erklären, bei der Fortpflanzung, Sexualität, individuelle Dispositionen und Identität konstitutiv miteinander verwoben sind. Es ergibt sich eine Art reflexiver Verweisungszusammenhang, der veranschaulicht, dass Dispositive als Phänomene zu begreifen sind, die mehr sind als die Summe ihrer Elemente und die zugleich den konstitutiven Rahmen dieser Elemente darstellen. Paula-Irene Villa skizziert diesen Zusammenhang folgendermaßen: »Frauen bekommen Kinder, dafür brauchen sie Männer. Und weil dies so ist, lieben Frauen Männer und sind von Natur aus zur heterosexuellen Sexualität bestimmt. Diese Sexualität bedeutet Penetration, weil ja sonst keine Kinder zu zeugen sind. Männern geht es darum, Nachkommen zu haben. So ergänzen sich beide Geschlechter in ihrer polaren Opposition.« (Villa 2000: 145)
Nur im Rahmen des dispositiven Feldes der Fortpflanzung erhalten die einzelnen Momente – ›Geschlecht‹, ›Sexualität‹, ›Natur‹, ›sexuelle Praktiken‹ – ihre jeweils aufeinander verweisenden Bedeutungen. Und nur im Verweisungszusammenhang dieser Momente entsteht das Dispositiv einer biologisch-heteronormativ vergeschlechtlichten Prokreation. In Bezug auf die Subjektkonstitution lässt sich ein Effekt der historischen Verknüpfung von Bio-Macht und heteronormativ-phallogozentrischer symbolischer Ordnung insofern konstatieren, als die heterosexuelle Matrix nicht mehr in erster Linie die formalen Regeln legitimer Familiengründung und juridische Abstammungsregelungen vorgibt, sondern nun vor allem als Normalitätsanforderung für jedes einzelne Individuum relevant wird. Mit Foucault kann dies im Rahmen einer historischen Verlagerung interpretiert werden, bei der sich das Sexualitätsdispositiv über das Allianzdispositiv der feudalen Gesellschaft schiebt. Unter Allianzdispositiv versteht Foucault ein »System des Heiratens, der Festlegung und Entwicklung der Verwandtschaften, der Übermittlung der Namen und der Güter« (Foucault 1983: 128), das die Reproduktion 15 Oyĕwùmí (2002) weist darauf hin, dass die moderne abendländische Konzeption von Weiblichkeit nicht ohne Bezug auf die spezifische Form der modernen Kleinfamilie erklärbar ist. 167
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sowohl der Individuen als auch der gesellschaftlichen Verhältnisse sicherstellte. Dieses Dispositiv war im Wesentlichen über Gesetze geregelt, die »das Erlaubte und das Verbotene, das Vorgeschriebene und das Ungehörige« (Foucault 1983: 128) definierten, und zielte auf die Reproduktion relativ statischer Verhältnisse. Demgegenüber operiert das Sexualitätsdispositiv über flexible und polymorphe Machttechniken und kann die Komplexität moderner Gesellschaften verarbeiten; es »hat seine Daseinsberechtigung […] darin, daß es die Körper immer detaillierter vermehrt, erneuert, zusammenschließt, erfindet, durchdringt und daß es die Bevölkerungen immer globaler kontrolliert« (Foucault 1983: 129). Die Überlagerung des Allianz- durch das Sexualitätsdispositiv kann als ein Ausdruck der entstehenden Bio-Macht gesehen werden. In diesem Zusammenhang konstituiert sich die Problematik der Generativität nicht in erster Linie als ein Komplex von Vernunft, Wirtschaftlichkeit, Gesetzen und standesgemäßem Verhalten, sondern vielmehr als ein Phänomen, in dem sich vor allem Begehren, Sexualität, Liebe und Gefühle ausdrücken.16 Auf diese Veränderung des Referenzrahmens, in dem menschliche Generativität verhandelt wird, verweist auch Cornelia Klinger, wenn sie schreibt, dass die Familie in der abendländischen Moderne einen Bestimmungs- und Funktionswandel erfährt, der in gewisser Weise als »Biologisierung der Definition von Familie« (Klinger 2000: 32) aufgefasst werden kann: Statt der vormodernen Wirtschaftsgemeinschaft, die auch Gesinde und Dienerschaft umfasste, ist sie nun eine durch Blutsverwandtschaft gekennzeichnete und auf Liebe beruhende 16 Diese Überlagerung des Allianz- durch das Sexualitätsdispositiv vollzog sich in konflikthaften Verhandlungen auf allen gesellschaftlichen Feldern. Judith Coffey geht diesen Verhandlungen auf dem Feld der Literatur nach: Anhand des viktorianischen realistischen Romans zeigt sie, welch ein ›Aufwand‹ damit verbunden war, diese neue dispositive Verknüpfung von heteronormativer Matrix und Sexualitätsdispositiv als selbstverständlich und wünschenswert zu etablieren: »Das, was wir heute als heteronormative Vorstellungen von Geschlecht, Sexualität, Begehren und Liebe verstehen, ist zu einem großen Teil Ergebnis der Verschiebungen, die im 19. Jahrhundert unter anderem im Spielfeld Literatur erprobt und denkbar gemacht wurden. Die Spuren dieser Verhandlungen sind allerdings weitgehend unsichtbar geworden, indem die durch das Sexualitätsdispositiv geschaffene Verknüpfung von Begehren und Liebe in Liebesgeschichten immer wieder als natürlich dargestellt und bestätigt wird. So können viktorianische Romane heute leicht wie Bollwerke der Heteronormativität erscheinen, doch es lohnt sich zu bedenken, dass sie daran beteiligt waren, Heteronormativität (wie wir sie heute kennen) überhaupt erst hervorzubringen, und dass sie damit, im Kontext ihrer Entstehungszeit gesehen, nicht unbedingt als konservativ im Sinn von ›die bestehende hegemoniale Ordnung verteidigend‹ eingestuft werden können.« (Coffey 2008: 3f) 168
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Verbindung, deren Aufgabe vor allem in der individuellen Reproduktion besteht. Die Kleinfamilie, zur normalen Lebensform verallgemeinert, wird als Ort der unmittelbaren, persönlichen Beziehungen aufgeladen. Sie übernimmt wichtige Funktionen der individuellen körperlichen, aber auch geistig-emotionalen Reproduktion – sowohl der Erwachsenen als auch der nachfolgenden Generation. Am Beispiel der Versorgung von Kindern zeigt sich, dass diese Funktionen selbst durch das neue Dispositiv der Generativität konfiguriert sind: Mit der Entstehung der abendländischen Moderne setzte sich die Vorstellung einer deutlich vom Erwachsenendasein zu unterscheidenden Kindheit als Lebensphase durch, in der junge Menschen besonderer Pflege und vor allem pädagogischer oder erzieherischer und emotionaler Zuwendung bedürfen; ein wichtiger Aspekt der funktionalen Spezialisierung der Familie sind also die auf diese besonderen Sozialisationsaufgaben gerichteten Praktiken. Sozialisation erscheint als funktionaler Imperativ der Familie, zugleich werden mit dieser Lebensform entstandene Vorstellungen über menschliches Zusammenleben zu einem zentralen Inhalt der Sozialisation. Durch die Analysen Foucaults kann die Transformation der Geschlechterordnung im Übergang zur abendländischen Moderne in eine umfassende Veränderung der Machtverhältnisse eingebettet werden. Dadurch lässt sich erklären, dass nicht lediglich die gesellschaftliche Stellung von ›Männern‹ und ›Frauen‹ in neuer Weise definiert und relationiert wird. Vielmehr entstehen neue Subjektformen, neue Bedeutungen dessen, was es heißt, ›Mann‹ oder ›Frau‹ zu sein. Im Anschluss an Foucaults Analysen der Bio-Macht ist diese individualisierende Zurichtung im Zusammenhang mit bevölkerungspolitischen Verfahren zu betrachten. Mit der biologischen Vereindeutigung erhält die heterosexuelle Matrix ein neues, in den Individuen verankertes Fundament, auf das wiederum generalisierende statistische Erhebungen zum Zwecke der Bestimmung von bevölkerungspolitischen Problemen bauen können. Das Sexualitätsdispositiv mit seinen objektivierenden und subjektivierenden Effekten nimmt in der biologisierenden Konstruktion und Abwertung des Weiblichen und damit in der Legitimation gesellschaftlicher Differenzen und Hierarchien eine wichtige Rolle ein. Die Definition der Geschlechterdifferenz, die Bestimmung der Grenzen zwischen Männern und Frauen ist ein wichtiger Einsatz im Komplex der Bio-Macht, durch den die Individuen zu Subjekten werden, die der Funktionsweise der Gesellschaft angemessen sind. Ähnlich wie ›Rasse‹ wird auch ›Geschlecht‹ zu einem ›natürlichen‹ Merkmal, das über die Positionierung der Individuen im gesellschaftlichen Gefüge bestimmt. Dieser Einsatz lässt sich aber nicht nur als die Einfügung von Subjekten in eine beste-
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hende Ordnung bestimmen, vielmehr wird die spezifische Gestalt dieser Ordnung selbst durch die naturalisierten Differenzierungen konstituiert. Mit Foucault und Butler lässt sich die Problematik der Generativität im Sinne der ›biologisch-natürlichen Bestandsicherung‹ als spezifische Problematisierung in ihrer historischen Einzigartigkeit fassen und dadurch von naturalistischen und substanzlogischen Annahmen befreien. Statt von Annahmen über die sozialkonstitutive Bedeutung eines fundamentalen Prokreationsdualismus auszugehen, können archäologisch und genealogisch die Kämpfe um ontologische Grenzziehungen betrachtet werden. Während auf diese Weise die Frage nach einer eigentlichen Wahrheit der Geschlechterdifferenz zurückgewiesen wird, wird die konkrete historische Tatsache dieser Unterscheidung sowie deren Bedeutung für die Konstitution gesellschaftlicher Phänomene betont. Der Erkenntnisgewinn einer archäologisch-genealogischen Perspektive, die die Frage nach dem eigentlichen Grund der Differenz verwirft, sie also nicht als gegebene Tatsache menschlicher Existenz nimmt, sondern vielmehr nach ihren historischen Konstitutionsbedingungen fragt, liegt wesentlich in einer theoretischen und analytischen Offenheit für vergangene und aktuelle Verschiebungen in der Bedeutung der Geschlechterdifferenz. Sie wird dadurch zu einem wichtigen Einsatz einer emanzipatorischen Perspektive, die es erlaubt, im Sinne einer positiven Erweiterung menschlicher Lebensmöglichkeiten den hegemonialen politischepistemologischen Referenzrahmen der Problematisierung gesellschaftlicher Fragen auf seine (begrenzenden und ausschließenden) Effekte zu befragen, und dadurch andere Möglichkeiten gesellschaftlicher Organisation denkbar macht. Die besondere Definition von Problemen im Rahmen der spezifischen dispositiven Konfiguration der Generativität lässt sich in vielen verschiedenen Hinsichten erkennen. So sind beispielsweise weite Teile der Debatten um ›Vereinbarkeit‹ oder ›work-life-balance‹ davon geprägt, dass der Kern der Problematik in der Vereinbarung von zwei, in ihrer Gegensätzlichkeit notwendigen Bereichen (Beruf und Familie) gesehen wird – und dass dies wiederum vor allem ein Problem von Frauen (oder vielleicht inzwischen zunehmend von Müttern) ist. Auch Diskussionen um die rechtliche Regelung von Elternschaft, Sorge- und Adoptionsrecht sind unverkennbar heteronormativ strukturiert und individuelle Lebensentwürfe sind (zumindest rechtlich-formal) nur in diesem Rahmen realisierbar. Sogar die Lebbarkeit der individuellen Körperlichkeit ist, wie sich an den Problematisierungen von ›Intersexualität‹ und ›Transsexualität‹ nachvollziehen lässt, durch den Prokreationsdualismus konfiguriert: Als Lösung für das Problem der geschlechtlichen Uneindeutigkeit von Körpern scheinen sich medikamentöse oder operative 170
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Vereindeutigungen aufzudrängen; maßgeblich ist – zumindest in Deutschland – dabei auch die Wahrung einer Kongruenz von ›Geschlecht‹ und prokreativen Potenzialen.17 Mit den dispositiv konfigurierten Problemdefinitionen sind, wie sich an diesem letzten Beispiel andeutet, auch die Lösungen in bestimmter Weise konfiguriert. Auch (kritische) Auseinandersetzungen um angemessene Lösungen bleiben diesem Dispositiv insofern verhaftet, als sie die in diesem Rahmen vorgegebene Problemdefinition akzeptieren. Diese Verstricktheit von Subjekten in die Verhältnisse, zu denen sie sich verhalten, thematisiert Butler beispielsweise an den Debatten um gesetzlich verankerte Formen gleichgeschlechtlicher Partnerschaft (Butler 2004a). Indem die Forderung nach Anerkennung homosexueller Partnerschaften im Feld der gesellschaftlichen Normalisierung als Anerkennung von dauerhaften Zweierbeziehungen formuliert wird, wird die Macht der Heteronormativität herausgefordert und werden zugleich deren Geschäftsbedingungen (Partnerschaft als – monogame – Zweierbeziehung) gewissermaßen akzeptiert. Hier zeigt sich die gesellschaftskritische Stoßrichtung, die sich mit Butler und Foucault formulieren lässt: Es geht darum, ontologische Gewissheiten über Probleme und deren Lösungen zu erschüttern und damit an deren Grenzen andere, bisher undenkbare Lösungen zu suchen. Butler konkretisiert diese Überlegungen vor allem im Hinblick auf die heteronormative Form der sozialen Intelligibilität von Körpern sowie die heteronormative Konfiguration von Verwandtschaftsverhältnissen (Butler 2001b; Butler 2004a). Begründen kann sie die Bedeutung ihrer kritischen Perspektive durch die Ausschlüsse, die von diesen Formen hervorgebracht werden, sowie die mit diesen verbundene (teilweise gewaltsame) Disziplinierung von Abweichungen, die von Subjekten als schmerzhafte Begrenzung ihres Seins erlebt wird. Indem sie beispielsweise »den sozial kontingenten Charakter der Verwandtschaft ans Licht bringt« (Butler 2001b: 20), macht sie Möglichkeitsräume denkbar, in denen die Subjekte ihr Leben jenseits der gegebenen Formen in Foucaults Sinne als ›Kunstwerk‹ gestalten könnten. Die archäologisch-genealogische Entschlüsselung gesellschaftlicher Phänomene als historische Dispositive ist damit eine wichtige (gewissermaßen ›strukturtheoretische‹) Aufgabe emanzipatorischer Wissen17 So regelt das deutsche ›Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz)‹ in § 8, dass eine gerichtliche Feststellung der Geschlechtsänderung – und damit die Möglichkeit einer Personenstandsänderung – unter anderem voraussetzt, dass die betreffende Person dauerhaft fortpflanzungsunfähig ist. 171
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schaft. Sie erweitert das Feld der verhandelbaren Möglichkeiten. Wirkliche Veränderungen sind allerdings nur durch die praktisch tätigen Subjekte umsetzbar – und welche Möglichkeiten wirklich werden (sollen), ist eine Frage, die nicht wissenschaftlich geklärt werden kann.18 Dass dies auch keine Frage ist, die autoritär von oben entschieden und verordnet werden sollte, ist eine grundlegende Prämisse (nicht nur) feministischer Gesellschaftskritik, die in der Forderung nach individueller Selbstbestimmung einen zentralen emanzipatorischen Ausdruck findet. Wie Foucaults Machtanalysen deutlich machen, funktionieren die Strategien der Bio-Macht im Rahmen einer gouvernementalen Rationalität gerade über die individuelle Selbstbestimmung. Eine kritische Gesellschaftsanalyse steht also vor dem Widerspruch, dass in modernen abendländischen Machtverhältnissen das Streben nach Autonomie und Selbstbestimmtheit ein wichtiges Ziel und Motiv der handelnden Subjekte ist – und damit auch die Grundlage emanzipatorischer Bestrebungen –, dass zugleich aber Selbstbestimmung fester Bestandteil der Funktionsweise der gesellschaftlichen Machtverhältnisse ist, gegen die sich emanzipatorische Bestrebungen richten. An der Diskussion um prokreative Selbstbestimmung skizziere ich im folgenden Abschnitt diesen widersprüchlichen Zusammenhang: Die Subjekte sind aufgefordert, ihre autonomen Lebensvorstellungen vor dem Hintergrund von bestimmten Bedingungen eigenverantwortlich zu gestalten; sie sind frei und zugleich verpflichtet, Entscheidungen zu treffen, wobei ihnen allerdings eine bestimmte Konfiguration der Rationalität vorgegeben ist. Diese Rationalität wird durch einen ontologischen Rahmen präfiguriert, der durch die Dualismen von Natur/Kultur, Anlage/Umwelt, Gesundheit/Krankheit, Norm/Devianz und dergleichen aufgespannt wird und damit die Entscheidungsräume strukturiert sind.
18 Auf die Frage, warum sie mit ihren theoretischen Überlegungen Möglichkeitsräume aufzeigen, nicht jedoch konkrete Handlungsanweisungen geben will, antwortet Butler: »I actually believe that politics has a character of contingency and context to it that cannot be predicted at the level of theory. […] I do think that political decisions are made in that lived moment and they can’t be predicted from the level of theory – they can be sketched, they can be schematized, they can be prepared for, but I suppose I’m with Foucault on this.« (Butler 1999b: 166f) 172
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5.3 Biopolitische Regulierung als individuelle Selbstbestimmung Um diesen Widerspruch von Selbstbestimmung als emanzipatorischem Motiv und zugleich reproduktivem Moment gesellschaftlicher Machtverhältnisse näher zu bestimmen, ist es hilfreich, zunächst das Konzept der Selbstbestimmung auf seine gesellschaftlich-historischen Besonderheiten hin zu betrachten. Anne Waldschmidt zufolge ist die (abendländische) philosophische Debatte über Autonomie vor allem von der Annahme Kants geprägt, dass »der Mensch als Mensch zur Selbstbestimmung fähig ist, da er über praktische Vernunft verfügt« (Waldschmidt 2003b: 15). Hier wird also eine allgemein menschliche Disposition zu rationalem Handeln postuliert, die auf dem Vermögen beruht, das Handeln »unabhängig von Bedürfnissen, Emotionen und Motivationen, kurz, unabhängig von der ›Sinnenwelt‹ auszurichten« (ebd.). Gerade Foucaults Arbeiten zu modernen und spätmodernen Selbsttechnologien im Rahmen gouvernementaler Rationalität machen aber deutlich, dass diese Annahme einer vermeintlich universalen Kopplung von individueller Autonomie und menschlicher Handlungsfähigkeit durch spezifische historische Bedingungen hervorgebracht wird. Diese historische Betrachtung eröffnet die Möglichkeit, auch gewisse unerwünschte ›Nebeneffekte‹ von politischen Forderungen nach Selbstbestimmung klarer auszuloten: Die Aufforderung zur Selbstbestimmung erweist sich immer wieder (auch) als eine spezifische Machtstrategie, in der individuelle Autonomie durch die Akzeptanz äußerer (›natürlicher‹ oder ›sachlicher‹) Bedingungen konfiguriert ist. Zudem wird diese Autonomie über die Abwertung und Exklusion Anderer abgesichert, denn wenn das Subjekt als autonom erscheinen soll, darf die konstitutive Abhängigkeit von Anderen nicht als solche erkennbar sein. Macht, so schreibt Foucault, ist die soziale Fähigkeit des Subjekts, auf das Handeln anderer einzuwirken. Macht ist nicht als Besitz bestimmter Subjekte zu verstehen, aber es lassen sich dennoch Ungleichheiten in den Machtverhältnissen ausmachen; Handlungsfähigkeit, so fasst Butler diesen Zusammenhang, ist immer ein politisches Vorrecht. Die Einwirkung auf das Handeln anderer kann nun im Bezug auf die besondere Macht-Wissen-Ordnung der Bio-Macht zum einen als ontologische Definitionsmacht über Probleme und deren Lösung näher bestimmt werden; diese ontologische Autorität konstituiert sich in den historischen Spielen der Wahrheit und deren dispositiven Bedingungen. Zum anderen ist das Privileg der Handlungsfähigkeit durch den individuellen ontologischen Status der Subjekte im Feld der Normalität bestimmt; mit Foucault lässt sich argumentieren,
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dass dieser Status beständig seitens der Subjekte selbst durch die Abgrenzung gegenüber devianten Seinsweisen abgesichert werden muss. Das Dispositiv der Prokreation stellt ein wichtiges Feld dar, auf dem Frauen in modernen abendländischen Gesellschaften für ein Recht auf Selbstbestimmung kämpfen – für das Recht, selbst zu entscheiden, ob, wann und unter welchen Umständen sie ein Kind bekommen. Dieses Selbstbestimmungsrecht wird allerdings spätestens seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts auch kritisch diskutiert, da sich die Entscheidung für ein Kind mit der zunehmenden Durchsetzung von Verfahren pränataler Diagnostik um den Aspekt der Entscheidung gegen bestimmte Kinder anreichert. Zugleich zeigt sich dabei die Tendenz, dass Frauen, wie Silja Samerski formuliert, »sich selbstbestimmte Entscheidungen nicht mehr mühsam erkämpfen (müssen), sondern sie werden ihnen förmlich aufgedrückt« (Samerski 2003: 213). Offenbar geht das Recht auf Selbstbestimmung mit einer Pflicht zur Selbstbestimmung einher: Frauen müssen entscheiden, ob sie ein bestimmtes Kind zur Welt bringen wollen. Ein wichtiges Kriterium dieser Entscheidung bildet die Abschätzung der Lebensqualität (der eigenen sowie der des Kindes); diese ist eng mit dem Konzept der Selbstbestimmung als Autonomie verbunden. Die Problematik der prokreativen Selbstbestimmung erweist sich also als vielschichtig, in ihr überkreuzt sich die individuelle Selbstsorge der Frau mit ihrer fürsorgenden Verantwortung für das Kind. Die Frau muss unter anderem entscheiden, ob sie die Verantwortung der Fürsorge für das Kind übernehmen kann, ob sie dessen Selbstbestimmung gewährleisten kann, ohne ihr eigenes Recht auf Selbstbestimmung zu beeinträchtigen. Eine wichtige Grundlage dieser besonderen Entscheidungssituation stellen die zunehmend verfeinerten und in ihrem Einsatz stets ausgeweiteten Verfahren der Pränataldiagnostik dar. Diese werden in der Regel als medizinisch-technische Absicherung des Wunsches nach einem ›gesunden‹ Kind verstanden und legitimiert. An diesem Beispiel lässt sich nachvollziehen, wie die liebende Fürsorge der Mutter beziehungsweise der Eltern in einen bestimmten Entscheidungsrahmen, eine bestimmte Rationalität eingespannt ist, die ihr/ihnen die Parameter der Entscheidungen vorgeben. Vor dem Hintergrund der Biologisierung des Lebens im modernen Abendland erscheint die natürliche Disposition der Individuen als entscheidende Bedingung für ein gutes und sinnvolles Leben. Sinnvoll ist ein Leben in diesem Kontext, wenn das Subjekt für sich selbst sorgen kann und insofern autonom ist. Zwar gilt auch der liberale Grundsatz der materiellen Chancengleichheit, letztlich scheint aber der Erfolg vor allem in den auf individuellen Fähigkeiten beruhenden Leistungen begründet. Diese Fähigkeiten möglichst optimal zu för174
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dern, stellt daher eine wichtige fürsorgerische Aufgabe der Eltern dar und erscheint als Pflicht, die ihnen die Liebe zu ihrem Kind auferlegt. Diese Liebe findet ihren Ausdruck unter anderem in der Sorge um die physische und psychische Gesundheit des Kindes, die nicht erst mit den nach der Geburt anstehenden Vorsorgeuntersuchungen einsetzt, sondern heutzutage bereits den ungeborenen Fötus betrifft und damit auch zur Aufgabe und Verantwortung einer schwangeren Frau wird. Neben der Wahrnehmung der vorgesehenen Routineuntersuchungen gilt in den meisten abendländischen Gesellschaften zunehmend die Inanspruchnahme von Verfahren der Pränataldiagnostik als Ausdruck des Verantwortungsbewusstseins gegenüber dem ungeborenen Kind. Am Beispiel dieser Verfahren lässt sich nun sehr gut die spezifische Rationalität der Bio-Macht illustrieren, die über statistische Regulierungsverfahren operiert und damit auch einen besonderen Zusammenhang von Individuum und Bevölkerungsgesamtheit konstituiert. Pränataldiagnostische Verfahren beruhen weitgehend auf Kalkulationen, die lediglich Aussagen über die Häufigkeit bestimmter Vorkommnisse (wie beispielsweise genetischer Abweichungen) in bestimmten Bevölkerungsgruppen (wie zum Beispiel bestimmten Altersgruppen) zulassen. Diese statistisch ermittelte Wahrscheinlichkeit wird häufig als Ausdruck des ›individuellen Risikos‹ einer dieser Bevölkerungsgruppe zugehörigen Person verstanden, obgleich damit gerade keine Aussagen über Individuen möglich sind: »Wahrscheinlichkeiten beziehen sich per definitionem nicht auf eine konkrete Person, sondern auf einen konstruierten ›Kasus‹; […] auf einen ›Fall‹ aus einer statistischen Population.« (Samerski 2002: 6)19 Mit gezielten, auf den Einzelfall ausgerichteten ›Diagnose‹-Verfahren wie der Punktion der Plazenta (Chorionzottenbiopsie) oder der Fruchtwasseranalyse (Amniozentese) sind etwa ein Sechstel aller Behinderungen, die bei der Geburt auftreten können, feststellbar.20
19 So enthält etwa die Ermittlung eines Risikos von 1:375, dass eine Schwangerschaft zu einem Kind mit Chromosomenabweichung führt, keine Voraussage darüber, ob in dem konkreten Fall ein Kind mit einer Abweichung entsteht oder nicht. 20 »Die Aussagekraft der Diagnostik an den Ungeborenen wird meist drastisch überschätzt. Die Zahlen: 97 Prozent aller Kinder werden gesund geboren. Und von den drei Prozent, die mit Krankheiten oder Behinderungen zur Welt kommen, ist gerade einmal ein halbes Prozent durch vorgeburtliche Diagnostik festzustellen. Die anderen 2,5 Prozent entgehen der heutigen feinmaschigen Untersuchungsroutine bzw. entstehen erst aufgrund von Komplikationen bei der Geburt.« (http://www.1000fragen.de/ hintergruende/dossiers/dossier.php?did=4&simple=n&pn=2; Zugriff am 3.3.2008) Zu einer kritischen Betrachtung der Möglichkeiten von Präimplantationsdiagnostik siehe z.B. Schneider 2002. 175
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Abgesehen von dieser ohnehin sehr begrenzten Reichweite ermöglichen diese Verfahren zudem lediglich Aussagen über bestimmte chromosomale Auffälligkeiten, die für die konkreten Individuen keinerlei Prognosen über den Schweregrad der Behinderung, ihre zukünftige Entwicklung oder gar über ihr Lebensglück zulassen.21 Dass aber anscheinend chromosomale Dispositionen zum Entscheidungskriterium werden, ob ein Leben lebenswert sein wird, kann als Zuspitzung der bisher vor allem im Hinblick auf die heteronormative Zweigeschlechtlichkeit diskutierten Naturalisierung von Identität interpretiert werden; die soziale Position als ›behinderter‹ Mensch erscheint als Effekt genetischer Differenzen. ›Behinderung‹ erscheint als ein individuelles Merkmal, das sich durch biotechnologische Verfahren diagnostizieren und in seinen lebenslangen Wirkungen vorhersehen lässt. Ich diskutiere die Problematik der Pränataldiagnostik in dieser relativen Ausführlichkeit, weil sich an ihr beispielhaft die Kritik am politischepistemischen Rahmen der Bio-Macht verdeutlichen lässt. Lebensqualität erscheint als statistisch vorhersagbares Ereignis, die Optimierung des Lebens wird als Befreiung von Zufall und Abweichung mittels einer Optimierung der Menschen betrieben. Diese besondere Konfiguration des Prokreationsdispositivs wird durch die Vernetzung mit dem Dispositiv der Genetifizierung (Lemke 2000) des menschlichen Lebens ermöglicht, im Rahmen dessen Leben als ein beständig zu perfektionierendes Ideal erscheint. Dabei wird einerseits die Vielfältigkeit des Lebens in reduktionistischer Weise auf genetische Dispositionen zurückgeführt, andererseits korrespondiert dieser Reduktionismus mit einem »Diskurs der Defizienz, der das Leben in Begriffen von ›Abwesenheit‹, ›Fehlern‹ und ›Defekten‹ analysiert: Bakterien, Tiere, Pflanzen und Menschen bedürfen der Ergänzung, Hilfe und Korrektur durch genetische Interventionen« (Lemke 2000: 237). Über die »Genetifizierung der menschlichen Fortpflanzung« (Keller 2006) zielen die verschiedenen Verfahren der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik als biopolitische Regulierungen auf eine Qualitätssteigerung menschlichen Lebens, indem ›Defekte‹ bereits vor der Geburt festgestellt und verhindert werden sollen.
21 Während die Sorge um das eigene Wohlergehen und das des Kindes völlig berechtigt ist und Ängste vor dem Leben mit einem möglicherweise kranken Kind nicht als irrational dargestellt werden sollen, erscheint es gleichwohl als beunruhigend, »dass diese Ängste heute mit technogenen Abstrakta verknüpft sind: dass Risikokalküle aus dem Computer und biochemische Befunde aus dem Labor so zukunftsträchtig erscheinen können, dass eine werdende Mutter das Schicksal ihres Kindes für besiegelt hält, bevor es überhaupt auf der Welt ist« (Samerski 2003: 220). 176
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In der kritischen Debatte über diese Regulierungsverfahren wird darauf verwiesen, dass es sich hier um eugenische Praktiken handelt, die in unheilvoller Nähe zu mörderischen Verfahren der Vergangenheit stehen, in denen anhand von Grenzziehungen zwischen Gesundheit und Krankheit ›lebenswertes‹ von ›lebensunwertem‹ Leben unterschieden wurde. Allerdings sind in der abendländischen Spätmoderne – insbesondere nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Verbrechen – eugenische Bestrebungen kaum noch in der Form gesetzlicher Regelungen oder gar gewaltsam-autoritärer Verfügungen gesellschaftlich akzeptabel, vielmehr setzen sie sich als selbstbestimmtes und verantwortungsvolles Gesundheitsbewusstsein der Individuen durch. Christoph Keller sieht in den »heute verbreiteten Praktiken [pränataler genetischer Diagnosetechniken; HM] das Ergebnis eines spezifischen, lange angelegten Normalisierungsdiskurses […], der früh schon erkannte, dass der eugenische ›Normalfall‹ nicht staatlicher Zwang sein darf, sondern freiwillige Einsicht in die Notwendigkeit unter dem Primat der Wissenschaft« (Keller 2006).
In Deutschland stellte die 1995 erfolgte Streichung der ›embryopathischen Indikation‹ aus dem § 218 StGB einen der letzten Schritte in dieser Verschiebung von negativer Eugenik zu positiver Selbstbestimmung dar; damit wurde Abtreibungen aufgrund einer vermuteten Schädigung des Kindes die gesetzliche Grundlage entzogen. Nunmehr gilt die medizinische Indikation, die eine (unbefristete) Abtreibung dann legal ermöglicht, wenn die Geburt des Kindes eine Gefahr für das körperliche und/oder seelische Wohlergehen der Mutter darstellt (vgl. Waldschmidt 2003a; Arnade 2003).22 Diese Frage des Wohlergehens bezieht sich auch auf pränataldiagnostische Voraussagen über die Gesundheit des entstehenden Kindes – eine Schwangerschaft kann also auch dann beendet werden, wenn es für die Mutter nicht zumutbar ist, ein bestimmtes Kind zur Welt zu bringen.23 Aus der Praxis der Pränataldiagnostik ergibt 22 Waldschmidt (2003a) diskutiert anhand der Auseinandersetzungen um den § 218 Konfliktlinien zwischen behinderten und nichtbehinderten Frauen. Die Streichung der embryopathischen Indikation geht unter anderem auf Bestrebungen von Behindertengruppen/-organisationen zurück, die sich gegen eine legalisierte vorgeburtliche Selektion wehrten. An der feministischen Debatte zum Recht auf Abtreibung wird von Seiten Behinderter kritisiert, dass der politische Charakter des Rechts auf Selbstbestimmung verkannt und die individuelle Entscheidung gegen ein behindertes Kind als privates Recht auf ein gesundes Kind betrachtet wird (siehe hierzu auch Faber 2003). 23 Hier geht es nicht darum, das Selbstbestimmungsrecht von Frauen hinsichtlich des Austragens einer Schwangerschaft grundsätzlich in Frage zu stellen, sondern um den Rahmen der Rationalität, der bestimmte Zu177
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sich eine spezifische Entscheidungssituation, in der das Recht der Frau auf Selbstbestimmung wirksam werden soll. Von Expert_innen errechnete statistische Wahrscheinlichkeiten bilden die Grundlage, auf der die Frauen beziehungsweise Eltern ihre Kosten-Nutzen-Abwägungen vornehmen sollen, um sich dann für das Beste zu entscheiden. Die Geburt eines von der Norm abweichenden Kindes gilt in dieser Rationalitätskonstellation als ein möglichst zu vermeidendes Risiko. Behinderte Menschen werden als Belastung wahrgenommen, ihr Leben als durch Leid geprägt imaginiert. Vor diesem Hintergrund erscheint die Annahme des ›Angebots‹ pränataler Früherkennungsverfahren geradezu als Verpflichtung – sich selbst, dem Ungeborenen, den Geschwisterkindern, der Gesellschaft gegenüber. Was als Zufall betrachtet werden kann – die Besonderheit jedes Kindes – erscheint nun beeinflussbar und wird damit zum Gegenstand einer Verantwortung. Zwar wird niemand zu solchen Untersuchungen gezwungen; allein aber deren prinzipielle Möglichkeit erfordert eine Entscheidung, deren Effekte zunehmend deutlich werden: Die Geburt eines behinderten Kindes erscheint vermeidbar; entscheidet sich die Frau oder entscheiden sich die Eltern gegen eine vorgeburtliche Diagnostik oder trotz positiver Diagnose für die Austragung des Kindes, dann liegt die Schlussfolgerung nicht fern, dass sie die damit verbundenen Konsequenzen selber zu tragen hat beziehungsweise haben. Selbst wenn diese Konsequenz als Folge einer individuell zu verantwortenden Entscheidung nicht in ihrer ganzen Härte durchgesetzt wird (indem etwa sämtliche Sozialleistungen für ein behindertes Kind versagt werden), lässt sich die Entstehung eines generellen gesellschaftlichen Klimas verzeichnen, in dem behinderte Menschen immer offener als vermeidbare Zumutung begriffen werden und Eltern beispielsweise hören müssen, dass ›das‹ – die Geburt ihres Kindes – doch heutzutage nicht mehr sein müsse.24 Mit dieser Referenz auf die ›Konsequenzen‹ der Geburt eines behinderten Kindes komme ich wieder auf die Problematik der Entscheidung gegen ein solches Kind als Ausdruck und Absicherung der Selbstbestimmung zurück. Selbstbestimmung muss hier in ihrer spezifischen Verbindung mit Autonomie verstanden werden; ein Subjekt ist zur Selbstbestimmung fähig, sofern es autonom für sich selbst sorgen kann. mutbarkeiten konstituiert und innerhalb dessen sie selbstbestimmte Entscheidungen treffen. 24 Auf diese gesellschaftlich verbreitete Ablehnung gegenüber Behinderten machen Vertreter_innen von Behindertenverbänden seit längerem aufmerksam (z.B. http://www.behinderte-eltern.com/gbeesmic.htm; http://zeus.zeit.de/text/2000/1/200001.praenataldiagnos.xml (Zugriff 04.03.2008). Vergleiche auch Faber 2003. 178
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Vor diesem Hintergrund erklärt sich zum Teil das Phantasma eines von Leid geprägten Lebens behinderter Menschen; da diese nicht oder nur eingeschränkt zur autonomen Selbstsorge fähig sind, erscheint ihr Leben nicht oder nur eingeschränkt lebenswert. Die Fürsorge, die ein solches Leben von anderen verlangt, erscheint wiederum auch als Bedrohung der autonomen Selbstsorge dieser anderen (der Eltern, der Geschwister – ja, selbst die ›Gesellschaft‹ scheint manchen angesichts der Kosten der Fürsorge überfordert). Vor diesem Hintergrund sind Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit also innerhalb einer bestimmten Rationalität durch spezifische Grenzen konfiguriert, die von einzelnen Subjekten nicht verschoben, sondern höchstens (auf eigenes Risiko) ignoriert werden können. Dennoch stoßen sich Subjekte an diesen Grenzen – und die interessante Frage ist, welche Spielräume durch die spezifische Form der autonomen selbstbestimmten Subjektivität eröffnet werden, um kollektive Praktiken der Verschiebung zu ermöglichen. Zu betrachten sind also die positiven Subjektivierungseffekte.
