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German Pages XVI, 188 [198] Year 2020
PH I LOSOPH I E & KRITI K. N EUE BE ITRÄGE ZUR POLITISCH E N PH I LOSOPH I E UN D KRITISCH E N TH EORI E
Constanze Junker
Soziale Subjektivierung, Negativität und Freiheit Über Möglichkeiten radikaler Befreiung im Anschluss an Judith Butler
Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie Reihe herausgegeben von Julia Christ, Goethe Universität Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Hessen, Deutschland Daniel Loick, Institut für Philosophie, Goethe University Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Hessen, Deutschland Titus Stahl, University of Groningen, Groningen, Niederlande Frieder Vogelmann, FB 08/InIIS, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
Diese Reihe soll Beiträge versammeln, die sich von traditionellen Herangehensweisen in der praktischen und politischen Philosophie dadurch abheben, dass sie sich in dreifachem Sinne als politisch engagierte Philosophie begreifen: (1) Sie sind auf das Politische gerichtet, also auf die als selbstverständlich in Anspruch genommenen begrifflichen Grundlagen unseres politischen Denkens und Handelns. Sie reduzieren politische Philosophie damit weder auf ein Nachdenken über vorgegebene institutionelle Strukturen, noch führen sie sie auf Moralphilosophie zurück. Sie sind politisch engagierte Philosophie. (2) Sie verstehen politische Philosophie als eine Reflexionsinstanz sozialer Praktiken, die selbst Bestandteil dieser Praktiken ist. Philosophie ist demnach weder der Politik extern noch ihrer Zeit enthoben, sondern eine – durchaus historisch informierte und auf Emanzipation ausgerichtete– Selbstverständigung der Gegenwart über ihre Kämpfe. Sie sind politisch engagierte Philosophie. (3) Sie bleiben dabei politisch engagierte Philosophie: Sie verbinden Arbeit an den Begriffen mit der Auseinandersetzung mit den philosophischen Traditionen und der Transformation unserer politischen Fantasie. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15669
Constanze Junker
Soziale Subjektivierung, Negativität und Freiheit Über Möglichkeiten radikaler Befreiung im Anschluss an Judith Butler
Dr. Constanze Junker Frankfurt am Main, Hessen, Deutschland Dissertation Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 2019 u.d.T.: Constanze Junker: “Soziale Subjektkonstitution und Freiheit. Über Möglichkeiten der Befreiung in Auseinandersetzung mit Butler, Hegel und Sartre.”
ISSN 2524-3683 ISSN 2524-3691 (electronic) Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie ISBN 978-3-476-05733-4 ISBN 978-3-476-05734-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05734-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Frank Schindler J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Für Oma Tresi Für Luna Für Ylva
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Danksagung
Selbstverständlich hätte diese Arbeit niemals ohne viele Arten von Unterstützung zustande kommen können. Für die fachliche, persönliche und finanzielle Unterstützung, die diese Doktorarbeit ermöglicht hat, bin ich sehr dankbar. Ich danke Christoph Menke und Martin Saar für die bereichernden Gespräche, die unglaublich klugen Anregungen und das Ermöglichen eines inspirierenden Forschungskontexts, der mich auch über meine Arbeit hinaus sehr geprägt hat. Meinen Eltern Axel und Marianne Junker danke ich für ihren beispiellosen Rückhalt, den ich durch sie erfahren durfte. Sie haben nie einen Zweifel daran gelassen, dass ich mit der Arbeit auf einem guten Weg bin. Ihnen sowie Christina Engelmann, Johannes Röß, Paula Segler und Rosmarie Junker danke ich für ihre sorgfältigen Korrekturen. Der Studienstiftung des deutschen Volkes bin ich zu besonderem Dank verpflichtet. Ich habe durch sie nicht nur finanzielle Unterstützung erfahren, sondern durfte Teil eines ideenstiftenden, spannenden Doktorandinnenprogramms sein. Ohne Thomas Steinseifer, der mir während der sehr turbulenten Zeit der Promotionsphase liebevoll Stabilität gegeben hat, hätte ich niemals die nötige Beharrlichkeit aufbringen können, die zum Schreiben dieser Arbeit für mich erforderlich war – danke! Nicht zuletzt danke ich meinen beiden Kindern Luna und Ylva für ihre Widerstandskraft und ihr Durchhaltevermögen, die das Schreiben an dieser Arbeit zugelassen haben.
VII
Einleitung
Mit der Erschaffung des Menschen erschien das Prinzip des Anfangs […] in der Welt selbst und wird ihr immanent bleiben, solange es Menschen gibt; was natürlich letztlich nichts anderes sagen will, als daß die Erschaffung des Menschen als eines Jemands mit der Erschaffung der Freiheit zusammenfällt.1
Dass Menschsein auch bedeutet, frei zu sein, wie Hannah Arendt konstatiert, scheint eine bedeutende Grundannahme der Moderne zu sein. Aber: „Freedom has become monsters today“, diagnostizierte Wendy Brown in der eröffnenden Plenarveranstaltung „Was ist Emanzipation?“ der Tagung „Emanzipation“ in Berlin am 25. Mai 2018. Damit spielte sie auf die Tatsache an, dass der Begriff der Freiheit zum Kernbegriff des neoliberalen Kapitalismus geworden ist und als eines der wirksamsten Instrumente neoliberaler Ideologie einer tatsächlichen Emanzipation von dieser Gesellschaftsform geradezu entgegensteht. Freiheit scheint im neoliberalen Kapitalismus vielmehr zur subtilen Ausbeutung der Subjekte beizutragen, indem sie nicht nur Teil der Kontrolle von Produktionsprozessen ist, sondern jede Form von Beziehung der Subjekte untereinander und zu sich selbst strukturiert. Indem das Credo, man solle sich selbst verwirklichen und sei auf diese Weise umgekehrt für jeden Misserfolg auf dem Weg der Verwirklichung von individuell gesetzten (oder gesellschaftlich erwarteten) Zielen selbst verantwortlich, die ökonomische und soziale Existenz der Subjekte durch und durch bestimmt, erhält das ökonomische Prinzip der Effizienz und Leistungssteigerung Einzug in die Lebensführung der Einzelnen. Ähnlich wie Louis Althusser das Verhältnis von Subjektivierung und Ideologie beschreibt,2 erfüllen neoliberal subjektivierte Individuen so sozusagen freiwillig die Anforderungen neoliberal
1Arendt: Vita
activa, S. 216.
2Althusser
beschreibt die Hervorbringung eines ‚freien‘ Subjekts durch die Ideologie so, dass dieses zum freiwilligen Gehilfen ideologischer Unterdrückungsmechanismen wird: „Das Individuum wird als (freies) Subjekt angerufen, damit es sich freiwillig den Anordnungen des SUBJEKTS unterwirft, damit es also (freiwillig) seine Unterwerfung akzeptiert und folglich die Gesten und Taten seiner Unterwerfung ‚vollzieht‘“, in: ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 98. IX
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Einleitung
kapitalistischer Ökonomie, reproduzieren diese und weiten ihre Reichbarkeit auf die gesamte Lebensführung der Subjekte aus.3 Um den Begriff der Freiheit in seiner emanzipatorischen Bedeutung scheint es vor diesem Hintergrund nicht gut bestellt. Das Verständnis von Menschsein als Freisein steht infrage: Freiheit scheint unter neoliberalen Bedingungen eher zur Unterwerfung unter das Herrschaftsregime des Kapitalismus beizutragen. Zugleich wird aber auch der Ruf nach Möglichkeiten der Transformation und Befreiung von solchen gesellschaftlichen Formen des Zusammenlebens laut, die der selbstbestimmten Lebensführung von Subjekten und der Organisation des Zusammenlebens so massiv im Wege stehen. Diese Vorstellung beruft sich wiederum auf ein konstitutives Freisein im Menschsein. Freiheit wird so zu einem der elementaren Streitpunkte politischer Theorie und Praxis. Gerade in der linken Denktradition, die stets mit der Kritik an beherrschenden Verhältnissen beschäftigt ist, wird die Menschheitsgeschichte als Konsequenz der jeweiligen (kontingenten und veränderbaren) Praktiken, Normen und Ordnungen der Gesellschaften betrachtet, die jeweils von allen einzelnen Subjekten produziert und reproduziert werden. Aus dieser Betrachtung des Subjekts folgt insbesondere auch die Idee der Veränderungsmöglichkeit von Praktiken (und daher auch Gesellschaftsformen), die jeder linken, feministischen, antirassistischen Theorie und Praxis innewohnt. Wenn Marx und Engels schreiben: „Die Geschichte tut nichts […]; es ist nicht etwa die „Geschichte“, die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre […] Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen“4, dann wird dem praktischen Tun von Subjekten unter anderem zugesprochen, in den Verlauf der Geschichte und die Organisationsformen von Gesellschaften produktiv verwickelt zu sein. Während Wendy Brown als Resultat ihrer Diagnose über Freiheit im Neoliberalismus vorschlägt, den Begriff der Freiheit im emanzipativen Interesse aufzugeben, wird in der folgenden Arbeit die Frage gestellt, wie sich Subjekte so verstehen lassen, dass sie die Möglichkeitsbedingungen für ein solches praktisches Tun der Befreiung bereithalten. Diese politische Bedeutung von Freiheit stellt den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von sozialer Subjektkonstitution und Freiheit in dieser Arbeit dar. Ich stelle diese Kontextualisierung des Freiheitsbegriffs deswegen voran, weil der Begriff der Freiheit durchaus auch aus ganz anderen Blickwinkeln thematisiert und ihm Bedeutung beigemessen werden kann.5 Diese 3Wie der Neoliberalismus Subjektivität, Gesellschaft und Politik (und deren gegenseitigen Verbindungen zueinander) bestimmt, lässt sich unter anderem nachlesen bei Wendy Brown: Sates of injury, oder dies.: Undoing the demos, auch bei Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. 4Marx/Engels: Die heilige Familie, S. 98. 5Es lassen sich viele Kontexte differenzieren, in denen Freiheit jeweils eine andere Bedeutung einnimmt und aufgrund dieser Bedeutungsdifferenzen auch unterschiedlich theoretisiert werden kann. So ist z. B. ästhetische Freiheit unter Umständen ganz anders zu verstehen als politische Freiheit. Axel Honneth fasst dies zusammen, indem er sagt: „[…]; von der Freiheit wird öffentlich gesprochen, als existiere sie nur im Singular einer einzigen Vollzugsweise, obwohl wir doch wissen, ja förmlich sehen können, dass etwa zwischen der Freiheit der politischen Stellungnahme, der Freiheit des Vertragsschlusses auf dem Arbeitsmarkt und der, sagen wir, Freiheit der spontanen Vereinigung in der Liebesbeziehung gravierende Unterschiede bestehen.“, in: ders.: Von der Armut unserer Freiheit, S. 13.
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Dissertation zielt jedoch darauf ab, die Grundlagen sozialer Subjektkonstitution dahingehend zu befragen, wie sie zu einem Verständnis einer solchen Freiheit beitragen können, das sich auch in seiner Bedeutung als politische Emanzipation fruchtbar machen lässt.6 Diese Kontroverse um die Möglichkeit der Emanzipation von gesellschaftlichen und politischen Herrschaftsverhältnissen verdeutlicht, dass Freiheit nicht unabhängig von dem Kontext betrachtet werden kann, in dem sie als Frage der Theorie und Praxis aufkommt. Die Verflechtung gesellschafts- und subjekttheoretischer Fragen in Bezug auf die Möglichkeit der Emanzipation von Herrschaftsverhältnissen zeigt auch, dass es einer Auseinandersetzung mit jenen Befreiungsmöglichkeiten ausgehend von einer sozialen Subjektperspektive bedarf. Denn ein Verständnis radikal emanzipativer Befreiung ist an die Vorstellung gebunden, dass Freiheit in der Verbindung der Subjekte untereinander (kollektiver, gesellschaftlicher, politischer oder intersubjektiver Art) entsteht. Gleichzeitig wird Befreiung von einzelnen Subjekten und ihrer gemeinsamen Organisation praktiziert und erlebt. Kann es der Begriff des Subjekts überhaupt leisten, die Möglichkeit von radikalem gesellschaftlichem Wandel zu erklären und wenn ja, wie? Eine voraussetzende Annahme bestimmt dabei die Herangehensweise an diese Frage: Subjekte, die an gesellschaftlich transformativen Prozessen beteiligt sind, lassen sich nur in ihrer sozialen Hervorgebrachtheit verstehen. Dass Subjekte in irgendeiner Form durch ihre Sozialität konstituiert sind, stellt daher eine Prämisse der folgenden Suche nach Bedingungen und Möglichkeiten von Befreiung dar, die selbst nicht mehr begründet wird. Was es jedoch im Einzelnen bedeutet, das Subjekt als sozial Konstituiertes zu verstehen, ist hingegen Gegenstand des ersten Kapitels. Die Annahme der sozialen Konstituiertheit von Subjekten beeinflusst den Gang der Analyse dahingehend, dass sie das Problem radikaler Emanzipation auf anderer Ebene als der allgemeinen Verflechtung des Freiheitsbegriffs mit seinem gesellschaftlichen Kontext verschärft und auf besondere Weise aufwirft. Den meisten Diskursen um Freiheit ist gemeinsam, dass sie Freiheit als Selbstbestimmung von Subjekten auffassen. Diese Idee der Freiheit wird insbesondere dann aufgerufen, wenn es um Emanzipation und radikale gesellschaftliche Transformation geht: Freiheit bedeutet dann, sich von der Unterdrückung durch andere (Menschen, Institutionen oder Strukturen) zu befreien. Wenn Freiheit in dieser Arbeit also als politische Freiheit von Subjekten thematisiert wird, diese Subjekte aber als sozial konstituiert aufgefasst werden, wird vor allem die
6Ich
schließe mich außerdem der Aussage Adornos über die Geschichtlichkeit von Freiheit an. Der Begriff der Freiheit wird demnach nur in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen virulent. Dessen Bedeutung und Inhalt ändert sich notwendig je nach gesellschaftlichem und historischem Kontext: „[…], daß man also nicht etwa einen Begriff von Freiheit ein für allemal, wie es die Philosophie fast immer getan hat, formulieren und stipulieren kann, um dann diesem invarianten Begriff der Freiheit die sich wandelnden historischen Phänomene zu konfrontieren. Sondern der Begriff der Freiheit ist selber historisch entsprungen und wandelt sich mit der Geschichte.“, in: Adorno: Zur Lehre von der Geschichte und der Freiheit, S. 248.
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Einleitung
Idee des Selbst in dieser reflexiven Freiheit in Frage gestellt. Mit der Auffassung über die soziale Konstituiertheit von Subjekten kollabiert die Unterscheidung von Subjekt und Sozialem, von Selbst und Anderem, die aber für die Idee der Selbstbestimmung scheinbar zentral ist. Freiheit als Selbstbestimmung setzt voraus, dass der eigene Antrieb zu einer Handlung oder einer Haltung,7 die sich in den einzelnen Handlungen wiederfindet, von Einflüssen durch andere unterschieden werden könnte, dass es einen Kern des Selbst gibt, das sich in Abgrenzung zu seinem ‚Außen‘ bestimmen ließe. In dieser Sichtweise wird der Einfluss anderer eher als etwas betrachtet, gegen das sich das Selbst behaupten müsse, um sich als selbstbestimmt auffassen zu können.8 Wenn aber das Selbst der Selbstbestimmung durch Sozialität konstituiert ist, dann muss die Idee der Selbstbestimmung, die in einer emanzipatorischen Auffassung von Freiheit steckt, grundlegend hinterfragt werden.9 Gibt es ein solches Selbst, das sich in Abgrenzung zur Einflussnahme des Sozialen identifizieren ließe? Eine Perspektive der sozialen Konstituiertheit von Subjekten muss dies verbinden. Das Andere wird dann zur konstitutiven Bedingung des Eigenen und Selbstbestimmung kann nicht mehr allein als Abgrenzung vom Anderen verstanden werden. Wenn dem so ist, wie kann Befreiung dann überhaupt noch gedacht werden als Selbstbehauptung gegenüber unterdrückenden Herrschaftsverhältnissen? Die These, die ich in Bezug darauf vertreten möchte, ist folgende: Indem die soziale Konstituiertheit des Subjekts als Prozess – also als soziale Subjektivierung – aufgefasst wird, lässt sich als Effekt dieser Sozialität eine absolute Negativität ausfindig machen, die ein Verständnis der Möglichkeit von Befreiung zulässt. Die Verquickung von Sozialität und Subjekt, die eine klare Differenzierung von ‚Eigen‘ und ‚Fremd‘ verhindert,
9Einen
guten Überblick darüber, inwiefern diese Perspektive auf das Subjekt mit „[g] roßangelegte[n] Emanzipationsprojekte[n]“ in Konflikt gerät, schildert Hanna Meißner in ihrem Buch Jenseits des autonomen Subjekts (Ebd., S. 9). 8Zwar stellt Axel Honneths Ausarbeitung der Hegelschen Formulierung des Freiseins beim Anderen auf den ersten Blick eine ähnliche Kritik an einem solchen Konzept der Selbstbestimmung dar. Die Vorstellung von Freiheit, die er aber in Leiden an Unbestimmtheit und in Das Recht der Freiheit darstellt, zielt eher darauf, eine intersubjektive Bezugnahme als Bedingung für individuelle Freiheit zu betrachten. Es geht Honneth dabei nicht so sehr darum, von einer sozialen Konstituiertheit der Subjekte selbst ausgehend deren ‚soziale Freiheit‘ darzustellen. Auf diese Weise lassen seine Ausführungen leicht die Perspektive zu, den Anderen als Instrument für die Verwirklichung der eigenen Freiheit zu betrachten. 7Es soll hier explizit davon Abstand genommen werden, Selbstbestimmung ausschließlich als Dimension von Handlungen zu begreifen. Auch ein Habitus oder eine bestimmte Position, die innerhalb der Gesellschaft eingenommen wird, kann als selbstbestimmt aufgefasst werden – oder eben nicht. Die Haltung oder das Verhalten eines Subjekts kann genauso wirksam für das Geflecht von gesellschaftlichen Praktiken sein, die aus den Verhaltensweisen aller Subjekte resultieren, wie einzelne Handlungen.
Einleitung
XIII
steht in dieser Perspektive einem emanzipativen Selbstbezug nicht mehr im Wege, sondern bietet gerade erst die Grundlage für eine Selbstaneignung des Subjekts und mithin das Fundament für mögliche emanzipative Praktiken von Subjekten. Diese These, für die in dieser Dissertation argumentiert wird, gliedert sich im Wesentlichen in drei Teile, die in drei großen Abschnitten (I–III) ausgearbeitet werden: (I) Der erste Abschnitt I Das Subjekt als sozial Konstituiertes soll den Teil der These erläutern, der besagt, dass die soziale Konstituiertheit des Subjekts im Wesentlichen als Prozess zu betrachten ist. Indem ich Robert Pippins Theorie eines sozialen Subjekts, wie er sie in Hegel’s Practical Philosophy schildert, mit Judith Butlers Theorie der Subjektivierung, wie sie hauptsächlich in der Psyche der Macht entfaltet wird, kontrastiere, versuche ich aufzuzeigen, inwiefern soziale Subjektkonstitution die Perspektive einer genealogischen Subjektivierungsgeschichte erfordert und ausgehend von der Darstellung der sozialen Konstituiertheit der Handlungsfähigkeit eines gebildeten Subjekts nicht verständlich ist.10 Letztere Sichtweise wird anhand von Pippins Darstellung der Verbindung von Sozialität und Freiheit des Subjekts dargestellt. Hier wird nicht die Hervorgebrachtheit des Subjekts gedacht, sondern vielmehr ein Subjekt vorausgesetzt, das in seiner Handlungsfähigkeit sozial konstituiert sein soll. Erstere Perspektive wird durch Butlers Theorie der Subjektivation eingenommen. Indem der Prozess sozialer Subjektivierung als Ausgangspunkt für die Thematisierung von aus diesem Prozess resultierenden Möglichkeiten der Befreiung genommen wird, geht es aber vor allem darum, die Grundlagen eines Freiheitsbegriffs herauszustellen, der sich als transformatorisches Instrument des Werdens des Subjekts ausweisen lässt. Die Konsequenzen aus der genealogischen Perspektive auf die soziale Konstituiertheit des Subjekts für den Prozess der Subjektivierung werden im zweiten Teil gezogen. (II) Im Teil II Am Rand der Differenz: Das Streben nach Existenz wird dem auf den Grund gegangen, was sich in Butlers Theorie sozialer Subjektivierung als wesentliche Begründung für den Übergang zum sozialen Werden der Subjekte herausgestellt hat, nämlich das Streben nach Existenz. Dieses wird einerseits als genealogischer Anfang der Subjektbildung thematisiert, der sich als ein dem Subjekt absolut entzogenes Moment erweist, und andererseits aber als Prozessualität beschrieben, die in der Subjektivierung selbst wirksam bleibt. Die Darstellung dieser besonderen Dynamik wird anhand einer Untersuchung des Lebensbegriffs vollzogen. Hiermit soll für den 10Vor
allem im Hinblick auf die Frage nach der Freiheit von Subjekten ist der Blick auf deren Geschichtlichkeit entscheidend. Marin Saar fasst dies in seinem Aufsatz Analytik der Subjektivierung so zusammen: „Über Subjekte auf diese Weise theoretisch zu sprechen, hat zur Folge, dass einsehbar wird, wie sie geworden sind, was sie sind, und wieso sie dies nicht für immer bleiben müssen. Dies macht die Frage des Subjekts nicht nur auf der Ebene der Theorie, sondern auch der Praxis, zu einer Frage des möglichen und vorstellbaren Anders-seins und Anders-handelns.“, S. 27.
XIV
Einleitung
Teil der These argumentiert werden, der die Notwendigkeit einer absoluten Negativität für den Prozess der Subjektivierung als Effekt des Sozialen herausstellt. Da die Prozessualität des Lebens aber gerade darin besteht, nicht subjektiv zu sein, mithin eine außersubjektive Bewegung beschreibt, werden die Resultate der Auseinandersetzung mit dem Lebensbegriff als genealogisches Begründungsmoment für Subjektivität im dritten Kapitel wieder auf das Funktionieren des Prozesses der Subjektivierung zurückbezogen. (III) Den letzten Teil der These, nämlich dass die Negativität des Lebens- und Subjektivierungsprozesses als absolute, nicht-dialektische verstanden wird und auf diese Weise zu einem Verständnis radikaler Befreiung beitragen kann, versuche ich im dritten Teil III Freiheit und Negativität zu erklären. Dabei entferne ich mich wieder von der Begrifflichkeit des Lebens und versuche anhand der phänomenologischen Betrachtungen von Hegel und Sartre nachzuvollziehen, ob und wie sich darin die aus der Auseinandersetzung mit dem Lebensbegriff gewonnene Einsicht in ein nicht-dialektisches Moment des Negativen ausweisen und genauer beschreiben lässt. Grund für den Perspektivwechsel ist methodischer Natur: Während die Prozessualität des Lebens im Wesentlichen dadurch bestimmt ist, eine (außersubjektive) Erklärung für Subjektivierung zu geben, kann die Rolle der absoluten Negativität für Subjektivierung hingegen nur innerhalb der Sprache des Subjekts herausgestellt werden.11 Im Anschluss wird die absolute Negativität sozialer Subjektivierung mit der Frage nach der Freiheit des Subjekts in Verbindung gebracht. Auch wenn die Analyse sozialer Subjektkonstitution auf eine Klärung der Frage nach den Möglichkeiten radikaler gesellschaftlicher Transformation zielt, möchte ich an dieser Stelle vorwegnehmen, dass diese Dissertation weder leisten kann, vor diesem Hintergrund ein Konzept von Freiheit zu präsentieren noch eine Theorie und Praxis radikaler Emanzipation hinreichend zu erklären. Vielmehr versuche ich herauszustellen, wie die Perspektive sozialer Subjektkonstitution Möglichkeitsbedingungen für eine solche radikale emanzipative Praxis herausstellen kann. Die Arbeit schließt mit einem Ausblick auf eine mögliche Einbettung der Analyse von sozialer Subjektivierung und Negativität in eine politische Perspektive auf Befreiung.
11Dass letztlich der Begriff des Lebens auch nur innerhalb der Grammatik des Subjekts verfasst werden kann und dessen Außersubjektivität nur eine scheinbare Abstraktion dessen ist, wie das Subjekt über sich denkt, soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese beiden Positionen theoretisch auseinanderzuhalten sind.
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Teil I Das Subjekt als sozial Konstituiertes 1 Robert Pippin: das handlungsfähige Subjekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.1 Die Struktur einer Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 1.1.1 Autonomie im Verhältnis zwischen Wille und Tat. . . . . . . . . 6 1.1.2 Zirkularität der autonomen Handlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.2 Sozialität und Freiheit des Subjekts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.2.1 Befreiung und die Möglichkeiten emanzipativer Gestaltung von Normen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.2.2 Soziale Konstituiertheit des Subjekts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2 Judith Butler: Subjektbildung aus dem Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1 Butlers Theorie der Subjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1.1 Aus dem Abgrund des Sozialen: das Streben nach Leben. . . 31 2.1.2 Reflexivität und Melancholie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.1.3 Sozialität des reflexiven Selbstverhältnisses . . . . . . . . . . . . . 39 2.2 Widerständigkeit des Butlerschen Subjekts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.2.1 Auflehnung des melancholischen Subjekts. . . . . . . . . . . . . . 44 2.2.2 Die Grenzen der Aneignung ‚fremder‘ Macht. . . . . . . . . . . . 47 2.2.3 Das Unsichtbare der dialektischen Reflexivität. . . . . . . . . . . 50 2.3 Freiheit als Selbstenteignung und Selbstaneignung . . . . . . . . . . . . . 52 2.3.1 Annäherung an einen Freiheitsbegriff durch Kritik. . . . . . . . 53 2.3.2 Kontextlose Selbstan(ent)eignung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.4 Zwischenfazit: Genealogie und Phänomenologie der sozialen Subjektkonstitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Teil II Am Rand der Differenz: das Streben nach Existenz 3 Das »Streben nach Existenz« in Butlers Theorie der Subjektivierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.1 Das Existenzstreben im Zusammenhang mit der Frage nach Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.1.1 Das Unsichtbare der Reflexivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.1.2 Das Existenzstreben als Vorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
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3.2 Die Funktion eines transitiven Strebens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3.2.1 Nicht-Essentialismus des Strebens nach Existenz. . . . . . . . . 74 3.2.2 Unterwerfung als Zeichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben. . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4.1 Der Begriff des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 4.1.1 Aristoteles: zoé und bíos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4.1.2 Der Lebensbegriff in Hegels Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 4.1.3 Thomas Khurana: Die Dialektik von Kraft und Form. . . . . . 90 4.1.4 Zusammenfassung: Zirkularitäten im Lebensbegriff. . . . . . . 95 4.2 Negativität im Lebensprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.2.1 Freuds Triebbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.2.2 Das Begehren des Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4.2.3 Negativität und Sozialität des Existenzstrebens. . . . . . . . . . . 108 Teil III Freiheit und Negativität 5 Zum Verhältnis von Negativität und Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 5.1 Von sozialer Subjektivierung zu Negativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 5.2 Streben und Negativität als Übergänge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 6.1 Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 6.1.1 Negation und Bestimmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 6.1.2 Abstrakte Negation?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 6.1.3 Hegels Nichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 6.1.4 Das Andere der Dialektik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6.2 Jean-Paul Sartre und das Nichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 6.2.1 Sartres Nichts: Sein versus Akt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 6.2.2 Der Zusammenhang von Freiheit und Nichts bei Sartre. . . . 146 6.2.3 Das Nichts im Verhältnis zur sozialen Subjektivierung. . . . . 149 7 Das Nichts: Möglichkeiten und Grenzen einer Befreiung. . . . . . . . . . . 155 7.1 Bedingungen für Befreiung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 7.1.1 Sich gegen sich wenden: zwei Wege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 7.1.2 Das Nichts als Möglichkeitsbedingung für Radikalität. . . . . 161 7.1.3 Befreiung zwischen Subjekt, Gesellschaft und Politik . . . . . 166 7.2 Ausblick: Politiken der Befreiung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 7.2.1 Befreiungspraxis mit Butler. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 7.2.2 Queere Befreiungspraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Teil I
Das Subjekt als sozial Konstituiertes
Mit der Annahme der sozialen Konstituiertheit von Subjekten geht einher, dass Subjekte nur durch ihr Verhältnis zum Sozialen sind, was sie sind. Dies ist von der allgemein unumstrittenen Ansicht zu differenzieren, dass Subjekte sich in Interaktion mit einem sozialen Umfeld zu verschiedenen Zwecken und verschiedenen Zeiten bewegen. Dass es aber eine fundamentale Relation zwischen Subjekt und Sozialem gibt, die erst das Subjektsein ermöglicht, wirft wiederum Fragen auf, deren Beantwortung Aufgabe dieses Kapitels sein soll:1 In welcher Weise bewirkt das Soziale das Subjektsein genau und welche Dimensionen des Sozialen sind hierbei im Spiel? Was am Subjektsein lässt sich auf dessen Sozialität zurückführen und kann etwas am oder im Subjekt ausgemacht werden, das nicht in Vermittlung mit dem Sozialen entsteht? Eine Theorie des Subjekts, die auf der Annahme dessen sozialer Konstitution basiert, befasst sich folglich vor allem mit zwei grundlegenden Fragen. Erstens: Was zeichnet das Subjekt als Subjekt aus? Diese Frage zielt auf das definitorische Moment des Subjekts und was sich ausgehend davon über das Subjektsein ableiten lässt. Zweitens: Auf welche Form des Sozialen stützt sich eine Erklärung der sozialen Konstitution des Subjekts? In der Philosophie wird eine Vielzahl an Möglichkeiten diskutiert, Sozialität theoretisch zu erfassen, sei es ausgehend von Intersubjektivität, von Machtkonstellationen, von Sprache oder Normativität etc. Eine Analyse der sozialen Voraussetzungen des Subjekts strebt also auch danach, zu klären, welche dieser Dimensionen des Sozialen auf welche Weise
1Wie Andreas Reckwitz in Seinem Buch Subjekt treffend zusammenfasst, geht es bei einer Theorie der sozialen Konstituiertheit von Subjekten „nicht um die Konfrontation des Individuums mit sozialen Erwartungen, sondern darum, wie sich dieses »Individuum« in seinen scheinbar gegebenen, gewissermaßen vorkulturellen körperlichen oder psychischen Eigenschaften, die ihm vermeintlich Autonomie sichern, aus hochspezifischen kulturellen Schemata zusammensetzt.“ Ebd., S. 15.
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Teil I Das Subjekt als sozial Konstituiertes
zur Konstitution desselben beitragen. Diese beiden Fragen werden in der Suche nach der Rolle der Sozialität für das Subjekt verbunden. Was im oder am Subjekt ist durch welche Strukturen des Sozialen konstituiert? So wie sich Subjekttheorien darin unterscheiden, welcher Begriff für Subjektsein fundamental ist, variieren auch Rolle und Bedeutung des Sozialen für das Subjekt. Eine Analyse der Subjektkonstitution wird maßgeblich dadurch bestimmt, welches Verhalten oder welche Eigenschaften des Subjekts als wesentliche und primäre begriffen werden. Auch in diesem Aspekt wie schon in der Frage nach der für das Subjekt bestimmenden Form des Sozialen findet sich in der philosophischen Betrachtung des Subjekts eine Vielzahl an Ansätzen. Nimmt zum Beispiel die Handlungstheorie grundsätzlich Agency als Kernbegriff des Subjekts an, betrachtet eine phänomenologische Untersuchung vielmehr die Form der Selbstund Weltwahrnehmung. Poststrukturalist*innen erfassen das Subjekt wiederum wesentlich aus sprachphilosophischer Perspektive, Kantianer*innen unterscheiden das Subjekt von anderen Lebewesen anhand der Vernunftfähigkeit. Jeder dieser Kernbegriffe des Subjekts (Handlungsfähigkeit, Vernunft, Sprache oder Bewusstsein) hat eine andere Theorie dessen zur Folge, was unter einer sozialen Konstitution dieses Subjekts vorzustellen ist, und ob es überhaupt als sozial Konstituiertes gedacht wird. Den allermeisten Theorien über das Subjekt ist jedoch gemein, dass Subjektsein in seinem Kern bedeutet, sich in einer Weise in und zur Welt zu verhalten, die über die bloße Reproduktion des Gegebenen hinausgeht. Hiermit werden Subjekte von Automaten oder Maschinen unterschieden, die bloß das tun, rechnen oder denken, was ihr Programm vorgibt. Auch wird Subjektsein mit der Vorstellung einer Geschichte verbunden, die sich explizit nicht als Naturgeschichte oder als Evolution beschreiben lässt und nicht ausschließlich durch Zufall geleitet ist. Das gilt auch in Bezug auf das Verhältnis vom Subjekt zum Sozialen: Es reproduziert nicht, was ihm durch soziale Zusammenhänge von ‚außen‘ zugetragen wird, sondern zeichnet sich durch eine nicht determinierte Verhaltens- oder Handlungsweise in und zur Welt aus. Mit Christoph Menkes Worten ausgedrückt: „Freiheit ist nicht normative Ordnung. Sondern frei zu sein heißt, die symbolische, normative Ordnung des Geistes zu errichten und sie unterbrechen, suspendieren zu können.“2 Es liegt daher auf der Hand, eine Theorie der sozialen Konstituiertheit von Subjekten wesentlich daraufhin zu beleuchten, ob und wie plausibel sie diese Determinismen für das Sein oder Bewegen von Subjekten ausschließen kann.3 Zu diesem Zweck werden im Folgenden zwei paradigmatische Theorien der sozialen Subjektkonstitutionen untersucht, nämlich die Robert Pippins und
2Menke:
Die Lücke in der Natur, S. 1095. tiefgreifend die Idee der Freiheit des Subjekts sein kann, schildert Michel Foucault, wenn er von der Notwendigkeit und daher implizit auch von der Möglichkeit spricht, „neue Formen der Subjektivität zustande [zu] bringen“ und sich von einem bestimmten „Typ von Individualisierung“ befreien zu müssen. (In: ders.: Das Subjekt und die Macht, S. 250.)
3Wie
Teil I Das Subjekt als sozial Konstituiertes
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Judith Butlers. Ziel des Vergleiches dieser beiden Theorien ist es, herauszufinden, wie die soziale Konstituiertheit in einem ganz engen Sinne so gedacht werden kann, dass sie ein Verständnis von Subjektsein zulässt, das eine ausnahmslose Determiniertheit der Subjekte durch das Soziale, die Natur oder den Zufall auszuschließen vermag. Die Relation zwischen Subjekt und Sozialem muss sich darin also als eine produktive in beiden Richtungen erweisen: das Soziale bestimmt Subjekte und diese wiederum sind vermittels der sozialen Konstituiertheit dazu in der Lage, selbst zu bestimmen. Pippins analytische Interpretation der Hegelschen Subjekt- und Sittlichkeitstheorie in Hegel’s Practical Philosophy stellt einerseits die soziale Beschaffenheit des Subjekts heraus und leitet andererseits hieraus eine autonome Handlungsfähigkeit ab. Butler hingegen nähert sich insbesondere in Die Psyche der Macht aus dekonstruktiver, genealogischer und psychoanalytischer Perspektive einer Erklärung des Subjektivierungsprozesses und rekonstruiert dabei die Bedingungen von Handlungsfähigkeit. Sie beschreibt dabei eher implizit ein Verständnis von Freiheit als Selbstverwirklichung. Sowohl Pippins als auch Butlers Theorie der sozialen Subjektkonstitution zielen (explizit oder implizit) darauf, ein reflexives Freisein des Subjekts zu begründen. Anhand der Rekonstruktion und Kritik dieser beiden Analysen soll herausgearbeitet werden, wie sie die soziale Konstituiertheit des Subjekts verstehen. Wie erklären sie darin die Möglichkeitsbedingungen eines emanzipativen Bezugs zu denjenigen Bedingungen, die das Hervorbingen des Subjekts erst ermöglicht haben? Beginnend mit einer Analyse des Handlungsbegriffs wird im Folgenden Pippins Subjekt- und Freiheitsverständnis rekonstruiert, das er in enger Auseinandersetzung mit Hegel entfaltet. Wie beschreibt Pippin die soziale Konstitution des Subjekts und dessen Handlungsfähigkeit? Und vermag seine analytische Herangehensweise an den Begriff der Handlung tatsächlich Aufschluss über ein sozial konstituiertes und in gewisser Hinsicht sich selbst bildendes Subjekt geben?
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Robert Pippin: das handlungsfähige Subjekt
Robert Pippin interpretiert als Vertreter des Pragmatismus die Hegelsche Sittlichkeitstheorie vor dem Hintergrund einer Theorie praktischen Handelns. In Hegel’s Practical Philosophy stellt er gemäß seines pragmatistischen Standpunkts die Handlung in den Vordergrund der Betrachtung Hegelscher Theorieelemente. Seine Hegelinterpretation ist daher als eigene Theoriebildung aufzufassen. Zwei Grundannahmen leiten Pippins Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie. Erstens wird der Subjektbegriff durch die Handlungsfähigkeit desselben definiert. Und zweitens ist diese Handlungsfähigkeit wiederum durch Autonomie bestimmt. Autonomie, deren Bedeutung Pippin aus einer Kritik an Kants Autonomiekonzept her beschreibt, wird folglich als entscheidende Dimension von Subjektivität erfasst. In seiner Subjekttheorie geht er so vor, dass er alle das Subjekt definierenden Aspekte aus der Handlungsstruktur ableitet. Über den Weg einer Theorie der Handlung in der Hegelschen praktischen Theorie bezieht Pippin so auch eine Theorie reflexiven Selbstbewusstseins in den Subjektbegriff ein. Eine Handlung zeichnet sich für Pippin durch eine besondere Verbindung von Tat und Handlungsintention aus. Wie jedoch diese Verbindung genau gestaltet ist, ist Gegenstand seiner Diskussion der Hegelschen und Kantischen Auffassungen der Struktur einer autonomen Handlung. Pippin sieht zwischen Kants und Hegels Darstellungen der Handlungsstruktur die grundlegende Übereinstimmung, dass Handlungen auf selbstgesetzte Handlungsgründe in Form von vernunftgemäßen Intentionen zurückzuführen sind. Um der Bedeutung des Subjektbegriffs zu entsprechen, muss dieser, so Pippin, folglich das Subjekt als autonom Handelndes verständlich machen können. On the assumption that Hegel considers spirit itself as an achieved normative status, proceeding in this direction is in effect to see Hegel’s core theory as a theory of cognitive and practical normativity, and to claim that he is indebted to Kant’s argument about the
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Junker, Soziale Subjektivierung, Negativität und Freiheit, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05734-1_1
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1 Robert Pippin: das handlungsfähige Subjekt
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nature of such normativity: that we are subject to no law or principle of action that we do not “legislate for ourselves.”1
Pippin sieht die Kantische Autonomievorstellung als der Hegelschen praktischen Theorie zugrundeliegend und stützt daher auch sein Verständnis von Autonomie zunächst auf Kant. Seine Auseinandersetzung mit Hegels Theorie der Sittlichkeit ist durch die Annahme geprägt, dass jene Theorie die notwendigen Instrumente bereithält, die Autonomie des Subjekts zu erklären. Pippins Interpretation Hegels zielt darauf ab, Hegels Kritik an Kants Autonomieformel zu rekonstruieren, um daraus eine Freiheitstheorie herauszustellen, die im Wesentlichen auf dem Verständnis eines sozial konstituierten Subjekts basiert. Um also Pippins Vorschlag einer Theoretisierung der sozialen Konstitution des Subjekts nachvollziehen zu können, wird im Folgenden zunächst sein Verständnis von Handlungsfähigkeit nachgezeichnet. In dieser Rekonstruktion soll einerseits herausgestellt werden, wie Pippin den Autonomiebegriff verwendet und problematisiert, um anschließend andererseits die Funktionsweise einer autonomen Handlung zu erklären.
1.1 Die Struktur einer Handlung 1.1.1 Autonomie im Verhältnis zwischen Wille und Tat Pippins Strategie bei der Interpretation Hegelscher praktischer Philosophie ist es, den Begriff des Geistes als eines sich selbst Hervorbringenden vor dem Hintergrund des Kantischen Autonomiekonzepts zu verstehen. Dabei ist für ihn die Idee leitend, dass das praktische Tun von Subjekten in einer gewissen Hinsicht als angeeignete Form des normativen Kontexts gelten kann und in dieser Hinsicht selbstbestimmt ist: Whatever social roles we inhabit or conventions we act out, we have somehow made them our own; they function as norms and ideals for us that we must actively and with some justification to ourselves and others actively sustain, and which, like any ideal, we can hold and yet fail to live up to.2
Pippins Interpretation der Selbstgesetzgebungsformel, die elementar für seine Handlungs- und Subjektanalyse ist, ist der Versuch einer Verbindung von Kants Autonomiebegriff mit dem Hegelschen Begriff des sich selbst hervorbringenden Geistes. Gleichzeitig sieht Pippin Probleme mit dem Autonomiebegriff, die er für seine Verwendung ausschließen möchte. Zwei elementare Kritikpunkte sind insbesondere für das Verständnis sozialer Subjektivierung relevant. Beide für Pippin problematischen Aspekte tragen zu einer paradoxen Struktur von Autonomie bei,
1Pippin: 2Ebd.,
Hegel’s Practical Philosophy, S. 65. S. 68.
1.1 Die Struktur einer Handlung
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die er ausräumen möchte. Zumindest ist sein Ziel, Autonomie „less paradoxical“3 zu beschreiben. Kant definiert die Autonomie des Willens in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten folgendermaßen: „Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann: […]“4 Ein autonomer Wille ist laut Kant eine handlungsmotivierende Ursache, die einzig und allein aus dem wollenden Subjekt selbst begründet wird. In Unabhängigkeit eines jeden äußeren Einflusses soll es einem vernunftfähigen Subjekt gelingen, denjenigen Willen zur Handlungsursache zu machen, den allein es selbst gemäß den Prinzipien der Vernunft hervorgebracht hat. Kant fasst Autonomie als spezifische Eigenschaft einer Kausalität auf, der einzelne Subjekte für sich unterliegen. Da Pippin seine Auseinandersetzung aber vor dem Hintergrund eines Hegelschen Subjektverständnisses beginnt, der Subjekte im Kontext ihrer Sozialität betrachtet, stellt er sowohl die individualisierte Perspektive auf die Willensbildung als auch die Kausalrelation zwischen Wille und Tat bei Kant in Frage. Wenn eine individualistische Perspektive auf die Willensbildung des Subjekts aufgegeben wird, ist das Autonomiekonzept laut Pippin in eine paradoxe Struktur verwickelt: Die alles entscheidende Frage dieses Konzepts bestehe nämlich darin, zu erklären, wie Subjekte sich selbstbestimmt einem (Handlungs-)Gesetz unterwerfen können, obwohl sie nicht allein als Hervorbringer dieses Gesetzes gelten können. Wenn Subjekte im Zusammenhang mit ihrem sozialen Umfeld betrachtet werden, der die Willensbildung einer Handlung bedingt, liegt es nicht auf der Hand, wie das Verhältnis zwischen Handelndem und den herrschenden Normen als selbstbestimmt beschrieben werden kann. Anders formuliert: Wenn das Subjekt die Ressourcen zur Willensbildung aus einem normativ diskursiv geordneten Feld an Beziehungen untereinander bezieht, muss das Subjekt zu dieser Gesamtheit an normativen Regeln in einem Aneignungsverhältnis stehen, sofern die Willensbildung als selbst gesetzte verstanden werden soll. Handlungen müssen als Äußerungen in einem sozialen Kontext der diskursiven und normativen Form desselben entsprechen, um als solche vom Subjekt selbst und von anderen erkannt zu werden. Was eine Handlung ist, und was das einzelne Subjekt als solche versteht, bestimmt sich daraus, was allgemein (diskursiv und normativ) als Handlung betrachtet wird. Ebenso wie alle anderen sprachlichen Ausdrücke, unterliegt auch der Handlungsbegriff der geteilten Praxis aller Subjekte und kann nicht individuell für sich bestimmt werden. Auch die Verwendung sprachlicher Ausdrücke erfordert implizit, die Grammatik und Bedeutungsstrukturen der Sprache akzeptiert zu haben. Für sich allein können Subjekte sich nicht entscheiden, Bedeutungsinhalte
3Ebd., 4Kant:
S. 65. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 88.
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zu produzieren und sprachliche Ausdrücke mit ausschließlich individuellen Konnotationen zu verwenden. Indem Pippin Kants Perspektive auf das einzelne Subjekt im Begriff der autonomen Handlung kritisiert und es demgegenüber in einem dialektischen Verhältnis zur Gesellschaft betrachtet, verschiebt sich der Blick auf dessen Handlungsfähigkeit. Kant betrachtet die Autonomie des Subjekts gewissermaßen ausschließlich aus der ersten Person und daher aus der Perspektive eines individualisierten Ichs. Damit missachtet er laut Pippin eine notwendige Voraussetzung, nämlich die Bedingung der Möglichkeit eines überhaupt handlungsfähigen Subjekts, wie Hegel es in den Blick nimmt. Während aus Kants Perspektive folgt: „[practical] roles must be seen as a product of reflective endorsement by each individual“, muss mit Hegel gesagt werden: „practical roles are the prior conditions for any reflective content.“5 Hegel ergänzt die Perspektive auf das Subjekt laut Pippin also um eine entscheidende Dimension, die ihm zufolge problematische Implikationen der Selbstgesetzgebungsidee zu lösen und einen Hinweis auf die Form einer in und durch Normativität ermöglichten Selbstsetzung zu geben vermag. Pippin hebt mit Hegel hervor, dass „self- and other-relations“ konstitutiv für „such agency“6 seien. Das System an Normen und sozialen Praktiken ist für Hegel v ielmehr Voraussetzung für jede Form vernunftmäßiger Reflexion im Akt der H andlung. Die Abhängigkeit der inneren Struktur des Subjekts von der es umgebenden normativen Welt ist konstitutiv für autonome Handlungsfähigkeit, „and any complete reflective abstraction from such involvements creates an artificial construct, whose putative endorsements […] amount to a philosophical fantasy world, bear no relation to the requirements of a concretely human life“, so Pippin.7 Aus einer solchen sozialphilosophischen Perspektive ergeben sich für Pippin neue Herausforderungen für den Autonomiebegriff, die auch die von Kant angenommene Kausalrelation zwischen Wille und Tat infrage stellen. Pippin folgert aus der Tatsache, dass Handlungen nur im sozialen Kontext sichtbar sind und durch soziale Rollen bestimmt werden, die Idee einer reflexiven Zustimmung („reflective endorsement“) zu den normativen Regeln, soll die Handlung dem Anspruch entsprechen, aus einem selbst gesetzten Grund zu resultieren: Assertions about the normative dimensions of social roles, or self-and other-relational states, especially if they are understood to involve rights or entitlement claims, must be able to survive, we think, a full “reflective endorsement” by an individual, a reasoned defense that does not presuppose our social roles, but concludes in affirming them (if it does), and only thereby can such considerations be said to count as binding practical reasons for any reflective individual.8
5Pippin:
Hegel’s Practical Philosophy, S. 87 (meine Hervorh.). S. 273. 7Ebd., S. 67 f. 8Ebd., S. 66.