5.4 Subjektivierungseffekte biopolitischer Regulierung Die oben skizzierte Auseinandersetzung mit ›falschen‹ oder ›halb wahren‹ Versprechen der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik ist ein wichtiger Ansatzpunkt der Kritik. Im Kontext dieser Arbeit interessiert jedoch vor allem die Frage, auf welchen Macht-Wissen-Verhältnissen diese Verfahren beruhen und welche Subjektivierungseffekte damit verbunden sind.25 Hier lassen sich nun exemplarisch Effekte der eingangs dargestellten spezifischen Transformation von gesellschaftlichen Fragen in Gattungsfragen erkennen: nicht unzulängliche, behindernde, veränderbare Verhältnisse werden gesehen, sondern defiziente, behinderte, zu verhindernde oder zu korrigierende Menschen. Die Subjekte verorten Probleme bei sich selbst, und entsprechend scheinen auch die möglichen Lösungen in ihrer Person zu liegen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die dazu führen, dass das Leben mit einem behinderten Kind zu einer
25 Diese beiden Strategien der Kritik diskutiert Lemke (2000; 2007) am Beispiel der Genomforschung. Die eine bestehe in einem immanenten Verfahren, das die Versprechungen der Molekularbiologie an der Wirklichkeit ihrer Wirkungen misst, um ihren »phantasmatische[n] Gehalt oder […] reduktionistische[n] Charakter« zu entlarven (Lemke 2007: 131). Die andere richtet sich auf die spezifische Funktionsweise dieser wissenschaftlichen Praxis, auf die spezifischen Macht- und Wissensformen und Selbstverhältnisse, die diese hervorbringen. 179
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logistischen und seelischen Überforderung werden kann, dass Menschen, die der Norm der autonomen Selbstsorge nicht (voll) entsprechen können, in ihrer Selbstbestimmung nicht unterstützt, sondern vielmehr eingeschränkt werden, dass Unterstützung und Pflege in erster Linie als Last und Kostenfaktor erscheinen – diese Verhältnisse treten in der Wahrnehmung zumeist in den Hintergrund oder erscheinen als weitgehend unveränderbar. Demgegenüber scheint es vernünftig und sogar verantwortungsvoll, die vermeintliche Belastung, die durch die Geburt eines behinderten Kindes entsteht, von vornherein zu vermeiden. Während die Sorgen und Ängste von Frauen beziehungsweise Eltern vor diesem Hintergrund ihre Berechtigung haben, stellt der Rahmen, in dem ein (behindertes) Kind als (vermeidbares) ›Problem‹ erscheint, den Skandal dar. Einesteils wird die Möglichkeit ausgeblendet, dass kollektive Arbeit an den Verhältnissen geleistet werden könnte, um die Lebenssituation aller Menschen zu verbessern und Behinderungen zu vermeiden – nicht indem vermeintlich behinderte Menschen vermieden werden, sondern indem behindernde Verhältnisse bearbeitet werden.26 Andernteils erscheinen behinderte Menschen nicht oder nur in eingeschränkter Weise als Subjekte, die ein glückliches Leben führen können – weshalb sie gewissermaßen vor sich selbst (vor ihrem ›unzumutbaren‹ Leben) geschützt werden müssen. Dieser Logik folgen Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik und spitzen sie in gewisser Weise zu: Statistische Wahrscheinlichkeiten erscheinen als individuelles Risiko mit Aussagekraft über zukünftiges Lebensglück; Gendiagnostik suggeriert eine deterministische Sicht auf bestimmte individuelle Merkmale, Eigenschaften, Probleme; gesellschaftliche Probleme (Behinderung) erscheinen als individuell zu verantwortende Risiken. Da reproduktionsmedizinische Verfahren vorgeburtlicher Diagnostik historisch relativ neuartige Praktiken sind, lässt sich die Frage nach ihren Subjektivierungseffekten noch nicht ohne weiteres beantworten. Ingrid Schneider stellt jedoch im Hinblick auf Verfahren der Präimplantationsdiagnostik einige Überlegungen an, in denen sie verschiedene Szenarien durchspielt. So ist beispielsweise denkbar, dass Eltern vor der Implantation zwischen den zur Verfügung stehenden Genprofilen verschiedener Embryonen auswählen sollen beziehungsweise können: »Ein blauäugiges Mädchen mit Prädisposition für erblichen Brustkrebs […], ein musikalischer, dunkelhaariger Junge mit Risiko einer Arthritis und ein blonder Junge mit Neigung zu Fettleibigkeit« (Schneider 2002: 50). Auf beiden Seiten hat dies gravierende Effekte für das Subjekt: Die Eltern sehen sich in einer 26 Diesen Zusammenhang hebt die ›Aktion Mensch‹ mit ihrem Slogan »Behindert ist man nicht, behindert wird man« hervor. 180
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unmöglichen Verantwortung; das Lebensglück des jeweiligen Kindes scheint in erheblichem Ausmaß auf dieser ursprünglichen Entscheidung zu beruhen, die im Nachhinein als ›falsch‹ erscheinen kann – wenn etwa »der an Krücken laufende arthritische Sohn sein Geigenspiel aufgeben muss« (ebd.). Das Kind seinerseits muss sich mit den Befürchtungen und Erwartungen auseinandersetzen, die mit seiner genetischen Ausstattung verknüpft sind. Das Leben wird mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eine vorsorgende Risikovermeidung geprägt und mit bestimmten Ängsten oder Erwartungen belastet sein; das Subjekt wird dabei mit der Verantwortung konfrontiert, den Chancen und Risiken seiner genetischen Disposition durch verantwortungsvolle (Vor-)Sorgepraktiken gerecht zu werden. Das Kind mit einer genetischen Disposition zu Fettleibigkeit wird vermutlich besonders zu maßvollem Essen oder sportlicher Betätigung angehalten. Zu befürchten ist außerdem, dass die Annahme des Kindes durch seine Eltern in gewissem Ausmaß unter dem Vorbehalt der Übereinstimmung seines Verhaltens mit dem Präferenzmuster der elterlichen Entscheidung stehen wird. Wenn etwa ein genetisch zu Musikalität disponiertes Kind keinerlei Affinität zu Instrumenten oder Gesang an den Tag legt, ist es eventuell mit der offenen oder unausgesprochenen Enttäuschung seiner Eltern konfrontiert. Oder womöglich stellt sich ein Kind, das ›trotz‹ einer Behinderung auf die Welt kommt, die Frage, ob seine Eltern sich gegen es entschieden hätten, hätten sie von seiner Normabweichung gewusst – »über die psychischen Dynamiken und Folgen solcher Konstellationen kann bisher nur spekuliert werden« (Schneider 2002: 51). Dass diese möglichen Folgen aber Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung sein sollten, lässt sich mit den von Butler und Foucault entworfenen kritisch-ethischen Perspektiven begründen. Zu fragen gilt es: In welchem Sein will ich bestehen? Will ich dermaßen regiert werden, und um diesen Preis? Und wer kann dieses ›Ich‹ sein; wie verhält es sich zum ›Du‹? Diese Fragen richten sich nicht darauf, bestimmte Tatsachen oder Wahrheiten festzuschreiben, sondern eben darauf, die Grenzen und Effekte des Bestehenden zu eruieren, um den Blick für erweiternde Erfindungen frei zu machen. Erfindungen aber, so dürfte deutlich geworden sein, die in ihrer bedingten Kontingenz vom Bestehenden ausgehen müssen, um andere Möglichkeiten zu verwirklichen. Hier schließt sich der Kreis zu der Annahme, dass Generativität ein Dispositiv darstellt, das in einem konstitutiven Verhältnis zu seinen Elementen steht: Veränderungen in den Verhältnissen des Prokreationsdispositivs bleiben nicht ohne Wirkung etwa auf das Eltern-Kind-Verhältnis sowie auf die als geboten erscheinenden Sozialisationspraktiken. Diese dispositiven Verhältnisse der Subjekte zu sich und zu anderen geben den Rahmen der realen Möglichkeiten vor. Aber wie wir mit Foucault gesehen haben, ist den Dispositiven moderner Gesellschaften eine 181
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besondere Dynamik eigen. Sie realisieren sich nur in der beständigen Wiederaufführung durch die Subjekte – und diese Subjekte haben insofern eine spezifische historische Freiheit, als sie den Anspruch erheben können, nicht dermaßen regiert zu werden, und sich dadurch in besonderer Weise kritisch zu ihren dispositiven Handlungsbedingungen verhalten können. Im Sinne strategischer Wideraufführungen kann sich diese Kritik geltend machen. So fühlen sich beispielsweise Eltern nicht nur dafür verantwortlich, vor dem Hintergrund bestimmter Rationalitätskriterien richtige Entscheidungen für das Wohl ihres Kindes zu treffen, sondern sie sind, sofern sie die Beziehung zu ihrem Kind als Liebe erleben, in der Regel auch geneigt, das Leben dieses Kindes – so wie es ist – als Wert an sich zu begreifen. Steht dieses Kind im Fokus und scheint ein wichtiges Element eines gelungenen Lebens in einer selbstbestimmten Lebensführung zu bestehen, dann kann eine Konstellation entstehen, in der die Dynamiken des Dispositivs über sich hinausweisen: Die Eltern sehen möglicherweise nicht (nur) ihr Kind als defizient, sondern vielmehr die behindernden gesellschaftlichen Bedingungen. Auch die Kinder selbst können ihr Begehren nach einem Subjektstatus artikulieren, nach einem Beharren im eigenen Sein als selbstbestimmtes Subjekt streben. Dieses Streben kann sich zum einen auf eine Verunsicherung und Verschiebung der Normen richten, nach denen Grenzziehungen zwischen Gesundheit und Krankheit, Natur und Kultur, Mensch und Nicht-Mensch und dergleichen vollzogen werden. Zum anderen kann dieses Streben aber auch eine Anerkennung der Verwiesenheit auf Andere ermöglichen und damit die Frage aufwerfen, unter welchen Bedingungen Selbstbestimmung positiv mit Solidarität beziehungsweise Kollektivität einhergehen kann. Wie wäre eine Form der Selbstbestimmung zu denken, die nicht auf individueller Autonomie, sondern vielmehr auf der konstitutiven Aufeinanderverwiesenheit beruht? Wie könnte eine Form der kollektiven Solidarität aussehen, in der die Singularität der Individuen nicht gewaltsamen Normen unterworfen wird? Ein wichtiger Hinweis, wie ein ›Wir‹ denkbar ist, das ohne bestimmte ontologische Setzungen auskommt, findet sich bei Butler, die davon ausgeht, dass die Gemeinsamkeit der Subjekte in ihrer konstitutiven Aufeinanderverwiesenheit in Anerkennungsverhältnissen besteht. In der Anerkennung meiner Singularität bin ›Ich‹ von dem Anderen ebenso abhängig wie dieser von mir;27 die Anerkennung der gegenseitigen Verwundbarkeit kann die Grundlage für eine Kollektivität darstellen: »Inso27 »Die Einzigartigkeit des Anderen ist mir ausgesetzt, aber meine ist auch ihm ausgesetzt, und das heißt nicht, dass wir gleich sind, es heißt nur, dass wir durch unsere Unterschiede, d.h. durch unsere Singularität, aneinander gebunden sind.« (Butler 2003a: 47) 182
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fern dieses Faktum des Ausgesetztseins ein kollektiver Zustand ist und uns alle gleichermaßen charakterisiert, setzt es nicht nur das ›Wir‹ wieder ein, sondern trägt auch ein bestimmtes Prinzip der Ersetzbarkeit mitten in die Singularität hinein« (Butler 2003a: 47f). Wenn unsere Singularität in dieser Weise der Anerkennung durch andere ausgesetzt ist, wird diese Singularität durch eine Angewiesenheit auf gesellschaftliche Normen unterlaufen und insofern einer abstrakten, ein allgemeines ›Wir‹ konstituierenden Ersetzbarkeit unterworfen. Weiten wir dieses Faktum des Ausgesetztseins nun mit Foucault über die Dimension der Normen auf die Dimension der praktischen Lebenszusammenhänge aus, dann lässt sich erfassen, dass sich diese Verwiesenheit auf Andere ganz materiell in den Praktiken der Sorge um sich und der Kunst des Lebens manifestiert. In den Auseinandersetzungen um ein ›gutes Leben‹ eröffnet diese Perspektive die Möglichkeit für subversive Reformulierungen des Imperativs der ›Optimierung des Lebens‹: Reformulierungen, bei denen nicht mehr individuelle Leistungsfähigkeit und autonome Selbstsorge den Fokus darstellen, sondern vielmehr eine auf individueller Singularität beruhende Solidarität der gegenseitigen Fürsorge. Um an dieser Stelle die Analyse nicht in moralische Appelle abgleiten zu lassen, müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse jedoch genauer bestimmt und weitere Grenzen, die einer solchen verallgemeinerten Fürsorge entgegenstehen, benannt und damit der Gestaltung zugänglich gemacht werden. Um dies deutlich zu machen, sei nochmals auf den paradoxen Zusammenhang von Möglichkeitsräumen und Verhinderungen verwiesen: Laut Waldschmidt ist es gerade die Spätmoderne, die mit ihrem immer stärkeren Fokus auf individuelle Selbstsorge historisch günstige Bedingungen dafür bietet, dass beispielsweise behinderte Menschen erfolgreich ein selbstbestimmtes Leben einfordern. Waldschmidt bringt damit jene Kontextanalyse ins Spiel, die auch von Lovell und Disch angemahnt wird (vgl. Kapitel 3), um die besondere historische Konstellation zu erfassen, die es bestimmten dissidenten Stimmen ermöglicht, sich Gehör zu verschaffen: »Mit der kulturellen Revolution von 1968, die die Forderung nach Individualität, Pluralität und Liberalität beinhaltete und Selbstverwirklichung zum zentralen Projekt erhob, kamen Psychiatrie, Behindertenpädagogik und Rehabilitationspolitik wieder in Bewegung. Der neue, erweiterte Individualismus machte auch Reformen im gesellschaftlichen Umgang mit gesundheitlich beeinträchtigten Menschen möglich.« (Waldschmidt 2003: 17)
Die behindertenpolitischen Kämpfe um Autonomie lassen sich als »Geschichte der allmählichen Anerkennung« (Waldschmidt 2003: 18) des 183
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
Subjektstatus behinderter Menschen deuten. Waldschmidt weist allerdings zugleich auf ein wichtiges Paradox hin, das wiederum spezifische Grenzen dieser performativen Handlungsfähigkeit markiert: So ist es gerade das spätmoderne Phänomen einer ›neoliberalen Pflicht‹ zur Selbstbestimmung, das die besonderen Bedingungen für erfolgreiche Autonomie und Anerkennungsforderungen darstellt.28 Damit ist wieder das bereits am Ende des vorigen Kapitels diskutierte Thema der (neoliberalen oder marktradikalen) Einbindung und Einhegung emanzipatorischer Bestrebungen angeschnitten. In letzter Instanz setzt sich offenbar immer wieder das Kriterium von Arbeits- und Leistungsfähigkeit als Bedingung der Autonomie und Ziel der Optimierung der Menschen durch. Die Verhandlungen über die Grenzziehungen von Gesundheit und Krankheit, von Autonomie und Heteronomie scheinen einem bestimmten Muster nicht entkommen zu können: Gesund ist, wer Leistung bringen kann; autonom ist, wer ohne Unterstützung oder Hilfe zu beanspruchen sein Leben meistern kann – ob mit oder ohne ›Anomalien‹ oder ›Defekte‹. Dies kann im Sinne Foucaults als eine Normalisierung des Feldes von Behinderung/Nicht-Behinderung gedeutet werden. So diskutiert Waldschmidt beispielsweise die Problematik, dass die Kämpfe von Behinderten für ein selbstbestimmtes Leben zum (ungewollten) Effekt der »Etablierung einer neuen Behindertenhierarchie« führen können, »deren Rangordnung nach der Autonomiefähigkeit strukturiert ist« (Waldschmidt 2003b: 20). Diese spezifische Gestalt der Autonomie, das scheinbar unüberwindbare Muster, verweist auf eine Formbestimmtheit, die nicht allein durch die biowissenschaftliche Rationalität zu erklären ist, sondern vielmehr bestimmte Effizienzkriterien und Subjektformen impliziert, die ich nun im folgenden Kapitel mit Marx als spezifisch für die kapitalistische Produktionsweise ausweisen will. Dadurch wird dann erkennbar, dass die Auseinandersetzungen um die Bedingungen des Seins auch die spezifische Organisation der Produktionsweise betreffen müssen, die durch Verhandlungen über Normen der Anerkennung und Parameter der Bio-Macht nicht erfasst wird.
28 »Erst der Neoliberalismus, der sich zum Ende des 20. Jahrhunderts entfaltet hat, schafft somit die Voraussetzungen für die Selbstbestimmung auch der behinderten Menschen. Gleichzeitig muss man konstatieren: In der fortgeschrittenen Moderne darf man nicht nur selbstbestimmt leben; man muss es sogar. […] Heutzutage verheißt Autonomie nicht mehr nur Befreiung, sondern ist auch zur sozialen Verpflichtung geworden – und zwar nicht nur für nichtbehinderte, sondern auch für behinderte Menschen.« (Waldschmidt 2003: 18) 184
6. K AR L M AR X : D I E N I C H T - N O R M AT I V E D I M E N S I O N D E S S O Z I AL E N I M K AP I T AL I S M U S
Bekannt ist die Marx’sche Kapitalismusanalyse unter dem Titel Kritik der politischen Ökonomie. Damit ist die spezifische Erkenntnis- und Kritikperspektive umrissen, die Marx entwirft: Statt der Formulierung einer kritischen politischen Ökonomie, die sich auf der Grundlage bestehender Verteilungs- und Ungleichheitsverhältnisse um mehr Gleichheit und Gerechtigkeit bemüht, geht es ihm darum, die historischen Strukturen zu analysieren, die diese Verhältnisse konstituieren. Dies ist eine ähnliche Kritikstrategie wie jene, die sich mit einer an Foucault anschließenden Analyse von Dispositiven verknüpft. Sie richtet sich nicht allein auf bestimmte ›Probleme‹, sondern fragt nach den spezifischen ›Problematisierungen‹, die diese überhaupt erst hervorbringen. Damit erschließt sich, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, ein Blick auf mögliche Lösungen, die den Rahmen dieser Problematisierung überschreiten und diesen damit selbst zum Gegenstand von Gestaltung werden lassen. Wenn Marx also eine Kritik der politischen Ökonomie betreibt, dann fragt er nach den Strukturen, die die spezifischen Fragen und Probleme der politischen Ökonomie als ihre Effekte hervorbringen. Gesellschaftskritik sucht dann nicht in erster Linie nach besseren Antworten auf diese Fragen und Probleme, vielmehr lässt sie deren konstitutive Bedingungen selbst durch den Aufweis ihrer historischen Gewordenheit als Gegenstand menschlicher Gestaltungskompetenz erscheinen. Nicht nur die Probleme können bearbeitet werden, sondern auch die Strukturen, die diese Probleme (immer wieder erneut, wenn auch verschoben) hervorbringen. In meinen bisherigen Ausführungen habe ich die These aufgestellt, dass Marx mit seiner Analyse der kapitalistischen Produk185
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
tionsweise eine strukturelle Konstellation fokussiert, die Butler und Foucault in ihrer jeweiligen Perspektive nicht systematisch erfassen, die aber eine Voraussetzung für die historische Verortung ihrer Analysen ist. Die bestimmte Form der Autonomie des Subjekts und die damit verbundene Verleugnung der konstitutiven Abhängigkeit sowie die spezifische Gerichtetheit der Dispositive der Bio-Macht als Optimierung des Lebens lassen sich unter der Marx’schen Perspektive in ihrer besonderen kapitalismusspezifischen Zuspitzung erfassen. Die Unterwerfung der Subjekte unter gesellschaftliche Verhältnisse kann damit in ihrer besonderen historischen Qualität weiter ausgewiesen werden. Angesichts der enormen Bandbreite der (teilweise konträren) Interpretationen und Lesarten der Marx’schen Kapitalismusanalyse und vor allem angesichts des Umstands, dass die Arbeiten von Foucault vielfach als kritische Absetzung vom ›Marxismus‹ gelesen werden, ist eine gewisse Positionierung meiner Rezeption notwendig, um zu skizzieren, wo ich die Anschlussstellen sehe. Wichtig – und weniger banal, als es zunächst erscheinen mag – ist in diesem Zusammenhang zum einen der Hinweis, dass es den Marxismus nicht gibt und das Marx’sche Werk sehr unterschiedliche Interpretationsweisen erfahren hat.1 Zum anderen muss der besondere Kontext von Foucaults theoretischen Auseinandersetzungen berücksichtigt werden – nämlich die französische Strukturalismusdebatte der 1960er Jahre sowie die »parteioffizielle MarxDeutung« (Elbe 2000) der kommunistischen Partei nahestehender Intellektueller. In der Foucault-Rezeption wird dessen Kritik an parteimarxistischer »Kommunistologie« (Foucault 2001b: 79) einerseits sowie an humanistischen Interpretationen des Marxismus andererseits vielfach als Ablehnung von Marx’ Gesellschaftsanalyse gesehen. Dabei geht verloren, dass Foucault selber mehrfach auf Schnittstellen und Gemeinsamkeiten mit den Arbeiten von Marx hinweist2 und diesen gegen bestimmte Lesarten verteidigt, die ihn »anthropologisieren, aus ihm ei-
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Dies fängt bereits bei der redaktionellen Arbeit Friedrich Engels an, der – wie sich an verschiedenen Versionen und Ausgaben der Marx’schen Texte nachvollziehen lässt – in der posthumen Publikation deutlich eigene Interpretationsakzente gesetzt hat (vgl. Heinrich 1999; Spivak 2000). Ein Überblick über die wichtigsten und folgenreichsten Lesarten der Marx’schen Theorie findet sich bei Elbe (2000). »Man kann heute nicht Historiker sein, ohne eine Reihe von Begriffen zu verwenden, die direkt oder indirekt mit dem Denken von Marx verknüpft sind, und ohne sich in einem Horizont zu bewegen, der von Marx beschrieben oder definiert worden ist. Man könnte sich sogar fragen, welcher Unterschied eigentlich zwischen einem Historiker und einem Marxisten besteht.« (Foucault 2001b: 79) Zur theoretischen Komplizität von Foucault und Marx siehe beispielsweise Brieler 2002.
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KARL MARX
nen Historiker der Totalitäten […] machen und in ihm das Vorhaben des Humanismus finden« (Foucault 1981: 25). Foucault macht zwar keine näheren Angaben, wie die theoretischen Anschlüsse seiner ›Geschichte der Gegenwart‹ an die Marx’sche Kapitalismusanalyse im Einzelnen aussehen, es lassen sich jedoch Bezüge in zweierlei Hinsicht feststellen: zum einen theoretisch-methodisch, zum anderen hinsichtlich des Gegenstands. Wie Marx bestimmt auch Foucault seinen Gegenstand in dessen historischer Singularität. Beide lehnen den Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse, Subjekt und Macht als vermeintliche Substanzen ab, vielmehr verstehen sie ihre zentralen Kategorien als Relationen, als Verhältnisse und damit als zugleich strukturiert und dynamisch (vgl. Brieler 2002: 53f). Beide interessieren sich für den Bruch, der den Übergang vom Feudalismus zur modernen, kapitalistischen Gesellschaftsordnung markiert, und fragen nach den historischen Einzigartigkeiten, die diese neue Gesellschaftsordnung hervorbringt. Sie beziehen sich dabei allerdings jeweils auf unterschiedliche Gegenstandsbereiche und Analyseebenen. So macht Foucault in seinen genealogisch-historischen Analysen die Subjektivierungseffekte der vielfältigen Machtverhältnisse moderner Gesellschaften zum Gegenstand; Marx hingegen geht es um eine begrifflich-kategoriale Rekonstruktion der Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise, sein Gegenstand ist ein abstrakter Systemzusammenhang in seiner historischen Existenz, nicht in seiner historischen Entstehung. Foucault fokussiert die Vielfältigkeit und besondere Kontingenz moderner Gesellschaften; Marx rekonstruiert einen strukturellen Gesamtzusammenhang. Beide Herangehensweisen können produktiv aufeinander bezogen werden; eine grundlegende These, die ich im Folgenden entfalte, ist, dass Marx einen Zusammenhang erfasst, der eine historische Bedingung für die von Foucault fokussierte Vielfältigkeit darstellt – ohne jedoch deren Grund oder Ursache zu sein. Zugleich soll aber auch deutlich werden, dass Foucaults Konzept des Dispositivs eine sinnvolle Grundlage für historisch-empirische Untersuchungen darstellt, die an den Grenzen ansetzen, an die die Marx’sche kategoriale Analyse stößt.3 Als erster Hinweis auf diesen Zusammenhang lassen sich Textstellen zitieren, an denen Marx und Foucault auf die Grenzen ihrer eigenen Perspektive und damit gewissermaßen aufeinander verweisen: Im ersten Band des Kapital, im Kapitel über »Maschinerie und große Industrie«, schreibt Marx, dass die
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Zur theoretisch-methodologischen Unterscheidung von historischer und struktureller Analyse siehe Heinrich 2004. 187
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»technische Unterordnung des Arbeiters unter den gleichförmigen Gang des Arbeitsmittels und die eigentümliche Zusammensetzung des Arbeitskörpers aus Individuen beider Geschlechter und verschiedener Altersstufen eine kasernenmäßige Disziplin (schaffen), die sich zum vollständigen Fabrikregime ausbildet und die schon früher erwähnte Arbeit der Oberaufsicht, also zugleich die Teilung der Arbeiter in Handarbeiter und Arbeitsaufseher, in gemeine Industriesoldaten und Industrieoffiziere völlig entwickelt« (Marx 1988: 446f).
An dieser Stelle verlässt Marx die Analysedimension einer rein kategorialen Rekonstruktion der Strukturen und macht deutlich, dass diese in eine historische Untersuchung übergehen muss, um die empirischen Prozesse zu erfassen, in deren Verlauf strukturelle Dynamiken und Anforderungen der kapitalistischen Produktionsweise in der Disziplinierung der arbeitenden Körper eine ihrer Existenzgrundlagen finden. Foucault fokussiert wiederum genau diese Prozesse; da sie eben nicht aus den strukturellen Dynamiken der kapitalistischen Produktionsweise abgeleitet werden können, entwickelt er ein Instrumentarium zu ihrer Analyse. Zugleich weist er immer wieder darauf hin, dass Marx’ begriffliche Rekonstruktion der kapitalistischen Produktionsweise den Hintergrund bildet, vor dem der Standpunkt seiner kritischen Rekonstruktion der Gegenwart erst verständlich wird: »Wenn der ökonomische Aufstieg des Abendlandes auf die Verfahren zurückzuführen ist, welche die Akkumulation des Kapitals ermöglicht haben, so kann man vielleicht sagen, daß die Methoden zur Bewältigung der Akkumulation von Menschen die politische Überholung der traditionellen, rituellen, kostspieligen, gewaltsamen Machtformen ermöglicht haben, die alsbald obsolet wurden und von einer verfeinerten und kalkulierten Technologie der Unterwerfung/Subjektivierung abgelöst wurden. Die beiden Prozesse, Akkumulation der Menschen und Akkumulation des Kapitals, können indes nicht getrennt werden […].« (Foucault 1977: 283)
Durch die Analyse des Systemzusammenhangs der kapitalistischen Produktionsweise lassen sich die Existenzbedingungen grundlegender strategischer Imperative der verschiedenen Dispositive der Bio-Macht erfassen – Effizienz- und Produktivitätssteigerung –, auf die Foucault immer wieder hinweist, ohne jedoch ihre historische Erklärung zu präzisieren. Diese Imperative hatten sich aber als neuralgische Punkte der historischen Kritik der Bio-Macht erwiesen, insofern nämlich ihre Analyse die Frage offengelassen hatte, warum sich bestimmte Hierarchien und Machtverhältnisse durch die Verunsicherung und Verschiebungen von Normen und Normalisierungen hindurch immer wieder reproduzieren. Mit der Marx’schen Analyse werden diese Hierarchien und Machtver188
KARL MARX
hältnisse nun in ihrer gesellschaftlich-historischen Singularität und damit in ihren kontingenten Existenzbedingungen deutlich. Allerdings erweist sich in diesem Zusammenhang der Fokus auf Widerständigkeit als Performativität, als Verschiebung von Normen als zu einseitig: Die kapitalistischen Strukturen haben eine nicht-normative Dimension, die sie gegenüber performativen Verschiebungen als sachliche, unverfügbare Bedingungen erscheinen lässt. Diese Versachlichung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus ist der Fokus der Marx’schen Kritik. Marx kann deutlich machen, dass in dieser historischen Produktionsweise die Verhältnisse, in denen die Produktion organisiert ist und in denen sich die Vergesellschaftung vollzieht, als äußere Notwendigkeiten erscheinen. Selbst eine auf gegenseitiger Anerkennung basierende Umdeutung dieser Verhältnisse würde nicht verhindern, dass die gesellschaftlichen Akteure die von Marx erfassten strukturellen Bedingungen einschließlich ihrer problematischen Effekte reproduzieren. In diesem Kapitel geht es mir zum einen darum, als Besonderheit der Marx’schen Perspektive herauszuarbeiten, inwiefern er die Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise als nicht-normative Dimension des Sozialen erfasst, und dies zum anderen auf die Erkenntnismöglichkeiten zu beziehen, die er dadurch im Hinblick auf die Frage nach der Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit eröffnet. Im ersten Abschnitt gehe ich ausführlicher auf den spezifischen Gegenstandsbereich ein, um dadurch auch den Erkenntnis- und Geltungsanspruch der Marx’schen Analysen klarer profilieren zu können. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der kritischen Haltung wichtig, die Foucault gegenüber Analysen einnimmt, die sich auf ein gesellschaftliches ›Ganzes‹ richten. Marx’ Gegenstand ist die kapitalistische Produktionsweise als ein abstrakter Strukturzusammenhang; er rekonstruiert diesen als ein ›Ganzes‹ (nämlichen einen strukturellen Zusammenhang), der allerdings nicht das Ganze der Gesellschaft darstellt, sondern vielmehr, um es mit Marx’ eigener Metapher zu bezeichnen: deren Anatomie. Im zweiten Abschnitt stelle ich dar, inwiefern dieser Strukturzusammenhang eine besondere, kapitalismusspezifische Form der Herrschaft konstituiert. So lässt sich begreifen, wie Foucaults These, dass in modernen Gesellschaften Macht nicht als Besitz von Individuen zu betrachten ist, mit einer Analyse von asymmetrischen und verfestigten Herrschaftsverhältnissen verknüpft werden kann; es handelt sich um Herrschaftsverhältnisse, die sich nicht in der Form persönlicher Machtausübung manifestieren, sondern den Individuen als unpersönliche, sachliche Verhältnisse – als Schranke der Freiheit (Foucault) – gegenübertreten. Auch diejenigen, die in diesen Verhältnissen die machtvollsten Positionen bekleiden, sind diesen Verhältnissen als Bedingun189
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gen ihrer Subjektivität unterworfen. Foucaults Diagnose, dass Selbstund Freiheitspraktiken immer auch Machtpraktiken sind, lässt sich von daher in ihrer kapitalismusspezifischen Zuspitzung erfassen: In der Versachlichung der Verhältnisse ist Freiheit eine Form der Herrschaft. Damit komme ich dann im dritten Abschnitt zu der Frage von Subjektivität und Handlungsfähigkeit. Wenn sich mit Marx argumentieren lässt, dass die Freiheit der Subjekte eine Form der sachlichen Herrschaft ist, so ist es gleichwohl wichtig zu beachten, dass dies keine Hermetik der Verhältnisse impliziert. Freiheitspraktiken sind nicht einfach Herrschaftspraktiken, sie können vielmehr Momente hervorbringen, die über den sachlichen Herrschaftszusammenhang hinausweisen und Möglichkeiten für eine kollektive Gestaltung dieser Verhältnisse eröffnen.
6.1 Gegenstand und Erkenntnisperspektive Angesichts der diversen Interpretationen und der berechtigten Vorbehalte gegen totalisierende und ableitungslogische Lesarten der Marx’schen Theorie geht es mir in diesem Abschnitt zunächst darum, Gegenstandsbereich und Erklärungsanspruch der Marx’schen Analysen genauer zu klären. Ich folge dabei Interpretationen, die einen zentralen Erkenntnisgewinn seines Werks in dem »Bruch mit dem theoretischen Feld der klassischen politischen Ökonomie« (Heinrich 1999: 12) sehen. Dieser Bruch äußert sich in dem Bestreben, sich von Anthropologismus, Individualismus, Ahistorismus und Empirismus des klassischen Feldes der politischen Ökonomie zu lösen. Gesellschaftliche Wirklichkeit kann »nicht durch den Rekurs auf die Individuen und ihre empirisch feststellbaren Interessen (oder ihr ›Gattungswesen‹) verstanden werden, denn es ist erst die gesellschaftliche Struktur, die diejenigen Plätze definiert, die die Individuen überhaupt einnehmen können und von denen aus sich Interessen und Handlungsrationalitäten definieren« (Heinrich 1999: 154).
Zunächst steht also die historische Objektivität gesellschaftlicher Verhältnisse im Kapitalismus im Mittelpunkt, die Marx, so soll im Folgenden deutlich werden, als abstrakten Strukturzusammenhang rekonstruiert. Damit lässt sich eine Grenzbestimmung zur Foucault’schen Perspektive vornehmen, denn während es Marx um abstrakte Zusammenhänge der Produktionsweise geht, fokussiert Foucault die empirische Vielfalt der Machtverhältnisse in historischen Gesellschaftsformationen. Während sich mit Marx zunächst bestimmen lässt, inwiefern es sinnvoll ist, bei einer spezifischen historischen Konstellation von Kapitalismus 190
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zu sprechen, stellt sich mit Foucault die Frage, wie diese Konstellation sich in unterschiedlichen Formationen ausdrücken kann. Stehen damit also die Erkenntnisgegenstände und Geltungsansprüche zur Diskussion, so geht es zugleich auch um die Grenzen performativer Veränderung, um die Grenzen, an die die Gestaltung des Lebens als Kunstwerk stößt, sofern sie keinen Zugriff auf bestimmte strukturelle Bedingungen ihrer Realisierung hat. Mit den Mitteln der Marx’schen Analyse lässt sich eine theoretische Erklärung für ein gewisses Paradox gegenwärtiger abendländischer Wissensordnungen finden: Während der Mensch als Lebewesen zunehmend gestaltbar erscheint, wird die Produktionsweise gewissermaßen als Natur wahrgenommen, und bestimmte, historisch mit dieser Produktionsweise verbundene Phänomene erhalten den Status von natürlichen Gattungseigenschaften des Menschen. Dieser versachlichte Zusammenhang ist der Gegenstand der Marx’schen Untersuchungen. In einem ersten Schritt diskutiere ich diesen Gegenstand als abstrakten Strukturzusammenhang, um deutlich zu machen, dass Marx die begriffliche Rekonstruktion eines strukturellen Ganzen als Verweisungszusammenhang vornimmt, um dadurch spezifische Effekte erfassen zu können, die in der empirischen Vielfalt ihrer Erscheinungen nicht ohne weiteres erkennbar sind. Dieses Verhältnis von strukturellem Verweisungszusammenhang und empirischer Vielfalt präzisiere ich in einem zweiten Schritt als Unterscheidung von Produktionsweise und Gesellschaftsformation. Anhand der Rekonstruktion der Strukturen der Produktionsweise kann Marx bestimmte Bedingungen der Kontingenz in modernen kapitalistischen Gesellschaften benennen. Da hier also zunächst die Bedingungen im Vordergrund stehen, gehe ich im dritten Schritt kurz auf die generelle Bedeutung von Praxis ein, um eine These zu erläutern, die ich im weiteren Verlauf dieses Kapitels begründe: Durch seine Analyse der spezifischen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise kann Marx eine historische Qualität der Entfremdung – oder: der subjektivierenden Unterwerfung – in Gesellschaften mit dieser Produktionsweise erfassen.
6.1.1 Kapitalismus als abstrakter Strukturzusammenhang Um genauer zu klären, welche Fragen und Probleme innerhalb der Marx’schen Perspektive verhandelbar werden, nehme ich hier zunächst eine Eingrenzung und Präzisierung seines Gegenstands und seiner Erkenntnisperspektive vor. Marx argumentiert bei seiner Rekonstruktion der Strukturen kapitalistischer Vergesellschaftung auf einer Analyseebene, die so abstrakt ist, dass sie keine Aussagen über konkrete historische Formationen zulässt. Damit folge ich Interpretationen der Marx’191
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schen Kritik der politischen Ökonomie, die die dort ausgearbeitete Strukturanalyse kapitalistischer Gesellschaften als begrifflich-theoretischen Rahmen begreifen und nicht als eine substanzielle Theorie über eine konkrete Gesellschaft (Althusser 1972: 59ff; Mouzelis 1988: 109).4 Eine so verstandene Kapitalismusanalyse zielt auf die theoretische Rekonstruktion grundlegender gesellschaftlicher Strukturen – die Anatomie, wie Marx es nennt – einer spezifischen gesellschaftlichen Formation. Diese Strukturen existieren nicht unmittelbar als empirisch wahrnehmbare Tatsachen; die analytische Ebene, auf der sich Aussagen über solche Strukturen bewegen, ist die Ebene der Konstruktion eines begrifflichen Rahmens, der die der kapitalistischen Produktionsweise inhärenten Zwänge und Dynamiken erklären kann. Dieser Strukturbegriff ist also nicht mit ›Institutionen‹ oder relativ stabilen gesellschaftlichen Phänomenen gleichzusetzen, vielmehr bezeichnet er das abstrakte Konzept einer historisch spezifischen Produktionsweise. Dies ist von der empirischen Realität verschiedener historischer Formationen kapitalistischer Gesellschaften zu unterscheiden (Althusser 1973: 83).5 Mit dieser begrifflich-theoretischen Rekonstruktion wird nicht der Anspruch erhoben, alle Phänomene der empirischen Wirklichkeit umfassend erklären zu können – oder sie aus jener Produktionsweise ›ableiten‹ zu können. Es geht vielmehr darum, Strukturen zu erfassen, die – solange sie bestehen – dazu führen, dass sich ›hinter dem Rücken der Akteure‹ bestimmte Verhältnisse, Dynamiken, Hierarchien usw. reproduzieren. Auf der abstrakten begrifflichen Ebene lassen sich auf diese Weise spezifi4
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»Gegenstand der Marxschen Analyse im ›Kapital‹ ist im strengen Sinne nicht der empirisch vorfindbare Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, sondern ein durch Abstraktion davon gewonnener idealisierter Gegenstandsbereich.« (Eberle 1981: 174) Eine systematische Rekonstruktion des Marx’schen Gegenstands anhand seiner Kritik der Theorien politischer Ökonomen findet sich bei Helmut Brentel (1989). Seit seiner Entstehung hat der Kapitalismus unterschiedliche ›Gesichter‹ (Hirsch/Roth 1986) gezeigt. Je nach gewählter Perspektive und Bestimmungskriterien lassen sich etwa historisch verschiedene Epochen ausmachen (z.B. Fordismus, Postfordismus), oder es zeigen sich synchron im Länder- oder Regionenvergleich unterschiedliche Ausprägungen (z.B. rheinischer vs. angelsächsischer Kapitalismus). Wenn man davon ausgeht, dass trotz der Unterschiede in all diesen Fällen von kapitalistischen Gesellschaften die Rede ist, dann bezieht sich dies auf eine abstrakte strukturelle Bestimmung bestimmter Formen der Produktionsweise. Theorien ›mittlerer Reichweite‹, die systematische Aussagen über spezifische historische oder kulturelle Ausprägungen kapitalistischer Gesellschaften machen, müssten insofern auf diese grundlegenden strukturtheoretischen Überlegungen rekurrieren: »Die Natur des Kapitals bleibt dieselbe, in seiner unentwickelten, wie in seinen entwickelten Formen.« (Marx 1988: 304)
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sche Dynamiken und Konstellationen kapitalistischer Vergesellschaftung erfassen, die über verschiedene historische Gesellschaftsformationen hinweg die Bestimmung dieser Gesellschaften als kapitalistisch sinnvoll machen. Gegenstand der Marx’schen Kapitalismusanalyse ist »die gewordne […], auf ihrer eignen Grundlage sich bewegende […] bürgerliche […] Gesellschaft« (Marx 1983: 178); es geht ihm also um die Reproduktionsdynamik eines bestehenden historischen Strukturzusammenhangs, nicht jedoch um dessen historische Genese. In seiner kategorialen Analyse sieht er von der empirischen Vielfalt sozialer Phänomene ab und rekonstruiert diese Reproduktionsdynamik in ihrer abstrakten Grundstruktur. Zugleich macht er jedoch deutlich, dass er damit eine historische Konkretion gegenüber einer (schlechten) Abstraktion anstrebt.6 In der Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie beispielsweise diskutiert Marx das Verhältnis von Konkretem und Abstraktem. So scheine es bei der Analyse einer Gesellschaft zunächst »das Richtige zu sein, mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen, also z.B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsaktes ist« (Marx 1981: 631). Als das ›Konkrete‹ erscheinen dabei vermeintlich evidente ›Gattungstatsachen‹ – etwa, dass Menschen arbeitsteilig produzieren und ihre Produkte dann miteinander tauschen. Einer wissenschaftlichen Betrachtung stellen sich diese Tatsachen jedoch als eine (schlechte) Abstraktion dar, die von der historischen Bedingtheit und Besonderheit sozialer Phänomene absieht. Die ›Bevölkerung‹ bedarf einer näheren Bestimmung, z.B. mit Blick auf die Klassen, aus denen sie besteht, und auch diese Klassen »sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhen, z.B. Lohnarbeit, Kapital etc. Diese unterstellen Austausch, Teilung der Arbeit, Preise etc.« (Marx 1981: 631). Marx ist also der Auffassung, dass empirische Evidenzen der politischen Ökonomie auf ihre gesellschaftlich-historische Konstituiertheit hin befragt werden müssen und dass sie nur in einem spezifischen Verweisungszusammenhang zu verstehen sind. Diese gesellschaftlichen Zusammenhänge sind durch bloße Anschauung nicht zu erkennen, sondern lassen sich nur durch Begriffsbildung aneignen: 6
Reinhart Kößler und Hanns Wienold bemerken, dass mit dem von Marx anvisierten Allgemeinheitsgrad eines Strukturzusammenhangs, der es erlaubt, bestimmte Gesellschaften als kapitalistische auszuweisen (unter Abstraktion von ihren je konkreten, empirischen Formationen), »eine entschieden höhere Konkretion erreicht ist als in allen Theoriekonzepten, die Gesellschaft oder Wirtschaft ohne jegliche historische Spezifizierung behandeln, sub specie aeternitatis« (Kößler/Wienold 2001: 52). 193
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»Finge ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen, und nur durch nähere Bestimmung würde ich analytisch auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. Von da wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichhaltigen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen.« (Marx 1981: 631)
Der Erkenntnisgewinn einer solchen Rekonstruktion besteht darin, dass eine bestimmte Ordnung erkennbar wird, die der Konstitution alltagsweltlicher Kategorien (wie Bevölkerung, Arbeit, Produktion und dergleichen) zugrunde liegt. Diese begriffliche Rekonstruktion der »reichhaltigen Totalität« beruht nicht darauf, dass lediglich einzelne abstrakte Kategorien aus dem empirischen Material gewonnen werden, wie beispielsweise ›Arbeit‹, ›Kapital‹ und ›Boden‹; dies wäre letztlich nur eine systematisierte Zusammenstellung alltagsweltlicher Kategorien. Marx geht es vielmehr darum, die Begriffe in eine bestimmte Ordnung zu bringen, »die ihnen aber nicht äußerlich ist und lediglich den Gesamtzusammenhang herstellt, sondern die zur Bestimmung der Kategorien selbst noch wesentlich ist: eine Ordnung, die wesentliche Beziehungen der Kategorien ausdrückt« (Heinrich 1999: 172f). Im Rahmen dieser begrifflich rekonstruierten Ordnung werden Vermittlungszusammenhänge erfassbar, die sich aus der empirischen Anschauung nicht erschließen lassen. Mit der Metapher der ›trinitarischen Formel‹ bezeichnet Marx die Problematik, dass Kapital, Arbeit und Boden empirisch zunächst als unmittelbare, eigenständige Produktionsfaktoren erscheinen, die jeweils ihren eigenen Anteil an der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums haben. Die abstrakten Kategorien ›Arbeit‹, ›Boden‹ und ›Kapital‹ scheinen einfach als verschiedene Quellen von Einkommen (Lohn, Rente, Profit) nebeneinander zu existieren, »sie verhalten sich gegenseitig etwa wie Notariatsgebühren, rote Rüben und Musik« (Marx 1989: 822). Der gesellschaftliche Zusammenhang, der diese Kategorien in ihrer spezifischen Formbestimmtheit und inneren Abhängigkeit voneinander überhaupt erst hervorbringt, ist nur durch weitere begriffliche Anstrengung erfassbar. Erst eine solche Analyse macht erkennbar, dass ›Arbeit‹ als Quelle von Einkommen eine bestimmte, historische Form der Verausgabung von Arbeitskraft gegen Lohn impliziert, die wiederum in konstitutivem Zusammenhang mit der historischen Form der Produktionsmittel als ›Kapital‹ steht. Beides ist wiederum ohne die Form des Privateigentums (an der eigenen Arbeitskraft oder/und an Produktionsmitteln als Kapital) nicht verständlich, wodurch 194
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wiederum auch die einkommensgenerierende Potenz des ›Bodens‹ erst möglich wird – denn nur in der historischen Form des Privateigentums kann Boden einen Teil der erwirtschafteten Produktion an sich binden.7 Ohne diese begrifflich-theoretische Ordnung des Zusammenhangs erscheinen die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse als natürliche Eigenschaften von Menschen und Dingen; infolgedessen stellt sich die kapitalistische Produktionsweise nicht als eine historisch-spezifische dar, sondern als die natürliche Art und Weise, zu produzieren: »Ihr durch eine bestimmte Geschichtsepoche bestimmter sozialer Charakter im kapitalistischen Produktionsprozess ist ein ihnen naturgemäß, und sozusagen von Ewigkeit her, als Elementen des Produktionsprozesses eingeborner dinglicher Charakter« (Marx 1989: 833). Marx’ Perspektive ist also insofern historisch, als sie im Sinne einer historischen Konkretion die spezifische Formbestimmtheit sozialer Phänomene in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise erfasst. Im Unterschied zu Foucault geht es ihm nicht um eine genealogische Rekonstruktion der historischen Entstehungsbedingungen dieser Phänomene. Vielmehr zielt er auf einen Systemzusammenhang, dessen historische Existenz (also dessen Gewordenheit) er voraussetzt; sein Erkenntnisinteresse richtet sich darauf, wie dieser Zusammenhang bestimmte Kategorien und Phänomene menschlichen Lebens notwendigerweise präjudiziert. Auf diese Weise erfasst er die kapitalismusspezifische Formbestimmtheit von ›Gattungsproblemen‹, die aus der Perspektive der disziplinierenden und regulierenden Verfahren der Bio-Macht als äußere Vor- und Aufgaben erscheinen. Die von Foucault immer wieder ins Spiel gebrachten historischen Notstände, auf die gesellschaftliche Dispositive der abendländischen Moderne ›antworten‹, lassen sich, so soll in diesem Kapitel deutlich werden, mit Marx präzisieren. Sie unterliegen – durch ihre Vielfältigkeit hindurch – bestimmten Dynamiken und Effizienzkriterien, die durch die Rekonstruktion der kapitalistischen Produktionsweise erfasst werden. Foucaults Aussagen, dass sich aufgrund der Veränderungen der Produktionsweise die historische Technologie der Souveränitätsmacht als ineffizient erweist (vgl. Foucault 1977) und es zu einer »Akkomodation der Macht« (Foucault 1992a: 37) kommt, verweisen auf diesen Zusammenhang, denn wie sich mit Marx zeigen lässt, setzt die kapitalistische Produktionsweise den 7
»Es ist klar, daß das Kapital die Arbeit als Lohnarbeit voraussetzt. Es ist aber ebenso klar, daß, wenn von der Arbeit als Lohnarbeit ausgegangen wird, so daß das Zusammenfallen der Arbeit überhaupt mit der Lohnarbeit selbstverständlich scheint, dann auch als natürliche Form der Arbeitsbedingungen, gegenüber der Arbeit überhaupt, das Kapital und die monopolisierte Erde erscheinen müssen.« (Marx 1989: 833) 195
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Machtverhältnissen bestimmte Parameter der Effizienz. Die Plausibilität beider Perspektiven ergibt sich, wenn sie unter dem Aspekt ihres jeweiligen Erkenntnisanspruchs und seiner systematischen Grenzen betrachtet werden; dann nämlich lässt sich der Zusammenhang von Produktionsweise und Machtverhältnissen insofern als kontingent ausweisen, als beide auf unterschiedliche analytische Dimensionen des Sozialen verweisen und damit in ihrer analytischen Unabhängigkeit ernst genommen werden können.8 Eine Pointe der Marx’schen Perspektive besteht darin, dass die vermeintliche Natürlichkeit und Notwendigkeit bestimmter Probleme in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise nicht nur als Effekt einer spezifischen Macht-Wissen-Ordnung zu begreifen ist und daher auch nicht allein auf dieser Ebene kritisiert werden kann. Wenn Marx immer wieder von der ›Naturwüchsigkeit‹ gesellschaftlicher Verhältnisse im Kapitalismus schreibt, dann weist diese Metapher auf eine historische Qualität dieser Verhältnisse hin: Solange sie in dieser spezifischen Weise als Systemzusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise organisiert sind, vollziehen sich bestimmte Dynamiken ›naturwüchsig‹, sind bestimmte Kategorien ›notwendig‹. Es geht Marx also tatsächlich um die Rekonstruktion einer Totalität im Sinne eines Konstitutionszusammenhangs. Gegenüber bestimmten Lesarten – gegen die sich auch Foucault wendet – muss aber betont werden, dass mit dem Begriff der ›Totalität‹ nicht eine historische Gesellschaftsformation gemeint ist, sondern ein abstrakter Zusammenhang, der bestimmte Kategorien hervorbringt, die in Macht-Wissen-Komplexen gesellschaftlich konkretisiert werden und sich dadurch in empirischer Vielfältigkeit und Kontingenz realisieren.