6Ebd.,
1.1 Die Struktur einer Handlung
9
Das Subjekt muss sich den Gesetzen untergeordnet haben, denen es ohnehin schon in der sozialen Praxis folgt, um dem selbstgesetzten Handlungsgrund Form geben können. Diese Gesetze müssen sich also in irgendeiner Weise für das Subjekt als vernünftig und unterordnenswert erweisen. Gemäß der Autonomieformel Kants darf es aber keine normative Bindung für das Subjekt geben, keine fremden Ursachen, bevor sich das Subjekt nicht selbst an jene sozialen Regeln allein aufgrund seiner Vernunftprinzipien gebunden hat. Das Konzept der Selbstgesetzgebung, so Pippin, muss demgegenüber erklären, wie Subjekte sich selbstreflexiv einem Gesetz unterwerfen können, obwohl sie nur vermittels einer nicht selbst gesetzten Sozialisierung überhaupt zu reflexiver Denktätigkeit befähigt werden. Dieser Weg ist für ihn mit der Vorstellung einer reflexiven Zustimmung verbunden, die allerdings zu weiteren paradoxen Formulierungen führt. Entweder impliziert sie die Annahme eines vornormativen Zustands des Subjekts, der die selbstbestimmte Zustimmung zu normativen Regeln rechtfertigen kann, oder aber die einer nachträglichen Zustimmung zur normativ geregelten Praxis, die als selbstbestimmt aufgefasst werden muss. Pippin plädiert für letzteren Weg – einer nachträglichen Zustimmung als vernünftige Rechtfertigung, „that does not presuppose our social roles“9 –, möchte aber mögliche problematische Auslegungen einer nachträglichen reflexiven Zustimmung ausschließen. Die Vorstellung einer nachträglichen Zustimmung zu praktischen Regeln soll laut Pippin die soziale Konstituiertheit der Subjekte explizit nicht ignorieren. Außerdem sei eine solche Zustimmung nicht so zu verstehen, dass Subjekte sie tatsächlich in den einzelnen Situationen durchführen würden: „Moreover, for neither Kant nor Hegel is it the case that there must be something like periodic explicit, intentional, conscious, authorizing, selfobligating ceremonies of some sort (for an individual or a community) to explain the authority of any norm.“10 Aber damit das Bestimmtsein durch Normen von Subjekten als autonom aufgefasst werden kann, versucht Pippin darzulegen, wie hierin implizit die Idee enthalten ist, dass die Normen, die für Subjekte handlungsweisend werden, auch zustimmungswert sind. Pippins Anspruch an seine Hegelinterpretation liegt bezüglich der Handlungsstruktur darin, einer Determinationslücke in der Vorstellung der Selbstgesetzgebung auf die Spur zu kommen: Wie kann die Paradoxie der Autonomie aufgelöst werden, in der Selbstsetzung immer auf einen nicht selbst gesetzten Grund verweisen zu müssen? Mithin: Wie kann die Idee einer impliziten selbstbestimmten Zustimmung zu den normativen Regeln gedacht werden, sodass sie die bindende Kraft der Normativität als selbstgesetzten Grund erklärbar macht? Pippin versucht, Kants Autonomieformel mit Hegel so zu erweitern, sodass ihr die soziale Konstituiertheit des Subjekts als Voraussetzung dient. Über eine Analyse der Handlungs- und Autonomietheorie thematisiert er, in welcher Hinsicht
9Ebd.,
S. 66. S. 75.
10Ebd.,
1 Robert Pippin: das handlungsfähige Subjekt
10
Subjekte sozial konstituiert sind und wie diese Dimension notwendig zum Verständnis des Begriffs der Freiheit beiträgt. Was Pippin neben dem Perspektivwechsel von Individualismus zu Sozialität als entscheidend für ein weniger paradoxes Verständnis von Autonomie herausstellt, ist das Verwerfen einer kausalen Betrachtung des Verhältnisses zwischen Wille und Tat. Hegel setzt dem ein Verständnis von Freiheit entgegen, das mehr auf einem Selbstverhältnis der Selbstaneignung beruht als auf einem Kausalzusammenhang zwischen Wille und Tat. Pippin stellt heraus, „[that] he [Hegel] does not believe that the relation between inner state and outer deed is a causal one at all, whether natural causal or could-have-done-otherwise causal.“11 Normen in ihrer Rolle als Handlungsgründe erhalten ihre bindende Kraft nicht vermittels einer selbstbestimmten Wahl von Handlungsgründen, die der tatsächlichen Willensbildung und -äußerung ursächlich ist. So resümiert Pippin: “But the legislation of such a law does not consist in some paradoxical single moment of election, whereby a noumenal individual elects as a supreme governing principle, […]. The formation of and self-subjection to such normative constraints is gradual and actually historical.”12 Pippin erweitert das Autonomiekonzept hiermit um eine entscheidende Dimension der Prozesshaftigkeit. Autonomie besteht demgemäß nicht in einem einzelnen, gewählten Handlungsgrund. Dagegen drückt sich in der Handlung von Subjekten deren Autonomgewordensein aus. Dieses besteht in einer fundamentaleren Aneignung derjenigen Elemente, die Einfluss auf die Bildung von Handlungsgründen haben. Der Fokus liegt für ihn daher vielmehr auf der Frage, wie sich das Subjekt in den eigenen Handlungen selbst erkennen und in dieser Hinsicht als selbstbestimmt bezeichnen kann. Autonomie bestimmt sich dann über das (nachträgliche) Aneignungsverhältnis des Subjekts zu den normativen Gesetzen, die seine Handlungen leiten. Von einer kausalen Betrachtung subjektiver Prozesse absehend geht Pippin mit Hegel dazu über, das spezifische Selbstverhältnis zu verstehen, das sich in Handlungen seiner Ansicht nach ausdrückt. Pippin konzentriert sich daher darauf, das Verhältnis zwischen Tat und Wille weder als kausales noch als prä- oder non-soziales aber dennoch als autonomes zu beschreiben. Diese Auseinandersetzung mit dem Autonomiekonzept führt Pippin dazu, die Relation zwischen Intention und Handlung anders zu verstehen als es Kant schildert. Dabei verfolgt er den Anspruch, das in der Handlung ausgedrückte Selbstverhältnis des Subjekts mit der Vorstellung von Freiheit als Selbstgesetzgebung zusammenzubringen. Es geht ihm um ein Selbstverhältnis, das in gewisser Weise eine selbstgesetzte Identifikation mit den eigenen Handlungsgründen denkbar macht. Dieses Selbstverhältnis soll für Pippin einen Handlungsbegriff erklären, in dem das Subjekt sich in seiner Äußerung selbst verwirklicht sieht. Er geht dabei zurück auf Hegel: „The essential desideratum for Hegel in any theory
11Ebd., 12Ebd.,
S. 149. S. 117.
1.1 Die Struktur einer Handlung
11
of freedom […] is a demonstration of the possibility of an actual and experienced identification with one’s deeds to be and to be experienced as my own.“13 Statt freiheitliche Handlungsfähigkeit in einer Kantischen Selbstsetzung zu suchen, stützt Pippin sich auf das Hegelsche Verständnis, in der Handlungsfähigkeit eine Aneignungsrelation zwischen Tat und Wille innerhalb des Selbstbewusstseins zu sehen. Eine Tat als eigene zu erkennen, sich folglich in einer Handlung selbst verwirklicht zu sehen, ist, worum es für Pippin bei der Bestimmung eines handlungsfähigen Subjekts geht. Dieses Handlungsverständnis soll auch die sozialen Mechanismen weiter erhellen, die das Subjekt als sozial Konstituiertes verständlich machen. Wie beschreibt Pippin daraufhin die spezifische Verbindung von Wille und Tat, die Handlungsfähigkeit stiftet und somit das Subjekt als solches bestimmt? Pippin argumentiert für eine Identitätsrelation zwischen Wille und Tat, die gegeben sein muss, damit die Handlung als selbstbestimmt betrachtet werden kann. Ist die Intention mit der Äußerung, die sich in der Handlung zeigt, identisch, gelingt es dem Subjekt sich in der Handlung selbst zu erkennen und sieht sich in der Äußerung bestimmt. Dieser These sind zwei Aspekte inhärent, die es für Pippin zu erklären gilt: Wer oder was stiftet die Identität zwischen Wille und Tat und woher bezieht das Subjekt die Ressourcen, um jene Identität in der eigenen Handlung selbst zu erkennen? Pippin bemerkt, dass dieser autonomen Handlungsstruktur die Fähigkeit einer Selbsterkenntnis im Selbstbewusstsein vorausgesetzt ist: „One obvious condition necessary for me to be able to act as a free agent, to recognize my deeds as my own, is that I must be able to know my own mind, […] and be able to engage in some sort of reflection about the relative weight of various considerations […]“14 Damit das Subjekt seine Tat tatsächlich als eigene auffassen kann, bedarf es bereits der Fähigkeit, seiner eigenen Intentionen, Wünsche und Überlegungen gewahr werden zu können, das heißt, auf sich selbst Bezug zu nehmen. In dieser Rückwendung auf sich selbst respektive der Reflexionsfähigkeit sieht Pippin eine Bedingung und notwendige Voraussetzung für Handlungsfähigkeit. Durch den Schritt dieser spezifischen Form von Selbstbestimmung, des sich-in-einer-Handlung-Wiederfindens, verschiebt sich für Pippin die Perspektive auf die Verbindung von Handlung und Intention. Nicht mehr, wie bei Kant, muss die Intention als kausale Ursache betrachtet werden, sondern es geht vielmehr um die Identitätseigenschaft selbst, die jenseits einer kausalen Begründung von Handlungen Bedeutung gewinnt: The question of freedom in each such discussion thus can be said to turn on a certain mode of self-representation and self-understanding, and it is this mode and its characteristics in actions, and not the question of whether such representations cause anything, that is of interest to Hegel.15
13Ebd.,
S. 6. S. 150. 15Ebd., S. 128. 14Ebd.,
12
1 Robert Pippin: das handlungsfähige Subjekt
Wie kann jedoch diese Identität zwischen Intention und Handlung gestiftet werden? Da jene Identitätsrelation eng an die Form der Selbstbezugnahme als Selbstbewusstsein geknüpft ist, impliziert eine Beantwortung dieser Frage Aufschluss darüber zu geben, wie die beiden zentralen Elemente Pippins Subjektbegriffs, Handlungsfähigkeit und Selbstbewusstsein, zueinander in Verbindung stehen. Darüber hinaus bleibt weiterhin zu klären, wie Pippin das Herstellen der Identität von Wille und Tat und die darin enthaltene Form des Selbstbewusstseins als sozial konstituiert denkt. Die notwendige Verknüpfung von Intention und Handlung, so ist Pippins These, kann nur im Medium des sozialen Umfelds realisiert werden. Begründet wird diese These mit Verweis auf Hegels Darstellung der Relation zwischen Wille und Tat, die eine Veräußerung des Subjekts in der objektiven Welt ist.16 Die Intention realisiert sich erst vollständig in einer Tat und kann im Umkehrschluss nicht von jener Verobjektivierung getrennt werden. Es scheint für Pippin also zuallererst die Tat, die zwangsläufig in ihrer sozialen Konstituiertheit betrachtet werden muss, nicht etwa der Wille. Pippin beschreibt dies mit den Worten: „My intention is out there in the deed, and the deed is essentially out there „for others“.“17 Da sich die Intention mittels der Tat realisiert, lassen sich Intention und ihre Äußerung nicht mehr klar voneinander trennen. Weil jede Veräußerung eines subjektiven Inhalts mittels einer Handlung nur in einer dem Subjekt äußeren Welt realisiert wird, ist diese Veräußerung notwendig mit dem sozialen Rahmen oder dem Geflecht normativer Regeln konfrontiert. Daraus folgert Pippin, dass Handlungen nur wirklich als Handlungen aufgefasst werden können, wenn sie auch von anderen Mitgliedern der sozialen Gemeinschaft in irgendeiner Form als eine solche Veräußerung subjektiven Inhalts betrachtet werden. Handlungen müssen daher, so Pippin, durch andere Subjekte vermittels normativer Regeln und Bedeutungssysteme interpretiert werden. Die soziale Dimension der Fähigkeit zur Selbstreflexion in der Handlung liegt also in einer Identitätsstiftung, die das Subjekt nicht allein vollziehen kann, sondern ihm nur in einem normativen Bezugsrahmen gelingt: “If the external manifestation of something subjective should be understood as an interpretation and expression, then both the agent and the others whom the action affects must do what such an expression always requires: interpret it, settle on its meaning and value.”18 Die soziale Beziehung zwischen Subjekten wird von Pippin maßgeblich vermittels deren Handlungsäußerungen beschrieben. Mithin scheint der Handlungsbegriff das zu sein, von dem aus die soziale Konstituiertheit von Subjekten zu verstehen ist. Wie lässt sich die Sozialität beschreiben, die die Handlungsfähigkeit des Subjekts bedingt?
16Vgl.
G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 4–7. Hegel’s Practical Philosophy, S. 159. 18Ebd., S. 130 f. 17Pippin:
1.1 Die Struktur einer Handlung
13
Die Handlungsfähigkeit des Subjekts ist für Pippin insofern aufs Engste mit dem Sozialen verbunden, als Handlungen einer Interpretation bedürfen, die nur im Rahmen von Normativität möglich ist. Normative Regeln als Resultat eines vernünftigen Aushandlungsprozesses bestimmen die Urteilsfähigkeit der Subjekte. Sie liefern die Mittel und den Maßstab für die Beurteilung von Handlungen. Normativität wird von Pippin daher als diejenige Form der Beziehung von Subjekten untereinander begriffen, die die gegenseitige Interpretation von Handlungen konstituiert, mithin eine Handlung als solche mitbestimmt und dem Subjekt zu seinem zentralen Selbstaneignungsverhältnis verhilft. Durch Handlungsinterpretationen begegnen sich Subjekte, erkennen sich gegenseitig als solche an, und bestimmen auf diese Weise normative Regeln gleichermaßen wie sie bestehende verfestigen. Die Interpretation von Handlungen ist für Pippin das Terrain, auf dem sich Subjekte gegenseitig anerkennen und das das Feld des Sozialen maßgeblich ordnet. Er verknüpft Normen mit der Idee kantischer Vernunftmäßigkeit und definiert sie durch ihre Form der Regelhaftigkeit. Die Handlung wird also laut Pippin unter dem Gesichtspunkt betrachtet, bestimmten allgemein erwarteten und als für vernünftig befundenen Regeln zu entsprechen oder nicht. Die Erwartungen an die Handlung werden aus dem allgemein Praktizierten bezogen. Die Verbindung unter Subjekten und auch deren Anerkennung erfolgt ausschließlich innerhalb und durch ein System von Normen. Wenn also gefragt wird, welche der vielen Möglichkeiten, die Verbindung zwischen Subjekten zu denken, in Pippins Sicht zur Konstitution des Subjekts beiträgt, so kann gesagt werden, dass die Regelhaftigkeit der Praktiken, die Menschen miteinander teilen, wesentliches Element dessen ist, wie Subjekte sich als soziale Wesen verstehen müssen. Wie ist das Verhältnis zwischen Normativität und autonomer Handlung zu beschreiben?
1.1.2 Zirkularität der autonomen Handlung Das Feld des Normativen besteht für Pippin aus der Menge zweckgerichteter Handlungen, die allgemein geteilten Regeln folgen. Aus diesen Handlungen ergeben sich Praktiken, deren Regelhaftigkeit allgemeine Bindung erhalten. Das bedeutet, dass alle Handlungen unter der Prämisse betrachtet werden, ob sie normativen Regeln entsprechen. Pippin versteht diese normativen Regeln analog zur Hegelschen Begriffslogik. Für Hegel sind Begriffe im Allgemeinen Produkt eines sogenannten wahren Denkens, und führen aufgrund ihres wahren Gehalts zu einer Wirklichkeit. Als wahrhafte Begriffe, die dem Denken entspringen, sind sie jeweils Produkt eines dialektischen Prozesses der Bestimmung. Hegel sieht es als Aufgabe der Philosophie, aufzuzeigen, „daß der Begriff […] allein es ist, was Wirklichkeit hat und zwar so, daß er sich diese selbst gibt.“19 Der
19Hegel:
Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 1, S. 29.
14
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Begriff ist also die Veräußerlichung eines Denkens, das sich mit Notwendigkeit aus der inneren Dialektik des Gegebenen entwickelt und so Wirklichkeit erhält. Ebenso wie diese Begriffe zusammenführen, was die menschliche Vernunft in Hegels Sinne hervorbringen kann, versteht Pippin Normen als das, was menschliche praktische Vernunft hervorbringt: „Practical reasoning is a normbound activity […], and the norms in question are not themselves simply “up to me”; they reflect social properties, already widely shared, properties functioning as individually inherited standards for such deliberation.“20 Normative Regeln sind für Pippin Produkt dessen, was gegenwärtig praktiziert wird und ermöglichen den Subjekten wiederum überhaupt erst deren praktisches Tun. Gleichzeitig folgen diese praktischen Regeln der Form der Vernunft, und zwar deshalb, weil sie von so vielen als handlungstreibende Regeln gelebt werden. Was zunächst als anthropologische Annahme erscheint, nämlich Menschen teilten von Natur aus dieselben Prinzipien, die sie dazu veranlassten, dieselben Regeln handlungswirksam werden zu lassen, wird im weiteren Argument Pippins auf die allgemeine Wirkung des Normativen zurückgeführt. Aus dieser Auffassung über normatives Handeln soll für Pippin ein Freiheitsbegriff ersichtlich werden, der die Vorstellung eines freiheitlichen Selbstbewusstseins erhellt. Selbstbewusstsein realisiert sich für Pippin aber nur mithilfe einer Anerkennungsstruktur, deren Medium die gegenseitige Interpretation von Handlungen als veräußertem subjektivem Inhalt ist. Die Angewiesenheit auf den sozialen Kontext und die Reaktion anderer auf die Handlungen des Subjekts sind für Pippin kein Beweis für Heteronomie. „Rather, the latter [the social challenge and response] is the original condition of free agency itself, a social relation to and enacting of my own deeds could not be conceived as free, and so a form of dependence in which independence is achieved, not compromised.“21 Dieser Aussage lässt sich einerseits entnehmen, dass Pippin keinen Widerspruch zwischen Sozialität und der entscheidenden Identitätsrelation sieht, die Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein stiften soll, andererseits, dass die Zielrichtung des Freiheitsbegriffs eine Form von Unabhängigkeit des einzelnen Subjekts von anderen bleibt, die dem Autonomiebegriff anhaftet. Freiheit wird ganz grundlegend mit (auch sozialer) Unabhängigkeit assoziiert: Die Identitätsstiftung zwischen Wille und Tat muss vom einzelnen Subjekt selbst vollzogen werden, damit seine Handlungsfähigkeit als autonom bezeichnet werden kann. Eine gelungene und freie Handlung zeichnet sich laut Pippin dadurch aus, dass andere, die sich im Umfeld der Handelnden befinden, die Handlung als Repräsentation der Intention des Subjekts interpretieren können: „You have not executed an intention successfully unless others attribute to you the deed and intention you attribute to yourself.“22 Das einzelne Subjekt trägt folglich nicht
20Pippin:
Hegel’s Practical Philosophy, S. 149. S. 140 (meine Anm.). 22Ebd., S. 173. 21Ebd.,
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15
allein zum Gelingen seiner eigenen Handlung bei, sondern ist notwendig auf die Reaktion anderer Subjekte über die eigene Handlung angewiesen. In diesem Sinne nimmt Normativität eine ermöglichende Funktion für die Freiheit des Subjekts ein. Aber mehr noch drückt Pippin in dieser These aus, dass sich die hinter einer Tat stehende Intention überhaupt erst durch den Akt der nachträglichen Interpretation konstituiert. Pippin stellt fest, „that the content of the commitment comes to be what it is only as unfolding in a deed and as taken up by others […]“23 Wenn sich der Inhalt der Handlung erst im Resultat also der Bedeutungszuweisung durch den normativen Rahmen herstellt, kann auch das Subjekt Inhalt und Bedeutung der eigenen Handlungen erst nachträglich vollständig begreifen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass das handelnde Subjekt sich seiner selbst und der eigenen Handlungsgründe erst dann gewahr sein kann, wenn seine Äußerungen im sozialen Raum Anerkennung und Spiegelung erfahren. Was Pippin zuvor als Voraussetzung für Handlungsfähigkeit definiert hat, nämlich Wissen über sich selbst zu haben („Self-knowledge“), konstituiert sich, so Pippins Argumentation, erst im Resultat der Handlung. Die Verbindung einer Theorie der Handlung mit dem Selbstbewusstsein mündet also in einer dialektischen Zirkularität. Einerseits definiert sich eine autonome Handlung dadurch, dass in ihr vom handelnden Subjekt eine Identität zwischen Intention und Tat hergestellt wird. Andererseits stellt sich der volle Bedeutungsinhalt sowohl der Intention als auch der Tat erst durch die Reaktion anderer Subjekte im Medium normativer Regeln her. Betrachtet man die Handlung als dialektischen Prozess, ist in ihrer Voraussetzung (Selbstbewusstsein) bereits enthalten, dass diese (Handlung) nur im Sozialen als freie rezipiert werden kann. Die Rezeption der Handlung in der Grammatik der Normativität stellt eine qualitativ neue Stufe der Autonomie des Selbstbewusstseins dar. Sie bestimmt die Handlung auf neue und andere Weise als im Ausgang, dem selbstgesetzten Handlungsimpuls des Einzelnen. Dieser erste Handlungsimpuls lässt sich retrospektiv jedoch nur vermittels der neu gewonnenen Bedeutung durch die normative Interpretation anderer Subjekte durch die Handelnde richtig verstehen. Die normative Einbettung der Handlung ist folglich auf der einen Seite Resultat eines Prozesses, der durch Sozialität bestimmt ist. Auf der anderen Seite ist sie aber auch Bedingung für den Anfang dieses Prozesses – denn Ausgangspunkt des Bestimmungsprozesses einer Handlung ist die Bildung einer Intention, die die Handelnde aber nur vermittels der anschließenden Handlungsinterpretation durch andere nachträglich identifizieren kann. Da Pippins Argument für eine als autonom erfahrbare Handlung sich auf die Annahme stützt, dass eine Form der Entsprechung von Intention und Handlung herstellbar ist, stellt sich die Frage, welche Intention mit welcher Handlung identisch gemacht werden soll, wenn der Sinn beider nicht isoliert voneinander eindeutig identifizierbar ist. Pippin scheint die Ansicht nahe zu legen, dass dann eine autonome Handlung vorliegt, wenn andere Subjekte der Handlung genau diejenige Intention
23Ebd.
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unterstellen, die das Subjekt selbst zuvor gebildet hat. Rückwirkend könne sich das Subjekt dann in seiner Äußerung selbst wiederfinden – vorausgesetzt, die besagte Identität wird vom Handelnden und den interpretierenden Subjekten hergestellt. Aus dieser Identitätsstiftung könnte im Folgenden eine in Pippins Worten freiheitliche Selbstbezugnahme erfolgen. Er lässt allerdings erstens offen, wie die Paradoxie dieser Zirkularität aufzulösen ist, die darin besteht, dass sich die Intention erst in einer normativ aufgefassten Tat ergibt und aber gleichzeitig vom Subjekt als mit der interpretierten Handlung identifiziert werden soll. Fraglich bleibt daher, wie das Subjekt eine Intention als eigene begreifen soll, wenn das hierfür nötige Selbstbewusstsein erst in der rückwirkenden Bindung der Handlungsinterpretation an den Willen entsteht. Indem Pippin die Hegelsche Philosophie vor dem Hintergrund einer pragmatistischen Handlungstheorie untersucht, definiert er das Subjektsein über die Fähigkeit zur autonomen Handlung. Subjekte sind all diejenigen, die handeln können. Und handeln zu können, bedeutet für Pippin, selbstbestimmt handeln zu können. Ausgehend von der Prämisse, der Begriff des Subjekts stütze sich im Wesentlichen auf die Idee von autonomer Handlungsfähigkeit, entwickelt Pippin einen reflexiven Freiheits- und Subjektbegriff. Handlungen konstituieren dabei die Struktur des Selbstbewusstseins, während Handlungsfähigkeit selbst schon eine spezifische Form der Selbstbezugnahme voraussetzt. Wenn Pippins Subjektbegriff durch dieses Verhältnis von Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit geprägt ist, implizieren seine Ausführungen eine Paradoxie des dialektischen Zirkels: Die Fähigkeit zu Selbstbewusstsein muss vorausgesetzt werden, um das Ergebnis einer gelungenen Handlung, nämlich den freiheitlichen Selbstbezug über den Umweg einer Handlung erklärbar zu machen, durch den allerdings Selbstbewusstsein erst ermöglicht wird. Die Fähigkeit eines reflexiven Rückbezugs von Willensinhalten kann nur auf der Ebene eines bereits entwickelten Selbstbewusstseins operieren, und doch hält Pippin an der Ansicht fest, jenes Selbstbewusstsein entwickele sich erst im Vollzug der Handlung. Diese Handlungsfähigkeit, so folgt Pippin der Hegelschen Sittlichkeitstheorie, kann nicht allein vom individuellen Subjekt abhängen, sondern bedarf notwendigerweise des sozialen Kontexts, der die Handlung im Geflecht normativer Regeln maßgeblich mitbestimmt. Die Anerkennung einer Handlung als Ausdruck subjektiven Inhalts, der mit der Bedeutungszuweisung der Handlung übereinstimmt, kann für Pippin nur für diejenigen Handlungen erfolgen, die sich mit den Mitteln des kontingenten normativen Bedeutungssystems erfassen lassen. Jenes normative System fasst Pippin als Produkt praktischer Vernunft auf, die sich in den spezifischen Praktiken einer Gesellschaft Ausdruck verschafft. Ob sich durch eine Handlung die für die Freiheit des Subjekts entscheidende Relation des sichin-seiner-Äußerung-Wiederfindens herstellen lässt, hängt somit nicht nur von dem bereits erworbenen Selbstbezug ab, sondern auch von der Form der Handlung, die mit dem Praktizierten und zur Norm Gewordenen kompatibel sein muss. Die Paradoxie dieser Zirkularität scheint ein Autonomiekonzept zur Folge zur haben, in dem nur frei ist und folglich nur Subjekt sein kann, wer gemäß der praktischen Vernunft handelt. Gemäß der praktischen Vernunft zu handeln bedeutet für Pippin
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nichts anderes, als sich an die allgemeinen Regeln zu halten, die in der Gesellschaft praktiziert werden. Diese Deutungshypothese soll im Folgenden weiter überprüft werden.
1.2 Sozialität und Freiheit des Subjekts 1.2.1 Befreiung und die Möglichkeiten emanzipativer Gestaltung von Normen Da Pippin Subjektsein vor allem über dessen autonome Handlungsfähigkeit definiert, wird in diesem Abschnitt rekonstruiert, ob sein Konzept der Freiheit zur Erklärung emanzipativer Praxis sozial konstituierter Subjekte beitragen kann. Wenn er selbst eine Theorie des Subjekts als eine Theorie freiheitlicher Handlungsfähigkeit auffasst, versprechen seine Ausführungen einen Freiheitsbegriff zu beschreiben, der Sozialität und eine (vielleicht radikal) transformierende Weise des Selbst- und Weltbezugs in Verbindung bringen kann. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund sein Freiheitsbegriff zusammenfassen? Freiheit behandelt Pippin als ein Verhältnis des Subjekts zu sich selbst, das sich in Handlungen entfaltet. Als Selbstverhältnis verweist Freiheit damit auf die Fähigkeit des Selbstbewusstseins, das für Pippin in einem Vermittlungsverhältnis zu anderen Subjekten steht. Er expliziert hingegen nicht, wie genau das reflexive Verhältnis des Selbstbewusstseins gestaltet ist.24 Da das Selbstverhältnis des sich-in-der-Äußerung-Wiederfindens nur durch Sozialität respektive Normativität ermöglicht wird, ist der Begriff der Freiheit für Pippin aufs Engste mit der gesellschaftlichen Form verbunden, die ein freiheitliches Miteinander erst ermöglicht. Handlungen begreift Pippin als das Medium, durch das Subjekte individuelle Selbstbestimmung erfahren können. Ein freiheitliches inner- und intersubjektives Verhältnis realisiert sich durch normative Regelhaftigkeit, die ihrerseits durch sogenannte praktische Vernunft bestimmt ist. Gelingt es dem Subjekt, in seinen Handlungsäußerungen ein freiheitliches Selbstverhältnis einzugehen, ist dies laut Pippin auf deren rationale Form zurückzuführen. Praktische Vernunft ist für ihn wiederum durch das Gelingen praktischer Tätigkeiten definiert. Jenes Gelingen hängt von der Reaktion der Subjekte auf diese Tätigkeiten ab. Eine freie Gesellschaft „is defined as a rational self- and other-relation, and thereby, because rational or universal, counts as being free, the product of reason and not a matter of being pushed and pulled by contingent desires or external pressure, […]“25
24Das
ist verwunderlich, denn die Weise, wie das Subjekt auf sich selbst Bezug nehmen kann, liegt keineswegs auf der Hand. Es ist auch in der Hegelrezeption umstritten, ob das Subjekt sich auf sich selbst beispielsweise als Objekt oder als spezielles Subjekt-Objekt bezieht. Ob und wenn ja welche Spaltung eines Ichs anzunehmen ist – darauf geht Pippin in dieser Auseinandersetzung mit Hegels Praktischer Philosophie nicht ein. 25Pippin: Hegel’s Practical Philosophy, S. 187.
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Zu welchem Grad die Gesellschaft rationale Bezugnahmen zwischen Menschen zulässt, entscheidet über den Grad der Freiheit, den die Subjekte in ihr erleben können. In beiden Dimensionen des Sozialen (die Sphäre der intersubjektiven Handlungsinterpretationen und der normativ strukturierten Gesellschaft, die jene Handlungsinterpretationen beeinflusst) muss für Pippin ein größtmögliches Maß an Rationalität verwirklich sein, damit Freiheit verwirklicht ist. Was aber bedeutet es, dass beide Dimensionen des Sozialen durch praktische Vernunft organisiert sind? Weil das Subjekt laut Pippin dann ein freies Selbstverhältnis eingeht, wenn sein soziales Umfeld seine Handlungen auf diejenigen Handlungsgründe zurückführt, die das Subjekt sich selbst zugeschrieben hat, und weil der Umgang zwischen Subjekten qua Anerkennung von Handlungen durch Normativität strukturiert ist, bestimmt die Konformität des Handlungsgrunds mit normativen Regeln dessen Rationalität. ‚Rational‘ und ‚Universal‘ behandelt Pippin als synonyme Begriffe und schlussendlich ist eine Handlung vernünftig, wenn sie den allgemeinen universell geteilten normativen Regeln entspricht. In der Vernunftmäßigkeit von Handlungen in diesem Sinne liegt für Pippin Freiheit: „Leading such a life, acting in a rational form is what is to count as freely leading a life, rather than responding to and managing contingently acquired drives and desires.“26 Die Rationalität, Nachvollziehbarkeit und Universalität der Handlungsintention entscheidet über den Grad an Freiheit, der durch diese Handlung erlebt werden kann. Anders gesagt: Wenn ein Subjekt eine möglichst allgemein anerkannte Handlung vollzieht, erfährt es sich selbst laut Pippins Darlegungen als frei handelndes Wesen. Ist es in einer Gesellschaft zum Beispiel gängige Praxis, Sklaven zu halten und sich ihnen gegenüber brutal zu verhalten, wird jemandem Anerkennung zu Teil, der seinen Sklaven schlägt. Die Norm innerhalb der Sklavenhalterklasse ist es, Sklaven aus Gründen der Autorität zu schlagen und zu erniedrigen. Für jene Erniedrigungspraxis kann daher ohne Probleme ein Grund angegeben werden, der von anderen Sklavenhaltern als legitimer Grund nachvollzogen wird. Demjenigen, der seinen Sklaven schlägt, ist es auf diese Weise möglich, seine Äußerung als eigene aufzufassen, denn sie wird von denjenigen als legitime Äußerung aufgefasst und auf den Handlungsgrund zurückgeführt, den auch der Sklavenhalter intendierte. Die Sklavenhalter erkennen sich untereinander als vernünftige Teilnehmer der Gesellschaft an, also als Personen und Subjekte. Dass der Sklavenhalter von seinem Sklaven nicht als vernünftig oder der Anerkennung würdig betrachtet wird und umgekehrt, wirkt sich nicht negativ auf das freie Selbstverhältnis aus, das dem Sklavenhalter durch seine brutale Handlung ermöglicht wird. Auf den Sklavenhalter trifft zu, was unter Pippins Beschreibung auf ein freies Subjekt zutrifft: „[…] one is a free individual only as “a result,” an element of a collectively achieved mindedness; or in being taken to be one in a certain
26Ebd.,
S. 192.
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way.“27 Wird ein Subjekt als freies Individuum behandelt und erfährt so eine Subjektivierung als „sittliches Wesen“, genügt ein Verweis auf soziale Rollen, um praktisch vernünftige und nachvollziehbare Handlungsgründe anzugeben: One deliberates, as he [Hegel] says, “qua ethical being” (sittliches Wesen). This means that considerations like “because I am her father”, or “because that is what a good businessman does,” or “you cannot, because that is my property,” or “because I am a citizen” simply are practical reasons.28
Wenn also brutales Verhalten gegenüber Sklaven für einen Teil der Menschen als rationaler Handlungsgrund nachvollziehbar ist, und Sklavenhalter sich untereinander als anerkennungswürdige Wesen betrachten, dann entstehen auf diese Weise freie Subjekte in einer Gesellschaft, die einem Teil der Menschen jene Sphäre der Freiheit eröffnet. Dieses Beispiel zeigt die Konsequenzen eines Freiheitsbegriffs auf, der nicht auf die (soziale) Bildung der Bedingungen eingeht, die dem Subjekt eine freiheitsfähige Position in der Gesellschaft ermöglichen. Wenn die Entstehung der Subjekte selbst und deren emanzipatives Potential nicht betrachtet wird, führt die Verschwiegenheit darüber zu einer Einengung der Menge an Subjekten, die in diesem Sinne frei sein könnten. Diejenigen aber, die sich von einem Herrschaftsregime emanzipieren wollten und deren Status als freiheitliche Subjekte nicht zuerkannt wird, verfügten in dieser Sichtweise nicht über die nötigen Instrumente. Pippin selbst führt an, dass in dieser Freiheits- und Subjektvorstellung das Problem objektiver Rationalität aufkommt. Wird praktische Vernunft im oben genannten Sinn verstanden, stellt sich auch für Pippin die Frage, „about why justifications offered like “because I am a member of the National Socialist party,” or “you cannot have that job because you are a woman” should not count within a community at a time as effective justification […].“29 Handlungsgründe für Misshandlungen von Menschen wie „weil ich ein Sklavenhalter bin“, müssen nicht als vernünftig gelten, nur weil sie angeführt werden. Anders formuliert: Nur weil sich bestimmte praktische Regeln herausgebildet haben und das Leben der in der Gesellschaft lebenden Menschen bestimmen, erscheinen diese Regeln noch lange nicht allen Menschen vernünftig und wiederholenswert. Pippin formuliert diesen Einwand, den er als „problem of objective rationality and its developmental justification“30 bezeichnet, so: „Someone might obviously complain that no consideration of the genesis of a historical practice could ever be relevant to its rationality or normative sufficiency in general;[…]“31 Gleichzeitig hat Pippin mit Rekurs auf Hegel nicht viel zur Verteidigung gegen diesen Einwand vorzu-
27Ebd.,
S. 198. S. 274 (meine Anm.). 29Ebd., S. 275. 30Ebd. 31Ebd. 28Ebd.,
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bringen. Wenn die Realität der praktizierten Normen ein Produkt des sogenannten kollektiven Geistes ist, historisch kontingent und der Entwicklung der Subjekte der Gesellschaft entsprechend, dann müssen, so Pippin, auch die Vernunft und ihre Realität in praktizierten Normen als „institution- and time-bound considerations“32 behandelt werden. So verstanden ist die theoretische Erfassung der Freiheitsfähigkeit von Subjekten einer Gesellschaft schlicht das Abbild des Status der Freiheit, der sich historisch entwickelt hat, und kann nicht an einer übergeordneten Idee von Gerechtigkeit oder Vernünftigkeit gemessen werden. So kommt Pippin zu dem Schluss: […] Hegel’s examples are all substantive and contentful: I have a right to expect fulfillment of that contract because we both signed it; I may do that because I am your father, and so forth. Such are what the “actuality” of the norm of freedom (and its required mutuality) have turned out to be, and they have that status (truly functioning as reasons) not as the result of a philosophical deduction but as the result of, one has to say with breathtaking sweep, the historical experience of, the self-education of, spirit.33
Dass bestimmte uns rückwirkend als nicht gerechtfertigt erscheinende Handlungsgründe einst praktisch bindende Kraft innehatten, liegt laut Pippins Argument schlichtweg in der Tatsache begründet, dass sie als solche in einer bestimmten historischen Konstellation als praktisch vernünftig gegolten haben. Und dass die Rechtfertigung der Misshandlung von Menschen in der Rolle des Sklavenhalters in aktuellen gesellschaftlichen Kontexten Europas nicht mehr als gerechtfertigt gilt, führt Pippin auf einen „obvious fact about practical norms“ zurück, nämlich: „They change.“34 Damit wirft Pippin jedoch zuallererst die Frage auf, über die eine Theorie der Freiheit Aufschluss geben sollte: Wie kann diese Veränderung gesellschaftlicher Realitäten mit der Freiheit der Subjekte in Verbindung gebracht werden? Pippins Beschreibung legt demgegenüber eher ein Verständnis praktischer Vernunft nahe, das einem evolutionären Prozess gleicht. Die Gebundenheit der Subjekte an die normative praktische Vernunft scheint in Pippins Theorie der Freiheit die Subjekte vielmehr daran zu binden, die jeweiligen gesellschaftlichen Handlungsregeln zu affirmieren. Mit dem hier rekonstruierten Freiheitskonzept Pippins lässt sich nicht erklären, wie Subjekte sich anders verhalten können als die bestehenden Normen zu wiederholen, und wie die historische Entwicklung von Normen überhaupt vorangetrieben wird. Ziel meiner Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freiheit ist es jedoch, ihn als Prozessualität auffassen zu können, die weder durch Zufall noch durch Naturgesetzmäßigkeit bestimmt ist. Diese Perspektive erhebt den Anspruch, auch gesellschaftliche historische Prozesse als Prozesse beschreiben zu können, die durch die Praktiken der Subjekte vorangetrieben und auch zu einem bestimmten Grad gezielt anders
32Ebd.,
S. 279. (meine Hervorh.). 34Ebd., S. 276. 33Ebd.
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vorangetrieben werden können. Da in Pippins Vorstellung nur bereits autorisierte Subjekte als handlungsfähige begriffen werden, ist eine durch Subjekte begründete Transformation des sozialen Gefüges und dessen Normsystems logisch ausgeschlossen. Sobald Normstrukturen von Subjekten in ihren Handlungen überschritten werden, wird ihnen die konstitutive Anerkennung nicht mehr zuteil und ihr Status als Subjekt wird infrage gestellt. Das hier dargestellte Verständnis der Sozialität freiheitlicher Handlungsfähigkeit scheint einen totalitären Subjektbegriff nach sich zu ziehen, der die Möglichkeit einer auf diese Freiheit zurückgehende Transformation ausschließt. Ein Teil des Problems der Pippinschen Sicht auf autonome Handlungsfähigkeit scheint darin zu liegen, dass hierin nicht aufgeklärt wird, wie Menschen zu Subjekten gebildet werden, die sich und andere als Subjekte betrachten und daher anerkennen. Das Beispiel der Sklavenhaltergesellschaft zeigt auf, dass es von Pippin implizit angenommener Bedingungen bedarf, um Subjekt sein zu können. Immer schon eingebunden ins System normativer Anerkennung sind die von Pippin beschriebenen Subjekte in ihrer Freiheit dazu gezwungen, die bestehenden normativen Regeln so gut wie möglich zu wiederholen. Nur dann sind die Bedingungen gegeben, eine Identitätsrelation zwischen Handlung und Intention herzustellen, was für ihn konstitutiv für die Freiheit und Anerkennung des Subjekts ist. Streben Menschen an, eine Position in der Welt als freiheitliches Subjekt einzunehmen, müssen sie Handlungen ausführen, die mit den bestehenden Praktiken kompatibel und ihnen so ähnlich wie möglich sind. Weil Pippin Freiheit anhand der individuellen Handlungsfähigkeit gebildeter Subjekte betrachtet, bleibt sein Begriff hinsichtlich der Erklärung emanzipativer Praktiken unspezifisch. Wenn jene Praktiken beispielsweise auf eine Transformation gerade der normativen Regeln abzielen, die jene Handlungsfähigkeit erst ermöglicht, ist nicht klar, auf welcher Basis Subjekte hierzu befähigt sein sollen. Würde der Begriff der Freiheit demgegenüber ausgehend von der Perspektive auf den Prozess der Subjektivierung entfaltet, wäre Freiheit implizit selbst schon als Prozess der Überschreitung aufgefasst. Diesem Verdacht soll jedoch noch anhand der Frage nach der sozialen Konstituiertheit des Pippinschen Subjekts nachgegangen werden.
1.2.2 Soziale Konstituiertheit des Subjekts Handlungsfähigkeit steht im Zentrum dessen, was Subjektsein für Pippin definiert. Die wesentlichen Elemente der Bedeutung des Subjektbegriffs sind für ihn Freiheit, Selbstbewusstsein und Normativität. Vor dem Hintergrund der Frage dieses ersten Kapitels, wie die soziale Konstituiertheit von Subjekten theoretisch gefasst werden kann, wird im Folgenden zusammengetragen, ob und wie Pippin hierauf eine Antwort gibt. Es sollte dabei zwischen der Vorstellung eines sozial konstituierten Subjekts und der Idee differenziert werden können, dass Subjekte auf irgendeine, für deren Selbstverhältnis nicht elementare Weise, durch das Soziale betroffen oder beeinflusst sind.
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Handlungsfähigkeit und Selbstbewusstsein sind in Pippins Hegelinterpretation diejenigen Elemente, die das Subjekt definitorisch kennzeichnen. Der Autonomiebegriff ist mit dem der Handlung so eng verknüpft, sodass die Bedeutung einer Handlung für Pippin gar nicht verstanden werden kann, wenn jene nicht der Form der Autonomie entspricht, und wiederum die Bedeutung des Subjektbegriffs sich nicht ohne diese Handlungsfähigkeit beschreiben lässt. Autonomie ist in einer Handlung laut Pippin dann realisiert, wenn das Subjekt seine Intention in ihr verwirklicht sieht. Weil eine Handlung dadurch gekennzeichnet ist, dass ein Subjekt eine Tat mit einer bestimmten Absicht ausführt und diese Absicht in der Handlungsäußerung als realisiert begriffen werden muss, ist für das handelnde Subjekt reflexive Denktätigkeit unabdingbar. Praktische Abwägungen, die einen intentionalen Handlungsgrund hervorbringen können, bedürfen jedoch einer spezifischen Selbstrelation, die Pippin als Bedingung für Handlungsfähigkeit bestimmt. Nur, wenn das Subjekt über Selbstbewusstsein verfügt und sich aufgrund dessen Intentionen selbst zuordnen kann, kann die von ihm als erforderlich erachtete Identität von Tat und Intention hergestellt werden. Entscheidend für dieses Selbstverhältnis – und dies ist der für die soziale Konstituiertheit bedeutsame Aspekt – ist das Verhältnis des Subjekts zu seiner sozialen Umwelt: „[…] it is this selfrelation that cannot be understood apart from social relations; my relation to myself is mediated by my relation to others.“35 Das Subjekt geht nur durch die Beziehung zu anderen eine Beziehung zu sich selbst ein. Diese Beziehung zu anderen versteht Pippin wiederum aber als die gegenseitige Bezugnahme auf Handlungen. Die notwendige Anerkennungsbeziehung zwischen Subjekten begreift er ausschließlich im Rahmen der normativen Anerkennung von Handlungen. Obwohl Pippin diese Relationalität des Subjekts zum sozialen Kontext zunächst intersubjektiv zu verstehen scheint (zwei Subjekte betrachten sich gegenseitig vermittels ihrer Äußerungen), greift er die in Hegels Theorie ebenfalls enthaltene Dimension des Sittlichen in der Form des Normativen auf und bettet diese Analyse in eine Theorie ein, die keine ausschließlich individuelle Perspektive auf Subjekte einnimmt: Die Gesetzmäßigkeit normativer Regeln nämlich ist es, die die Subjekte in ihrer gegenseitigen Anerkennung von Handlungen bestimmt. Pippin beschreibt zwei Dimensionen der Wirkung anderer für das Subjekt: intersubjektive und normative Sozialität. Eine Weise, wie das Subjekt auf den sozialen Kontext angewiesen ist, ist die intersubjektive Interpretation der Handlungen. Eine weitere Form der Sozialität des Subjekts scheint hingegen fundamentaler als die intersubjektive Handlungsinterpretation zu sein. Diese wird durch die normative Ordnung der Beziehungen aller Subjekte untereinander erfasst, die die einzelnen Subjekte immer schon bestimmt. Wenn Pippin darauf verweist, dass Subjekte in ein Geflecht sozialer Rollen eingebunden sind, für die sie einerseits Verantwortung übernehmen und die andererseits, so folgt er Hegel, als Bedingung für Intentionalität gelten, versteht er Normativität als primäre, das
35Ebd.,
S. 149.
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23
Subjekt ganz fundamental bestimmende Wirkungsweise des Sozialen: „For Hegel […] the practical roles are the prior conditions for any reflective content, and this not as a matter-of-fact limitation, but as expressing the objective normative structure of modern ethical life itself.“36 Das Subjekt unterliegt daher der normativen Regelhaftigkeit gesellschaftlicher Praktiken, die ihm reflexive Denktätigkeit überhaupt erst ermöglichen soll, so die These. Wie lässt sich aber diese grundlegende Abhängigkeit des Subjekts vom Sozialen begründen? Oder anders: Warum unterwerfen Subjekte sich sozusagen freiwillig unter die normative Gesetzlichkeit des Sozialen, um Subjekte sein zu können? In der Erklärung dieser basalen Form der Sozialität des Subjekts geht Pippin auf Hegels Begriff des absoluten Geistes zurück, den er im Lichte der Realität von Normensystemen für seine Argumentation nutzt. Ausgehend von der Frage, warum Subjekte der Gesetzmäßigkeit von Normen untergeordnet sind, die sie auf den ersten Blick nicht selbst bestimmt haben, stellt Pippin dar, wodurch geltende Normen bindende Kraft für einzelne Subjekte erhalten.37 Begründet sieht Pippin diese bindende Kraft der Normen in der Form ihrer Rationalität, die sie deshalb annehmen, weil Normen als Ausdruck absoluten Geistes subjektiv hervorgebracht sind. Er resümiert: „This means that spirit is a self-imposed norm, a self-legislated realm that we institute and sustain, that exists only by being instituted and sustained.“38 Das Subjekt hat Teil an dieser kollektiven Form des Geistes, weil es ihm einerseits ausgesetzt und untergeordnet ist, und ihn andererseits auch selbst mit hervorbringt. Qua der Äußerungen einzelner Subjekte, die der Form dieser Normativität entsprechen und sich ihrer Gesetzmäßigkeit unterordnen lassen, erhält jene kollektive Subjektivität ihre Wirklichkeit. Die einzelnen Subjekte schließen sich der Produktion dieser Wirklichkeit an, weil jene Normen der Form der Rationalität entsprechen, der die Subjekte, so Pippin, auf besondere Weise verantwortet sind. Normen realisieren sich einzig dadurch, „that they provide a subject with a reason to act.“39 Sie liefern dann einen Handlungsgrund, wenn sie vernünftig sind. Um zu verstehen, wie das Subjekt als Subjekt durch Normativität konstituiert ist, muss nachvollzogen werden, in welcher Hinsicht sich das Subjekt als Handlungsfähiges der normativen Wirklichkeit unterordnet. Im vorherigen Abschnitt (1.2.1) wurde beschrieben, dass Normativität Handlungsgründe hervorbringt und auf diese Weise die Freiheit der Subjekte bestimmt. Warum aber befinden sich Subjekte in diesem Verhältnis?
36Ebd.,
S. 86. interpretiert Hegel so: “[he] tries then to show, the offering and accepting of reasons requires eventually a mutuality, some claim to genuine authority and so universal acceptability […]”, Ebd., S. 111. Auch in Die Verwirklichung der Freiheit legt Pippin dar, wie die Vernunftmäßigkeit von praktischen Handlungsregeln auf die allgemeine Angewiesenheit des Subjekts auf die Gesellschaft zurückzuführen ist. Er resümiert, dass „Hegels Theorie der Freiheit eine Theorie des Geistes“ sei. In: ebd., S. 70. 38Ebd., S. 112. 39Ebd., S. 115. 37Pippin
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Es lassen sich folglich zwei Ebenen der Sozialität auseinanderhalten: Erstens beschreibt Pippin Sozialität als Wirklichkeit bestehend aus den Normen, die der Geist hervorgebracht hat und ohne die das Subjekt zur Reflexion nicht fähig wäre. Zweitens ergibt sich durch intentionale Handlungen und deren gegenseitige Rezeption eine Sozialität. Das Verhältnis dieser beiden lässt sich als hierarchisches und wechselseitiges beschreiben. Zwar beschreibt Pippin es so, als sei das Subjekt primär durch die Wirklichkeit der Normen bestimmt, die sich in den Handlungen manifestieren („Individuals are not formulating intentions […] in some solipsistic way, and they are clearly circumscribed in such formulations by a variety of social conventions […].“40). Die handlungsbindende Kraft der Normen führt er aber zurück auf die intersubjektive Anerkennung vermittels Handlungsinterpretationen. In der Handlung besteht die soziale Dimension in einer Anerkennungsrelation innerhalb des einzelnen Subjekts sowie zwischen den Subjekten untereinander. Sowohl der Handelnde selbst als auch die anderen Subjekte interpretieren die Äußerung, sobald sie eine interpretationswürdige Form erhält. Wenn es gelingt, dass andere dieselbe Intention identifizieren, die das handelnde Subjekt selbst im Blick hat, liegt eine freie, autonome Handlung vor. In diesem Fall konnte diese Handlung von allen als Realisierung von normativen, vernunftmäßigen Gesetzen anerkannt werden. Möglichkeitsbedingung sowie Wirklichkeit der Autonomie des Subjekts sieht Pippin folglich in der Angewiesenheit des Subjekts auf Anerkennung, die durch eine normative Form bestimmt ist. Indem Pippin auf die Möglichkeit eines entfremdeten Selbstverhältnisses in einer Handlung verweist, werden die komplizierten Verhältnisse zwischen Normativität und Anerkennung und zwischen Selbstbewusstsein und autonomer Handlungsfähigkeit konkretisiert. Er schildert eine Entfremdung, die aufgrund einer Asymmetrie der Handlungsrezeption entstehen kann, folgendermaßen: There can even be cases of such alienation where I am consciously executing an intention under some act-description and find surprisingly that, given what I am and am not willing to do, or given the reaction of others to the deed and any proffered justification, I actually do not understand just what it is I am doing or exactly why I am undertaking it.41
Die Situation, die Pippin hier beschreibt ist Folgende: Die Handelnde führt ihre Tat mit einer gewissen Intention aus, von der sie erwartet, dass andere sie als Grund der Handlungsäußerung interpretieren. In der anschließenden Rezeption wird jedoch eine andere Absicht unterstellt. Weil aber der ‚wahre‘ Gehalt der Intention erst in der Äußerung und deren Interpretation durch andere entsteht, versteht das handelnde Subjekt in diesem Fall seine eigene Handlung selbst nicht mehr. Pippins Beschreibung einer entfremdeten Handlung behandelt aber das handelnde Subjekt so, als sei es zunächst auch ohne die Handlungsinterpretation in der Lage, reflexiv auf sich Bezug zu nehmen, Handlungsintentionen
40Ebd., 41Ebd.,
S. 169. S. 131 (meine Hervorh.).
1.2 Sozialität und Freiheit des Subjekts
25
zu entwickeln. Reflexives Selbstbewusstsein wird vorausgesetzt und das selbstbewusste Subjekt antizipiert sozusagen eine bestimmte Handlungsinterpretation. In dieser Antizipation verwendet es bereits erlernte und erworbene normative Muster. Ein gewisser Grad an freiem Selbstverhältnis scheint also schon vor der Handlungsinterpretation realisiert zu sein. Freiheit entfaltete sich dann nicht mehr allein in den einzelnen Handlungen, sondern bereits im Selbstbewusstsein. Die Anerkennungsbeziehung, die Subjekte vermittels ihrer gegenseitigen Interpretation von Handlungen eingehen, erweist sich vor diesem Hintergrund eher als Effekt einer fundamentalen Sozialität des Subjekts. Hieraus lässt sich einerseits entnehmen, dass reflexives Selbstbewusstsein reflexiver Handlungsfähigkeit vorausgesetzt ist und parallel dazu Normativität, die die Art der Selbstbezugnahme bestimmt, der sozialen Anerkennung in Handlungen vorauszugehen scheint. Form und Inhalt normativer Regeln fließen bereits in die Selbstbetrachtung des Subjekts als Handelndem ein. Wenn Pippin von einer bewussten Handlung spricht, die entfremdet sein kann, wenn in ihrer retrospektiven Interpretation nicht von allen Beteiligten eine Identitätsrelation zwischen Handlung und Intention hergestellt werden konnte, dann wird das erforderliche reflexive Selbstbewusstsein für Handlungsfähigkeit durch eine grundlegendere Form der Sozialität desselben erworben. Autonomer Handlungsfähigkeit ist dann eine Geschichte des Erwerbs eines bestimmten Selbstverhältnisses vorausgegangen, die diese erst ermöglicht. Die soziale Konstituiertheit des Subjekts lässt sich demnach eher mithilfe Pippins Begriff der Normativität nachvollziehen. Die Anerkennung in der Handlungspraxis der Subjekte scheint dann vielmehr für die Realisierung von individueller Freiheit relevant, nicht aber zur Erklärung der konstitutiven Sozialität der Subjekte beizutragen. Diese Deutung der Sozialität des Subjekts steht der in Abschnitt 1.1.1 vorgenommenen Rekonstruktion entgegen, dergemäß das praktische Anerkennungsverhältnis die Konstituiertheit des Subjekts durch das Soziale bestimmt. Diese Widersprüchlichkeit scheint mit einer Erklärungslücke in der wechselseitigen Verbindung von Normativität und Selbstbewusstsein zusammen zu hängen. Wenn Normativität, die, wie Pippin sagt, in Form von Handlungsgründen existiert und das Subjektsein von Subjekten begründen soll, Subjektsein aber gleichbedeutend ist mit Freisein, stellen sich folgende Fragen: Wie bewirkt Normativität die Eingebundenheit des Subjekts in das Normsystem? Wodurch ist das Subjekt motiviert, seinen Äußerungen eine normative und daher vernunftmäßige Form zu verleihen? Warum ist eine Handlung, in der das Subjekt sich ohne Zutun der Spiegelung und Anerkennung durch andere selbst erkennen kann, nicht befriedigend? Und auf welche Form von Streben antwortet jene Befriedigung? Um diese Erklärungslücke in der Begründung zu schließen, wie Subjekte sich die Form der Normen in einem Prozess selbstbestimmt aneignen können, formuliert Pippin eine grundlegende Prämisse, die er Hegels Theorie entnimmt. Diese besagt, das Subjekt strebe von Beginn an nach Freiheit: „In Hegel’s terms, each is striving to be free under conditions that will not allow the realization of freedom, given this limitation, and so each can be said to
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implicitly striving for a form of mutual recognition.“42 Aus einem Streben nach Freiheit folge das Streben nach sozialer Anerkennung. Diese Prämisse scheint für Pippin als Antwort auszureichen, das motivierende Moment des Subjekts offenzulegen, sich der Vernunftmäßigkeit der Normen verantwortet zu fühlen. Ein fundamentales Streben nach Freiheit bewirkt demgemäß, dass Subjekte sich der Gesetzmäßigkeit der Normativität fügen und diese als Konsequenz ihre Handlungen strukturieren lassen. Weil Subjekte frei sein wollen, und für das Freisein auf die anderen angewiesen sind, eignen sie sich die normativen Regeln als Handlungsgründe an – so scheint hier die Argumentation zu sein. Es erhärtet sich der in den Abschnitten 1.1.2 und 1.2.1 geäußerte Verdacht, dass Freisein als Folge daraus nur darin besteht, die normativen Regeln zu befolgen, nicht aber den Prozess der retrospektiven selbstbestimmten Aneignung jener Regeln zu erklären. Die Betrachtung dessen, wie Pippin die Sozialität der Subjekte anhand der Begriffe von Normativität und Anerkennung skizziert, scheint sich in Paradoxa zu verwickeln, wenn es darum geht, die Sozialität des Subjekts mit dessen Freiheit zusammen zu denken. Zwar ist Pippins Anliegen, die autonome Handlungsfähigkeit vor dem Hintergrund der Sozialität des Subjekts weniger paradox verstehen zu können,43 vermag aber mindestens zwei Paradoxien nicht zu lösen oder für ein Verständnis der sozialen Konstituiertheit des Subjekts produktiv einzusetzen: Erstens ist das Verhältnis zwischen Selbstbewusstsein und Handlungsfähigkeit paradox, denn Selbstbewusstsein ist Bedingung für Handlungsfähigkeit, gleichzeitig sieht Pippin aber erst in Handlungsfähigkeit vermittels Normativität und Anerkennung eine Reflexivität gewährleistet. Zweitens ist das Verhältnis von Normativität und Anerkennung in Bezug auf deren Wirkung für das Subjekt paradox. Normativität geht der gegenseitigen Rezeption von Handlungen (= Anerkennung) voraus und ermöglicht reflexives Selbstbewusstsein. Aber laut Pippin besteht Normativität ausschließlich in der Form von Handlungsgründen, die vermittels der Handlungsinterpretationen konstituiert werden. Beide Paradoxien scheinen die Frage nach der Genese des Subjekts aufzuwerfen, die Pippin jedoch nicht stellt. Eine Betrachtung dessen, wie das Subjekt in seiner Geschichte vermittels seiner konstitutiven Sozialität die Voraussetzungen überhaupt erst entwickelt, die es zu einer reflexiven Freiheit und einem reflexiven Selbstbewusstsein befähigen, begegnet der paradoxen Wechselwirkung zwischen Subjekt und Sozialität mit einer Erklärung der Herkunft des Subjekts. Mit dem Verweis auf ein fundamentales Streben nach Freiheit scheint Pippin die Notwendigkeit einer das Verhältnis von Sozialität und Subjekt begründenden Dynamik implizit anzunehmen. Indes vermag das Streben nach Freiheit, wie Pippin es ins Feld führt, das Verhältnis von Sozialität und Subjekt nicht selbst schon ausreichend zu begründen respektive das Werden des Subjekts zum Subjekt adäquat zu beschreiben. Ein Subjekt, das eine Intention bilden und artikulieren kann, hat bereits einen
42Ebd., 43Vgl.
S. 202. ebd., S. 64.
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Prozess der Bildung durchlaufen und eine Form des Selbstbewusstseins schon in Abhängigkeit von dem sozialen Umfeld in Form von Normen gebildet – das legen auch Pippins Ausführungen über die Wirkung des Normativen auf die Handlungsfähigkeit des Subjekt nahe. Die Willensstruktur, die Pippin einer autonomen Handlung voraussetzt, ist nur vor dem Hintergrund eines bereits gebildeten Subjekts verständlich. Ohne eine Erklärung der treibenden Momente für das Subjekt, psychische Strukturen auszubilden, die die Art und Weise erklären, wie es sich in die Normhaftigkeit sozialen Lebens einfügt, bleibt die soziale Konstituiertheit des Pippinschen Subjekts so paradox, dass sie mehr Fragen aufwirft als Erklärungen abgeben kann. Zwar beschreibt Pippin Freiheit als eine Aneignungsrelation des Normativen, die ohne die konstitutive Anerkennung durch andere im Medium der Handlungen nicht zu denken ist, muss darin aber ein selbstbewusstes Subjekt voraussetzen, dessen Sozialität wiederum nicht ohne eine Perspektive der Bildung dieses Subjekts hinreichend zu erklären ist. Diese Perspektive findet sich in den Ausführungen in Hegel’s Practical Philosophy nicht. Bindet man jedoch die Geschichte der Subjektivierung in eine Theorie des Subjekts und der Freiheit ein, lassen sich hieraus, so die Hoffnung, Schlüsse darüber ziehen, wie das Subjekt als sozial Gebildetes, aber gleichsam (selbst-) bildendes Wesen verstanden werden kann. Die Auseinandersetzung mit Pippins Subjekt- und Freiheittheorie zeigt jedoch auf, dass die Perspektive individueller Freiheit ausgehend von dem Handlungsbegriff weder ein transformatives Selbstund Weltverhältnis des Subjekts beschreiben noch ausreichend Aufschluss über die soziale Konstituiertheit von Subjekten geben kann. Die Zirkelhaftigkeit des Pippinschen Freiheitsbegriffs kann das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst und der Welt nicht anders als affirmativ und wiederholend verständlich machen und ist aus der methodischen Herangehensweise herzuleiten, von Prozessen der Subjektbildung abzusehen. Daher soll im Folgenden Judith Butlers Theorie der Subjektivierung in den Blick genommen werden. Diese beschreibt das Subjekt explizit genealogisch.
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Judith Butler: Subjektbildung aus dem Leben
„»Subjektivation« bezeichnet den Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung.“1 Judith Butler geht es in ihrer Subjektanalyse in Psyche der Macht darum, genau diesen Prozess der Subjektivation zu beschreiben. Ihre Herangehensweise unterscheidet sich damit grundlegend von der Pippins, wenn sie von vornherein das Subjekt in seinem Werden betrachtet. Zwar ist auch ihr Vorhaben, die Geschichte der Subjektbildung zu erzählen, in gewisser Hinsicht zirkulär: Der Subjektivierungsprozess ist an eine Narration geknüpft, die auf einen Anfang dieser Geschichte verweist und gleichzeitig eben diesem Anfang schon voraus ist. Doch anders als Pippin bezieht sie diese Zirkularität in die Analyse ein, anstatt sie überwinden zu wollen. Anstelle einer primären Auseinandersetzung mit dem Handlungsbegriff fragt sie also nach der Entstehung des Subjekts, indem sie dessen Genese in und durch Wirkungsweisen des Sozialen zu erklären versucht. Butler entfaltet ihre Subjekttheorie daher ausgehend von dessen Prozessualität, die der Bedeutung des Subjekts inhärent sein soll.
2.1 Butlers Theorie der Subjektivierung Sozialität ist in Butlers Theorie Möglichkeitsbedingung für die Entstehung des Subjekts. Der theoretische Zugang zur Subjektbildung ergibt sich für sie aus dem Primat der sozialen Eingebundenheit des Subjekts im Gegensatz zu Pippin, der das bereits gebildete Subjekt ausgehend von einem Handlungsbegriff analysiert. Die Wirkungsweisen des Sozialen sind für sie ein jenem Bildungsprozess vorausgesetzter Wirkmechanismus. Bevor ein zum Subjekt werdendes Lebewesen über-
1Butler:
Psyche der Macht, S. 8.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Junker, Soziale Subjektivierung, Negativität und Freiheit, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05734-1_2
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haupt einen Willen zu bilden oder eine Handlung auszuführen vermag, ist die Wirkungsweise des sozialen Umfelds für Butler von wesentlicher Bedeutung. Sie schließt sich Nietzsches Deutung an, den Begriff des Willens nicht „als gegeben anzunehmen“.2 Anders als Pippin stellt sich Butler der paradoxen Aufgabe, die Entstehung des Subjekts zu beschreiben. Es ist ihr von Beginn an klar, dass hierin ein fast unmögliches Unterfangen liegt: Wenn es ein Subjekt erst als Konsequenz aus dieser Subjektivation gibt, dann erfordert die erzählende Erklärung dieses Sachverhalts, daß die Zeitstruktur der Erzählung nicht richtig sein kann, denn die Grammatik dieser Narration setzt voraus, daß es keine Subjektivation ohne ein Subjekt gibt, das diesen Prozeß durchläuft.3
Paradox ist eine Erklärung der Subjektivierung deshalb, weil in dem sprachlichen Zugriff auf die Geschichte der Subjektivierung dasjenige Subjekt schon vorausgesetzt werden muss, dessen Werden eigentlich begründet werden soll. Da Butler die Schwierigkeiten einbezieht, die sich aus dem Paradox einer Theorie der Subjektivierung ergeben, und Sozialität auf fundamentale Weise in diese Theorie einbindet, sind andere Konsequenzen aus ihrem theoretischen Zugriff auf den Begriff eines sozialen Subjekts und dessen Freiheit zu erwarten als aus Pippins pragmatistischem Zugang zur Theorie des Subjekts. Butler nimmt einen anderen Aspekt als Pippin als Grundlage für die Entwicklung ihres Subjektbegriffs, nämlich die Fähigkeit zur Reflexion. Dieses reflexive Denken liegt laut Butler allen anderen Strukturen des Subjekts zugrunde. Anders als die Handlung, die Pippin als basale Subjektstruktur begreift, ist Reflexion als psychische Fähigkeit bei Butler vielmehr die Bedingung der Möglichkeit für Handlungsfähigkeit, Identität und anderen Eigenschaften, die Subjekten gemeinhin zugesprochen werden. Zwar verweist Pippin in seiner Theorie ebenfalls darauf, dass Selbstbewusstsein als eine Form von Reflexion eine Voraussetzung für Handlungsfähigkeit ist, lässt aber dessen soziale Entstehung im Unklaren, weil er seine Theorie eines sozialen Subjekts vom Konzept der Handlung her entwickelt. Reflexion will Butler als die „Folge einer »Rückwendung gegen sich«“4 verstanden wissen, die durch die Wirkungsweise des Sozialen erst hervorgebracht wird. Daher besteht ihr Programm in einer „Neubeschreibung der Sphäre der psychischen Subjektivation […], um klarzumachen, wie gesellschaftliche Macht Modi der Reflexivität erzeugt, während sie zugleich die Formen der Gesellschaftlichkeit begrenzt.“5 Es geht Butler nicht nur darum, die Formen des Sozialen
2Ebd.,
S. 75. Weiter schreibt Nietzsche „Wollen scheint mir vor Allem etwas Compliciertes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist […].“, in: ders.: Jenseits von Gut und Böse, S. 26. Er vertritt die Auffassung, dass der Wille ein Konglomerat an reflexivem Denken, Gefühlen und Affekt sei. 3Ebd., S. 106. 4Ebd., S. 67. 5Ebd., S. 25.
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darzustellen, die Reflexivität hervorbringen, sondern auch die Art der Reflexivität des Subjekts zu analysieren, die hierdurch ermöglicht wird oder verwehrt bleibt. Wie aber ist dieser Vorgang zu beschreiben, der die psychische Figur der Reflexivität hervorbringen soll? Wenn das Subjekt erst gebildet wird und der soziale Kontext aber diesen Bildungsprozess bewirkt, stellt sich die Frage, worauf soziale Regeln und Praktiken eigentlich einwirken und wie sie es schaffen, Reflexivität zu begründen. Butlers Antwort hierauf besteht aus zwei Schritten. Der erste Schritt soll den Eintritt eines potentiellen Subjekts in die Bedeutungszusammenhänge des Sozialen begründen und der zweite Schritt die Form dieser Eingebundenheit erklären, die dann die Art der Reflexivität bestimmt. In der folgenden Rekonstruktion wird allerdings umso deutlicher, wie Butlers Theorie der sozialen Subjektivierung auf eine Bestimmungslücke des Anfangs des Subjektivierungsprozesses hinweist, der für ein Verständnis widerständiger Praktiken von Bedeutung sein wird.
2.1.1 Aus dem Abgrund des Sozialen: das Streben nach Leben Butlers Erklärung der Bildung eines Subjekts, das sich den Bedeutungszusammenhängen des Sozialen überhaupt erst unterordnen kann, basiert zuerst auf einer Prämisse, die, so Butler, eine wichtige Argumentationslücke anderer Subjekttheorien schließt. Diese Prämisse zusammen genommen mit der Annahme, das Subjekt sei ein wesentlich Werdendes, hat eine andere Theorie über die Sozialität des Subjekts zur Folge als Pippin sie beschrieben hat. Während sich das Subjekt in seinem reflexiven Denken und im praktischen Dasein für Butler elementar in Vermittlung mit dem sozialen Umfeld entwickelt und fortbesteht, nimmt sie demgegenüber eine grundlegende Setzung vor, die zunächst selbst nicht sozial hervorgebracht scheint: Sie nimmt ein mit der Existenz des zum Subjekt werdenden Lebewesens gleichursprüngliches Streben nach Weiterexistenz an. Um erklären zu können, wieso sich das Subjekt überhaupt den Normen und herrschenden Lebensweisen unterwirft – wie es Althusser paradigmatisch in seiner Anredeszene beschreibt – muss laut Butler ein Begehren angenommen werden, das Leben fortzusetzen. Jenes Begehren beschreibt sie vorsichtig so: Wenn das Subjekt seine Existenz nur in Begriffen des Gesetzes sicherstellen kann und das Gesetz für die Subjektivation Unterwerfung verlangt, dann gibt man perverserweise vielleicht (immer schon) dem Gesetz nach, um seine eigene Fortexistenz zu sichern. Die Unterordnung unters Gesetz läßt sich dann als erzwungene Folge eines narzißtischen Verhaftetseins mit der eigenen Weiterexistenz lesen.6
6Ebd.,
S. 107.
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Ohne einen gesellschaftlichen Zusammenhang, der vermittels Praktiken Regeln für Kommunikation, das Über- und Zusammenleben etabliert, ist weder ein psychisches noch materielles Überleben des Einzelnen denkbar.7 Die vollkommene Mittellosigkeit eines Menschen zu Beginn seines Lebens und die Angewiesenheit auf Andere, die fürs Überleben Sorge tragen, sind dabei extreme Beispiele, die die fundamentale Abhängigkeit vom Sozialen anzeigen. Aufgrund dieser elementaren Angewiesenheit auf Andere, die im Laufe des Lebens in unterschiedlichen Graden vorliegt, und dem Bedürfnis weiterzuleben, ist das Subjekt, so Butler, zu Unterwerfung gezwungen. Sie identifiziert Spuren dieser basalen Annahme in anderen Subjekttheorien wie der Nietzsches. Ohne selbst explizit auf diesen primären Lebenswunsch hinzuweisen, der als Triebfeder für die Entwicklung eines Subjekts fungiert, lässt sich Nietzsches Vorstellung eines Willens zum Nichts im Dienste eines uneingeschränkten Strebens nach Weiterleben verstehen. Das Kleinkind heftet sein Begehren aufgrund des Wunsches nach Leben an die Bedingungen, die die Weiterexistenz sichern. Selbst wenn diese Bedingungen zerstörerische Wirkungen haben, will der „Wille eher das Nichts […] als gar nicht zu wollen“.8 Die erste entscheidende Konsequenz, die sich aus Butlers Prämisse ergibt, ist, dass der Beginn der Subjektivierung notwendig an asymmetrische Machtrelationen geknüpft ist. Butlers Prämisse, die selbst vorsozial oder vielmehr nicht selbst eine Wirkung der Sozialität zu sein scheint und im zweiten Teil dieser Arbeit (II Am Rand der Differenz: das Streben nach Existenz) genauer analysiert wird, hat für sie eine besondere Form der Abhängigkeit des Subjekts von seiner sozialen Umgebung zur Folge, nämlich die der Unterwerfung. Das Subjekt muss sich den Regeln des sozialen Gefüges, also den Normen und herrschenden Diskurspraktiken unterordnen, da es in seiner Ausgangslage noch über kein Instrument der eigenen Reflexion bzw. des eigenen Handelns verfügt. Das allem vorangehende Existenzstreben formt daher die weitere Begehrensstruktur des Subjekts. Als formloses, unbestimmtes Streben nach Existenz unterscheidet sich dieses Streben von allen darauf folgenden Begehrensstrukturen, deren Struktur sich eben durch die Weise der Eingebundenheit ins Soziale ergibt. Zunächst vollständig abhängig und untergeben bindet sich das potenzielle Subjekt an die Bedingungen, die die eigene Existenz sichern. Butler schildert die Dringlichkeit der Unterordnung für den Überlebenswunsch so: „[…]; soll das Kind im sozialen und psychischen
7Zu
bemerken ist, dass Butler in Psyche der Macht im Gegensatz z. B. zur Kritik der ethischen Gewalt das Verhältnis des Subjekts zum Sozialen vor allem in seiner Normativität betrachtet und die Macht des Gesetzes in der Subjektbildung besonders hervorhebt. Ich möchte diesen Aspekt allerdings an der Stelle nicht weiter diskutieren, auch wenn er diskutabel ist. (Warum sollte Normativität gerade die primäre Rolle für die Unterwerfungsrelation zwischen Subjekt und Sozialem sein und nicht zum Beispiel intersubjektive Anerkennungsstrukturen?) Wichtig ist für mich in der Rekonstruktion der Butlerschen Subjektivierungstheorie zunächst vielmehr der Gang der Argumentation für die besondere Beziehung des Subjekts zum Sozialen, die – egal unter welchem Aspekt das Soziale primär betrachtet wird – asymmetrisch bleibt. 8Butler, Psyche der Macht, S. 61.
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Sinn weiterleben, dann muß es Abhängigkeit und Bindung geben; es gibt für das Kind keine andere Möglichkeit als zu lieben, wo Liebe und die Erfordernisse des Lebens selbst unlösbar miteinander verknüpft sind.“9 Das nach Leben strebende Wesen muss die Macht begehren, die es unterwirft. Aus einem gänzlich unbestimmten Streben ist ein bestimmtes Begehren geworden. Butler sieht darin eine leidenschaftliche Bindung an Unterwerfung, welche zunächst ein offensichtliches Problem für die Idee von Handlungsfähigkeit aufwirft: Während Handlungsfähigkeit die Vorstellung beinhaltet, gemäß eines eigens formulierten Willens agieren zu können, lässt ein Begehren von Unterwerfung an der Fähigkeit zweifeln, die Richtung von handlungsmotivierenden Gründen selbst entscheiden zu können. Eine leidenschaftliche Bindung an Unterwerfung, das heißt ein leidenschaftliches Begehren von Autorität, torpediert nicht nur den Begriff der Selbstbestimmung, sondern auch und viel grundlegender – wie sich in Butlers weiterer Analyse zeigen wird – die Trennung von Ich und Außen. Effekt der Abhängigkeit des zu subjektivierenden Wesens ist folglich eine autoritative Begehrensstruktur. Darin besteht ein zweiter Schritt in der Erklärung der Reflexionsfähigkeit. Das Ich begehrt diejenigen Strukturen (verkörpert durch die Sorgetragenden und das soziale Umfeld), die es unterwerfen. Hinsichtlich der Form lässt sich das Begehren als asymmetrische Relation zwischen einzelnem Ich und Allgemeingültigkeit verkörpernde, lebenssichernde Autorität beschreiben. Der konkrete Gehalt dieses Begehrens hingegen ist abhängig davon, welcher Regel und Lebenspraxis sich jenes Ich unterwerfen muss, um zu überleben. Der soziale Kontext bestimmt daher Form und Inhalt dieses Begehrens. Die Weise, wie das Leben durch Gesellschaft, Kultur und die spezifischen Umgangsweisen der Menschen untereinander strukturiert ist, ist also untrennbar an die Form des Begehrens des Subjekts gebunden. Diese auf Sozialität verwiesene Form des Begehrens, die im Folgenden die Art der Reflexivität begründen soll, leitet Butler grundlegend aus jenem primären Streben nach Weiterleben ab. Die Annahme eines primären Existenzstrebens begründet die Szene des Übergangs zur dialektischen Vermittlung mit dem Sozialen. Zwar befindet sich das Subjekt auch mit anderen materiellen Dingen in einem Abhängigkeitsverhältnis – ohne materielle Güter ist ein Überleben ebenso wenig möglich –, aber die Erfahrung, dass zum Beispiel in der Situation zu Lebensbeginn vor allem „geliebte Personen“10 das Weiterleben des Kindes sichern, steuert die Richtung des subjektiven Begehrens auf andere Subjekte. Zwar vermag Butler den ursprünglichen Überlebenswunsch nicht weiter zu begründen, aber mit Verweis auf diesen allerersten Anfang, der Initiationsszene des Subjekts, erhält die daraus folgende Analyse von Subjektivierung einen grundlegend neuen Charakter. Wie erklärt Butler jedoch aus dieser Ausgangslage des Subjektivierungsprozesses die Fähigkeit zur Reflexion? Woraus entsteht die hierfür notwendige ‚Wendung gegen sich‘, die ein Selbstbewusstsein ins Leben ruft
9Ebd.,
S. 13. S. 167.
10Ebd.,
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und damit Handlungsfähigkeit ermöglicht? Und welche Form von Reflexivität kann sich aus dieser Unterwerfungsszene ergeben? Reflexion beinhaltet die Idee zweier getrennter psychischer Instanzen, die in irgendeiner Form auf sich Bezug nehmen. Wie jene Entzweiung des Ichs entsteht, erklärt Butler mit Rekurs auf die Psychoanalyse. Durch das Begehren der Autorität, die im Beispiel des Kleinkindes durch die Sorgetragenden verkörpert wird, werde eine psychische Instanz ins Leben gerufen, die eine Selbstbezugnahme ermögliche. Butler untersucht philosophische Theorien, die ebenfalls Elemente identifizieren, die einer solchen Instanz entsprechen. Hegel etwa nennt diese Instanz unglückliches Bewusstsein, Nietzsche schlechtes Gewissen und Freud Über-Ich oder kritische Instanz. In der Auseinandersetzung mit diesen Theoremen kritisiert sie, dass Hegel und Nietzsche aber auch Althusser und Foucault diese Instanz als gegeben voraussetzen und ergänzt bzw. reformuliert vor diesem Hintergrund jene Subjekttheorien durch eine Erklärung dessen, wie es zu dieser Spaltung zuallererst kommt. Die Entstehung dieser psychischen Instanz als Folge eines Begehrens der Autorität bewirkt laut Butler überhaupt erst einen Innenraum, der sich Psyche nennt, indem sie eine Teilung des Ichs verursacht: „Die Wendung bringt […] die Teilung zwischen Ich und Objekt, innerer und äußerer Welt erst hervor, die sie schon vorauszusetzen scheint.“11 Wieder verweist Butler auf die Paradoxie einer Beschreibung des Entstehungsprozesses eines Ichs oder eben jener psychischen Instanzen, die die Psyche als Innenraum eines Selbst erst begründen. Eine Teilung des Ichs mithilfe der Bildung dieser kritischen Instanz in der Psyche desselben ermöglicht es, sich selbst zum Objekt zu nehmen.
2.1.2 Reflexivität und Melancholie Da Butler die Entstehung von Reflexivität als Reaktion auf einen allem zugrundeliegenden Lebenswillen unter psychoanalytischen Gesichtspunkten betrachtet, ist ihre Analyse in erster Linie vermeintlich entwicklungspsychologisch orientiert. Doch ihr methodisches Vorgehen besteht in einer dekonstruktiven und genealogischen Aneignung der Theorien, die damit jeweils als gesellschaftshistorische Analyse ins Feld geführt und auf dieser Basis deren philosophisch relevanten Elemente extrahiert bzw. neu verwoben werden. Insofern ist Butlers Betrachtung der Entstehung von Reflexivität als Re- und Dekonstruktion der (zumindest in diesem Punkt) Freudschen Psychoanalyse zu verstehen. Sie bezieht sich zuallererst wesentlich auf die Annahme Freuds, das Kleinkind erlebe in seiner Entwicklung notwendig eine Verlusterfahrung, auf die es mit einer melancholischen Verarbeitung reagiere. Über Freud hinausgehend, der sich auf die Entwicklung des Individuums konzentriert, versucht Butler die Verlustreaktion, melancholische Ambivalenz, in ihrer Subjekttheorie als Verhältnis zwischen „de[m] Psychischen
11Ebd.,
S. 160.
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35
und de[m] Gesellschaftlichen“12 zu deuten. Doch zuerst stellt sich die Frage, worin der Verlust besteht, der für die Entstehung zweier Instanzen verantwortlich sein soll, die die Reflexivität begründen. Im Folgenden wird daher kurz rekonstruiert, wie Butler jene melancholische Verlusterfahrung und die damit einhergehende Abspaltung der kritischen Instanz beschreibt. Nach Freud vollzieht das Ich eine Wendung auf sich selbst, wenn ein Liebesobjekt als ein solches verloren geht. So formuliert er in Trauer und Melancholie: „In einer Reihe von Fällen ist es offenbar, daß auch sie [die Melancholie] Reaktion auf den Verlust eines geliebten Objekts sein kann; […] Das Objekt ist nicht etwa real gestorben, aber es ist als Liebesobjekt verlorengegangen […].“13 Und weiter: „Die Objektbesetzung erwies sich als wenig resistent, sie wurde aufgehoben, aber die freie Libido nicht auf ein anderes Objekt verschoben, sondern ins Ich zurückgezogen.“14 Weil die Libido – in dieser Hinsicht vielleicht vor allem als Kraft eines Begehrens zu verstehen – durch das frei gewordene Objekt der Liebe eine neue Richtung braucht, richtet sie sich, so Freud, zurück auf sich selbst. Auf diese Weise vermag das Subjekt einen Objektbezug zu sich selbst herstellen. Diese Art des Verlusts kann zu verschiedenen Lebenszeitpunkten erlebt werden und sich auf unterschiedlichste Objekte beziehen. Jene Verlustreaktion wird von Freud und von Butler in Bezug auf das Stadium des Kleinkinds betrachtet, was nicht bedeuten soll, dass dieser Verlust nicht später in anderer Form wiederholt wird. Das Kind liebt zunächst die Sorgetragenden, bezieht seine Libido also auf sie als Objekt. Weil das Kind nach Weiterleben strebt, gleichzeitig aber nicht über die nötigen Mittel verfügt, um zu leben, ist es gezwungen, sich an seine Sorgetragenden zu binden. In einer Auseinandersetzung mit Freuds Ausführungen zur Trauer und Melancholie beschreibt Butler, wie die Dynamik der Reflexivität durch eine melancholische Reaktion auf dieses erste Begehren entsteht. Das zu werdende Subjekt verliert das ursprüngliche Objekt der Liebe und reagiert darauf mit Melancholie, so analysiert sie mit Freud. Was genau jenen konstitutiven Verlust auszeichnet, und warum er sich notwendig ereignet, bleibt allerdings offen. Es scheint, als würde Butler nahelegen, dass die konstitutive Bindung an diejenigen, die das eigene Überleben sichern, im Verlaufe der Subjektivierung aufgegeben werden muss und dieser Verlust nie gänzlich reflektiert werden kann. Indem Butler das Entstehen der Geschlechtsidentität vermittels Melancholie beschreibt, führt sie einen hierfür konstitutiven Verlust auf das Verbot von Inzest und Homosexualität zurück.15 Ob allerdings die Reglementierungsmacht, die sich auf die Geschlechtsidentität auswirkt, dieselbe ist, die die Reflexivität des Subjekts bewirkt, bleibt unklar. Jedenfalls kann in der Melancholie im Unterschied zur Trauer laut Freud der Verlust nicht überwunden werden und die Libido sich nicht vom Objekt
12Ebd.,
S. 157. Trauer und Melancholie, S. 175 (meine Anm.). 14Ebd., S. 179. 15Vgl. Butler: Psyche der Macht, S. 127 f. 13Freud:
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abwenden, da der Verlust des Liebesobjekts in der Realität unartikuliert und verschleiert bleibt. In der Melancholie verweigert das Ich, die libidinöse Energie aufzugeben, die sich auf das verbotene Objekt bezog, und identifiziert sich stattdessen mit diesem Objekt, um die Richtung der Libido aufrecht erhalten zu können. Dies beschreibt den Moment, an dem das Ich sich selbst in Form eines inkorporierten Liebesobjekts zum Objekt nimmt. Die durch den Objektverlust frei gewordene Libido wendet sich zurück ins Ich mit der Folge einer Identifizierung mit diesem Objekt. „Auf diese Weise hatte sich der Objektverlust in einen Ichverlust verwandelt, der Konflikt zwischen dem Ich und der geliebten Person in einen Zwiespalt zwischen der Ichkritik und dem durch Identifizierung veränderten Ich“16, so beschreibt es Freud. Der Konflikt, der sich aufgrund des Verlusts zwischen Ich und dem Objekt der Liebe etabliert, spielt sich fortan in der Reflexion des Ichs auf sich selbst ab. Mit Blick auf die Initiationsszene, die sich durch den Verweis auf die Freudsche Melancholie erhellen sollte, legt Butler den Fokus auf Verfahren und Funktion dieser melancholischen Rückwendung. Die vorhandene Energie, die sich auf die Welt respektive die sorgetragenden Umstände in der Form libidinöser Bindung bezieht und auf die die Restriktion des Normativen wirkt, besteht für Butler allein aufgrund des angenommenen Strebens nach Leben. Das potentielle Subjekt ist demnach, ohne über psychische Strukturen zu verfügen, durch ein Streben nach Überleben angetrieben. Butler fügt der Freudschen Beschreibung hinzu, dass die Verlustreaktion das Ich als psychischen Innenraum erst begründet und bemerkt, dass die psychoanalytischen Diskurse, die von einer topographischen Stabilität einer »inneren Welt« und ihrer verschiedenen »Teile« ausgehen, den entscheidenden Punkt [verfehlen], nämlich daß die Melancholie genau das ist, was die Psyche verinnerlicht, d.h. den Bezug auf die Psyche durch solche topographischen Tropen erst ermöglicht.17
Hiermit kritisiert sie wie an den anderen in Die Psyche der Macht analysierten Theorien, dass Freud die Entstehung eines vermeintlichen Innenlebens der Psyche unbeachtet lässt und ein räumliches Modell von Psyche, das sich in Abgrenzung zu einem Außen versteht, als gegeben voraussetzt. Indem Butler jedoch darauf verweist, dass eine melancholische Verlustreaktion zuerst eine Selbstbezugnahme ermöglicht, die sich mit Diskursen der Psychoanalyse beschreiben lässt, kann es ihr gelingen, die Struktur der Psyche in Vermittlung mit dem normativen Bezugsrahmen und nicht in Unabhängigkeit von diesem zu denken. Das auf das Subjekt wirkende Soziale beschreibt Butler hier vor allem als Normativität. Diese bewirkt laut Butler im Bildungsprozess der Reflexion, wie und aufgrund welcher reglementierenden Gesetze Verluste erlebt werden. Die Struktur eines normativen Bedeutungssystems bestimmt, so Butler, maßgeblich den Gehalt der Verluster-
16Freud: 17Butler:
Trauer und Melancholie, S. 179. Psyche der Macht, S. 159.
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37
fahrung, die zugleich als eine individuelle Reaktion auf die normativen Instanzen zu verstehen ist: Soll also die Beziehung zwischen Melancholie und sozialem Leben wieder hergestellt werden, dann darf man die Selbstvorwürfe des Gewissens nicht als mimetische Verinnerlichungen der Vorwürfe verstehen, die von sozialen Instanzen des Urteils oder Verbots erhoben werden. Vielmehr entstehen hier Formen sozialer Macht, die regeln, welche Verluste betrauert werden und welche nicht; im gesellschaftlichen Ausschluss von Trauer haben wir vielleicht das zu suchen, was die innere Gewalt des Gewissens speist.18
Das Streben nach Existenz, das durch soziale Reglementierungen unweigerlich verwandelt wird, ist daher das Vermittlungsmoment zwischen psychischer und sozialer Macht. Die bei diesem Wandlungsprozess entstehende „»kritische Instanz«“ ist darin „zugleich ein psychisches und gesellschaftliches Werkzeug.“19 Welche Form erhält die Art der Reflexivität, die gleichzeitig als psychische Fähigkeit und als Inkorporation des Gesellschaftlichen fungiert? Der Initiationsakt des Subjekts begründet laut Butler zwei Aspekte: erstens die Bildung eines Ichs und zweitens den Modus der Reflexion. Ein Ich entsteht, indem dem nach Existenz trachtenden Wesen das uneingeschränkte Begehren der Autorität verweigert wird, die eigentlich den Fortbestand des eigenen Lebens sichert. Jenes Begehren muss infolgedessen in der Versenkung des Unbewussten verschwinden, um den normativen Anforderungen an das Subjekt zu genügen. Butler stellt fest: Ohne diese in Abhängigkeit ausgebildete Bindung kann kein Subjekt entstehen, aber ebensowenig kann irgendein Subjekt sich leisten, dies im Verlauf seiner Formierung vollständig zu »sehen«. Das Verhaftetsein in seinen ursprünglichen Formen muß sowohl entstehen wie verleugnet werden, seine Entstehung muß seine teilweise Verleugnung sein, soll es überhaupt zur Subjektwerdung kommen.20
Dieser Verlust des Begehrens der Abhängigkeit, das durch (kontingente) Werte des Sozialen wie Autonomie und Souveränität entzogen wird, wird in der mittels Melancholie hervortretenden Reflexivität selbst nicht reflektiert. Da es noch kein Ich gibt, das sich bewusst auf das Verlorene beziehen könnte, ist es logisch ausgeschlossen, dass das Verlorene reflektiert werden kann. Eva von Redecker bemerkt, dass Butler offen lässt, ob dieser spezifische Verlust für jede individuelle Entwicklungsgeschichte unausweichlich ist, oder ob die frühkindliche Abhängigkeit und Ausgeliefertheit nur da traumatisch übergangen werden muss, wo Werte wie Autonomie und Souveränität das erwachsene Selbstbild prägen.21
18Ebd.,
S. 171. S. 177. 20Ebd., S. 13. 21Eva von Redecker: Zur Aktualität von Butler, S. 98. 19Ebd.,
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Tatsächlich scheint dies bei Butler nicht eindeutig zu bestimmen. Es gibt aber Hinweise, die darauf deuten, dass das Bild souveräner Subjekte nur in Abhängigkeit von einer spezifischen Normativität entsteht. So bemerkt Butler zum Beispiel: „[…] der Staat kultiviert die Melancholie unter seinen Bürgern eben als Weg zur Verschleierung und Verschiebung seiner eigenen idealen Autorität.“22 Hierin weist sie dem Staat eine Regulierungsmacht zu, die dazu führt, den Gesetzen der Gesellschaft besondere Autorität im Ich zu verleihen und daher in die Form des Selbstverhältnisses eingreift. Obwohl dem nicht widersprochen werden soll, wird die melancholische Verlustreaktion im Folgenden als konstitutiver Zug betrachtet, mithin auch als systematische, nicht nur als historische Aussage verstanden. Zudem beginnt mit der Bildung des Subjekts der Zirkel einer Reflexionsbewegung, der konstitutiv auf einem ihm entzogenen Verlust oder Mangel beruht. Daraus schließt Butler, dass die Reflexivität gleichzeitig mit ihren Grenzen entsteht. Die Grenzen dessen, was in der Reflexion sichtbar oder vielmehr bewusst sein kann, werden durch das jeweilige System an Normen festgelegt. In der Reflexivität sind daher nicht lebbare, zu verwerfende Lebensformen, Praktiken und Werte unbewusst enthalten, während diese Verwerfungen wiederum von den sozialen Normen und Praktiken her stammen. Dem reflektierenden Subjekt entgeht damit immer schon das, was es verwerfen musste, um sich selbst zum Objekt von Gedanken und Begierden machen zu können. Es ist sich selbst bis zu einem gewissen Grad entzogen und vermag es nie, seine eigenen Bedingungen durch Selbstreflexion vollständig zu erhellen. Das ursprüngliche Begehren nach Leben hat sich durch diese Wendung in der Reflexion modifiziert und wird durch ein „narzißstisches Verlangen nach Selbstreflexion“23 ersetzt. Zugleich spiegelt sich das Existenzstreben in jenem Begehren nach Selbstreflexion wider: Damit das Ich als Reflektierendes existieren kann, muss es die Reflexion, die Wendung auf sich selbst wiederholen. Ich würde in der Tat noch hinzufügen, daß ein Subjekt nur durch eine Wiederholung oder Reartikulation seiner selbst als Subjekt Subjekt bleibt, und diese Abhängigkeit des Subjekts und seiner Kohärenz von der Wiederholung macht vielleicht genau die Inkohärenz des Subjekts aus, seine Unvollständigkeit.24
Weil das Subjekt nur bestehen kann, indem es einen Widerstreit mit sich aufrechterhält, weil die Opposition zwischen Ich und Nicht-Ich nur in dieser psychischen Abgrenzung des Ichs von sich selbst besteht, kann das Subjekt nicht in einem Standpunkt der reflexiven Bewegung verharren. Würde das Ich eine völlige Identität mit sich selbst behaupten, gäbe es kein Ich mehr, das sich als Ich bewusst werden könnte. Besinnt sich das Ich hingegen bloß auf seine kritische Instanz, würde wiederum das Ich verschwinden, auf das die kritische
22Butler:
Psyche der Macht, S. 177. S. 76. 24Ebd., S. 95. 23Ebd.,
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Instanz Bezug nehmen könnte. Das Subjekt ist daher in der Reflexion zu Wiederholung gezwungen. Antrieb für diese Wiederholungsstruktur der Reflexion ist, so lässt sich aus Butlers Analyse entnehmen, das primäre, das Subjekt begleitende Streben nach Weiterleben. Dieses Begehren nach Leben nimmt in Butlers Argument nicht nur die Position einer Grundannahme, sondern auch eine fortlaufende Erklärungsrolle ein. Ohne dieses primäre, unbestimmte und unartikulierte Streben danach, weiterzuleben, könnte weder erklärt werden, wieso das Ich die verwehrte libidinöse Energie nicht aufgeben kann, sondern in sich selbst zurückwendet, noch wäre plausibel, wieso die dadurch entstehende Spannung im Ich aufrechterhalten werden sollte. Durchzieht Butlers Analyse des Subjekts grundlegend eine Kritik an den als unabdingbar angenommenen Machtstrukturen, die den Begriff und damit auch die Wirklichkeit des Subjekts bestimmen, wird durch den Aspekt des Existenzstrebens auch die Richtung ihrer Kritik deutlich. Maßstab ethischer Bewertung von Subjekt-, Diskurs- und Normformen ist – folgend aus dem alles anstoßenden Streben nach Leben – die Ermöglichung von Lebensformen und konkreten Leben, die überleben wollen. Leben oder Überleben wird zum ethischen Imperativ und zum Leitbild der Kritik und Transformation von Normstrukturen, die eine solche strukturelle Gewalt ausüben, dass sie Lebensformen verwehren. Butler expliziert diesen normativen Anspruch in Die Macht der Geschlechternormen, indem sie ihn in Verbindung bringt mit der „Fähigkeit […] zu tun, leben, atmen, und sich bewegen [zu] können[…]“25 Das Eröffnen und Vervielfältigen von Möglichkeiten des Lebens ist daher ein ethischer Impuls, der sich aus Butlers genealogischer Subjektanalyse ergibt.26
2.1.3 Sozialität des reflexiven Selbstverhältnisses In der Selbstreflexion ist für Butler resultierend aus der Analyse über deren Herkunft das Soziale konstitutiv in dem komplexen Zusammenspiel zwischen Individuum und Gesellschaft enthalten. Während Pippin Selbstbewusstsein im konkreten Verhältnis zwischen Einzelnen betrachtet, die ihre Handlungen gegenseitig interpretieren und dabei auf soziale Normen rekurrieren, ist bei Butler die Macht des Sozialen auf komplizierte Weise mit der eigenen inneren Welt des Subjekts verwoben. Butlers Begriff der Reflexion stellt dabei vor allem eine
25Butler:
Macht der Geschlechternormen, S. 347 f. ethische Anspruch ist nicht zu verwechseln mit einer christlich fundamentalistischen ProLife-Bewegung. Es geht Butler nicht etwa um das Erhalten und Ermöglichen von ungeborenem Leben (wobei ohnehin zu klären wäre, ob es sich hierbei überhaupt und von welchem Zeitpunkt an um Leben handelt), sondern darum, bestehendes Leben, das weiterleben will und prekarisiert wird, zu ermöglichen und allgemein auszuhandeln, was ein gutes, lebbares Leben für alle ist. Wichtig ist auch zu betonen, dass Butler Überleben nicht nur im physiologischen Sinne betrachtet, sondern als komplexes Zusammenspiel versteht, das psychische, körperliche und soziale Gesundheit umfasst. 26Dieser
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notwendig asymmetrische Relation des einzelnen Subjekts zu seiner sozialen Umgebung heraus. Unterwerfung wiederholt sich unabdingbar im Subjekt, da Reflexion unter Rückgriff auf Unterwerfung entstanden ist und sich jene asymmetrische Beziehung in der Reflexion unweigerlich wiederholt. Bei Pippin könnte der Eindruck entstehen, dass ein Subjekt seine eigenen Intentionen in einer ungerechten Gesellschaft nicht angemessen veräußern kann, weil seine Intentionen von außen nicht angemessen reflektiert werden können. Butler hingegen sieht die „Gewaltsamkeit der sozialen Reglementierungen“ nicht in „ihrer einseitigen Ausübung, sondern in der Zirkelhaftigkeit, mit der die Psyche sich selbst der eigenen Wertlosigkeit bezichtigt.“27 Das Subjekt selbst reproduziert die Normen der Gesellschaft in seiner komplizierten psychischen Struktur. Butler erklärt Subjektivierung folglich als eine Art von Reflexivität, die einerseits durch Wiederholung der Unterwerfung in der Selbstreflexion, und andererseits durch ihre konstitutive Blindheit demgegenüber gekennzeichnet ist, was sie in der Bewegung ausschließt. Reflexion in dieser Form reproduziert laut Butler daher notwendig den Bereich eines ausgeschlossenen Lebens bestehend aus verbotenen Formen des Begehrens. In Körper von Gewicht beschreibt sie dies in aller Deutlichkeit: In diesem Sinne ist also das Subjekt durch die Kraft des Ausschlusses und Verwerflichmachens konstituiert, durch etwas, was dem Subjekt ein konstitutives Außen verschafft, ein verwerfliches Außen, das im Grunde genommen »innerhalb« des Subjekts liegt, als dessen eigene fundierende Zurückweisung.28
Weil Unterwerfung unter die Autorität sozialer Normen konstitutiv für die das Subjekt begründende Reflexivität ist, wiederholt es in der Reflexion jene Unterwerfung und reproduziert sie. Dies führt Butler zu der Annahme, die Unterwerfung sei eine „fortgesetzte Möglichkeitsbedingung des Subjekts.“29 Zentral ist, dass sowohl Unter- als auch Verwerfungen innerhalb der Psyche des Subjekts aus der normativen Struktur der Gesellschaft abgeleitet sind und sich ohne jene Normativität nicht herausbilden würden. Butlers Analyse der Subjektivierungsdynamiken lässt die Auflösung der paradoxen Narration einer solchen Subjektivierung offen. Wenn das Ich durch eine melancholische Verlustreaktion zuerst hervorgebracht wird – „erst durch Rückwendung gegen sich selbst erlangt das Ich überhaupt den Status eines Wahrnehmungsobjekts“30 – bleibt bis zuletzt ungeklärt, wer oder was es eigentlich ist, das jenen Verlust melancholisch verarbeitet. Eine explizite theoretische Beschreibung einer solchen ‚Vorgeschichte‘ muss gemäß Butlers Analysemethode sogar im Dunkeln bleiben und kann niemals Gegenstand einer Untersuchung
27Butler:
Psyche der Macht, S. 171. Körper von Gewicht, S. 23. 29Butler: Psyche der Macht, S. 13. 30Ebd., S. 158. 28Butler:
2.1 Butlers Theorie der Subjektivierung
41
werden. Da dem Subjekt die Bedingungen des eigenen Entstehens notwendig entzogen sind, wird auch der Ursprung des Subjektivierungsprozesses nicht narrativ zu fassen sein.31 Sie vermag nicht mehr über diesen Anfang zu sagen, als lediglich ein fundamentales Existenzstreben anzunehmen. Vielmehr stützt sie sich auf die diskursiven Wirkungsweisen dieser Geschichte des Subjekts ohne erzählbaren Anfang. Der unartikulierbare Anfang bleibt jedoch eine notwendige Abstraktion, die die Geschichte des Subjekts begründet. Die Melancholie ermöglicht für Butler überhaupt erst den begrifflichen Zugang zu psychischen Strukturen. Die Vorstellung einer Topographie veranschaulicht die psychische Struktur. Diese Topographie – das Selbstverständnis des Subjekts eines psychischen Innenraums, der sich in verschiedene Instanzen aufspaltet – zählt, so Butler, zu den „erstaunlichen diskursiven Effekten“32 der Melancholie. Infolgedessen besteht eine unüberwindbare Lücke zwischen dem Ich und dessen Herkunft, die Butler mit der Aufgabe einer genealogischen Kritik verbindet: In der psychischen Topographie der Ambivalenz mit enthalten, verlangt der verblasste gesellschaftliche Text nach einer Art von Genealogie in der Subjektbildung, nach einer Genealogie, die berücksichtigt, wie das, was unaussprechbar abwesend bleibt, die psychische Stimme dessen bewohnt, der übrig bleibt.33
Das, was durch keine Narration der Subjektivierung zum Vorschein gebracht werden kann – nämlich eine Vorgeschichte des Subjekts – ist im Gegensatz zu Pippins Subjektanalyse für den Begriff und das Selbstverhältnis des Subjekts sehr bedeutsam. Butler versteht ihre genealogische Herangehensweise als eine Analyse der Subjektivierung, für deren Verständnis eine Herkunft des Subjekts unabdingbar ist, die sich gleichzeitig dadurch auszeichnet, in der Subjektivierung selbst nicht artikulierbar zu sein. Genealogie bedeutet dann die Beschreibung eines Prozesses, der durch ein diesem Prozess ‚äußerliches‘ Moment begründet wird. Äußerlich ist dieses Begründungsmoment nicht deshalb, weil es nicht mehr bedeutsam für die Funktionsweise des Prozesses wäre. Äußerlich ist das Begründungsmoment für den Subjektivierungsprozess nur deshalb, weil es notwendig von den beschreibbaren Mechanismen des Prozesses abstrahiert. Diese Perspektive auf Subjektivierung operiert mit der Vorstellung zweier Prozessualitäten, die beide die Bildung des Subjekts bestimmen. Eine Art des Prozesses besteht in der sogenannten ‚Vorgeschichte‘ des Subjekts, die für Butler wirksam aber nicht beschreibbar ist. Ich betrachte diese Prozessualität als ‚Streben nach Existenz‘. Die andere Art des Prozesses liegt in der reflexiven und dialektischen Bildung des Subjekts, die in sich aber die Prozessualität des Existenzstrebens immer wieder hervorruft und sich durch sie bestimmen lässt. Es scheint unter dieser Betrachtung so, als würde die diskursiv verborgene Prozessualität des
31Vgl.
Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 80. Psyche der Macht, S. 161 (meine Anm.). 33Ebd., S. 183. 32Butler:
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2 Judith Butler: Subjektbildung aus dem Leben
Existenzstrebens zusammen mit der diskursiv fassbaren dialektischen Prozessualität wirken und Subjektivierung nicht verständlich sein, ohne deren Zusammenwirken genau zu erfassen. Bis hierhin bleibt festzuhalten, dass Butler Reflexivität als eine spezifische Form der Selbstbezugnahme auffasst, die auf Unterwerfung gründet und sich im Fortbestand des Subjekts wiederholt. Aus dieser primären Unterwerfungsszene ergibt sich ein besonderer Blick auf Handlungsfähigkeit, der in einer Kritik an einem klar zu definierenden und als eigen identifizierbaren Willen besteht. Wenn die Differenz zwischen Ich und Außen, die das Bild der Psyche dominiert, erst durch eine spezielle Form des sozialen Bezugs entsteht, wird einer Handlungstheorie ihre Basis entzogen – vorausgesetzt eine solche Theorie der Handlung basiert auf einer zweifelsfreien Trennung von ‚Innen‘ und ‚Außen‘. Denn auf der Basis dieses Verständnisses des Selbst kann es keine psychischen Einstellungen, Willensinhalte oder Handlungsintentionen geben, die nicht maßgeblich Spuren des sozialen Umfelds enthalten. Butler behauptet nicht, dass das Ich von seinem sozialen Umfeld nicht zu unterscheiden wäre, aber der Status dieses Ichs in seiner Trennung zwischen Innen- und Außenraum wird in Zweifel gezogen. Bezüglich der Grundfrage dieses Kapitels nach der sozialen Konstituiertheit des Subjekts lässt sich Folgendes zusammenfassen: Butler erklärt, wie die Fähigkeit zur Reflexion aufs Engste mit den Unterwerfungsstrukturen verwoben ist, innerhalb derer sie entsteht. Sie versteht diese Art der Reflexion nicht als ausgeglichene Selbstbezugnahme, sondern als stets konfligierende Auseinandersetzung mit sich selbst, in der sich asymmetrische Machtbeziehungen wiederholen. Innerhalb des reflexiven Prozesses inkorporiert das Subjekt daher die Unterwerfung, der es zu seiner Entstehung bedarf. Abgesehen von einem primären Streben nach Weiterleben, das Butler als Grundannahme voraussetzt, bildet sich das, was das Subjekt ins Leben ruft und dessen innere Struktur begründet, nur in Vermittlung mit dem sozialen Umfeld. In dem Augenblick, in dem das zu werdende Subjekt seinem Begehren nach Leben nachgeht, ist es gezwungen, sich dem gegebenen Normsystem, den Gesetzen des Sozialen zu unterwerfen. Diese Unterwerfung bildet den Anfang des Subjekts und besteht in der so hervorgerufenen Subjektstruktur weiter. Die Machtstrukturen des Normativen verhelfen dem Subjekt laut Butler so erst zur Reflexion, wiederholen sich aber auch in dieser Reflexivität. Die Begehrensformen, die aufgrund der Reaktion auf das Existenzstreben entstehen, sind, so Butler, daher durch Sozialität konstituiert. Butler vermag es, mit ihrer Theorie der Subjektivierung eine plausible Erklärung für die Schwierigkeit zu geben, repressive Verhältnisse zu transformieren. Was beispielsweise viele feministische Theorien beschäftigt, ist die Frage, warum die Mehrheit der Frauen* jahrhundertelang bereitwillig an der Reproduktion der sie selbst unterdrückenden Verhältnisse festgehalten haben und dies zum Großteil noch immer tun. Auch im Hinblick auf die Marxsche Vorstellung, der Verelendung würde notwendig eine revolutionäre Umwälzung der Verhältnisse folgen, stellt sich die Frage, warum dies so selten oder gar nicht geschieht. Wenn man an der Möglichkeit radikaler Transformation von gesellschaftlichen Verhältnissen festhält, muss die Hartnäckigkeit von Normen, die
2.2 Widerständigkeit des Butlerschen Subjekts
43
das Leben in einer Gesellschaft bestimmen, erklärt werden können. Butlers Verweis darauf, dass die Formen des Begehrens und damit die Struktur des Subjekts große Teile der Unterdrückungs- und Machtmechanismen bestimmen, erklärt jene Hartnäckigkeit der Strukturen. Dass das Subjekt sogar leidenschaftlich mit diesen Mechanismen verhaftet, dieses leidenschaftliche Verhaftetsein jedoch selbst aus der bewussten Bewegung der Reflexion ausgeschlossen ist, unterstreicht die zu überwindende Hürde im Subjekt, Unterdrückungsstrukturen wirksam identifizieren und transformieren zu können. Der normative Bezugsrahmen, in dem das Subjekt entsteht, bindet das Subjekt ähnlich stark an jene bestehenden Normen wie Pippin es in seiner Theorie der Handlungsfähigkeit beschreibt. Ein entscheidender Unterschied besteht jedoch trotzdem: Kernelement Butlers Theorie der Subjektivierung ist ein Bruch mit der inkorporierten Autorität der Normen. So hält Butler fest: „Behält das Subjekt im Handeln seine Entstehungsbedingungen bei, so impliziert das nicht, daß seine gesamte Handlungsfähigkeit in diese Bedingungen verstrickt bleibt und daß diese Bedingungen in jeder Ausübung seiner Handlungsfähigkeit die gleichen bleiben.“34 Woraus ergibt sich die Fähigkeit, mit dem gegebenen Normsystem und daher auch mit sich selbst, mit seinen eigenen Konstitutionsbedingungen zu brechen? Butler scheint zu behaupten, dass sich jenes Potenzial notwendig aus der Form der Reflexivität als inkorporierte soziale Macht in der Melancholie ergibt. So sieht Butler in den „Inkorporationen Orte der Reartikulation“, die „Bedingungen für das »Durcharbeiten« und potentiell Bedingungen der Auflehnung“35 sein sollen. Worauf führt Butler diese für das Subjekt konstitutive Auflehnung zurück und wie können damit radikal widerständige Praktiken erklärt werden?
2.2 Widerständigkeit des Butlerschen Subjekts Wenn Subjektsein bedeutet, modifizierenden Einfluss auf sich und die Welt ausüben zu können, sollte auch in Butlers Theorie danach gefragt werden, wie darin die soziale Subjektivierung mit der Möglichkeit widerständiger Praxis zusammen gedacht wird. Bildet sich mit der Reflexivität des Subjekts auch die Möglichkeitsbedingung für befreiende Praktiken und wenn ja, wie? Butler selbst formuliert die aus einem genealogischen sozialen Subjektverständnis resultierende Frage für Handlungsfähigkeit so: Wie kann das Subjekt als Bedingung und Instrument der Handlungsfähigkeit zugleich Effekt der Unterordnung als Verlust seiner Handlungsfähigkeit sein? Wenn Unterordnung die Möglichkeitsbedingung der Handlungsfähigkeit ist, wie lässt sich die Handlungsfähigkeit des Subjekts dann als Gegensatz zu den Kräften seiner Unterordnung verstehen?36
34Butler:
Psyche der Macht, S. 17. S. 178. 36Ebd., S. 15.
35Ebd.,
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2 Judith Butler: Subjektbildung aus dem Leben
Während widerständige Praktiken hier im Kontext der Handlungsfähigkeit stehen, sollen im Folgenden Möglichkeiten emanzipativer Praxis von Subjekten in Butlers Theorie der Subjektivierung in einem breiteren Kontext eruiert werden, die nur in zweiter Linie auch im Zusammenhang mit Handlungsfähigkeit stehen.37 Butler sieht die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und von anderen zu unterscheiden, als Voraussetzung für Handlungsfähigkeit. Wie Butlers Theorie der Subjektivierung bisher rekonstruiert wurde, wird ein solches Ich in seiner Differenz zu einer inkorporierten äußeren Welt gebildet. Diese Differenz entwickelt sich zu einer Dynamik, die Butler Reflexivität nennt. Die Reflexion ermöglicht zuerst eine psychische Instanz, die ‚Ich‘ zu sich sagen kann. Reflexivität ist für Butler wiederum aufs Engste an Melancholie gebunden. Die melancholische Verlusterfahrung ist die Begründungsszene des Ichs, die Butler der Möglichkeit von Trauerarbeit voraussetzt.38 Diese ursprüngliche Melancholie ist durch einen Konflikt zwischen Ich und der durch sie ins Leben gerufenen kritischen Instanz oder dem schlechten Gewissen gekennzeichnet. Hat das Begehren der Autorität der Normen selbst einmal das Verbot dieses Begehrens verhängt, gerät das Ich jeweils mit dem Verbot und der Liebe zu dieser Autorität in Konflikt: „In der Melancholie nimmt das Ich etwas von dem Verlust oder der Preisgabe an, die nun das Objekt zeichnen, […]. Einen Verlust verweigern, heißt so, selbst Verlust werden.“39 Butler nimmt an, dass das Ich diese melancholische Verlustreaktion notwendig zu überwinden sucht und daher der Versuch besteht, die Melancholie durch Trauer zu lösen. Hierin soll Raum für Widerstand und Handlungsmacht entstehen. Butler stützt sich auf Homi Bhaba und betrachtet „Melancholie nicht als Form der Passivität, sondern als eine Form der Auflehnung […].“40 Um also die Möglichkeiten eines befreienden transformativen Selbst- und Weltbezugs des Subjekts ausfindig zu machen, gilt es, die Dynamiken der Melancholie nachzuvollziehen.
2.2.1 Auflehnung des melancholischen Subjekts Die Vorstellung einer Auflehnung gegen jene Kräfte, die das Subjekt selbst nicht bestimmt und unter Kontrolle hat, scheint zunächst für eine Erklärung von Widerständigkeit oder Handlungsfähigkeit unabdingbar. Butlers Theorie der Subjektivierung zielt darauf ab, die Möglichkeit solcher Praktiken vor dem Hinter-
37Gemeint
ist damit, dass ich die Möglichkeiten emanzipativer Praxis nicht zwangsläufig anhand des Handlungsbegriffs analysieren möchte. Der Handlungsbegriff bezieht sich auf eine spezielle Weise menschlichen Tuns, während Widerständigkeit oder befreiende Praktiken nicht zwangsläufig allein mit dieser speziellen Weise menschlicher Tätigkeiten zusammen fallen. 38„Wenn die Ambivalenz die Melancholie von Trauer unterscheidet, und wenn die Trauer als Teil des Prozesses der »Durcharbeitung« Ambivalenz nach sich zieht, dann gibt es keine Trauerarbeit vor der Melancholie.“, Butler: Psyche der Macht, S. 180. 39Ebd., S. 174. 40Ebd., S. 177.
2.2 Widerständigkeit des Butlerschen Subjekts
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grund der sozialen Konstituiertheit des Subjektbildungsprozesses zu erklären. Haben Wirkungsweisen der Normen bisher als Erklärung dafür gedient, wie der psychische Innenraum entsteht, sollen ebenfalls soziale Wirkungsweisen die Fähigkeit zur transformativen Bezugnahme auf sich und die Welt begründen. Dem liegt laut Butler eine Transformation der Wirkungsweisen sozialer Macht zugrunde, die sich in einer Auflehnung des Ichs gegen das schlechte Gewissen entfaltet. Eine wichtige potentiell ermächtigende Umkehrung ereignet sich, wenn sich der Status der Macht als Bedingung der Handlungsfähigkeit verschiebt zur »eigenen« Handlungsfähigkeit des Subjekts (die eine Erscheinung der Macht bildet, in welcher das Subjekt als Bedingung seiner »eigenen« Macht auftritt).41
Während Pippins Beschreibung der Sozialität des Subjekts mit einem Subjekt einsetzt, das über jene Macht bereits verfügt, gilt es für Butler, diesen Prozess der Transformation zuerst zu erklären. Jene Macht, die das Subjekt hervorgerufen hat, soll umgewandelt werden zu einer vom Subjekt selbst eingesetzten, angeeigneten Macht. Durch das normative Verbot eines Objekts der Liebe entsteht, so Butler, ein Ich, das sich selbst zum Objekt nehmen kann. Das verlorene Objekt des Begehrens verwandelt sich somit in einen Teil des Ichs und erfährt auf diese Weise eine Verwandlung bezüglich der Wahrnehmungsweise. Anders als Freud, der die Verlustreaktion als bloßen Rückzug der Libido auf „die Stelle des Ichs, von der sie ausgegangen war“42 deutet, identifiziert Butler einen Transformationsakt, der durch diesen Vorgang vollzogen wird: „Der Verinnerlichungsakt […] verwandelt das Objekt […]; der andere wird aufgenommen und in ein Ich verwandelt, aber in ein Ich, das zu schmähen ist, womit die »gewöhnlich Gewissen genannte« kritische Instanz zugleich erzeugt und gestärkt wird.“43 Will Butler die Melancholie nicht nur aus dem Kontext einer pathologischen Betrachtungsweise nehmen und als initiatives Moment des Subjekts betrachten, sondern auch als aktives Widerstandspotential verstanden wissen, muss die hierin enthaltene Wandlung von bewirkender zu selbstbildender Macht nachvollzogen werden. Sie führt das Potential dieser Verwandlung auf eine Ambivalenz der Melancholie zurück. In der Reflexivität, die durch die melancholische Abspaltung des Objekt-Ichs zustande kommt, ist der unreflektierbare Abgrund der Melancholie eingeschrieben. Butler bemerkt: „Diese reflexive Beziehung, durch die das Ich sich selbst zum Objekt wird, erweist sich als entzogene und aufgehobene Beziehung zum verlorenen anderen; so gesehen scheint Reflexivität von der ihr vorausgehenden
41Ebd.,
S. 17. S. 164. 43Ebd., S. 168 (meine Hervorh.). 42Ebd.,
46
2 Judith Butler: Subjektbildung aus dem Leben
Melancholie abzuhängen.“44 Die melancholische Verlustreaktion erscheint nun als konstitutiv für Reflexivität. Entzogen ist dieser Verlust für das einzelne Individuum notwendigerweise deshalb, weil er sich im Nichtdiskursiven ereignet.45 Basiert die Art und Weise der reflexiven Bezugnahme des Subjekts also auf dieser Form der Melancholie, ist in der Reflexion eine Spannung oder Ambivalenz enthalten, die nicht aufzulösen ist. Verkörpert im Gewissen als eine der Instanzen, die zum Objektbewusstsein des Subjekts zählt, setzt sich das Subjekt mit der Liebe zum verlorenen Objekt sowie dem Hass aufgrund des Verbots fortlaufend auseinander. Ambivalent ist dieses im Ich enthaltene Verhältnis zu sich selbst, weil es sowohl eine Aggression gegen sich als auch ein Festhalten am Leben produziert: „In jedem Fall setzt das Ich angesichts seines Unvermögens, den Standards des Ichideals zu genügen, sein Leben aufs Spiel. Und seine Aggression gegen sich selbst entspricht zum Teil der Aggression gegen den anderen, die es unter Kontrolle bringen konnte.“46 Obwohl diese ambivalente Haltung des Ichs auf der Macht basiert, die nicht vom Subjekt selbst ausgeht, hat sich in diesem Stadium der Psyche der Modus der das Subjekt bewirkenden Macht verändert zu einer Macht, die innerhalb des Subjekts wirksam ist. In Butlers Texten lassen sich weiterhin eher Andeutungen als explizite Ausführungen darüber finden, wie genau diese Aneignung der Macht im Subjekt nachvollzogen werden kann. Den Übergang einer ‚fremden‘ zur ‚eigenen‘ Macht kann Butler, so meine These, nicht anders als unter Rückgriff auf das von ihr vorausgesetzte Existenzstreben erklären. Denn das durch den Verlust des Objekts der Begierde entstandene reflektierende Ich wird von der ebenso durch den Verlust ins Leben gerufenen kritischen Instanz bedroht. Als kritische Instanz oder schlechtes Gewissen verkörpert sie die Stimme einer vermittelten (und in der jeweiligen Reaktion höchst individuellen) Normativität,47 die das Ich vor allem mit Restriktionen konfrontiert. Weil diese richterliche Stimme die Individualität und Partikularität des Ichs missachtet und vor allem die Bindung zu jenen Objekten verwehrt, die zur Existenzsicherung beitragen, droht sie, das Ich auszulöschen. Dieser Bedrohung, so Butler, setzt sich das Ich aus, weil es danach strebt, zu leben. Das Streben nach Leben zwingt das Ich gleichzeitig zu Widerstand gegen die kritische Instanz. Butler versteht dieses Existenzstreben infolgedessen als einen sich selbst durchkreuzenden Mechanismus, der wiederum die Ambivalenz des melancholischen Subjekts widerspiegelt: „Der Wunsch zu leben ist nicht der
44Ebd.,
S. 169. bedeutet nicht, dass die Modalitäten des Verlusts nicht auf irgendeine Weise diskursivierbar wären und auch eine Wirkung um Diskurskontext haben, aber für das Subjekt selbst lässt sich der Verlust niemals diskursiv reflektieren. 46Butler: Psyche der Macht, S. 175. 47Eva von Redecker beschreibt die Individualität dieser Reaktionen aufschlussreich wie folgt: „In jeder individuellen Entwicklungsgeschichte kommen zusätzliche und andere Verluste und Verbote zum Tragen, die in der tatsächlichen Vielfalt von Geschlechtern und Begehrensformen resultieren.“, in: dies.: Zur Aktualität von Butler, S. 91. 45Das
2.2 Widerständigkeit des Butlerschen Subjekts
47
Wunsch des Ichs, sondern ein Wunsch, der im Verlauf seiner Entstehung das Ich unterhöhlt.“48 Formen des Widerstands innerhalb des Subjekts zeigen sich jeweils dann, wenn die Ambivalenz zugunsten einer Seite aufgelöst wurde. Ist der Widerstand gegen die Macht des Gewissens erfolgreich, mündet er in den Zustand der Manie, der für Butler jedoch stets nur ein vorübergehender Triumph über das schlechte Gewissen, nicht aber ein tatsächlicher Sieg sein kann. „Zu einer tieferreichenden Auflösung der Melancholie, als die Manie sie je erreichen kann, muß, so Freud, ein »Realitätsverdikt« akzeptiert werden, damit aus der Melancholie Trauer werden und das Verhaftetsein mit dem verlorenen Objekt durchtrennt werden kann.“49 Aber auch die Arbeit der Trauer, die darin besteht, den Verlust in der Realität zu akzeptieren, vermag laut Butler die Gewalt des schlechten Gewissens nicht abzuschütteln, da der Verlust dem Ich immer entzogen bleiben wird. Weil das Ich jenen Verlust zu einem Zeitpunkt erfahren hat, an dem es sich noch nicht als ‚Ich‘ denken konnte, bleibt die Möglichkeit einer Trauer um das konkret verlorene Objekt verwehrt. Durch diese zwei wirkenden Kräfte – das Existenzstreben des Ichs und die Bedrohung durch das schlechte Gewissen – ist das Subjekt in einem unlösbaren Konflikt gefangen: Besiegt das Ich die kritische Instanz, büßt es seine eigene Existenz ein, weil das Ich nur in Opposition zu dieser bestehen kann. Gibt sich das Ich der kritischen Instanz jedoch hin, ist es wiederum vom Tod bedroht. Es entsteht auf diese Weise eine ambivalente Spannung im Subjekt, die allein dessen Weiterleben sichern kann. Diese Ambivalenz soll laut Butler Handlungsmacht stiften, anstatt sie zu bedrohen.
2.2.2 Die Grenzen der Aneignung ‚fremder‘ Macht Einerseits versucht Butler auf diese Weise die Aneignung ‚fremder‘ Macht zu denken: Durch ein partielles (und notwendiges) Aufbegehren gegen das Gewissen erfährt das Subjekt jene Macht als eigene Kraft. Dies bildet die Grundlage für Handlungsfähigkeit und Widerständigkeit. Andererseits markiert Butler wiederum die Grenzen dieses Spielraums, da es keinen Bruch mit der „konstitutiven Geschichtlichkeit des Verlustes [gibt], die die Melancholie bezeugt (ausgenommen vielleicht in der manischen Reaktion, die immer eine vorübergehende ist).“50 Nach Butlers Beschreibung der Widerständigkeit in der melancholischen Reflexivität wird die das Subjekt bewirkende Macht immer partiell angeeignet. Zugleich wird diese Aneignung auch immer wieder begrenzt und durch sich selbst, nämlich das Gewissen, unterlaufen. In dieser unweigerlichen Bindung an den Anderen, an das Soziale, sieht Butler – will das Subjekt sich emanzipativ auf seine eigene
48Butler:
Psyche der Macht, S. 180. S. 178. 50Ebd., S. 181. 49Ebd.,
2 Judith Butler: Subjektbildung aus dem Leben
48
Verlusterfahrung beziehen – eine Absage an ein Verständnis von Handlungsmacht, das durch Autonomie bestimmt ist: „Von Anfang an ist dieses Ich anders als es selbst; die Melancholie zeigt, daß man überhaupt nur etwas wird, wenn man den anderen als sich selbst in sich aufnimmt. […] Gerade durch die Verwerfung dieser Vorstellung von Autonomie wird Überleben möglich.“51 An die Stelle von Autonomie tritt das Überleben als Modus der Handlungsfähigkeit, wodurch sich der Bedeutungssinn von Handlungsfähigkeit notwendig verschiebt. Der psychische Kampf ums Überleben wird so zu einer Form der Selbstaneignung, der eine Bedingung für Handlungsfähigkeit darstellt, während jene daraus folgende Handlungsfähigkeit die Grenzen der eigenen Handlungsmacht notwendig eingestehen muss. Da dem Subjekt die eigenen Entstehensbedingungen, die es in der Form der Reflexion wiederholt, immer opak bleiben, ist das Subjekt durch eine Offenheit oder Selbstentzogenheit konstituiert, die sich in seinem Verhalten wiederfindet. Butler bezieht diese Selbstentzogenheit auf das ins Unbewusste eingeschriebene Soziale: Obwohl es unvermeidlich sein mag, dass die Individuation eine Verwerfung benötigt, die das Unbewusste, einen Rest, hervorbringt, scheint es gleichermaßen unvermeidlich, dass das Unbewusste nicht vorsozial ist, sondern ein bestimmter Modus, in dem das unaussprechlich Soziale fortbesteht.52
Aus dieser Aussage geht hervor, dass die innere Struktur und Machtkonstellation im Ich nicht nur durch Sozialität ins Leben gerufen wurde, sondern auch fortlaufend durch sie bestimmt bleibt. Wenn soziale Praktiken ein Unbewusstes des Subjekts hervorbringen, das infolgedessen von den Formen dieser sozialen Welt anhängt, muss die Wirkung jenes Unbewussten als permanente Wirkung einer vermittelten Sozialität angenommen werden. Entgegen Pippins Auffassung, Handlungsfähigkeit bestehe in einer (sozial vermittelten) Form von Identität zwischen Wille und Tat, muss die Butlersche Vorstellung von Handlungsfähigkeit über das reflexive Verhältnis zwischen Intention und Tat hinausgehen. Es scheint, als ob das Subjekt, das Butler beschreibt, seine Handlungsfähigkeit vielmehr aus einem schmalen Grat an Kraft bezieht, die sich aus der Ambivalenz des Subjekts, dessen Verletzlichkeit und Offenheit ergibt, nicht aber aus dem Umschlagen in eine Einseitigkeit dieses Verhältnisses. Zwar rebelliert das Ich partiell gegen das Gewissen und erfährt Momente der Ermächtigung, aber diese Rebellion darf aufgrund der Bedrohung der Auflösung des Subjekts in Einseitigkeit nicht ganz gelingen. In diesem Prozess des Widerstands gegen sich selbst muss das Subjekt, so Butler, die Vorstellung von Autonomie verwerfen, um anzueignen, was sich dem Subjekt entzieht. Nur wenn diese Offenheit zugelassen wird, läuft das Ich nicht Gefahr, die Spannung der Reflexivi-
51Ebd.,
S. 182. Konkurrierende Universalitäten, S. 194.
52Butler:
2.2 Widerständigkeit des Butlerschen Subjekts
49
tät zugunsten einer Seite aufzulösen und sich auf diese Weise auszulöschen. So schreibt Butler: Gerade durch die Verwerfung dieser Vorstellung von Autonomie wird Überleben möglich; das »Ich« wird von seinem melancholischen Ausschluss aus dem Sozialen befreit. Das Ich entsteht unter der Bedingung der »Spur« des anderen, der sich in diesem Entstehungsmoment bereits in einer gewissen Entfernung befindet.53
Das Subjekt bezieht seine Kraft zwar aus der Ermächtigungsszene gegenüber der melancholisch inkorporierten sozialen Machtstruktur, es muss diese ambivalente Spannung zwischen Ich und Gewissen jedoch aushalten können, um dem Streben nach Leben auf vermittelte Weise entsprechen zu können. Das Existenzstreben muss folglich in eine reflektierte Form verwandelt werden, in der das Zulassen der Einsicht in die Bedrohung als Beitrag zur Weiterexistenz begriffen wird. Deutlich wird dieser Aspekt in Differenz zu Hegels Ausführungen zum reflexiven Selbstbewusstsein des Subjekts in der Phänomenologie des Geistes. Hegel beschreibt dort im Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft einen doppelten Konflikt des Selbstbewusstseins: Einerseits kämpft das Subjekt in Kontakt mit einem anderen Subjekt um Anerkennung, die eine volle Form des Selbstbewusstseins ermöglichen soll. Andererseits spiegelt sich hierin der Konflikt innerhalb des Selbstbewusstseins zwischen den zwei Instanzen, die das Selbstbewusstsein ausmachen. Hegel beschreibt in Butlers Deutung eine Auflösung dieses Konflikts zugunsten der einen Seite, nämlich der Seite des Ichs, die sich vom Anderen bedroht sieht. Ziel dieser Auslöschung des Anderen ist, sich den Abgründen des Ichs zu entziehen und seiner selbst vollständig bewusst zu werden. Hegel schreibt: „und das Selbstbewußtsein [ist] hiermit seiner selbst nur gewiß durch das Aufheben des Anderen, das sich ihm als selbstständiges Leben darstellt.“54 Anerkennend, dass diese Negation des Anderen im Ich nicht gelingen kann – „[d]as Selbstbewußtsein vermag also durch seine negative Beziehung ihn nicht aufzuheben“55 –, zielt Hegels Darstellung der Reflexion des Selbstbewusstseins dennoch darauf ab, das Negierte in einer höheren Stufe des Selbstbewusstseins zu überwinden. Zwar bleibt das Selbstbewusstsein ein „unglückliche[s], in sich entzweite[s] Bewußtsein“,56 weil es eben jenem ambivalenten Konflikt zwischen Subjekt und Objekt entspringt, aber das Resultat der Bildung des Selbstbewusstseins ist die „Vorstellung der Vernunft geworden, der Gewißheit des Bewußtseins, in seiner Einzelheit absolut an sich oder alle Realität zu sein.“57 In der Bemühung, das negierte Andere an sich selbst zu überwinden,
53Butler:
Psyche der Macht, S. 182. B. Selbstbewußtsein, IV Die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst, in: ders.: Phänomenologie des Geistes, S. 143 (meine Hervorh.). 55Ebd. 56Ebd., S. 163. 57Ebd., S. 177. 54Hegel:
2 Judith Butler: Subjektbildung aus dem Leben
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vermag das Subjekt eine Form vernünftiger Gewissheit von sich zu erlangen. Diesen letzten Schluss teilt Butler jedoch nicht mit Hegel. Für Butler besteht ein gelingendes Selbstverhältnis im Subjekt demgegenüber in einem Zulassen der Selbstentzogenheit und einer aktiven Einbindung dieses eigenen Status in die Reflexion. Dies kann dem Subjekt, so Butler, nur gelingen, wenn es die eigene soziale Konstituiertheit akzeptiert, und damit auch die Bedrohung durch den Tod zulässt. Diese Ambivalenz in der inneren Struktur ist dem Subjekt aufgrund seiner notwendig sozialen Konstitution inhärent und äußert sich in einer Selbstentzogenheit.
2.2.3 Das Unsichtbare der dialektischen Reflexivität Wenn aus dem Zustand der Unterwerfung für Butler die Möglichkeit einer Auflehnung des Ichs gegen sich selbst entsteht, muss hierin zugleich das teilweise Scheitern dieses Widerstands enthalten sein, da sich das Subjekt seiner Ambivalenz nicht entledigen und niemals vollständig mit den eigenen Bedingungen seiner Entstehung brechen kann. Dem Subjekt kann der Mechanismus seiner eigenen Reflexionsfähigkeit daher niemals vollständig bewusst werden. Ein klassisches Verständnis der Handlungsstruktur, wie es sich auch bei Pippin findet, nimmt jedoch Bezug auf die Möglichkeit einer Willensbildung, die ein selbstreflektiertes Resultat eines Bewusstseinsprozesses des Subjekts sein soll. Ein Handlungsbegriff, der mit einer klar identifizierbaren Intention operiert, die sich in einer Tat äußert, verfügt aber – beachtet man den von Butler beschriebenen psychischen Komplex – nicht mehr über das Erklärungspotential, die Möglichkeit eines radikal transformatorischen Selbst- und Weltbezugs zu begründen, solange diese Form der Transformation nicht bloß zufällig oder automatisch sein soll. Mit Rücksicht auf Butlers Erklärung der sozialen Subjektkonstitution bleibt zumindest fraglich, wie aus dem zur Unterwerfung zwingenden Impuls des Existenzstrebens eine Handlungsmacht werden soll, die dem Subjekt eine Praxis der Emanzipation ermöglicht.58 So fragt sich auch Eva von Redecker in ihrer Rekonstruktion von Butlers Analyse des Antigone-Mythos: Woher nimmt Antigone diesen Widerstandsgeist? Besteht nicht ein unüberbrückbarer Widerspruch zwischen Butlers Subjekttheorie, die die Entstehung des Subjekts aus den es umgebenden herrschenden Normen erklärt, und diesem Beispiel einer Handlungsfähigkeit, die virtuos ausgerechnet die ‚verbotenste‘ aller Handlungen ausführt?59
58Intentionale
Äußerungen von Subjekten sind niemals ausschließlich als Veräußerung der jeweiligen Intention zu verstehen, ist doch jede Äußerung nicht von ihrer nicht intendierten und zufälligen Wirkung zu trennen. Aber allein die Möglichkeit eines widerständigen Aktes, der aus einem reflexiven Prozess resultiert, den das Subjekt als einen solchen eigenen reflexiven Prozess auffassen kann, steht hier in Frage. 59Eva von Redecker: Zur Aktualität von Judith Butler, S. 102.
2.2 Widerständigkeit des Butlerschen Subjekts
51
Wie genau das Butlersche Subjekt unterwerfende Macht in Handlungsmacht verwandelt, wird von ihr nicht expliziert. Und trotzdem, so bemerkt Hans-Christoph Koller in Bildung anders denken, ist die „Möglichkeit verändernden Handelns“ in der „melancholischen Verfasstheit des Subjekts“60 zu suchen. Koller sieht in Butlers Ausführungen in der Melancholie den Anlass und in der notwendigen Wiederholungsstruktur des Subjektivierungsprozesses das Potential zu einem transformatorischen Handeln. Wenn jedoch diese Handlungsmacht, deren genaue Entstehung unklar bleibt, in einem Selbstverhältnis zwischen Ich und kritischer Instanz besteht, das einen Rest in Form des Unbewussten entstehen lässt, zeigt sich hierin, dass Butler eine dialektische Auffassung der Reflexivität überschreitet. Um denken zu können, wie aus der von Hegel beschriebenen Negativität des Selbstbewusstseins eine produktive Macht hervorgeht, die gleichzeitig gebildet und bildend ist, identifiziert Butler einen Überschuss in der dialektischen Bewegung. Dieser Überschuss äußert sich darin, dass das Negierte vom Subjekt durch die Negation bewahrt und verwandelt werden muss.61 Auf Foucault zurückgehend verweist Butler darauf, dass in der dialektischen Bewegung eine Dynamik entsteht, die vom Subjekt selbst unabsehbar ist, und trotzdem (oder gerade aufgrund dieser Unabsehbarkeit) Neues hervorzubringen vermag: Diese Proliferation des Körpers unterscheidet Foucaults Ansatz vom Hegelschen, und sie bildet auch einen Ort des möglichen Widerstandes gegen die Reglementierung. Die Möglichkeit dieses Widerstandes leitet sich aus dem her, was an der Proliferation unvorhersehbar ist.62
An anderer Stelle bezieht sich Butler auf die Wiederholungsstruktur der Reflexion des Subjekts, um herauszustellen, was die Dialektik übersieht. Mit einem erneuten Verweis auf die notwendige Selbstentzogenheit des Subjekts, aus der heraus Handlungsfähigkeit entstehen soll, identifiziert sie die Wiederholung als einen „Nicht-Ort der Subversion, [der] zur Möglichkeit einer Neuverkörperung der Subjektivationsnorm [wird], die die Richtung ihrer Normativität ändern kann.“63 In der permanenten Selbstreflexion wiederholt das Subjekt die Wirksamkeit seiner eigenen Abgründe. Wiederholen ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen als ein in der Reflexion wieder holen. Ähnlich wie in der Aufhebung des dialektischen Gegensatzes transformiert das Subjekt darin das eigene Verhältnis zu sich und zur normativen Welt. Indem es in jedem Reflexionsprozess das Vorhergehende wieder holt, eignet es sich dieses Vorangegangene vom neuen Standpunkt aus an. Jedoch – und dies geht über die dialektische Bewegung hinaus – wird auf diese Weise etwas hervorgebracht, das weder mit Negation noch mit bestimmter Negation beschrieben werden kann. Butler beschreibt das Verhältnis des melancholischen
60Koller:
Der unhintergehbare Bezug auf andere, S. 67. Butler: Psyche der Macht, S. 58. 62Ebd., S. 60. 63Ebd., S. 95. 61Vgl.
2 Judith Butler: Subjektbildung aus dem Leben
52
Selbstbewusstseins so, dass es sowohl den „Verlust eines anderen oder eines Ideals“ verliert als auch „die soziale Welt, in der ein solcher Verlust möglich wurde.“64 Infolgedessen versteht sie die Melancholie als einen Modus des Psychischen, „in dem es keinen Verlust und in der Tat auch keine Negation gibt.“65 Da der Verlust selbst verschwindet, entsteht hier eine Leerstelle in der Weise, wie das Subjekt sich selbst wahrzunehmen vermag, sodass dies (anders als es Hegel beschreibt) nicht einmal negiert werden kann. Butler impliziert in dem dialektischen Verhältnis zwischen Subjekt und Sozialem (den inkorporierten Normen der Gesellschaft figuriert durch die kritische Instanz) etwas, was diese Dialektik selbst nicht erfassen und in Zusammenführung von Butlerschem und Derridaschem Vokabular als unbewusste ‚Spur‘ bezeichnet werden kann. Diese unartikulierbare Spur modifiziert die Vorstellung Hegelscher Dialektik, die Butler im Begriff der Reflexivität verwendet. Wie sich aus diesem ‚Abgrund‘ des Subjekts das Potential dessen ergibt, was Widerständigkeit genannt werden kann, wird in Teil II dieser Arbeit genauer nachvollzogen.
2.3 Freiheit als Selbstenteignung und Selbstaneignung Butlers Subjektanalyse zieht einen für den Handlungsbegriff konstitutiven Bedeutungsaspekt in Zweifel, nämlich den der autonomen Selbstbestimmung. Wenn Handlungsfähigkeit nicht mehr in einer vollkommen selbstbestimmten Tat bestehen kann, weil es kein souveränes Selbst gibt, das sich bestimmen könnte, müssen die Grenzen und Möglichkeiten menschlichen Wirkens auf sich selbst und die Welt anders ergründet werden. Als Einstieg in die Auseinandersetzung mit Robert Pippins Freiheitstheorie wurde versucht, Freiheit als Eigenschaft von Handlungsfähigkeit zu bestimmen. Indem Butler die soziale Form der psychischen Struktur des Subjekts beschreibt, muss Freiheit als komplexere Lebenspraxis verstanden werden, die nicht allein im Handlungsbegriff aufgeht. Freiheit als Autonomie verstanden, wie Pippin zu erklären anstrebt, verliert vor dem Hintergrund der Butlerschen Analyse sozialer Subjektivierung ihre Grundlage. Das Subjekt, so schreibt Butler, kann sich „nie und nimmer […] selbst autonom erzeugen.“66 Bereits aus Pippins Argumentation wurde ersichtlich, dass das der Autonomie innewohnende Paradox vor allem dann eine argumentatorische Schwierigkeit darstellt, wenn Sozialität als konstitutive Bedingung des Subjekts gedacht wird.