6.1.2 Grenzbestimmung: Produktionsweise und Gesellschaftsformation Die Unterscheidung dieser analytischen Dimensionen (Produktionsweise und Machtdispositive) soll noch etwas genauer betrachtet werden, um deutlich zu machen, dass Marx und Foucault auf unterschiedlichen Ebenen argumentieren und inwiefern Verbindungen zwischen ihren Per8
Trotz seiner vielfältigen Hinweise auf ein konstitutives Verhältnis von Produktionsweise und Machtverhältnissen (v.a. Foucault 1977) bleibt dieser Zusammenhang bei Foucault weitgehend obskur: »[D]er beständige, aber sich auf Andeutungen beschränkende und daher schwache Verweis auf die Marx’schen Analysen dient immer dazu, ihnen gegenüber die Spezifik der Machtverhältnisse und die relative Autonomie der Machttechnologien hervorzuheben« (Maler 1994: 93; Übers. HM).
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spektiven bestehen. Marx fragt nach den sozialen Formen, die konstitutiv für die besondere Gestalt empirischer Phänomene sind; was als Vielfalt von Einzelproblemen erscheint, kann damit in einen inneren Zusammenhang gestellt werden. In dieser theoretisch-methodologischen Perspektive auf die Rekonstruktion spezifisch historischer Bedingungen für eine vermeintlich natürliche Vielfalt treffen sich Marx und Foucault. Sie unterscheiden sich jedoch in ihren Gegenständen. Während Foucault die Subjekte und die Dinge, aus denen sich ihre Welt zusammensetzt, als Hervorbringung historischer Macht-Wissen-Komplexe betrachtet, geht es Marx um die Hervorbringung von Dingen und Subjekten durch eine bestimmte Organisation der Produktionsweise. Während sich aus Foucaults Arbeiten die Erkenntnis ziehen lässt, dass die beständige Umkämpftheit und Verschiebung von Wahrheitsansprüchen eine historische Dynamik moderner Wissensordnungen ist, kann mit Marx festgestellt werden, dass die deutungsunabhängige Systemstabilität eine historische Besonderheit der kapitalistischen Produktionsweise darstellt. Werden beide Erkenntnisse im Zusammenhang betrachtet, dann zeigt sich eine spezifische Ungleichzeitigkeit, die erklärt, wie es trotz einer gleichbleibenden ›Anatomie‹ der Produktionsweise zur historischen Abfolge verschiedener Gesellschaftsformationen kommen kann, deren Vielfalt sich nicht als entwicklungslogisch notwendig ausweisen lässt. Wird diese Ungleichzeitigkeit allerdings nicht in dieser analytischen Differenziertheit betrachtet, dann besteht die Gefahr, die eine Dimension gegen die andere auszuspielen. So kann der Eindruck entstehen, dass sich eine symbolisch-kulturell fokussierte Gesellschaftskritik auf ›Nebenschauplätzen‹ bewegt und dabei die ›eigentlichen‹ Probleme (nämlich die Strukturen der kapitalistischen Ökonomie) nicht nur vernachlässigt, sondern sie vielmehr noch verschleiert. Umgekehrt mag das Beharren auf der gesellschaftsanalytischen Bedeutung einer strukturellen Totalität der kapitalistischen Produktionsweise als reduktionistisch und deterministisch erscheinen. Statt jedoch von der Unvereinbarkeit dieser Perspektiven auszugehen oder zumindest die Privilegierung einer der beiden für notwendig zu halten, erscheint es produktiver, diese Ungleichzeitigkeit in ihrer historischen Bedeutung und Dynamik ernst zu nehmen. Von Marx lässt sich in diesem Zusammenhang erstens lernen, dass es historisch-systematische Gründe hat, dass die symbolischen Verhältnisse dem verändernden Zugriff unmittelbar zugänglicher sind als die Produktionsweise. Zweitens kann aus seinen Analysen die Erkenntnis gezogen werden, wie es kommt, dass sich bestimmte Formen von Hierarchisierungen und Herrschaftsverhältnissen durch symbolische Verschiebungen hindurch erhalten, solange die kapitalistische Produktionsweise weiterhin besteht. 197
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Es geht also im Hinblick auf die Perspektiven von Foucault und Marx nicht um gegenseitigen Ausschluss, sondern vielmehr um eine theoretische Grenzbestimmung. Marx’ Analyse kann in gewisser Weise Antworten auf Fragen geben, die bei Foucault offen bleiben, insbesondere Fragen nach strukturellen Bedingungen der modernen Rationalität, die den strategischen Formationen der Dispositive zugrunde liegt: Was haben moderne kapitalistische Gesellschaften gemeinsam, dass in ihnen Technologien der Disziplin und der ausschließenden und hierarchisierenden Regulierung – durch beständige Rekonfigurationen hindurch – blühen und gedeihen (vgl. Maler 1994: 95f)? Durch die Analyse der kapitalistischen Strukturen lassen sich spezifische Bedingungen der Möglichkeit von Herrschaftsverhältnissen beschreiben, die in systematischem Zusammenhang mit der historischen Organisation der Nutzung ökonomischer Ressourcen stehen. Marx’ Analyse kapitalistischer Gesellschaften bringt bestimmte Dynamiken zutage, die als ›stummer Zwang der Verhältnisse‹ durch symbolisch vermittelte Ungleichheitsund Herrschaftsverhältnisse hindurch wirken, jedoch in ihrer spezifischen Versachlichung nicht auf diese reduziert werden können. Die Marx’sche Methode der dialektischen Entwicklung der Begriffe9 in ihrem inneren Zusammenhang stößt an Grenzen, an denen die Erklärung realer Gesellschaftsformationen auf die Darstellung historischer Prozesse zurückgreifen muss. Ein von Marx selbst in diesem Zusammenhang angeführtes Beispiel ist die Bestimmung der Länge des Arbeitstages (Marx 1988: 245ff; vgl. auch Heinrich 1999: 178). Mit dem von Marx entwickelten begrifflich-theoretischen Rahmen lässt sich erfassen, dass sich hierbei unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise die Interessen und Rechte von Warenbesitzern gegenüberstehen; einerseits hat das Kapital Anspruch auf maximale Nutzung der gekauften Arbeitskraft, während andererseits der/die Lohnarbeiter_in Anspruch darauf hat, seine/ihre Arbeitskraft auch längerfristig zu erhalten. Zwischen diesen beiden Rechtsansprüchen entscheiden die historischen Kämpfe zwischen Arbeiter_innen und Kapitalbesitzer_ innen. Für die konkrete Gestalt, die der begrifflich bestimmte Interessengegensatz von Arbeit und Kapital annimmt, sind also durchaus historische Kontingenzen und durch die Wissensordnung vermittelte Deutungsprozesse entscheidend – die Marx’sche Analyse stellt jedoch die Frage nach strukturellen Bedingungen und Grenzen dieser Kämpfe. Vergesellschaftung ist nicht nur das Ergebnis menschlicher Praxis, sondern vor allem auch deren konstitutive Voraussetzung. Auf der abstrak9
Zur Vorgehensweise der dialektischen Darstellung eines Begründungszusammenhangs bei Marx siehe Heinrich 1999: 171ff.
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testen Ebene wird der Vergesellschaftungsmodus durch die gesellschaftlichen Strukturen (der Produktionsweise) bestimmt; diese werden in jeweils konkreter historischer Ausgestaltung in spezifischen Dispositiven wirksam werden, die, so hatten wir bei Foucault gesehen, Ergebnis und Voraussetzung menschlicher Praxis sind. Auch Marx setzt die Praxis als die eigentliche Bewegung voraus; gesellschaftliche Verhältnisse existieren nur, insofern sie praktisch aktualisiert werden. Wie diese Praxis in ihrer historischen Besonderheit von ihm analysiert wird, ist Thema des folgenden Abschnitts.
6.1.3 Gesellschaftliche Objektivität der Praxis Wie ich argumentiert habe, legen Butler und Foucault überzeugend dar, dass gesellschaftliche Bedingungen nicht nur Schauplatz, sondern vielmehr konstitutive Voraussetzung der subjektiven Handlungsfähigkeit sind. Auch bei Marx findet sich die Prämisse, dass das Subjekt nicht den Verhältnissen gegenübertritt, sondern dass es vielmehr in seiner Subjektivität durch die spezifischen Verhältnisse überhaupt erst konstituiert wird. In der Auseinandersetzung mit Butler und Foucault war mir daran gelegen zu zeigen, inwiefern deren Perspektiven dennoch die Möglichkeit zulassen, dass Subjekte intentional handeln. Allerdings ist diese Intentionalität des Handelns immer historisch spezifisch. An der Marx’schen Perspektive auf diesen Zusammenhang fällt zunächst deren Fokus auf gesellschaftliche Objektivität auf, die als vermeintlich sachliche Bedingung den Intentionen und dem Handeln gegenübersteht. Marx fragt, inwiefern sich in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise Dynamiken erkennen lassen, die objektiv zu deuten sind. Es wird also ein Strukturzusammenhang rekonstruiert, der »ohne Rekurs auf Deutungsprozesse handelnder Individuen erklärt werden« kann (Eberle 1981: 211). Der sich auf die Produktionsweise beziehende Strukturbegriff erfasst die gesellschaftlichen Formen, die sich einem normativinterpretativen Zugriff entziehen und diesem vielmehr den Rahmen vorgeben, innerhalb dessen er sich bewegen kann. Der Clou an der Marx’schen Perspektive besteht darin, diese objektiven Strukturen durch den Aufweis ihrer gesellschaftlichen Gestalt und historischen Gewordenheit prinzipiell der Intentionalität des Handelns zugänglich zu machen. Mittels seiner historischen Kritik dieser Strukturen kann er dann begründen, dass sich eine widerständige Intentionalität auf deren Veränderung richten kann und muss. Eine zentrale These der Marx’schen Kapitalismusanalyse lautet, dass bestimmte strukturelle Dynamiken – er spricht in diesem Zusammenhang von ›Gesetzen‹ – vorgegeben sind, solange die kapitalistische Pro199
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duktionsweise besteht. Dabei geht es ihm nicht darum, die abstrakten Strukturen zu ontologisieren und sie jeglichem handelnden Zugriff zu entziehen. Grundsätzlich geht auch Marx davon aus, dass die Geschichte das Resultat menschlicher Praxis ist – diese Praxis realisiert sich jedoch unter Bedingungen, die ihr vorgängig sind: »Die Menschen machen ihre Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen« (Marx 1970: 226). In diesem bekannten Zitat macht Marx eine generelle Aussage über die ›Entfremdung‹ menschlicher Existenz, ähnlich wie wir sie bei Butler gefunden haben, nämlich dass Menschen ihre Handlungsbedingungen immer schon vorfinden. Marx geht es jedoch im Zuge seiner Analysen der kapitalistischen Vergesellschaftung darum, zu zeigen, inwiefern sich in Gesellschaften mit dieser historischen Produktionsweise eine besondere Qualität der ›Entfremdung‹ erkennen lässt. Eine Pointe seiner Argumentation besteht darin, eine für die kapitalistische Produktionsweise spezifische Versachlichung und Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu konstatieren, die dazu führt, dass die Subjekte gesellschaftliche Verhältnisse als Wesenseigenschaften von Dingen und Menschen wahrnehmen und ›Gesellschaft‹ ihnen dann wiederum als notwendige Folge dieser Natur von Dingen und Menschen erscheint. Marx bezeichnet dies als ›Verkehrung‹, da gesellschaftliche – also von den Menschen ›gemachte‹ – Verhältnisse gewissermaßen als Natur erscheinen. Diese Verkehrung präzisiere ich im Folgenden anhand des Konzepts der sachlichen Herrschaft als einer historisch besonderen Form der Herrschaft, die vermittelt über die Freiheit der Subjekte wirkt.
6.2 Sachliche Herrschaft Macht, so stellt Foucault klar, wird in modernen abendländischen Gesellschaften nicht von einem Zentrum ausgeübt und ist auch nicht als Besitz einer Person oder Gruppe zu denken. Dennoch lassen sich auch in diesen Gesellschaften bestimmte strukturelle Verfestigungen erkennen, die spezifische Hierarchien und Machtasymmetrien konstituieren. Im Jahr 1984 trifft Foucault die zeitdiagnostische Aussage, dass »der Kampf gegen die Formen der Subjektivierung, gegen die Unterwerfung durch Subjektivität zunehmend wichtiger (wird), auch wenn die Kämpfe gegen Herrschaft und Ausbeutung nicht verschwunden sind« (Foucault 1994a: 247). Damit thematisiert er bestimmte Verschiebungen in den politischen Praktiken, die vor allem dadurch gekennzeichnet sind, dass die begehrenden Subjekte und ihre Individualität zunehmend als Aus200
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gangspunkt und Ziel emanzipatorischer Bestrebungen erscheinen. Dass dies eine historische Berechtigung hat und dass damit spezifische Freiheitsräume sowie eine spezifische Handlungsfähigkeit der Subjekte verbunden sind, habe ich in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten Foucaults diskutiert. Hier werden nun allerdings die Grenzen der Foucault’schen Perspektive sichtbar: Seine Analyseperspektive lässt erkennen, dass Macht im modernen Abendland gerade durch die Freiheitspraktiken der Subjekte hindurch ausgeübt wird. Wie sich gezeigt hat, ist damit das Paradoxon verbunden, dass Selbstpraktiken als Freiheitspraktiken offenbar systematisch in marktradikale oder neoliberale Gesellschaftsprojekte integrierbar sind, so dass diese Freiheitspraktiken letztlich doch immer wieder als Herrschafts- oder Unterwerfungspraktiken erscheinen. Aus der Marx’schen Perspektive kann hier aber eine gewisse Ungenauigkeit der Argumentation konstatiert werden, die darauf beruht, dass Herrschaft und Unterwerfung mit den Kürzeln ›Marktradikalismus‹ oder ›Neoliberalismus‹ nur beschreibend erfasst werden. Um sie in ihren spezifischen historischen Formen betrachten zu können, müssen die besonderen gesellschaftlichen Verhältnisse rekonstruiert werden, die sie konstituieren. Nicht nur die Weisen der Subjektivierung, sondern auch Herrschaft und Ausbeutung sind also in ihrer besonderen historischen Konstitution zu analysieren. Mit Marx lässt sich argumentieren, dass Herrschaft und Ausbeutung in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise gerade dadurch gekennzeichnet sind, dass sie systematisch und dauerhaft und zugleich unpersönlich sind. Auch diejenige Form der systematischen Unterwerfung der Subjekte, die prinzipiell auf deren Freiheit beruht, lässt sich mit Marx als eine spezifische Form von Herrschaft bezeichnen. Sie ist allerdings nicht dadurch bestimmt, dass sich die Macht im ›Besitz‹ von Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen befindet. Vielmehr lässt sich mit Marx thematisieren, dass die Machtdispositive, in denen freie Subjekte auf das Handeln anderer freier Subjekte einwirken, bestimmten sachlichen Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise unterliegen. Diese konfigurieren die strategischen Imperative des Handelns und konstituieren damit eine spezifische sachliche Qualität von Herrschaft und Ausbeutung in kapitalistischen Gesellschaften.10 In diesem Abschnitt gehe ich der Frage nach, wie die kapitalistische ›Gesetzmäßigkeit‹ des Verwertungsimperativs sich »aus den internen Funktionsbedingungen des Systems« (Eberle 1981: 199) erklären lässt 10 »Nach Marx besteht die gesellschaftliche Herrschaft im Kern nicht in der Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern in der Beherrschung von Menschen durch abstrakte gesellschaftliche Strukturen, die von den Menschen selbst konstituiert werden.« (Postone 2003: 61f) 201
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und inwiefern sie eine Grundkonfiguration des Gesellschaftlichen vorgibt. Dazu zeichne ich im ersten Schritt die grundlegende Bestimmung der kapitalistischen Produktionsweise nach: als Warenproduktion. Durch seine Analyse des Warentauschs entschlüsselt Marx, inwiefern sich der gesellschaftliche Zusammenhang als Verhältnis von Dingen darstellt, die den Subjekten als historische Faktizität bestimmte Handlungsbedingungen vorgeben. Als Grundlage dieser Gesetzmäßigkeiten rekonstruiert Marx das Wertgesetz; damit bezeichnet er eine bestimmte historische Struktur des gesellschaftlichen Zusammenhangs, über den die Distribution von Ressourcen, Produkten und Diensten erfolgt. Eine besondere Crux dieser gesellschaftlichen Verhältnisse besteht darin, dass sich die konstitutive Verwiesenheit der arbeitsteilig agierenden Produzenten über deren individuelle Unabhängigkeit realisiert. Im zweiten Schritt stelle ich dar, dass das Wertgesetz nicht nur die Allokation der gesellschaftlichen Ressourcen, sondern auch die Ziele und Organisation der Produktion sowie die menschliche Arbeit und die darin implizierten Selbstund Interaktionsverhältnisse in einer besonderen Weise strukturiert. Es lassen sich damit strukturell-sachliche Zwecksetzungen und Effizienzkriterien erkennen, die sich unabhängig von den normativen Bewertungen der Akteure reproduzieren und deren Handeln eine bestimmte Logik vorgeben. Das Beharren im eigenen Sein lässt sich dadurch in einer kapitalismusspezifischen Dimension erfassen. Diese zunächst als ökonomische Dynamiken bestimmten sachlichen Zwecke und Effizienzkriterien durchziehen in unterschiedlichem Ausmaß alle gesellschaftlichen Bereiche und geben damit »eine allgemeine Beleuchtung« vor, »worin alle übrigen Farben getaucht sind« (Marx 1981/1857: 637) – oder an Foucault anknüpfend: Sie konstituieren einen historischen Notstand, auf den die Machtdispositive ›antworten‹. Im dritten Schritt gehe ich dann genauer auf das Verhältnis von struktureller Konfiguration der Produktionsweise und empirischer Vielfalt der Machtverhältnisse ein. Die historische Singularität kapitalistisch strukturierter Machtverhältnisse besteht darin, dass diese als unpersönliche oder sachliche Herrschaft wirken. Ihren direkten Wirkungsbereich haben diese Machtverhältnisse im Bereich der Produktion und Distribution; sie durchziehen aber mit ihren spezifischen Zwecksetzungen alle gesellschaftlichen Bereiche und lassen sich als kapitalismusspezifische Begrenztheit oder Konfiguration der Kontingenz moderner Gesellschaften begreifen. Mit der Rekonstruktion dieser strukturellen Konfiguration ist zugleich eine historische Kritik an den Effekten verbunden, die dieser Zusammenhang im Hinblick auf den ›Wert des Lebens‹ hervorbringt.
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6.2.1 Vergesellschaftung als Warentausch Wie bereits dargestellt, geht es Marx um die Rekonstruktion spezifischer Formen der Vergesellschaftung in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise und den daraus resultierenden Reproduktionsdynamiken. An dieser Stelle sollen nun grundlegende historische Bedingungen betrachtet werden, die Marx als gesellschaftliche Voraussetzung dieser Dynamiken gelten. Wie Marx konstatiert, zeichnet sich die kapitalistische Produktionsweise dadurch aus, dass ihr Reichtum als »ungeheure Warensammlung« (Marx 1988: 49) erscheint. Damit stellt er fest, dass die Produktion von Waren eine Besonderheit der kapitalistischen Produktionsweise ist, die impliziert, dass eine Produktion für den Tausch stattfindet. Interessant sind nun die Vergesellschaftungsbedingungen, die mit dieser Erscheinung verknüpft sind: Es handelt sich zunächst um eine arbeitsteilige Produktionsweise; präziser noch wird diese Bestimmung, wenn die besondere Form betrachtet wird, in der die Arbeitsteilung organisiert ist, nämlich als Arbeit von vereinzelten Privatproduzenten.11 Diese stellen ihre Produkte für den Austausch (also als Waren) her, ohne jedoch zu wissen, ob und in welchem Umfang sie überhaupt nachgefragt werden; erst auf dem Markt stellt sich – über den Tauschakt – der gesellschaftliche Zusammenhang von Produzenten und Konsumenten12 her. Marx stellt sich nun die Frage, wie in einer Gesellschaft, in der die Produktion arbeitsteilig von vereinzelten Herstellern geleistet und die Verteilung von Gütern über den Tausch realisiert wird, ökonomische
11 Historische Voraussetzung dieser Form ist die Trennung der Mehrheit der Individuen von den Produktionsmitteln und deren Konzentration als Privatbesitz in den Händen weniger. Damit ist die Verallgemeinerung der historischen Form der Lohnarbeit gegeben, denn die mittellose Mehrheit ist darauf angewiesen, für den Erhalt ihres Lebens ihre Arbeitskraft an die Besitzer der Produktionsmittel zu verkaufen. 12 An dieser Stelle der Argumentation, die sich auf die abstrakten Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise bezieht, bedürfte es einer sprachlichen Form, die eine (Zwei-)Geschlechtlichkeit der Akteure nicht benennt. Die Wahl der männlich-allgemeinen Form ist ein Notbehelf: Zwar bin ich mir dessen bewusst, dass ich damit in phallogozentrischer Manier das Männliche als das ›Neutrale‹ setze, meine sprachlichen Möglichkeiten sind jedoch begrenzt oder in bestimmter Weise konfiguriert: Ich möchte an dieser Stelle tatsächlich in gewisser Weise eine ›Neutralität‹ zum Ausdruck bringen, die darauf verweist, dass es sich hier um kapitalismusspezifische Formbestimmungen menschlicher Subjektivität handelt. Zwar ist die Zweigeschlechtlichkeit historisch-empirisch in diese Subjektivität eingelassen – dies ist jedoch eine historische Kontingenz, die nicht auf der hier thematisierten analytischen Ebene zu verhandeln ist. 203
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Allokationsprobleme, also die Verteilung sowohl der Arbeit und der Ressourcen als auch der Produkte, gelöst werden. Er kommt zu dem Ergebnis, dass dies über eine regulierende Dynamik möglich ist, die sich aus diesem Zusammenhang notwendigerweise ergibt und die er begrifflich als ›Wertgesetz‹ rekonstruiert. In einer Gesellschaft mit verallgemeinerter Warenproduktion zeichnet sich der Tauschakt dadurch aus, dass von den konkreten stofflichen Qualitäten der Produkte abgesehen wird; die unterschiedlichen Waren werden als Arbeitsprodukte gleichgesetzt und in rein quantitative Relation zueinander gestellt. Während dieser Zusammenhang bereits von klassischen Ökonomen erkannt und als Arbeitswerttheorie formuliert worden ist, geht es Marx um die Rekonstruktion der bestimmten gesellschaftlichen Form der Organisation arbeitsteiliger Produktion, die überhaupt erst die Vergleichbarkeit verschiedener Produkte als Werte möglich macht. Diese Verhältnisse zeichnen sich dadurch aus, dass vereinzelte Privatproduzenten ihre qualitativ unterschiedlichen Produkte im Tauschakt als Waren gleichsetzen. Diese spezifische Praxis ist aber nur innerhalb eines bestimmten Systems möglich; nur wenn unterschiedliche Waren auf ein gemeinsames Drittes (Arbeitszeit) bezogen werden können, sind sie unter Absehung von ihren je besonderen stofflichen Qualitäten überhaupt vergleichbar. Diese Vergesellschaftung über den Wert stellt eine historische Faktizität dar, die den Subjekten als Handlungsbedingung erscheint; nur unter diesen Bedingungen können sie als Warenproduzenten ihre individuelle Unabhängigkeit in der Abhängigkeit von anderen Warenproduzenten überhaupt realisieren. Damit hat Marx bestimmte, objektive Bedingungen rekonstruiert, die die Voraussetzung dafür sind, dass die Subjekte überhaupt als Warenbesitzer und -käufer bewusst agieren können.13 Entscheidend ist, dass der Wert im Sinne von Marx nicht auf subjektiver Wertschätzung beruht, sondern vielmehr durch den gesellschaftlichen Zusammenhang konstituiert wird. Damit ist zugleich impliziert, dass der Wert auch keine überhistorische Eigenschaft der Dinge ist, sondern eine spezifische gesellschaftliche Vermittlungsinstanz darstellt, die auf den historischen Bedingungen einer »vollständig entwickelten Warenproduktion« (Marx 1988: 89) beruht: Nur wenn in einer Gesellschaft die Bedarfsdeckung weitgehend über den Tausch abläuft, also nur, wenn in verallgemeinerter Form für den Markt produziert wird, 13 »In ihrer Verlegenheit denken unsre Warenbesitzer wie Faust. Am Anfang war die Tat. Sie haben daher schon gehandelt, bevor sie gedacht haben. Die Gesetze der Warennatur betätigen sich im Naturinstinkt der Warenbesitzer. Sie können ihre Waren nur als Werte und darum nur als Waren aufeinander beziehen, indem sie dieselben gegensätzlich auf irgendeine andre Ware als allgemeines Äquivalent beziehen.« (Marx 1988: 101) 204
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›haben‹ Produkte überhaupt einen Wert, der sie mit jedem anderen Produkt vergleichbar macht. Marx spezifiziert also die generelle Aussage, dass in Gesellschaften mit arbeitsteiliger Produktion eine Vergesellschaftung der einzelnen Arbeiten stattfinden muss: Während eine unmittelbare Vergesellschaftung darüber denkbar wäre, dass die Verteilung der Arbeit sowie der Produkte im Vorhinein und an den gemeinschaftlichen Bedürfnissen orientiert stattfindet, zeichnet sich die kapitalistische Produktionsweise gerade dadurch aus, dass »der gesellschaftliche Charakter der Produktion erst durch die Erhebung der Produkte zu Tauschwerten und den Tausch dieser Tauschwerte post festum gesetzt (wird)« (Marx 1983: 104). Durch diese spezifische Form der Vergesellschaftung der Arbeit über den Wert werden die sozialen Beziehungen der Akteure zu Verhältnissen ihrer Waren zueinander. Nicht die Menschen bestimmen den Produktionsprozess, indem sie gemeinschaftlich die Bedürfnislage und die bestehenden Möglichkeiten zueinander ins Verhältnis setzen und daraufhin die Arbeit verteilen und organisieren, vielmehr bestimmt ein sachliches Wertgesetz über den gesellschaftlichen Charakter der Arbeit; die sozialen Beziehungen verselbständigen sich damit als sachliche Notwendigkeiten.14 Die vereinzelten Privatproduzenten müssen ihre individuellen Allokationsentscheidungen unabhängig voneinander und in Unkenntnis der Entscheidungen anderer treffen: »Auf Märkten können Entscheidungsträger keine direkte Verbindung mit den Wünschen, Hoffnungen und Werten anderer herstellen. Stattdessen werden die Wünsche, Hoffnungen und Werte anderer in Marktpreise und Mengen übersetzt, die mit Naturkraft zu wirken scheinen, und denen sich jede Entscheidungseinheit anpassen muß – ohne jede Gelegenheit zu kollektiver gesellschaftlicher Reflexion und Diskussion, die zu einer anderen Entscheidungsfolge führen könnte.« (Elson 1990: 71)
Hier deuten sich bereits Probleme an, die in die kapitalistische Produktionsweise strukturell eingelagert sind und als Ausdruck von sachlicher Herrschaft gedeutet werden können. Da sich der gesellschaftliche 14 Zu einer ähnlich lautenden Diagnose gelangt Max Weber, der feststellt, dass »die Marktgemeinschaft als solche … die unpersönlichste praktische Lebensbeziehung (ist), in welche Menschen miteinander treten können« (Weber 1980: 382). Im Unterschied zu Weber, der den seitens der Akteure subjektiv gemeinten Sinn als Analysefokus nimmt und die ›Marktgemeinschaft‹ als historische Rahmenbedingung setzt, geht es Marx jedoch darum, durch die Analyse der kapitalismusspezifischen Formen die gesellschaftlichen Strukturen zu ergründen, die unabhängig vom Wollen der Akteure diese Versachlichung hervorbringen. 205
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Zusammenhang der Produzenten erst im Tausch über den Wert ihrer Waren vermittelt, entscheidet sich erst hier – also post festum –, welcher Teil der verausgabten Arbeitszeit überhaupt gesellschaftliche Geltung erlangt. Aufgrund dieser mittelbaren Vergesellschaftung der Produktion können real verausgabte und gesellschaftlich notwendige Arbeit voneinander abweichen. Ein weiteres strukturelles Problem liegt darin begründet, dass der Begriff des Werts, wie er hier im Anschluss an Marx verstanden wird, ein rein quantitatives Austauschverhältnis und keine qualitative Aussage über einzelne Produkte oder Bedürfnisse impliziert. Er lässt also auch keine normative Aussage über Nützlichkeit und Notwendigkeit der Produkte oder über Nützlichkeit und Notwendigkeit der für ihre Herstellung aufgebrachten Arbeit zu. Dass eine solche sachlichabstrakte Vermittlungsinstanz wirksam ist, kann wiederum systematisch dazu führen, dass es gesellschaftliche Bedürfnisse gibt, die nicht über den Markt befriedigt werden. Als erste Bestimmung der sachlichen Herrschaft lässt sich also festhalten, dass die verallgemeinerte Warenproduktion in kapitalistischen Gesellschaften eine historisch besondere Interdependenz der Subjekte impliziert, da Lebens- und Produktionsmittel überwiegend durch Tausch erworben werden. Diese Interdependenz wird aber nicht kollektiv bearbeitet, vielmehr sind die Subjekte in ihren Entscheidungsprozessen atomisiert und unterliegen damit den sachlich-strukturellen Gesetzmäßigkeiten von veränderten Preisen15 und Gütermengen (vgl. Elson 1990: 70). Dieses Problem der Isolation der Akteure führt zu einer strukturellen Lücke zwischen den Rationalitäten der individuellen Entscheidungsträger und dem makroökonomischen Zusammenhang: »Die Verselbständigung der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Vereinzelung gegenüber den Gemeinwesen macht sie formell zu selbstbestimmten Subjekten und entzieht ihnen zugleich die Kontrolle über die Wirkung ihrer Aktionen« (Kößler/Wienold 2001: 96).16 Die Verkeh-
15 Das theoretisch-analytische Verhältnis von Wert und Preisen kann ich hier nicht diskutieren. Ich folge an dieser Stelle Lesarten, die davon ausgehen, dass Preise den empirischen Wertausdruck von Waren darstellen. Beide Kategorien stehen dabei in einem logisch-begrifflichen Verhältnis, denn während sich Wert auf die abstrakte Rekonstruktion von Strukturen bezieht, die überhaupt erst die Erscheinung von Preisen hervorbringen, lassen sich Preise nicht aus dem Wert ableiten oder berechnen, sondern kommen durch empirische Dynamiken von Angebot und Nachfrage sowie durch die Konkurrenzdynamik zwischen den Kapitalen zustande. Zu einer ausführlichen Diskussion dieses Zusammenhangs vgl. Heinrich 1999. 16 Eine bekannte Metapher für diese Lücke ist der sogenannte Schweinezyklus, der das Phänomen erfasst, dass Entscheidungen auf der Basis aktueller Marktlagen (beispielsweise die Aufnahme eines Informatikstu206
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rung, die gesellschaftliche Beziehungen zu sachlichen Verhältnissen werden lässt, führt paradoxerweise zugleich dazu, dass der gesellschaftliche Zusammenhang als Ergebnis individuellen Wahlverhaltens erscheint. Die Privatproduzenten sind Subjekte, die autonom darüber entscheiden, was und zu welchen Bedingungen sie produzieren. Insofern sind sie frei. Zugleich ist ihre Freiheit jedoch den Gesetzmäßigkeiten der Sachen unterworfen, denn ihre Produkte können sich nur in dem Maße als Waren realisieren, wie sie auf dem Markt als Werte gelten. Nur wenn sich Produkte als Waren tauschen lassen, realisiert sich die für ihre Herstellung aufgebrachte Arbeit als Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeitsmenge in der Form des Werts. Die Wertgrößen der Waren aber unterliegen nicht dem Willen der Subjekte, sondern »wechseln beständig, unabhängig vom Willen, Vorwissen und Tun der Austauschenden. Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren« (Marx 1988: 89). Die Marx’sche Kritik richtet sich nun nicht darauf, diesen Zusammenhang als bloße Täuschung zu entschleiern, vielmehr geht es ihm darum, die Verkehrung als historisch besondere Form der sachlichen Herrschaft zu rekonstruieren, der die Subjekte unterworfen sind, unabhängig davon, wie sie diese Zusammenhänge deuten. Als ›Fetischismus‹ bezeichnet er jedoch den Umstand, dass diese Warenform und die damit verbundenen sachlichen Verhältnisse »als ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion« erscheinen (Marx 1988: 95).17 Im Weiteren gilt es nun zu klären, inwiefern diese objektiven Gediums aufgrund der starken Nachfrage nach Informatiker_innen auf dem Arbeitsmarkt) wegen der zeitlich verzögerten Wirkung auf das Angebot (aufgrund der notwendigen Dauer des Studiums) zu einem Überangebot führen können (da sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt aufgrund der vielen Einzelentscheidungen zum Informatikstudium inzwischen dramatisch verändert hat). An dem gewählten Beispiel kann zudem verdeutlicht werden, dass die Auswirkungen dieser ›Instabilität der Märkte‹ auf verschiedene Akteure sehr unterschiedlich sein können, denn je nach struktureller Positionierung sind deren Möglichkeiten, flexibel auf die veränderte Marktlage zu reagieren, sehr ungleich: Während der Erwerb völlig neuer Qualifikationen nur bedingt möglich ist und zumindest wieder einen längeren Zeitraum in Anspruch nimmt, lassen sich finanzielle Investitionen unter Umständen sehr schnell und unter geringen Transaktionskosten in andere Segmente verlegen. Zu den sozialen Konsequenzen dieser Rationalitätslücke und den strukturell ungleichen Handlungsspielräumen siehe zum Beispiel Castells 2000. 17 Hier lässt sich auch Marx’ Kritik an den Theorien der politischen Ökonomie beispielhaft verdeutlichen: »Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also 207
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setzmäßigkeiten eine ›Beleuchtung‹ vorgeben, in die nicht nur der Tausch, sondern vielmehr auch andere gesellschaftliche Bezüge getaucht sind.
6.2.2 Das ›Wertgesetz‹ als bestimmendes Prinzip der gesellschaftlichen Produktion Der Markt oder die über den Wert vermittelte Distribution stellt in der Marx’schen Kapitalismusanalyse nicht den alleinigen oder wesentlichen Fokus dar. Entscheidend ist vielmehr auch die Art und Weise, wie die Produktion der Waren strukturiert ist und wie dieser spezifische Produktionsprozess mit der Zirkulation von Waren zusammenhängt. Mittels der Kategorie des Werts erfasst Marx eine historisch spezifische Form des gesellschaftlichen Reichtums, die nicht nur auf eine besondere Art der Distribution (Privateigentum, Markt) verweist, sondern auch auf eine spezifische Form der Arbeit (vgl. Postone 2003: 55ff). Vor dem Hintergrund des durch das Wertgesetz konstituierten Verwertungsimperativs sind die als »vereinzelte Einzelne« (Marx 1981: 21) ihre Waren herstellenden Privatproduzenten nicht an deren Gebrauchswert, sondern an deren Tauschwert interessiert. Marx kommt daher zu der Erkenntnis, dass Arbeit in der kapitalistischen Produktionsweise eine besondere Form hat: Unabhängig von der jeweils konkret-stofflichen Tätigkeit unterliegt sie im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise einer zusätzlichen, abstrakten Bestimmung als wertbildende Arbeit.18 Der Arbeitsprozess ist also doppelt bestimmt, er ist zum einen die Verausgabung konkreter Arbeit, die spezifische Gebrauchsgüter hervorbringt, zum anderen ist er aber zugleich abstrakte Arbeit, insofern er diese Güter als Waren produziert und damit »ein individuiertes Moment einer qualitativ homogenen, allgemeinen gesellschaftlichen Vermittlung« ist (Postone 2003: 236).
die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt?« (Marx 1988: 94f) 18 Marx macht sehr deutlich, dass diese abstrakte Bestimmung der wertbildenden Arbeit eine für die kapitalistische Produktionsweise spezifische Form ist, die auf bestimmten Produktionsbedingungen und verallgemeinertem Warentausch beruht: »Tauschwert setzende Arbeit ist dagegen eine spezifisch gesellschaftliche Form der Arbeit. Schneiderarbeit z.B. in ihrer stofflichen Bestimmtheit als besondere produktive Tätigkeit, produziert den Rock, aber nicht den Tauschwert des Rocks. Letztern produziert sie nicht als Schneiderarbeit, sondern als abstrakt allgemeine Arbeit, und diese gehört einem Gesellschaftszusammenhang, den der Schneider nicht eingefädelt hat.« (Marx 1981: 24) 208
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Mittels dieser doppelten Bestimmung der Arbeit lässt sich die von Marx bereits im Hinblick auf die tauschvermittelte Vergesellschaftung konstatierte Versachlichung weiter erläutern. Im kapitalistischen Produktionsprozess ist der Produzent an der stofflichen Qualität seines Produkts nur insoweit interessiert, als sie für andere auf dem Markt einen Gebrauchswert darstellt und sich für ihn somit dessen Tauschwert realisieren lässt. Mit dem Wert als Vermittlungsinstanz ist eine Form des gesellschaftlichen Reichtums gegeben, die der lebendigen Arbeit strukturell als sie beherrschende Macht gegenübertritt. Da der Tauschwert der eigentliche Zweck des Produzenten ist, muss diesem daran gelegen sein, unter Einsatz möglichst geringer Arbeitsleistung eine möglichst hohe Produktmenge herzustellen. Damit ist eine weitere Facette der Versachlichung gesellschaftlicher Verhältnisse gegeben, denn die gesellschaftliche Form des Werts konstituiert nicht nur den Modus der Verteilung, sondern auch die spezifische Gestalt des Produktionsprozesses und damit auch die besonderen Qualitäten und Qualifikationen der in diesem Prozess wirkenden Produktivkräfte. Marx diskutiert diesen Umstand als eine spezifische Form der Entfremdung, die darin besteht, dass die konkrete Arbeit als Mittel zum Zweck der Wertbildung erscheint, was zur Folge hat, dass sowohl die im Produktionsprozess zum Einsatz gebrachte Technologie als auch die Arbeitsorganisation und die Qualifikationen der Arbeitenden dem Primat der Wertbildung unterworfen sind.19 So werden beispielsweise Entwicklung und Einsatz von Technologien nicht maßgeblich durch den Zweck bestimmt, die Arbeit zu erleichtern, angenehmer zu machen und eventuell die Menschen von stark belastenden Tätigkeiten zu befreien oder etwa ökologische Probleme der Produktion zu vermindern, vielmehr ist das Ziel der Produktivitätssteigerung das entscheidende Moment. Auch in dieser Hinsicht geht es Marx darum zu zeigen, dass es sich um eine strukturelle Form der sachlichen Herrschaft handelt und nicht um ein Problem der Machtbesessenheit und Gier einzelner Individuen oder gesellschaftlicher Gruppen. Die gesellschaftliche Zwecksetzung der Wertschöpfung ist den Subjekten vorgegeben. Marx führt das kapitalistische Prinzip des ›Erwerbs um des Erwerbs willen‹20 auf die Bedingung 19 Dass dies nicht bedeutet, dass Arbeit nur Wertbildung bezweckt, sondern vielmehr als Tätigkeit immer auch über diese Form hinausweist, diskutiere ich ausführlicher in Abschnitt 6.3 im Hinblick auf mögliche Handlungsfähigkeit und Widerständigkeit der Subjekte. 20 Diese Formel wurde von Max Weber geprägt, der eine Besonderheit des Kapitalismus darin sieht, dass der Erwerb zum Selbstzweck wird – und nicht eine Funktion des Konsums darstellt. Allerdings macht Weber auch deutlich, dass es dabei nicht um einen generellen ›Erwerbstrieb‹ im Sinne einer reinen Anhäufung von Reichtum geht, sondern vielmehr um ein 209
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der verallgemeinerten Herstellung von Waren durch vereinzelte Privatproduzenten zurück. Seine Analysen führen ihn in einer weiteren begrifflichen Konkretisierung zu der Erkenntnis, dass Geld und Kapital spezifische Formen der Produktionsmittel sind, die in der Analyse entscheidende historische Kategorien darstellen. Auf dem Markt kann der Tauschwert einer Ware prinzipiell durch jede andere Ware repräsentiert werden, im Geld findet sich jedoch eine Ware, die als allgemeines Äquivalent fungiert. Der Gebrauchswert des Geldes besteht darin, als allgemeines Tauschmittel zu dienen, allgemein Wert auszudrücken; der Gebrauchswert des Geldes wird daher nicht im Konsum vernichtet – und infolgedessen kann das Geld zu einem Selbstzweck in dem Sinne werden, dass das Ziel der Tauschenden nicht im Konsum besteht, sondern darin, möglichst viel Geld anzusammeln. Diese Zwecksetzung ist jedoch wiederum begrenzt, denn die bloße Anhäufung von Geld ist nur vorübergehend sinnvoll, um mit dem ersparten Vermögen wiederum andere Waren zu kaufen. Zu einem tatsächlichen Selbstzweck wird die Vermehrung von Geld erst als Mittel der Kapitalbildung, bei der eine Ware gekauft wird, um sie für mehr Geld wieder verkaufen zu können; der bestimmende Zweck ist die Wertschöpfung – nicht die Befriedigung von Bedürfnissen. Diese auf den Wert gerichtete Zwecksetzung erschöpft sich nicht in ihrer einmaligen Erfüllung, »nicht der einzelne Gewinn, sondern nur die rastlose Bewegung des Gewinnens« ist der »unmittelbare Zweck des Kapitalisten« (Marx 1988: 168). Dies liegt nun nicht in der Gier des individuellen Kapitalisten begründet, vielmehr ›ist‹ dieser Kapitalist nur, insofern er die rastlose Bewegung des Gewinnens vorantreibt. Unter der Voraussetzung der Existenz einer selbständigen Geldform, so schreibt Marx, ist der Wert »das übergreifende Subjekt eines solchen Prozesses, worin er Geldform und Warenform bald annimmt, bald abstreift, sich aber in diesem Wechsel erhält und ausreckt« (Marx 1988: 169). Unter den Bedingungen des Äquivalententauschs – wenn also davon auszugehen ist, dass der Prozess des Vermehrens von Geld durch den Einsatz von Geld nicht auf Betrug oder Prellerei beruht – lässt sich die Quelle des Gewinn nicht in der Zirkulation von Ware und Geld finden. Marx findet die Erklärung in der spezifischen Strukturierung des Produktionsprozesses, genauer: in der gesellschaftlichen Existenz einer besonderen Ware, nämlich der Arbeitskraft, deren Besonderheit darin besteht, dass sie in der Lage ist, mehr zu produzieren als sie selber wert ist
»Streben nach Gewinn: im kontinuierlichen, rationalen, kapitalistischen Betrieb; nach immer erneutem Gewinn: nach Rentabilität« (Weber 1988: 4). 210
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– das heißt, sie kann mehr produzieren, als für ihren Lebensunterhalt notwendig.21 Die Eigentümer von Produktionsmitteln kaufen diese Ware, um durch deren Konsum im Produktionsprozess mehr Wert herzustellen, als sie zu ihrem Kauf aufwenden mussten: »Diese Wertdifferenz hatte der Kapitalist im Auge, als er die Arbeitskraft kaufte. Ihre nützliche Eigenschaft, Garn oder Stiefel zu machen, war nur eine conditio sine qua non, weil Arbeit in nützlicher Form verausgabt werden muß, um Wert zu bilden. Was aber entschied, war der spezifische Gebrauchswert dieser Ware, Quelle von Wert zu sein und von mehr Wert als sie selber hat. Dies ist der spezifische Dienst, den der Kapitalist von ihr erwartet.« (Marx 1988: 208)
Ebenso wie die besonderen Qualitäten der Waren nur insofern interessieren, als sie Träger von Tauschwert sind, also auf kaufwillige (und -fähige) Bedürfnisse stoßen, ist auch die besondere Qualität der Verausgabung der Ware Arbeitskraft nur insofern relevant, als sie zur Herstellung dieser Träger von Tauschwert dient. Die lebendige Arbeit wird dabei in ihrer Organisation und in den von ihr in Gang gesetzten technischen Prozessen dem Ziel der Kapitalverwertung, der Mehrwertproduktion untergeordnet: »Es handelt sich hier nicht mehr um die Qualität, die Beschaffenheit und den Inhalt der Arbeit, sondern nur noch um ihre Quantität« (Marx 1988: 203f). Der kapitalistische Produktionsprozess lässt sich also als Einheit von Arbeits- und Verwertungsprozess genauer bestimmen, wodurch deutlich wird, dass in dieser spezifischen Produktionsweise der Begriff der produktiven Arbeit auf Mehrwert produzierende Arbeit verengt ist: »Die kapitalistische Produktion ist nicht nur Produktion von Ware, sie ist wesentlich Produktion von Mehrwert. […] Nur der Arbeiter ist produktiv, der Mehrwert für den Kapitalisten produziert oder zur Selbstverwertung des Kapitals dient.« (Marx 1988: 523)22 Dem Kapitalisten muss es entsprechend darum gehen, diese Produktivität des Arbeiters beständig zu maximieren. 21 An dieser Stelle verweist Marx wiederum auf die Grenzen seiner Analyseperspektive. Ihm geht es um die Rekonstruktion der abstrakten strukturellen Bedingungen, unter denen die menschliche Arbeitskraft überhaupt einen ›Wert‹ hat; er macht jedoch deutlich, dass der konkrete Umfang und die Qualität der Lebensmittel, die in einer spezifischen gesellschaftlichen Situation den ›Wert‹ der Arbeitskraft ausmachen, nur im Rahmen historisch-empirischer Untersuchungen zu bestimmen sind: »Im Gegensatz zu den andren Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element.« (Marx 1988: 185) Vergleiche dazu auch Heinrich 2005: 90ff. 22 Hier wird deutlich, dass ›Produktivität‹ in diesem Zusammenhang keine normative Kategorie ist, die sich auf Nützlichkeit im Sinne der Befriedi211
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Diese Rastlosigkeit des Gewinnstrebens, durch das Kapitalisten ihr Beharren im eigenen Sein als Kapitalisten sichern müssen, findet ihren strukturellen Grund in einer weiteren objektiven Logik der kapitalistischen Produktionsweise: in den Zwangsgesetzen der Konkurrenz. Da die Verteilung des gesellschaftlich erwirtschafteten Werts über den Markt läuft, ist die jeweilige Menge, die einem Individuum zufällt, durch seine relative Position zu anderen Marktteilnehmern bestimmt. Eine zum Zeitpunkt X gegebene Nachfrage nach der Ware Y hat zur Folge, dass die Menge von Y, die ein Warenbesitzer verkaufen kann, immer im Verhältnis zu der Menge steht, die andere Besitzer derselben Waren absetzen können – als besondere Gebrauchswerte finden die Waren »eine Schranke an der vorhandenen Größe der Konsumtion […] – oder der Konsumtionsfähigkeit« (Marx 1983: 318). Gesamtgesellschaftlich erfolgt die Verteilung der Ressourcen auf verschiedene Produktionsbereiche (als Verteilung des Kapitals auf unterschiedliche Wirtschaftsbranchen) über die Profitrate als Maßstab der Verwertungsbedingungen; um entsprechend Kapital an sich ziehen zu können, müssen die Kapitalisten bestrebt sein, in ihrer Produktivität anderen möglichst voraus zu sein und damit ihre Profitrate zu optimieren (vgl. Marx 1989: 182ff). In der Konkurrenz als dem Mechanismus, durch den sich die gesellschaftlichen Ressourcen in der Produktion verteilen und durch den das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage reguliert wird, macht sich der »gesellschaftliche Charakter der Produktion und Konsumtion geltend« (Marx 1989: 203). Die über den Tausch vermittelte Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen stellt sich als Ausdruck »der freien Individualität in der Sphäre der Produktion und des Austauschs« (Marx 1983: 549) dar, und im Verhältnis zu dieser Freiheit erscheinen die Gesetze der Konkurrenz als äußerer Zwang. Insofern die freien und isolierten Privatproduzenten den Warentausch nicht in gemeinschaftlichen Abstimmungsprozessen organisieren, steht ihnen dessen Dynamik als eine fremde, sachliche gegenüber: »Die freie Konkurrenz ist die reelle Entwicklung des Kapitals. Durch sie wird als äußere Notwendigkeit für das einzelne Kapital gesetzt, was der Natur des gung menschlicher Bedürfnisse bezieht. Diesem Missverständnis unterliegen beispielsweise diejenigen, die aus feministischer Perspektive auf der ›Produktivität‹ von Hausarbeit in kapitalistischen Gesellschaften bestehen (z.B. von Werlhof 1978; kritisch dazu Beer 1983). Vielmehr geht es gerade darum, die spezifische Form von ›Produktivität‹ in der kapitalistischen Produktionsweise zu bestimmen und sie insofern einer historischen Kritik zu unterziehen, als in ihr menschliche Bedürfnisse nur als Mittel zum Zweck erscheinen: »Produktiver Arbeiter zu sein ist daher kein Glück sondern ein Pech.« (Marx 1988: 523) 212
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Kapitals entspricht, der auf das Kapital gegründeten Produktionsweise, was dem Begriff des Kapitals entspricht. Der wechselseitige Zwang, den in ihr die Kapitalien aufeinander, auf die Arbeit etc. ausüben (die Konkurrenz der Arbeiter ist nur eine andere Form der Konkurrenz der Kapitalien), ist die freie, zugleich reale Entwicklung des Reichtums als Kapital.« (Marx 1983: 550)
Wenn auf diese Weise die Wertbildung als spezifisches Ziel der (kapitalistischen) Produktion bestimmt ist, dann lässt sich also mit der Konkurrenz eine spezifische strukturelle Dynamik begründen, die zu einer kontinuierlichen Vermehrung des Werts führt, indem beständig die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit im Verhältnis zur Mehrarbeit zurückgedrängt wird. Dies kann zunächst als absolute Mehrwertsteigerung durch Verlängerung und/oder Intensivierung des Arbeitstags geschehen; es zeigt sich aber auch ein Effekt, den Marx als relative Mehrwerterhöhung bezeichnet, da die Produktivkraft der Arbeit durch die ständige Transformation der technischen und organisatorischen Bedingungen des Arbeitsprozesses gesteigert und damit letztlich der Wert der notwendigen Lebensmittel gesenkt wird. Mit dem Begriff der »reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital« (Marx 1988: 533) erfasst Marx den Umstand, dass die Maßnahmen zur relativen Mehrwertsteigerung dem Arbeitsprozess nicht äußerlich bleiben (indem sie etwa nur dessen Lage und Dauer beeinflussen), vielmehr werden die Abläufe selber sowie die Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten der Arbeitenden von ihnen bestimmt. In diesem Sinne kann der Arbeitsprozess als Dispositiv begriffen werden, innerhalb dessen sich bestimmte Funktionalitäten mit konkreten Abläufen konstitutiv verknüpfen. Während die absolute Mehrwertsteigerung eine direkte Strategie der Kapitalbesitzer darstellt, ergibt sich die relative Mehrwertsteigerung mittelbar als Effekt einer anderen Strategie. Die Erhöhung der Produktivkraft dient den einzelnen Kapitalisten zur Verbesserung ihrer Wettbewerbssituation, indem sie (kurzfristig) ihre Waren günstiger (weil schneller) produzieren können als ihre Konkurrenten – was wiederum zur Folge hat, dass diese ebenfalls ihre Produktivität steigern müssen, wollen sie nicht gänzlich aus dem Feld geschlagen werden. In beiden Fällen werden strategische Entscheidungen zwar von einzelnen Subjekten getroffen; dass diese sie treffen, liegt aber jenseits ihres eigenen Wollens in den kapitalismusspezifischen Gesetzen der Konkurrenz begründet, die den einzelnen Kapitalisten den Zwang zu beständiger Revolutionierung der Produktionsvorgänge auferlegt, mit dem Ziel, im günstigsten Fall einen (zeitlich befristeten) Vorsprung vor anderen Produzenten zu erlangen, zumindest aber nicht gänzlich vom Markt – und damit auch aus der Produktion – verdrängt zu werden. Für die kapitalis213
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tische Produktionsweise lässt sich also eine spezifische Dynamik feststellen, die nicht vom Wollen und den Interpretationen der Subjekte abhängt, deren Praktiken aber konfiguriert. In der Darstellung von Foucaults Konzept der Bio-Macht hat sich gezeigt, dass dieses historische Dispositiv durch bestimmte strategische Imperative eines historischen ›Notstands‹ strukturiert wird, deren Funktion darin besteht, »die Gesellschaft in eine Produktionsmaschine umzuwandeln« (Foucault 2005b: 232). Mit der Kapitalismusanalyse von Marx lassen sich nun die historischen Strukturen und Formen erkennen, die diese Funktion überhaupt erst hervorbringen. Infolge der Entschlüsselung der spezifischen Dynamiken und Widersprüche dieses ›historischen Notstands‹ lässt sich dessen ›Verrücktheit‹, aber zugleich auch dessen prinzipielle Veränderbarkeit erkennen. Die mit der ›reellen Subsumtion‹ vollzogene Unterordnung der Arbeitskraft unter die Erfordernisse der maschinellen Produktion hat eine strategische Funktion: die Produktion von Mehrwert. Daher lassen sich aus der spezifischen Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise gewissermaßen ein Ziel und damit auch Effizienzkriterien für die Ausrichtung der Machtbeziehungen begründen. Auf diese Weise ist eine besondere sachliche Qualität der Herrschaft der gesellschaftlichen Bedingungen über die Subjekte sowie eine spezifische historische Form der Ausbeutung als Äquivalententausch erfassbar. Herrschaft und Ausbeutung finden ihren Ausdruck als individuelle Freiheit. Die Grenze dieser Freiheit zeigt sich durch die begriffliche Rekonstruktion der strukturellen Dynamiken; diese lässt erkennen, dass die spezifische Form individueller Freiheit in kapitalistischen Gesellschaften »zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit (ist) und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen – von den sich beziehenden Individuen selbst unabhängigen Sachen annehmen« (Marx 1983: 551). Folgt man Marx in der Annahme, dass durch die Durchsetzung des Kapitals als Instanz der Vergesellschaftung von Produktion und durch die damit einhergehende Verallgemeinerung von Waren- und Kapitalbeziehungen spezifische Grundstrukturen der Gesellschaft geprägt werden, dann lässt sich der von Foucault immer wieder vorgebrachte Hinweis auf die enge Verzahnung von Produktionsweise und Machtverhältnissen theoretisch konkretisieren. Die – historisch vorgängigen – institutionellen Gefüge und Praktiken werden mit der Etablierung der kapitalistischen Produktionsweise transformiert und erhalten in der Strukturierung ihrer Strategien eine bestimmte Richtung und Dynamik. Dies ist nicht als BasisÜberbau-Verhältnis zu interpretieren, vielmehr kann man es als ein Verhältnis bedingter Kontingenz bezeichnen, eine funktionale Interferenz, 214
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aber keine Beziehung gegenseitiger Kausalität.23 Um dieses analytische Verhältnis weiter aufzuschlüsseln, gehe ich nun der Frage nach dem strukturellen Ganzen nach – das nicht das Ganze der Gesellschaftsformation ist, diese jedoch in spezifischer Weise konfiguriert.
6.2.3 Trennung und Synthesis Im Anschluss an die Marx’schen Analysen der historischen Bedingungen und Formen von Produktion und Distribution lässt sich argumentieren, dass in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise spezifische abstrakt-sachliche Prinzipien zum Realitätsprinzip geworden sind; bestimmte wirtschaftliche Dynamiken stehen den Subjekten gewissermaßen als Naturgewalten gegenüber. Im Folgenden werden nun die gesamtgesellschaftlichen Implikationen dieser Strukturierung näher beleuchtet und wird somit der Bogen von der abstrakten Bestimmung der Produktionsweise zu der Vielfalt der Dispositive geschlagen. Dabei soll deutlich werden, dass die Dispositive von den Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise strukturiert, nicht jedoch determiniert werden: »Die gesellschaftlichen Strukturen des abstrakten Reichtums, wiewohl sie nicht koextensiv sind mit allen erscheinenden Sphären dieser Gesellschaft, durchziehen diese und implizieren zentrale Maße und Formen des In-der-Welt-Seins« (Creydt 2000: 262); diese Strukturen geben, wie Marx es ausdrückt, eine allgemeine Beleuchtung vor, »worin alle übrigen Farben getaucht sind und die sie in ihrer Besonderheit (modifizieren)« (Marx 1981: 637). Im Hinblick auf die theoretisch-methodische Vorgehensweise lassen sich Parallelen zwischen Marx’ Rekonstruktion der abstrakten Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise und Foucaults Rekonstruktion historischer Dispositive feststellen. In beiden Perspektiven geht es um die Erkenntnis eines Verweisungszusammenhangs, aus dem die historische Existenz der einzelnen Elemente überhaupt erst erklärbar wird. Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass die Marx’sche Analyse zugleich abstrakter und historisch konkreter ist. Abstrakter ist sie, insofern sie von der empirischen Vielfalt der Phänomene absieht und nur bestimmte Formen und Dynamiken erfassen will, die in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen verschiedene Gestal23 Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Lemke: »Die Disziplin als eine Technologie der Macht kann in ›sehr unterschiedlichen politischen Regimen, Apparaten oder Institutionen eingesetzt werden‹ […] Kapitalismus und Disziplinen sind zwar historisch gleichzeitig aufgetreten, es handelt sich jedoch nicht um eine ›logische‹ Verbindung (d.h. mit dem möglichen Ende einer kapitalistischen Wirtschaftsorganisation verschwinden nicht notwendigerweise auch die Disziplinen)« (Lemke 1997: 75, Fn 37). 215
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ten annehmen können. Historisch konkreter ist sie, insofern sie die durch das Bestehen dieses abstrakten Strukturzusammenhangs gegebene historische Notwendigkeit bestimmter Formen und Dynamiken erfasst. Foucault hingegen zielt auf die durch spezifische strategische Imperative konfigurierten historischen Formen kontingenter Ereignisse. Einmal mehr geht es mir jedoch bei dieser Differenzierung nicht um die Entscheidung für die prinzipielle ›Richtigkeit‹ einer der beiden Perspektiven. Vielmehr sehe ich den Erkenntnisgewinn darin, beide in ihrem je besonderen Gegenstandsbezug zu betrachten und ihre Anschlussfähigkeit hervorzuheben, denn durch eine Verschränkung beider Perspektiven lässt sich verständlich machen, inwiefern Machtdispositive sowohl gegenüber Transformationen in der Produktionsweise resistent als auch in andere Produktionsweisen transferierbar, also historisch und kulturell mobil sind: »So verhindert nicht nur die Abschaffung alter Herrschaftsverhältnisse und die Reform alter Ausbeutungsverhältnisse keinesfalls, dass die Machttechnologien, auf denen diese beruhten, weiter bestehen, vielmehr kann eine Revolution der Anlass für die Intensivierung ihrer Effekte und ihrer kumulativen Verbindung mit neuen Formen von Ausbeutung und Herrschaft sein.« (Maler 1994: 95; Übers. HM)
Indem sich Machttechniken ungeplant und unkoordiniert in verschiedenen Institutionen entwickeln, bilden sie den kontingenten Prozess, der jenes »Geschichtsprodukt (hervorbringt), das das Kapital allein nicht herstellt« (Negt/Kluge 1993: 23) – beispielsweise die lebendige Arbeitskraft mit ihren spezifischen Fähigkeiten und Eigenschaften, die ›passfähig‹ für die kapitalistische Produktionsweise sind: »Es geht um ein Arsenal von Eigenschaften, aus denen die disziplinierten Arbeitsvermögen sich später zusammensetzen, eine innere Struktur aus gutem Willen; Anerkennung, daß Leben ausverkauft wird; Wahrnehmung des stummen Zwangs ökonomischer Verhältnisse; Anpassung menschlicher Eigenschaften an ihre Eignung für fremdbestimmten Produktionsprozeß, eine Willensstruktur.« (Negt/Kluge 1993: 23)
Wichtig ist, dass die genealogische Analyse der neuen ›Ökonomie der Körper‹ den Rekurs auf eine geradlinige, funktionalistische Ableitung der entsprechenden Machttechnologien aus den Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise vermeidet, indem sie die Modernisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse als einen vielschichtigen Prozess erfasst, der sich aus der Transformation verschiedener historischer Praktiken zusammensetzt, die zugleich die kontingenten Bedingungen für die 216
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Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise darstellen. Während Marx abstrakte Gesetze rekonstruiert, die Handlungsbedingungen und -möglichkeiten der Subjekte konstituieren, eröffnet Foucaults Machtanalyse eine Perspektive, unter der sich das lebendige Arbeitsvermögen in seinen vielfältigen empirischen Gestalten erfassen lässt, ohne dass man sich dabei auf substantialistische Annahmen über Menschen berufen müsste, und unter der man zugleich die prinzipielle Kontingenz dieser konkreten Ausprägung des Menschlichen gegenüber den strukturellen Bedingungen des Kapitalismus hervorheben kann.24 Mit Marx lässt sich die spezifische Form ökonomischer Effizienz, die für Machttechnologien konstitutiv ist, als Effizienz des Verwertungsimperativs bestimmen. Der in der kapitalistischen Produktionsweise gegebene Zwang zur Kapitalakkumulation setzt die Produktion von Mehrwert als das entscheidende Kriterium, das den Einsatz von Ressourcen und Arbeitskraft, die Produktion von Gütern und Leistungen sowie die Produktionsbedingungen strukturiert: »In einer kapitalistischen Ökonomie liegt der rote Faden in der Produktion und Reproduktion des Kapitals; die Schöpfkraft der Menschen sowie der Ausdruck und die Entwicklung von Bedürfnissen werden dem Profitstreben untergeordnet« (Elson 1990: 61). Die Produktion von Gebrauchswerten ist daher kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Produktion von Mehrwert. Entscheidungen darüber, was in welcher Qualität, in welcher Menge, unter welchen Produktionsbedingungen hergestellt wird, werden von relativ isolierten Privatproduzenten in Unkenntnis der Absichten 24 So kann beispielsweise die feministische Kritik, dass in der Marx’schen kategorialen Bestimmung der Arbeitskraft als abstrakte Verkörperung eines gesellschaftlichen Verhältnisses keine empirischen Individuen existierten, produktiv aufgegriffen werden. Ursula Beer stellt zu Recht fest, dass die Marx’sche Analyse in ihrem Abstraktionsgrad die materiale Gestalt historisch-empirischer Verhältnisse in modernen kapitalistischen Gesellschaften nicht erfassen kann, denn »wenn ich […] meine Arbeitskraft auf dem Markt anbiete, tue ich das nicht nur als potenzielle Lohnarbeitskraft für einen Beschäftiger, sondern als Frau oder Mann« (Beer 1991b: 260). Allerdings erweist sich die von Beer eingeführte analytische Unterscheidung zwischen »dem Typus einer sozialen Verhältnisbestimmung und dem Typus ihres Substrats« (Beer 1991a: 120) als kurzschlüssig, da sie lediglich konstatieren kann, »dass es ganz einfach auch Geschlechter geben muss, die ein solches Verhältnis konstituieren« (Beer 1991b: 257) und damit voraussetzt, dass Individuen in ihrer Körperlichkeit eine Existenz außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse führen. Hier ist es sinnvoller, Marx’ Analyse in ihrer Abstraktion ernst zu nehmen: Sie kann die Existenz von Frauen und Männern nicht erfassen – deren Erklärung bewegt sich auf einer anderen Ebene. Das Verhältnis beider Ebenen lässt sich als ein Verhältnis der funktionalen Kontingenz verstehen. Ausführlicher diskutiere ich diese Frage im 7. Kapitel. 217
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anderer getroffen und basieren auf Änderungen von Preisen und Mengen. Die gesellschaftliche Reproduktion ist infolgedessen davon abhängig, dass die Produktion von Mehrwert mit dem Ziel der Produktion von weiterem Mehrwert aufrechterhalten werden kann. Die Reproduktion der Arbeitskraft ist in diesem Zusammenhang eine notwendige Bedingung dieses Prozesses, nicht jedoch dessen Ziel oder Maßstab. Als notwendige Bedingung wird die Arbeitskraft jedoch von den individuellen Kapitalisten vorausgesetzt; sie geht als »Ingrediens« (Marx 1989: 34) in den Produktionsprozess ein – wie sie entsteht und wie sie sich regeneriert, kann dem Kapitalisten prinzipiell gleichgültig sein: »Was die Ware dem Kapitalisten kostet, und was die Produktion der Ware selbst kostet, sind allerdings zwei ganz verschiedene Größen. […] Die kapitalistische Kost der Ware mißt sich an der Ausgabe in Kapital, die wirkliche Kost der Ware an der Ausgabe in Arbeit.« (Marx 1989: 34) Aufgrund der versachlichten Zwecksetzungen kommt es also in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise zu der widersprüchlichen Konstellation, dass entscheidende Existenzgrundlagen seitens der marktvermittelten Produktionsprozesse externalisiert werden (können). Neben den Reproduktionsbedingungen der Arbeitskräfte betrifft dies beispielsweise auch ökologische Bedingungen und Rohstoffe, deren Erhalt und nachhaltige Nutzung ebenfalls nicht in den Zwecksetzungen der kapitalistischen Produktionsweise enthalten ist. Diese systematische Blindheit des Kapitals gegenüber seinen eigenen Existenzbedingungen verweist auf spezifische Trennungen, die für die kapitalistische Produktionsweise charakteristisch sind. Gesellschaftliche und individuelle Reproduktionskreisläufe zerfallen dabei in verschiedene, voneinander getrennte und unabhängig erscheinende Aspekte: Der Tausch zerfällt in die Akte des Kaufs und des Verkaufs, Subjekte agieren in einzelnen Tauschprozessen entweder als Produzenten oder als Konsumenten, die Produktionssphäre ist sowohl von der Zirkulationssphäre als auch von der Sphäre des individuellen Konsums getrennt. Mittels dieser analytischen Rekonstruktion lässt sich die funktionale Differenzierung moderner abendländischer Gesellschaften genauer bestimmen. Im Hinblick auf die Konstitution gesellschaftlicher Dispositive hatte ich festgestellt, dass sich diese Gesellschaften aufgrund ihrer hohen Komplexität durch ein hohes Maß an Kontingenz auszeichnen. Mit Marx lassen sich nun bestimmte Bedingungen und damit auch spezifische strukturelle Grenzen dieser Kontingenz benennen. Moderne Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise sind nicht einfach funktional differenziert, vielmehr unterliegt diese Differenzierung der spezifischen Funktionalität des Verwertungsimperativs; die Eigenständigkeit der Dispositive wird insoweit ernst genommen, 218
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zugleich wird der Zusammenhang der Dispositive als gegenseitiges Konstitutionsverhältnis betrachtet. In diesem Sinne lässt sich der Markt als Form der Synthesis fassen, die ihre Existenzbedingungen in den historischen Strukturen individuell-arbeitsteilig produzierender kapitalistischer Gesellschaften hat; erst die besonderen Trennungen, die diese Produktionsweise hervorbringt, führen zur Notwendigkeit dieser spezifischen Synthesis. Das Getrennte wird dann in seinem konstitutiven Zusammenhang erkennbar: So können beispielsweise Kauf und Verkauf nur unter den Bedingungen eines durch Geld vermittelten Warentauschs als eigenständige Akte erscheinen und konkrete Phänomene – wie etwa den »Kaufmannstand« (Marx 1983: 83) – hervorbringen. Statt einen direkten Warentausch (Ware gegen Ware) zu erfordern, macht es die Existenz von Geld möglich, dass die Veräußerung einer Ware nicht unmittelbar zum Erwerb einer anderen Ware führen muss. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, dass der Reproduktionskreislauf unterbrochen wird, indem ihm das Geld (zumindest zeitweilig) entzogen wird. Auf diese Weise entstehen komplexe Dynamiken, die zu spezifischen krisenhaften Erscheinungen führen können, in denen sich die auseinandergerissene Einheit dieses Reproduktionskreislaufs gewaltsam wiederherstellt: »Es ist absolut nötig, dass die gewaltsam getrennten Elemente sich als Trennung eines wesentlich Zusammengehörigen ausweisen« (Marx 1983: 84, auch Marx 1988: 127f).25 Strukturelle Probleme der kapitalismusspezifischen Trennungen machen sich jedoch nicht nur in akuten Krisen geltend. Indem die über Geld vermittelte Zirkulation »die zeitlichen, örtlichen und individuellen Schranken des Produktenaustausches (sprengt)« (Marx 1988: 127), »werden die Produktions-, Zirkulationsund Konsumtionsräume in immer unsinnigerer Weise gegeneinander isoliert und auseinandergerissen« (Ottomeyer 1977: 65). Als ›unsinnig‹ lässt sich diese Trennung insofern bezeichnen, als sie gesellschaftliche Ressourcen in einer bestimmten Weise einsetzt und bindet. So verlangt beispielsweise die zunehmende Differenzierung von Wohn- und Gewerbegebieten, durch die die Orte von Erwerbstätigkeit, Einkauf, Freizeit und Privatleben auseinandergerissen werden, einen hohen Mobilitätsaufwand der Individuen und führt damit zu hohen zeitlichen Kosten und einem enormen Verkehrsaufkommen. Auch an den Phänomenen von Marktforschung und Werbebranche lässt sich nachvollziehen, inwiefern die kapitalistische Produktionsweise Dispositive hervorbringt, die gesellschaftliche Ressourcen und individuelle Kreativität in spezifischer 25 Sicherlich können die Finanzmärkte mit ihrer nahezu völligen Entkoppelung von Investition und Produktion als Sinnbild dieser Trennung gelten; allerdings ist das strukturelle Problem nicht auf diese besondere Form des Marktes beschränkt. 219
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Weise konfigurieren und binden und sie damit zugleich anderen Verwendungen entziehen. Der Markt kann als hocheffiziente Form der Organisation von arbeitsteiligen Privatproduzenten gesehen werden, die über das Preissystem relevante Informationen für die Produzenten und Konsumenten bereitstellt. Demgegenüber erscheinen andere denkbare Formen der Planung als kostenintensiv und unflexibel.26 Diane Elson weist allerdings darauf hin, dass diese Sicht von der Voraussetzung ausgeht, dass Informationen auf dem Markt kostenlos zur Verfügung stehen; übersehen werden dabei »die hohen Zahlen an Verkaufspersonal, Marktexperten, Werbefachleuten, Maklern etc., die für den Betrieb von Märkten erforderlich sind« (Elson 1990: 67). Dass Märkte systematisch mit Betriebskosten verbunden sind, die die Nutzung der zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Ressourcen in bestimmter Weise strukturieren, stellt jedoch nicht die einzige Dimension einer historischen Kritik dar. Die spezifische Effizienz der Märkte bricht sich auch an eigentümlichen, systematischen Hierarchisierungen. So ist das Verhältnis von Produzenten und Konsumenten insofern strukturell ungleich, als Letztere in der Regel ihre Konsumentscheidungen angesichts eines gegebenen Warenangebots zu gegebenen Preisen treffen. Individuelle Endverbraucher müssen ihre Waren auf dem Markt für den Zweck des unmittelbaren Konsums veräußern (Arbeitskraft) oder erwerben (Lebensmittel); sie können ihre Kaufentscheidungen nur in sehr geringem Maße aufschieben und sind damit in ihren Möglichkeiten, auf Preisinformationen flexibel zu reagieren, erheblich eingeschränkt. Demgegenüber können Unternehmen ihre Entscheidungen über Investitionen in den produktiven Konsum wesentlich leichter aufschieben – und damit den Tauschprozess Ware – Geld – Ware (zeitweilig) unterbrechen, in der Hoffnung, günstigere Anlagebedingungen zu finden. Seinen zugespitzten Ausdruck findet dieses ungleiche Verhältnis in der nahezu unbegrenzten Flexibilität des Finanzkapitals, dessen ›Wesen‹ geradezu darin besteht, Tauschvorgänge einzig im Hinblick auf höchstmögliche Rentabilität vorzunehmen. Aber nicht nur die Spielräume der Reaktionsmöglichkeiten auf Preise sind systematisch ungleich, auch die Informationen selber, die durch diese vermittelt werden, haben den Effekt einer spezifischen Hierarchisierung von Bedürfnissen. Preise ›informieren‹ über aktuelle Knappheitsverhältnisse; Bedürfnisse werden in ihnen nur berücksichtigt, sofern sie durch Kaufkraft gedeckt sind. Wie die gesellschaftliche Kaufkraft, die darüber bestimmt, wer was in welchen Mengen kaufen kann, 26 Dies ist ein beliebtes Thema (neo-)liberaler Ökonomen; ein einschlägiger Vordenker dieser Argumentation ist Friedrich August von Hayek (1952). 220
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verteilt ist und ob es möglicherweise Bedürfnisse gibt, hinter denen nicht die nötige Kaufkraft steht, kann über Preise nicht thematisiert werden. Soziale und ökologische Aspekte – insbesondere Folgekosten der wertorientierten Produktion – gehen nur insofern in das Kalkül ein, als sie als private Kosten und Erträge erfasst werden können. Die durch den Verwertungsimperativ bestimmte Bedeutung der Anlagebedingungen für Kapital führt zu einer strukturellen Hierarchisierung gesellschaftlicher Bereiche, denn kostenintensive und nur in geringem Maße rationalisierbare Tätigkeiten eignen sich nur als Kapitalanlage, wenn sie einer entsprechenden zahlungsfähigen Nachfrage gegenüberstehen. Mit dieser Analyse ist wiederum eine Dimension struktureller Kritik an gesellschaftlichen Effekten der kapitalistischen Produktionsweise skizziert, die systematisch zu Hierarchisierungen und Ausschlüssen führen. Nun gilt es aber noch die Frage zu klären, wie angesichts des konstatierten Überhangs gesellschaftlicher Objektivität überhaupt die eingangs proklamierte subjektive, auf Veränderung dieser Verhältnisse zielende Intentionalität oder Widerständigkeit zu denken ist.
6.3 Subjektivität und Handlungsfähigkeit In den bisherigen Ausführungen habe ich an der Marx’schen Perspektive die Rekonstruktion der kapitalistischen Produktionsweise als eines objektiven Strukturzusammenhangs hervorgehoben. Um den analytischen Geltungsanspruch dieser Konzeption objektiver Strukturen – und damit deren Aussagekraft, aber auch Begrenztheit – darlegen zu können, hatte ich eingangs ihren Abstraktionsgrad und den Gegenstand, auf den sie sich bezieht, genauer bestimmt. Der Marx’sche Gegenstand ist die strukturelle ›Anatomie‹ der kapitalistischen Produktionsweise; es geht ihm nicht darum, in deterministischer oder ableitungslogischer Manier alle konkreten, empirischen Phänomene einer historischen Gesellschaftsformation zu erklären. Im Folgenden diskutiere ich nun, wie sich vor diesem analytischen Hintergrund die Frage von Subjektivität und Handlungsfähigkeit stellt. Dabei lässt sich zunächst eine Grundannahme konstatieren, die Marx mit Butler und Foucault teilt, dass nämlich die Alternative zu einer hermetischen Konzeption sich subjektfrei reproduzierender Strukturen nicht in einem humanistischen Beharren auf der Handlungsfähigkeit vorgängiger Subjekte bestehen muss. Mit Marx lässt sich argumentieren, dass Menschen handlungsfähige Subjekte sind, dass jedoch ihre Subjektivität in kapitalistischen Gesellschaften durch objektive Strukturen und Dynamiken konstituiert ist, die die auf dem Wege individueller oder kollektiver Sinngebung nicht unmittelbar zu beein221
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flussen sind. Bei Marx finden sich deutliche Hinweise, dass er nicht ›die Gesellschaft‹ oder ›die Geschichte‹ als handelndes Subjekt betrachtet: »Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der alles das tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die Geschichte, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre – als ob sie eine aparte Person wäre – Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.« (Marx/Engels 1972: 98)
Allerdings ist dieser lebendige Mensch in seiner Subjekthaftigkeit nicht a priori zu bestimmen und als Prämisse einzuführen, sondern in seiner Konstituiertheit durch die gesellschaftlichen Verhältnisse erst zu erfassen: »Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn. Als ob einer sagen wollte: Vom Standpunkt der Gesellschaft aus existieren Sklaven und citizens nicht: sind beide Menschen. Vielmehr sind sie das außer der Gesellschaft. Sklav sein und citizen sein, sind gesellschaftliche Bestimmungen, Beziehungen der Menschen A und B. Der Mensch A ist als solcher nicht Sklav. Sklav ist er in der und durch die Gesellschaft.« (Marx 1983: 189)
Es soll im Weiteren nun deutlich werden, dass die Marx’sche Rekonstruktion objektiver Strukturen gerade auch für die Frage der spezifischen Konstitution von Handlungsfähigkeit einen wichtigen Erkenntnisgewinn bringt; sie ermöglicht es nämlich, diese gesellschaftliche Objektivität als historisch spezifische Form menschlicher Vergesellschaftung erkennbar zu machen und dabei zugleich die in ihr enthaltene strukturelle Dynamik zu erfassen, durch die sich Spielräume für emanzipatorische Gestaltung eröffnen. Erst dadurch wird es möglich, die Merkmale und Umstände der kapitalistischen Produktionsweise nicht als Rahmendaten der jeweiligen Handlungssituation hinzunehmen, die lediglich beschreibend zur Kenntnis genommen werden können. Vielmehr lässt sich deren prinzipielle Veränderbarkeit aufzeigen. Diese Veränderbarkeit kann intentional gestaltet werden, allerdings sind mit Marx zunächst kapitalismusspezifische strukturelle Hindernisse einer solchen Gestaltung zu bestimmen: »Die angenommene Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Entwicklung ist für Marx weder Produkt metaphysischer Spekulation noch gar Legitimation für eine bestimmte politische Strategie. Auch ist sie keine Invariante der gesellschaftlichen Auseinandersetzung Mensch – Natur, die als solche unaufhebbar ist. Die gesetzmäßige Entwicklung des Kapitalismus erfolgt aus einer be222
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stimmten Organisationsform der Produktivkräfte, die durch menschliches Handeln entstanden ist, und durch menschliches Handeln auch wieder geändert werden kann.« (Eberle 1981: 139f)
Der Erkenntnisgewinn der Marx’schen Analysen besteht also in der Rekonstruktion historischer Strukturen, die menschlichem Handeln zwar nicht einfach als unaufhebbare Naturgesetze gegenüberstehen, die aber einer kollektiven Gestaltung von Gesellschaft systematisch entgegenstehen. Das Besondere gegenüber den Analysen von Butler und Foucault besteht darin, dass Marx deutlich macht, inwiefern es in kapitalistischen Gesellschaften Strukturen gibt, deren Überwindung nicht durch diskursiv-performative Verschiebungen zu erreichen ist, und inwiefern die kollektive Arbeit an den praktischen Lebenszusammenhängen auch eine Arbeit an den Bedingungen des spezifischen objektiven Überhangs kapitalistischer Verhältnisse erfordert. Der strategische Imperativ der Verwertung ist objektiv gegeben – und lässt sich (auch unter der Voraussetzung einer Übereinstimmung der Intentionen) nicht umdeuten; seine Aufhebung oder Transformation erfordert vielmehr »eine eigene Arbeit und eigene soziale Kräftekonstellationen« (Creydt 2000: 218). Wenn das Erkenntnisinteresse in dieser Weise bestimmt ist, ergibt sich ein ähnliches Paradox wie jenes, das bereits bei Butler und Foucault aufgetaucht war. Die Intention der Veränderung dieser Bedingungen geht von den Subjekten aus, zugleich ist deren Intentionalität jedoch durch die gesellschaftlichen Bedingungen konfiguriert. Die Individuen stehen den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht äußerlich gegenüber, vielmehr sind sie in ihrer Subjektivität gleichsam in der gesellschaftlichen Objektivität enthalten. Es muss sich also zeigen lassen, dass die gesellschaftliche Objektivität selbst so dynamisch strukturiert ist, dass sie Momente hervorbringt, die über sie selbst hinausweisen und von den Subjekten in Veränderungsintentionen umgesetzt werden können. Um diesem Zusammenhang nachzugehen, stelle ich im ersten Schritt die Marx’sche Konzeption einer strukturellen Logik der Praxis dar, in der er der Tatsache Rechnung trägt, dass sich die Bedingungen des intentionalen Handelns dieser Intentionalität entziehen. Auf diese Weise wird zudem ein strukturelles Dilemma erkennbar, das individuelle Entscheidungen systematisch in Konflikt mit kollektiven Interessen treten lässt und insofern ein strukturelles Hindernis für kollektive Gestaltungspraktiken darstellt. Die objektiven Bedingungen des Handelns bestimmen die Handlungsfähigkeit der Subjekte jedoch nicht vollständig; sie eröffnen den Subjekten bestimmte Freiheitsräume, die auch eine kritische Haltung zu diesen Bedingungen möglich machen. Allerdings ist die Freiheit nicht einfach das positive Gegenüber der Herrschaft: Um den bereits 223
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eingeführten Zusammenhang, dass sachliche Herrschaft in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise durch die individuelle Freiheit hindurch wirkt, noch genauer zu erläutern, gehe ich im zweiten Schritt den praxeologischen Konsequenzen des Zusammenhangs von Macht, Freiheit und sachlicher Herrschaft nach. Die besondere, kapitalismusspezifische Zuspitzung der Subjektivierungseffekte dieses Zusammenhangs besteht darin, dass Subjekte ihre Freiheit als Privatmenschen ausüben. Diese Marx’sche Unterscheidung von Klassenindividuum und privatem Individuum stelle ich im dritten Schritt ausführlicher dar, um sie als kapitalismusspezifische Gestalt der Differenz zwischen der Form der Subjektivität und dem Individuum auszuweisen. Deutlich werden soll dabei die besondere historische Qualität der Verleugnung der konstitutiven Abhängigkeit durch die Subjekte sowie die spezifische Form der Subjektivierung als Unterwerfung unter sachliche Bedingungen. Auch bei Marx ist jedoch die Figur dieser Subjektivierung durch Unterwerfung insofern paradox, als in ihr die Handlungsfähigkeit des Subjekts entsteht – eine Handlungsfähigkeit, die durchaus ein kritisches, über die eigenen Bedingungen hinausweisendes Potenzial haben kann. Im vierten Schritt diskutiere ich dann den Begriff des Doppelcharakters, mittels dessen Marx die strukturelle Dynamik erfasst, die in und über diese sachliche Form des Subjekts hinaus Möglichkeitsräume für widerständige Praktiken eröffnet.