64Ebd.,
S. 169.
65Ebd. 66Ebd.,
S. 182.
2.3 Freiheit als Selbstenteignung und Selbstaneignung
53
2.3.1 Annäherung an einen Freiheitsbegriff durch Kritik Obwohl Butler in ihrer Analyse der Subjektivierung keinen Begriff der Freiheit expliziert, ist ihre Beschreibung der Bildung des Subjekts implizit darauf bedacht, Möglichkeiten der Befreiung zu ergründen. So deutet sie immer wieder die Hoffnung an, Möglichkeiten zu finden, „die Zirkularität seines eigenen reflexiven Abschlusses zu durchbrechen.“67 Oder sie stellt Fragen, die ihre Untersuchungen stets in das Licht rücken, nach der Möglichkeit emanzipativer Praxis zu suchen, zum Beispiel: „Gibt es eine Möglichkeit, anderswo oder anders zu sein, ohne unsere Komplizenschaft mit dem Gesetz zu leugnen, gegen das wir uns wenden?“68 Vermittels Butlers Kritik an einem auf Autonomie basierenden Freiheitsverständnis lassen sich negativ Aspekte ihrer Vorstellung von Freiheit bestimmen. Butler weist die Vorstellung von Freiheit als Autonomie deshalb zurück, weil das Subjekt nur „unter der Bedingung der »Spur« des anderen“69 entsteht und sich der darin enthaltenen unterwerfenden Macht niemals vollständig entledigen kann. Das Ziel der Vorstellung von Autonomie, ein Subjekt zu beschreiben, das in Unabhängigkeit von ‚äußeren‘ Einflüssen entscheiden kann, lässt sich vor dem Hintergrund der wesentlichen Konstituiertheit durch Sozialität nicht aufrechterhalten. Wie argumentiert Butler gegen Autonomie als Freiheitsvorstellung und welche Schlüsse zieht sie daraus für ihr Verständnis von Befreiung? Wieso kann sich das Subjekt in Butlers Analyse in seiner Bildungsgeschichte nicht von jener Abhängigkeit emanzipieren? Eine Antwort hierauf stützt sich auf die ermächtigende Dynamik melancholischer Trauerarbeit, die oben herausgestellt wurde. Wenn die psychische Struktur der Reflexivität, wie Butler sie beschreibt, nur aufrechterhalten werden kann, wenn die Spannung im Ich zwischen Ich und Objekt-Ich (was gleichzeitig auch ein vermitteltes Verhältnis zum Anderen bedeutet) erhalten wird, bedeutet dies, auf der Notwendigkeit der Konstituiertheit durch und Abhängigkeit vom sozialen Kontext beharren zu müssen. Der Autonomiebegriff hingegen behauptet eine Einseitigkeit dieses Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft und führt auf diese Weise zu einem Stillstehen der Selbstbeziehung des Subjekts. Da Butlers ethischer Imperativ sich jedoch aus dem Streben nach Leben ableitet und in dem Apell besteht, Überleben zu ermöglichen und Lebensformen zu vervielfältigen, muss sie diese Autonomievorstellung zurückweisen. Sie formuliert ihren Einwand so: Die gesellschaftlichen Bedingungen, die das Überleben ermöglichen, die die soziale Existenz anrufen, interpellieren, widerspiegeln nie die Autonomie dessen, der sich in ihnen erkennt und damit die Chance hat, in der Sprache »zu sein«. Gerade durch die Ver-
67Ebd.,
S. 64. S. 122. 69Ebd., S. 182. 68Ebd.,
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werfung dieser Vorstellung von Autonomie wird Überleben möglich; das »Ich« wird von seinem melancholischen Ausschluß aus dem Sozialen befreit.70
Die Autonomievorstellung ins Selbstverhältnis einzubinden bedeutet, den Anderen als Bedingung des eigenen Selbst zu leugnen. Die Wirkung des Anderen auf das Subjekt bleibt aber kontinuierlich konstitutiv für dessen Selbstverhältnis. Dieses ‚Vergessen‘ der eigenen Abhängigkeit vom Anderen verwehrt infolgedessen, so Butler, einen Prozess der trauernden Auseinandersetzung mit sich selbst und führt zu einem impliziten, affirmativen Verharren in der konstitutiven Unterwerfungsstruktur. Für Butler trägt Autonomie daher nicht zu einer Befreiung des Subjekts aus unterwerfenden Machtstrukturen bei, sondern erzeugt diese vielmehr durch die Annahme eines bestimmten Subjekts, dem zu entsprechen, einen „melancholischen Ausschluß aus dem Sozialen“71 bedeutet. Freiheit muss folglich für Butler einen anderen Inhalt haben als autonome Selbstverwirklichung und sie legt demgegenüber zwei Aspekte von Freiheit als deren inhaltliche Bestimmung nahe: erstens eine besondere Form des Selbstbezugs und zweitens die Umdeutung von Freiheit als Prozess der Befreiung gegenüber einer statischen Auffassung von Freiheit (z. B. als einmal erlangte Eigenschaft). Die Form der Reflexivität, die Butler als das Subjekt bestimmend begreift, soll – wie im Kapitel zur Handlungsfähigkeit des Butlerschen Subjekts ausgeführt wurde – Möglichkeiten der Freiheit beinhalten: Ich würde sagen, daß diese Haltung des gegen sich selbst zurückgewendeten Selbst, eine leidenschaftliche Befreiung des Selbst von Kontrollen, auch wenn es keine letzte Auflösung der reflexiven Bindung gibt, doch vielleicht Niederschlag einer sich andeutenden Lösung jenes konstitutiven Knotens ist. Was so entsteht, ist kein von allen Fesseln befreiter Wille und kein »Jenseits« der Macht, sondern eine andere Richtung für das, was an der Leidenschaft eigentlich formgebend ist, eine formgebende Macht, die Bedingung ihrer Gewalt gegen sich selbst ist, für ihren Status als notwendige Fiktion, und Ort ihrer Wirkungsmöglichkeiten.72
Was Butler mit der durch Melancholie hervorgerufenen Reflexivität beschreibt, ist, das Potential der Spannung zwischen Ich und Objekt-Ich zu nutzen, um ein befreites Selbstverhältnis einzugehen. Ein freiheitlicher Selbstbezug besteht für Butler in der Widerstandsbewegung des Subjekts gegen sich selbst mithilfe von Trauerarbeit. Basierend auf Butlers Prämisse eines Strebens nach Leben scheint sich diese Form des Selbstbezugs darin auszudrücken, Überleben oder Weiterleben zu ermöglichen. Dieses Streben bewirkt eine Auflehnung des Ichs gegen die kritische Instanz, und dieser Auflehnungsversuch muss – wiederum aufgrund des Existenzstrebens – laut Butler darin enden, die Alterität und Selbstentzogenheit des eigenen Ichs anzuerkennen. Auch Butlers ethisch-moralischer Maßstab in
70Ebd. 71Ebd. 72Ebd.,
S. 65 f.
2.3 Freiheit als Selbstenteignung und Selbstaneignung
55
ihren Auseinandersetzungen mit Macht, Geschlecht, Gewalt und Krieg lässt sich immer auf die Formel der Ermöglichung von Weiterleben zurückführen.73 Dieser Wert des Weiterlebens, der Butlers Subjekttheorie von Beginn an durchzieht, ist in der Forderung nach und dem Impuls zur Befreiung die treibende Kraft. Sieht Butler in einer Verarbeitung der Melancholie durch Trauer ein notwendiges und befreiendes Moment des Widerstands gegen zerstörerische Macht, muss die Bedeutung von Freiheit verschoben werden von der Idee der Selbstverwirklichung zur Idee der Selbsttransformation. Diese Selbsttransformation besteht für Butler infolgedessen in einer Aneignung der eigenen reflexiven Struktur durch Einbindung der Selbstentzogenheit, also durch Selbstenteignung. In Kritik der ethischen Gewalt fasst Butler die Notwendigkeit dieses Selbstenteignungsverhältnisses zusammen: Wenn unsere Selbstformierung im Kontext von Beziehungen verläuft, die wir zum Teil nicht mehr werden rekonstruieren können, dann scheint Undurchsichtigkeit ein fester Bestandteil unserer Selbstformierung zu sein, eine Konsequenz unseres Status als Wesen, die sich in Abhängigkeitsbeziehungen bilden.74
Während dieser Selbstbezug als Selbsttransformation sich in Auseinandersetzung mit dem sich selbst Entzogenen formiert, führt Butler wiederholt an, dass jener Prozess unabschließbar ist. Folgend aus der „Undurchsichtigkeit“, die ins Selbstverhältnis eingebunden werden soll, ergibt sich notwendig, dass das Subjekt auch mit dem Scheitern konfrontiert sein wird, seine vordiskursive und vorsubjektive Geschichte ins Selbstverhältnis einzubringen. Im Gegensatz zu Autonomie und autonomer Handlungsmacht kommt Butler zu dem Schluss, dass ein freiheitliches Selbstverhältnis auf die „Bereitschaft, nicht zu sein – eine kritische Desubjektivation“75 rekurriert. Dieses Freiheitsverständnis führt dazu, Freiheit im Kontext einer Form der Reflexivität zu verstehen, die über dialektisches Selbstbewusstseins hinausgeht. Butler verweist auf das Erfordernis einer „andere[n] Art von Wendung […], eine Wendung, die, durch das Gesetz ermöglicht, eine Abwendung vom Gesetz ist und den Identitätsverlockungen widersteht, eine Handlungsfähigkeit gegen und über ihre eigenen Entstehungsbedingungen hinaus.“76 Der zweite Aspekt Butlerscher Freiheit ergibt sich aus jenem ersten Aspekt der Selbstaneignung durch Selbstenteignung. Da Butler das Subjekt über dessen Reflexivität definiert, Reflexion wiederum in ihrem Verständnis notwendig eine permanente Selbstbezugnahme, Selbstsorge, Selbstaneignung und -transformation bedeutet, kann Freiheit mit Butler nicht mehr als Subjektstatus beschrieben
73Vgl.
Redecker: Der Wert der Ermöglichung, in: dies.: Zur Aktualität von Judith Butler, S. 51–54. 74Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 30. 75Butler: Psyche der Macht, S. 122. 76Ebd.
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2 Judith Butler: Subjektbildung aus dem Leben
werden, der zu irgendeinem Zeitpunkt erworben wird oder nicht. Vielmehr denkt Butler Freiheit als Prozess der Befreiung, der ebenso wie Reflexivität nie zu einem Ende kommt. Da Unterwerfung die fortgesetzte Möglichkeitsbedingung des Subjekts ist, gibt es keinen Zustand des Subjekts, in dem es sich nicht in unterwerfende Machtstrukturen verwickelt sähe und daher die Widerstandsarbeit niederlegen könnte. Der Freiheitsbegriff bildet darin die Prozesshaftigkeit ab, die dem Subjektbegriff innewohnt.
2.3.2 Kontextlose Selbstan(ent)eignung? Wenn sich die Selbstbezugnahme des Subjekts in Vermittlung mit den normativen und diskursiven Bedingungen des jeweiligen gesellschaftlichen Rahmens entwickelt, stellt sich die Frage, ob sich das, was Butler unter einem freiheitlichen Selbstbezug versteht, unabhängig von konkreten herrschenden Normen entfaltet oder nicht. In Frage steht also, ob ihre Betrachtung in der Analyse sozialer Subjektivierung von den konkreten Normen abstrahiert oder ob die Form von Sozialität, Normativität, Diskursivität an sich die Potentialität einer freien Reflexivität offenlegt. Anders formuliert: Ist die genealogische Geschichte des Subjekts, die Butler erzählt, in erster Linie eine historische oder eine systematische? Entwickeln sich die Potentiale zu widerständiger Praxis in einer neoliberal geordneten Gesellschaft auf dieselbe Weise wie in einer Feudalherrschaft? Vollzieht sich eine Selbstaneigung durch Selbstenteignung notwendig in der Geschichte der Subjektivierung oder ist sie an bestimmte politische, normative, gesellschaftliche Bedingungen geknüpft? Da Butler sich nicht nur auf die notwendig asymmetrische Form des Verhältnisses zwischen Subjekt und gesellschaftlicher Macht bezieht, sondern immer auch einzelne, sehr grundlegende (und konkrete) Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders wie der Forderung nach Autonomie oder dem Anspruch auf Identität sowie des Verbots von Homosexualität thematisiert, scheint auch die Selbstbezugnahme des Subjekts von den konkreten Bedingungen abzuhängen. Sie weist stets auf die Fragilität eines gelingenden Selbstverhältnisses hin und legt damit nahe, dass gewisse gesellschaftliche Praktiken, die zu Normen werden, jenes Selbstverhältnis verwehren oder bedrohen. Die Mechanismen der Bildung des Subjekts respektive der geistigen Fähigkeit der Reflexion gestalten die Mittel, die dem Subjekt als widerständigem Potential bereit stehen. In der Wiederholungsstruktur der psychischen Rückwendung sieht Butler die Möglichkeit der Verwirklichung dieses Potentials. Aber aufgrund gesellschaftlicher Praktiken, die der Selbstentzogenheit und Offenheit des Subjekts zuwiderlaufen, kann dieses Potential blockiert werden und unnutzbar sein. Dies hängt, so deutet Butler in Das Unbehagen der Geschlechter an, zum Beispiel an der Gewalt und Durchschlagskraft bestimmter Normen, die dem Subjekt Anerkennung nur im Rahmen von Kohärenz und Identität ermöglichen. Wenn Butler sich fragt, wie „die Regulierungsverfahren, die die Geschlechtsidentität bestimmen, auch die kulturell intelligiblen Identitätsbegriffe
2.3 Freiheit als Selbstenteignung und Selbstaneignung
57
[bestimmen],“77 und zu dem Schluss kommt, dass jene „Regulierungsverfahren“ das Selbstverständnis (hier in Bezug auf die Geschlechtsidentität) in diskursiv erzwungener Heterosexualität besteht, dann räumt sie den kulturellen Normen bezogen auf das reflexive Verhältnis zu sich selbst eine restriktive Macht ein.78 Trotzdem hält Butler an der Möglichkeit eines (selbst-)widerständigen Subjekts fest. Damit arbeitet sie zwei wesentliche Aspekte von Freiheit heraus. Erstens zeigt sie die Möglichkeit auf, Freiheit jenseits von Autonomie zu denken. Zweitens versteht sie die Sozialität sowohl als Grenze als auch als Möglichkeitsbedingung für Freiheit. Was sichert aber die Ausbildung dieses widerständigen Potentials? Wenn zum Beispiel ein Beharren auf Autonomie laut Butler den gegenteiligen Effekt hat, den es haben sollte, und zur Begrenzung eines freiheitlichen Selbstverhältnisses beiträgt, ist die Frage, unter welchen (sozialen, normativen, gesellschaftlichen) Bedingungen dem Subjekt ein freiheitlicher und transformativer Selbstbezug gelingt. Welche Bedingungen verhindern auf welche Weise jene für Freiheit erforderliche Auflehnung und Aneignung des Selbst? Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der Freiheitsvorstellung in Butlers Theorie der Subjektivierung die Figur der Reflexion zugrunde liegt. Das Besondere an dieser Art der Reflexivität ist aber, durch einen grundsätzlichen Bruch mit sich selbst gekennzeichnet zu sein, sodass Butlers Konzept der Reflexivität die Vorstellung dialektischer Negativität zu überschreiten scheint (dies wird in den folgenden Kapiteln näher untersucht). Etwas im Subjekt, das Butler auch mit dem Unbewussten assoziiert – „ein bestimmter Modus, in dem das unaussprechlich Soziale fortbesteht“79 –, entgeht der Bewegung der Dialektik. Dieser Bruch im Subjekt ist es, aus dem das Potential der Befreiung hervorgeht. Doch wie kann dieser Bruch begrifflich genau gefasst werden? Dieser notwendige Bruch mit sich selbst scheint für Butler durch das Existenzstreben motiviert zu sein. Wie allerdings das Wirken dieses Strebens, dieses vorsubjektiven Impulses im Einzelnen zu verstehen ist und wie es eingebunden werden kann in eine Theorie sozial konstituierter Subjektivierung, bleibt Aufgabe des folgenden Kapitels. Es ergibt sich bei Butler an dieser Stelle eine Erklärungslücke, die sie selbst als solche offen legt, wenn sie sagt, dass der Übergang zwischen zwei Modalitäten von Macht nicht begrifflich fassbar ist.80
77Butler:
Das Unbehagen der Geschlechter, S. 38 (meine Anm.). Butler: 5. Identität, anatomisches Geschlecht und die Metaphysik der Substanz, in: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 37–48. 79Butler: Konkurrierende Universalitäten, S. 194. 80Butler beschreibt dies so: „Es läßt sich kein begrifflicher Übergang vollziehen zwischen der Macht, die dem Subjekt, auf es »einwirkend«, äußerlich ist, und der Macht, die für das Subjekt, von ihm handelnd »bewirkt«, konstitutiv ist.“, in: dies.: Psyche der Macht, S. 19 (meine Hervorh.). 78Vgl.
2 Judith Butler: Subjektbildung aus dem Leben
58
2.4 Zwischenfazit: Genealogie und Phänomenologie der sozialen Subjektkonstitution Als Resultat der Auseinandersetzung mit den zwei paradigmatischen Ansätzen einer Theorie sozialer Subjektivität von Judith Butler und Robert Pippin ergeben sich jeweils unterschiedliche Perspektiven auf die soziale Konstituiertheit des Subjekts. Daraus resultieren auch die verschiedenen Ansätze, Subjektsein und dessen Freisein zu beschreiben. Es wurde jeweils versucht, die dem Begriff des Subjekts inhärente Bedeutungsdimension eines besonderen Selbst- und Weltverhältnisses herauszuarbeiten, das anders als ein deterministisches Befolgen von natürlichen oder sozialen Gesetzen zu verstehen ist. Während Pippin sich vor dem Hintergrund eines pragmatistischen Ansatzes bei seiner Subjektanalyse auf die Hegelsche Phänomenologie stützt, lässt sich Butlers Theorie der Subjektivierung in eine genealogisch-dekonstruktive Methode einordnen. Die Divergenzen, die sich zwischen beiden Herangehensweisen gezeigt haben, lassen sich auf eben jene Vorgehensweise der beiden Autor*innen zurückführen. Der fundamentale Unterschied zwischen Butlers und Pippins Theorien der sozialen Konstituiertheit des Subjekts liegt darin, dass Butler das Subjekt im Gegensatz zu Pippin als genealogisch Gebildetes versteht. Sie beschreibt die Bildungsgeschichte des Subjekts vor dem Hintergrund zweier Prozessualitäten, die ineinander wirken. Das Besondere daran ist, dass eine dieser Prozessualitäten sich dadurch auszeichnet, der dialektischen Subjektivierung vermeintlich äußerlich zu sein, ihr voranzugehen oder zumindest nicht mit ihren Mitteln zu erfassen ist. Das Streben nach Existenz bestimmt als ‚Vorgeschichte‘ des Subjekts jedoch die dialektische Subjektivierungsgeschichte fortwirkend, so die These. Pippin hingegen analysiert das Subjekt ausgehend von der Handlungsstruktur eines bereits gebildeten Subjekts. Er glaubt, dass sich Freiheit und soziale Konstituiertheit des Subjekts hinreichend beschreiben lassen, wenn die soziale Konstituiertheit einer autonomen Handlungsfähigkeit erklärt wird. Die (sozial konstituierte) Herkunft des Subjekts ist innerhalb dieser Betrachtung nicht von Bedeutung. Dieser fundamentale Unterschied entspricht der von Christoph Menke in einem Aufsatz zum Verhältnis von Genealogie und Phänomenologie beschriebenen Differenz zwischen zwei Weisen, den Übergang von Natur zu Kultur zu verstehen: Der grundlegende Zug einer Genealogie des Geistes besteht darin, das Werden des Geistes nicht, wie in dessen Phänomenologie, als den Prozeß zu verstehen, in dem wir erfahren, daß der Geist unser Grund, weil der Begriff des Geistes für unser Selbstverständnis schlechthin grundlegend ist, sondern so, daß die Struktur oder Fähigkeit des Geistes selbst aus einem vorgängigen Grund entstanden ist.81
Während Pippins Analyse des Subjekts eher als ein wie von Menke beschriebenes phänomenologisches Verfahren beschrieben werden kann, steht für Butler das
81Christoph
Menke: Geist und Leben, S. 331 (meine Hervorh.).
2.4 Zwischenfazit: Genealogie und Phänomenologie …
59
Werden des Subjekts aus einem ihm „vorgängigen Grund“ für den Subjektbegriff selbst im Zentrum. Zwar betrachtet Pippin weniger die Prozessualität des Subjekts, aber mit dem Verständnis von Normativität als Produkt eines kollektiven (mit Hegel könnte man sagen absoluten) Geistes verwendet Pippin die Begründungsfigur, die Menke beschreibt: Das Subjekt ist durch den Geist oder das Normative begründet. Damit ist es immer schon Geist und lässt sich nicht auf etwas Außergeistiges zurückführen. Butler hingegen begründet den Prozess der Subjektivierung mit einem Verweis auf ein vorsubjektives Existenzstreben, das sich nicht mit dem Vokabular des Subjekts fassen lässt. Der Begriff der Genealogie beschreibt in dem hier anhand von Butler rekonstruierten Verfahren also vor allem eine Prozessualität, deren Beginn wesentlich so gedacht wird, dass er dem Subjekt selbst äußerlich zu sein scheint. Dass Genealogie (notwendig) auch in einer kritischen Praxis des Erzählens besteht, wie Martin Saar in seinem Aufsatz Genealogy and Subjectivity zusammenfasst,82 zeichnet Butlers Theorie der Subjektivierung sicher gleichermaßen aus, trägt aber nicht zu dem entscheidenden Unterschied der Herangehensweisen von Butler und Pippin bei. Die Bedeutungsdimension der Kritik, die dem Genealogiebegriff anhaftet, wird im Folgenden daher keine Vordergründige Rolle spielen. Was vor allem anhand Butlers genealogischer Methode im Unterschied zu Pippin herausgestellt werden soll, ist, dass auf diese Weise die soziale Konstituiertheit verständlicher wird, eben weil sie die Zirkularität der Begründung von Subjektivierung verschiebt. Bei Butler fungiert ein außersubjektives Streben nach Existenz als Begründungsmoment des Subjektivierungsprozesses, das das soziale Werden des Subjekts in weiterer Folge bestimmt. Aus dieser Dynamik des Strebens nach Existenz, die sich im Subjektivierungsprozess in Form einer unartikulierbaren Leerstelle zeigt, bezieht Butler ihr Verständnis von Freiheit. Weil Pippin das Subjekt demgegenüber nicht in seiner genealogischen Prozesshaftigkeit sondern lediglich in der Bewegungsdynamik zwischen Subjekt und Sozialem betrachtet, vermag er keinen freiheitlichen Bezug des Subjekts zur Welt und zu sich selbst zu erklären. Die Pippinschen Subjekte sind lediglich dann auf freie Weise handlungsfähig, wenn sie die gegebenen normativen Regeln in ihren Handlungen reproduzieren. Butler scheint in ihrer Theorie der Subjektivierung hingegen eine phänomenologische mit einer genealogischen Perspektive zu verbinden. Einerseits legt sie nahe, dass das Subjekt sein eigenes Werden nur mit den Mitteln betrachten kann, über die es als Subjekt verfügt (in einer Art Selbstbetrachtung), sieht aber andererseits die Notwendigkeit einer vorsubjektiven und vorsozialen Begründung, über die sich aus ihrer Sicht nicht mehr sagen lässt als eine Kraft, ein Antrieb, ein Streben nach Leben zu sein. Butlers Beschreibung der Subjektivierung setzt eine vorsubjektive Kraft voraus, ein vordiskursives Streben nach Leben. Der Übergang eines nicht-sozialen zu einem sozialen Wesen wird hier genealogisch mit der
82Vgl.
Martin Saar: Genealogy and Subjectivity, S. 232 f.
60
2 Judith Butler: Subjektbildung aus dem Leben
Annahme eines Anfangs der Differenz vollzogen. Aus diesem Grund unterscheidet sich das Ergebnis der Butlerschen Subjektanalyse hinsichtlich der Bestimmung eines widerständigen Subjekts so grundlegend von Pippin. Dieser vorsubjektive Anfang des Subjekts wirkt im Prozess der Subjektivierung fort und begründet die Möglichkeit einer Selbstaneignung. Auch, wenn Butler dies selbst nicht ausführt, bietet das Existenzstreben gerade aufgrund seines besonderen Status für soziale Subjektivierung auch die Möglichkeit, das Potential der Subjekte zu einer radikal emanzipativen Befreiung zu eruieren. Die folgenden Kapitel versuchen diesen Zusammenhang aufzugreifen und näher zu verstehen.
Teil II
Am Rand der Differenz: das Streben nach Existenz
Nachdem im ersten Kapitel der Frage nachgegangen wurde, wie Subjekte als sozial Konstituierte verstanden werden können und welche Vorstellungen dies jeweils über die Möglichkeit eines freiheitlichen Selbst- und Weltverhältnisses impliziert, wird im Folgenden im Anschluss an Butlers Theorie der Subjektivierung weiter danach gesucht, worin ein mögliches Potential radikaler emanzipativer Praxis bestehen kann. Eine Theorie sozialer Subjektivierung sollte auch, so der Anspruch, erklären können, wie und aufgrund welcher Mechanismen das Subjekt befähigt wird, von den sozialen Strukturen abzuweichen, die es bedingen, und so zu deren Transformation beizutragen. In ihrer Theorie sozialer Subjektivierung beschreibt Judith Butler dieses Vermögen als einen Wandlungsprozess von Macht, ohne klar zu stellen, wie das Subjekt diese Wandlung vollzieht. Meine Folgerung aus der Analyse ihrer Subjektivierungstheorie im ersten Kapitel ist, dass Butler selbst jene Fähigkeit voraussetzt, eine von ‚außen‘ wirkende Macht als eigene anzueignen. „Eine auf das Subjekt ausgeübte Macht, ist die Unterwerfung doch eine vom Subjekt angenommene Macht, eine Annahme, die das Instrument des Werdens dieses Subjekts ausmacht.“1 Diesen Übergangsprozess, das „Instrument des Werdens“, jedoch genauer zu verstehen, so die hier vertretene These, bedeutet auch, ein Verständnis der Möglichkeiten einer radikalen Emanzipation von repressiven sozialen Mechanismen auszuweiten. Was Butler als zugrundeliegende, nicht aber explizierte Idee anderer Subjektivierungstheorien und ihrer eigenen aufdeckt, ist ein der Subjektbildung zugrundeliegendes Streben nach Fortführung der eigenen Existenz. Diese fundamentale Annahme eines Existenzstrebens weist Butler selbst als jenes „Instrument des Werdens“ aus, indem sie sie als Begründung der Subjektivierungsbewegung anführt. Es liegt daher der Schluss nahe, dass auch 1Butler:
Psyche der Macht, S. 16.
Teil II Am Rand der Differenz: das Streben nach Existenz
62
die Entwicklungsdynamik des Subjekts in eben jenem Streben nach Existenz begründet ist. Um also dem Verständnis eines freiheitlichen Selbst- und Weltverhältnisses näher zu kommen, soll der Intuition nachgegangen werden, das von Butler angenommene Streben nach Weiterleben dahingehend zu untersuchen, wie es zum Verständnis einer emanzipativen Dimension dieser Dynamik des Werdens beitragen kann. Dass diese Dynamik nicht einseitig als Selbstbildungsbewegung verstanden werden kann, folgt zwangsläufig, wenn das Subjekt in seiner sozialen Subjektivierung betrachtet wird, denn sie erweist sich in dieser Perspektive „sowohl als Effekt einer vorgängigen Macht wie als Möglichkeitsbedingung“2 für selbstbestimmte transformative Praktiken. Eine Beschäftigung mit dem Streben nach Existenz als möglichem Hinweis für die Beschreibung des Potentials, freiheitlich auf sich selbst und die Welt Bezug zu nehmen, kann daher nicht darauf zielen, diese Ambivalenz mit einer einfachen Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit von Freiheit zu lösen, sondern sie für eine derartige Bestimmung als Ausgangspunkt zu nehmen. Kann das Streben nach Existenz, das Butler als genealogischen Ursprung des Subjekts ausweist, das „Instrument des Werdens“ so erläutern, dass es zu einem Verständnis radikaler Befreiungsmöglichkeiten von Subjekten beiträgt? Wenn sich das Streben nach Existenz als Erklärungsmodell für den Operator des Werdens, dann scheint das Subjekt trotz und vermittels seiner sozialen Konstituiertheit ein besonderer Kandidat für gesellschaftliche Transformation: Vermag das Subjekt also nicht trotz, sondern gerade aufgrund seiner sozialen Konstituiertheit unter bestimmten Bedingungen eben jene Machtverhältnisse zu verändern, die es bedingt? Im Folgenden wird das Streben nach Existenz im Hinblick auf die Frage nach dessen Bedeutung für die dem Subjekt wesentliche (möglicherweise freiheitliche) Prozesshaftigkeit untersucht. Aus der Diskussion der beiden Subjekttheorien des ersten Kapitels ging hervor, dass eine genealogische Betrachtung für die weitere Analyse vielversprechend ist. Sie liegt der Annahme über die Notwendigkeit eines solchen Strebens nach Existenz zugrunde. Die Differenzen in der Betrachtung des Subjekts als sozial Konstituiertem bei Robert Pippin und Judith Butler im ersten Kapitel resultieren aus ihren jeweiligen Methoden, so die These. Wird das Subjekt – wie Pippin es in Hegel’s Practical Philosophy tut – phänomenologisch betrachtet, entsteht eine für die Möglichkeit eines freiheitlichen Subjekts problematische Zirkularität. Durch das Vorgehen der Selbstschau des Geistes wird in einer solchen phänomenologischen Theorie das Werden des Subjekts als Prozess beschrieben, der immer nur offenlegt, was das Subjekt von Beginn an ist. Die Geschichte der Subjektivierung wird aus der Perspektive des Subjekts erzählt, ohne sich den ihm selbst äußeren Bedingungen des eigenen Werdens gewahr zu sein. Da sich das Subjekt gemäß seinem eigenen Selbstverständnis aber in Differenz zur Natur und zum bloßen Leben sieht, ist das phänomenologische Werden des Subjekts eine Geschichte der Überwindung der eigenen Bedingungen des Entstehens, nicht eine Geschichte der Kontinuität dieser Bedingungen für
2Ebd.,
S. 19.
Teil II Am Rand der Differenz: das Streben nach Existenz
63
das Subjekt. Daraus folgt einerseits, dass das Subjekt, wenn dessen Sozialität als konstitutive Bedingung angenommen wird, diese als ihm selbst äußerlichen Bedingungen im Bildungsprozess notwendig hinter sich lässt, und andererseits, dass eine Theorie der Subjektivierung bloß die Strukturen des Bewusstseins darlegt, über die das gebildete Subjekt verfügt und daher keinen Ort ausfindig machen kann, an dem es die Bedingungen des eigenen Bewusstseins zu überschreiten vermag.3 Das Problem dieses zirkulären Verständnisses von Subjektivierung aus Pippins Theorie liegt darin, ein Selbstverständnis zu entwickeln, in dem ein über sich selbst hinausweisendes, aber dennoch im Selbst wirksames und konstitutives Moment begrifflich ausgeschlossen wird. Eine genealogische Betrachtung versucht, das Werden des Subjekts entgegen der phänomenologischen Methode jedoch auf einen außersubjektiven Ursprung zurückzuführen und vermittelt daher in ihrem Subjektverständnis Subjektives mit außer-Subjektivem. Christoph Menke beschreibt dies in einem Aufsatz zum Verhältnis von Phänomenologie und Genealogie folgendermaßen: „Die Genealogie untersucht die Herkunft des Geistes aus dem (und gegen das), was er nicht ist – aus Geistlosem. Deshalb sieht sie, was die Phänomenologie nicht sieht: das unauflösbare Verhältnis auch des gebildeten Geistes zum Geistlosen.“4 Mit Butlers Vokabular lässt sich das in der Genealogie betrachtete Verhältnis als eines zwischen Subjekt und Außersubjektivem umformulieren. Darunter kann die Kontingenz natürlicher und materieller Bedingungen sowie ein dem Subjekt selbst entzogenes Verhältnis zu anderen Subjekten verstanden werden. Butlers Theorie sozialer Subjektivität verfolgt damit genau den Versuch, Subjektbildung und daher auch das gebildete Subjekt in seinem inhärenten Verhältnis zu seinen außersubjektiven Entstehungsbedingungen zu betrachten, den Grund des Subjekts außerhalb desselben als wesentlichen Zug in die Subjektivierung einzubeziehen. Das Streben nach Existenz oder Weiterleben beschreibt die Annahme eben jener außersubjektiven Herkunft, die dem Subjekt seine ambivalente Struktur verleiht. Die im Folgenden dargelegte Analyse bezieht sich auf das Streben nach Existenz als genealogische Prozessualität des Subjekts und besteht darin, in diesem „unauflösbaren Verhältnis“ des Subjekts zu seinen vorsubjektiven Bedingungen die Möglichkeit eines freiheitlichen Selbst- und Weltbezugs zu suchen. Dabei kann es nicht darum gehen, außersubjektive Seinssphären im ontologischen Sinne zu beschreiben, sondern aus dem Subjekt selbst heraus zu beschreiben, was sich der Selbstvorstellung nach als nicht-subjektiver Herkunft des Subjekts und seiner Freiheit aufzwingt. Butlers Vorgehen vermittelt auf diese Weise zwischen phänomenologischer Betrachtung und Genealogie. Zwar wird die Bildung des Subjekts notwendig aus der subjektiven Perspektive analysiert, innerhalb der Selbstbetrachtung des Subjekts jedoch die Notwendigkeit ausfindig gemacht, die Gewordenheit desselben durch eine außersubjektive Komponente bestimmt zu sehen. Damit wird die Hegelsche phänomenologische Methode nicht 3Vgl.
Menke: Geist und Leben, S. 334f. S. 322f.
4Ebd.,
64
Teil II Am Rand der Differenz: das Streben nach Existenz
gänzlich verworfen, sondern durch eine genealogische Betrachtung erweitert. Dieser Beschreibung sozialer Subjektivierung verspricht, zu grundsätzlich anderen Schlüssen über die Möglichkeiten emanzipativer Praxis zu kommen als mithilfe einer rein phänomenologischen Analyse. Zirkulär wird allerdings auch dieses Vorgehen zwangsläufig sein. Doch im Gegensatz zur rein phänomenologischen Betrachtung bindet dieses zirkuläre Verstehen der eigenen Subjektivierung in ihrem Begriff ein außerhalb des Selbst liegendes respektive nicht fassbares Moment des permanenten Werdens des Subjekts ein. So kann dieses Verstehen möglicherweise eine produktive Zirkularität hervorbringen.
3
Das »Streben nach Existenz« in Butlers Theorie der Subjektivierung
Aus der Analyse sozialer Subjektivierung bei Butler haben sich zwei zentrale Fragen ergeben, deren Klärung Ziel der weiteren Abhandlung ist. Erstens: Wie ist die Bildung einer vom Subjekt selbst angeeigneten Kraft zu verstehen und aufgrund welcher durch Sozialität bewirkten Strukturen ist sie als Richtungsumkehr heteronomer Macht möglich? Zweitens: Welche Bedeutung nimmt das Streben nach Existenz für den Übergang zwischen einer dem Subjekt äußeren, es bewirkenden und einer vom Subjekt selbst einsetzbaren Macht ein? Die erste Frage bezieht sich auf das grundlegende Paradox der Subjektivität, das insbesondere dann offensichtlich wird, wenn das Subjekt als sozial Konstituiertes gedacht wird. Paradox ist die Tatsache, dass das Subjekt einerseits als (in welcher Weise auch immer) sich selbst bestimmende Instanz und andererseits als fundamental in Abhängigkeit entstandenes und weiterhin heteronom bestimmtes Wesen gesehen wird. Führt Butler ein Streben nach Existenz an, das noch vor seiner eigentlichen Entstehung jene Entstehung erst bewirken soll, stellt sich die Frage, auf welche Weise dieses Streben ebenso wie die unterwerfenden und ermächtigenden Machtdynamiken des Sozialen in der Bildung des Subjekts weiter wirken. Gewissermaßen steht die zweite Frage im Hintergrund der ersten: Wie kann das Streben nach Existenz so beschrieben werden, dass es eine Richtungsumkehr der Macht, jenen konstitutiven Bruch also, im Subjekt erklären kann? Wie kann also die Funktionsweise der Prozessualität des Subjekts aus der Begründung eines vorsubjektiven Anfangs so abgeleitet werden, dass sie das Werden als tatsächliche Selbsttransformation fassen kann? Dass der Frage nach der Möglichkeit und Bildung einer sich zu eigen gemachten Kraft, die eigentlich nicht dem Subjekt selbst entspringt, nicht mit Rekurs auf den Autonomiebegriff nachgegangen werden kann, ergibt sich aus dem Paradox der Autonomie in Verbindung mit einem Verständnis sozialer Subjektivierung. Wird die Fähigkeit einer vollkommen autonomen Selbstbestimmung als definierendes Moment des Subjekts gesetzt, und diese als kausale Relation im
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Junker, Soziale Subjektivierung, Negativität und Freiheit, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05734-1_3
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3 Das »Streben nach Existenz« in Butlers Theorie …
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Handlungsbegriff dargestellt, widerspricht dies einem sozialen Bildungsprozess des Subjekts, in dem die außersubjektiven Momente dieses Prozesses ebenso von Bedeutung sind wie die vom Subjekt angeeigneten Dynamiken. Wenn man wie Butler die Tatsache in die Subjekttheorie einbezieht, dass das Subjekt durch Sozialität konstituiert wird und daher nicht sein eigener Grund ist und bleibt, kann der Begriff der Autonomie im Sinne einer selbstgesetzgebenden Willens- und Handlungsfreiheit nicht mehr aufrechterhalten werden. Vielmehr war das Resultat der Betrachtung der Butlerschen Subjektivitätstheorie, dass Freiheit paradoxerweise genau darin zu suchen ist, wo sie am wenigsten zu vermuten ist: in dem Selbstverhältnis der Selbstenteignung. Bei der Frage nach der für ein Freiheitsverständnis so bedeutsamen Richtungsumkehr einer bewirkenden zu einer selbst eingesetzten Macht kann daher nicht auf die Idee der Autonomie zurückgegriffen werden. Stattdessen wird hier der Versuch unternommen, die Butlersche Prämisse eines Strebens nach Existenz daraufhin zu befragen, wie sie ein Freiheitsverständnis jenseits von Autonomie erhellen kann. Die leitende These dabei ist, dass das Potential des Subjekts zu radikal emanzipativer Praxis in jenem konstitutiven Bruch zu suchen ist, der sich in der Reflexivität des Subjekts entfaltet. Dieser Bruch mit sich selbst scheint für Butler durch das Existenzstreben motiviert zu sein. In Kritik der ethischen Gewalt verbindet sie den Gedanken des Bruchs im Selbst mit der „Vorgeschichte“ des Subjekts, die das Existenzstreben darstellt: Vielleicht haben Sie den Eindruck, ich erzählte hier faktisch etwas über die Vorgeschichte des Subjekts, eine Geschichte, die sich, wie ich sagte, gar nicht erzählen lässt. […] Diese Vorgeschichte [hat] nie aufgehört, sich zu ereignen, und ist daher auch keine Vorgeschichte im chronologischen Sinn. Sie ist nicht abgetan, vorüber, in eine Vergangenheit verwiesen, die dann Teil einer kausalen oder narrativen Rekonstruktion des Selbst würde. Ganz im Gegenteil ist es diese Vorgeschichte, die die Geschichte unterbricht, die ich von mir selber liefern muss, […].1
Das, was die Bildung des Subjekts genealogisch begründen soll, äußert sich im Subjekt als Bruch. Die Funktion des Existenzstrebens als Bruch im Selbstverhältnis des Subjekts wird mit der Möglichkeitsbedingung dessen Widerständigkeit in Verbindung gebracht. Was trägt das Streben nach Existenz also zum Verständnis der Verbindung sozialer Subjektivierung und Freiheit bei? Butler verweist zwar auf das Streben, das als Initiator des Subjekts fungiert, bringt dieses aber selbst nicht in einen Zusammenhang mit der Möglichkeit widerständiger Praxis der Subjekte. Dies ist auf Butlers theoretisches Fundament zurückzuführen: Jedes mögliche Denken basiert notwendig auf der Struktur der Sprache. Andere lebensorganisierende Formen wie Normativität, Diskursivität und soziale Praktiken ähneln in ihrem Aufbau einer basalen Grammatik, die den abstrakten Strukturen nach einer sprachlichen Grammatik entspricht. Die Annahme eines vorsubjektiven Strebens nach Weiterexistenz bezieht sich aufgrund dessen initiatorischen
1Butler:
Kritik der ethischen Gewalt, S. 107 (meine Hervorh.).
3.1 Das Existenzstreben im Zusammenhang mit der Frage nach Freiheit
67
Charakters auf einen Bereich, der außerhalb des denkbaren und daher nicht beschreibbaren liegt. Einen epistemischen Bezug des Subjekts zu diesem Teil seiner konstitutiven Bedingungen hält Butler für unmöglich – was nicht bedeutet, dass jene Bedingungen nicht trotzdem wesentlich wären für die Art der Reflexivität des Subjekts: Das »Ich« kann in der Rekonstruktion seiner Vergangenheit niemals zu einer vollständigen Kenntnis dessen gelangen, was es antreibt, weil seine Entstehung immer seiner Entwicklung zu reflektierter Selbsterkenntnis vorausliegen wird. Dies erinnert uns daran, dass die bewusste Erfahrung nur eine Dimension des psychischen Lebens ist und dass Bewusstsein und Sprache uns keine vollständige Kontrolle jener primären, prägenden Abhängigkeitsbeziehungen ermöglichen, die uns auf nachhaltige und dunkle Weise formen und konstituieren.2
Ziel dieses Kapitels ist es aber, diese vorsoziale, vordiskursive Annahme dennoch genauer zu untersuchen – nicht um außerdiskursive Wahrheiten zu beschreiben, sondern um die Idee jener Annahme daraufhin zu untersuchen, was ihre Wirkungen im Rahmen des Symbolischen, Diskursiven, Sozialen ist. Weil sich in Butlers Theorierahmen genaugenommen nichts darüber sagen lässt, was vor der Differenzierung subjektvier Strukturen existiert, und weil sie das Existenzstreben nicht als einen besonderen Übergang auffasst, der die Möglichkeiten radikaler Befreiung des Subjekts bestimmen könnte, geht dieses Vorhaben über eine Rekonstruktion der Butlerschen Subjektanalyse hinaus. Die Annahme eines vorsubjektiven Strebens nach Existenz auf ihre Rolle für die Möglichkeit widerständiger Praxis hin zu befragen, ergibt sich aus der Intuition, dass hierin der Kern eines Verständnisses von Werden zu bestehen scheint, der dem Subjekt ein (selbst-)transformatives Verhältnis zu sich und der Welt ermöglicht. Die Konkretisierung der Prämisse des Strebens nach Existenz zielt aber darauf ab, mit Butlers Theorie kohärent zu sein und ihr etwas hinzuzufügen, sodass das Wesentliche ihrer Theorie sozialer Subjektivierung nicht verworfen werden muss.
3.1 Das Existenzstreben im Zusammenhang mit der Frage nach Freiheit Das Streben nach Existenz tritt in verschiedenen Variationen in Butlers Theorie der Subjektivierung in Erscheinung. Immer dann, wenn eine Bewegung im Subjekt thematisiert wird, die einen transformierten Zustand hervorbringt, ist die Annahme eines Strebens nach Weiterexistenz in Butlers Theorie unabdingbar. Dieses Streben und die Möglichkeit eines transformativen Selbst- und Weltverhältnisses scheinen daher auf besondere Weise aneinander geknüpft zu sein. Wie kann das Verhältnis zwischen dem Streben nach Existenz und einem möglichen Begriff der Freiheit jedoch konkret beschrieben werden? Welchen Effekt kann es für
2Ebd.,
S. 80.
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3 Das »Streben nach Existenz« in Butlers Theorie …
eine Theorie der Freiheit haben, jenes vorsoziale Streben genauer zu bestimmen? Da diese Arbeit einen Freiheitsbegriff bemühen will, der die Idee eines sozial konstituierten Subjekts aufgreift, stellt sich zusätzlich die Frage, wie die Elemente eines solchen Begriffs mit der Sozialität des Subjekts verbunden sind. Wie können die Momente eines Freiheitsbegriffs so vorgebracht werden, dass sie sich genauso wie das Werden des Subjekts als Folge einer sozialen Subjektivierung ergeben? Der Versuch, in Butlers Theorie der Subjektivierung einen Freiheitsbegriff zu finden, führt dahingehend ins Leere, als dass sie eine gewisse Fähigkeit zur Selbsttransformation behauptet, aber nicht erklärt. Wenn sie die Möglichkeit von Handlungsfähigkeit auf der Basis eines Übergangs der initialen Unterwerfungsszene zu einer Macht, die das Subjekt selbst einzusetzen vermag, verstanden wissen will, sind die möglichen Komponenten eines Freiheitsbegriffs in diesem einen Schritt des Übergangs implizit enthalten, nicht aber theoretisch aufgearbeitet. Indem Butler sowohl auf die permanent im Subjekt wirksame Selbstentzogenheit als auch auf eine sich trotz dessen notwendig bildende Widerständigkeit verweist und diese auf das Streben nach Weiterleben zurückführt, sind in diesem Streben zwei Schritte zusammengefasst, deren Verbindungselement für die Bedeutung von Befreiung von großer Relevanz ist: Das Streben beschreibt eine treibende Kraft, die sowohl die konstitutive Sozialität als auch das Transformationspotential des Subjekts erklärt. Dass sich die Wirkungsweisen der Macht durch den Bildungsprozess des Subjekts verschieben und dies aus einem Zusammenspiel aus Selbstentzogenheit und Widerständigkeit entsteht, ist eine These, für die Butler zwar Argumente liefert, jenen Akt der Transformationsmöglichkeit selbst jedoch nicht erklärt, sondern mit dem Verweis auf den Wunsch nach Weiterexistenz bloß den Grund einer transformativen Bewegung beschreibt. Stellt man die Theorie der sozialen Subjektivierung also in den Dienst einer Suche nach einem sich daraus ergebenden Freiheitsbegriff, scheint sich das Existenzstreben als roter Faden sowohl der Subjektivierung als auch des Potentials von Freiheit zu ergeben. Diese alles begründende treibende Kraft fungiert als Erklärung für die Entstehung des Subjekts als sozial Konstituiertem und für dasjenige Moment, das dessen Weiterleben in seiner sozialen Existenz sichert. Wenn das Subjekt sich als Folge eines vorsubjektiven, vorsozialen, vordiskursiven Strebens nach Existenz konstituiert und dieses Streben für das Subjekt in seiner weiteren Bildung von wesentlicher Bedeutung bleibt, liegt es nahe, die Möglichkeit der Welt- und Selbsttransformation in Verbindung zu jener überaus wirksamen Kraft zu suchen. Um Butlers theoretisches Fundament in der Formulierung eines ihrer Theorie selbst implizierten Begriffs jenes transformatorischen Übergangs beizubehalten, sollte das Existenzstreben nicht als essentialistische Setzung angenommen werden. Das Streben nach Leben als erste wahre unergründbare Bedingung zu verstehen, würde entweder bedeuten, es als Glaubenssatz aufzufassen, oder die Behauptung implizieren, Subjekte seien zu einem Wissen solcher Wahrheiten fähig. Beides soll umgangen werden, indem das Streben nach Existenz selbst als Effekt von Sozialität aufgefasst wird. Der Versuch, das Streben nach Existenz in seiner Verbindung zum Potential für ein Verständnis radikaler Befreiung
3.1 Das Existenzstreben im Zusammenhang mit der Frage nach Freiheit
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zu thematisieren, muss daher stets im Blick behalten, jene Voraussetzung des Subjekts und dessen Freiheit vom Bildungsprozess selbst her zu verstehen und sie nicht als essentialistische Annahme in die Subjekttheorie einzubeziehen. Essentialistisch oder reduktionistisch wird eine genealogische Aufarbeitung des Strebens nach Existenz dann, wenn die Differenz zwischen jenem vorsubjektiven Ursprung und den gebildeten Formationen des Subjekts aufgelöst und eine einfache Entsprechung behauptet wird.3
3.1.1 Das Unsichtbare der Reflexivität Butler selbst verortet die Widerständigkeit des Subjekts in einem Zwischenspiel aus Reflexivität und fortwirkender Selbstentzogenheit, die sich aus dem der Reflexivität immer schon Entzogenen ergibt. Sie betont in Kritik der ethischen Gewalt sowohl, dass Freiheit in einer ambivalenten Spannung der Reflexivität zwischen nicht gewählten, dem Subjekt äußeren Voraussetzungen und den Instanzen bewusster Reflexivität liegen muss, als auch, dass dieses Freiheitspotential nur in Abhängigkeit von der sozialen Welt zu verstehen ist: Weder bringt die Norm das Subjekt als ihre notwendige Wirkung hervor, noch steht es dem Subjekt völlig frei, die Norm zu missachten, die seine Reflexivität in Gang setzt; unweigerlich ringt man mit den Bedingungen seines Lebens, die man sich nicht hätte aussuchen können. Wenn es Handlungsfähigkeit, ja Freiheit in diesem Ringen gibt, dann stets in Bezug auf ein ermöglichendes und begrenzendes Feld von Zwängen.4
Die Bedingungen der Subjektivierung ermöglichen und begrenzen also das Potential zur Befreiung des Subjekts hervorgerufen durch die Wirkung des Sozialen, die nicht eindeutig zu bestimmen ist. Uneindeutig ist die Wirkung des Sozialen deshalb, weil sie auf ein Subjekt trifft, dessen Reaktion aufgrund seiner Individualität nicht berechenbar ist. Warum aber kommt es zu einem „Ringen mit den Bedingungen des Lebens“? Worauf gründet sich diese Selbstbewegung des Subjekts? Wie sich der Bruch im Selbstverhältnis, den das Existenzstreben darstellt und der sich in der Melancholie äußert, zur Reflexivität verhält, beschreibt Butler folgendermaßen: Die Verwerfung bestimmter Formen der Liebe verweist darauf, daß die Melancholie, die das Subjekt begründet (und damit diese Grundlage stets zu erschüttern und zu zerstören droht), eine unabgeschlossene und unlösbare Trauer signalisiert. […] Die Melancholie spaltet das Subjekt, indem sie die Grenze dessen markiert, auf was es sich noch einstellen kann. Weil das Subjekt über diesen Verlust nicht reflektiert, nicht reflektieren kann,
3Vgl.