6.3.1 Die strukturelle Logik der Praxis Die Konzeption einer strukturellen Logik der Praxis war uns bereits bei Butler und Foucault begegnet. Butler fokussiert Praxis als performative Reproduktion der Strukturen der symbolischen Ordnung; Foucault bestimmt die dispositiven Handlungsbedingungen, aufgrund derer die Praxis spezifischen strategischen Imperativen unterworfen ist. Mit Foucault lässt sich dabei zugleich zeigen, inwiefern die Strukturen der symbolischen Ordnung in der spezifischen Macht-Wissen-Ordnung der abendländischen Moderne in historisch besonderer Weise zur Disposition stehen und daher performative Veränderungspraktiken als historische Form von Handlungsfähigkeit erscheinen. Auch bei Marx findet sich diese Figur einer strukturellen Logik der Praxis, die auf einen spezifischen Grad der Determiniertheit von Handlungsfähigkeit verweist, diese jedoch keinesfalls als irrelevant abtut, sondern vielmehr ihre besonderen historischen Potenzen herausarbeitet. Erst nachdem er die strukturellen Bedingungen, die durch Warenproduktion und Wertgesetz gegeben sind, betrachtet hat, wendet sich Marx im Kapital den menschlichen Subjekten zu (Marx 1988: 99ff). 224
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Doch tauchen diese auch hier nur als Repräsentanten der Waren auf, als Handlanger ihrer Dinge. Die Subjektivität der Akteure wird also zunächst in ihrer strukturellen Form bestimmt, wodurch Marx die Verkehrung kapitalistischer Gesellschaften versinnbildlicht: Die Bedingungen intentionalen Handelns entziehen sich in spezifischer Weise diesem intentionalen Handeln. Zwar sind Herstellung und Tausch von Waren ohne bewusstes Handeln von Subjekten nicht möglich; Tausch und Wertgesetz sind also Effekte menschlicher Praxis. Sie sind jedoch Effekte, die auf bestimmten historisch-strukturellen Konstellationen beruhen, die nicht das Ergebnis intentionalen Handelns sind, sondern vielmehr deren Voraussetzung. Die Marx’sche Pointe besteht darin, dass diese Strukturen, sind sie einmal historisch etabliert, eine ›subjektfreie‹ Dynamik entwickeln, die es zunächst irrelevant macht, was die Subjekte über ihr Handeln denken. Ob sie also den Wert der Waren für eine Natureigenschaft der Dinge halten oder ob sie den gesellschaftlichen Zusammenhang, der den Wert konstituiert, als solchen erkennen, spielt für die Praxis von Warenproduktion und -tausch und damit für die Reproduktion dieser besonderen gesellschaftlichen Verhältnisse keine unmittelbare Rolle. Marx weist auf diese Problematik unter anderem im Zusammenhang mit dem Fetischcharakter der Ware hin; er konstatiert, dass auch die wissenschaftliche Durchdringung des in der Ware versachlichten gesellschaftlichen Zusammenhangs noch lange nicht deren »gegenständlichen Schein« (Marx 1988: 88) verscheuche.27 Selbst wenn ich also die Marx’sche Analyse der Vergesellschaftung über den Warentausch und die damit verbundene Versachlichung gesellschaftlicher Verhältnisse intellektuell nachvollziehe, ändert sich damit nichts an der strukturellen Form meiner Subjektivität. Wenn ich morgens in die Bäckerei gehe, spielt es für meine Praxis und die mit ihr verbundene Reproduktion der Verhältnisse keine Rolle, ob ich ›weiß‹, dass ich mich versachlichten Tauschverhältnissen unterwerfe und meine Intention darin begründet ist, dass ich unter den gegebenen Bedingungen keine andere Wahl habe, oder ob ich vielmehr davon überzeugt bin, einfach einem universell menschlichen Verhalten des Tauschens nachzugehen. Ähnliche Überlegungen ließen sich auch für die anderen Formen kapitalistischer Fetische anstellen; so ist es für die Reproduktion der Verhältnisse irrelevant, ob ich davon ausgehe, dass das Geld, das ich in meiner privaten Altersvorsorge angelegt habe, sich selbsttätig ›arbeitend‹ vermehrt, oder ob ich mit Marx davon ausgehe, dass ich mittels des Geldes individuell über einen Teil des gesellschaftlich erwirtschafteten Mehr-
27 Zum Begriff des ›Fetischs‹ und seiner verschiedenen Formen bei Marx vgl. zum Beispiel Heinrich 2005: 179ff. 225
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werts und damit als Privatperson über gesellschaftliche Macht verfüge.28 Von Belang ist mein Bewusstsein nur, insofern es in gesellschaftsgestaltende Praktiken mündet, die die strukturellen Bedingungen verändern. Allerdings – und das ist ein entscheidender Punkt der Marx’schen Argumentation – kann ich die gesellschaftlichen Verhältnisse, die auf Privatproduktion und Warentausch beruhen, nicht über deren symbolische Resignifizierung und normative Wertung verändern. Hier findet die wirklichkeitskonstituierende Macht der Sprache eine spezifische Grenze: Kapitalistische Verhältnisse sind nicht sprachlich-normativ konstituiert. Diese strukturelle, nichtnormative ›Unintentionalität‹ der kapitalistischen Produktionsweise gilt es nun näher zu betrachten, um zu zeigen, dass die Betonung des Eigenlebens kapitalistischer Strukturen nicht notwendigerweise zu einer strukturalistischen Eskamotierung der handelnden Subjekte führen muss. Vielmehr geht es darum, zunächst bestimmte strukturelle Grenzen performativer Handlungsfähigkeit zu bestimmen, um dann im Gegenzug die spezifischen Möglichkeiten, die den Subjekten für verändernde Praktiken gegeben sind, aufzeigen zu können. Hier zeigt sich nun die Praxisrelevanz des ›Isolationsproblems‹ und der damit verbundenen Rationalitätslücke. Praxis erscheint in kapitalistischen Verhältnissen als Wahlhandeln isolierter Einzelner, die über die Intentionen anderer nur wenig wissen und die zu anderen in spezifischer Weise in Konkurrenzverhältnissen stehen. Damit werden wichtige Voraussetzungen für kollektives Handeln – Kommunikation, Abstimmung, Kooperation – strukturell verhindert. Kehrseite dieser strukturellen Verhinderung ist die Überhöhung und Überforderung des Individuums. Es erscheint als autonomes Subjekt, dessen Erfolge oder Misserfolge vor allem auf seinem individuellen Geschick beruhen, sich die nötigen Informationen über die gegebenen Bedingungen zu verschaffen und entsprechend die richtigen Entscheidungen zu treffen. Geradezu auf den Punkt gebracht – wenngleich affirmativ gewendet – wird dieser Zusammenhang von Theorien rationalen Handelns. So geht beispielsweise das spieltheoretische Paradigma des ›Gefangenendilemmas‹ davon aus, dass es den Subjekten strukturell (durch ihre Isolation im Gefängnis) 28 »Die Unintentionalität der kapitalistischen Entwicklung beruht nicht darauf, daß die Akteure nicht wissen, daß sie mit ihrem Tun diese Gesellschaft produzieren. Selbst wenn sie es wüßten, könnten sie innerhalb der institutionellen Rahmenbedingungen des Kapitalismus an der objektiven Intentionalität der Entwicklung nichts ändern. Generell beruhen nichtbeabsichtigte Nebenfolgen des Handelns nicht darauf, daß die betreffenden Handelnden sich ihrer Folgen nicht bewußt sind, sondern auf einer bestimmten Art und Weise, in der ihre Interaktion strukturiert ist.« (Eberle 1981: 120) 226
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unmöglich ist, die Absichten des anderen in Erfahrung zu bringen. Aber selbst wenn Absprachen möglich wären, ist durch die Konkurrenzsituation des Nullsummenspiels die Gefahr der Täuschung groß, da sich die Subjekte individuelle Vorteile erhoffen können, wenn sie sich nicht an die vereinbarte Kooperation halten. Versuchen aber nun beide Subjekte, sich individuell einen Vorteil zu verschaffen, führt ihr Handeln zu einem schlechteren kollektiven Ergebnis, als sie durch Kooperation erreicht hätten.29 Während die Spieltheorie die Bedingungen des Spiels als universell gültigen Handlungskontext und die Rationalität der Akteure als allgemein menschliche hypostasiert, besteht eine entscheidende Erkenntnis der Marx’schen Perspektive darin, dass dieses Dilemma sozialen Handelns auf spezifischen historischen Strukturen beruht. Die Rekonstruktion dieser Strukturen ermöglicht dann wiederum die Frage, wie diese Bedingungen zu gestalten wären, damit sie nicht mehr sachliche Grenzen kollektiven Handelns darstellen. Durch seine Rekonstruktion der strukturellen Formen der Produktionsweise gelingt es Marx also, bestimmte Formen der Handlungsfähigkeit als historisch und insofern auch als begrenzt zu markieren. Die historische Kritik dieser Logik der Praxis zielt nun insbesondere darauf, dass sie Bedingungen reproduziert, die systematisch dazu führen, dass Entscheidungen individuell rational sein und zugleich kollektiv zu hochproblematischen Ergebnissen führen können. Dies ist gewissermaßen die handlungstheoretische Ausformulierung der Rationalitätslücke; systematische Überproduktion und Krisen der kapitalistischen Produktionsweise können auf das Handeln von Subjekten zurückgeführt werden, ohne deren Intentionalität als vorgängig oder ausschlaggebend zu begreifen. So führt beispielsweise die durch die strukturellen Mechanismen der Konkurrenz bedingte Tendenz zur Überproduktion von Waren zu zyklischen ökonomischen Krisen. Den einzelnen Kapitalisten ist es jedoch nicht möglich, sich individuell den Dynamiken der Konkurrenz und damit auch der Reproduktion von krisenhaften Erscheinungen zu entziehen. Selbst wenn ihnen bewusst ist, dass bereits eine Überproduktion besteht, sind sie dennoch darauf angewiesen, ihre Waren weiterhin auf dem Markt anzubieten und zu hoffen, »selbst einigermaßen ungeschoren davon zu kommen« (Heinrich 2005: 174).30
29 Für einen Überblick über sozialwissenschaftliche Theorien rationalen Handelns siehe beispielsweise Braun 1999. 30 Heinrich führt in diesem Zusammenhang die Anekdote über den Vorstandsvorsitzenden des Autoherstellers BMW an, der, von Journalisten gefragt, warum der Konzern mitten in einer Krise des Automarkts seine Produktion erhöhe, antwortet, »er wisse sehr wohl, dass es insgesamt zu 227
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Dieser gewissermaßen tragisch-zynische Zug der kapitalistischen Produktionsweise stellt allerdings nicht den Endpunkt der Gesellschaftskritik dar. Vielmehr ist die Konstatierung einer strukturellen Lücke zwischen individueller und kollektiver Rationalität insofern selbst wiederum eine abstrakte Feststellung, als die hinter diesen Rationalitäten stehenden konkreten Interessen nicht näher bestimmt sind. Wenn von kollektiver Rationalität oder kollektiven Interessen die Rede ist, dann kann dies zunächst als generelles Interesse einer Gesellschaft an ihrer nachhaltigen Reproduktionsfähigkeit bestimmt werden. Damit ist allerdings noch nichts über die individuellen Interessen der Gesellschaftsmitglieder gesagt, darüber, welche Bedürfnisse sie haben, wie sie sich die Bedingungen eines guten Lebens vorstellen. Foucault hat deutlich gemacht, dass in modernen Gesellschaften die individuellen Bedürfnisse nicht vom Standpunkt des Allgemeinen abgeleitet werden können, sondern dass das Kollektivinteresse in seiner materiellen Konkretion nur auf der Basis einer kollektiven Arbeit der Individuen an den Bedingungen ihrer Existenz bestimmt werden kann. Er weist eine spezifische Form der ›Menschenregierung‹ als politische Rationalität dieser historischen Konstellation aus (vgl. Kapitel 4.2). Mit Marx lässt sich nun auf abstrakt-struktureller Ebene eine kapitalismusspezifische Zuspitzung dieser Rationalität als besondere Konfiguration des Kollektivinteresses vornehmen: Das Interesse an gesellschaftlicher Reproduktion ist durch das Gesetz der Kapitalverwertung konfiguriert. Eingelassen in die Objektivität dieser Strukturen, vollziehen die Subjekte in ihrer Praxis dieses Gesetz. Ihre Handlungsfähigkeit geht jedoch nicht völlig in dieser objektiven Logik der Praxis auf. Um der Bestimmung dieses besonderen Verhältnisses von objektiver Logik und individuellem Überschuss näherzukommen, diskutiere ich im Folgenden, inwiefern Marx die ›Freiheit‹ der Subjekte als sachlich vermittelte Herrschaft und zugleich als Raum für eine Entwicklung individueller Potenziale fasst.
6.3.2 Macht, Freiheit und sachliche Herrschaft Moderne Machtverhältnisse, so stellt Foucault fest, beruhen auf der Freiheit der Subjekte. Auch Marx konstatiert, dass in kapitalistischen Gesellschaften individuelle Freiheit die Basis ist für die »Macht, die jedes Individuum über die Tätigkeit der anderen oder über die gesellschaftlichen Reichtümer ausübt« (Marx 1983: 90). Wie sich in diesem Zitat erkennen lässt, nimmt er dabei allerdings eine besondere Dimen-
viele Autos auf dem Markt gebe, allerdings zu wenige BMWs« (Heinrich 2005: 174). 228
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sion von Machtverhältnissen ins Visier; es geht ihm um die gesellschaftliche Macht, die Individuen im Hinblick auf die Verteilung und Nutzung von ökonomischen Ressourcen ausüben. Wie wir bereits gesehen haben, stellt Marx fest, dass sich der gesellschaftliche Zusammenhang in der kapitalistischen Produktionsweise im Tauschwert ausdrückt, der seinen sachlich-individuellen Ausdruck wiederum im Geld als dem verallgemeinerten Tauschmittel findet, das damit zur sachlichen Gestalt von Macht wird. Macht wird also hier nicht von Subjekten direkt auf Subjekte ausgeübt, sondern vermittelt über eine Sache; ihre Ausübung erscheint dadurch auch nicht als solche, sondern vielmehr als Ausdruck der Freiheit. Marx bringt die Besonderheit dieser Machtverhältnisse, nämlich die Versachlichung von Herrschaft, sinnbildlich auf den Punkt, wenn er schreibt, dass das Subjekt als Besitzer von Geld »seine gesellschaftliche Macht, wie seinen Zusammenhang mit der Gesellschaft in der Tasche mit sich (trägt)« (Marx 1983: 90). Die Freiheit der Subjekte realisiert sich als Äquivalententausch; als Besitzer von Waren und Geld können die Subjekte frei über diese verfügen, sie treten als Freie und Gleiche in Austausch miteinander, sie »(verhalten) sich zueinander als Personen«, die »nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willensaktes sich die fremde Ware aneignen« (Marx 1988: 99). Die Warenbesitzer werden also nicht zum Tausch gezwungen, ihr Tauschhandeln erscheint als Ausdruck ihres eigenen Willens: »Aus dem Akt des Austauschs selbst ist das Individuum jedes derselben, in sich reflektiert als ausschließliches und herrschendes (bestimmendes) Subjekt gesetzt: Freiwillige Transaktion; Gewalt von keiner Seite […].« (Marx 1983: 170) Die kapitalistische Produktionsweise, in der isolierte Einzelne für den Markt produzieren, ist also auf Subjekte angewiesen, die als Personen unabhängig über ihr Vermögen (oder: ihre Macht) verfügen und in dem Sinne ›frei‹ sind. Ihre ökonomische Machtausübung basiert auf dem sachlichen Mittel des Geldes und in diesem Sinne sind sie ›gleich‹ – sie unterscheiden sich allein in der Menge des ihnen zur Verfügung stehenden Geldes. Diese Subjekte treten als Privatpersonen auf, die ihre individuellen Bedürfnisse befriedigen, indem sie Geld einsetzen. Dieses Geld erwirtschaften sie unter Einsatz ihrer individuellen Fähigkeiten und ihres individuellen Geschicks – es existieren keine formal unüberwindbaren Schranken, die sie daran hindern, sich in bestimmten gesellschaftlichen Feldern zu engagieren; prinzipiell ist soziale Mobilität möglich und erscheint in letzter Instanz als Effekt persönlicher Fähigkeiten und Tugenden. Damit ist eine historische Form der Subjektivität gegeben, in der die Unterwerfung der Subjekte durch ihre besondere Gestalt der sachlichen Allgemeinheit zugleich spezifische Möglichkeitsräume für die Entwicklung individueller Fähigkeiten und für Reflexivität eröff229
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net.31 Dies ließe sich auch als die Marx’sche Perspektive auf die Produktivität moderner Machtverhältnisse in ihrer kapitalismusspezifischen Form interpretieren, denn die über Geld vermittelten sachlichen Machtverhältnisse ermöglichen vielfältigere Formen der Individualität als die an Personen und Gruppen gebundene Souveränitätsmacht.32 In ihren Entscheidungen über die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel sind die Individuen frei und gleich, im Warentausch gelten keine formaltraditionellen Schranken. Die gesellschaftstheoretische Pointe bei Marx besteht in der Benennung der Grundlage der spezifischen Subjektivität in kapitalistischen Gesellschaften: Solange die objektiven Strukturen dieser Produktionsweise Bestand haben, hat jede Individualität und jede performative Freiheitspraxis insofern systematische Grenzen, als die individuelle Rationalität der Machtausübung nur als ›Privatinteresse‹ erscheinen kann: »Die gesellschaftliche Macht wird so zur Privatmacht der Privatperson« (Marx 1988: 146). Die strukturell als Privatindividuen voneinander getrennten Subjekte können sich in ihren Transaktionen wechselseitig nur als Mittel zur Erreichung ihres individuellen Zwecks wahrnehmen.33 Sowohl bei Butler als auch bei Foucault findet sich eine historische Kritik der Handlungsfähigkeit moderner, abendländischer Subjekte als eines politischen Privilegs, das auf systematischen Ausschlüssen beruht. Mit Marx lässt sich diese Problematik nun in ihrer kapitalismusspezifischen Zuspitzung begründen und damit historisch weiter als besondere Konstellation von Privatinteressen und Allgemeininteresse bestimmen. Indem sich die Subjekte gegenseitig als individuell ihre Privatinteressen verfolgend anerkennen, machen sie das Allgemeininteresse nicht zum
31 »Der Grad und die Universalität der Entwicklung der Vermögen worin diese Individualität möglich wird, setzt eben eine Produktion auf der Basis des Tauschwerts voraus, die mit der Allgemeinheit der Entfremdung des Individuums von sich und von andren, aber auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert.« (Marx 1983: 95) 32 »Persönliche Abhängigkeitsverhältnisse […] sind die ersten Gesellschaftsformen, in denen sich die menschliche Produktivität nur in geringem Umfang und auf isolierten Punkten entwickelt. Persönliche Unabhängigkeit, auf sachlicher Abhängigkeit gegründet, ist die zweite große Form, worin sich erst ein System des allgemeinen gesellschaftlichen Stoffwechsels, der universalen Beziehungen allseitiger Bedürfnisse und universeller Vermögen bildet.« (Marx 1983: 91) 33 »Das Individuum A dient dem Bedürfnisse des Individuums B vermittelst der Ware a, nur insofern und weil das Individuum B dem Bedürfnis des Individuums A vermittelst der Ware b dient und vice versa. Jedes dient dem anderen, um sich selbst zu dienen; jedes bedient sich des andren wechselseitig als seines Mittels.« (Marx 1983: 169) 230
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Gegenstand kollektiver Gestaltung – es erscheint vielmehr lediglich als Effekt, der sich »hinter dem Rücken der sich in sich selbst reflektierenden Sonderinteressen« (Marx 1983: 170) einstellt: als »Allgemeinheit der selbstsüchtigen Interessen« (ebd.). Dies schließt nicht aus, dass einzelne Subjekte sich das Allgemeininteresse zum Motiv machen und ihr Geld beispielsweise für wohltätige Zwecke einsetzen – der Punkt ist, dass sie als Privatperson darüber bestimmen, worin das allgemeine Wohl besteht, womit ihre Handlungsfähigkeit eine Definitionsmacht einschließt, die Ausdruck einer durch Geldbesitz begründeten privilegierten Position ist. Marx macht jedoch deutlich, dass diese Konfiguration von Privatund Allgemeininteresse nicht den Subjekten individuell anzulasten ist – und auch von ihnen als Einzelnen nicht zu verändern ist. Die Subjekte können individuell nicht (oder nur in sehr begrenztem Maße) die Spielregeln der Tauschverhältnisse transzendieren, da sie für den Erhalt ihrer individuellen Reproduktionsfähigkeit auf diese angewiesen sind; ›Personen‹ sind sie in diesem Zusammenhang nur als »Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse […], als deren Träger sie sich gegenübertreten« (Marx 1988: 100). Daher sind ihre Möglichkeiten, im Rahmen der Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise diese politischen Privilegien performativ zu bearbeiten, systematisch verstellt. Individuelle Freiheit erscheint als Unterwerfung unter die sachliche Herrschaft gesellschaftlicher Verhältnisse, die durch ungleiche Besitzverhältnisse systematisch ungleiche Subjektpositionen hervorbringen; individuell bestehen durchaus Möglichkeiten, diese Verhältnisse zu überwinden, »der einzelne kann zufällig mit ihnen fertig werden; die Masse der von ihnen beherrschten nicht« (Marx 1983: 97). Einzelne Subjekte können sich zwar bis zu einem gewissen Grad individuell verweigern, abschaffen können sie die Struktur der Privilegien jedoch nicht; sie können zwar von einer privilegierten Position zurücktreten, machen damit aber lediglich den Platz frei für ein anderes Subjekt.34 Bei Marx lässt sich also eine analytische Differenzierung zwischen dem Privatsubjekt, das bestimmte persönliche Entscheidungen treffen kann, und dem Klassensubjekt, das den objektiven Gesetzen der Produktionsweise unterworfen ist, ausmachen. Im Folgenden diskutiere ich, inwiefern dieses Auseinan34 Dass die Frage, welche Individuen privilegierte Stellungen besetzen, auf der analytischen Ebene der Gesellschaftsformation keinesfalls gleichgültig ist, hat beispielsweise die feministische Debatte deutlich gemacht; aber auch hier machen sich die strukturellen Grenzen geltend: So schaffen beispielsweise Frauen in Führungspositionen weder die hierarchischen Arbeitsverhältnisse ab, noch können sie den Verwertungsimperativ außer Kraft setzen. 231
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derfallen von ökonomischen Pflichten (Charaktermaske) und privatem Individuum als spezifische Form der Freiheit im Kapitalismus zu verstehen ist, die dem Subjekt einen, wenn auch in bestimmter Weise beschränkten, Raum der Selbstreflexion ermöglicht.
6.3.3 Klassenindividuum und Privatmensch: Strukturen der Subjektivität Die analytische Unterscheidung von Klassenindividuum und persönlichem Individuum ist gewissermaßen die Marx’sche Variation zur Problematik des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Ähnlich wie Foucault sieht auch er mit dem Ende des Feudalismus und der Hegemonie der Souveränitätsmacht eine neue, komplexere Gestalt dieses Verhältnisses aufkommen. Mit der Transformation zur kapitalistischen Produktionsweise entsteht ein historisch singulärer »Unterschied […] zwischen dem Leben jedes Individuums, soweit es persönlich ist und insofern es unter irgend einen Zweig der Arbeit und die dazugehörigen Bedingungen subsumiert ist« (Marx/Engels 1969: 76). Mit Marx lässt sich nachvollziehen, inwiefern die konstitutive Abhängigkeit der Subjekte als individuelle Autonomie erfahren wird. Mehr noch, seine Analysen machen deutlich, dass diese individuelle Autonomie eine Funktionsbedingung der kapitalistischen Produktionsweise ist. Er kommt daher zu dem Urteil, dass Individuen in ihrer Vorstellung »unter der Bourgeoisieherrschaft freier (sind) als früher, weil ihnen ihre Lebensbedingungen zufällig sind; in der Wirklichkeit sind sie natürlich unfreier, weil unter mehr sachliche Gewalt subsumiert« (Marx/Engels 1969: 76). Durch diese Analyse des Zusammenhangs von individueller Autonomie und Klassenverhältnissen macht Marx deutlich, dass die von Butler generell konstatierte Leugnung der konstitutiven Abhängigkeit durch das Subjekt nicht (nur) ein allgemeiner psychischer Vorgang ist, sondern in ihrer kapitalismusspezifischen Bestimmtheit präzisiert werden kann. Die Abhängigkeit des autonomen Subjekts kann in kapitalistischen Gesellschaften als solche nicht unmittelbar erfahren werden, denn »da Käufe und Verkäufe nur zwischen einzelnen Individuen abgeschlossen werden, […] ist es unzulässig, Beziehungen zwischen ganzen Gesellschaftsklassen darin zu suchen« (Marx 1988: 613). Marx bietet somit analytische Einsichten in die Besonderheit einer historischen Konstellation, in der sich Subjekt und Gesellschaft vermeintlich gegenüberstehen und ihr Zusammenhang als äußerliches Verhältnis von innerer Freiheit und äußeren Zwängen und Möglichkeiten erscheint. Mit Butler lässt sich nachvollziehen, inwiefern der subjektive ›Innenraum‹ der Psyche durch spezifische Grenzziehungen entsteht und 232
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daher nicht als ahistorische oder außergesellschaftliche Entität zu betrachten ist. Foucault macht deutlich, dass die moderne abendländische Macht-Wissen-Ordnung eine spezifische Konstellation hervorbringt, die diesen ›Innenraum‹ als Ausdruck eines authentischen Wesens erscheinen lässt und dadurch in besonderer Weise ein Widerspruchsverhältnis erzeugt, so dass die Individualität des Subjekts zum Motiv werden kann, in die normativ-symbolische Wissensordnung widerständig zu intervenieren. Ziehen wir nun die Analysen von Marx hinzu, dann lässt sich eine besondere Dimension dieses äußerlichen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft erkennen, die darin besteht, dass die objektiven Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise in konstitutivem Zusammenhang mit einer spezifischen Handlungsautonomie selbstbewusster Subjekte stehen. Das Subjekt erfährt sich in seiner Individualität als Privatmensch; an seiner Formbestimmtheit als Klassenindividuum stößt es sich aber wie an äußeren Schranken – ohne diese als unmittelbar konstitutiv für seinen Subjektstatus erfahren zu können. Marx thematisiert also historische Grenzen der Individualisierung, die darin bestehen, dass Klassenindividuen als Privatmenschen agieren. Damit erfasst er eine besondere Konstellation, nämlich die einer individuellen Freiheit gegenüber den Lebensbedingungen: Der ›Privatmensch‹ ist nicht durch seinen Stand oder dergleichen definiert, sondern durch seine individuellen Eigenschaften. Wie diese in den historischen MachtWissen-Verhältnissen durch spezifische Machttechnologien hervorgebracht werden, haben wir bei Foucault gesehen. Mit Marx lässt sich nun ein weiteres historisches Merkmal der Individualität erkennen. Die ›inneren‹ Zwecksetzungen, Fähigkeiten, Tugenden sind durch die Form des Privatmenschen konfiguriert und von daher auch begrenzt, da sie das Subjekt in bestimmter Weise von seinem gesellschaftlichen Zusammenhang trennen. Erscheint die Form des Klassenindividuums dem Privatmenschen als äußere Schranke, so ist die gesellschaftliche Form des Privatmenschen geradezu mit seinem Sein verschmolzen – es ist dieses Sein. Butler fokussiert die symbolisch-normative Dimension der gesellschaftlichen Bestimmtheit der Subjektivität und Foucault konkretisiert diese Frage durch die Analyse historischer Machttechnologien, die innerhalb gesellschaftlicher Dispositive auf spezifische funktionale Imperative verweisen. Marx erfasst eine weitere Dimension der gesellschaftlichen Bestimmtheit subjektiver Interessen, Fähigkeiten und Eigenschaften, deren Analyse eine Präzisierung der Foucault’schen Annahme erlaubt, dass der übergreifende Imperativ im Rahmen der Bio-Macht auf die ›Optimierung des Lebens‹ zielt. Marx bezeichnet es als eine »Pointe« seiner Analysen,
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»daß das Privatinteresse selbst schon ein gesellschaftlich bestimmtes Interesse ist und nur innerhalb der von der Gesellschaft gesetzten Bedingungen und mit den von ihr gegebnen Mitteln erreicht werden kann, also an die Reproduktion dieser Bedingungen und Mittel gebunden ist. Es ist das Interesse der Privaten; aber dessen Inhalt, wie Form und Mittel der Verwirklichung, durch von allen unabhängige gesellschaftliche Bedingungen gegeben.« (Marx 1983: 90)
Entscheidungen über den konkreten Gebrauch geldvermittelter Macht sind rein individuelle Entscheidungen, die auf subjektiven Motiven beruhen, unabhängig von den konkreten Personen der Tauschpartner.35 Die Subjekte handeln als private Individuen mit dem Ziel, ihre individuellen Bedürfnisse zu befriedigen, zugleich können sie aber nur tauschen, indem sie sich den objektiven Gesetzen der Produktionsweise unterwerfen. Sie sind dabei in besonderer Weise – als Privatmenschen – strukturell von Anderen getrennt und stehen in Konkurrenzverhältnissen, die kollektive Verhandlungen und Solidarität erschweren oder gar verhindern. Indem Geld zum sachlichen Mittel der Machtausübung wird, erscheint den Subjekten der Klassencharakter ihres Subjektstatus aber vor allem als quantitativ-sachliche Differenz zu anderen. Diese strukturelle Grenze der Individualität im Kapitalismus bezeichnet Marx mit der Metapher der ›Charaktermaske‹; er erfasst damit, dass Subjekte als Repräsentanten von Waren der sachlichen Macht des Wertgesetzes unterworfen sind. Sie müssen sich, bei Strafe des Verlusts der eigenen Reproduktionsfähigkeit, an bestimmte Spielregeln halten – unabhängig davon, wie sie diese deuten oder bewerten. In einer Weiterführung der Butler’schen These lässt sich also sagen, dass das Beharren im eigenen Sein in kapitalistischen Gesellschaften die Unterwerfung unter die Gesetze des Werts bedingt. Die individuellen Zwecke können nur verwirklicht werden, sofern sie Mittel der Kapitalverwertung sind. Dies gilt für Lohnarbeiter, die gezwungen sind, für ihren Lebensunterhalt ihre Arbeitskraft zu veräußern, ebenso wie für Kapitalisten, die nur insofern Personen sind, als sie »die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen« (Marx 1988: 16). Die weiter oben festgestellte historische Spezifik von individuellen Interessen lässt sich strukturell also konkretisieren: Individuelle Interessen sind durch bestimmte ökonomische Formen und Funktionen konfiguriert. Das hat wiederum zur Folge, dass diese bestimmte 35 Dieser Umstand dient beispielsweise Ansätzen der Kritik an der (etwa rassistischen oder sexistischen) Benachteiligung von Personen und Gruppen als Grundlage, die die Berücksichtigung persönlicher Merkmale in ökonomischen Transaktionen (etwa auf dem Arbeitsmarkt) als illegitim anklagen. 234
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Form der individuellen Interessen keine Frage der moralischen Bewertung ist, denn »der Einzelne« kann nicht verantwortlich gemacht werden »für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag« (Marx 1988: 16). Diese Form lässt sich auch nicht durch performative Verschiebungen bearbeiten, sondern ist nur durch die Veränderung der Strukturen der Produktionsweise gestaltbar. Dieser Hinweis auf die kapitalismusspezifische Formbestimmtheit der scheinbar klassenunabhängigen Individualität der Subjekte bedeutet wiederum nicht, dass diese Individualität bloßer Schein ist, vielmehr stellt sie den realen Modus dar, in dem die Subjekte sich und ihren Weltbezug erfahren. Foucaults Feststellung, dass »der Kampf gegen die Formen der Subjektivierung, gegen die Unterwerfung durch Subjektivität« (Foucault 1994a: 247) zunehmend an Bedeutung gewinnt (vgl. Kapitel 4.2), lässt sich nun mit Marx’ Verweis auf die strukturellen Vorgaben und Grenzen, die die kapitalistische Produktionsweise diesem Kampf setzt, vermitteln. Die Einzelnen können sich als Privatpersonen über die Verhältnisse nur erheben, indem sie deren sachliche Gesetze akzeptieren. Foucault konzediert, dass Kämpfe gegen Herrschaft und Ausbeutung keineswegs obsolet sind; mit Marx lassen sich diese Kämpfe und vor allem die besonderen historischen Bedingungen, gegen die sie sich richten, erfassen. Von daher lässt sich auch weiter präzisieren, inwiefern der Fokus auf die Subjektivität in der kapitalistischen Produktionsweise zugleich Ansatzpunkt und Hindernis für kritische Gesellschaftsgestaltung darstellt. Die autonome Subjektivität vereinzelter Privatmenschen wird als Kehrseite der strukturellen Objektivität erkennbar. Die Verhältnisse erscheinen dem Individuum als Voraussetzungen, zu denen es sich als autonomes Subjekt mit eigenen Präferenzen verhält – und diese je nach persönlichem Geschick, Talent oder Glück zu seinen Gunsten, zu seinen Privatzwecken nutzt. Die Marx’sche Analyse kann daher auch erklären, warum das begehrende Subjekt in diesem historischen Kontext zum bevorzugten Ansatzpunkt (emanzipatorischer) Praktiken wird, während die gesellschaftlichen Verhältnisse weitgehend als Rahmenbedingungen hingenommen werden.36 Mit den Marx’schen Analysen lässt sich erfassen, dass performative Handlungsfähigkeit in kapitalistischen Verhältnissen bloß zufällig-privaten Charakter haben kann. Auf diesen Zusammenhang zielt beispielsweise Bröcklings von mir in Kapitel 4.4 zitierte Kritik, dass ›queere‹ 36 »Die Undurchsichtigkeit der entfremdeten Objektivität wirft die Subjekte auf ihr beschränktes Selbst zurück und spiegelt ihnen dessen abgespaltenes Für-sich-sein, das monadologische Subjekt und dessen Psychologie, als das Wesentliche vor.« (Adorno 1995: 54) 235
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Subjekte den Flexibilisierungsimperativen der Marktökonomie wenig entgegenzusetzen haben, da der Markt »unentwegt Alteritäten (›verarbeitet‹), indem er sie entweder als Alleinstellungsmerkmale privilegiert oder sie als unverwertbar aus dem gesellschaftlichen Verkehr ausschließt« (Bröckling 2007: 286). Da Bröckling ›den Markt‹ jedoch nicht zum Gegenstand von weiteren gesellschaftstheoretischen Analysen macht und ihn (oder vielmehr seine strukturellen Voraussetzungen) als potenziellen Gegenstand von Gestaltung sichtbar macht, greift seine Kritik zu kurz und gerät zu einer resignativ-kulturkritischen Perspektive: Als »exemplarische Haltungen des Sichabsetzens von den Zumutungen verallgemeinerter Entrepreneurship« diskutiert er »Depression, Ironisierung und passive Resistenz« (Bröckling 2007: 288). Wie er selber feststellt, kann keine dieser ›Haltungen‹ als Modell für »jene taktische Perspektive der Kritik (taugen), die nach einer anderen Freiheit sucht als der des Marktplatzes« (Bröckling 2007: 289). Mit Marx lassen sich diese ›Haltungen‹ als individuelle Flucht von Subjekten verstehen; diese handeln dabei als Privatmenschen, werden aber hinter ihrem Rücken durch das Klassenindividuum immer wieder eingeholt, ohne dieses jedoch (auch) als ihre gesellschaftliche Form begreifen zu können. Dennoch: Auch mit Marx geht es darum, die spezifische autonome Subjektivität als Ausgangspunkt für widerständige Intentionalität zu bestimmen, die sich gegen die Strukturen ihrer eigenen Existenz richten kann. Das kritische Moment der autonomen Subjektivität des Privatmenschen besteht darin, dass sie sich, eben weil sie nicht in der Form des Klassenindividuums aufgeht, reflexiv auf diese beziehen kann. In diesem Sinne kann auch, ähnlich wie bei Foucault thematisiert, eine besondere Form der Kritik entstehen; so können Subjekte beispielsweise den Anspruch auf gleiche Teilhabechancen erheben und sich kritisch gegen ›ungerechte‹ äußere Bedingungen wenden, wenn sie sich Hindernissen gegenübersehen, die für andere nicht in derselben Weise bestehen. Die Marx’schen Analysen ermöglichen es aber, die Grenzen dieser Kritik aufzuzeigen, sofern sich diese nicht auf jene strukturellen Bedingungen richtet, die der ›Ungerechtigkeit‹ letztlich zugrunde liegen. So kann eine sich affirmativ auf die kapitalistische Produktionsweise beziehende Position, etwa der klassische Liberalismus, in der Verwirklichung von Chancengleichheit das zentrale emanzipatorische Ziel sehen und sich kritisch gegen Hindernisse dieser Gleichheit wenden. Allerdings fokussiert eine solche Perspektive einseitig die Fähigkeiten und Potenziale der Individuen und thematisiert die ungleichen Bedingungen ihrer Verwirklichung als ›soziale Ungleichheit‹ oder als Problem von ›Armut‹, das durch die Aufhebung institutioneller Hindernisse (etwa im Bildungssystem) zu beheben sei. Aber auch sozialdemokratische Perspektiven, 236
KARL MARX
die durchaus die Strukturen ökonomischer Ungleichheit fokussieren und eine Umverteilung mit dem Ziel größerer Chancengleichheit propagieren, scheitern an ihrer prinzipiellen Anerkennung der Notwendigkeit versachlichter gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse. Der Fokus auf eine Umverteilung innerhalb der bestehenden Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise verkennt, dass, solange diese Strukturen bestehen, eine beständige Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen stattfindet, die, unabhängig vom Wollen und von den Werthaltungen der Subjekte, den Gesetzmäßigkeiten des Werts folgt. Solange diese grundlegenden Bedingungen nicht verändert sind, stößt jede an symbolischnormativen Maßstäben orientierte Umverteilung an spezifische Grenzen. Friedrich Engels macht deutlich, dass eine in diesem Sinne ›immanente‹ Kritik eine Terrainverschiebung vornimmt, die systematisch dazu führt, dass der Kritik gleichsam die Zähne gezogen werden. So gießt er beißenden Spott über den »Bourgeoisiesozialisten« Proudhon aus, der uns »aus der Ökonomie in die Moral« versetze: »Wer die kapitalistische Produktionsweise, die ›ehernen Gesetze‹ der heutigen bürgerlichen Gesellschaft, für unantastbar erklärt und doch ihre mißliebigen Folgen abschaffen will, dem bleibt nichts anderes übrig, als den Kapitalisten Moralpredigten zu halten, Moralpredigten, deren Rühreffekt sofort wieder durch das Privatinteresse und nötigenfalls durch die Konkurrenz in Dunst aufgelöst wird.« (Engels 1970: 550)37
Es erscheint mir allerdings wichtig zu betonen, dass dies als eine Terrainverschiebung im Hinblick auf einen bestimmten Gegenstand der Kritik – nämlich die Produktionsweise – zu verstehen ist. Diese Unterscheidung ist wichtig, um sehen zu können, dass die durch die spezifischen Strukturen der Produktionsweise ermöglichte Vielfalt individueller Bedürfnisse kein bloßes Epiphänomen, sondern, wie ich weiter unten ausführlicher diskutiere, eine entscheidende Möglichkeitsbedingung für subjektive Handlungsfähigkeit im Sinne einer Kritik und Veränderung dieser Strukturen darstellt. Zudem weist die Unterscheidung darauf hin, dass sich Gesellschaftskritik auch auf andere Gegenstände richten sollte: Wenn die Kritik der Produktionsweise ihr implizites Kriterium darin findet, dass gesellschaftliche Bedürfnisse nicht hinreichend oder nur mit problematischen Nebeneffekten befriedigt werden können, bleibt die Frage, wie 37 Die Aktualität dieser Kritik lässt sich paradigmatisch an den derzeitigen Debatten zum Klimaschutz nachvollziehen – namentlich an der Kraftlosigkeit des Projekts, das Kapital im Modus freiwilliger Selbstverpflichtung zu einem nachhaltigeren Umgang mit ökologischen Ressourcen und Bedingungen zu veranlassen. 237
JENSEITS DES AUTONOMEN SUBJEKTS
diese Bedürfnisse eigentlich beschaffen sind, unbeantwortet. Dass Subjekte in ihrem Begehren und ihren Bedürfnissen historische Wesen sind, setzt Marx voraus, er macht diesen Umstand jedoch nicht zu seinem Analysegegenstand. Mit Butler und Foucault lässt sich zeigen, dass dieser Frage gegenüber den objektiven Gesetzen der Produktionsweise eine relative Autonomie zukommt und dass sie keinesfalls mit deren Analyse bereits beantwortet ist. Wie ich im folgenden Kapitel ausführlicher diskutieren werde, sollte eine emanzipatorische Perspektive beide Aspekte miteinander verschränken und die Bedingungen für ein ›gutes Leben‹ sowohl im Hinblick auf die Gestaltung der Produktionsweise als auch im Hinblick auf die Gestaltung der Selbstverhältnisse bearbeiten. In diesem Kapitel betrachte ich zunächst aber noch, wie sich im Anschluss an Marx eine strukturelle Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise in den Blick nehmen lässt, die Momente hervorbringt, die systematisch über diese Produktionsweise selbst hinausweisen.
6.3.4 Handlungsfähigkeit und Widerstand Wenn sich Subjekt und Strukturen nicht äußerlich gegenüberstehen, kann die Subjektivität der Menschen – ihre Bedürfnisse und ihr Begehren – nicht unmittelbar als emanzipatorische Hoffnung gegen die versachlichten Strukturen in Anschlag gebracht werden. Mit Marx lässt sich konstatieren, dass sich die Subjekte in kapitalistischen Gesellschaften die Bedingungen, unter denen sie handeln, nicht nur nicht aussuchen, vielmehr wird eine strukturelle Dimension erkennbar, die sich ihrem unmittelbaren Zugriff systematisch entzieht. Das heißt nicht, dass das Individuelle dem anonymen Geschichtsverlauf geopfert wird, vielmehr werden strukturelle, also gesellschaftliche und daher prinzipiell veränderbare Bedingtheiten und Begrenztheiten der Subjekte sichtbar. Zugleich geht es darum, zu zeigen, inwiefern sich für diese Subjekte Möglichkeitsräume für widerständig-gestaltende Interventionen eröffnen. In der Marx’schen Perspektive erscheinen diese Möglichkeitsräume als Effekte einer spezifischen Widersprüchlichkeit der Subjektkonstitution, aus der Potenziale hervorgehen, die für eine Veränderung der strukturellen Bedingungen zu mobilisieren wären. Der grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise kann dadurch charakterisiert werden, dass es in ihr zu einer Entwicklung von Produktivkräften kommt, deren Potenziale sich innerhalb der gegebenen Strukturen nicht voll verwirklichen können (Creydt 2000; Postone 2003). Um unter den Bedingungen der Konkurrenz den beständigen Verwertungsprozess zu gewährleisten, werden Produktivkräfte entwickelt: sowohl technische und arbeitsorganisatorische Neuerungen 238
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als auch menschliche Kenntnisse und Fähigkeiten. Der Betätigung dieser Potenziale sind im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise jedoch durch das beherrschende Kriterium der Verwertung Grenzen gesetzt, so dass die Realisierungsmöglichkeiten der entwickelten Produktivkräfte eingeschränkt bleiben, mithin deren Potenzial in einem Spannungs- oder Widerspruchsverhältnis zu den realen gesellschaftlichen Formen steht.38 Analytisch erfasst Marx diesen Zusammenhang mit dem Begriff des Doppelcharakters, den er als »Springpunkt« für das Verständnis der politischen Ökonomie (Marx 1988: 56) und als »das ganze Geheimnis der kritischen Auffassung« (Marx 1965: 11) bezeichnet. Gemeint ist damit beispielsweise, dass Arbeit, sofern sie Waren produziert, doppelt bestimmt ist; zum einen als konkrete, zum anderen aber als abstrakte, Wert produzierende Tätigkeit. Der durch die abstrakte Form der wertbildenden Arbeit konstituierte Verwertungsimperativ erfordert die Entwicklung von Fähigkeiten, von Kooperationsbezügen, von technischen Mitteln; in der konkreten Tätigkeit entstehen dabei spezifische materiale Kenntnisse, kooperative Fähigkeiten und Bedürfnisse, die in ihren Potenzen über den Zweck der Verwertung hinausweisen: »Die der herrschenden Form entgegengesetzte Seite des Doppelcharakters des Kapitalismus lässt sich bestimmen aus den im und durch den Kapitalismus unausgeschöpften und verstellten, aber mit ihm entstehenden objektiven Poten-
38 In seiner Rekonstruktion der verschiedenen Phasen der Restrukturierung von Arbeitsprozessen in der Automobilindustrie (von ›Taylorismus‹ über partizipative Rationalisierung in Form ›teilautonomer Gruppen‹ zu ›retaylorisierter Gruppenarbeit‹) bemerkt Roland Springer, »daß der Kapitalverwertung die Folgen für die Arbeit grundsätzlich gleichgültig sind und die Unternehmen sich vor allem jener Rationalisierungsmethoden bedienen, die ihnen in spezifischen Konstellationen einen besonders großen wirtschaftlichen Nutzen versprechen« (Springer 1999: 162). Da sich in arbeitsintensiven Bereichen, wie beispielsweise der Endmontage, die Kreativität der Arbeitenden als ein entscheidendes Moment für die Optimierung von Produktionsabläufen (im Sinne der Zeiteffizienz) erwiesen hat, wurden und werden Konzepte entwickelt, durch die deren ›Subjektivität‹ stärker für Unternehmensziele nutzbar gemacht werden kann. Eine Bedingung dafür ist, dass den Arbeitenden ermöglicht wird, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen auszubauen und zu differenzieren, womit auch eine gewisse Kontrolle über den Produktionsablauf verbunden ist. Dass diese Entwicklung subjektiver Potenziale durch den Verwertungsimperativ in klare Formen gegossen ist und insofern spezifische Grenzen aufweist, lässt sich beispielhaft an den Debatten zur ›Humanisierung‹ oder dann auch zur ›Subjektivierung von Arbeit‹ illustrieren, in denen das Verhältnis von Chancen und Grenzen dieser Entwicklung einen zentralen Punkt der Auseinandersetzung darstellt (aktuelle Beiträge zu dieser Debatte finden sich beispielsweise in Lohr/Nickel 2005). 239
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zialen und aus den im Kapitalismus entstehenden subjektiven Fähigkeiten und Sinnen, die eine andere Ausgestaltung der Arbeit im Sinn haben.« (Creydt 2000: 225)39
Auch die Arbeitskraft kann als Doppelcharakter bestimmt werden; sie ist eine Ware und zugleich untrennbar mit dem lebendigen Individuum verbunden. Obwohl sie also einerseits den Zwängen des Verwertungsprozesses unterworfen ist, ist sie andererseits nur in begrenztem Maße als Mittel strategisch nutzbar, da sie eben in einem Subjekt verkörpert ist, das »leibhaftig, räumlich, zeitlich, sozial« in seine Veräußerung involviert ist (Deutschmann 2002: 69f). Die aus dieser doppelten Bestimmung resultierenden Widersprüche setzen der Nutzung der Arbeitskraft im kapitalistischen Arbeitsprozess spezifische Grenzen. Diese Grenzen sind zunächst rein physischer Natur der Einsatz der Arbeitskraft findet dort seine äußere Grenze, wo deren Reproduktion nicht mehr möglich ist; zugleich sind Grenzen der Nutzung auch durch den Bezug zur Tätigkeit gegeben, denn die Produktivität der Arbeitskraft ist nicht zuletzt dadurch bestimmt, dass das Subjekt sinnhafte Bezüge zu seiner konkreten Tätigkeit entwickeln kann. Angesichts des soeben diskutierten Doppelcharakters der Arbeit wird deutlich, dass im konkreten Arbeitsprozess selbst ein kritisches Potenzial entsteht, das die subjektiven Kriterien für die Bewertung des Sinns einer Tätigkeit durchaus anspruchsvoller werden lassen kann.40
39 Zur beispielhaften Illustration kann hier Ulf Kadritzkes Untersuchung zu ›industriellen Experten‹ dienen: Im Zuge der Verwissenschaftlichung der Ausbildung und der Akademisierung der Personalstruktur in der Industrie komme es zu »latenten Konfliktlinien zwischen Markt- und Professionsbezug« (Kadritzke 1995: 5), die sich in einem »beruflichen Unbehagen von Managern und hoch qualifizierten industriellen Experten« (ebd.: 3) äußern können. Diese Experten bilden ihr berufliches Selbstverständnis zunächst in einer wissenschaftlichen Ausbildung aus und entwickeln dabei subjektive Kriterien für den Sinnbezug auf ihre zukünftige berufliche Tätigkeit – so etwa den Maßstab einer ökologischen Verantwortung der Industrie. Diese Kriterien sind »in der betrieblichen Definition von Berufsarbeit nicht mehr bruchlos durchzuhalten« (ebd.: 7) und lassen daher ein kritisches Potenzial bei diesen Beschäftigten entstehen – das allerdings, so macht Kadritzke deutlich, im kapitalismusspezifischen Widerspruch von ›Privatwohl‹ und ›Gemeinwohl‹ klare Grenzen der Verwirklichung findet (ebd.: 19). 40 Dieses Potenzial steigt sicherlich mit den Qualifikationsanforderungen und den mit ihnen gegebenen Möglichkeiten der Differenzierung individueller Fähigkeiten. Aber auch im Hinblick auf extrem rationalisierte und einseitige Tätigkeiten (paradigmatisch: die Arbeit am Fließband) lässt sich zeigen, dass die arbeitenden Subjekte nicht einen rein instrumentellen Bezug zu ihr herstellen, sondern vielmehr auch diese vermeintlich sinnentleerten Arbeiten subjektiv mit Sinn belegen (Knapp 1981). 240
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Die rein strategisch-instrumentelle Nutzung der Arbeitskraft ist zudem dadurch eingeschränkt, dass das Subjekt nicht ausschließlich als Arbeitskraft lebt und fungiert, sondern auch außerhalb des kapitalistischen Arbeitsprozesses eingebunden ist. Empirisch lässt sich feststellen, dass sich die Persönlichkeitsentwicklung biografisch in der Wechselwirkung verschiedener Lebensbereiche vollzieht (vgl. Hoff 1990). Geradezu paradigmatisch hat die feministische Debatte diese Überlegung in kritischer Erweiterung der Marx’schen Analyse an der Trennung von Haushalt und Erwerbsarbeit nachvollzogen. In ihrem Verhältnis zueinander sind diese Sphären im Hinblick auf zeitliche und inhaltliche Anforderungen widersprüchlich. Lohnarbeit ist in hohem Maße durch rationalisierte und formalisierte Produktionsabläufe und Leistungsnormen charakterisiert, in ihr sind strenge zeitliche Vorgaben bestimmend. Hausarbeit auf der anderen Seite ist durch die Orientierung auf die Bedürfnisse der Haushaltsmitglieder, auf deren körperliches und emotionales Wohlergehen bestimmt, was besondere Kompetenzen (Einfühlsamkeit, Geduld, die gleichsam verschwenderische Bereitschaft, jemand anderem Zeit zu widmen, und dergleichen) verlangt.41 Das moderne abendländische Subjekt erlebt sich aber durch die verschiedenen Lebensbereiche hindurch als identische Person, die unterschiedlichen äußeren Anforderungen gerecht werden und diese in ihrer Lebensführung integrieren muss. Damit ist verbunden, dass das Subjekt in verschiedenen Lebensbereichen Erfahrungen macht, Kompetenzen erwirbt und Bedürfnisse entwickelt, die aufgrund der unterschiedlichen Logiken und Dynamiken widersprüchlich oder gegensätzlich sein können. Dieses Spannungsverhältnis erweist sich als Anreiz für kognitive Prozesse des Vergleichs zwischen den Bereichen: Das Erleben in einem Bereich wird vom Subjekt in den Kontext seines gesamten Lebens gestellt; die damit verbundenen Kontrasterfahrungen können die durch die strukturelle Trennung der Sphären hervorgerufene Vereinseitigung in Frage stellen. Die schon im 5. Kapitel diskutierte Problematik, dass gesellschaftliche Probleme als ›Gattungsprobleme‹ auftreten und mit ihnen verbundene Schwierigkeiten als Ausdruck individueller Fehlbarkeit erscheinen, bekommt hier ein kritisches Pendant. Das Subjekt kann die Reibungen in und zwischen den einzelnen Lebensbereichen als eigene Unzulänglichkeit erleben, es kann aber auch aus seinen Kontrasterfahrungen und den darin entwickelten Fähigkeiten individuelle Ansprüche ableiten, die eine kritische Sicht auf bestimmte Anforderungen ermöglichen.42 41 In der deutschen Debatte ist dieser Zusammenhang systematisch im Konzept der doppelten Vergesellschaftung von Frauen erfasst worden (Becker-Schmidt 1987; Knapp 1990). 42 Barvosa-Carters Vorschlag, die praktische Kritikfähigkeit der Subjekte aus deren Eingebundenheit in eine Vielfalt gesellschaftlicher Felder mit 241
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Die Pointe des Marx’schen Konzepts des ›Doppelcharakters‹ besteht darin, dass mit ihm nicht einfach Licht- und Schattenseite im Sinne eines ambivalenten Verhältnis gedacht werden, als gute und schlechte Aspekte, die einerseits unabhängig voneinander sind, andererseits aber untrennbar zusammengehören. Vielmehr werden beide im Doppelcharakter enthaltene Bestimmungen als voneinander abhängige Momente begriffen. So ist, wie wir gesehen haben, für Marx die Entwicklung subjektiver Individualität unter kapitalistischen Bedingungen konstitutiv mit der Versachlichung der Verhältnisse verbunden; sie kann daher nicht einfach als emanzipatorische Instanz gegen diese geltend gemacht werden. Die versachlichten Verhältnisse sind jedoch andererseits nicht der generelle Preis, der für die individuelle Entfaltung immer schon zu entrichten ist. Subjektive Individualität weist über die Formen der versachlichten Verhältnisse hinaus und kann ihnen gegenüber eine kritische, reflexive Dynamik entwickeln; ihre emanzipatorische Entfaltung als Individualität jenseits der Grenzen des Privatsubjekts – als solidarische Individualität – ist aber von der Veränderung dieser Verhältnisse abhängig. So sind beispielsweise die bedürfnisorientierten Aspekte des konkreten Arbeitsprozesses nicht als ›gute‹ Kraft den effizienzorientierten und von Konkurrenz geprägten Regeln der abstrakten Form entgegenzuhalten. Genauer: Es ist nicht damit getan, ›gute‹ menschliche Bedürfnisse und Fähigkeiten aus der besonderen Begrenztheit ihrer kapitalistischen Form zu befreien, vielmehr stellt die grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse eine Möglichkeitsbedingung für die kollektive Arbeit der Verhandlung und Gestaltung der Bedürfnisse dar. Die Perspektiven von Butler, Foucault und Marx konvergieren hier in dem Sinne, dass ihre Kombination die Komplexität emanzipatorischer Ziele deutlich macht. Die kollektive Arbeit an einem ›guten Leben‹ verbindet nämlich unterschiedliche Dimensionen: Sie setzt an den strukturellen Verhältnissen der Produktionsweise an, um die durch den Formdualismus von Klassenindividuum und Privatmensch konstituierten Begrenzungen individueller Interessen zu überwinden und das Allgemeininteresse vom Imperativ der Verwertung zu befreien. Aber der Mensch und seine Bedürfnisse werden auch in gesellschaftlichen Macht-Wissen-Verhältnissen konstituiert, die nicht unmittelbar von den Strukturen der Produktionsweise bestimmt werden.
unterschiedlichen Anforderungen und Zwängen und den darin erworbenen Fähigkeiten und Ansprüchen abzuleiten (vgl. Kapitel 3), ist nun durch die Analysen von Foucault und Marx gesellschaftstheoretisch eingebettet und in seinen historischen Voraussetzungen bestimmt. 242
7. Z W I S C H E N S P I E L III: E T H I K D E R K O N S T I T U T I V E N AN G E W I E S E N H E I T
Mit der Kapitalismusanalyse von Marx schließt sich der in dieser Arbeit geschlagene Bogen dreier Perspektiven der theoretischen Konzeptualisierung von Subjekt und Handlungsfähigkeit. Damit ist der Punkt erreicht, an dem die eingangs formulierte und im Verlauf der vorigen Kapitel immer wieder an einzelnen Fragen aufgegriffene These, dass diese drei Perspektiven implizit aufeinander verweisen, resümierend diskutiert werden soll. In gewisser Weise sind Butlers Analysen am stärksten um die Frage nach dem Subjekt zentriert; sie fokussiert die symbolisch-diskursiven Prozesse, in denen sich die Subjekte in ihrer Intelligibilität und damit zugleich auch in ihrer psychischen Existenz konstituieren. Die Möglichkeit eines ethischen Subjekts, das sich kritisch-reflexiv zu den Bedingungen seiner Existenz verhalten kann, ist bei Butler nicht an einen essenziellen Kern des Individuums gebunden. Vielmehr kann Butler argumentieren, dass die Fähigkeit zur Selbstreflexivität und damit auch zur kritischen Distanz zu den eigenen Existenzbedingungen in der Unterwerfung unter diese Bedingungen entsteht. Die Intelligibilität des Subjekts beruht auf Prozessen performativen Zitierens symbolischer Normen, die in ihrer Iterabilität immer eine Verschiebung implizieren und damit auch immer der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt sind. Da die symbolischen Normen die Voraussetzung für einen intelligiblen Zugang zum Selbst darstellen, zugleich aber immer eine spezifische Begrenzung der Lebensmöglichkeiten auf ein in einem spezifischen Kontext intelligibles Selbst implizieren, können diese Normen seitens des Subjekts als Beschränkung erlebt werden – dadurch kann ein Wille zum Widerstand gegen die symbolischen Normen entstehen. Für Butler entwickelt sich 243
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ein moralisches Vermögen genau an dieser konstitutiven Grenze des Subjekts: Verantwortung zu übernehmen heißt entsprechend, die Grenzen des Selbstverständnisses einzugestehen und damit die konstitutive Angewiesenheit auf Andere anzuerkennen. Die implizite Voraussetzung von Butlers Thematisierung des Subjekts ist die historische Bestimmtheit dieses Subjekts sowie dessen spezifischer Ethik als moderner abendländischer Formen. Mit Foucault lässt sich analytisch begründen, inwiefern der von Butler in seiner psychischen Dimension rekonstruierte Wille zum Widerstand gegen symbolische Normen eine besondere Haltung historischer Subjekte ist: ein Wille, der auf einen bestimmten Anspruch auf Selbstbestimmung verweist. Mit Foucaults Rekonstruktion der epistemischen Konstellation der abendländischen Moderne lässt sich erfassen, dass dieser Anspruch auf Selbstbestimmung darauf beruht, dass die Individuen sich als autonome Subjekte erfahren, deren Identität in einem inneren Wesen begründet ist. Diese Subjekte sind spezifischen Bedingungen ausgesetzt, die ihnen als Natur- oder Sachgesetze bestimmte Grenzen setzen. Selbstbestimmung erscheint nun in diesem historischen Kontext als Entfaltung und Bändigung des inneren Wesens unter Berücksichtigung dieser Bedingungen; sie beruht auf einer Rationalität, die diese Bedingungen als ›Gattungstatsachen‹ akzeptiert. Das moderne abendländische Subjekt zeichnet sich also dadurch aus, dass sein Bewusstsein über sich selbst auf einer inneren Identität beruht und dass es sich als vernünftiges Wesen den natürlich-sachlichen Bedingungen seiner Existenz unterwirft und sich diese zunutze zu machen sucht. Als selbstbestimmtes Subjekt hat das Individuum zudem die Verantwortung, dafür Sorge zu tragen, dass es seine inneren Potenziale unter Berücksichtigung äußerer Anforderungen und Grenzen durch bestimmte Selbsttechnologien optimal einsetzt. Foucault geht es darum, diesen Anspruch an autonome Selbstsorge einerseits in seinen überfordernden Zumutungen und gewaltsamen Effekten erkennbar zu machen und dabei andererseits zugleich das besondere kritische Potenzial herauszuarbeiten, das aus dieser historischen Form der Subjektivität entstehen kann. Kritik kann sich dann etwa als das Verlangen äußern, nicht so, nicht um diesen Preis regiert zu werden. Eine solche kritische Haltung sucht nach Möglichkeiten, die Sorge um sich mittels Selbsttechnologien zu gestalten, die dem konstitutiven Zusammenhang zwischen dem Selbst und seinen Existenzbedingungen Rechnung tragen. Damit kann Foucault widerständiges Handeln als gestaltende Arbeit an diesen Bedingungen bestimmen, allerdings als eine Arbeit, die ihre materialen Ziele nicht im Vorhinein (als Befreiung eines authentischen Selbst) festlegt, sondern vielmehr in Form von
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Suchbewegungen an den Grenzen der Existenz nach Möglichkeiten der Erweiterung sucht. Im Anschluss an Foucault lässt sich argumentieren, dass die widerständige Suche nach erweiterten Existenzmöglichkeiten des Selbst über kollektive Prozesse wirksam wird. Diese Annahme setzt aber wiederum implizit die von Butler herausgearbeitete konstitutive Verwiesenheit des Subjekts auf Andere voraus. Im Anschluss an Butler und Foucault habe ich daher im 5. Kapitel eine emanzipatorische Perspektive herausgearbeitet, die an der Frage orientiert ist, unter welchen Bedingungen individuelle Selbstbestimmung positiv mit der Anerkennung der kollektiven Aufeinanderverwiesenheit einhergehen könnte. Mit Marx lassen sich nun spezifische Strukturen erkennbar machen, die in Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise diese konstitutive Angewiesenheit als unheilvollen Zwang hervorbringen, der auf isolierte Einzelne wirkt. In ihrer Autonomie sind die Subjekte in spezifischer Weise voneinander getrennte Einzelne, deren Verwiesenheit auf die Anderen sich in krisenhaften und problematischen Dynamiken geltend macht, die sie als Subjekte jedoch nicht kontrollieren können. Eine widerständige Arbeit an den Existenzbedingungen setzt daher auch eine Gestaltung der Strukturen der Produktionsweise voraus, um bestimmte gewaltsame Grenzen, die diese den Lebensmöglichkeiten der Subjekte setzen, aufzuheben oder zu verschieben. Mit Marx lassen sich also bestimmte Strukturen benennen, die die von Foucault und Butler herausgestellte Kontingenz von Identität, Subjektform und Selbstverhältnissen in spezifischer Weise bedingen und festlegen. In diesem Kapitel sollen die verschiedenen Perspektiven auf eine historische Kritik der modernen abendländischen Subjektivität nun in ihrer inneren Verwiesenheit systematisch aufeinander bezogen werden. Dafür skizziere ich im ersten Schritt die besondere Stoßrichtung der historischen Kritik, die die Marx’sche Analyse eröffnet. Diese richtet sich darauf, dass die Kontingenz der menschlichen Existenz durch die kapitalistische Produktionsweise in besonderer Weise bedingt ist: Der Mensch erscheint in dieser historischen Formation als Privatindividuum. Diese besondere Subjektform trennt die Individuen in spezifischer Weise voneinander und stellt damit eine strukturelle Grenze der Möglichkeiten kollektiven Handelns dar – und damit auch eine strukturelle Grenze der Anerkennung der konstitutiven Aufeinanderverwiesenheit. Im zweiten Schritt diskutiere ich systematisch das Verhältnis der verschiedenen Gegenstandsbereiche und Analyseebenen von Butler, Foucault und Marx. Dabei soll deutlich werden, dass ich diese Differenzierung als analytisch-methodische Operation begreife und nicht auf ontologische Unterscheidungen beziehe. Der Gewinn einer solchen Diffe245
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renzierung besteht darin, dass die komplexe Flexibilität – oder die bedingte Kontingenz – moderner Gesellschaften besser erfasst werden kann. Um dies an einem Beispiel zu konkretisieren, greife ich im dritten Schritt Ursula Beers Unterscheidung von verborgenem Strukturzusammenhang und sichtbarer Funktionsweise auf. Anhand des von Beer zum Gegenstand gemachten Geschlechterverhältnisses lässt sich besonders deutlich zeigen, dass es in der kapitalistischen Moderne nicht nur einen verborgenen Strukturzusammenhang (die Produktionsweise) gibt, sondern dass sich erst durch das Einbeziehen der Perspektiven von Butler und Foucault eine differenzierte Analyse der Phänomene und vor allem auch der Dynamiken dieser Gesellschaften ergibt. Im vierten Schritt resümiere ich den Ertrag der Marx’schen Perspektive im Hinblick auf die ethische Perspektive, die ich im Anschluss an Butler und Foucault herausgearbeitet habe: Welche gesellschaftlichen Verhältnisse sind zu transformieren und zu überwinden, um eine auf kollektiver Fürsorge beruhende individuelle Selbstbestimmung zu ermöglichen?
7.1 Historische Kritik: Die Sorge um sich als Sorge um Privatinteressen Anhand der kapitalismusspezifischen Formen des Privatbesitzes und der Konkurrenz lassen sich exemplarisch bestimmte strukturelle Hindernisse erfassen, die mit der Subjektform des Privatmenschen im Hinblick auf Kooperation und gemeinschaftliche Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse gegeben sind. Das vereinzelte Individuum tritt der Welt in diesen historischen Verhältnissen als Privatbesitzer gegenüber. Das Subjekt kann im Kapitalismus nur als Besitzer und Verkäufer von Waren überleben und sich reproduzieren.1 Infolgedessen geht sein gesellschaftlicher Zusammenhang mit anderen Subjekten aus einer Position der Isoliertheit 1
Gerade weil die moderne Geschlechterordnung einen wichtigen Bezugspunkt dieser Arbeit darstellt und die feministische Kritik zu Recht darauf hinweist, dass historisch betrachtet viele Frauen ihren Lebensunterhalt eben nicht durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft auf dem Markt gewährleisten, sondern als Ehefrauen vom ›Familienernährer‹ unterhalten werden, möchte ich hier daran erinnern, dass Marx auf der Ebene der abstrakten strukturellen Bestimmungen der kapitalistischen Produktionsweise argumentiert. In welcher Weise diese in historischen Gesellschaftsformationen durch beispielsweise wohlfahrtsstaatliche Interventionen realisiert werden, ist auf einer anderen Analyseebene zu klären. Die Marx’sche Argumentation impliziert jedoch, dass beispielsweise wohlfahrtsstaatliche Umverteilungen abgeleitete Formen des Einkommens und insofern ebenfalls den Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen sind.
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und Selbstbezüglichkeit hervor: »Nur indem der einzelne Warenbesitzer sein privat-egoistisches Tauschwertinteresse konsequent verfolgt, hat er Anschluß an die Gesellschaft. Nur über seine Privatheit und seinen Egoismus verwirklicht er seine Gesellschaftlichkeit« (Ottomeyer 1977: 47). Warenbesitzer begegnen sich als Freie und Gleiche, sie tauschen freiwillig und entsprechend ihren individuellen Bedürfnissen und Zwecksetzungen gleichwertige Waren gegeneinander. Wie die Individuen zu Eigentümern ihrer Waren geworden sind, ist in diesem Austauschprozess nicht erkennbar, diese Frage stellt sich ihnen in der Regel auch gar nicht: »Die Subjekte sind im Austausch nur füreinander durch die Äquivalente als Gleichgeltende und bewähren sich als solche durch den Wechsel der Gegenständlichkeit, worin das eine für andre ist. Da sie nur so als Gleichgeltende, als Besitzer von Äquivalenten und Bewährer dieser Äquivalenz im Austausche füreinander sind, sind sie als Gleichgeltende zugleich Gleichgültige gegeneinander; ihr sonstiger individueller Unterschied geht sie nichts an; sie sind gleichgültig gegen alle ihre sonstigen individuellen Eigenheiten.« (Marx 1983: 167f)
Aus der subjektiven Perspektive stellt sich die spezifische Form der Freiheit im Kapitalismus also als das Recht des Subjekts dar, individuell nach eigenem Gutdünken über seinen Privatbesitz zu verfügen. Handlungsfähigkeit und Selbstbestimmung sind somit über den Besitz (an Geld) vermittelt. Halten wir uns nun den von Marx analysierten Zusammenhang vor Augen, dass dieses Geld als Repräsentant des gesellschaftlichen Reichtums zu verstehen ist, dann kann diese bestimmte Form der Handlungsfähigkeit insofern als Privileg bezeichnet werden, als ein Subjekt individuell (privat) über gesellschaftliche Ressourcen verfügen kann: Die Durchsetzung des privaten Zwecks erscheint als »Menschenrecht des Privateigentums […] willkürlich, (à son gré), ohne Beziehung auf andere Menschen, unabhängig von der Gesellschaft, sein Vermögen zu genießen und über dasselbe zu disponieren« (Marx 1961b: 365). Individuelle Autonomie ist mithin das Privileg, vermittels der Verfügung über Privatbesitz die eigene Gesellschaftlichkeit und die damit verbundene konstitutive Verwiesenheit auf Andere zu verleugnen. Diese Verleugnung der Angewiesenheit ist jedoch kein individuelles Versagen, denn die Beziehungen des Subjekts zu Anderen sind durch die Form des Privatbesitzes strukturell konfiguriert. Zum einen müssen die Bedürfnisse anderer Subjekte als Mittel zum eigenen Zweck erscheinen. Zum anderen wird diese strukturelle Konfiguration subjektiver und intersubjektiver Verhältnisse durch die verallgemeinerte Konkurrenz 247
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verschärft, in der der Andere nur als Schranke der subjektiven Freiheit erscheinen kann – und nicht etwa als deren Verwirklichungsbedingung (Marx 1961b: 365).2 Von der (privaten) Individualität der Subjekte wird einerseits in der allgemeinen Gleichheit im Tausch abstrahiert; andererseits stellt diese individuelle Besonderheit gerade eine notwendige Bedingung für das Zustandekommen des Tausches dar. Nur wenn ich eine besondere Ware anbieten kann, die die Bedürfnisse eines anderen Subjekts befriedigt, hat meine Ware einen (gesellschaftlichen) Wert. Durch ihre Individualität werden die Einzelnen überhaupt erst zu ökonomischen Subjekten, »diese natürliche Verschiedenheit ist der Grund ihrer sozialen Gleichheit, setzt sie als Subjekte des Austauschs« (Marx 1953: 913).3 Ich bin also darauf angewiesen, meine Besonderheit gegenüber Anderen hervorzuheben, meine Individualität wird zu einem Distinktionsmittel in der Konkurrenz zu anderen Anbietern; die Individualität des Anderen erscheint mir insofern als potenzielle Bedrohung. Durch die Rekonstruktion der subjektkonstitutiven Bedeutung dieser Konkurrenzverhältnisse kann mit Marx eine strukturelle Grenze von Anerkennungsverhältnissen benannt werden: Die Anerkennung der Individualität des Anderen unterliegt immer (auch) der Maßgabe, inwiefern jene die eigene Individualität in ihrer Entfaltung zu behindern droht. Die Abhängigkeit vom Erwerb durch Tausch bei gleichzeitiger Knappheit der Mittel zwingt jeden Einzelnen in die objektive Konkurrenz mit Anderen, worin die Mehrleistung des einen immer die Minderleistung des anderen und damit dessen tendenzielle Ausgrenzung aus dem existenziell notwendigen Tauschverhältnis bedeutet: »Obwohl die kapitalistischen Konkurrenzverhältnisse sich also als eine ganz unpersönlich-überpersönliche Sache entwickeln, schlagen sie sich im zwischenmenschlichen Verhalten der Individuen nieder. Die Individuen sind, soweit sie im Rahmen ökonomischer Konkurrenzbeziehungen aufeinander sto2
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»Unter kapitalistischen Konkurrenzbedingungen ist die größere Leistungsfähigkeit eines anderen Menschen zunächst keineswegs etwas, über das ich mich freuen könnte, weil sie mir im Rahmen von kooperativer Tätigkeit auch zugutekommt, sondern primär etwas, das bei mir selbst Versagensangst und die Angst, überflüssig zu sein, hervorruft.« (Ottomeyer 1977: 81) »Wäre das Bedürfnis von A dasselbe wie das von B und befriedigte die Ware von A dasselbe Bedürfnis wie das von B, so wäre gar keine Beziehung zwischen ihnen vorhanden, soweit von ökonomischen Beziehungen die Rede (nach ihrer Seite der Produktion hin). Die wechselseitige Befriedigung ihrer Bedürfnisse, vermittelst der stofflichen Verschiedenheit ihrer Arbeit und ihrer Ware, macht ihre Gleichheit zu einer erfüllten sozialen Beziehung und ihre besondre Arbeit zu einer besonderen Existenzweise der sozialen Arbeit überhaupt.« (Marx 1953: 913)
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ßen, gezwungen, den jeweils Anderen an seiner Tauschwertrealisierung, am Gelingen seines Tauschakts zu hindern, ihn auszustechen und zu schädigen, so daß er auf der Strecke bleibt.« (Ottomeyer 1977: 80)
Die verallgemeinerten Konkurrenzbeziehungen der Privateigentümer finden in der existenziellen Frage des Zugangs zu Erwerbsarbeit und damit zur über Geld vermittelten Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen ihren Ausdruck, sie sind jedoch auf verschiedenen Ebenen wirksam und zeigen sich beispielsweise auch in der Monopolisierung vergleichsweise attraktiver Tätigkeiten (Creydt 2000: 278) und gesellschaftlich prestigeträchtiger Positionen. Historisch können die Prozesse nachvollzogen werden, durch die sich bestimmte Gruppen über den Ausschluss anderer das Privileg dieser Stellungen sichern konnten (und können).4 Diese von Max Weber (1980: 201f) als soziale Schließung bezeichneten Prozesse können durch die Analyse ihrer gesellschaftlichen Formen auf ihre strukturellen Bedingungen zurückgeführt werden. Dadurch werden sie einer Erklärung zugänglich, die nicht auf einen universellen menschlichen Drang zu Distinktion und Abgrenzung (oder, bezogen auf die Geschlechterungleichheit, auf ein anthropologisch begründetes männliches Dominanzstreben) rekurrieren muss. Zugleich wird deutlich, dass Schließungsprozesse zwar durch soziale Unterscheidungen und Zuschreibungen, durch die Konstruktion von Differenzen – nicht zuletzt durch Vergeschlechtlichung und Rassenkonstruktionen – realisiert und legitimiert, nicht aber von diesen hervorgebracht werden. Hier lässt sich nun der Bogen zu den von Foucault analysierten Techniken der Bio-Macht schlagen. Zunächst ist festzuhalten, dass die Verallgemeinerung von Lohnarbeit im Rahmen kapitalistischer Wirtschaftsunternehmen nicht allein eine neue Organisationsform von Arbeit bedeutete, sondern mit der Etablierung veränderter subjektiver Bezüge auf Arbeit, mit neuen Zeitstrukturen, neuen sozialen Beziehungen und neuen Selbstverhältnissen verbunden war: »Der Kapitalismus ist eine Eigentümergesellschaft, die allen ihren Mitgliedern die Freiheit der Person garantiert. […] Der Arbeiter im Kapitalismus ist nicht Sklave, sondern freier Lohnarbeiter, der über seine Arbeitskraft als sein Eigentum verfügt. Im Gegensatz zum Sklaven muss er damit die gleiche reflexive Haltung, die die Eigentümergesellschaft all ihren Mitgliedern abverlangt, auch sich selbst gegenüber einnehmen.« (Deutschmann 2002: 68)
4
Zu nennen sind hier beispielsweise Professionalisierungsprozesse, die über die Festlegung von Eignungs- und Qualifikationskriterien immer auch einen Ausschluss derjenigen (re)produzieren, die als nicht geeignet oder nicht qualifiziert gelten (z.B. Wetterer 1999). 249
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Hier können nun die von Foucault erfassten Technologien der BioMacht ins Spiel gebracht werden, die durch eine spezifische Formierung der lebendigen Arbeitskraft das hervorbringen, was »das Kapital allein nicht herstellt« (Negt/Kluge 1993: 23). Diese lebendige Arbeitskraft mit ihren spezifischen Fähigkeiten und Eigenschaften stellt sich als individuelle Person dar. Der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse macht sich als die Charaktermaske des Klassenindividuums geltend und gibt deren spezifische Funktionalität und Eigenschaften vor. Die Vernunft des Subjekts erscheint als Anpassung an den fremdbestimmten Produktionsprozess; als eine spezifische »Willensstruktur« (Negt/Kluge 1993: 23). Auch außerhalb des Produktionsprozesses wirkt diese Vernunft und stellt die Entfaltung der persönlichen Individualität unter die Maßgabe der Wiederherstellung der Arbeitskraft; die Arbeit an der Fähigkeit, sich innerhalb von Konkurrenzverhältnissen im Warentausch zu behaupten (etwa durch die Sorge um Gesundheit, Ausbildung und dergleichen), erscheint vor allem als individuelle Verantwortung. Hiervon ausgehend lassen sich spezifische strukturelle Bedingungen biopolitischer Risikotechnologien erfassen, so dass etwa erkennbar wird, inwiefern Krankheit in einer Gesellschaft, in der die individuelle Reproduktionsfähigkeit über die Stellung am Markt bestimmt ist, als Risiko erscheint und als solches durch Machttechnologien reguliert wird. Was also unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen möglicherweise als ›Normalfall‹ im Leben und als gesellschaftlich abzumilderndes Ereignis behandelt werden könnte (Krankheit – oder vielmehr Hilfsbedürftigkeit in jeder Form – als Teil der Endlichkeit des Lebens), erscheint in kapitalistischen Verhältnissen vor allem als individueller Defekt, der das Subjekt ganz oder teilweise daran hindert, seine ›eigentliche‹ Aufgabe der Selbstsorge wahrnehmen zu können. Die in der Diskussion der historischen Konstellation der Bio-Macht hervorgehobene Besonderheit, dass gesellschaftliche Fragen zu ›Gattungsproblemen‹ und damit die Effekte gesellschaftlicher Strukturen letztlich zu individuellen Mängeln werden, wird durch die Marx’sche Rekonstruktion der abstrakten Strukturen des Kapitalismus weiter zugespitzt. Sie macht einen bestimmten, systematischen Zusammenhang sichtbar, der spezifische, scheinbar voneinander unabhängige gesellschaftliche Phänomene hervorbringt (Verwertungsimperativ, Isolationsproblem, Konkurrenz, Privatbesitz und dergleichen). Da diese Phänomene in der direkten Erfahrung als sachliche Bedingungen erscheinen, können die spezifischen Probleme, die sie für die Subjekte aufwerfen, nicht als gesellschaftliche Probleme begriffen werden, sondern erscheinen als individuelle Besonderheiten oder Defekte – die dann über disziplinierende Identitätskonstruktionen als persönliche Eigenschaften ein250
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zelnen Subjekten oder ganzen Gruppen von Subjekten zugeordnet werden. Die isolierten Einzelnen sind als Subjekte aufgefordert, kapitalismusspezifische Probleme individuell zu verarbeiten, was die Überhöhung des Individuums zu einer autonomen Entität und einem letzten Grund weiter verfestigt und damit zugleich seine Überforderung angesichts der Bedingungen zementiert, die sich seinem handelnden Zugriff weitestgehend entziehen: »Dem Individuum, das sein In-der-Welt-Sein nicht als es erfüllende Teilnahme und -habe an der gesellschaftlichen Gestaltung realisieren kann, muss die Welt als Fülle von Möglichkeiten und Gefahren vorkommen, aus der es auszuwählen hat« (Creydt 2000: 279). Gefahren lauern dabei in den eigenen ›Unzulänglichkeiten‹, aber – und das ist für die kollektive Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse ein entscheidendes Hindernis – auch Andere erscheinen in vielen Situationen als Bedrohung, da sie unter Umständen eine Grenze der eigenen Entfaltungsmöglichkeiten darstellen. Durch die verallgemeinerten Konkurrenzverhältnisse entsteht eine strukturelle Konstellation, in der der eigene Erfolg in Relation zum Misserfolg anderer bemessen ist, die eigene gesellschaftliche Position immer gegenüber anderen behauptet werden muss. Dies ist ein wichtiger Hinweis im Hinblick auf die Frage, warum sich die in Kämpfen um Anerkennung verschobenen Normen durch ihre Verschiebung hindurch dennoch wieder in hierarchisierten Verhältnissen manifestieren. Foucaults Feststellung, dass sich die Bestrebungen der Subjekte, ihren Platz im Normalen zu behaupten, immer über den Verweis von Anderen in die Anormalität absichern müssen, lässt sich mit den Marx’schen Analysen als historische Kritik an spezifischen Grenzen, die durch die kapitalistische Produktionsweise gesetzt werden, konkretisieren. Diese Grenzen sind strukturelle Hindernisse, die den Subjekten die Bedingungen ihres Handelns vorgeben und in ihrem Bestehen unabhängig von Deutungen und sprachlich-normativen Sinngebungen sind. Dies zu konstatieren, heißt jedoch nicht, dass diese nicht-normativen Strukturen dem handelnden Zugriff entzogen sind, vielmehr stellt sich die Frage, welche subjektiven Potenziale, die die Möglichkeit einer kollektiven Arbeit der Veränderung dieser Bedingungen eröffnen, innerhalb dieser Strukturen hervorgebracht werden. Wie ich im vorigen Kapitel argumentiert habe, finden sich auch bei Marx Momente der Dynamik in den Strukturen, die über die strukturellen Formen der kapitalistischen Produktionsweise hinausweisen. Mit der Kapitalismusanalyse von Marx lässt sich so eine historische Grenze der kritisch-emanzipatorischen Perspektiven von Butler und Foucault identifizieren. Es lassen sich bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse benennen, die verändert werden müssen, um eine kollektive Arbeit am ›Kunstwerk des Lebens‹ unter solidarischeren und weniger 251
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brutalen Bedingungen zu ermöglichen. Der bei Butler abstrakt auftretende Aspekt der Entfremdung (oder der Gewaltsamkeit der Sozialität gegenüber den Individuen) kann auf diese Weise in seiner historischen Form als eine für die kapitalistische Produktionsweise spezifische Verselbständigung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber den Akteuren weiter präzisiert werden. Damit ist aber zugleich in gesellschaftstheoretischer Perspektive die Frage verbunden, wie die Produktionsverhältnisse so organisiert werden können, dass Möglichkeiten einer (kollektiven) Verfügung über die gesellschaftlichen Bedingungen geschaffen werden. Dies erfordert jedoch einen gesellschaftlichen Aufwand, der über Strategien symbolisch-normativer Bedeutungsverschiebung hinausgeht. Die Frage, die es auf theoretischer Ebene zunächst weiter zu klären gilt, ist, wie beide Aspekte – die Reorganisation der Produktionsverhältnisse sowie die Anfechtung normativer Kategorien – so in Zusammenhang gebracht werden können, dass sie nicht gegeneinander ausgespielt werden. Um diesen Überlegungen einen Schritt näherzukommen, systematisiere ich daher im folgenden Abschnitt die theoretisch-analytischen Perspektiven in ihrem Verhältnis zueinander.
7.2 Normative und nicht-normative Strukturierung des Sozialen Butler und Foucault betonen die wirklichkeitskonstituierende Wirkung des Diskurses und setzen die Prämisse, dass es keine erkennbare Wirklichkeit jenseits des Diskurses gibt.5 Auch im Anschluss an Marx lässt sich konzedieren, dass sich alles Soziale nur symbolisch-diskursiv ausdrücken kann; alle empirischen Phänomene einer Gesellschaftsformation sind symbolisch-kulturell vermittelt. Allerdings stellen Marx’ Analysen klar, dass das Soziale nicht ausschließlich symbolisch-diskursiv konstituiert ist. Um mit dieser Feststellung jedoch nicht die von Butler und Foucault kritisierte ontologische Unterscheidung von Materiellem und Kulturellem zu reaktivieren, muss die Problematik der analytischen Unterscheidung unterschiedlicher Gegenstandsbereiche und Abstrak5
Dass die Aussage, es gebe keine erkennbare Wirklichkeit jenseits des Diskurses, nicht bedeutet, dass alles diskursiv ist, habe ich im 2. Kapitel im Anschluss an Butler (sowie an Vasterling) diskutiert: Was außerhalb des Diskurses ist, ist nicht kommunizierbar und daher nicht erkennbar; es kann jedoch durchaus als nichtintelligibles Unbehagen, als Begrenzung des kommunizierbaren Seins erfahrbar sein. Auch anhand von Foucaults Begriff der Problematisierung sowie seines Konzepts der Dispositive habe ich den Zusammenhang von ›Wirklichkeit‹ und Diskurs erläutert (4. Kapitel).