Menke: III: Gegenteleologie, aus: Geist und Leben, S. 338–342. Kritik der ethische Gewalt, S. 29.
4Butler:
3 Das »Streben nach Existenz« in Butlers Theorie …
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markiert dieser Verlust die Grenze der Reflexivität, markiert er, was deren Zirkularität übersteigt (und bedingt).5
Das nicht Reflektierbare der Reflexion, das deren gleichursprüngliche Basis bildet, bedingt laut Butler die Zirkularität der Reflexion und überschreitet sie gleichzeitig. Konstitutiv für die Bildung des Subjekts ist daher ein unweigerlicher Bruch mit der eigenen reflexiven Struktur. Dieser konstitutive Bruch im Subjekt fungiert als Begrenzung ebenso wie auch als Transformationspotential. Nur vor dem Hintergrund der Annahme eines Existenzstrebens kann Butler erklären, wie es zu einem Konflikt mit dieser ambivalenten Struktur kommen kann. Die Bewegung innerhalb des reflexiven Subjekts, die darauf zielt, die Lücke der Reflexion zu überwinden, lässt sich daher als eine Folge aus dem Streben nach Fortführung des Lebens deuten. Hierin zeigt sich bereits, was richtungsweisend für das zu beschreibende Verhältnis zwischen Existenzstreben und Freiheit ist: Reflexivität, die Grundlage befreiender Praktiken des Subjekts als der Möglichkeit, mit sich selbst ins Verhältnis zu treten, überschreitet den dialektischen Zirkel. Dieser Effekt ergibt sich nicht nebenbei, sondern ist dem reflexiven Selbstverhältnis inhärent. Die notwendig scheiternde Ergründung der Bedingungen des Lebens lässt sich nicht anders als unter Rückgriff auf ein Begehren nach Weiterleben erklären, das der Reflexivität des Subjekts vorausgeht. Das Streben nach Existenz, das den vorsubjektiven Ursprung des im Subjekt erfolgenden Antriebs weiter zu existieren darstellt, erweist sich folglich als ein entscheidender Beitrag zur Erklärung der sozialen Konstituiertheit des Subjekts und dessen Unterwerfungs- und Ermöglichungscharakter. Daraus ergibt sich die leitende These für die folgende Auseinandersetzung: Dass sich das Subjekt die heteronomen Entstehensbedingungen als Dynamik anzueignen vermag, die ihm die Möglichkeit eines transformativen Selbst- und Weltbezugs eröffnet, kann nur illustriert werden, wenn das Streben nach Existenz genauer bestimmt wird. Für einen Begriff der Freiheit scheint mindestens eine Untersuchung dieses Strebens erforderlich, wenn sich nicht sogar herausstellen sollte, dass der Kern eines Verständnisses von Befreiung genau in jener strebenden Kraft besteht.
3.1.2 Das Existenzstreben als Vorstellung Steht die Widerständigkeit des Subjekts in Verbindung zu melancholischer Reflexivität, ist auch die Relation zwischen Widerständigkeit und jener für Reflexivität konstitutiven Lücke näher zu bestimmen. Ist Selbstentzogenheit eine Voraussetzung für die Möglichkeit von Befreiung? Oder ist der elementare Bruch
5Butler:
Psyche der Macht, S. 27 f.
3.1 Das Existenzstreben im Zusammenhang mit der Frage nach Freiheit
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im Subjekt bereits Teil dessen, was als Freiheit des Subjekts bezeichnet werden kann? Butler scheint eine Selbstentzogenheit sowohl als Teil als auch als Grund des handlungsfähigen Subjekts zu sehen: In gewissem Maße ist das »Ich« sich immer durch seine gesellschaftlichen Entstehensbedingungen enteignet. Aber diese Unverfügbarkeit bedeutet nicht, dass wir die subjektive Basis der Ethik verloren haben. Ganz im Gegenteil könnte diese Unverfügbarkeit gerade die Voraussetzung moralischer Fragestellungen sein, die Bedingung, unter welcher die Moral selbst erst entsteht.6
Die Möglichkeit einer freiheitlichen Bezugnahme auf sich selbst wird durch die immer schon entzogenen Entstehensbedingungen des Subjekts eröffnet, die in verschiedenen Formen weiter wirken. Die Gleichursprünglichkeit einer außersubjektiven Wirkung, die die Herkunft des Subjekts mitbegründet, mit der Selbstbildung des Subjekts ist der genealogischen Methode inhärent. Aufgrund der Paradoxie, das begründende Verhältnis zwischen einem vorsubjektiven Ursprung und dem (selbst)bildungsfähigen Subjekt nicht reduktionistisch zu beschreiben, ist das genealogische Verfahren epistemologisch begrenzt beziehungsweise zirkulär. Die Untersuchung des Existenzstrebens zielt daher darauf, die Struktur des reflexiven Subjekts daraufhin zu erforschen, inwiefern sie auf der Vorstellung einer vorsubjektiven Initiationsszene beruht. Damit wird das zirkuläre Verfahren der Genealogie zwar nicht ganz ausgehebelt, aber zumindest hinsichtlich seiner logischen Schlüssigkeit entschärft. Das transitorische Moment des Existenzstrebens wird zwar einerseits als Übergang zwischen einem vorsubjektiven zu einem subjektiven, reflexiven Zustand figuriert, aber angesichts der Tatsache, dass die Butlersche Theorie der Subjektbildung aufgrund der Wiederholungsstruktur der Reflexionsbewegung einen nie abgeschlossenen Prozess beschreibt, wiederholt sich andererseits jenes initiatorische Transitionsmoment im weiteren Verlauf der Subjektivierung. Das Subjekt unterliegt zwangsläufig einem stetigen Bildungsprozess, dem die Annahme einer ‚äußerlichen‘ Prozessualität ebenso zwangsläufig stets innewohnt. So wie der Begriff der Reflexivität notwendig auf ein der Reflexivität äußerliches subjektives Moment in der Gestalt der Selbstentzogenheit verweist, bedarf auch die Erklärung der Funktionsweise der Subjektivierung eines dem Subjekt äußerlichen Moments. Die reflexive Wiederholung des initiatorischen Übergangs vom Nicht-Subjekt zum Subjekt verheißt daher, die Möglichkeit von Selbsttransformation und Befreiung zu erklären. Im Folgenden soll nach der genauen Funktion dieses Strebens in Butlers Theorie gefragt werden, um hieraus eine Möglichkeit abzuleiten, es näher zu beschreiben und für einen Begriff der Freiheit fruchtbar zu machen.
6Butler:
Kritik der ethischen Gewalt, S. 15
72
3 Das »Streben nach Existenz« in Butlers Theorie …
3.2 Die Funktion eines transitiven Strebens Um die implizite und für Butlers Theorie der sozialen Subjektivierung so elementare Annahme des Strebens nach Existenz zu betrachten, ohne dabei den Gedanken der sozialen Konstituiertheit des Subjekts zu verwerfen, gilt es zunächst zu fragen: Welche Funktion erfüllt der Rückgriff auf diese besondere Kraft, die als Begründungsmoment der Subjektivierung gedacht wird und die Bildung und das Subjektssein permanent bestimmt? Diese Frage zielt nicht nur darauf, die Funktion des Strebens für die Bildung des Subjekts, sondern auch die Bedeutung der Annahme eines solchen Strebens für Butlers Theorie der Subjektivierung zu ergründen. Die Funktion der Annahme des Strebens nach Existenz in den Blick zu nehmen, soll Anhaltspunkte dafür geben, wie dieses genauer zu bestimmen ist. In Butlers Theorie der Subjektivierung markiert das Existenzstreben den Eintritt in die Bildungsgeschichte des Subjekts. Diese fundamentale Funktion allein weist dem die Subjektivierung initiierenden Streben eine besondere und im Rahmen ihres Theoriefundaments oberflächlich betrachtet eine untypische Rolle zu.7 Besonders ist das Streben im Dienste der Initiation des Subjekts deshalb, weil es sich hierbei notwendig um eine Bewegung handeln muss, die so gedacht ist, dass sie sich zunächst außerhalb der Ordnung des Symbolischen, Sozialen, Diskursiven und Normativen vollzieht. Sie befindet sich damit an der Schwelle zum Sozialen. Noch bevor jede Differenz (zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen Kultur und Natur, zwischen Individuum und Allgemeinheit) für das Subjekt überhaupt möglich ist, wird das Streben als eine Bewegung angenommen, die eine solche Differenz zwischen Ich und intelligibler Ordnung mit dem Eintritt in diese erst herstellt. Mit dem Beginn der Subjektivierung befähigt durch ein Streben nach Existenz beginnt auch die Existenz des Subjekts als sozialem Wesen. Woraus ergibt sich die Notwendigkeit eines solchen Verweises auf einen zunächst so rätselhaften Impuls in Butlers Subjektanalyse? Es muss ein Streben konstatiert werden, das das Subjekt dazu bewegt, sich der Ordnung normativer Ansprüche unterzuordnen. Anhand der Auseinandersetzung mit Louis Althussers ‚Anrufung‘ des Subjekts in Psyche der Macht zeigt Butler auf, dass es einen Grund geben muss, sich der Stimme des Gesetzes hinzugeben. Butler behandelt Althussers Beispiel des Polizisten, der eine Passantin mit „He, Sie da!“ anspricht, als paradigmatischen Fall einer Anrufung durchs Gesetz, der das Subjekt ins Leben ruft.8 Beschreibt Althusser die Rückwendung des Subjekts auf die Stimme des Gesetzes und am Beispiel des Rufs eines Polizisten,
7Wenn
es Butler darum geht, Subjektivierung in ihrer sozialen Konstituiertheit zu beschreiben, ist es zunächst untypisch und klärungsbedürftig, ein der sozialen Subjektivierung zugrundeliegendes, auf den ersten Blick selbst nicht sozial konstituiertes Streben anzunehmen. 8Vgl. Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, S. 143 f. Genauso wie Butler immer wieder betont, ist es auch für Althusser zentral, dass es sich bei diesem „einfache[n] und alltägliche[n]“ Beispiel nicht um eine zeitliche Struktur handelt, sondern das Individuum „immer schon zum Subjekt bestimmt [ist], bevor [es] überhaupt auf der Welt ist.“ (Ebd., S. 143.)
3.2 Die Funktion eines transitiven Strebens
73
identifiziert Butler eine dieser Rückwendung vorausgesetzte Geschichte des Begehrens der Autorität überhaupt. Sie schreibt: „Weshalb sollte ich die Begriffe akzeptieren, mit denen ich angerufen werde? Das bedeutet, noch vor jeder Möglichkeit eines kritischen Verständnisses des Gesetzes gibt es eine Offenheit oder Anfälligkeit fürs Gesetz, […]“9 Diese fundamentale „Anfälligkeit“ gegenüber der Autorität der normativen Ordnung näher in den Blick nehmend bemerkt Butler weiterhin: „Die Unterordnung unters Gesetz läßt sich dann als erzwungene Folge eines narzißtischen Verhaftetseins mit der eigenen Weiterexistenz lesen.“10 Ein Streben nach „Weiterexistenz“ soll den Wunsch nach Unterwerfung, das Begehren einer Autorität, die das eigene Leben sichert, erst erklären. Der Verweis auf ein Streben nach Existenz lässt den Wunsch nach sozialer Existenz und damit auch nach Formen der Anerkennung in Strukturen dieses Sozialen überhaupt erst plausibel erscheinen. In Kritik der ethischen Gewalt betrachtet Butler die Notwendigkeit eines fundamentalen Strebens nach Existenz eher von intersubjektivitätstheoretischer Seite aus. Hier fragt sie: „Wenn ich zuerst von einem Anderen angesprochen werde und wenn mich diese Anrede noch vor der Frage meiner Individuation erreicht – in welchen Formen erreicht sie mich dann überhaupt?“11 Butler behandelt in dieser Textpassage die Anrede nicht mehr nur als Zeichen dafür, dass Normativität ihre Verbindlichkeit für das Subjekt etabliert hat, sondern auch als Anerkennungsverhältnis, das in seiner Wechselseitigkeit das Selbstverhältnis des Subjekts erst begründet. Butler legt dar, wie diese Wechselseitigkeit der Anerkennung ein Streben nach Existenz erfordert, das notwendig einer anderen Form von Beziehung zum Anderen entspringen muss. Ein Begehren der Autorität bzw. ein Begehren nach der Anerkennung des Anderen (und durch den Anderen) ist Voraussetzung für die Bildung eines Subjekts in Vermittlung mit dem Sozialen, so folgert Butler aus den verschiedenen Beschreibungen des Prozesses der Subjektbildung. Sie bezieht sich mit dem Begriff des Begehrens immer auch auf psychoanalytische Verständnisse von Begehrensstrukturen, z. B. die von Lacan oder Laplanche. Doch auch in Lacans Vorstellung dessen, wie das Subjekt sein Begehren entwickelt und was dieses infolgedessen auszeichnet, findet sich die Idee einer vor dem Begehren wirksamen Dynamik. Bruce Fink beschreibt in seiner Rekonstruktion Lacanscher Subjekttheorie, wie Lacans Idee des Begehrens von Objekten einer von diesem Begehren zu unterscheidenden Voraussetzung bedarf. Fink, der im Unterschied zu Butler eine zeitlich strukturierte Entwicklungsgeschichte des Individuums im Blick hat, schreibt: „Das Begehren des Anderen, das sich auf bestimmten Objekten und Menschen niederlässt, lenkt das Begehren des Kindes, aber verursacht es nicht. Es ist das Begehren des Anderen als reines Begehren, […] das im Kind das Begehren
9Butler:
Psyche der Macht, S. 102. S. 106 f. 11Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 74. 10Ebd.,
3 Das »Streben nach Existenz« in Butlers Theorie …
74
hervorruft.“12 Was Fink hier als „reines Begehren“ beschreibt ist Ausdruck einer Dynamik, die jedes Objektbegehren erst ermöglichen soll. Das Objektbegehren ist folglich nicht ohne seine Möglichkeitsbedingungen denkbar. Jene Möglichkeitsbedingung des Begehrens sieht Butler im Streben nach Weiterexistenz. Aber wie wird das Subjekt und wer begehrt, wenn nicht es selbst? Wird die Annahme eines solchen Strebens vorausgesetzt, gilt es im Folgenden, den Modus dieses präsubjektiven Strebens sowie der Annahme dieses Strebens für eine Theorie sozialer Subjektkonstitution zu skizzieren.
3.2.1 Nicht-Essentialismus des Strebens nach Existenz Butler macht die Annahme eines Existenzstrebens als Voraussetzung für den Bildungsprozess des Subjekts geltend und bekräftigt die Gleichursprünglichkeit von Subjektbildung und Existenzstreben. Wichtig ist herauszustellen, dass Butler Subjektivierung nicht als einen Prozess versteht, der sich einheitlich, kausal und in einem zeitlichen Kontinuum ereignet. Vielmehr ist Subjektivierung als Prozess gedacht, in dem verschiedene Bewegungen wie das Existenzstreben und der Bildungsprozess gleichzeitig und ineinander verwoben vonstattengehen. Sie betont: „Die Reflexivität wird konstituiert durch diesen Moment des Gewissens, durch diese Rückwendung gegen sich selbst, die sich zugleich mit einer Hinwendung zum Gesetz vollzieht.“13 Die Bildung eines Subjekts, das sich mit Mitteln der sozialen Formen und Sprache in diesem Rahmen zu anderen und zu jenen Formen in Beziehung setzen kann, ist also nicht als ein zeitgebundener, irgendwann abgeschlossener Prozess zu verstehen. Die Gleichursprünglichkeit von Reflexivität und Unterwerfung und die damit einhergehende Gleichzeitigkeit sich widersprechender Paradigmen ist deshalb zentral für ihre Theorie der Subjektivierung, weil nur durch sie die Verwobenheit subjektiver Mechanismen erklärbar ist. Nur vor dem Hintergrund der Gleichursprünglichkeit und Gleichzeitigkeit von unterwerfenden Strukturen und Reflexivität kann beleuchtet werden, in welcher Hinsicht sich widersprechende Bewegungen innerhalb des Subjekts wirksam sein können (siehe in Teil I 2.2 Widerständigkeit des Butlerschen Subjekts). Butler geht von einer Iterabilität subjektiver Prozesse aus und beschreibt so die Wiederholung der Unterwerfung und Selbstentzogenheit des Subjekts. Butler selbst verwendet den Begriff eines ‚Strebens nach Existenz‘ so nicht. Sie beschreibt jene Kraft eher als ein Verlangen oder Begehren des Verharrens im Sein: Wenn die Begriffe, in denen »Existenz« formuliert, erhalten oder entzogen wird, dem aktiven und produktiven Vokabular der Macht zugehören, dann bedeutet das Beharren im eigenen Sein, daß man von Anfang an gesellschaftlichen Bedingungen überantwortet
12Fink:
Das Lacansche Subjekt, S. 122 (meine Hervorh.). Psyche der Macht, S. 108 (meine Hervorh.).
13Butler:
3.2 Die Funktion eines transitiven Strebens
75
ist, die niemals ganz unsere eigenen sind. Das Streben nach Beharren im eigenen Sein erfordert die Unterwerfung unter eine Welt von anderen […] (eine Unterwerfung, die nicht erst später statt hat, sondern schon das Begehren zu sein einrahmt und möglich macht).14
Im Sein beharren zu können, soll zur Ermöglichung eines Begehrens zu sein beitragen, so Butler. Das, was in dieser Arbeit als Streben bezeichnet wird, fungiert in Butlers Text als Voraussetzung für die Form des subjektiven Begehrens überhaupt und ist von Butler vorsichtig als „Streben nach Beharren im eigenen Sein“15, oder eben als Gebundensein an die eigene „Weiterexistenz“, oder „Fortexistenz“16 beschrieben. Butler verwendet also einige begriffliche Beschreibungen, um den fundamentalen Grund des Übergangs zu diskursiv abbildbaren Begehrensstrukturen zu beschreiben. Trotzdem bleibt bei Butlers Rede von einem ursprünglichen Verhaftetsein mit der eigenen Weiterexistenz, das für die Entstehung des Subjekts verantwortlich sein soll, fraglich, welchen epistemischen Status diese Annahme haben kann. Sie verbindet mit dem Versuch, die Vorgeschichte des Subjekts begreiflich zu machen, ein notwendiges Scheitern: „Die begründende Unterwerfung jedoch, die sich noch nicht ins Subjekt aufgelöst hat, wäre dann genau die nicht narrativierbare Vorgeschichte des Subjekts, ein Paradox, mit dem schon die Narration der Subjektbildung in Frage gestellt wird.“17 Als Kritikerin einer metaphysischen Ontologie wäre es für sie ein Selbstwiderspruch, das Existenzstreben auf eine essentialistische Setzung zurückzuführen und die argumentatorische Herausforderung einer Erzählung der Subjektivierungsgeschichte zu leugnen, die irgendwo ihren Anfang nimmt. Abgesehen von der Frage nach dem epistemischen Zugang zu einer Sphäre, die Subjekten per Definitionem nicht zugänglich ist, ist es problematisch nachzuweisen, inwiefern jene vorsubjektive Sphäre mit den Mitteln der Sprache beschreibbar sein sollte. Daher kann die angenommene Form des Existenzstrebens nur retrospektiv aus der Position eines Subjekts und aus der Sphäre des Symbolischen heraus dargestellt werden. Butler beschreibt die Nachträglichkeit und die daraus resultierende notwendige Inadäquatheit einer Theoretisierung des Strebens nach Existenz in Kritik der ethischen Gewalt, indem Sie Lacan heranzieht: „Nun hat Lacan klargestellt, dass sämtliche Darstellungen der primären Entstehungsmomente eines Subjekts uneinholbar nachträglich und phantasmatisch sind. […] Der Ursprung lässt sich aber nur rückwirkend und über die Leinwand der Phantasie gewinnen.“18 Hierin deutet sich an, dass die Beschäftigung mit dem Streben nach Existenz als eben jenes Entstehungsmoment
14Ebd.,
S. 32 (meine Hervorh.). S. 32. Im Englischen: „desire to persist in one’s own being“, in: Butler: Psychic Life of Power, S. 28. 16Butler: Psyche der Macht, S. 107. 17Ebd., S. 106. 18Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 73. 15Ebd.,
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eines Subjekts zwangsläufig mit einer Schwierigkeit konfrontiert ist, Rückschlüsse auf die Funktionsweise dieses Strebens nur über den Weg seiner Ausdrucksform ziehen zu können. Bei der Bestimmung des Verhältnisses des vorsubjektiven Begründungsmoments oder einer „außersubjektiven Welt“19 und dem Subjekt darf mithin nicht der Fehler einer Reduktion des Subjekts auf das Außersubjektive und umgekehrt vorgenommen werden. Gleichwohl ist der Erkenntnisstandpunkt im Hinblick auf das Wissen über eine vorsubjektive Herkunft begrenzt, sodass die Perspektive des gebildeten oder sich bildenden Subjekts nicht verlassen werden kann. Um Butlers Antworten auf die Frage, wie das Subjekt als sozial Konstituiertes gedacht werden kann, nicht in ihrem Kern abzuwandeln, ist es daher wichtig, das Streben nach Existenz eben nicht als Setzung eines selbst nicht (sozial) Gewordenen zu behandeln. Andernfalls würde der Anspruch der Bestimmung der Möglichkeiten von Befreiung auf Basis einer Theorie sozialer Subjektkonstitution aufgegeben. Bei der näheren Explikation des Existenzstrebens kann folglich nur so vorgegangen werden, die aktuelle historisch kontingente Vorstellung von Subjektivität daraufhin zu untersuchen, auf welchen Annahmen sie unweigerlich beruht. Das Existenzstreben muss also als Bedingung fungieren, die der Idee des Subjekts inhärent ist, und sollte nicht als ontologische Setzung theoretisiert werden. Hat diese sogenannte Vorgeschichte des Subjekts eine Form, die sich nur aus dem bereits bestehenden Rahmen symbolischer, diskursiver und normativer Ordnung bestimmen lässt, gibt dies wiederum Aufschluss über die Existenzweise des Subjekts als sozial Konstituiertem. Soll das Existenzstreben die Reflexions- und Begehrensstrukturen des Subjekts ins Leben rufen, bestimmt die Annahme einer notwendigen Voraussetzung derselben auch die Art des Begehrens im Rahmen des Symbolischen, ein Begehren der Autorität, das das Subjekt zu einem Teil in seinem Selbstbezug bestimmt. Aus dem Anspruch eines genealogischen Vorgehens der Bestimmung des Werdens des Subjekts aus einem nicht-subjektiven Moment heraus ergibt sich auf den ersten Blick ein Widerspruch, der tatsächlich die Grenzen dieses Vorhabens aufzeigt: Einerseits gibt es logisch kein Wissen und Aussagen des Subjekts über etwas inhärent Vorsubjektives. Andererseits ist der theoretisch sehr wichtige Zug von Butlers Theorie der Subjektivierung anzunehmen, dass das Subjekt in etwas außerhalb desselben begründet ist, das die Dynamik der Subjektivierung weiterhin bestimmt. Der Versuch, einen vorsubjektiven Status des Subjekts zu beschreiben, muss folglich dahingehend scheitern, dass mit der Sprache des Subjekts niemals etwas beschrieben werden kann, was sich wirklich gänzlich vor dem Subjekt abgespielt hat. Butler selbst differenziert zwischen den „Mittel[n] der Subjektkonstitution“ und „der narrativen Form, auf welche die Rekonstruktion dieser Konstitution
19Zwar
wird der Begriff der ‚Natur‘ von Butler in diesem Zusammenhang gemieden. Versteht man aber Natur als das dezidiert nicht Subjektive, das trotzdem dessen Grund ist, kann hier auch von einem Verhältnis zwischen Natur und Subjekt gesprochen werden.
3.2 Die Funktion eines transitiven Strebens
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abzielt.“20 Was der scheiternde Versuch, in der Narration der Subjektivierung Hinweise auf die „Mittel der Subjektkonstitution“ zu finden, jedoch abbildet, ist die Notwendigkeit der Annahme eines solchen vorsubjektiven Strebens, das das Subjekt nicht nach einer ersten Bildungsgeschichte hinter sich lässt, sondern die Subjektivierung weiterhin ausmacht. Als scheiternd kann diese Zirkularität allerdings nur beschrieben werden, wenn sie mit dem Anspruch gemessen wird, einen externen epistemologischen Standpunkt annehmen zu müssen, um angemessene, zutreffende Aussagen über den Zusammenhang der vorsubjektiven Begründung und der Funktionsweise des Werdens des Subjekts treffen zu können. Was den Inhalt dieser Annahme freilich auszeichnet, ist, nicht die Strukturen der Intelligibilität vorwegzunehmen, die sie erklären soll. Es ergeben sich also zwei Möglichkeiten, die Zirkularität eines Verstehens des Existenzstrebens als vorsubjektivem Anfang zu gestalten. Einerseits – und das wäre die schlechte Variante – könnte eine Erklärung eines außersubjektiven Grundes aus der epistemologischen Perspektive des Subjekts heraus darauf hinaus laufen, dass eine Beschreibung dieses Grundes schlichtweg die Funktionsweise des Subjekts als Werdendem vorwegnimmt und diese in jenen Grund hineinprojiziert. Damit wäre nichts gewonnen als eine bloße tautologische Bestimmung. Andererseits kann eine Beschreibung eines außersubjektiven Grundes – und das ist das hier angestrebte Vorgehen – ihre eigenen Möglichkeitsbedingungen reflektierend die in begrifflicher Beschreibung sich manifestierende Wirklichkeit der Subjektivierung dahingehend befragen, welche Annahme sie über jene Begründung außerhalb es selbst notwendig treffen muss. In diesem Fall ist eine zirkuläre Erklärungsstruktur keinesfalls umgangen. Letztere vermag aber dennoch die außersubjektiven Bestimmungen als außersubjektiv zu beschreiben und ist nicht darin gefangen, den Voraussetzungen des Subjekts selbst die Strukturen des Subjekts aufzuzwingen.
3.2.2 Unterwerfung als Zeichen Butlers Argumentation geht auf etwas zurück, das streng genommen nicht erkläroder erzählbar ist, und dessen Funktion für die Bildungsgeschichte des Subjekts aus sprachtheoretischer Perspektive zu analysieren ist. Die Art der Fragen, die sie wiederkehrend an die einzelnen Theoreme stellt, sind von der Vorstellung geleitet, einen Text von kulturellen, historisch gewachsenen, normativen und diskursiven Codes als Untersuchungsgegenstand zu haben, der als Text auf die Bedeutung seiner Elemente hin befragt werden kann. Butler fragt in Bezug auf Althussers Anredeszene beispielsweise: „Welche Bedeutung liegt in dieser Umwendung zu einer Stimme, die hinter einem ruft?“21 Vor diesem Hintergrund
20Butler: 21Butler:
Kritik der ethischen Gewalt, S. 95. Psyche der Macht, S. 106 (meine Hervorh.).
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konkretisiert sich der Status der Subjekttheorie und -kritik, die Butler darlegt: Es handelt sich um eine Befragung dessen, was Subjektsein in einer phänomenologisch genealogischen erzählten Narration bedeutet. Da sich diese Erzählung nur in Vermittlung mit den konkreten materiellen Verhältnissen ergibt, beschreibt diese Theorie implizit das, was sich als gegebene Gesellschaftsordnung in den Erscheinungsformen der Individuen bereits materialisiert hat, sowie das, was die Grenzen und Möglichkeiten einer Überschreitung dieser Verhältnisse markiert. Um also die Funktion des Strebens nach Existenz zu ermitteln, deutet Butler die Art der Unterwerfung unter die Autorität des Sozialen als Zeichen: „Diese Umwendung zur Stimme des Gesetzes ist das Zeichen eines bestimmten Begehrens […]“22 Zusammengenommen mit der Frage nach der Bedeutung der theoretischen Figur des Begehrens lässt sich Butlers Prämisse des Existenzstrebens ausgehend von theoretischen Annahmen über Zeichen erschließen. Die Betrachtung des Begründungsmoments der Subjektivierung als Zeichen bietet einen Zugang zur Funktion des Strebens nach Existenz, auf das das Zeichen des Begehrens nach Anerkennung durch Andere oder ‚das Gesetz‘23 verweist. Wenn das Streben nach Existenz wesentlicher Teil des Anlasses der Kritik an anderen Subjekttheorien ist, dann reflektiert dies die Funktion jenes Strebens für den Prozess der Subjektivierung – nämlich eine Begründung für das Werden des Subjekts zu sein, die von seltsamer Form ist, weil sie niemals explizit erkennbar sein kann. Was bedeutet es aber, die Begehrensstrukturen des Subjekts als Zeichen dieses vorsubjektiven Existenzstrebens zu betrachten? Poststrukturalistische Zeichentheorien basieren nicht nur auf der Annahme der Arbitrarität des Zeichens, sondern verweisen auf dessen Unmöglichkeit, ein zu bezeichnendes außersprachliches Objekt tatsächlich abbilden zu können. Butlers Annahme eines vorsozialen, vorsubjektiven Strebens nach Existenz sowie der Behauptung, dies entziehe sich der Narration, reflektiert also eine agnostische Haltung gegenüber einer transsemiotischen Welt: Eine Welt jenseits der Zeichen entzieht sich epistemischem Zugang.24 Wenn das Begehren der Autorität als Zeichen eines Begehrens vor diesem Begehren verstanden wird, heißt das mit anderen Worten auch: Das vorsubjektive Streben nach Existenz kann im onto-
22Ebd.
(meine Hervorh.). der Auseinandersetzung mit Althusser bezieht sich Butler auf das Begehren nach Anerkennung durch das (normative) Gesetz, das in der Anrede durch den Polizisten verkörpert wird, als Zeichen für ein dem zugrundeliegenden Streben nach Existenz. Diese Sichtweise kann verkürzt erscheinen, da es das Werden der Subjektivierung vor allem unter dem Gesichtspunkt der Schuld gegenüber dem normativen Gesetz betrachtet. Genauso gut kann aber auch das Begehren nach Anerkennung als ein solches ‚Zeichen‘ für ein fundamentaleres Streben gelesen werden, wie es Butler beispielsweise in der Kritik der ethischen Gewalt eher fokussiert. An dieser Stelle soll darauf verzichtet werden, das Verhältnis dieser beiden sozialen Formen der Subjektivierung zu bestimmen. Im Vordergrund steht vielmehr, dass beides Ausdrücke eines Begehrens sind, die auf ein fundamentales Streben nach Existenz verweisen, das damit nicht identisch sein kann. 24Vgl. Nöth: Handbuch der Semiotik, S. 73, oder auch Eco: Einführung in die Semiotik. 23In
3.2 Die Funktion eines transitiven Strebens
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logischen Sinne nicht erkannt oder gewusst werden. Das Streben nach Existenz, ein Begehren vor dem Begehren, wird als Zeichen im Sinne eines solchen transsemiotischen Agnostizismus thematisiert, da für Butler der epistemische Zugang zu einem vorsubjektiven Prozess in diesem Fall tatsächlich versperrt ist. Wo es um ein Phänomen geht, das sich gerade durch dessen Unbeschreibbarkeit auszeichnet, ist ein Verständnis dieses Phänomens erkenntnistheoretisch logisch und praktisch ausgeschlossen.25 Butler sieht in der Verbindung zwischen Begehren und dem, was es anzeigen soll, einen Begründungszusammenhang. Da das Streben nach Existenz das Begehren nach Anerkennung durch Autorität verursacht, bedingt es den Modus dieses Begehrens in Unterwerfung. Etwas Vorsubjektives begründet die Differenz der Reflexivität. Wenn also das Begehren nach Unterwerfung ein Zeichen für ein diesem zugrundeliegenden Existenzstreben ist, dieses aber weder adäquat beschrieben noch erfahren werden kann, kann das Zeichen allein daraufhin untersucht werden, welche Annahmen darin über das, was es anzeigen soll, enthalten sind. Selbst wenn das Begehren nach Unterwerfung als Zeichen eine ontologische Aussage über ein Streben nach Existenz suggeriert, kann eine solche Aussage genaugenommen nicht getroffen werden. Um also im Folgenden aus der Funktion, die das Existenzstreben als notwendig abstrakte Annahme der Begründung für Subjektivierung einnimmt, dessen nähere Bestimmung abzuleiten, sollen die begrifflichen Implikationen eines Strebens nach Weiterleben daraufhin genauer untersucht werden, ob sie das motivieren können, was hiermit begründet werden soll. Der Status des Ergebnisses einer solchen näheren Beschreibung des Existenzstrebens ist nach der Darlegung des begrifflichen Zugangs über sein Zeichen klar: Es kann nur darum gehen, eine Darstellung dessen anzustreben, was im Rahmen einer Theorie sozialer Subjektkonstitution als deren Grund angenommen wird. Da aber die Reflexivität des Subjekts, die so fundamental durch Sozialität konstituiert ist, ohnehin in Vermittlung mit den Bedeutungscodes des Sozialen in Form von Normen, Diskursen und Praktiken entsteht und lebt, ist eine Ausdifferenzierung der Bedeutung des Existenzstrebens für die Struktur des Subjekts im Rahmen dieser Bedeutungscodes relevant für die Frage nach den Möglichkeiten von Befreiung. Gewissermaßen ist die Frage, was den ontologischen, absoluten Grund des subjektiven Begehrens und damit der Entstehung von Reflexivität darstellt, nicht nur nicht entscheidbar, sondern auch nicht wesentlich für das Eruieren der Möglichkeiten emanzipativer Praxis eines sozial konstituierten Subjekts. Viel-
25Versteht
man die Theorie der Subjektivierung als tatsächliche Genese eines einzelnen Menschen könnte man einwenden, dass zwar die zum Subjekt Gewordene keinen Zugang zu ihrer Begehrensform vor dem Eintritt in die Sphäre des Subjektiven haben kann, andere Subjekte aber durchaus aus der Perspektive der dritten Person beobachten können. Dem muss entgegengehalten werden, dass Interpretationen von Verhaltensweisen und eine Zurückführung auf nachträglich zugeschriebene Begehrensformen wenn nicht gar unmöglich, so dann zumindest sehr schwer zu verifizieren sind. Abgesehen davon kann eine solche Interpretation wiederum nur aus der Perspektive bereits angeeigneter Diskurse und Bedeutungscodes stattfinden, die dem Gesuchten rein logisch niemals entsprechen können.
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3 Das »Streben nach Existenz« in Butlers Theorie …
mehr ist interessant, in welcher Weise die Strukturen sozialer Subjektivität auf der Annahme eines vorsubjektiven Begehrens basiert. Ebenso wie Thomas Khuranas Feststellung in Gesellschaft und menschliche Lebensform, die Beschreibung der menschlichen Lebensform sei immer auch gleichzeitig Teil dieser Form des Lebens selbst,26 wird die Darstellung der Annahme eines vorsubjektiven Ursprungs zugleich als ein Teil der Funktionsweise von Subjektivierung betrachtet. Aus der Annahme der Notwendigkeit eines Strebens nach Existenz, das die produktive Dynamik der Subjektivierung begründen soll, lässt sich bis hierhin schon eine gewisse Unbestimmtheit bezüglich Richtung und Herkunft dieses Strebens ableiten. Es gilt als Bewegung, die zwar in der Weise, wie sie sich im Prozess der Subjektivierung ausdrückt, aufs Weiterleben gerichtet ist, aber als dessen Grund erscheint diese Bewegung herkunfts- und richtungslos. Weil die Bewegung in einer Sphäre vorgestellt wird, in der es noch kein Subjekt gibt, das sich als Initiator begreifen könnte, bleibt der Anfang dieser Bewegung inhärent verdeckt. Wie sich aus der nähren Untersuchung des Strebens nach Weiterleben ergeben wird, kann die Bewegung auch nicht als eine verstanden werden, die auf ein Telos hin gerichtet ist. Ein teleologisches Verständnis des Strebens widerspräche der Prämisse Butlers, dass dieses nicht nur über einen initiatorischen Charakter verfügt, sondern auch fortwirkend wesentlich für das Subjekt sein soll. These des folgenden Versuchs, das Streben nach Existenz aus dessen Annahme heraus zu verstehen, ist daher, dass es sich hierbei um eine ateleologische Bewegung handeln muss.
26Khurana
bemerkt dazu: „Lebensformwissen im Sinne der menschlichen Lebensform – also jener Form, die unsere Formen des Wissens, Artikulierens und Handelns ermöglicht – ist nicht als externes Gegenstandwissen gedacht […], sondern bestimmt sich als internes Wissen einer Lebensform von sich selbst. […] Es gibt keinen Außerstandpunkt, von dem aus wir die menschliche Lebensform betrachten und erörtern könnten. […] In ganz ähnlicher Weise ist jede Beschreibung der Gesellschaft im Sinne Luhmanns selbst ein Vollzug von Gesellschaft.“, in: ders.: »Gesellschaft« und »menschliche Lebensform«, S. 449.
4
Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
Worüber wird erzählt, wenn ein vorsubjektiver Zustand angenommen wird, der sich durch ein Streben nach Weiterleben auszeichnet? Wie ist diese vorsubjektive Sphäre eines möglicherweise ‚bloßen Lebens‘ zu verstehen, die Ausgangspunkt sein und gleichzeitig eine Erklärung der Dynamik des Übergangs zur Subjektbildung bereitstellen soll? Christoph Menke kontrastiert in seinem Aufsatz Geist und Leben die beiden Vorgehensweisen der Phänomenologie und der Genealogie, indem er der Genealogie eine Erklärung des Geistes aus dem Leben zuschreibt. Es heißt dort: Dagegen versteht eine Genealogie des Geistes seine Entstehung so, daß der Geist als Leben beginnt und dieser Beginn als Leben den Geist fortwährend mitbestimmt: Die Entstehung des Geistes aus dem Leben führt nicht zu einer Ablösung des Geistes von dem Leben; das Leben, als das der Geist beginnt, bleibt nicht als bloßer Anfang zurück, sondern durchragt und durchwaltet den Geist.1
Ähnlich wie das von Menke beschriebene Verhältnis zwischen Geist und Leben scheint Butler das Streben nach Existenz in seinem Verhältnis zur Subjektbildung in ihrer Argumentation einzusetzen. Was aber legt die Begrifflichkeit des Strebens nach Leben in dieser Annahme über den vorsubjektiven ‚Ursprung‘ des Subjekts über dessen inhärente Wirkungsweise offen? Da der Lebensbegriff selbst die Bedeutung einer dem Subjekt vorausgesetzten Dynamik einzunehmen scheint, wird im Folgenden untersucht, welche Implikationen verschiedene Deutungen dieses Begriffs nach sich ziehen und in welcher Form sie das vorsubjektive Streben so theoretisch charakterisieren können, dass es seiner Funktion im Kontext der Butlerschen Theorie sozialer Subjektbildung gerecht wird.
1Menke:
Geist und Leben, S. 229.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Junker, Soziale Subjektivierung, Negativität und Freiheit, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05734-1_4
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4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
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Ziel meiner theoretischen Aufarbeitung der Butlerschen Prämisse dieses Strebens ist es, die Vorstellung des Übergangs von vorsubjektivem zu subjektivem Lebewesen so zu verstehen, dass er die Idee eines radikal transformativen Selbstverhältnisses verständlich machen kann. Der Ausdruck „to persist in one’s being“2 verweist auf die Idee eines Selbsterhaltungsstrebens des Seins oder der Existenz, während die Formulierung des „desire to live“3 mit dem Konzept des Lebens arbeitet. Auf den ersten Blick spricht für eine Verwendung des Lebensbegriffs, dass diesem die Bedeutungskomponente der Bewegung inhärent ist und auf diese Weise die Bedeutungsdimension eines Strebens bereits enthält. Wenn das Streben nach Existenz den Grund eines Übergangs zu subjektiven Strukturen beschreiben soll, ist die Vorstellung einer spezifischen Bewegung nicht zu umgehen. Butlers Rede vom „Verharren im Sein“ („persist in one’s being“), einer Art Selbsterhaltung, in Bezug auf das Streben weist demgegenüber nicht unmittelbar jenen transitorischen Charakter einer Überschreitung der eigenen Form aus, die im Lebensbegriff angedeutet ist und die das Streben nach Existenz anzeigt. In der Einleitung zu Psyche der Macht verbindet Butler das Streben nach Existenz mit Spinozas Verständnis eines Selbsterhaltungstriebs und gibt damit einen Anhaltspunkt dafür, auf welche Weise sie das Zeichen des Begehrens nach Unterwerfung deutet: Übernimmt man Spinozas Auffassung, wonach jedes Streben Streben nach dem Beharren im eigenen Sein ist, und faßt man die metaphysische Substanz, die das Ideal des Strebens bildet, etwas geschmeidiger als soziales Sein, dann kann man vielleicht das Streben nach dem Beharren im eigenen Sein als etwas beschreiben, über das sich nur unter den riskanteren Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens verhandeln läßt.4
Während Butler deutlich hervorhebt, dass eine Deutung dieses Begehrens nicht auf eine metaphysische Substanz zurückgreifen kann und das, was begehrt wird, als soziales Sein zu verstehen ist, bezieht sie sich gleichwohl auf Spinozas Vorstellung der Selbsterhaltung, die bei ihm selbst nicht in Bezug zur Sozialität des Subjekts betrachtet wird. In Spinozas sechstem Lehrsatz aus dem dritten Teil der Ethik heißt es: „Jedes Ding strebt danach, soweit es an ihm liegt, in seinem Sein zu verharren.“5 Was Spinoza hier beschreibt, entspricht der Vorstellung eines Selbsterhaltungstriebs. Wie fundamental dieses Streben nach Selbsterhaltung gedacht ist, beschreibt Martin Saar in seiner Arbeit zu Spinoza Die Immanenz der Macht: Das Selbstinteresse oder die Ausrichtung auf Selbsterhaltung ist die Grundachse, an der sich das (und jedes) Verhalten jedes Individuums faktisch ausrichtet und auf die es sich
2Butler:
Psychic Life of Power, S. 28. S. 193. 4Butler: Psyche der Macht, S. 31. 5Spinoza: Ethik, S. 145. 3Ebd.,
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theoretisch, das heißt in der erläuternden Beschreibung durch den Philosophen, zurückbeziehen lassen muss.6
Es ist also kein Zufall, dass Butler den conatus – so nennt Spinoza diese Vorstellung von Selbsterhaltung – aufruft, wenn es darum geht, die basalste subjektive Regung des Subjekts als Grund für Subjektivierung zu beschreiben. Allerdings spezifiziert Spinoza selbst Funktionsweise und Bedingungen dieser Selbsterhaltung nur wenig. Dass jedes Streben als ein Verharren im Sein zu beschreiben ist, führt Spinoza auf die inhärente Identität aller Dinge zurück, also auf deren Sein. Das heißt für ihn, dass die Dinge selbst keine Differenz, keine sich entgegensetzende Dynamik, aufweisen. Weil es „widersinnig“ sei, dass es „in demselben Subjekt etwas g[i]bt, das dasselbe zerstören könnte“,7 gäbe es innerhalb eines Seins keinen zerstörenden Mechanismus. Dies beweist für Spinoza, dass sich das Sein allen äußeren Widerständen entgegensetzt. Spinozas Selbsterhaltungskonzept erinnert an das physikalische Prinzip der Trägheit. Beschränkte man die Interpretation der Selbsterhaltung auf diese wenigen Sätze Spinozas, würde dieses Verständnis im Gegensatz zu einem Lebensbegriff stehen, der die Dynamik der Subjektivierung begründen soll. Das Trägheitsprinzip besagt, dass ein Gegenstand dazu neigt (aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften), im aktuellen energetischen Zustand zu bleiben. Dieses Prinzip ist allen ausgedehnten Körpern inhärent, ob lebendig oder nicht. Im Kontext der Subjektivierung, in dem Butler das Streben nach Beharren im Sein eine theoretische Rolle beimisst, soll hiermit aber eine Kraft beschrieben werden, die den Übergang zu einem Leben der Differenz zu vollziehen vermag – denn Reflexivität, das für Butler definierende Merkmal des Subjekts, zeichnet sich durch Differenz und Negativität aus. Der Begriff der Selbsterhaltung in dieser sehr engen textnahen Interpretation muss folglich durch Bedeutungselemente erweitert und umgestaltet werden, um die transitorische Dynamik zu erklären, die dem Streben nach Existenz beigemessen wird. Wird Spinozas Vorstellung der Indifferenz des Seins auf das Thema des Strebens nach Existenz als vorsubjektivem Ursprung übertragen, würde mit der Annahme des vorsubjektiven Strebens ein differenzloser Zustand impliziert. Aber Bewegung, die als Selbstbewegung verstanden werden kann, kommt nicht ohne eine innere Differenz, eine Verneinung aus, die Spinoza explizit bestreitet.8 Dass Spinozas Text selbst aber bezüglich einer fundierten Interpretation der Selbsterhaltung für das Dasein von Subjekten unspezifisch bleibt, resümiert auch Saar: Diese wenigen Bemerkungen können die schwierigen interpretatorischen Fragen der Herleitung und systematischen Begründung der Affekt- und conatus-Lehre nicht erschöpfend beantworten; auch die wichtige Frage nach der genauen Funktion dieses Prinzips im Kontext der diversen Versuche […], Selbsterhaltung zum zentralen immanenten
6Saar:
Immanenz der Macht, S. 97 (meine Hervorh.). Ethik, S. 145. 8Ebd., S. 144. 7Spinoza:
4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
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Erklärungsprinzip für die anthropologischen Grundfragen zu machen, muss hier offenbleiben.9
Es bedarf also interpretatorischen Aufwands, das Prinzip der Selbsterhaltung von Spinoza für die Explikation der Idee des Strebens nach Existenz, die zum Verständnis der Möglichkeiten von Befreiung beitragen soll, fruchtbar zu machen. Butler führt in ihrem Aufsatz The Desire to Live an, wie eine Interpretation Spinozas conatus aussehen könnte, die Selbsterhaltung nicht als egologisches Prinzip auslegt, und auf diese Weise als dialektisches Konstrukt denken kann, das auch selbstzerstörerische Antriebe des Subjekts offenlegt: The formulation is problematic for another reason as well, since it is not fully clear in what “one’s own being” consists, that is, where and when one’s own being starts and stops. In Spinoza’s Ethics, a conscious and persevering being does not persevere in its own being in a purely or exclusively self-referential way; this being is fundamentally responsive and in emotional ways, suggesting that implicit in the very practice of perseverance is a referential movement toward the world.10
Butler versucht damit, die Indifferenz im Begriff der Selbsterhaltung, die in Spinozas Text noch explizit geäußert wird, zu dekonstruieren und Selbsterhaltung demgegenüber vermittels der Pluralisierung der Bewegungsmomente im conatus zu dynamisieren. Damit bewegt sich auch der Butlersche Anschluss an Spinozas conatus in einer sehr weiten Interpretation. Es scheint daher vielversprechender zu sein, sich bei der Suche nach einer Explikation der Funktionsweise des Strebens nach Existenz von einer engen Auslegung des conatus zu lösen und stattdessen den Blick auf andere Begriffe zu wenden, die eine ähnlich fundamentale Bedeutung einnehmen, sich aber gleichzeitig eher dafür eignen, das Streben nach Existenz in seiner Dynamik zu betrachten.