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tionsebenen etwas ausführlicher diskutiert werden. Ich begründe daher in diesem Abschnitt die These, dass Butler, Foucault und Marx mit ihrem jeweiligen Gegenstandsbezug unterschiedliche Dimensionen des Sozialen rekonstruieren, die als analytische Momente ohne ontologisch eigenständige Existenz zu begreifen sind. Auf diesem Wege kann ich dann wiederum die Bedeutung der einzelnen Perspektiven schärfen und sie in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit näher bestimmen, um die theoretische Frage anzugehen, wie die Vermittlung von nicht-normativen Strukturen der Produktionsweise mit den Strukturen der symbolischen Ordnung im Medium der Machtverhältnisse zu erfassen ist. Weder Butler noch Foucault stellen den konstitutiven Zusammenhang von Macht-Wissen-Ordnung und kapitalistischer Produktionsweise in Abrede. Allerdings gehen beide diesem Zusammenhang auch nicht systematisch nach. Butler thematisiert die Problematik vor allem im Hinblick auf das Zusammenspiel von Materiellem und Kulturellem und kritisiert Versuche »to separate Marxism from the study of culture« (Butler 1998c: 36). Bei der Prämisse einer wirklichkeitskonstituierenden Wirkung von Sprache geht es ihr also durchaus nicht darum, die symbolische Ordnung zur autonomen Determinante von gesellschaftlichen Phänomenen zu erklären; vielmehr will sie diese in ihren Materialisierungen und den daraus entstehenden Zwängen erfassen (vgl. Kapitel 2). Sie weist aber zugleich den Vorwurf zurück, dass Kämpfe um Bedeutungen ›lediglich kulturell‹ und damit gegenüber Kämpfen um materielle Ressourcen nachrangig seien. Vielmehr will sie genau die Verknüpfung von symbolischen und materiellen Macht- und Verteilungsverhältnissen in den Mittelpunkt der Betrachtungen stellen. Diesen Zusammenhang diskutiert sie am Beispiel des Verhältnisses von Heteronormativität und kapitalistischer Produktionsweise, das sie als eine notwendige Verknüpfung deutet: »Is there any way to analyze how normative heterosexuality and its ›genders‹ are produced within the sphere of reproduction without noting the compulsory ways in which homosexuality and bisexuality, as well as transgender, are produced as the sexually ›abject‹, and extending the mode of production to account for precisely this social mechanism of regulation? It would be a mistake to understand such productions as ›merely cultural‹ if they are essential to the functioning of the sexual order of political economy, that is, constituting a fundamental threat to its workability. The economic, tied to the reproductive, is necessarily linked to the reproduction of heterosexuality.« (Butler 1998c: 42)
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Butler wehrt sich zu Recht gegen eine Trennung von ›Kulturellem‹ (im Sinne von Signifikationen) und ›Materiellem‹ (im Sinne ökonomischer Ressourcen). Allerdings erweist sich ihre Argumentation als eigentümlich funktionalistisch und ahistorisch, wenn sie behauptet, dass Kapitalismus notwendigerweise mit Heteronormativität verknüpft sei. Nancy Fraser führt diese kurzschlüssige Verkoppelung auf begriffliche Unklarheiten in der Unterscheidung von ›Materiellem‹ und ›Kulturellem‹ zurück (Fraser 1998: 142). Butler verwerfe diese Unterscheidung zum einen und setze zum anderen das Materielle mit dem Ökonomischen gleich. Dies führe sie wiederum zu einer definitorischen Setzung, die insofern ahistorisch sei, als sie die spezifisch kapitalistische Trennung von ökonomischen Verhältnissen und Verwandtschaftsbeziehungen verkenne: »Stipulating that the mode of sexual regulation belongs to the economic structure by definition […] threatens to dehistoricize the idea of the economic structure and drain it of conceptual force« (Fraser: 145). Zudem reproduziere Butler durch ihre funktionalistische Verknüpfung von Heteronormativität und kapitalistischer Produktionsweise einen besonders problematischen Aspekt des Marxismus der 1970er Jahre: »the over-totalized view of capitalist society as a monolithic ›system‹ of interlocking structures of oppression that seamlessly reinforce one another« (Fraser 1998: 147). Fraser spricht damit zwei Aspekte an, die ich für entscheidend halte, die aber einer ausführlicheren Diskussion bedürfen. Erstens muss der Begriff der Materialität genauer erläutert werden, denn er wird in den Debatten um die diskursive Produktion der Wirklichkeit vieldeutig und uneinheitlich verwendet; einmal bezeichnet er ganz generell das ›Außerdiskursive‹, einmal das ›Ökonomische‹, das ›Körperliche‹ oder einfach ›Institutionen‹. Demgegenüber schlage ich vor, die Strukturen der Produktionsweise sowie die Strukturen der symbolischen Ordnung begrifflich als (abstrakt rekonstruierte) konstitutive Momente gesellschaftlicher Materialität (im Sinne von konkreten Phänomenen wie gesellschaftlichen Subsystemen, Institutionen, Subjektivitäten und dergleichen) zu begreifen. Das Konzept der Materialisierung ist damit nicht nur auf die Prozesse der diskursiven Formierung der Wirklichkeit bezogen – gesellschaftliche Phänomene materialisieren sich zugleich in einer spezifisch kapitalistischen Form. Mittels dieser analytischen Unterscheidung von abstrakten (nur begrifflich rekonstruierbaren) Strukturzusammenhängen und gesellschaftlicher Materialität lässt sich zweitens das Verhältnis von Notwendigkeit und Kontingenz differenzierter betrachten. In der gesellschaftlichen Materialität der abendländischen Moderne sind Kapitalismus und Heteronormativität notwendig miteinander verknüpft; analytisch sind sie jedoch unabhängig und stehen in einem grundsätzlich 254
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kontingenten Verhältnis. Die Notwendigkeit dieser Verknüpfung lässt sich also nur in historisch-empirischen Untersuchungen feststellen – als bedingte Kontingenz. Um nun wiederum darlegen zu können, inwiefern mit dieser historischen Formation kein monolithisches System gemeint ist, müssen der Begriff der Struktur und die Frage der unterschiedlichen Analyseebenen, auf die dieser verweisen kann, genauer betrachtet werden. Butler widerspricht ausdrücklich Frasers Vorwurf, sie entwerfe ein hermetisches Verständnis von Strukturen, und betont vielmehr die Dynamik dieser Konzeption: »Eine Struktur gewinnt ihren Status als Struktur, ihre Strukturalität, nur durch ihre wiederholte Neueinsetzung. Die Abhängigkeit dieser Struktur von ihrer Wiedereinsetzung bedeutet, dass die eigentliche Möglichkeit von Struktur von einer Wiederholung abhängt, die in keinem Sinne vollständig im vornhinein determiniert ist, […]. Darüber hinaus bedeutet für manche soziale Formationen ihr Auftreten als strukturiertes, dass sie auf irgendeine Weise die Kontingenz ihrer Einsetzung verdeckt haben.« (Butler 1998d: 254f)
In diesem Zitat vermischen sich aber verschiedene Ebenen und Gegenstandsbereiche; infolgedessen wird der Begriff der Struktur unspezifisch und ahistorisch benutzt und letztlich auf den Begriff der sozialen Formation verkürzt. Um diesem Problem zu entgehen, schlage ich vor, nicht von der Struktur einer sozialen Formation zu sprechen, sondern vielmehr von unterschiedlichen Dimensionen, in denen sich Strukturzusammenhänge rekonstruieren lassen. Auf diese Weise können zum einen die je spezifischen strukturimmanenten Dynamiken erfasst werden, zum anderen kann aber auch nachvollzogen werden, dass diese unterschiedlichen strukturellen Dimensionen untereinander in einem Verhältnis der Funktionalität, aber auch der Ungleichzeitigkeit und Reibung stehen können. Beide Aspekte liefern Argumente dafür, dass diese Strukturzusammenhänge nicht hermetisch oder monolithisch sind. In der Auseinandersetzung mit Butler, Foucault und Marx habe ich hervorgehoben, dass sie jeweils einen spezifischen Analysegegenstand im Blick haben und damit zugleich auch zu einer je eigenen Konzeption von strukturellen Zusammenhängen kommen, die je besondere Zwänge, Reproduktionsweisen und Dispositionsspielräume aufweisen. Butler bezieht sich in ihrer Konzeption der Struktur der heterosexuellen Matrix explizit auf Derrida. Gegenstand von Derridas Analysen ist die sprachlich-symbolische Ordnung; der spezifische Reproduktionsmodus ist die zitierende Wiederholung, die jedoch aufgrund der Iterabilität immer die Gefahr beziehungsweise Möglichkeit der Bedeutungsverschiebung im255
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pliziert. Foucault fokussiert demgegenüber gesellschaftliche Machtdispositive als spezifische Materialisierungen von Bedeutungen in Institutionen, Praktiken und Selbstverhältnissen; spezifischer Reproduktionsmodus sind strategische Wiederaufführungen, die aufgrund der funktionellen Überdeterminiertheit der Dispositive zu überschüssigen Effekten führen können. Die Strukturiertheit der Praktiken durch die funktionale Gerichtetheit des Dispositivs öffnet und schließt zugleich die Möglichkeitsräume für Bedeutungsverschiebungen; die formal-abstrakte Analyse der sprachlich-symbolischen Ordnung kann hierdurch historisch situiert werden. Marx wiederum bezieht seine Analysen auf die versachlichten Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise, die auf einer bestimmten historischen Konstellation der Produktionsverhältnisse beruhen. Diese Strukturen sind insofern dynamisch, als sie eine Gesetzmäßigkeit konstituieren, die in besonderer Weise auf Wachstum zielende Produktivität erforderlich macht und dabei zugleich spezifische Widersprüche hervorbringt; Reproduktionsmechanismus dieser Strukturen ist ein ›stummer Zwang der Verhältnisse‹, der sich unabhängig von den Deutungen der Akteure in deren Praktiken geltend macht. Zugleich bringt aber die strukturelle Dynamik Momente hervor, die über die gegebenen Formen hinausweisen. Mit Marx und Foucault lässt sich die besondere historische Weise, in der soziale Formationen des modernen Kapitalismus »die Kontingenz ihrer Einsetzung verdeckt haben« (Butler 1998d: 255), als Naturalisierung fassen: eine Naturalisierung des Lebens sowie eine Naturalisierung menschlicher Produktionsverhältnisse und deren funktionaler Erfordernisse. Als analytisch unterschiedene ›Systeme‹ sind diese verschiedenen Dimensionen in der gesellschaftlichen Materialität in spezifischer Weise miteinander verknüpft. Sie werden nur in dieser materiellen Verknüpfung empirisch real und konstituieren das ›Soziale‹ oder ›soziale Formationen‹. Obgleich diese verschiedenen Strukturzusammenhänge als abstrakte Bestimmungen eine analytische Eigenständigkeit haben, also nicht aufeinander zurückführbar sind, haben sie keine ontologisch eigenständige Existenz. Die Rekonstruktion dieser Strukturzusammenhänge bildet eine gesellschaftstheoretische Grundlage für die Suche nach Möglichkeitsräumen der Gestaltung, sie stellt jedoch nicht eine Analyse konkreter historischer Gesellschaftsformationen mit spezifischen institutionellen Gefügen, Normalisierungsprozessen und Subjektivitätsformen dar; eine solche Analyse kann nur im Rahmen konkreter empirischer Untersuchung erfolgen. Produktionsweise und diskursive Ordnung sind in diesem Verständnis also nicht zwei getrennte gesellschaftliche Sphären, Bereiche oder Subsysteme wie beispielsweise Ökonomie und
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Kultur.6 Vielmehr handelt es sich um begriffliche Rekonstruktionen von Strukturzusammenhängen, die zwar konstitutiv für gesellschaftliche Materialität sind – weder sind sie aber einfach aus dieser ablesbar, noch gehen sie als getrennte substanzielle Faktoren in diese ein. Der Schlüssel zu der Frage, wie die Perspektiven miteinander zu verbinden sind, ist nicht über die Frage des Verhältnisses von Materiellem und Kulturellem zu suchen, sondern vielmehr in der Differenzierung von Analyseebenen, der analytischen Unterscheidung zwischen abstrakten Konzepten (symbolische Ordnung, Macht-Wissen-Regime, kapitalistische Produktionsweise) und empirischen Erscheinungen der historischen Formation. Der Gewinn einer Verknüpfung der verschiedenen Analysedimensionen lässt sich wiederum paradigmatisch an der Problematik der Geschlechterverhältnisse verdeutlichen. Hier komme ich nun auf eine These zurück, die ich im 6. Kapitel gewissermaßen nur en passant gestreift habe, nämlich dass auf der analytischen Abstraktionsebene, auf der Marx die Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise rekonstruiert, keine Aussagen über Geschlechterverhältnisse oder Heteronormativität gemacht werden können. Dies berührt eine Frage, die in der feministischen Debatte sehr umstritten ist. Die Einsicht, dass sich die Marx’schen Begriffe nicht ohne Weiteres bei der Analyse der Geschlechterverhältnisse ›anwenden‹ lassen, hat zu verschiedenen Konzeptionen einer kritisch an Marx anknüpfenden Reformulierung oder Erweiterung geführt.7 In meiner Lesart dieser Problematik verweist die Frage der Geschlechterverhältnisse jedoch nicht auf eine Lücke der Marx’schen Analyse (die auf derselben analytischen Ebene zu schließen wäre), sondern vielmehr auf eine Grenze (die auf die Notwendigkeit anderer analytischer Ebenen verweist). Ich greife dabei (mindestens) zwei zentrale Erkenntnisse aus den feministischen (Re-)Interpretationen mar6
7
Insofern teile ich Butlers Kritik an Frasers ›perspektivischem Dualismus‹ (Butler 1998c). Auch Becker-Schmidt bemerkt, dass dieses Konzept, welches »das Ökonomische und das Soziale als unterschiedliche, aber sich durchdringende Modi sozialer Ordnung versteht« (Fraser 2003: 90), gewisse tautologische Züge enthält: »Those instances of oppression that are rooted in political economy I shall call ›economically rooted oppressions‹; those that are rooted in culture, in contrast, I shall call ›culturally rooted oppressions‹.« (Fraser 1997: 199) Becker-Schmidt klagt demgegenüber eine gesellschaftstheoretische Perspektive ein, die auf den inneren Zusammenhang kategorial unterscheidbarer Phänomene zielt: »Dass Kultur und Ökonomie unter funktionalen Gesichtspunkten als distinkte Praxisfelder zu betrachten sind, besagt noch nicht, dass sie nicht einem verzweigten Wurzelwerk, nämlich einem Herrschaftszusammenhang zugehören.« (Becker-Schmidt 2001: 98) Für Zusammenfassungen dieser Debatte vgl. z.B. Young 1995; Nickel 2001. 257
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xistischer Gesellschaftstheorie auf: Erstens ist die Geschlechterungleichheit als eigenständige Problematik zu behandeln, die sich nicht als Überbauphänomen aus dem Kapitalverhältnis ableiten lässt. Zweitens lässt sich aus der Analyse der Geschlechterverhältnisse erkennen, inwiefern die kapitalismusspezifische Verleugnung der konstitutiven Angewiesenheit durch die symbolische Ordnung der heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit modifiziert und ›lebbar‹ gemacht wird.
7.3 Kapitalismus, heterosexuelle Matrix und Bio-Macht Um den Erkenntnisgewinn einer Unterscheidung verschiedener Analysedimensionen im Hinblick auf den Zusammenhang von Kapitalismus und Geschlechterverhältnissen auszuführen, greife ich auf Ursula Beers feministische Reinterpretation der Marx’schen Kapitalismusanalyse zurück (Beer 1991). Für mich ist Beers Ansatz vor allem insofern interessant, als sie zwischen verborgenen Strukturen und sichtbarem Funktionszusammenhang differenziert und sich somit eine Parallele zu der von mir hier vorgeschlagenen analytischen Unterscheidung verschiedener Momente ergibt. Mit dem Begriff ›Struktur‹ wird in Beers Verständnis eine Ebene gesellschaftlicher Wirklichkeit bezeichnet, die sinnlichempirisch nicht unmittelbar erfassbar, sondern allein wissenschaftlichtheoretischer Rekonstruktion zugänglich ist. In der empirischen Wahrnehmung zeigen sich diese Strukturen in einem ›sichtbaren Funktionszusammenhang‹, der zwar in seiner konkreten materiellen Gestalt durch die verborgenen Strukturen vorselektiert ist, jedoch zugleich über diesen hinausweist, also keinesfalls einfach ableitbar ist. Die kapitalistische Produktionsweise als spezifische Kombination von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen beruht auf der Existenz von Privateigentum an Produktionsmitteln; die Produktion von Mehrwert ist dabei die »Invariante der Struktur in all ihrer Prozessualität« (Beer 1991a: 122). Solange die kapitalistische Produktionsweise besteht, müssen die Strukturen der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse funktional vereinbar, die Produktionsverhältnisse also funktional für den Erhalt der Eigentumsordnung sein. Mit diesem Strukturbegriff führt Beer eine Unterscheidung analytischer Abstraktionsebenen ein, bei der die begrifflich-theoretische Rekonstruktion der ›verborgenen‹ Strukturen als theoretischer Rahmen dient, um die Bedingungen der Möglichkeit des ›sichtbaren Funktionszusammenhangs‹ erfassen zu können. Diese Konzeption einer strukturellen Funktionalität ist wiederum anschlussfähig an Foucaults Annahme, dass gesellschaftliche Dispositive funktionalen Impera258
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tiven unterliegen. Der allgemeine, auf die ›Optimierung des Lebens‹ gerichtete Imperativ der Bio-Macht lässt sich damit noch genauer fassen: Sie ist wesentlich eine Optimierung im Sinne der Gesetze der Kapitalverwertung. Beers zentrales Anliegen besteht darin, die Marx’sche Analyse des Kapitalismus begrifflich so zu erweitern, dass mit ihr eine Analyse der Geschlechterverhältnisse möglich wird. In dieser Hinsicht sieht sie zwei Lücken in der Marx’schen Analyse. Zum einen kritisiert sie die Beschränkung des Begriffs der Produktionsweise auf die marktorientierte Produktion und schließt daraus, »daß die historisch-materialistische Theorie in ihrer originären Gestalt nicht materialistisch genug ist, weil sie all das aus ihren Begriffen ausspart, was mit gesellschaftlicher Reproduktion unter- oder außerhalb des Produktionsprozesses von Waren zu tun hat« (Beer 1991b: 258). Damit betont sie die gesellschaftstheoretische Bedeutung der Tatsache, dass in jeder Gesellschaft nicht nur die materielle Produktion, sondern auch die biologische und kulturelle ReProduktion der Menschen gewährleistet werden muss; sie erweitert das Konzept der Produktionsweise daher und unterscheidet zwischen einer ›Wirtschafts-‹ und einer ›Bevölkerungsweise‹. Zum anderen kritisiert Beer, dass die Marx’sche Methode zu einer Unterbestimmung des Subjekts führe, da sie keine zureichende analytische Unterscheidung zwischen »dem Typus einer sozialen Verhältnisbestimmung und dem Typus ihres Substrats« (Beer 1991a: 120) vornehme. In der kategorialen Bestimmung der Arbeitskraft als abstrakte Verkörperung eines gesellschaftlichen Verhältnisses existieren bei Marx keine Individuen, sondern lediglich Träger sozialer Verhältnisse: »Wenn ich aber meine Arbeitskraft auf dem Markt anbiete, tue ich das nicht nur als potentielle Lohnarbeitskraft für einen Beschäftiger, sondern als Frau oder Mann« (Beer 1991b: 260). Die Gesellschaftsanalyse habe zu berücksichtigen, »daß es ganz einfach auch Geschlechter geben muß, die ein solches Verhältnis konstituieren« (Beer 1991b: 257), sie müsse davon ausgehen, dass Individuen in ihrer Körperlichkeit eine Existenz außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse führen. Während ich Beers analytische Unterscheidung von verborgenem Strukturzusammenhang und empirisch wahrnehmbarer Realität für sehr produktiv halte, folge ich allerdings nicht der von ihr gewählten Strategie einer kritischen Erweiterung der Marx’schen Analyse, durch die sie das Phänomen der hierarchischen Geschlechterverhältnisse in kapitalistischen Gesellschaften über den Begriff des ›geschlechtlichen Realsubjekts‹ als eines Substrats in die Gesellschaftsanalyse hineinholen möchte. Im Anschluss an die im vorigen Kapitel vorgeschlagene Lesart der Marx’schen Analysen gehe ich davon aus, dass dessen Strukturkon259
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zeption, die sich auf die ›Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft‹ bezieht, gar keine Aussagen über konkretes Handeln, die über die durch die kapitalistische Produktionsweise gesetzten abstrakten Bedingungen der Möglichkeit hinausgehen, anstrebt – oder anstreben kann. Subjekttheoretisch ist damit eine Grenze dieser Erkenntnisperspektive benannt und nicht eine Lücke; Marx beansprucht, bestimmte Aussagen über die kapitalismusspezifische Form des Subjekts und seiner Handlungsfähigkeit zu machen, nicht aber über dessen symbolisch konstituierte Identität – hier kommen andere verborgene Strukturzusammenhänge ins Spiel. Aussagen über Individuen als historische, real handelnde Subjekte beziehen sich auf eine andere Analyseebene, nämlich die der symbolisch vermittelten konkret-empirischen Institutionen und Praktiken. Um dies zu illustrieren und daran anschließend den analytischen Ertrag der Perspektiven von Butler und Foucault zu profilieren, zeichne ich zentrale Argumente von Beers historischer Untersuchung der Transformation der Geschlechterverhältnisse im Übergang von der ständischen zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nach. Mithilfe des begrifflichen Instruments der ›verborgenen Grundstruktur‹ untersucht Beer, wie sich mit der Transformation zur kapitalistischen Moderne auch die Geschlechterverhältnisse wandeln. Sie stellt fest, dass sich dabei eine neue gesellschaftliche Organisation des Zusammenhangs von ›Wirtschafts‹- und ›Bevölkerungsweise‹ durchsetzt, was wiederum mit einer neuen Form der Ungleichheit zwischen Männern und Frauen einhergeht. Das kulturelle Muster der Geschlechterverhältnisse in der ständisch-agrarischen Gesellschaft bezeichnet Beer als Primärpatriarchalismus. Damit ist die Vorherrschaft des männlichen Familienoberhaupts gemeint, dessen Verfügungsgewalt über die Arbeitskräfte, sowohl der Ehefrau als auch des Gesindes, auf dem Eigentum an Grund und Boden beruhte. Der ständische Wirtschafts- und Familienverband bildete die räumliche und funktionale Einheit der Organisation von Produktion und Generativität. Das Recht auf Eheschließung (und damit auf legitime Familiengründung) war an den Nachweis einer ausreichenden Existenzsicherung gebunden; dadurch waren Besitzlose, die die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, in der ständischen Gesellschaft nicht ehefähig. Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen im Familien- und Arbeitsrecht seien sichtbarer Ausdruck der Vergesellschaftungsmodi des ständischen Patriarchalismus; sie dienten der Aufrechterhaltung von Geschlechterungleichheit und Eigentumsordnung (Beer 1991a: 164). Mit der Transformation zur kapitalistischen Produktionsweise verändert sich die Vergesellschaftung von Arbeit und Generativität. Die kapitalistische Produktionsweise bietet mit der Verallgemeinerung der Lohnarbeit Möglichkeiten der individuellen Existenz260
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sicherung, die, unabhängig von Besitz an Grund und Boden oder an Produktionsmitteln, nunmehr monetär vermittelt sind. Zugleich sind die Erfordernisse der individuellen und generativen Reproduktion weitgehend in eine von der Erwerbsarbeit getrennte Privatsphäre verwiesen. Diese Reorganisation von Arbeit und Generativität führt Beer auf eine neue strukturelle Problemlage zurück: »Eine (kapitalistische) Marktökonomie kann nur dann profitabel und rational arbeiten, wenn sie keinerlei Verantwortung für die gesellschaftlich-individuelle Reproduktion von Frauen und Männern zu übernehmen braucht, die über die Lohn- oder Gehaltszahlung hinausgeht« (Beer 1990: 24). Ihren sichtbaren Ausdruck finden diese strukturellen Veränderungen Beer zufolge unter anderem in der Transformation der Rechtssysteme – beispielsweise werden die Einschränkungen der Ehefähigkeit aufgehoben und neue arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen eingeführt. Mit dem Zerfall der Wirtschaftsund Familieneinheit in zwei räumlich und funktional getrennte Institutionen geht die Ausdifferenzierung des Patriarchalismus zu einer Form einher, die Beer als doppelten Sekundärpatriarchalismus bezeichnet. Dieser beruhe auf der Verfügung über Geldmittel und sichere den Männern eine zweifache Vormachtstellung, zum einen aufgrund ihrer privilegierten Stellung in der Erwerbsarbeit und zum anderen durch ihre über ökonomische Abhängigkeit vermittelte Verfügung über die Arbeitskraft von Frauen im Privatbereich. Indem Beer in ihrer Untersuchung den Wandel der sozialen Ungleichheit der Geschlechter zum Wandel der Produktionsweise in Bezug setzt, kann sie strukturelle Rahmenbedingungen erfassen, die wesentliche Bedingungen der Möglichkeit der konkreten Gestalt der Geschlechterverhältnisse konstituieren. Im Mittelpunkt steht dabei die strukturelle Auslagerung konstitutiver Angewiesenheiten in den ›Privatbereich‹. Auf der abstrakten Ebene des verborgenen Strukturzusammenhangs lässt sich die kapitalistische Produktionsweise als Verwertungsprozess beschreiben, bei dem die Mehrwertproduktion als Relevanzkriterium für den über Kapital vermittelten Einsatz von Produktivkraft auftritt. Da sich der Bereich der individuellen und generativen Reproduktion in weiten Teilen nicht als Sphäre rentabler Kapitalanlage eignet, wird er der individuellen, ›privaten‹ Verantwortung überlassen. Es entsteht eine strukturelle Notlage in Gestalt eines gesellschaftlichen Widerspruchs zwischen dem Verwertungsinteresse der Einzelkapitale und deren Gleichgültigkeit gegenüber den eigenen Existenzbedingungen (unter anderem der Reproduktion der Arbeitskraft). Hier greift der (patriarchal geprägte) Staat mit rechtlichen Regelungen vor allem in Form sozialpolitischer Bestimmungen und Maßnahmen ein. Beer zeigt in ihrer Untersuchung, wie tradierte kulturelle Muster der Geschlechterungleichheit – 261
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vor allem über gesetzliche Regelungen – in der Transformation der Produktionsweise wirksam werden und konstitutiv für die konkrete materielle Gestalt der neuen Modi der Vergesellschaftung von Arbeit und Generativität sind. Wenn Beer die Transformation zum Sekundärpatriarchalismus moderner kapitalistischer Gesellschaften als »historisch-spezifische Antwort« auf das Problem betrachtet, wie eine industrielle Gesellschaft ihre »biologisch-natürliche Bestandssicherung« (Beer 1993: 20) organisiert, dann ist eine gewisse Parallele zu Foucaults Analyse offensichtlich: Wie wir gesehen haben, geht dieser davon aus, dass sich gesellschaftliche Dispositive formieren, um auf einen historischen Notstand zu antworten. Diesen Notstand kann Beer in seiner kapitalistischen Formbestimmtheit analytisch präzisieren. Ein entscheidender Unterschied zu Foucaults Perspektive besteht aber darin, dass Beer Generativität nicht als ein historisches Dispositiv betrachtet, sondern als ›Gattungsproblem‹ thematisiert und sie so mit naturalistischen und substanzlogischen Annahmen verbindet. Gerade bezogen auf die Generativität lassen sich mit der Durchsetzung der Bio-Macht aber wichtige qualitative Veränderungen erkennen, die die vermeintlichen Grenzen von Natur und Kultur unsicher machen.8 Durch Beers Annahme, dass die Bevölkerungsweise in einem funktionalen Verhältnis zur Produktionsweise stehen müsse, werden bestimmte gesellschaftlich-historische Entstehungsbedingungen einer besonderen Konfiguration der Generativität der Analyse zugänglich gemacht. Dies ist wichtig, um die soziale Konstituierung des Geschlechterverhältnisses zu verstehen. Allerdings erweist sich Beers Konzeption einer unmittelbaren Verknüpfung von Generativität, reproduktiven Tätigkeiten (kultureller Re-Produktion des Menschen) und Geschlecht als problematisch. Die von ihr als generelles Phänomen menschlicher Gesellschaften formulierte Unterscheidung von ›Wirtschafts‹- und ›Bevölkerungsweise‹ ist letztlich nicht trennscharf, denn es ist nicht klar, nach welchen Kriterien Tätigkeiten dem einen oder anderen Bereich zugeordnet werden. Die strukturelle Trennung zwischen einer gesellschaftlichen Sphäre der Produktion von Gütern und Dienstleistungen (als ›Wirtschaftsweise‹) und einer gesellschaftlichen Sphäre der Reproduktion der Arbeitskraft (als ›Bevölkerungsweise‹) ist ein spezifisches Phänomen der Moderne. Und auch in dieser historischen Konstellation ist diese Trennung – angesichts der Tendenzen der Vermarktlichung von personennahen Dienstleistungen und der sich immer wieder verschiebenden Grenzen zwischen privat/unbezahlt und markt-
8
Vergleiche dazu meine Ausführungen im 5. Kapitel.
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vermittelt/bezahlt geleisteten Arbeiten – nicht eindeutig inhaltlich zu bestimmen. Wie die Bereiche von marktvermittelter Produktion und individueller Reproduktion konkret-substanziell aussehen und organisiert sind, lässt sich auf der Ebene der Marx’schen Analysen nicht bestimmen. Dies stellt aber insofern keine Lücke dar, als Marx sehr wohl die abstrakten Bedingungen ihres Gegensatzes und Widerspruchs rekonstruieren kann – und mehr auch nicht zu leisten beansprucht. Eine Grenze ergibt sich dann aus der Abstraktion dieser Analyse: Die je historische Gestalt der sozialen Verhältnisse und Praktiken muss auch in ihren anderen konstitutiven Momenten (symbolische Ordnung, Macht-WissenRegime) rekonstruiert werden. Dass dabei die konkreten Praktiken in den gesellschaftlichen Bereichen der Produktions- und Bevölkerungsweise sowie die vermeintlichen Notwendigkeiten, auf die sie sich beziehen, nicht nur in ihrer kapitalismusspezifischen Konfiguration erklärt werden können, lässt sich im Anschluss an Butler und Foucault sehr gut begründen. Indem so die symbolische Ordnung sowie die spezifische Bedeutung, die die Kategorie Geschlecht in der modernen Macht-Wissen-Ordnung hat, im Sinne einer komplexen Gleichzeitigkeit in die Analyse einbezogen werden, können qualitative Veränderungen und strukturelle Konstanten in den Blick kommen. Demgegenüber verdeckt die in Beers Begriff des ›Patriarchats‹ betonte Kontinuität und Einheitlichkeit der kulturellen Muster, wie voraussetzungsvoll die konkrete Bestimmung der ›Bevölkerungsweise‹ ist. Diese kann, wie die Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung der bürgerlichen Familie zeigen, keinesfalls aus vermeintlich der Generativität entspringenden Notwendigkeiten abgeleitet werden – selbst die grundlegendste Bestimmung von Generativität als Austragen und Gebären ist nicht einfach als durch die Biologie vollständig bestimmter Tätigkeitsbereich zu verstehen. Vielmehr lassen sich die Diskurse und die Interessen der an ihnen beteiligten Akteure nachvollziehen und lässt sich auf diesem Wege eine historisch-empirische Erklärung für die konkreten (kontingenten) Erscheinungsformen der Bevölkerungsweise finden. Auch Butler geht von einer gewissen historischen Kontinuität der heterosexuellen Matrix und der von ihr konstituierten Zweigeschlechtlichkeit aus. Indem sie diese aber in ihren Materialisierungen unmittelbar an das Foucault’sche Konzept der Macht-Wissen-Ordnung und damit an dessen Analyse moderner Machtdispositive knüpft, kann sie argumentieren, dass die Verknüpfung der Kategorie Geschlecht mit einer spezifischen Organisation und Gestaltung der Bevölkerungsweise kontingent und damit weitaus flexibler und wandelbarer ist, als Beer es annimmt.
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Foucaults Rekonstruktion der historischen Überlagerung des Allianz- durch das Sexualitätsdispositiv (vgl. Kapitel 5) thematisiert ebenfalls die von Beer untersuchten familienrechtlichen Verschiebungen, erweitert den Blick aber über den juridischen Rahmen hinaus und kann so auch die Veränderung der subjektiven Selbstverhältnisse thematisieren. Mit dem Konzept der Bio-Macht lässt sich Beers Begriff der Bevölkerungsweise weiter historisieren, da dieses »über die Ebene des Ökonomisch-Funktionellen hinaus(geht) und […] die subjektiven Motive erfassen (kann), die die einzelnen an die neue Macht ketten« (Ott 1997: 112). Damit lässt sich einer problematischen Dichotomisierung von Individuum und Gesellschaft entkommen, bei der aufseiten des Individuums die geschlechtliche Identität gegeben ist. Gegen Beers Annahmen, dass es in allen bisherigen Gesellschaften neben der Produktion von Lebensmitteln auch die Produktion des Lebens selbst, die Erzeugung von neuen Menschen gegeben habe, dass dies in jeweils spezifischen sozialen Formen organisiert sei und dass die soziale Konstruktion von Geschlechtern eng mit Letzterem verknüpft sei, ist prinzipiell nichts einzuwenden. Da Beer jedoch den Begriff des (geschlechtlichen) ›Realsubjekts‹ einführt, ohne dessen Genealogie systematisch in die Analyse einzubeziehen, muss sie letztendlich eine grundsätzlich gegebene Existenz von Männern und Frauen, begründet in der körperlichen, auf Fortpflanzung bezogenen Zweigeschlechtlichkeit, voraussetzen. Damit führt sie eine Substanzlogik ein, bei der etwas gesellschaftstheoretisch Voraussetzungsvolles, nämlich die Zweiteilung der Menschheit in Männer und Frauen, als Ausgangspunkt für Gesellschaftstheorie gesetzt wird. Diese unhinterfragte Bezugnahme auf ein ›Realsubjekt‹ führt zudem dazu, dass gesellschaftliche Akteure bei Beer vor allem als ›Männer‹ und ›Frauen‹ erscheinen und soziale Kämpfe als Bestrebungen männlicher Dominanzerhaltung im Rahmen neuer Produktionsverhältnisse thematisiert werden; beides bleibt dabei unterbestimmt und Unterschiede unter Frauen sowie differenzierte Interessenlagen im Zusammenspiel verschiedener Differenzen können nicht analytisch gleichrangig erfasst werden. Beers Annahme, dass die Lohnarbeitskraft nur als geschlechtliches Wesen denkbar sei, ist auch insofern problematisch, als sich empirisch zeigt, dass »das als Ware ›Arbeitskraft‹ interessierende entfesselt kämpfende Individuum […] ›ungeschlechtlich‹ (ist) und […] längst – wie insbesondere die USA zeigen – ein vom ›Sozialballast‹ befreites weibliches Individuum sein (darf)« (Nickel 2002: 5). Hier ist es analytisch sinnvoller, davon auszugehen, dass die strukturellen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise nicht notwendig mit einer
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Vergeschlechtlichung verknüpft sind.9 Über die gesellschaftliche Formbestimmtheit lassen sich dann nämlich auch Zusammenhänge erfassen, die durch eine Analyse, die ihren Blick ›nur‹ auf die jeweilige Stellung von Männern und Frauen in der Gesellschaft richtet, unzureichend beschrieben oder gar dethematisiert werden. So verdeckt beispielsweise der Blick auf ›männliche‹ Herrschaft (oder Patriarchat) die enorme Flexibilität von Machtverhältnissen und Hierarchisierungen in kapitalistischen Gesellschaften. Diese Flexibilität sowie die mit ihr verbundenen komplexen, sich gegenseitig verstärkenden, aber möglicherweise auch gegenläufigen Subjektivierungseffekte lassen sich vermittels der hier vorgeschlagenen analytischen Differenzierung struktureller Dimensionen des Sozialen besser erfassen. Infolgedessen sind auch die gesellschaftlichen Bedingungen und Hindernisse einer Anerkennung der konstitutiven Angewiesenheit – sowohl im Hinblick auf die symbolischen Normen als auch auf die praktische Selbst- und Fürsorge – genauer zu benennen.
7.4 Individuelle Selbstbestimmung und kollektive Fürsorge An dieser Stelle greife ich Fragen, die ich im 5. Kapitel formuliert habe, wieder auf und erweitere sie um die Aspekte, die mit der Marx’schen Kapitalismusanalyse nun genauer fassbar werden: Unter welchen Bedingungen sind Formen der Selbstbestimmung möglich, die nicht auf der Autonomie von Privatmenschen beruhen, sondern auf kollektiver Verantwortung? Wie lässt sich der Imperativ der ›Optimierung des Lebens‹ so subversiv reformulieren, dass individuelle Leistungsfähigkeit und autonome Selbstsorge nicht durch den kapitalistischen Imperativ der Verwertung bestimmt sind, sondern vielmehr eine auf individueller Singularität beruhende Solidarität der gegenseitigen Fürsorge im Mittelpunkt steht? Die Analysen von Marx machen deutlich, dass die Strukturen der Produktionsweise verändert und gestaltet werden müssen, um bestimmte Hindernisse für Kollektivität und Solidarität zu überwinden und damit gesellschaftliche Bedingungen für eine auf dem Eingeständnis der konstitutiven Angewiesenheit basierende Anerkennung von Indi9
Damit meine ich strukturelle Bedingungen im Sinne der hier diskutierten abstrakten Bestimmung gesellschaftlicher Formen; auf der Ebene konkreter historischer Institutionen und Praxen, die (auf einer anderen Abstraktionsebene) ebenfalls eine Dimension gesellschaftlicher Strukturen darstellen, ist tatsächlich von deren konstitutiver Verknüpftheit mit Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit auszugehen. 265
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vidualität zu schaffen. Gesellschaftskritische Debatten, die sich auf Marx beziehen, zeichnen sich allerdings häufig durch eine »produktionszentrierte Voreingenommenheit« aus; sie beschäftigen sich »mit der Umwandlung der Produktionsbeziehungen am Arbeitsplatz, (finden) jedoch keinen neuen Gedanken für die Beziehungen zwischen Produktion und Konsumtion, zwischen Arbeitsplatz und Haushalt, ebensowenig dafür, wie die Konsumtion und die Reproduktion der Arbeitskraft reorganisiert werden müssen« (Elson 1990: 62).
Eine derartige Beschränkung auf den Bereich der Produktion überträgt die analytische Perspektive von Marx bruchlos in die gesellschaftliche Realität und weist ihr damit eine ontologische Aussagekraft zu, die sie gar nicht beanspruchen kann. Indem das Subjekt dabei auf seinen Aspekt als Verkäufer der Ware Arbeitskraft verkürzt wird, wird die darin implizierte strukturelle Verleugnung der konstitutiven Abhängigkeit des Subjekts in der Analyse reproduziert. Demgegenüber hat, wie ich bereits dargestellt habe, die feministische Debatte sehr deutlich machen können, dass das bürgerliche Subjekt als Privatperson und Privateigentümer in seiner vermeintlichen Autonomie historisch ›funktionieren‹ konnte, indem es als ›Mann‹ auftrat, der alle Abhängigkeiten der Zwischenmenschlichkeit verleugnen konnte; diese wurden in der ›Frau‹ verkörpert und damit in gewisser Weise aus der menschlichen Normalität ausgelagert. Die vergeschlechtlichte Differenzierung von Lohnarbeit und unbezahlter individueller Reproduktionsarbeit kann nun als Dispositiv einer konkreten historischen Formation gefasst werden, das aus dem (kontingenten) Zusammenwirken unterschiedlicher Strukturzusammenhänge hervorgegangen ist. Zentrale Bedingungen der Möglichkeit dieser vergeschlechtlichten Organisation gesellschaftlicher Arbeit werden durch die strukturelle Blindheit des Kapitals gegenüber seinen eigenen Existenzbedingungen konstituiert. Dieser Widerspruch wird in der Gesellschaftsformation durch die symbolische Ordnung der Heteronormativität und der Komplementarität der zwei Geschlechter konfiguriert und stillgestellt. Das Dispositiv der Generativität (vgl. Kapitel 5) antwortet also ebenfalls auf diese spezifische historische Notlage und steht insofern in einem funktionalen Verhältnis zur kapitalistischen Produktionsweise – aber eben nicht als deren notwendige Implikation: »So wird es mittels der an der ›natürlichen‹ Weltordnung abgelesenen Definition der ›Geschlechtscharaktere‹ möglich, die Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben als gleichsam natürlich zu deklarieren und damit deren Gegen-
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sätzlichkeit nicht nur für notwendig, sondern für ideal zu erachten und zu harmonisieren.« (Hausen 1976: 378)
Diese symbolische und institutionelle Anordnung lässt sich weder aus den abstrakten Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise ableiten noch aus einer natürlichen Geschlechtlichkeit der Individuen. Die kapitalistische Produktionsweise, in ihrer abstrakten Bestimmung als Strukturzusammenhang, bietet keine Erklärung dafür, dass es eine nach ›Geschlechtern‹ getrennte und hierarchisierte Arbeitsteilung gibt. Dass Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität fundamental und konstitutiv für die Institutionen der bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsformationen sind, muss, so machen Butler und Foucault deutlich, als Effekt anderer historischer Strukturen analysiert werden. Die vergeschlechtlichte Trennung von öffentlich und privat, von Erwerbsarbeit und Hausarbeit und die damit verbundene geschlechtliche Arbeitsteilung können also als eine konkrete gesellschaftliche Lösung einer strukturellen Notlage gesehen werden. Da in diese Lösung jedoch unterschiedliche abstrakte Strukturzusammenhänge eingehen, die eine je eigene Dynamik haben, können diese sich auch unabhängig voneinander und gegeneinander verschieben. Denkbar ist also, dass die Geschlechterdifferenz an normativer Eindeutigkeit verliert oder es gar zu einem Verschwinden der Vergeschlechtlichung kommt. Dies allein würde die kapitalismusspezifischen Dynamiken und Hierarchien nicht beseitigen; vielmehr ist davon auszugehen, dass diese durch andere symbolischkulturelle Überformungen konfiguriert werden würden. Auch würde eine normative Aufwertung fürsorgender Tätigkeiten oder gar ihre weitgehende Integration in die über den Markt vermittelte Erwerbstätigkeit die prinzipielle Hierarchie zwischen diesem kostenintensiven Bereich gesellschaftlicher Arbeit und anderen, besser rationalisierbaren und daher in der Verwertungslogik rentableren Bereiche innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise nicht überwinden können. Umgekehrt kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass mit einer Veränderung der Produktionsweise zugleich auch bioethische Rationalität und (heteronormative) Identitätszwänge verschwunden wären. Eine kritische Gesellschaftsanalyse, die die aktuellen Möglichkeiten einer gestaltenden Veränderung der Welt eruiert, steht daher vor der komplexen Aufgabe, diese verschiedenen Dimensionen in ihrem je konkreten Verhältnis sowie in ihren Verschiebungen zu erfassen. In kapitalistischen Gesellschaften konstituiert sich die Autonomie des Subjekts immer auch über die strukturelle Verleugnung der an die Privatheit delegierten Abhängigkeiten. In der Spätmoderne lassen sich die damit verbundenen naturalisierenden Zuschreibungen ›männlicher‹ 267
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und ›weiblicher‹ Eigenschaften immer weniger in klare Identitätszuschreibungen von ›Männern‹ und ›Frauen‹ übersetzen. Es finden hier Verschiebungen statt, die es beispielsweise zunehmend als normal erscheinen lassen, dass das autonome Subjekt eine ›Frau‹ ist, sofern diese als Verkäuferin ihrer Arbeitskraft autonom aufzutreten und die Verwiesenheit auf ihre Endlichkeit als individuelles Risiko zu ›verarbeiten‹ vermag. Die über den Besitz an Geld vermittelte Macht ermöglicht dem Subjekt persönliche Freiheit und gibt ihm die im Prinzip nur quantitativ begrenzte Möglichkeit, in freiwilligen Transaktionen seine Bedürfnisse zu befriedigen und die Risiken seiner Endlichkeit zu regulieren. Die Arbeit und Fürsorge, die aus seiner Endlichkeit herrühren, sind dieser Freiheitssphäre zugeordnet – sowohl die alltägliche Sorge um sich (und andere) als auch unerwartet auftretende Ereignisse wie beispielsweise Krankheiten, Unfälle und dergleichen. In der (neoliberalen) Spätmoderne zeichnet sich eine neue Form der Unsichtbarkeit dieser konstitutiven Abhängigkeit ab. Diese Unsichtbarkeit wird offenbar immer weniger eindeutig über eine naturalisierte Vergeschlechtlichung der Subjekte hergestellt, vielmehr verschwindet die konstitutive Abhängigkeit in den Nischen des Alltags und nimmt dort die Form von Risiken an, die von allen Subjekten eigenverantwortlich zu bewältigen seien (vgl. Schultz 2002).10 Die individuelle Verfügung über Geld wird in dieser Entwicklung wieder zunehmend unmittelbar wichtig. Die strukturellen Beschränkungen der ›Charaktermaske‹ und die von Kollektivität systematisch getrennte Form des Privatindividuums erfahren in dieser historischen Konstellation eine spezifische Verschärfung. Dass die Autonomie der einen nur auf Kosten der sorgenden Tätigkeiten anderer gewährleistet werden kann, wird durch die immer weiter fortschreitende Vermittlung über die vermeintlich neutrale Instanz des Geldes zunehmend verdeckt. Diese Zuspitzung wird aber hinter der Vielfältigkeit der Individualitäten unsichtbar, wenn sie nicht in ihrer kapitalismusspezifischen Dimension erfasst wird. Wird diese Dimension nicht analytisch rekonstruiert, sondern lediglich in der Form kritisch-diffuser Hinweise auf ›den Markt‹ thematisiert, dann können diese Strukturen, die letztlich alle Bestrebungen, nicht so, nicht um diesen Preis regiert zu werden, systematisch unterlaufen, nicht zum Gegenstand gestaltender Praktiken werden. Zu klären, wie der Strukturzusammenhang, dessen Ausdruck der Markt ist, praktisch in kritisch-emanzipatorische Bestrebungen einbezogen werden kann, ist eine wichtige Aufgabe theoretischer Reflexion. 10 Hintergrund sind (in verschiedenen Industrieländern in unterschiedlichem Ausmaß stattfindende) Prozesse der De- und Reregulierung des Sozialstaats. Zu dieser Problematik sowie zum Begriff des ›Neoliberalismus‹ aus feministischer Perspektive vgl. beispielsweise Pühl 2003. 268
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Das Verlangen, nicht so regiert zu werden, und der ethische Anspruch, das Leben als Kunstwerk zu gestalten, schließen in der abendländischen Gegenwart – sofern sie als eine ethische Haltung der Anerkennung der konstitutiven Angewiesenheit begriffen werden – die Kritik und praktische Gestaltung vermeintlich sachlicher Produktionsverhältnisse ein.