4.1 Der Begriff des Lebens „The category of life seems, however, to traverse both what is “one’s own” and what is clearly not only or merely one’s own. The self preserved is not a monadic entity, and the life persevered in is not only to be understood as a singular or bounded life.“11 Butler legt den Fokus in ihrer Auseinandersetzung mit dem Streben nach Weiterleben auf den Begriff des Lebens und sieht darin die Möglichkeit, erstens im Streben nach Leben selbst die Verwiesenheit auf Andere zu denken und zweitens die innere Bewegung zwischen Ich und Nicht-Ich aufzugreifen. Kann der Lebensbegriff also die Funktion des Strebens nach Existenz so illustrieren, dass er sowohl dessen außersubjektive Herkunft als auch dessen
9Saar:
Immanenz der Macht, S. 97. The Desire to Live, S. 99. 11Ebd., S. 100. 10Butler:
4.1 Der Begriff des Lebens
85
essentielle Wirkung für die weitere Bildungsgeschichte des Subjekts widerspiegelt? Dass der Lebensbegriff eine Relevanz in Butlers Denken einnimmt, ergibt sich immer wieder aus ihren Texten verschiedener Werke. In ihrer ersten Monographie, Subjects of Desire, setzt sie sich zum Beispiel mit kritischen Anschlüssen an Hegel auseinander und kommt dabei in Bezug auf Derrida zu dem Schluss, dass die Grundlage des innersubjektiven Konflikts der Reflexion eine ‚Lebenskraft‘, ein Richtungsimpuls des Lebens ist.12 Auch aus der Analyse sozialer Subjektivierung in Psyche der Macht, wie sie im ersten Kapitel dieser Arbeit vorgenommen wurde, wurde das Überleben, Weiterleben oder schlicht das Leben als zentrales Motiv herausgestellt. Eva von Redecker setzt dies sogar mit dem vielleicht einzigen normativen Maßstab Butlers Denkens in Verbindung, nämlich der Forderung nach Ermöglichung von Leben.13 Traditionell spielt der Begriff des Lebens auch in naturwissenschaftlichen Diskursen eine wesentliche Rolle. Ausgehend von Aristoteles’ prägenden Beiträgen zur Lebenswissenschaft und seinen Auseinandersetzungen mit den Begriffen zoé und bios ist der Lebensbegriff stets durch diese biologisch-naturwissenschaftliche Betrachtungsweise beeinflusst gewesen. Dass eine außernaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Lebensbegriff tendenziell von der naturwissenschaftlichen Perspektive auf das Leben geprägt ist, hat gleichwohl nicht zur Folge, dass der Lebensbegriff ausschließlich für die naturwissenschaftliche Betrachtung von Bedeutung ist. So merkt Agamben beispielsweise in The Use of Bodies an, dass die Auseinandersetzung mit dem Leben im biologisch-naturwissenschaftlichen Gewand von Aristoteles umgekehrt eigentlich ein philosophisch-politisches Konzept ist.14 Ein naturwissenschaftlicher und philosophischer Zugang zum Begriff des Lebens scheint also – folgt man Agambens Sichtweise – nicht dichotomisch unterscheidbar zu sein. Mit dem Lebensbegriff ist von Beginn seiner Begriffsgeschichte an eine gewisse selbstorganisierende Dynamik eines Organismus bezeichnet worden. Es liegt nahe, die Idee einer solchen selbstorganisierenden Dynamik philosophisch mit einem Konzept von Befreiung zu verbinden, ist doch auch der Begriff der Freiheit damit befasst, eine selbst initiierte Bewegung zu beschreiben. Gleichzeitig scheint der Prozess des Lebens besonders fundamental zu sein, weshalb er Butler dem Prozess sozialer Subjektivierung (nicht zeitlich, aber logisch) als Voraussetzung dient. Weil der Begriff des Lebens die Idee eines besonderen Bezugs zu sich selbst und zum Anderen
12Butler
schreibt: “Force is to be understood as the directional impulse of life, a movement, as it were, that is constantly embroiled in conflict and senses of domination. […] Force is thus the nexus of life and power, the movement of their intersection.”, in: dies.: Subjects of Desire, S. 180. 13Ebenso geht es Butler in Undoing Gender und Körper von Gewicht stets um die Fähigkeit, zu leben respektive überleben zu können. Vgl. z. B. Butler: Undoing Gender, S. 31, siehe auch: Redecker: Der Wert der Ermöglichung, in: dies.: Zur Aktualität von Judith Butler, S. 51–54. Siehe hierzu auch: Elena Loizidou: Butler and life, S. 145–156. 14“A genealogy of the concept of zoè must begin from the recognition – not initially to be taken for granted – that in Western culture “life” is not a medical-scientific notion but a philosophicopolitical concept.” Agamben: The Use of Bodies, S. 195.
4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
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v erspricht, scheint er auf den ersten Blick auch als Kandidat in Frage zu kommen, die angenommene Struktur des Strebens nach Existenz zu erklären. Im Folgenden wird daher der Frage nachgegangen, ob und welche Deutung des Lebensbegriffs den gesuchten Übergang in der Subjektivierungsgeschichte so verständlich macht, dass er als Möglichkeitsbedingung befreiender Praktiken im Subjektivierungsprozess fungieren kann.
4.1.1 Aristoteles: zoé und bíos Die Vorstellung, dass der Begriff des Lebens wesentlich mit einem Prinzip der Selbstbewegung verbunden ist, geht begriffsgeschichtlich auf Aristoteles zurück. Dieser führt in De Anima aus, was einen Körper zu einem lebenden Körper macht und prägt damit die gesamte darauffolgende westliche Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte. Aristoteles definiert das Leben wie folgt: Da aber das Leben [gemeint ist in diesem Fall zoé] (eines Lebewesens) in mehrfacher Bedeutung verstanden wird, sagen wir, daß es lebe, wenn Leben auch nur in einer seiner Bedeutungen vorliegt: als Vernunft, Wahrnehmung, örtliche Bewegung und Stehen, ferner als Bewegung der Ernährung, dem Schwinden und dem Wachstum nach.15
Auf diese Bestimmung von Aristoteles zurückgreifend stützt sich der moderne Lebensbegriff der Biologie auf das Bewegungsmoment des organischen Stoffwechsels und der Fortpflanzung als definierendes Element von Leben. Dass die Bewegung, die lebendige Wesen notwendig vollziehen müssen, als Selbstbewegung zu bestimmen ist, um tatsächlich als lebend verstanden zu werden, ist das notwendige Merkmal lebendiger Wesen im Kontrast zur unbelebten Natur. Gerade die Selbstbewegung, die Fähigkeit, aus sich selbst heraus Stoffwechsel zu vollziehen und in einen selbstverwertenden Austausch mit der Umwelt zu treten, unterscheidet lebendige Körper von unbelebtem Material. Die Bewegung eines Steins ist im Gegensatz zu der eines lebendigen Gegenstands aber keinesfalls ohne Einwirkung eines anderen Körpers möglich, weshalb dem Stein gemäß dieser aristotelischen Bestimmung kein Leben innewohnt. Aristoteles’ Beschäftigung mit dem Begriff des Lebens bringt eine zweite Unterscheidung hervor, die das Leben zu einem Gegenstand politischer, ethischer und moralischer Fragestellungen gemacht hat.16 Während ‚ζοέ [zoé]‘ das Lebendigsein im Allgemeinen bezeichnet, verweist ‚βίος [bíos]‘ auf die entsprechende Form des Lebendigen. Das Lebendige wird untereinander gemäß seiner diversen Formen differenziert, die durch Strukturprinzipien der ‚ψυχή
15Aristoteles:
Über die Seele, Buch II, S. 67 (meine Anm.). § 1 Life Divided, in: ders.: The Use of Bodies, S. 195–206.
16Vlg.: Agamben:
4.1 Der Begriff des Lebens
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[psyché]‘ hergestellt bzw. verursacht werden.17 Sowohl die Differenzierung zwischen lebenden und nicht-lebenden Körpern als auch die Bestimmung der lebendigen Körper durch ihre Form lassen sich mit der Annahme einer menschlichen Fähigkeit zur Selbstbestimmung zusammenbringen. Grundsätzlich mit dem lebendigen Prinzip ausgestattet, sich selbst zu bewegen und sich eine Form zu geben, wurde in der Philosophiegeschichte das Spezifikum der Vernunftfähigkeit als formgebendes Prinzip gedeutet. Obwohl dieser aristotelischen Bestimmung des Lebens ein umstrittener Dualismus zwischen Materie und Form respektive zwischen Körper und Seele zugrunde liegt, sieht Thomas Khurana beispielsweise in dieser begriffsgeschichtlich basalen Bestimmung des Lebensbegriffs die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen selbstorganisierendem Geist und Natur, die Bildungsgeschichte des Subjekts in seiner Dialektik darzustellen,18 wie später noch ausgeführt wird. Butler selbst wirft dem Aristotelischen Lebensbegriff die biologistische Konsequenz vor, aus behaupteten natürlichen Eigenschaften Lebensformen für Menschen abzuleiten und zu hierarchisieren. Sie bemerkt: Bei Aristoteles finden wir keine klare Unterscheidung zwischen Materialität und Intelligibilität. […] Das Prinzip der Intelligibilität schon in der Entwicklung eines Körpers anzulegen, ist genau die Strategie einer natürlichen Teleologie, die die weibliche Entwicklung durch das Rationale der Biologie erklärt. Auf dieser Basis ist dafür plädiert worden, Frauen sollten ausschließlich bestimmte soziale Funktionen ausführen […].19
Auf den Begriff des Lebens im Sinne einer außersubjektiven Wahrheit zurückzugreifen, aus der Schlüsse über die Form des jeweiligen Lebens gezogen werden können, ist für Butler auch aufgrund des verstellten epistemischen Zugangs ausgeschlossen. Eine solche Ansicht führt zu einer essentialistischen moralischen Haltung gegenüber Menschen, die der Diversität von Lebensformen zuwider läuft und auf diese Weise unterdrückerische disziplinierende Praktiken hervorruft. Was dieser kurze Exkurs zu Aristoteles’ Lebensbegriff aufzeigt, ist, dass die grundlegende Idee des Konzepts des Lebens in der Idee einer Selbstbewegung besteht. Dieses fundamentale Verständnis einer Bewegung, die als eigene Bewegung angeeignet werden kann, trifft auf den ersten Blick den Kern dessen, was unter dem Streben nach Existenz vorgestellt wird. Aufgrund der inneren Kräfte, sich selbst hervorzubringen, könnte man in diesem Kontext sagen, steht das Lebewesen im Austausch mit seiner Umwelt (es isst, trinkt, oder betreibt Photosynthese). Aristoteles führt jedoch diese Dynamik auf zwei sich gegenseitig vorantreibende Kräfte zurück – Seele und Körper –, wobei er die Seele als formgebendes Prinzip priorisiert. Auf diese Weise versieht Aristoteles den
17„Notwendig
also muß die Seele ein Wesen als Form(ursache) eines natürlichen Körpers sein, der in Möglichkeit Leben hat.“, Aristoteles: Über die Seele, S. 61. 18Vgl. z. B. Khurana: Force and Form, S. 21, oder auch sein Aufsatz: Selbstorganisation und Selbstgesetzgebung, S. 9–27. Ausführlicher findet sich der Zusammenhang von Freiheit und dialektischem Lebensbegriff dargestellt in Khuranas Monographie dazu Das Leben der Freiheit. 19Butler: Körper von Gewicht, S. 59 f.
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4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
Lebensbegriff mit einer teleologischen Kraft, die mit Vernunftfähigkeit assoziiert wird. Diese essentialistische Auffassung über die Form, die den Prozess des Lebens bestimmt und auf die er abzielt, ist hinsichtlich der Abgeschlossenheit, die der Prozess auf diese Weise suggeriert, problematisch. Wird sie zur Grundlage der organisierenden Praktiken einer Gesellschaft, kann sie zu repressiven Herrschaftsverhältnissen führen. Das Streben nach Existenz wurde aber als Zeichen eines ebensolchen Prozesses ins Feld geführt, der gerade die Offenheit und transformatorische Kraft der Subjektivierung erklären sollte. Das Verhältnis der inneren Kräfte im Lebensprozess muss daher vielmehr – wie Butler selbst in der Auseinandersetzung mit Spinozas Konzept der Selbsterhaltung verdeutlicht hat – dynamisiert und nicht aufeinander reduziert werden, wie es bei dem hier dargelegten Aristotelischen Verständnis der Fall ist. Eine solche Dialektik findet sich in Hegels Begriff des Lebens, in dem die Dynamik des Lebens auf ebendiese zurückgeführt wird.
4.1.2 Der Lebensbegriff in Hegels Dialektik Der Begriff des Lebens hat sich aufgrund seiner Fundamentalität als vielen Philosophien zugrundeliegendes Motiv entwickelt und ist auch bei Hegel implizit enthalten, so zeigt es zum Beispiel Annette Sell in ihrer Studie Der lebendige Begriff. Da Butlers Subjektverständnis im Kern auf Reflexivität beruht, die auf die Hegelsche Dialektik zurückgeht, könnten in Hegels Verwendung des Lebensbegriffs in den frühen Schriften20 Hinweise zu finden sein, das Streben nach Existenz genauer zu verstehen. Wie Sell herausstellt, assoziiert Hegel insbesondere in seinen frühen Schriften die dialektische Bewegung der Vereinigung mit den Begriffen des Lebens und der Liebe. Während Liebe zumeist als eine besondere Form, wenn nicht gar als Prinzip der Vereinigung, beschrieben wird, beansprucht Hegel für die Einheit selbst ein Bedeutungselement des Lebendigen. Sell bemerkt: „Sicherlich kann die Reflexion hier [in den frühen Schriften] noch nicht die erst in der späteren Logik explizierte Begriffsbewegung vollziehen, doch die Einheit ist eine lebendige Einheit, in der sich die Trennung und Vereinigung in einem Prozess bewegen.“21 Indem also die dialektische Einheit als lebendige verstanden wird, verweist Hegel laut Sell auf deren Prozessualität. Leben und Bewegung stehen daher in engem Verhältnis. Oder umgekehrt: Indem das Leben Grundlage dialektischer Einheit ist, wird diese als Bewegung und nicht als Stasis begriffen. Zu letzterem Verständnis, das den Bedeutungsinhalt des Terminus Leben voraussetzt und nicht erklärt, trägt das in Hegels Systemfragement von 1800 geäußerte Verhältnis zwischen Leben und individuellem, menschlichem, geistigen Leben bei. Hegel bezeichnet das „ungeteilte Leben“, also die Einheit,
20In
den frühen Schriften ist die Verwendung eines Konzepts des Lebens für die Entwicklung der Dialektik expliziter als in den späteren Werken. 21Sell: Der lebendige Begriff, S. 30 (meine Anm.).
4.1 Der Begriff des Lebens
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als „vorausgesetzt“ und schließt hieraus, dass „wir die Lebendigen [Individuen] als Äußerungen des Lebens, als Darstellungen desselben betrachten“ können.22 Scheinbar als absolute Idee der Einheit hat alles Lebendige Anteil an dem vereinigenden Prinzip des Lebens und ist als dessen Realisierung in der Wirklichkeit zu verstehen. Der Begriff des Lebens beinhaltet daher neben seiner notwendigen Bewegungsdimension auch eine teleologische Formvorstellung, wonach der Begriff das Wesen des Lebens bestimmt. Die Fähigkeit der Vereinigung von Gegensätzen führt zur Selbsterhaltung und Selbstsetzung im Sinne des Begriffs. Ganz gemäß der Bedeutung des Lebensbegriffs im Kontext der oben angeführten aristotelischen Deutung beruht auch Hegels Begriff aufgrund des Moments der Bewegung in und zur Einheit im Wesentlichen auf der Idee der Selbstbewegung. Der Geist, der mithilfe seiner Reflexivität die Funktionsweise des lebendigen Prinzips auszufüllen vermag, ist auf diese Weise produktiv und lebensschaffend tätig, und zwar durch die Setzung von Objekten. Hegel verbindet die dem Leben vorausgesetzte mit der lebendig-seienden Seite des Subjekts: „Der Geist ist belebendes Gesetz in Vereinigung mit dem Mannigfaltigen, das alsdann ein belebtes ist.“23 Leben voraussetzend schafft der subjektive Geist wiederum Leben vermittels seiner Tätigkeit reflexiven Denkens. Durch die Kraft der Vereinigung, so beschreibt es Hegel in diesem Zitat, wird das Gesetzte belebt. Mit dem Lebensbegriff im Hintergrund, so stellt Annette Sell heraus, formiert Hegel das dialektische Denken anhand eines Lebensbegriffs, der bereits die Prinzipien der Dialektik in sich trägt. Allgemeinheit und Partikularität sowohl entgegenzusetzen als auch zu verbinden – Beziehung herzustellen, wie es in den frühen Schriften noch heißt – ermöglichen es dem Subjekt, produktiv, das heißt lebensschaffend, tätig zu sein. In Bezug auf die Frage, ob die hier dargestellte Hegelsche Verwendung des Lebensbegriffs sowohl die Schwelle zwischen vorsubjektivem und subjektivem Status als auch eine vorsubjektiv angenommene aber im Subjekt weiterhin wirksame Kraft näher zu erklären vermag, lässt sich festhalten, dass Hegel mit dem Lebensbegriff in den frühen Schriften lediglich ein Prinzip verbindet, das reflexiv dialektisches Denken vermeintlich natürlich fundieren soll, dieses aber so eng führt mit dialektischem Denken, dass es kaum hiervon zu trennen ist. Der Lebensprozess ist das, was er Dialektik nennt. Was sich zeigt, ist vielmehr eine solche Verwendung des Lebensbegriffs, der mit der Bedeutung des subjektiven Geistes ausgefüllt wird. Eine Herkunft der Dynamik, die der Geist selbst darstellt, aus dem Außergeistigen, Nicht-Subjektiven, ist damit konstitutiv ausgeschlossen. Der Gang Hegels Argumentation zielt weniger darauf ab, jene Prozessualität des Geistes auf ein diesem äußerliches, scheinbar ‚natürliches‘ Prinzip zurückzuführen. Sein Konzept des Lebens, das die Strukturen reflexiv dialektischen Denkens zum Ausdruck bringt, ist innerhalb seines Theoriegerüsts absolut stimmig.
22Hegel: 23Ebd.,
Systemfragment von 1800, S. 420 (meine Anm.). S. 421.
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4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
Wenn der Grund aller Bewegung der dialektische Gegensatz bestimmter schon immer dagewesener Kräfte ist, fügt sich dieses Verständnis in die Vorstellung von Leben als spannungsreiches Verhältnis zwischen Kraft und Formstreben. Das Hegelsche Subjekt vollzieht daher einen Bildungsprozess zum Subjekt mit zwangsläufiger Notwendigkeit. Wenn Hegel seine Vorstellung des Begriffs aus der Idee des Lebens ableitet, so bildet dies genau die teleologische Ausrichtung seines Projekts ab, in dem schon immer gegeben ist, worauf die Dynamik dieses Prozesses hinausläuft. Dies aber kann nicht mit dem Projekt Butlers in Übereinstimmung gebracht werden, das in vielen Momenten zwar stark auf Hegels Philosophie zurückgeht, sich in diesem Punkt aber hiervon unterscheidet. Sie versucht im Gegensatz zu Hegel einer Prozessualität, die dem Subjekt selbst entzogen bleibt, im Prozess der Subjektivierung eine Bedeutung zu geben. Aufgrund dieser Annahme wird der Prozess der Subjektivierung anders als bei Hegel eben nicht teleologisch verstanden. Kann es also eine Formulierung des Lebensbegriffs geben, der nicht in einer Projektion der Denkstrukturen auf die Prozesse des Lebens besteht? Um eine andere Beschreibung des Bedeutungssinns der Bewegungsdynamik des Lebensbegriffs zu finden, soll im Folgenden untersucht werden, in welcher Weise Thomas Khurana den Lebensbegriff aufgreift. Kann ein dialektisches Verständnis des Lebens einen solchen Begriff herausstellen, dass er ein bewegendes Prinzip vor der Differenz, vor dem Subjekt erklärt?
4.1.3 Thomas Khurana: Die Dialektik von Kraft und Form In seinem Text Force and Form. An Essay on the Dialectics of the Living beleuchtet Thomas Khurana, wie ein Verhältnis zwischen Kraft24 und Form so zu verstehen ist, dass es die Lebendigkeit respektive die Möglichkeit überschreitender Selbstbewegung erklären kann. Dass das Lebendige oder das Potential der Selbstbewegung der Lebewesen, die Möglichkeit transzendenter Bewegung erklärbar machen soll, leitet Khurana aus der Feststellung ab, dass der Lebensbegriff im Kontext subjektiver Bildungstheorie die Funktion des Übergangs von Natur zu Geist einnimmt. Khurana schreibt als Resümee aus dem Lebensdiskurs des 18. Jahrhunderts: „Life consequently came to be defined as a decisive threshold in the emergence of the mind. […] The structure of the mind is, at least implicitly, articulated with reference to this threshold […].“25 Aufgrund der Eigenschaft, lebendig zu sein, vermag es das menschliche Lebewesen, so die Annahme, Entwicklungszustände selbstständig zu überschreiten. Genauer müsste man sagen:
24Ich
verwende im Folgenden für den in Khuranas Artikel genutzten Begriffe force die Übersetzung Kraft. Der englische Terminus beinhaltet Bedeutungsdimensionen, die der deutsche Begriff Kraft nicht aufweist. So bezeichnet force eine gewisse Notwendigkeit der Bewegung, die im Kraftbegriff nicht enthalten ist. Eine adäquatere deutsche Übersetzung des Begriff force ist mir allerdings nicht bekannt. 25Khurana: Force and Form, S. 21.
4.1 Der Begriff des Lebens
91
Die Struktur und Idee des Subjekts verweisen inhärent auf die Annahme, Entwicklungszustände selbstständig überschreiten zu können. Khurana führt daher den Lebensbegriff nicht so ins Feld, dass er eine tatsächliche Eigenschaft menschlichen Daseins offenlegen würde, sondern vielmehr untersucht Khurana ebenso wie Butler, was das Subjekt in seinem Subjektsein als Lebensbegriff denkt. Die Funktion, die Khurana dem Lebendigsein des Lebens zuweist, gleicht damit der Funktion, die das Streben nach Existenz bei Butler einnimmt. Gegenstand der Betrachtung ist in beiden Fällen die Fähigkeit zu transformativer Bewegung, die dem bewegenden Lebewesen selbst zugeschrieben werden muss. Allgemein werden Form und Kraft als zwei unvereinbare Prozessualitäten lebendiger Organismen gegenübergestellt. Die Lebendigkeit, so Khuranas Vorhaben, soll auf die Ambivalenz im Verhältnis dieser beiden Prozesse zurückgeführt werden. Form bezeichnet dabei das Herstellen einer Gestalt aus sich selbst heraus. Die Selbstbewegung des Lebewesens wird also hinsichtlich ihres Formaspekts von einer teleologischen Form geführt. Im naturwissenschaftlichen Diskurs wird mit der Form zum Beispiel die Genetik assoziiert, die der Entwicklung des Organismus die Gestalt bereits im Kern vorwegnimmt. Der Begriff der Kraft hingegen bezieht sich auf die generierende Produktivität des Lebewesens, die die eigene Form überschreiten kann. Die Kraft ist damit ein der Form entgegengesetztes Prinzip. In der Biologie wird dieses Prinzip mit einer transformierenden Reaktion auf Umwelteinflüsse assoziiert. Den Lebewesen wird die Fähigkeit zugesprochen, produktiv mit der formgebenden Gestalt umzugehen. Diese beiden Prozesse verhalten sich, so Khurana, dialektisch zueinander. Jene Dialektik begründet die Prozesshaftigkeit des Lebens und zwar nur aufgrund der Spannung bzw. Polarität zwischen Kraft und Form. Khurana stellt in diesem Kontext zwei Möglichkeiten zur Diskussion, das dialektische Verhältnis zwischen Form und Kraft zu beschreiben: nämlich positiv (i) oder negativ (ii) dialektisch. (i) Bezüglich eines positiv dialektischen Bezugs zwischen Kraft und Form untersucht Khurana Friedrich Blumenbachs Konzept des Bildungstriebs. Er zitiert aus einem Aufsatz von Blumenbach über den Bildungstrieb, woraus hervorgeht, dass Blumenbach Kraft und Form mithilfe des Formbegriffs dahingehend zusammenführt, dass die Kraft im Dienste der Herstellung einer vorbestimmten Form steht: „there exists in all living creatures from men to maggots and from cedar trees to mold a particular inborn, lifelong active drive (Trieb) to initially take on their determinate form (Gestalt), to preserve it and, if they become injured, to restore their form where possible.“26 Ähnlich wie in der obigen Schilderung des Aristotelischen Konzepts attestiert Khurana dem Blumenbachschen Verständnis einen zugrundeliegenden Reduktionismus: Die vorherbestimmte Form wird gegenüber der Kraft priorisiert und die Kraft somit nur unter ihrem formgebenden Aspekt verstanden. Kraft wird in der Gestalt der Form bestimmt, das heißt die
26Blumenbach:
Prof. Blumenbach über den Bildungstrieb (Nisus Formativus), in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und der Literatur, S. 247–266, zitiert nach Khurana: Force and Form, S. 24.
4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
92
Kraft wird nicht als selbstorganisierender Prozess begriffen. Khurana bemerkt, dass die potentielle dialektische Spannung im sogenannten Bildungstrieb auf diese Weise destruiert wird.27 Das Resultat eines solchen positiv dialektischen Verständnisses ist vielmehr eine Bewegungsform, die nichts Produktives hervorbringt, weil die Form im Beginn schon enthalten ist. (ii) Ein negativ dialektisches Verhältnis zwischen Form und Kraft skizziert Khurana hingegen mit Rekurs auf Derridas Theorie der Bedeutung. Hier, so Khurana, wird die Spannung zwischen den beiden Prozessualitäten Kraft und Form vertieft und produktiv gewendet. Er betrachtet Derridas Denken der Lebendigkeit sprachlicher Bedeutung als einen Weg, die formierende Kraft als selbstorganisierten Prozess der Formierung zu verstehen und somit die jeweiligen Dynamiken der beiden Prozessualitäten in ihrer Spannung zueinander und aufeinander zu beziehen. Ähnlich wie Hegel beschreibt Derrida laut Khurana in Die Schrift und die Differenz „the meaningful processes and events themselves in terms of something ‚living.‘“28 Derrida verstehe Bedeutung als einen produktiven Prozess mit richtungsloser Entwicklung und komplexer Zeitstruktur der Wiederholung, womit laut Khurana anders als bei Blumenbach und Aristoteles die Offenheit des Formierungsprozesses impliziert ist. Negativ dialektisch beschreibt Khurana das Verhältnis zwischen Form und Kraft des Lebendigen bei Derrida deshalb, weil die Form anders als bei Blumenbach keinesfalls vorgegeben sein kann, sondern sich durch die Dynamik der Bedeutungsbildung erst ergibt und selbst nicht teleologisch ist. Khurana fasst dies folgendermaßen zusammen: There are numerous ways in which the temporal excess can be marked in a present, but they converge in that they imply an element of negativity: a moment resisting the attempt to gather the excess in a closed and full present. Expositions of force of preeminent importance to Derrida’s notion of force are accordingly moments of withdrawal and remnants of its activity – the remains or ruins of force.29
Khurana erklärt anhand Derridas Verständnis von Bedeutung, dass dessen formierende Kraft selbst nur in ihrer Erscheinung im Gewand von Bedeutung betrachtet werden kann. „The „force“ […] cannot appear as such“30 – sie wird vielmehr als eine treibende Kraft der Entwicklung von Bedeutung angenommen. Und als solche stelle sich die Kraft als Momente der Abwesenheit, des Entzogenseins, dar. Das, was Khurana hier als Prozess der formierenden Kraft darstellt, kann mit einem anderen Begriff Derridas näher beschrieben werden, der das produktive und negativ Dialektische seiner Theorie von Bedeutung noch stärker verdeutlicht: die différance. Mit der Erläuterung Khuranas Deutung der Derridaschen
27Vgl.
ebd., S. 24 f. S. 29. 29Ebd., S. 30. 30Ebd. 28Ebd.,
4.1 Der Begriff des Lebens
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Prozessualität der formierenden Kraft vermittels des Begriffs der différance wird die ‚negative Dialektik‘ des Lebensbegriffs, die Khurana an Derrida herausstellt, in ihrer Bedeutung erweitert und radikalisiert. In seinem Text Die différance erklärt Derrida die Bewegungsstruktur, die jeder Bedeutung als Effekt des Differenzierens innewohnt: Die différance bewirkt, daß die Bewegung des Bedeutens nur möglich ist, wenn jedes sogenannte „gegenwärtige“ Element, das auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht, während es das Merkmal (marque) des vergangenen Elementes an sich behält und sich bereits durch das Merkmal seiner Beziehung zu einem zukünftigen Element aushöhlen läßt, wobei die Spur sich weniger auf die sogenannte Gegenwart bezieht als auf die sogenannte Vergangenheit, und durch eben diese Beziehung zu dem, was es nicht ist, die sogenannte Gegenwart konstituiert: […].31
Jede sprachliche Bedeutung wird so als ein Prozess des Bedeutens aufgefasst, der durch Differenzierung Bedeutungselemente hervorbringt und darin durch die différance bestimmt wird. Die différance bewirkt, dass das Produkt des Differenzierungsprozesses, in diesem Fall die Bedeutung, immer auf ihre Herkunft bezogen, dieser Bezug aber notwendig unsichtbar bleibt. Derrida nennt dies eine „(aktive) Bewegung der (Produktion der) différance ohne Ursprung.“32 Die différance markiert das, was sich im Produzieren von Bedeutung entzieht, und – interpretiert man den Begriff der Bedeutung als einen Prozess, der dem Lebensprozess gleicht – einer teleologischen Bewegung (wie etwa im Lebensbegriff bei Blumenbach) widerspricht. Weil der Prozess des Bedeutens, den Khurana formierende Kraft nennt, mit der différance ein notwendig unabsehbares sich verselbständigendes Moment enthält, können die Folgen der Dynamik im Lebensbegriff – wird sie analog zur Bedeutungsbildung betrachtet – niemals abgesehen werden. Derrida formuliert den Unterschied seiner Auffassung der Differenz zur Hegelschen dahingehend eindrücklich: Entgegen der metaphysischen, dialektischen, „Hegelschen“ Interpretation der ökonomischen Bewegung der différance muß man hier ein Spiel zulassen, in dem, wer verliert, gewinnt, und in dem man mit jedem Zug gewinnt und verliert. Wenn die abgewendete Vorstellung endgültig und unerbittlich verweigert ist, bleibt nicht etwa eine gewisse Gegenwart verborgen oder abwesend; sondern die différance bezieht uns auf das, was, auch wenn wir es notwendig nicht wahrhaben wollen, die Alternative von Gegenwart und Abwesenheit überschreitet. Eine bestimmte Andersheit – Freud gibt ihr den metaphysischen Namen des Unbewußten – wird von jedem Prozeß der Vergegenwärtigung, […] unterschlagen.33
Im Unterschied zur Hegelschen Dialektik, in der die Differenz auch im Lebensbegriff in einem produktiven Umschlag vom einen zum anderen besteht, in dem
31Derrida:
Die différance, S. 39. (meine Hervorh.). 33Ebd., S. 45 f. 32Ebd.
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im einen jeweils das andere schon enthalten ist, führt Derrida eine uneinholbare „Andersheit“ in diesem Übergang vom einen zum anderen ins Feld, die das Produkt des Prozesses der Differenzierung maßgeblich vom Hegelschen unterscheidet. Vermittels dieser konstitutiven, aber unsichtbaren Andersheit kann der Lebensbegriff als eine Dynamik aufgefasst werden, in der weder der Prozess der Form noch der der Kraft das Ergebnis der Bewegung vorwegnimmt. Das, was Khurana hier folglich als negativ dialektisches Verfahren bei Derrida identifiziert, unterscheidet sich von einem positiv dialektischen Verständnis des Lebensbegriffs vor allem dadurch, dass es ateleologisch funktioniert. In diesem Sinne liegt der Kern der hier dargestellten Derridaschen Idee, den Lebensbegriff dialektisch zu fassen, insbesondere in seinem nicht-teleologischen Verständnis jenes Begriffs. Die durch Khurana angestoßene Derridasche Variante, die Dynamik des Lebensbegriffes zu verstehen, bietet somit einen möglichen Anhaltspunkt, den Begriff gegenüber der aristotelischen Linie so umzudeuten, dass er eine Kraft zu beschreiben vermag, die zwar außersubjektiv – als différance „dieses Undenkbare“34 – ist, aber den Gang der Subjektivierung nicht von vornherein festlegt. Aufgrund dieser Offenheit lässt sich ein so verstandener Lebensbegriff in eine Theoretisierung des Strebens nach Leben mit Blick auf dessen Rolle für die Möglichkeiten von Befreiung einbeziehen. Gemeinsam ist den beiden von Khurana diskutierten Ansätzen, die Selbstbewegung des Lebens so zu beschreiben, dass sie jeweils auf Kräfte verweisen, die sich in einer dialektischen Spannung zu einer bewegenden Dynamik entfalten. Die Bewegungsformen, auf die sich im Namen des Lebensbegriffs bezogen wird, sind bei Blumenbach durch die Form teleologisch organisiert. Sie werden als inhärente Eigenschaften lebendiger Wesen begriffen, die von vornherein als gegeben anzunehmen sind. Während der Ansatz Blumenbachs darauf zielt, die Entwicklungsdynamik lebendiger Wesen auf eine von Natur aus festgelegte Form zurückzuführen, lässt Derridas von Khurana als negative Dialektik beschriebenes Konzept der Lebendigkeit das Telos der Bewegung offen. Wenn die beiden Prozessualitäten der Kraft und der Form im Lebensbegriff also auf negativ dialektische Weise zusammen gedacht werden, wie Khurana mit Derrida anführt, so kann auf diese Weise die Dynamik im Lebensbegriff tatsächlich als produktive verstanden werden, die weder in der Kraft noch in der Form das Resultat der Bewegung vorwegnehmen muss. Dass diese Dynamik eine Produktivität entfalten kann, wird auf eine ateleologische Bewegung in diesem Prozess zurückgeführt. Was aber in Khuranas Aufsatz im Hinblick auf meine Fragestellung noch nicht ausreichend reflektiert wird, ist, dass in der Vermittlung zwischen Kraft und Form eine Negativität im Spiel ist, die eine Produktivität und daher auch Ateleologie begründet und bei Derrida mit dem Begriff der différance reflektiert wird. Im Verhältnis von Kraft und Form stört eine Lücke – oder mit Derrida gesprochen die différance – das Spiel der Differenzierung, sodass das Werden des Lebens
34Ebd.,
S. 45.
4.1 Der Begriff des Lebens
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ateleologisch wird. Auch Derrida beschreibt die différance als eine besondere Form der Negativität: „Erste Konsequenz: die différance ist nicht. Sie ist kein gegenwärtig Seiendes, […]. Sie beherrscht nichts, waltet über nichts, übt nirgends eine Autorität aus. […] Nicht nur gibt es kein Reich der différance, sondern diese stiftet zur Subversion eines jeden Reiches an.“35 Verbunden mit ihrer Negativität ist die différance Grund für „Subversion“. Sie wird also mit einer transformativen Kraft in Verbindung gebracht, die der Begriff des Lebens ebenfalls aufweisen soll.
4.1.4 Zusammenfassung: Zirkularitäten im Lebensbegriff Anhand der Skizzen der Lebensbegriffe lässt sich zwischen produktiven und unproduktiven Verwendungen differenzieren. Zirkulär ist der Rekurs auf diese vorsubjektive Prozessualität in allen Fällen, wird doch stets zwangsläufig die Perspektive des Subjekts beibehalten. Die Beschreibung der Prozessualität des Lebens wird immer vom Standpunkt des Subjekts vorgenommen, das über die bloße Lebensdynamik hinausgeht. So enthält die Deutung des Lebens als außersubjektive Prozessualität am Ende lediglich das, was der Prozess der Subjektivierung hergibt. Der Durchgang durch die Auffassungen über den Lebensbegriff von Aristoteles, Hegel und Blumenbach sollte jedoch jeweils deren unproduktiven Zugriff zum Ausdruck bringen. Sie verwenden den Lebensbegriff, so die These, nicht so, dass seine Explikation dem Verständnis von Subjektivierung etwas hinzufügen oder es transformieren würde. Khuranas Deutung des Derridaschen Lebensbegriffs hingegen zeigt, wie vermittels seiner inhärenten Negativität das Leben als produktiver zirkulärer Prozess verstanden werden kann. Hegel verweist im Lebensbegriff auf eine dialektische Struktur, um dessen Dynamik zu erklären. Auch der von Khurana dargestellte Blumenbachsche Bildungstrieb, der sich als eine Weiterführung des Aristotelischen Lebensbegriffs lesen lässt, führt die Bewegung im Prozess des Lebens auf etwas zurück, das dem Beginn der Bewegung bereits inhärent ist: Das vorherbestimmte Formstreben ist die treibende Kraft im Lebensprozess. Beide Deutungen des Lebensbegriffs implizieren damit eine teleologische Struktur, die in Bezug auf eine Beschreibung des vorsubjektiven Existenzstrebens nicht adäquat sein kann. Das Streben nach Existenz zeichnet sich gerade durch eine Bewegungsstruktur aus, die sich nicht in der Grammatik einer vorgegebenen Bedeutung fassen lässt. Ein dialektisches Verständnis des Lebensbegriffs in der Tradition Hegels nimmt hingegen die Bildung des Subjekts vorweg, die es erklären soll. Wenn Menke in Bezug auf den „phänomenologischen Prozess“ darlegt, dass, „wer den Begriff des Lebens verwendet, dabei die Erfahrung macht, immer schon einen davon strukturell differenten Begriff des Geistes vorauszusetzen oder in Anspruch nehmen zu müssen“, kann einem dialektischen Lebensbegriff in diesem Sinne genau dies
35Ebd.,
S. 47 (meine Hervorh.).
4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
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v orgeworfen werden: einen Begriff des intelligiblen Subjekts vorauszusetzen, aus dem die Bewegungsdynamik des Lebensbegriffs resultiert, ohne diese zirkuläre Struktur jedoch zu thematisieren. Wird der Lebensbegriff daher so rekonstruiert, kann er nicht mit der Annahme des Strebens nach Existenz angemessen in Verbindung gebracht werden, da er der Funktion dieser Annahme nicht gerecht wird, ein außersubjektives Bewegungsmoment zu beschreiben. Der Lebensbegriff, wie er in Hegels frühen Schriften dargestellt wurde, nimmt die Bedeutungsdimension eines außerhalb des Subjekts liegenden Grundes nicht auf, sodass er entweder lediglich abbildet, welche Strukturen des Subjekts sich als Resultat des Bildungsprozesses ergeben oder aber das Leben als außersubjektiven Grund in der geistigen Struktur überwunden hat. Letztere Deutung verfolgt Menke in seiner Auseinandersetzung mit Hegels Phänomenologie des Geistes, einem späteren Text als dem unter Abschnitt 4.1.2 untersuchten: Die Freiheit oder Macht des Geistes „tilgt“ die Bedeutung, die das „unmittelbare Sein der Individualität“ im Bereich des Lebens hatte […] Der Geist ist nicht nur anders als das Leben, er nimmt dem Leben seine Bedeutung, für das Subjekt wesentlich zu sein, denn ein Wesen, das Geist hat, legt sein Wesen in den Geist.36
Wird Hegels Lebensbegriff so verwendet, dass er das dialektische Verfahren des Geistes abbildet und ihm keine Bedeutungsdimension darüber hinaus zukommt, kann die außersubjektive Dynamik, die mit dem Lebensbegriff als Explikation des Existenzstrebens verbunden wird, nicht abgebildet werden. Wird, wie Menke vorschlägt, der Lebensbegriff so verstanden, dass er zwar der geistigen Struktur äußerlich, aber für das Subjekt daher auch nicht weiter wesentlich ist, büßt man ebenfalls eine wichtige Bedeutung des Strebens nach Leben ein, die in Butlers Theorie der Subjektivierung und meinem Versuch zentral sind, aus diesem Streben eine mögliche Bedeutung der Freiheit des Subjekts abzuleiten. Sowohl die Aristotelische als auch die Hegelsche sowie die von Khurana beschriebene Blumenbachsche Deutung des Lebensbegriffs sind mit dem Problem konfrontiert, das Leben retrospektiv bloß als Beschreibung der Prozessualitäten des Geistes darzustellen, darin aber nicht eine Form des Übergangs zum Subjektiven zu sehen. Wenn der Begriff des Lebens so eng anhand der Idee des Geistes skizziert wird, scheint es, dass eben jenes Problem entsteht, mit der Sprache des bereits gebildeten Subjekts dessen außersubjektive Prozessualität zu beschreiben, die den Horizont des Subjekts auch der Vorstellung nach nicht überschreitet. Die Schwierigkeit in der Beschreibung des Existenzstrebens, eine inhaltliche Füllung des Begriffs vorzunehmen, ohne bloß die eigenen Strukturen in Begriffen zu reproduzieren, scheint bei diesen Deutungen des Lebensbegriffs unhinterfragt wiederholt worden zu sein. Die Zirkularität einer Explikation des Lebensbegriffs allein kann allerdings kein Ausschlusskriterium der Geeignetheit des Begriffs sein, da eine theoretische Beschreibung des Lebens als außersubjektives Moment
36Menke:
Geist und Leben, S. 340.
4.2 Negativität im Lebensprozess
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in sich zirkulär sein muss. In gewisser Weise ist eine Verwendung des Lebensbegriffs auch dann zirkulär, wenn sie das Außersubjektive in seinem Weiterwirken im Prozess der Subjektivierung beschreiben würde. Denn in diesem Fall würde ebenfalls eine Struktur des gebildeten Subjekts aufgegriffen, die die Annahme über dessen vorsubjektiven Ursprung widerspiegelt. Was aber die oben genannten Darstellungen des Lebensbegriffs jedoch problematisch zirkulär werden lässt ist, dass sie das Leben eben nicht als Illustration einer vorsubjektiven Annahme verstehen, sondern es verwenden, um das Subjekt als in sich geschlossene Struktur zu erklären. Die von Khurana dargestellte Weise, wie Derrida einen Lebensbegriff in der Funktionsweise der Sprache aufgreift, bietet demgegenüber einen Anhaltspunkt, das Leben anders zu verstehen als von den oben genannten Autoren. Zentral für das Derridasche Verständnis ist die Offenheit des dialektischen Prozesses. Derrida zeigt damit auf, wie der Prozess des Lebens einerseits notwendig ateleologisch und andererseits dieses Moment auf eine Negativität zurückzuführen ist, die jene ateleologische Kraft im Prozess der Subjektivierung fortlaufend wirksam werden lässt. Weil die Derridasche Deutung des Lebensbegriffs diese beiden Momente reflektiert, bietet sie einen guten Ausgangspunkt, das Streben nach Existenz zu illustrieren. Kann also der Lebensbegriff so verstanden werden, dass er eine die Dialektik überschreitende Wirkung beschreibt und vor der Differenz zwischen Subjekt und Natur operiert, ist diese Darstellung mit der Bedeutung des Strebens nach Existenz kongruent. Sie könnte aufgrund dessen für ein Verständnis der Möglichkeit radikaler Befreiung fruchtbar sein. Klar ist, dass auch diese mit dem Lebensbegriff vorgenommene Näherung an eine Illustration des Existenzstrebens freilich im Kontext der Grammatik des Diskurses verharrt und ebenso zirkulär nur eine Darstellung dessen sein kann, was sich als Annahme im subjektivierten Subjekt aufzwingt. Was in der Auseinandersetzung mit dem Lebensbegriff gesucht wurde, ist gewissermaßen das, was sich dem Denken dieses Subjekts entzieht und es dennoch begründet. Mit Derridas différance konnte hierzu ein Anhaltspunkt gegeben werden.
4.2 Negativität im Lebensprozess Obwohl mit der Negativität der Dialektik bei Derrida, die durch die différance markiert wird, das Leben als ein ateleologischer Selbstbewegungsprozess beschrieben werden kann, ist darin die Seite des Strebens im Existenzstreben noch nicht hinreichend beleuchtet. Dies resultiert aus der Tatsache, dass Derrida sich mit der Lebendigkeit im Prozess der Bedeutungsgenerierung beschäftigt und nicht explizit mit dem Prozess der Subjektivierung. Während die différance ein unweigerliches und unreflektierbares Moment im Prozess der Differenzierung darstellt, vermag sie nicht ganz die Bedeutung dessen zu aufzugreifen, was es heißt, dass das zu werdende Subjekt das Weiterleben begehrt und dieses Begehren erst zur Aufrechterhaltung der Prozessualitäten des Lebens zwingt. Gewissermaßen ist der vermittels des Lebensbegriffs dargestellten Dialektik, die in sich schon
98
4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
ein Moment besonderer Negativität aufweist, das Streben nach Existenz vorausgesetzt, das die Negativität der Differenz, die der Lebensbegriff beschreibt, erst etablieren kann. Die Negativität der différance lässt sich in dieser Deutung des Lebensbegriffs vielmehr wiederum als Ausdruck einer diesen Prozess begründenden, sich ihr entziehenden Bewegung verstehen. Wie kann das Existenzstreben in seiner Unbestimmtheit, die es aufgrund seiner Außersubjektivität ist, beschrieben werden? Die Relation zwischen Lebensbegriff und Existenzstreben zu betrachten, war der Idee gefolgt, dass beiden eine Selbstbewegung inhärent ist. Wenn die Idee des Existenzstrebens als Ursprungsidee des Subjekts fungiert, und im weiteren Prozess der Subjektivierung die Möglichkeit transformativer Selbst- und Weltbezugnahme eintragen soll, muss es als Bewegung einer besonderen Übergangsform gedacht werden, die sich maßgeblich durch eine Unbestimmtheit auszeichnet. Nur aufgrund ihrer Unbestimmtheit könnte sie so die Möglichkeit für das Subjekt erklären, sich partiell von denjenigen Momenten im Prozess der eigenen Subjektivierung zu emanzipieren, die diesen Prozess erst ermöglicht haben. Die Deutung eines Lebensbegriffs, der das Formstreben priorisiert, selbst wenn sie wie Hegel die Form in einem dialektischen Verhältnis zur Kraft sieht, zeigt auf, dass die Bewegungsdynamik innerhalb dieser Begrifflichkeit auf Voraussetzungen beruht, die sich erst durch die Subjektbildung ergeben. Demgegenüber stellt das Existenzstreben eine Bewegung dar, die ohne Voraussetzungen auskommen muss. Wie kann daher das Streben nach Existenz als absolut unbestimmter Impuls beschrieben und verstanden werden? Im Folgenden soll geprüft werden, ob die psychoanalytischen Begriffe des Triebs oder des Begehrens eine Strebensbewegung beschreiben, die die Bedeutung deren Unbestimmtheit impliziert. Sowohl das Begehren wie auch der Trieb sind Begriffe, die inhärent auf eine Bewegung verweisen. Ohne hinter die Bedeutung des Lebensbegriffs zurückzufallen, eine Selbstbewegung zu beschreiben, soll danach gefragt werden, ob der Trieb oder das Begehren über Bedeutungsdimensionen verfügen, die eine unbestimmte Strebensdynamik erklären können. Der Trieb wird als fundamentaler Instinkt aufgefasst, der auch in solchen Lebensformen von Bedeutung für das Überleben ist, die im Allgemeinen philosophisch nicht als Subjekte begriffen werden, wie z. B. Tieren. Damit scheint der Triebbegriff ähnlich fundamental zu sein wie das Streben nach Existenz. Der Begriff des Triebes weist eine Nähe zur Vorstellung einer vorsubjektiven, vorsozialen Welt auf, die gleich wie der von Khurana mit Derrida skizzierte Lebensbegriff die Darstellung einer Schwelle zwischen Natur und intelligibler Subjektivität abbildet. Insbesondere Freud hat den Triebbegriff in der Psychoanalyse aufgegriffen, um den Beweggrund psychischer Prozesse zu erklären.