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8. F I N AL E : A N D E N G R E N Z E N D AS M Ö G L I C H E E R F I N D E N
DES
WIRKLICHEN
Ausgangspunkt dieser Arbeit bildete ein Komplex miteinander verwobener Fragen: Wie lässt sich ein handlungsfähiges Subjekt denken, das keinen substanziellen Kern jenseits seiner historischen Existenzbedingungen hat? Wie kann eine Kritikfähigkeit gedacht werden, die nicht auf normativ-inhaltliche Maßstäbe zur Beurteilung des Bestehenden und zur Projektion des Erstrebenswerten angewiesen ist? Wie lässt sich eine ethische Haltung formulieren, die auf konkrete moralische Setzungen verzichtet? Weiterführende Antworten auf diese Fragen habe ich in den Arbeiten von Judith Butler, Michel Foucault und Karl Marx gefunden. Alle drei entwickeln in ihrer jeweiligen Perspektive auf die gesellschaftliche Konstitution von Subjektivität und Handlungsfähigkeit analytische Werkzeuge, mit denen die humanistische Konzeption eines einheitlichen, autonomen Subjekts überwunden werden kann, ohne damit zugleich jede Hoffnung auf widerständiges Handeln und emanzipatorische Projekte aufgeben zu müssen. Meine Annahme war, dass es im Hinblick auf diese Fragen gewinnbringend ist, die drei analytischen Perspektiven und ihre Erkenntniswerkzeuge systematisch ins Verhältnis zu setzen und auf diese Weise in eine Art Dialog miteinander zu bringen. Dafür schien es sinnvoll, sie unter dem Aspekt ihrer ihren jeweiligen Geltungsansprüche zu rekonstruieren und auf diesem Wege sichtbar zu machen, inwiefern sie an ihren Grenzen aufeinander verweisen.
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8.1 Perspektiven der Erkenntnis Butler entwirft eine Perspektive, die die ›klassischen‹ Dualismen (Mikro-/Makroebene; Struktur/Handeln; Innen/Außen) überwindet. Die Subjekte erhalten ihre spezifische Form und Handlungsfähigkeit durch die Strukturen der symbolischen Ordnung, jedoch immer um den Preis eines nicht assimilierbaren Rests, der sich als psychische Dynamik der melancholischen Einverleibung geltend macht. Mit dem Konzept der Performativität kann Butler ihrer strukturalistischen Herangehensweise eine praxeologische Wendung geben. So sind die Strukturen der symbolischen Ordnung nicht hermetisch, sondern vielmehr auf die praktische, kontextualisierte Aufführung durch Subjekte angewiesen und unterliegen dabei aufgrund der Kontextgebundenheit von Bedeutungen immer Verschiebungen und Veränderungen. Mit Butler lässt sich das subjektive Motiv für widerständiges Handeln im Zorn über die Begrenzungen des eigenen Seins begründen; die von den symbolischen Kategorien der Intelligibilität ermöglichten Formen können als einschränkend erlebt werden und das Verlangen nach anderen, erweiterten Formen wecken. Diese prinzipielle Möglichkeit von Selbstreflexivität ist jedoch an bestimmte historische Bedingungen geknüpft, die sich mit Foucault als Dispositive moderner Macht-Wissen-Komplexe präzisieren lassen. Das Subjekt kann in diesen Verhältnissen den Anspruch erheben, nicht dermaßen regiert zu werden, und damit in spezifischer Weise eine Haltung der kritischen Distanz zu den gesellschaftlichen Verhältnissen einnehmen. Indem Foucault rekonstruiert, wie mit der Durchsetzung der Bio-Macht die Qualität des Lebens zu einem Feld gesellschaftlicher Gestaltung wird, kann er begründen, dass diese kritische Distanz in der kollektiven Gestaltung des Lebens als Kunstwerk wirksam werden kann. Marx wiederum analysiert gesellschaftliche Verhältnisse, die in spezifischer Weise als sachliche Bedingungen des Lebens erscheinen. Sofern diese Verhältnisse nicht zum Gegenstand der Gestaltung werden, begrenzen sie in ihren sachlichen Formen immer wieder die Möglichkeiten der emanzipatorischen Arbeit an der Qualität des Lebens. Auch diese versachlichten Strukturen erzeugen aber bestimmte Subjektivierungseffekte, die die Möglichkeit einer kritischen Distanz zu ihnen eröffnen. Durch das Konzept des Doppelcharakters der kapitalismusspezifischen Formen begründet Marx, dass die Subjekte im Produktionsprozess Potenziale, Fähigkeiten und Ansprüche entwickeln können, die in ihrem Realisierungsbestreben über die gegebenen Formen hinausweisen. Diese aus verschiedenen analytischen Richtungen aufgeworfenen Hinweise auf die Möglichkeit einer kritischen Distanz des Subjekts zu seinen Existenzbedingungen führen wiederum zur Frage nach dem Ver272
FINALE
hältnis von Individuum und Gesellschaft. Wenn ich voraussetze, dass es keinen subjektiven Kern außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse gibt, dann muss ich zugleich darlegen können, inwiefern das Individuum dennoch nicht mit diesen Verhältnissen in eins zu setzen ist – sonst wäre die Frage nach den Möglichkeiten einer kritischen Distanz hinfällig. Auch auf diese Frage habe ich bei Butler, Foucault und Marx hilfreiche Antworten gefunden. Bei Butler findet sich eine analytische Unterscheidung zwischen Subjekt und Individuum, mit der sie die Möglichkeit einer kritischen Distanz begründet. Während diese Unterscheidung zunächst genau die ›klassischen‹ Begründungen von Handlungsfähigkeit durch die Differenz von Individuum und Gesellschaft zu reproduzieren scheint, besteht ihr spezieller Erkenntnisgewinn darin, dass sie bei Butler nicht auf ontologische Entitäten verweist, sondern vielmehr einen spezifischen ontologischen Effekt benennt. Die Differenzierung von Subjekt und Individuum verweist darauf, dass die gesellschaftliche Form des Subjekts nie alle Lebensmöglichkeiten des Individuums erfassen kann und daher in der Benennung bestimmter Möglichkeiten immer einen nicht benennbaren Überschuss produziert. Durch die Form des Subjekts wird das Individuum also in bestimmter Weise intelligibel, wobei immer Ausschlüsse entstehen. Foucault kann wiederum in seinen Analysen der abendländischen Moderne nachvollziehen, dass in dieser historischen Konstellation ein besonderes Verhältnis von Innerlichkeit und Äußerlichkeit entsteht. Das moderne abendländische Subjekt sucht die Begründungen für sein Sosein und für sein Handeln in seinem inneren Wesen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse treten ihm als äußere Realisierungsbedingungen und -schranken gegenüber. Indem das Subjekt seine Wahrheit in seiner Innerlichkeit sucht, kann es sich zugleich in besonderer Weise zum Erkenntniswesen machen: Es ist sowohl Subjekt als auch Objekt der Erkenntnis. Seine innere Wahrheit wird durch Wissenskategorien intelligibel, die ihm äußerlich sind, aber es kann diese Wissenskategorien als nicht zutreffend empfinden und hinterfragen. Ein Subjekt, das seine Individualität als Ausdruck seines inneren Wesens erlebt, kann also die gegebenen Normen als äußere Beschränkung erleben und den Anspruch erheben, diese zu verschieben. Eine Wissensordnung, in der die Normen der symbolischen Ordnung nicht in einer kosmischen oder göttlichen Ordnung legitimiert sind, sondern im ›demokratisierten‹ Spiel der Wissenschaften begründet werden müssen, stellt diese Normen in besonderer Weise zur Disposition und ermöglicht ihre gezielte performative ›Verfehlung‹ und Verschiebung. Auch Marx stellt ein historisch besonderes Verhältnis von Individuum und Gesellschaft fest. In Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise sind die Subjekte frei von persönlichen Abhängigkeiten, sie stehen aber 273
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sachlichen Verhältnissen gegenüber, denen sie sich zu beugen haben. Das Verhältnis zum Anderen ist durch sachliche Konkurrenzverhältnisse in spezifischer Weise konfiguriert und diese Konfiguration stellt eine strukturelle Grenze kollektiver Bezüge dar. Diesen Zusammenhang erfasst Marx mit der Unterscheidung von persönlichem Individuum und Klassenindividuum. Als persönliches Individuum nimmt sich das Subjekt als autonom wahr, seine konstitutive Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Verhältnissen und damit auch von Anderen – seine Existenz als Klassenindividuum – erfährt es als äußerliche, zufällige Schranke seines Seins. In diesem besonderen Verhältnis von individueller Selbstbestimmung und als äußerlich erfahrenen Grenzen besteht das Moment der kritischen Distanz darin, dass sich das Subjekt reflexiv auf seine Form des Klassenindividuums beziehen und diese etwa als Beschränkung seiner individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, aber auch seiner Bedürfnisse nach Kooperation erfahren kann. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass sich mit den Perspektiven von Butler, Foucault und Marx verschiedene Momente einer historisch besonderen Kritikfähigkeit rekonstruieren lassen. Das moderne abendländische Subjekt kann sein Recht auf Autonomie, auf Selbstbestimmung und seine Vorstellungen eines guten Lebens gegenüber den äußerlichen, beschränkenden gesellschaftlichen Begrenzungen einklagen. Damit scheinen wir aber zunächst doch wieder an dem Punkt angekommen zu sein, von dem ich mich eigentlich kritisch absetzen wollte: der Voraussetzung eines autonomen Subjekts. Da diese Form der Subjektivität aber mit Butler, Foucault und Marx als historisch besondere ausgewiesen wird, lässt sich zum einen begründen, dass sie keine universale Bestimmung von Subjektivität darstellt. Zum anderen kann die besondere historische Problematik dieser Subjektivität herausgearbeitet werden, die in der naiven Annahme besteht, die inneren Bedürfnisse dieser Subjekte seien als authentischer Ausdruck ihres Wesens zu verstehen und könnten daher als normativer Maßstab genommen werden. Es lässt sich erkennen, dass diese Subjektivität selbst in ihrer kritischen Distanz noch konstitutiv in die gesellschaftlichen Verhältnisse verwoben ist, gegen die sie sich richtet. Damit kann wiederum begründet werden, dass das autonome, authentische Subjekt nicht nur kein adäquater Hoffnungsträger, sondern vielmehr Teil des Problems ist. Wird dieses authentische Subjekt in seinen historischen Bedingungen rekonstruiert, dann zeigt sich, dass es das Individuum in die gesellschaftliche Form einer Identität einschließt und es dazu zwingt, sich als autonom zu präsentieren. Aus allen drei Perspektiven lässt sich erfassen, dass ein Subjekt, das sein Selbst in dieser Weise absolut setzen muss, dies nur durch mehr oder minder gewaltsame Ausschlüsse tun kann. Die Intelli274
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gibilität des Subjekts beruht auf der Benennung dessen, was denkbar und konkret möglich ist, und diese Benennung ist angesichts der unbenennbaren Vielfalt der Lebensmöglichkeiten immer mit einem Ausschluss verbunden; muss Intelligibilität als Identität abgesichert werden, so wird dieses Ausgeschlossene als unmöglich verworfen. Sind die Identitäten in einem Feld natürlicher Normalität angeordnet, entstehen Abstufungen und Hierarchisierungen nach Maßgabe des Normalitätsgrades; das konstitutive Außen dieser Normalität erscheint nicht nur als undenkbar, sondern zugleich als monströs. Da der Andere angesichts der strukturellen Konkurrenz um knappe Ressourcen unter den Bedingungen des kapitalistischen Verwertungszwangs als potenzielle Gefahr für das eigene Bestehen erscheint, können entlang der (normalisierten und hierarchisierten) Identitäten flexible Distinktionen und Schließungen erfolgen. Der eigene Subjektstatus (als autonomes und konkurrenzfähiges Subjekt) muss durch die eigene Stellung im Normalen und durch den Ausschluss oder die Abwertung Anderer im Hinblick auf diese Normalität abgesichert werden. Handlungsfähigkeit lässt sich in dieser historischen Konstellation somit immer auch als ein strukturell konstituiertes Privileg verstehen. Um die Autonomie des Selbst hervorzubringen, muss das Subjekt seine konstitutive Abhängigkeit vom Anderen verleugnen, der Andere erscheint sogar als potenzielle Gefahr für die eigene Autonomie. Damit ist das Subjekt sowohl einer beständigen Überforderung des Selbst ausgesetzt als auch zu einer potenziell gewaltsamen Härte dem Anderen gegenüber gezwungen. Diese Rekonstruktion der spezifischen Form moderner abendländischer Subjektivität kann also zugleich als deren historische Kritik verstanden werden. Mit ihren Analysen verbinden Butler, Foucault und Marx die Frage, wie die Verhältnisse anders sein könnten, wie sie weniger begrenzend, weniger gewaltsam, weniger destruktiv gestaltet werden könnten. Sie gehen diese Frage an, indem sie die Grenzen des Bestehenden ausloten und die darin angelegten kritischen Möglichkeiten eruieren. Eine andere Welt ist möglich – dies lässt sich mit den Analysen von Butler, Marx und Foucault begründen. Die Möglichkeiten des Anderswerdens sind aber durch die bestehenden Verhältnisse und die damit verbundene Form der Subjektivität konfiguriert. Aufgabe kritischer Gesellschaftsanalyse ist es, die Potenziale, aber auch die spezifischen Grenzen und Probleme dieser historischen Spielräume zu reflektieren. Auf die Fragen, wie das Neue in die Welt kommt, um das Mögliche wirklich werden zu lassen, und wer festlegt, welche Möglichkeiten dabei erstrebenswert sind, kann die Theorie aber keine endgültigen Antworten liefern. In keiner der hier diskutierten Perspektiven werden Patentrezepte für Widerstand formuliert oder gar ein Fahrplan der Emanzipation 275
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aufgestellt. Es lässt sich jedoch eine bestimmte ethische Haltung rekonstruieren, die als gemeinsame Grundlage gelten kann: Eine emanzipatorische Perspektive sucht nach den Möglichkeiten, die Welt so zu gestalten, dass die Selbstbestimmung der Subjekte auf der praktischen Anerkennung und bewussten Gestaltung ihrer konstitutiven Angewiesenheit auf Andere beruht.
8.2 Punkte der Häresie Hier will ich nun einen Begriff aufgreifen, den ich eingangs ins Spiel gebracht, aber nicht weiter ausgeführt habe. Ich hatte es als ein Anliegen meiner Rekonstruktion dieser drei Perspektiven bezeichnet, deren ›Punkte der Häresie‹ herauszuarbeiten. Diesen Begriff übernehme ich von Étienne Balibar, der ihn im Bezug auf Foucault und Marx benutzt, um sie damit als zwei Vertreter einer Politik der Transformation auszuweisen, die zwar in mehreren Punkten in Opposition zueinander stehen, aber im Hinblick auf die Frage der Transformation von Strukturen von Macht und Herrschaft zugleich notwendigerweise aufeinander verweisen (vgl. Balibar 2004). Das Interessante daran ist, dass die verschiedenen Perspektiven – und ich meine, dass Butlers Arbeiten in analoger Weise einbezogen werden können – in einer solchen Beschreibung weder als Alternative noch als einfache Ergänzung betrachtet werden. Vielmehr wird der Blick auf die analytische Eigenständigkeit der unterschiedlichen Perspektiven gerichtet und diese insofern ernst genommen, als die einzelnen Perspektiven jeweils bestimmte Momente der Komplexität moderner Gesellschaften erfassen, die nicht auf eine der anderen Perspektiven reduziert werden können. Butler fokussiert die symbolische Ordnung als historische Struktur und fragt, wie diese sich in Körpern und in psychischen Dynamiken materialisiert. Diese Materialisierungseffekte verweisen wiederum auf eine bestimmte Konfiguration von Subjektivität und Selbstverhältnissen, die Foucault mit seinen Analysen moderner Macht-Wissen-Komplexe erfasst. Aber die von Butler fokussierten Effekte gehen nicht in Foucaults Analysen auf, sondern stellen in gewisser Weise deren implizite Voraussetzung dar, da sie die Dynamiken erklären, aufgrund derer sich Subjekte widerständig gegenüber den sie konstituierenden Macht-Wissen-Komplexen verhalten können. Foucault stellt die Vielfältigkeit der Machtverhältnisse und deren konstitutive Instabilität in den Mittelpunkt. Er muss jedoch bestimmte, offenbar stabile Effizienzkriterien voraussetzen, die sich nur mit der Marx’schen Analyse des kapitalistischen Verwertungsgesetzes in ihrer historischen Gestalt erfassen lassen. Dieses Gesetz, das Marx als abstrakten Struktur276
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zusammenhang rekonstruiert, verwirklicht sich wiederum in der empirischen Realität durch die von Foucault erfasste Vielfältigkeit hindurch. Ein wichtiges Anliegen meiner Rekonstruktion dieser drei Perspektiven bestand darin, zu zeigen, wie sie jeweils an ihren Grenzen aufeinander verwiesen werden können beziehungsweise von sich aus aufeinander verweisen. Die Notwendigkeit der drei Perspektiven erschließt sich aus dem, was sie jeweils erkennbar machen. So erklärt Butler das Subjekt zum Schauplatz ständiger Umdeutungen und öffnet es damit für bislang noch nicht autorisierte Wieder-Verwendungen oder Wieder-Einsätze (Butler 1993a: 48). Sie macht die Materialisierungseffekte der symbolischen Ordnung in ihrer vermeintlich ontologischen Evidenz einem gesellschaftlichen Handeln zugänglich. Emanzipatorische Ziele werden dabei zu einer Frage, die nicht durch Rückgriff auf gegebene Bedürfnisse, auf natürliche Anlagen oder ein Wesen des Menschen beantwortet werden kann. Subjektivität wird infolgedessen nicht als Ursache oder Grund widerständigen Handelns betrachtet, vielmehr wird der Blick auf die Kosten und Beschränkungen spezifischer Subjektivitätsformen gerichtet und Emanzipation als Möglichkeit anderer Formen gedacht. Indem Butler die metaphysischen Gewissheiten von Biologie und Natur von innen aufbricht und als umkämpfte ontologische Setzungen sichtbar macht, gelingt es ihr, die Einheit von Geschlecht, Identität und Sexualität zu dekonstruieren und deren Naturalisierung zu kritisieren. Identitätskategorien wie beispielsweise Frau und Mann wird damit die metaphysische Grundlage genommen, die Kategorien als solche werden jedoch nicht verworfen oder geleugnet, sondern für die Auseinandersetzung um Bedeutungen geöffnet. Butler weist universalistische Gesten des Feminismus zurück; diesen setzt sie das Projekt einer »feministischen Neukonzeption« entgegen, in dessen Mittelpunkt die Suche nach einem »erweiterungsfähigen(n) und mitfühlende(n) Vokabular« steht, durch das »die partizipatorische Basis des demokratischen Lebens verbreitert werden kann« (Butler 1997a: 10). Aus dieser Perspektive zielt Feminismus weniger auf die Anerkennung spezifischer Identitäten oder Differenzen als vielmehr auf den Abbau von Exklusion und die Erweiterung der Möglichkeiten, an der Destabilisierung und Transformierung der Begriffe zu partizipieren (vgl. Meyer 2001): »Der Erfolg des Feminismus als politische Bewegung wird weniger am Konsens über seine Inhalte und Ziele messbar als vielmehr daran, ob dissidente Stimmen Eingang finden« (Purtschert 2003: 30). Dieser Fokus auf die Frage der Anerkennung ›dissidenter Stimmen‹ und die Dynamik, die damit in symbolische Grenzziehungen zwischen Möglichem und Unmöglichem kommt oder kommen kann, ist aber in gesellschaftstheoretischer Hinsicht unvollständig beziehungsweise be277
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grenzt, denn die konkreten Verhältnisse, die es bestimmten Subjekten ermöglichen, ihre widerständige Performativität in reale Veränderungen umzusetzen, sind damit noch nicht geklärt. Mit Foucault lässt sich nachvollziehen, dass ein emanzipatorisches Streben, das auf Basis einer demokratischen Gleichheit die Erweiterung der Lebensmöglichkeiten anstrebt, historisch voraussetzungsvoll ist. Es kann also argumentiert werden, dass dieses emanzipatorische Bestreben keine universelle Definition von widerständiger Handlungsfähigkeit darstellt, sondern eine historische Form. Moderne Machtverhältnisse konstituieren die Subjekte in einer bestimmten Weise; die Möglichkeiten, die Frage zu stellen: ›Was kann ich sein?‹ und die kritische Forderung zu erheben, ›nicht dermaßen regiert zu werden‹, lassen sich auf spezifische ethische Dispositionen zurückführen, die einer besonderen historischen Konstellation entspringen. Zentraler Fokus der kritischen Bestrebungen sind die Normen der Intelligibilität des Lebens und deren Erweiterung im Sinne von mehr Möglichkeiten an Individualität. Mit dieser Historisierung von Widerständigkeit geraten also die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Subjekte eine dissidente Stimme erheben können, verstärkt in den Mittelpunkt der Analyse und erscheinen als zentraler Gegenstand emanzipatorischer Gestaltung. Damit lässt sich wiederum erklären, inwiefern die Anfechtung der symbolischen Ordnung auf spezifische Schranken stößt. Unter den Bedingungen der modernen Bio-Macht ist das Denken von Möglichkeiten dadurch konfiguriert, dass gesellschaftliche Probleme auf Gattungsfragen zurückgeführt und damit letztlich naturalisiert werden. In seiner kritischen Distanz zu den Bedingungen seiner Existenz ist das Subjekt also immer wieder auf sich selbst, auf seine ›natürliche‹ Disposition zurückgeworfen. Die disziplinierenden und regulierenden Verfahren der Bio-Macht zielen auf die Optimierung des Lebens vermittels der Optimierung der Menschen, die individuell, in ihrem organisch-endlichen Dasein, als defizient, wenn auch verbesserungsfähig erscheinen. Die Gestaltung des Lebens tritt also als Gestaltbarkeit der (menschlichen) Lebewesen auf, die (gesellschaftlichen) Bedingungen rücken demgegenüber als weitgehend unveränderbarer Kontext der Optimierung des Lebens in den Hintergrund. Foucault rekonstruiert spezifische Machtverhältnisse, in denen Ungleichheiten und Hierarchien als Ausdruck natürlicher Dispositionen erscheinen. Die disziplinierenden und regulierenden Verfahren der Bio-Macht optimieren das Leben, indem sie den Individuen dazu verhelfen, den ihrer je individuellen ›Veranlagung‹ entsprechenden optimalen Platz zu finden und die mit der Endlichkeit ihrer organischen Existenz verbundenen Risiken zu vermeiden oder zu mindern. Durch diese Verknüpfung von disziplinierender Effizienz und regulierter Endlichkeit kann Foucault erfassen, dass Wi278
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derständigkeit auch als kollektive Praxis der Bedeutungsverschiebungen und -erweiterungen nicht per se emanzipatorisch ist, vielmehr sind solche Praktiken als Spiele von Macht und Widerstand für das Funktionieren moderner Gesellschaften konstitutiv. Sofern diese Praktiken in einen bestimmten Referenzrahmen der Optimierung des Lebens eingebunden sind, in dem gesellschaftliche Probleme als Gattungsprobleme erscheinen, sind diese Bedeutungen immer disziplinierende Identitätszuschreibungen, die den Subjekten ihre Stellung im Feld der Normalität und im Gefüge der Problemlagen und Risiken zuweisen. An diese Analyse schließt sich aber unmittelbar die Frage an, wie denn eigentlich die Kriterien oder der Maßstab der Optimierung bestimmt sind. Foucault zufolge zeichnen sich die Strategien der Optimierung durch eine spezifische Gerichtetheit von Machtverhältnissen aus, die zwar auf die Naturalisierungen der Bio-Macht zurückverweist, nicht aber durch diese begründet werden kann. Zur Erklärung dieser impliziten Funktionalität der modernen Bio-Macht verweist Foucault auf die kapitalistische Produktionsweise. Hier kommt nun eine bestimmte Strukturiertheit des Sozialen ins Spiel, auf die Oyĕwùmí hinweist, wenn sie betont, dass die Kritik an der heteronormativen, naturalisierten Geschlechterdifferenz ihre historischen Bedingungen nicht nur in »the enduring debate on nature versus nurture that is inherent in Western thought« findet, sondern auch »in the logic of its social hierarchies« (Oyĕwùmí 1997: 13). Diese spezifische Logik lässt sich mit Marx in der besonderen Dynamik der Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise begründen; sie erscheinen als sachliche – ›naturwüchsige‹ – Bedingungen, die sich unabhängig von den Intentionen der handelnden Subjekte, gewissermaßen hinter deren Rücken, reproduzieren. Auf diese Weise kann erklärt werden, wieso die Dekonstruktion der symbolischen Ordnung nicht mit einer Veränderung der ›bestehenden Welt‹ gleichgesetzt werden kann. Oder vielmehr, wieso eine solche Gleichsetzung nur um den Preis der Affirmation der ontologischen Qualität der kapitalistischen Verhältnisse (als begrifflich nicht weiter erfassbarer ›Kontext‹ symbolischer Bedeutungen) zu haben ist. Beschränkt sich die Kritik auf diese Perspektive, dann verbleibt sie letztlich auf dem Feld der (nun dekonstruktivistisch geöffneten) Identitätspolitik, der es um das Einklagen eines nicht eingelösten Versprechens formaler Gleichheit geht. Damit wird aber unhinterfragt auf ein historisches Gleichheitsverständnis rekurriert, welches sich, wie wir mit Marx gesehen haben, dadurch auszeichnet, eine formale Gleichheit und einen damit verbundenen Anspruch auf individuelle Differenz den strukturellen Ungleichheiten äußerlich gegenüberzustellen. Unbegriffen bleibt dabei, dass diese strukturellen Bedingungen systematisch durch die formale Gleichheit 279
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hindurch individuelle Ungleichheiten reproduzieren. Werden diese Bedingungen nicht verändert, dann kann lediglich eine gleiche Teilhabe an Verhältnissen eingeklagt werden, die notwendigerweise immer eine ungleiche Verteilung der Teilhabechancen reproduzieren – wodurch sich Differenzen und Ungleichheiten lediglich gegeneinander verschieben können. Mit Marx lässt sich diese Erkenntnis noch insofern zuspitzen, als er begründen kann, dass die für die Moderne kennzeichnende produktive Proliferation von Differenzierungen direkt an die auf beständiges Wachstum bei gleichzeitiger Reproduktion von Knappheiten ausgerichtete Verwertungsdynamik der kapitalistischen Produktionsweise gebunden ist. Differenzen werden sowohl als Distinktionsmittel in Konkurrenzverhältnissen als auch in der Erschließung neuer Verwertungsmöglichkeiten wirksam. Hier zeigt sich nun die Bedeutung der subjekttheoretischen Implikationen der Marx’schen Analyse, denn mit ihr lässt sich die Perspektive der Widerständigkeit auf die Dimension nicht-normativer Strukturen erweitern. Das Subjekt ist in seiner Widerständigkeit, sofern diese auf seine Identität beschränkt bleibt, immer wieder auf seine kapitalismusspezifische Form als Privatmensch zurückgeworfen; die performative Arbeit an den Bedingungen der Intelligibilität hat im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise notwendigerweise einen individuell-privaten Charakter und lässt sich insofern immer wieder funktional an den Verwertungsimperativ binden. Auch wenn sich Gruppen von Privatmenschen zusammentun und in kollektiven Praktiken performative Verschiebungen anstreben, können sie über diese Verschiebungen oder Verunsicherungen von Normen bestimmte strukturelle Dynamiken und Hierarchien nicht außer Kraft setzen.
8.3 Kritische Ontologie der Gegenwart Kritische Ansätze im Feld der Gesellschaftstheorie stehen vor der Herausforderung, ihre Prämissen und Analyseebenen zu reflektieren und zu begründen, wie es bei aller Aufmerksamkeit für Differenzen und Partikularitäten, für die prinzipielle Instabilität und Unabgeschlossenheit menschlicher Subjektivitäten dennoch möglich ist, in Zusammenhängen zu denken. In den Arbeiten von Butler, Foucault und Marx lassen sich Analyseinstrumente finden, die gesellschaftliche Probleme in ihrer strukturellen Bedingtheit erfassen und zugleich deren inhärente – und je spezifische – Kontingenz offenlegen. Gesellschaftskritik stellt sich damit als eine kritische Ontologie der Gegenwart (Hark 2007) dar – als eine kritische Rekonstruktion der strukturellen Bedingungen und Dynamiken der Gegenwart, mit dem Ziel, Grenzen und Möglichkeitsräume 280
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für die Aushandlung von Emanzipationsvisionen und -zielen auszuloten. Inwiefern dies eine immanente Kritikstrategie ist, lässt sich nach dem Durchgang durch die drei Perspektiven präzisieren. Das Subjekt der Emanzipation ist kein menschliches Subjekt, das seine wesenhafte Menschlichkeit zum Ziel und Ausgangspunkt der Emanzipation machen könnte. Es kann daher keine externen Maßstäbe oder Begründungen für Kritik geben, vielmehr existieren nur historisch spezifisch geformte Subjekte, deren Ziele, Bedürfnisse und Handlungsfähigkeit sich aus den gesellschaftlichen Bedingungen ergeben, unter denen sie leben. Diese Subjekte, ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse stellen das Emanzipationspotenzial dar: Wirklich kann werden, was möglich ist. Das Motiv der Emanzipation als ›Erfindungsarbeit‹ findet sich in allen drei hier rekonstruierten Perspektiven. So schreiben Marx und Engels: »Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben (wird). Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.« (Marx/Engels 1969: 35) Emanzipation bezeichnet also keinen zu erreichenden Zustand, sondern vielmehr einen Prozess. Butler formuliert eine ethische Haltung, die die Suche nach dem Selbst in gewisser Weise auf Dauer stellt: Das Subjekt übernimmt Verantwortung für sich selbst, indem es sich die Grenzen des Selbstverständnisses eingesteht und »diese Grenze nicht nur zur Bedingung des Subjekts (macht), sondern als die Situation der menschlichen Gemeinschaft überhaupt (annimmt)« (Butler 2003a: 94). Die Anerkennung dieser konstitutiven Abhängigkeit markiert Butler insofern als einen wichtigen emanzipatorischen Schritt, als damit zum einen die eigene uneinholbare Undurchsichtigkeit nicht als existenzielle Gefahr durch das Beharren auf einer festen Identität gebändigt werden muss, zum anderen diese Anerkennung eine Basis für Solidarität eröffnet, die eben nicht auf Identitäten beruht, sondern vielmehr auf der geteilten und reziproken Abhängigkeit. Auch Foucault betont die Notwendigkeit eines Muts zur Offenheit und zur Ungewissheit einer Grenzarbeit am Bestehenden, denn »man verliert sich in seinem Leben, […] wenn man nach der Identität der Sache fragt. Dann ist die Sache ›verpfuscht‹, weil man sich auf Klassifikationen einlässt. Es geht darum, etwas hervorzuheben, das zwischen den Ideen geschieht und das man nicht benennen kann.« (Foucault 2007: 110) Im Sinne einer gesellschaftskritischen Perspektive besteht der Erkenntnisgewinn der Rekonstruktion abstrakter Bedingungen von Subjektivität und Handlungsfähigkeit darin, dass auf diesem Wege die konstitutive Verstricktheit der Subjekte in die Verhältnisse, zu denen sie 281
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sich verhalten, erfassbar wird. Zugleich erscheinen diese Verhältnisse als historisch entstanden, als dynamisch, brüchig und als grundsätzlich veränderbar. Hiervon ausgehend lassen sich wiederum Kriterien für die Beurteilung der Möglichkeiten von Kritik und Widerständigkeit im Hinblick auf eine emanzipatorische Veränderung dieser Verhältnisse formulieren. Während Butler die Anerkennung der Grenzen subjektiver Erkennbarkeit als wichtige Voraussetzung für einen emanzipatorischen Prozess hervorhebt, zeigen Foucault und Marx, dass bestimmte historische Grenzen überwunden werden müssen, die eine Anerkennung der konstitutiven Angewiesenheit strukturell verhindern. Reale Emanzipationsprojekte vollziehen sich aber in konkreten, örtlich und zeitlich situierten praktischen Kontexten, sie erzeugen Überschüsse und Effekte, die auf der Ebene abstrakter Strukturen nicht vorherzusehen sind. Eine Rekonstruktion dieser Strukturen ermöglicht es aber, zu erkennen, inwiefern die Bedingungen, unter denen praktisch-konkrete kollektive Verhandlungen über verschiedene Optionen möglich sind, selber Gegenstand praktischer kollektiver Gestaltung sein müssen. Diese Aufgabe ist aber wahrscheinlich noch komplexer, als es bis hierher erscheint, denn wir haben mit den Analysen von Butler, Foucault und Marx ein besonderes Subjekt betrachtet: das moderne abendländische Subjekt und seine spezifische Handlungsfähigkeit. Wie aber stellen sich die Verhandlungen von Subjektivität und emanzipatorischen Bestrebungen im größeren Kontext immer unmittelbarer werdender globaler Verflechtungen dar? Welche anderen Formen der Subjektivität zeigen sich in der Moderne, wenn der Blick auf die Gegenwart über die Beschränkungen des abendländischen Kontexts hinaus gerichtet wird? Welche Formen der Handlungsfähigkeit, welche kritischen Perspektiven und emanzipatorischen Projekte sind möglicherweise mit diesen anderen Formen von Subjektivität verbunden? Noch ist die hier rekonstruierte abendländische Subjektivität in den westlichen Industrieländern wohl hegemonial, aber es ist zugleich wichtig, dass sie gerade nicht als statische, hermetische Konstruktion zu verstehen ist. Welche Effekte haben beispielsweise Prozesse der Migration? Verschieben sich die Hegemonien, bilden sich neue Formen von Subjektivität und Handlungsfähigkeit? Lässt sich Butlers Konzept der Kollektivität qua Anerkennung der konstitutiven Verwiesenheit auch auf die Herstellung von Gemeinsamkeiten über die Grenzen bestimmter gesellschaftlich-historischer Subjektivitätsformen hinaus denken? Zunehmend verschaffen sich dissidente Stimmen Gehör, die die abendländische Deutungsmacht im Hinblick auf Widerständigkeit und Emanzipationsvisionen hinterfragen. Dabei wird auch deutlich, dass ›andere‹ Formen nicht mit dem konstitutiven Außen der abendländischen Moderne gleichgesetzt werden dürfen. 282
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Dieses Außen verweist nicht auf ein konkretes Anderes (etwa eine ›morgenländische‹ Kultur mit einer ›morgenländischen‹ Subjektivität), sondern vielmehr auf das Ungedachte dieser Moderne, das in ihr Undenkbare, und ist somit ein immanentes ›Produkt‹ dieser historischen Form. ›Andere‹, zeitgenössisch reale Formen von Subjektivität sind nur in einer eigenen archäologisch-genealogischen Rekonstruktion zu bestimmen – nicht vom abendländischen Subjekt (als dessen Negativfolie) ›ableitbar‹. Möglicherweise stellt der abstrakte Zusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise infolge seiner weltweiten Durchsetzung als hegemoniale Form eine strukturelle Gemeinsamkeit dar, die sich über die eventuelle Verschiedenheit der Formen von Subjektkonstitution und Selbstverhältnissen hinwegsetzt. Marx und Engels betonen die historische Möglichkeit, die vermeintlich sachlichen Verhältnisse der Produktionsweise als Gegenstand kollektiver Bearbeitung in den Blick zu bekommen: »Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft.« (Marx/Engels 1969: 70)
Allerdings kann dies, wie die Perspektiven von Butler und Foucault deutlich machen, nur eine sehr abstrakte Basis der Gemeinsamkeit kollektiver Gestaltung darstellen. Die Gegenwart ist ohne den Bezug auf die Totalität der kapitalistischen Produktionsweise nicht zu erklären, zugleich ist sie nicht von dieser Totalität aus zu erfassen. Welche Macht die vereinigten Individuen auf ihre Produktions- und Verkehrsverhältnisse ausüben wollen können, ist nur durch eine kritische Ontologie ihrer spezifischen Subjektivität und Handlungsfähigkeit aufzuklären. Wie sie diese Macht dann in der Gestaltung eines guten Lebens praktisch umsetzen wollen, ist wiederum eine andere Frage – die sich nicht auf der Ebene theoretischer Reflexion klären lässt. Die eigentliche Herausforderung, mit der ›unsere‹ Gegenwart die gesellschaftstheoretische Reflexion konfrontiert, besteht darin, die Bedingungen und Beschränkungen kollektiver Verhandlungen über das emanzipatorisch Wünschenswerte durch Differenzen und Deutungshoheiten hindurch zu eruieren.
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N AC H T R AG
Dieses Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner 2008 an der Philosophischen Fakultät III der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten Dissertation. Viele waren in dem langen Erarbeitungsprozess für mich wichtig, von denen ich hier nur einige nennen kann. Mein Dank gilt zunächst meinen beiden Gutachterinnen Hildegard Maria Nickel und Sabine Hark, die mir immer das Gefühl vermittelt haben, an einem lohnenswerten Projekt zu arbeiten und zugleich durch kritische Nachfragen und konstruktive Hinweise an entscheidenden Punkten dazu beigetragen haben, dass ich es auch tatsächlich abschließen konnte. Heiner Ganßmann danke ich dafür, dass er mir als Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl den Freiraum gelassen hat, diesem Thema so intensiv nachzugehen; Claudia Gather dafür, dass sie mich immer wieder, ganz besonders in meinen Anfängen im wissenschaftlichen Feld, in vieler Hinsicht unterstützt hat. Ausgesprochen wichtig waren für mich die Colloquien meiner Gutachterinnen, in denen in inhaltlich kompetenter, inspirierender und wertschätzender Weise diskutiert wurde. Dort erhielt ich nicht nur viele wertvolle Hinweise, sondern kam zudem in den Genuss, wissenschaftliches Arbeiten jenseits der Einsamkeit am Schreibtisch als fruchtbaren kollektiven Prozess zu erfahren. Für die Diskussion einzelner Abschnitte sowie von Detailfragen bedanke ich mich bei Christine Bischof, Judith Coffey, Miriam Anne Geoffroy, Inka Greusing, Daniela Hrzán, Marloes Janson, Ina Kerner, Christoph Kimmerle, Tanja Kinzel, Mohammad J. Kuna, Aline Oloff, Stanislawa Paulus, Susanne Schultz, Ulrike Schultz, Susanne Völker
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und Juliette Wedl. Norbert Axel Richter danke ich für sein Lektorat, durch das der Text stilistisch und formal sehr gewonnen hat. Und schließlich danke ich Karla Kimmerle, dass sie mir geholfen hat, dieses Projekt immer wieder auf seinen Platz zu verweisen.
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L I T E R AT U R
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Gender Studies Dorett Funcke, Petra Thorn (Hg.) Die gleichgeschlechtliche Familie mit Kindern Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform September 2010, ca. 486 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1073-4
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Elli Scambor, Fränk Zimmer (Hg.) Die intersektionelle Stadt Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit Dezember 2010, ca. 170 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1415-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Gender Studies Marie-Luise Angerer, Christiane König (Hg.) Gender goes Life Die Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender Studies 2008, 264 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-832-2
Cordula Bachmann Kleidung und Geschlecht Ethnographische Erkundungen einer Alltagspraxis 2008, 156 Seiten, kart., zahlr. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-89942-920-6
Ingrid Biermann Von Differenz zu Gleichheit Frauenbewegung und Inklusionspolitiken im 19. und 20. Jahrhundert 2009, 208 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1224-0
Cordula Dittmer Gender Trouble in der Bundeswehr Eine Studie zu Identitätskonstruktionen und Geschlechterordnungen unter besonderer Berücksichtigung von Auslandseinsätzen 2009, 286 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1298-1
Sabine Flick, Annabelle Hornung (Hg.) Emotionen in Geschlechterverhältnissen Affektregulierung und Gefühlsinszenierung im historischen Wandel 2009, 184 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1210-3
Doris Leibetseder Queere Tracks Subversive Strategien in der Rock- und Popmusik Januar 2010, 340 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1193-9
Uta Schirmer Geschlecht anders gestalten Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten Juli 2010, 438 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1345-2
Barbara Schütze Neo-Essentialismus in der Gender-Debatte Transsexualismus als Schattendiskurs pädagogischer Geschlechterforschung April 2010, 272 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1276-9
Ute Luise Fischer Anerkennung, Integration und Geschlecht Zur Sinnstiftung des modernen Subjekts
Christine Thon Frauenbewegung im Wandel der Generationen Eine Studie über Geschlechterkonstruktionen in biographischen Erzählungen
2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1207-3
2008, 492 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-89942-845-2
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