4.2.1 Freuds Triebbegriff Obwohl Freud den Triebbegriff in seinen Schriften nicht einheitlich verwendet hat und zwischen früheren und späteren Schriften durchaus Widersprüche bestehen,
4.2 Negativität im Lebensprozess
99
soll hier der kurze Versuch unternommen werden, allgemeine Bestimmungen des Triebbegriffs bei Freud zu rekonstruieren. Daher werden selektive Textpassagen herangezogen, die in einer Beziehung zur gesuchten Erklärung der fundamentalen Prozessualität des Lebens stehen. Zwei Elemente der Erläuterung des Triebbegriffs lassen sich in Freuds Texten finden, die ihn als Begriff zu einer möglichen Erläuterung des Strebens nach Existenz auszeichnen. Ein Aspekt der Anreicherung des Lebensbegriffs um die Bedeutung des Triebs im Hinblick auf eine Erklärung des Existenzstrebens kann in der Funktion liegen, die Freud dem Trieb für das Subjekt zuschreibt. Im Allgemeinen beschreibt Freud den Trieb als ein sehr basales Bewegungsmoment des menschlichen Lebewesens, das er analog zum Reiz als eine innerlich stattfindende Reaktion charakterisiert. In Triebe und Triebschicksale von 1915 schreibt Freud: „Wie verhält sich nun der »Trieb« zum »Reiz«? Es hindert uns nichts, den Begriff des Triebes unter den des Reizes zu subsumieren: der Trieb sei ein Reiz für das Psychische.“37 Diese Beschreibung des Triebes kommt als elementare Reaktionsbewegung vordergründig mit wenigen Voraussetzungen aus. Aufgrund der geringen Bedingungen, die ein Lebewesen laut dieser Bestimmung erfüllen muss, um Triebregungen hervorzubringen, scheint der Triebbegriff mit einer vorsubjektiven Bewegung der Subjektbildung in Verbindung zu stehen. Der Trieb wird von Freud als vermeintlich natürliche Kraft gedeutet und charakterisiert damit zunächst eine Bewegungsform, die dem Subjekt in seiner Differenz zum Nicht-subjektiven (dem Tier, der Natur etc.) an sich nicht eigen ist. Das Subjekt ist nicht pure Natur, sondern sieht sich in Differenz zur Natur. Dies kommt einer genealogischen Erklärung des Werdens des Subjekts entgegen, die jenes Werden auf etwas zurückführt, was das Subjekt selbst (noch) nicht ist. Ob der Trieb nun das abbildet, was eine außersubjektiv begründende Kraft beschreibt, soll im Weiteren gefragt werden. Denn so basal diese Triebbestimmung ist, so wenig scheint sie wiederum gehaltvoll genug, um tatsächlich eine Selbstbewegung erklären zu können. Der Trieb in Analogie zum Reiz verstanden gleicht einem mechanistischen Verständnis von Bewegung und lässt daher die Idee einer Selbstbewegung außer Acht. Auch Freud schreibt, wie sich im Folgenden zeigt, dem Trieb weitaus mehr Aspekte zu als diese erste Analogie zum Reiz andeutet. Ein zweiter Aspekt einer möglichen Überschneidung des Triebbegriffs mit der Annahme des Strebens nach Leben liegt in der Aktivität, die mit dem Trieb in Freuds Theorie verbunden ist. Zwar ist an dieser Stelle die Vorsicht geboten, Aktivität nicht im Kontext einer Handlungstheorie als aktiv reflektierte Tätigkeit zu verstehen. Dennoch erscheint die Annahme des Strebens nach Leben in der Subjektivierungsanalyse Butlers als Begründungsmoment der Subjektbildung, die auch als eine Form der Selbstbewegung zu verstehen ist. Ebenso ist der Trieb in Freuds Beschreibungen als basale Aktivität begriffen, die im Gegensatz zum Reiz nicht ‚von außen‘ kommt. Freud benennt dieses Außen-Innen-Verhältnis
37Freud:
Triebe und Triebschicksale, S. 82.
100
4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
ganz explizit in Triebe und Triebschicksale: „Der Triebreiz stammt nicht aus der Außenwelt, sondern aus dem Innern des Organismus selbst.“38 Weiter heißt es: „Zu ganz besonderer Aktivität gegen die Außenwelt wird es durch seine Triebe gezwungen, so daß man unter Hervorhebung des Wesentlichen sagen könnte: Das Ich-Subjekt sei passiv gegen die äußeren Reize, aktiv durch seine eigenen Triebe.“39 Der Triebbegriff beinhaltet also ganz ähnlich wie das Streben nach Existenz eine Spannung zwischen Selbst- und Fremdbewegung. Einerseits ist das Streben nach Existenz eine Bewegung, die dem werdenden Subjekt zugeschrieben wird, andererseits kann diese Bewegung nicht reflexiv, bewusst, oder aus sich selbst heraus erfolgen, da die Idee des Existenzstrebens eine Annahme über eine vorsubjektive Bewegung des Subjekts ist. Die Struktur des Triebes nimmt bei Freud eine ähnliche für die Subjektbildung konstitutive Rolle ein wie Butlers Annahme eines Strebens nach Existenz. Dieser Parallele stehen jedoch einige methodische sowie inhaltliche Aspekte des Freudschen Triebbegriffs entgegen. Um die Entfaltung des Bewegungspotentials, das dem Trieb grundsätzlich zuerkannt wird, im engeren Sinne erläutern zu können, bedarf es eines eigenen Prinzips. Freud erweitert so die voraussetzungsarme Annahme eines inneren Reizes, der in der Idee der Triebreaktion enthalten ist. Geleitet wird der Trieb, so beschreibt es Freud, im Allgemeinen durch das Lustprinzip, das auf ein sogenanntes Konstanzprinzip zurückzuführen ist. Er bemerkt hierzu: „Das Lustprinzip leitet sich aus dem Konstanzprinzip ab; in Wirklichkeit wurde das Konstanzprinzip aus den Tatsachen erschlossen, die uns die Annahme des Lustprinzips aufnötigen.“40 Zu diesen vermeintlichen Tatsachen, aufgrund derer ein dem Lustprinzip zugrundeliegendes Konstanzprinzip angenommen werden muss, zählt die Beobachtung, dass die Verfolgung der Lust und ihre Befriedigung darauf abzielen, das Erregungsniveau konstant zu halten: Das Lustprinzip ist dann eine Tendenz, welche im Dienste einer Funktion steht, der es zufällt, den seelischen Apparat überhaupt erregungslos zu machen oder den Betrag der Erregung in ihm konstant oder möglichst niedrig zu halten. Wir können uns noch für keine dieser Fassungen sicher entscheiden, aber wir merken, daß die so bestimmte Funktion Anteil hätte an dem allgemeinsten Streben alles Lebenden, zur Ruhe der anorganischen Welt zurückzukehren.41
38Ebd.,
S. 82. S. 96. Wichtig auch für eine mögliche Einbindung dieses Bedeutungselements des Trieb in Butlers Analyse der Subjektivation und Subjektkritik ist, den darauf folgenden Satz zu bemerken, in dem die Opposition zwischen Aktivität und Passivität mit der zwischen Männlich und Weiblich verknüpft wird: „Der Gegensatz Aktiv-Passiv verschmilzt späterhin mit dem von Männlich-Weiblich […]. Die Verlötung der Aktivität mit der Männlichkeit, der Passivität mit der Weiblichkeit tritt uns nämlich als biologische Tatsache entgegen […]“, ebd., S. 96. Nicht nur aus dieser Bemerkung wird ersichtlich, dass die Freudsche Theorie der Triebe auf problematischen biologistischen Annahmen fußt, die zu beachten und kritisieren notwendig ist. 40Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 195. 41Ebd., S. 247. 39Ebd.,
4.2 Negativität im Lebensprozess
101
Freud identifiziert in Jenseits des Lustprinzips ein der Spannung zwischen Sexualund Todestrieben zugrundeliegendes Prinzip des Strebens nach Wiederholung eines vor-lebendigen Zustands. Die Dualität zwischen Ichtrieben, unter die Freud den Todestrieb subsumiert, und Sexualtrieben, mit denen er den Selbsterhaltungstrieb verbindet, ergibt sich, so Freud, aufgrund einer Ambivalenz im Verhältnis dieser Triebe zueinander. Diese Ambivalenz wird durch das Konstanzprinzip gestiftet, das dem Todestrieb gemäß den Zustand des Nicht-lebens wieder herstellen und gemäß des Selbsterhaltungstriebs die Lebendigkeit fortsetzen will. Die Bewegungsdynamik der Triebe entfaltet sich demzufolge mit Rekurs auf das Konstanzprinzip nur durch eine Spannung zwischen selbsterhaltenden und nach Tod strebenden Trieben. Es entwickelt sich hieraus in den späteren Ausführungen von Freud zur Triebtheorie eine streng dualistische Auffassung, in der es zwingend einer Opposition zwischen Todes- und Lebenstrieb bedarf: „Wenn man also die Annahme von Todestrieben nicht fahrenlassen will, muß man ihnen von allem Anfang an Lebenstriebe zugesellen.“42 Die Evidenz für eine Triebdualität leitet Freud unter anderem aus der Beobachtung dieser sich widersprechenden Triebregungen in den Äußerungen des Subjekts ab. Es sei schlichtweg nicht der Fall, dass „die Mehrheit unserer Seelenvorgänge von Lust begleitet“43 seien. Freuds Methode, die Seelenvorgänge eines gebildeten Subjekts zu untersuchen, sowie das sich hieraus ergebende Resultat in Bezug auf die Bedeutung des Triebbegriffs – nämlich die ambivalente Dualität der Triebe – haben zur Konsequenz, dass das Konzept des Triebs nicht mit der vorsubjektiven negativen Strebensbewegung zusammen gedacht werden kann. Der vorerst sehr basalen Triebbestimmung ist eine komplexe duale Struktur hinzugetreten, die den Triebbegriff zu einem voraussetzungsreichen Konzept macht, das nicht mehr als fundamentale, die Subjektivierung bedingende Bewegung fruchtbar gemacht werden kann. Ähnlich wie die Hegelsche Deutung des Lebensbegriffs nimmt die Triebstruktur, wie sie Freud beschreibt, die Entwicklung des Subjekts vorweg und kann daher nicht als Erklärung eines fundamentalen Übergangs zur Subjektivierung fungieren. Butler selbst scheint sich in Kritik der ethischen Gewalt der Deutung eines vorsubjektiven Strebens von Laplanche anzuschließen, der die Triebe als sekundäre Bewegungsform im Subjekt auffasst: „Die Triebe (Lebensund Todestriebe) gelten Laplanche nicht als primär – sie erwachsen aus einer Verinnerlichung des rätselhaften Begehrens anderer und führen die Rückstände jenes ursprünglich externen Begehrens mit sich.“44 Es muss also vielmehr in Bezug auf das Hegelsche Konzept des Lebens ebenso wie auf den Freudschen Triebbegriff die Frage gestellt werden, was die Dialektik (Hegel) oder die ambivalente Dualität (Freud) der Bewegungsformen im Subjekt begründet. Butler wirft mit Laplanche die Idee auf, die vorsubjektive Bewegungsdynamik als „ursprünglich externes
42Ebd.,
S. 242. S 195. 44Butler: Kritik der ethischen Gewalt, S. 99. 43Ebd.,
4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
102
Begehren“ oder als Begehren eines Anderen aufzufassen. Dies scheint eine sehr vielversprechende Weise, das Streben nach Existenz in seiner besonderen Negativität zu fassen. Denn was sich aus der Relektüre Butlers im ersten Kapitel ergeben hat, war, dass es einer vorsubjektiven Kraft bedarf, die Subjektivierung zu begründen. Die Derridasche Deutung des Lebensbegriffs hat eine diesem Prozess inhärente besondere Form von Negativität ins Spiel gebracht. Was aber noch nicht geklärt ist, ist, in welcher Weise diese Dynamik des Lebens im Kontext einer Theorie der Subjektivierung auch als Effekt von Sozialität beschrieben werden kann. In der Vorstellung eines ursprünglichen Begehrens des Anderen kann eine Erklärung für die Bedingungen des Verhältnisses zwischen Sozialität und Subjekt liegen, sodass dieses Verhältnis maßgeblich zu dessen Bildung beiträgt.
4.2.2 Das Begehren des Anderen In Butlers Text wird die Notwendigkeit eines vorsubjektiven Strebens nach Existenz dort vorgebracht, wo es um das Begehren der Autorität geht, das dem Subjekt das Weiterleben ermöglichen soll. Der Begriff des Begehrens bezeichnet ebenso wie der Triebbegriff eine Selbstbewegung, die nicht im Rahmen einer Reflexionsbewegung erfolgt. Das Streben nach Existenz kann als vorsubjektive Bewegung keinesfalls reflexiv verstanden werden. Zwar werden Subjekten im Allgemeinen Begehrensstrukturen ebenso wie die Fähigkeit zur Reflexion zugeschrieben. Aber anders als die Reflexionsfähigkeit weist das Begehren innerhalb der Struktur des Subjekts über die Reflexion selbst hinaus und könnte daher dazu dienen, das vermeintlich ursprüngliche Streben zu beschreiben. Kann das ‚Begehren‘ als Zeichen einer Form des Strebens nach Leben gedeutet werden? Wie kann die Struktur des Begehrens Aufschluss über die Annahme des Strebens geben? Da Butler ein Streben nach Existenz im Zusammenhang mit dem Begehren der Autorität, dem „leidenschaftlichen Verhaftetsein mit der Unterwerfung“, thematisiert, scheint der Begriff des Begehrens für das Existenzstreben zentral.45 Jaques Lacan und Jean Laplanche sind zwei Theoretiker eines Begehrens, die Butler in Kritik der ethischen Gewalt rekonstruiert und deren Begehrensbegriffe sie eigens anführt, um den Übergang zu einer psychischen Struktur des Subjekts zu begründen. Lacans Beschäftigung mit dem Begehren steht in Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten explizit im Kontext einer „Definition der Subversion“46. Kann diese von Lacan mithilfe des Begehrensbegriffs fokussierte Subversion jenen transformatorischen Vorgang beschreiben, den das Streben nach Existenz darstellt? Anhand der Aspekte, die Lacan in Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen
45Vgl.
Butler: Psyche der Macht, S. 11–15. Subversion des Subjekts, S. 168.
46Lacan:
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Unbewussten äußert, sollen daher zunächst die für die hier verhandelte Frage entscheidenden Dimensionen des Begehrensbegriffs dargestellt werden. Lacans Auseinandersetzung mit dem Begehren entfaltet sich vor dem Hintergrund einer grundsätzlich poststrukturalistischen Sichtweise und geht daher von einem speziellen Sprachverständnis aus, in dem jede Form von Wissen nur vermittels einer Sprache formuliert werden kann, die auch das Denken und Praktizieren des Subjekts notwendig bestimmt. Aus diesem Grund ist der Text über das Freudsche Unbewusste von der Suche nach der sprachlichen Struktur des Subjekts des Unbewussten (auch im grammatischen Sinne) bestimmt. Zwar ist die Frage nach dem Subjekt des Unbewussten in dieser Form für die Auseinandersetzung mit dem Existenzstreben nicht unmittelbar relevant. Beachtet man jedoch, dass es sich beim Streben nach Existenz ähnlich wie beim Unbewussten um etwas handelt, das dem Begriff nach dem Subjekt konstitutiv entzogen ist, ergeben sich durchaus Parallelen zwischen der Frage nach dem Subjekt des Unbewussten und der Bedeutung bzw. dem Operator des Strebens nach Existenz. Im Zusammenhang mit dieser Frage nimmt Lacan eine wesentliche Charakterisierung des Begehrens vor, nämlich, dass es das Begehren des Anderen sei. Lacan beschreibt dies so: „Das Begehren des Menschen gewinnt in der Tat recht einfach Gestalt […] als Begehren des Andern, zunächst aber so, daß es lediglich eine subjektive Opazität bewahrt, in der es das Bedürfnis repräsentiert.“47 Lacan unterscheidet zwei Lesarten dieses Begehrens des Anderen, die für Lacan beide die Struktur des Begehrens auszeichnen: Erstens bedeutet das Begehren, sich auf den Anderen aufgrund eines Bedürfnisses, das mit dem abstrakten Anderen verbunden wird, zu richten (genitivus objectivus). Dieses Verständnis des Begehrens findet sich bei Butler insbesondere im Resultat des Strebens nach Leben wieder. Sie identifiziert das Begehren des Anderen in diesem objektbezogenen Sinne – dem Begehren der lebenssichernden normativen Strukturen, die die das Subjekt formierenden Anerkennungsbeziehungen ermöglichen, als Zeichen des Strebens nach Leben. Dieses objektbezogene Begehren bestimmt also die Relation zwischen Sozialität und Subjekt in der sozialen Subjektivierung. Da diese Bedeutungskomponente aber nur als Zeichen des Strebens nach Existenz in einem bereits differenzierenden Werden zu verstehen ist, kann sie nicht als Erläuterung der Bedingung dieser Beziehung zwischen Subjekt und Sozialität fungieren. Wenn die Prozessualität des Lebens selbst als eine verstanden wird, die aufgrund eines sich ihr notwendig entziehenden Moments überhaupt erst vorangetrieben wird, stellt sich die Frage, wie diese sich dem Prozess des Lebens – der sich im Bildungsprozess des Subjekts zeigt – entziehende Kraft selbst als Effekt von Sozialität erweisen kann. Zweitens ist daher die zweite Dimension des Begehrens von Bedeutung: das Begehren im Modus des Anderen (genitivus subjectivus). Diese Bedeutungsdimension des Begehrens entspricht dem, was Butler im Sinn zu haben scheint, wenn sie auf der Suche nach einer die soziale Subjektivierung bedingenden Form von Bewegung
47Ebd.,
S. 189 (meine Hervorh.).
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4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
ist: „Das Begehren kommt zuerst von draußen, und zwar auf überwältigende Weise, und es bewahrt den Charakter des Äußeren und Fremden auch dann, wenn es zum eigenen Begehren des Subjekts wird.“48 Das Subjekt begehrt gemäß dieses Verständnisses nicht von sich aus, sondern aus der Position eines Anderen. Lacan erklärt dies so: „Dem wäre aber hinzuzufügen, daß das Begehren des Menschen das Begehren des Andern ist, wobei diesmal das «des» in dem Sinn zu nehmen ist, den die Grammatiker subjektiv nennen, d. h. daß der Mensch als Anderer begehrt […].“49 Obwohl Lacan diese Bedeutungsdimension des Ausdrucks Begehren des Anderen scheinbar als eine nebensächliche Hinzufügung anbringt, kann dies zur Bestimmung der Bedeutung des Strebens nach Existenz beitragen. Da das Streben nach Existenz die Form eines dynamischen Prozesses beschreiben soll, der ohne die Möglichkeit eines objektsetzenden Bewusstseins auskommt, muss die erste Begriffskomponente (genitivus objectivus) des Begehrens des Anderen im Kontext dieser Fragestellung verworfen werden. Ein Begehren, das nach einem Objekt des Begehrens verlangt, und dessen Gegenstand der Andere ist, setzt voraus, dass überhaupt schon ein Bewusstsein von etwas, nämlich Objektbewusstsein, möglich ist. Zwar handelt es sich beim Objektbegehren um ein Objektbewusstsein mit negativem Vorzeichen, denn es wird die Abwesenheit eines Objekts im Bewusstsein gefasst. Negatives oder positives Objektbewusstsein bleibt jedoch der Form nach ein Objektbewusstsein. Sie können daher nicht als Operator einer Bewegung in einem Bewusstsein fungieren, das als nicht Objekt setzend vorgestellt wird, wie es beim Streben nach Existenz der Fall ist. Das zweite Bedeutungselement des Begehrens (genitivus subjectivus), dem Begehren im Modus des Anderen, kann demgegenüber für die nähere Charakterisierung der Sozialität des Strebens nach Existenz fruchtbar gemacht werden. Es beschreibt eine Bewegung, die die Vorstellung zurückweist, das Begehren finde seinen Ausgangspunkt in dem Subjekt, dessen Begehren es am Ende wird. Butler selbst stellt einen Zusammenhang zwischen dem Existenzstreben und der hier durch Lacan vorgebrachten Dimension der Alterität des Begehrens her: „Das Streben nach Beharren im eigenen Sein erfordert die Unterwerfung unter eine Welt von anderen, eine Welt, die von Grund auf nicht unsere eigene ist […]. Nur indem man in der Alterität beharrt, beharrt man im »eigenen« Sein.“50 Das Begehren nach der Weiterführung des eigenen Lebens ist demgemäß untrennbar verbunden mit dem Begehren des Anderen, dem „Beharren in Alterität“. Die Lacansche Bestimmung des Begehrens des Anderen in jenem doppelten Sinne erhellt die kryptische Formulierung des Beharrens „in der Alterität“ dahingehend, dass sie diese Bewegung als ein Begehren vom Anderen aus darstellt. Geht das Begehren immer vom Anderen aus und richtet sich auf
48Butler:
Kritik der ethischen Gewalt, S. 100. Subversion des Subjekts, S. 190 (meine Hervorh.). 50Butler: Psyche der Macht, S. 32. 49Lacan:
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den Anderen, verschmilzt die Selbstbewegung des Existenzstrebens mit einer Bewegung vom Anderen aus, eliminiert den Unterschied zwischen Selbst und Anderem in dieser Bewegung und bildet so eine absolute Negativität des Strebens aus der Perspektive der Strebenden ab. Dieses ambig verstandene Lacansche Begehren zeigt auf, wie selbst das Streben nach Existenz als sozial konstituiert begriffen werden kann. Dies ist ein wesentlicher Zug des Existenzstrebens, den Butler in ihrer Auseinandersetzung mit Spinozas Selbsterhaltungstrieb selbst formuliert: Finally, although it may seem that the desire to persevere is an individual desire, it turns out to require and acquire a sociality that is essential to what perseverance means; “to persevere in one’s own being” is thus to live in a world that not only reflects but furthers the value of others’ lives as well as one’s own.51
Die Negativität, die dieses Begehren des Anderen für die Subjektivierung des Subjekts zur Folge hat, erweist sich als Effekt von Sozialität. Die Unbestimmtheit, die im Begehren des Anderen liegt, wird durch die Opazität desselben hervorgerufen – im Modus des Begehrens als eines Anderen bleibt sich das Subjekt immer vollkommen undurchsichtig. Der konstitutive Mangel des Begehrens, der sich nicht nur auf die Einlösbarkeit des Bedürfnisses bezieht, sondern auch auf das Fehlen des Subjekts des Begehrens, symbolisiert den nicht narrativierbaren Ursprung, den Butler als Existenzstreben bezeichnet. Wie aber kann es genau verstanden werden, dass das Streben nach Existenz ein Begehren im Modus des Anderen ist? Ist es die Form des Begehrens, die vom Anderen her kommt? In welcher Hinsicht unterscheiden sich die Relationen zwischen Subjekt und Sozialität in der Subjektivierung, wie sie Butler als Folge des Existenzstrebens beschreibt, und in jener Vorgeschichte der Subjektivierung? Jean-Luc Nancy entwickelt in seinem Aufsatz Die Unruhe des Negativen einen Begriff der Hegelschen Begierde, die ebenfalls auf die Idee eines Begehrens des Anderen Bezug nimmt und sie als eine Bewegung vom Anderen her denkt. Anhand des Begriffs der Begierde bei Hegel versucht Nancy das Werden des Subjekts nachzuvollziehen. Das Selbst, wie Nancy das Subjekt der Begierde nennt, muss erst es selbst werden, es ist wesentlich sein eigenes Werden. Zwar operiert auch Nancys Auslegung dieses Hegelschen Werdens mit einem verhältnismäßig voraussetzungsreichen Anfang, in dem das begehrende Selbst schon immer über die Ressourcen des Werdens verfügt. Diesbezüglich wird Nancys Vorstellung des Werdens für eine Beschreibung des Strebens nach Existenz nur vorsichtig übertragbar sein. Aber es lässt sich in seinem Aufsatz eine interessante Bestimmung dessen finden, wie die Begierde des Selbst funktioniert. Nur als „Folge eines noch abstrakten Denkens“52 nämlich erscheint der Andere als eine dem Selbst nachträglich begegnende Gestalt – eigentlich scheint der Andere
51Butler: 52Nancy:
The Desire to Live, S. 100. Hegel, S. 217.
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umgekehrt vielmehr dem Selbst vorauszugehen. Die Begierde als Instrument des Werdens des Subjekts überhaupt versteht Nancy daher nicht als etwas, das zuerst von einem Selbst ausgeht und dann den Anderen durch Operationen der Negation erkennt und setzt. Vielmehr muss die Begierde, so Nancy, umgekehrt verstanden werden: Sie startet beim Anderen. Nancy beschreibt dies so: „Der eine fängt nicht an: Er fängt mit dem anderen an. Mit dem anderen bedeutet: in seiner Nähe, bei ihm. Ich bin ganz zu Beginn bei jenem anderen: Welt, Körper, Sprache und mein »Mitmensch«.“53 Dieses Beim-anderen-sein muss vor dem Hintergrund der Bedeutung des Existenzstrebens noch radikaler als absolutes Außer-sich-sein begriffen werden. Mit Rekurs auf Laplanche beschreibt Butler „ein fremdes Begehren“, „[das] die Voraussetzung des »eigenen« Begehrens [ist]“54 und sich im eigenen Begehren des Subjekts weiterhin fortschreibt: „Wer begehrt, wenn »ich« begehre? In meinem Begehren scheint ein anderer am Werk zu sein […].“55 Indem das nach Existenz Strebende, wie es in seiner außersubjektiven Gestalt vorgestellt wird, außer sich, bei der Welt und beim Anderen ist, findet es dort die Formen der Negativität vor, die ihm wiederum ein Instrument des Werdens übermitteln. Nancy stellt klar, dass das Begehren dieses Anderen „kein Objekt“ sein kann, „das man verlangen und durch das man sich befriedigen könnte.“56 Der strebenden Instanz wird die Relation zum Anderen vom Anderen aufgezwungen. Und weil dieser Andere selbst in seinem Bezug zum Strebenden von einem solchen Begehren des Anderen heimgesucht wird, das im Subjekt als absolute Negativität zurück bleibt, überträgt es jene Negativität in dieser Bezugnahme auf das Strebende. In Kritik der ethischen Gewalt illustriert Butler anhand einer Rekonstruktion Laplanches einerseits, wie die psychoanalytischen Prozesse der Übertragung und Gegenübertragung das ursprüngliche Begehren des Anderen immer wieder verarbeiten. Und andererseits schildert sie mit Laplanche die Situation des Begehrens des Anderen als Überforderung und Rätselhaftigkeit, die aufgrund ihrer Übergriffigkeit einen Bildungsprozess im Subjekt begründet: […] so scheint für Laplanche die primäre Erfahrung des Säuglings unweigerlich darin zu bestehen, überwältigt zu werden; er ist nicht nur aufgrund noch nicht entwickelter motorischer Fähigkeiten »hilflos«, sondern den Übergriffen der Erwachsenenwelt in völliger Ratlosigkeit ausgesetzt. Was im Rahmen der Übertragung an Rätselhaftem auftaucht, wäre folglich ein Überrest jener Ursituation des Überwältigtseins, die der Bildung des Unbewussten und der Triebe vorangeht.57
53Ebd. 54Butler:
Kritik der ethischen Gewalt, S. 101 (meine Anm.).
55Ebd. 56Nancy: 57Butler:
Hegel, S. 221. Kritik der ethischen Gewalt, S. 97 f. (meine Hervorh.).
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Die Sozialität, die im Streben nach Existenz jene Bewegung des zu werdenden Subjekts stiftet, die Subjektivierung zu einem Konglomerat an Selbst- und Fremdbildung werden lässt, liegt vor allem in einer einseitigen persönlichen Bezugnahme zum werdenden Subjekt. Normativität als andere Form der Sozialität, die für den Subjektivierungsprozess in Butlers Theorie eine entscheidende Rolle spielt, scheint demgegenüber überhaupt erst ihre Wirkung entfalten zu können, wenn sich auf dieser basaleren Ebene bereits eine Beziehung zwischen Subjekten etablieren konnte. Im Streben nach Existenz ist das strebende Ich, das genaugenommen noch kein Ich ist, also zunächst Anderes und wirft die Differenz zwischen sich und Anderem erst auf. Wenn die Bestimmung des Begehrens des Anderen im oben explizierten Sinne aufgefasst wird, in der die Richtung des Begehrens zunächst von außen und nicht aus dem Subjekt selbst kommt, bleibt dieses Begehren immer außerhalb des reflexiv erfahr- und wissbaren Raums und beschreibt so eine Möglichkeit, die Negativität des fundamentalen Werdens des Subjekts zu begründen. Lacan deutet die „Unwissenheit, der der Mensch in Bezug auf sein Begehren verhaftet bleibt“ als eine „Unwissenheit hinsichtlich des Punkts, von wo aus er begehrt.“58 Diese Unwissenheit der Herkunft des eigenen Begehrens ist, was Butler mit Begriffen der Selbstentzogenheit und des Verlustes reformuliert. Ebendiese Undurchsichtigkeit des Begehrens im Subjekt scheint jenen Ursprung abzubilden, der bei Butler als notwendige Annahme einer initiierenden Prozessualität zum Vorschein kommt. Im Streben nach Existenz kann gleichermaßen kein Punkt bestimmt werden, von dem aus das Streben ausgeht, denn jenes Streben markiert erst den Anfang des Subjekts. Durch dieses Begehren im Modus des Anderen manifestiert sich ein Begehren vor dem Begehren, ein Begehren, das sich als Bedingung der Möglichkeit eines Objektbegehrens darstellt. Butler beschreibt das Existenzstreben als Antrieb für die Subjektbildung: „Die Subjektivation bedeutet das Begehren nach Existenz von dort aus, wo das Dasein immer von anderswo gewährt wird; sie markiert eine ursprüngliche Verletzlichkeit gegenüber dem Anderen als Preis, der für das Dasein zu zahlen ist.“59 Was sich also in der Subjektbildung als Zeichen zeigt, ist das Begehren nach Existenz im Modus des Anderen – ohne das Subjekt als Anfang und ohne ein weiteres Ziel als die Fortführung des lebendigen Zustands denken zu müssen. Die Explikation des Existenzstrebens mit Bezug auf die Idee eines Begehrens stellt die Sozialität des vorsubjektiven Grundes des Subjekts heraus. Denn selbst dieses ist durch den Anderen als anderes Subjekt, als normativer Bezugsrahmen und als gesellschaftliche Ordnung konstituiert. Dass das Streben ‚außersubjektiv‘ ist, bedeutet daher nicht, dass es nicht selbst einer Subjektivität entstammt, sondern dass es von etwas anderem als dem einzelnen Subjekt ausgeht.60 Das Streben nach Existenz 58Lacan:
Subversion des Subjekts, S. 190. Psyche der Macht, S. 25 (meine Hervorh.). 60Dieser Aspekt verdeutlicht auch, dass die genealogische Perspektive, die hier verfolgt wird, kein Gegensatz zu einer bestimmten Ausdeutung der Phänomenologie bedeutet. Die Genealogie, wie sie hier verstanden wird, verbleibt in der Perspektive des Subjekts und versteht sich
59Butler:
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4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
ist in Bezug auf das Funktionieren der Fähigkeiten und inneren Dynamiken des Subjekts Ausdruck eines Abgrunds im Subjekts, eines Nichts.
4.2.3 Negativität und Sozialität des Existenzstrebens Was das Existenzstreben auszeichnet, ist, einen Anfang der Selbstbewegung des Subjekts denkbar zu machen und somit das ‚Instrument des Werdens‘, wie Butler es formuliert, offenzulegen. Sowohl der Lebensbegriff als auch die Konzepte des Triebes und des Begehrens stellten Versuche dar, die Bewegungsdynamik von Subjektivität und deren Anfangsgrund zu erklären. Den Versuch zusammenfassend, das Streben nach Existenz als besonderen Prozess des Übergangs zur Subjektivierung zu beschreiben, kann zweierlei festgehalten werden: Erstens ist das Resultat einer bestimmten Deutung des Lebensbegriffs, dass dieser nur aufgrund einer gewissen konstitutiven Negativität als Erläuterung des radikalen Übergangs zur Subjektivierung herhalten kann. Zweitens folgt aus der Betrachtung der besonderen Form des Begehrens des Anderen, die allen anderen Begehrensformen zugrunde liegt, dass hierdurch das Streben nach Existenz als Effekt einer der Sozialität der Subjektivierung zugrundeliegenden Sozialität gedeutet werden kann. Auch Lacans Begriff des Begehrens lässt sich für die Deutung einer Bewegung fruchtbar machen, die auf eine konstitutive Leerstelle im Subjekt zurückgeht und dessen dynamischen Charakter zu begründen vermag. Auch wenn es sich bei den Versuchen, das Streben nach Existenz zu theoretisieren, immer nur um zirkuläre Beschreibungen handelt, ist die Untersuchung der Annahme des Existenzstrebens um einen Schritt weiter: Die Annahme des Strebens nach Existenz, die die Transformationsmöglichkeit des Subjekts beschreiben soll, stellt sich als eine Bewegung dar, die als Effekt ihrer Sozialität eine absolute Negativität im Subjekt implementiert und auf diese Weise das Werden desselben begründet. Die Unbestimmtheit des Existenzstrebens betrifft sowohl den Anfangspunkt als auch dessen Telos. Wie lässt sich die Negativität der Bewegung, die das Streben nach Existenz ist, aber genau beschreiben? Was in dieser Bewegung ist negativ oder absolut unbestimmt? Wenn das Streben nach Existenz als absolut unbestimmt beschrieben wird, bedeutet das eine Abkehr von möglichen Bestimmtheiten. Zwei Möglichkeiten der Bestimmung sollen durch die Unbestimmtheit des Existenzstrebens ausgeschlossen werden. Die erste Form der Bestimmung ist die der Selbstbestimmung. Sie bezeichnet eine Fixierung des eigenen Selbst durch einen wie auch immer gestalteten reflexiven Akt und wird im Folgenden reflexive Bestimmtheit genannt. Die zweite Bestimmung lässt sich als Objektbestimmung beschreiben. In dieser objektiven Bestimmtheit wird ein Gegenstand als etwas
als Selbsterfahrung. Weil sie aber den Horizont des Einzelnen konstitutiv überschreitet, schält sie heraus, wie das Subjekt niemals sein eigener Grund sein kann.
4.2 Negativität im Lebensprozess
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Bestimmtes gesetzt. Beide Formen der Bestimmtheit lassen sich auf Bewusstseinseinstellungen zurückführen und sind mit einem Akt der Bewegung verbunden, der durch die Operation der Negation ermöglicht wird. Das Streben nach Existenz erweist sich bezüglich beider dieser Bestimmtheiten als absolut unbestimmt. Es kann erstens kein Objekt des Strebens im Sinne einer objektiven Bestimmtheit vorliegen, da es vielmehr die Bedingung eines Objektbewusstseins überhaupt anzeigt. Aus einer Beschreibung des Strebens als Begehren des Anderen resultiert, dass es kein Objekt des Begehrens gibt, sondern das Streben vielmehr die Begierde selbst ist. Das Streben in seinem völligen außer-sich-Sein ist reines Streben, ohne seinen Anfang im Subjekt selbst zu nehmen oder sich auf ein Ziel richten zu können. Zweitens kann das Existenzstreben keinesfalls reflexiv bestimmt sein, da es sich hierbei freilich gerade um die Annahme eines vorsubjektiven Grundes subjektiver Reflexivität handeln soll. Für das werdende Subjekt selbst ist das Streben nach Existenz also eine Form des Begehrens, die sich einerseits als absolut leer erweist (es gibt weder Subjekt noch Objekt dieses Strebens) und sich andererseits als völliger Überschuss an Bedeutung, Anspruch des Anderen und Widerständigkeit der Welt gegenüber dem Streben zeigt.61 Beides sind Formen der Unbestimmtheit, die das Streben auszeichnen. Weder aus der Leere noch aus dem Überschuss folgt für das Subjekt eine Bestimmtheit des Strebens. Diese Idee der absoluten Unbestimmtheit verweist auf die Annahme einer nicht-dialektischen Negativität, die in einer Bedeutung radikaler Transformativität enthalten ist. Besonders an dieser Negativität, die im folgenden Teil (III Negativität und Freiheit) als Nichts bezeichnet wird, ist, dass sie ebenso wie das Subjekt durch Sozialität ins Leben gerufen wird. Ausgehend vom Anderen des zu werdenden Subjekts wird die besondere Negativität in Form jener Unbestimmtheit erzeugt. Indem das Subjekt in seinem Existenzstreben vom Anderen her begehrt, außer sich ist, wird es durch ein Anderes hervorgerufen, das es noch nicht als sein Anderes begreift. Das strebende Ich ist sich selbst folglich zunächst pure Abwesenheit, die noch nicht als Mangel aufgefasst werden kann. Vielmehr ist diese pure Abwesenheit, das völlige Außer-sich-sein, Bedingung der Möglichkeit der Mangelerfahrung. Vermittels dieser Abwesenheit oder Leerstelle kann eine Dynamik, die im späteren als Bewegung der Reflexion oder Lebensdynamik erscheint, erst entstehen. Die initiierende Selbstbewegung des Subjekts ist folglich nicht zu trennen von ihrer Fremdbewegtheit. Selbst- und Fremdbewegung fallen hier in eins. Es folgt daraus nicht nur, dass die Unbestimmtheit, eine sich der Reflexivität entziehenden Negativität des Subjekts, ebenfalls wie das Subjekt selbst sozial konstituiert ist, sondern auch, dass hierin das Potential der Möglichkeiten von Befreiung gesucht werden kann. Sie ist Teil der Erklärung dessen,
61Butler
illustriert dies mit Laplanche: „Für Laplanche bin ich durch diesen Ruf oder diese Forderung beseelt, und ich bin von ihnen zunächst einmal überwältigt; von Anfang an ist der Andere zu viel für mich, er ist rätselhaft, unergründlich.“, in: dies.: Kritik der ethischen Gewalt, S. 75.
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4 Zum Verhältnis von Subjektbildung und Leben
wie das Subjekt von einer absoluten außer sich liegenden Macht, wie Butler es beschreibt, zu einer eigens eingesetzten Handlungsmacht kommen kann. Die Negativität soll die Möglichkeit jenes Übergangs erklären. Es folgt also aus der Analyse der Butlerschen Prämisse des Existenzstrebens, dass die Annahme dieses Strebens als unbestimmter Impuls ebenso eine Notwendigkeit des Subjektbegriffs darstellt wie die Annahme der dialektischen Reflexion. In einer früheren Beschäftigung mit Foucault identifiziert Butler bereits die Notwendigkeit einer nicht-dialektischen Negativität, die die dialektische Reflexionsform des Subjekts zwingend hervorruft: Without the assumption of prior ontological harmony, conflict can be seen to produce effects that exceed the bounds of dialectical unity and result in a multiplication of consequences. From this perspective, conflict does not result in the restoration of metaphysical order, but becomes the condition for a complication and proliferation of historical experience, a creation of new historical forms. This “non-place” of emergence, this conflictual moment which produces historical innovation, must be understood as a nondialectical version of difference, not unlike the “difference” which, for Derrida, permanently ruptures the relation between sign and signified.62
In Bezug auf die Funktionsweise des dialektischen Konflikts zwischen Gegensätzen beschreibt Butler, wie sich hieraus Effekte ergeben, die über eine Vereinigung der Syntheseleistung hinausgehen. Mit dieser Form des Konflikts, die nicht nur dialektische Aufhebung zur Folge hat, sondern einen dialektischen Überschuss produziert, verbindet Butler die Möglichkeit eines transformativen Weltverhältnisses, „a creation of new historical forms.“
62Butler:
Subjects of Desire, S. 182 f. (meine Hervorh.).
Teil III
Freiheit und Negativität
„Ohne Rekurs auf das Vor-Ichliche, auf jene Regung, die gewissermaßen eine Körperregung ist, die noch nicht von der zentralisierenden Bewusstseinsinstanz gelenkt wird, wäre der Freiheitsbegriff überhaupt nicht zu schöpfen, – während er doch auf der anderen Seite terminiert in der Stärke des Ich selber; er ist also in sich selbst antagonistisch.“1 Der Fokus der vorangegangenen zwei Kapitel lag auf der Bedeutung, die diese „[v]or-Ichliche[n] Regung“, von der Adorno in der Lehre von der Geschichte und der Freiheit spricht, für den Prozess sozialer Subjektivierung bei Butler einnimmt. Versteht man das Subjekt als durch dessen Sozialität ins Leben gerufen, also durch soziale Strukturen wie Normativität, Sprache und Formen der Anerkennung konstituiert, entsteht insbesondere vor dem Hintergrund einer poststrukturalistischen Perspektive ein Widerspruch, der gerade den Kern des Verständnisses von Befreiungsmöglichkeiten des sozialen Subjekts verschleiert: Einerseits ist das Subjekt den sozialen Bedingungen untergeordnet und andererseits aber zu Widerstand fähig. Martin Saar fasst den Anspruch, den Subjektivierungstheorien damit formulieren, in seinem kurzen Artikel Analytik der Subjektivierung treffend zusammen: Sie [die theoretische Perspektive auf Subjektivierung, die sich der Vorschläge von Althusser, Foucault und Bulter bedient] wird diese [Subjektkonstitutions]prozesse im Hinblick auf die in ihnen zur Geltung kommende Wirksamkeit von Macht und Asymmetrie untersuchen und damit die Subjektwerdung in einem eminenten Sinn als Akt der Unterwerfung, aus der das Subjekt hervorgeht, begreifen. Zugleich soll aber als Effekt dieser Prozesse die Entstehung einer Instanz verständlich werden, der nun tatsächlich Freiheit und Handlungsfähigkeit zukommt.2
1Adorno:
Zur Lehre von der Geschichte und der Freiheit, S. 295. der Subjektivierung, S. 26.
2Saar: Analytik
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Teil III Freiheit und Negativität
Butler deutet an, dass es in der Entstehung des Subjekts einen Übergang zwischen verschiedenen Modi der Macht gibt, der dessen Widerständigkeit erklärt, aber gleichzeitig begrifflich nicht zu fassen ist. Dieser Übergang ist jedoch, hält man an dem zentralen Selbstbild von Subjekten als (unter bestimmten Bedingungen mit bestimmten Grenzen) handlungsfähigen Wesen fest, ein sehr wesentliches Bedeutungselement des Verständnisses von Subjektivität. Im Paradox des widerständigen aber subjektivierten Subjekts verbirgt sich folglich ein entscheidendes Moment des Übergangs, der die Bedingungen und Möglichkeiten eines freiheitlichen Selbst- und Weltbezugs des Subjekts markiert. Um diesen Übergang verständlich zu machen, wurde auf Butlers Vorschlag Bezug genommen, eine vorsubjektive Prozessualität anzunehmen, die die Subjektivierung bedingt: das Streben nach Existenz. Vor dem Hintergrund dieses Strebens, das als Prozessualität des Lebens gedeutet wurde, stellt sich nun die Frage nach den Möglichkeiten der Befreiung im Subjektivierungsprozess. Welchen Aufschluss bietet das Existenzstreben in seiner Funktion des ersten Übergangs für den Begriff der Freiheit, der ebenfalls als eine Übergangsidee gedacht wird? Diese Frage nach der Freiheit erweist sich als der Kern des Verständnisses von Subjektivität überhaupt. Nur vermittels einer Erklärung der Möglichkeit jenes Übergangs, der Möglichkeit eines widerständigen Subjekts, also der Möglichkeit von Freiheit, lässt sich das Subjekt vollends als Subjekt denken – sofern das Subjekt als eine Form des Werdens betrachtet wird, die nicht, wie es in einem positiven Begriff des Lebens der Fall ist, stets vorwegnimmt, worauf sie zielt. Subjekte unterscheiden sich in der Art, ihre Geschichte zu erleben und zu erzählen, konstitutiv von allen anderen Entitäten dadurch, dass sie in ihrer Geschichte selbst eine Rolle als Akteur spielen, selbst Teil ihrer Geschichte und das heißt, nicht nur fremden Mechanismen unterworfen sind.3 Der Gang der Geschichte des Einzelnen sowie der Gang der Geschichte der Gesellschaft sind durch das Verständnis bestimmt, nicht nur zufällig zu sein, sich nicht nur aus der Evolution der Natur oder der Kultur heraus entwickelt zu haben, sondern auch durch Subjekte vorangetrieben zu werden, die in den Verlauf eingreifen können.
3Dass es genug Fälle gibt, in denen das eigene Leben eher als fremdbestimmt und nicht als selbst gelebt empfunden wird, bestätigt diese These eher, als dass sie ihr widerspricht. Solche Selbstwahrnehmungen werden von den Wahrnehmenden sowie auch aus der Außenperspektive meist als Krisen wahrgenommen, als krisenhafte Momente der Erstarrung. Vgl. auch Jaeggi: Entfremdung, S. 71–212.
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Zum Verhältnis von Negativität und Freiheit
5.1 Von sozialer Subjektivierung zu Negativität Butlers Erklärung der sozialen Konstituiertheit des Subjekts beschreibt, wie eine Narration der Subjektivierung auf der Annahme eines Anfangs, eines ersten Übergangs von nicht-Subjekt zu Subjekt, basiert. Die Suche nach einer adäquaten Theoretisierung dieses Strebens war mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sich diese Prozessualität einem epistemischen Zugang konstitutiv entzieht. Trotzdem oder gerade aufgrund dieser Eigenschaft des Existenzstrebens wurde es als absolute Unbestimmtheit aufgefasst. Damit sind jedoch mehr Fragen als Antworten auf die Frage gegeben, wie genau dieser erste Übergang, der das Streben nach Existenz ist, zu verstehen ist, und wie sich damit ein Konzept der Befreiung theoretisch anreichern lässt, das die Freiheit eines sozial konstituierten Subjekts beschreibt. Es lassen sich zwei Aspekte der bisherigen Betrachtung des Existenzstrebens festhalten: dass das Existenzstreben ein die Subjektivierung begründender Prozess ist, stellt sich erstens als Annahme beziehungsweise als Vorstellung heraus und ist zweitens selbst in die soziale Konstituiertheit des Subjekts eingebunden. Die Idee einer Herkunft des Subjekts ergibt sich aus der Weise, wie sich Subjekte selbst als historisch oder zeitlich, also als Bildungsprozess auffassen. Die Perspektive, aus der dieser Prozess betrachtet wird, kann dabei nicht allein Ergebnis der Selbstanalyse des einzelnen Subjekts sein, sondern ergibt sich notwendig auch aus der Sichtweise der dritten Person auf Subjektivierung im Allgemeinen. Grund hierfür ist, dass dem einzelnen Subjekt der eigene Grund epistemisch als absoluter Nullpunkt, als blinder Fleck in der eigenen Biographie erscheint. Das, was sich am Ende als Anfangsidee herausstellt, ist folglich nicht als wahrer, subjekt- und kontextloser Anfang zu verstehen, sondern bleibt stets eine Vorstellung des Anfangs, die auch durch die spezifische gesellschaftliche Konstellation geprägt ist, das Subjekt aber wesentlich in seiner Subjektivierung bestimmt. In der Weise, wie
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Junker, Soziale Subjektivierung, Negativität und Freiheit, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05734-1_5
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5 Zum Verhältnis von Negativität und Freiheit
das Subjekt in seinem Werden existiert, zeigt sich die Vorstellung dieses Anfangs als dessen (kontingente) Realität bestimmend. Die absolute Unbestimmtheit, die die Vorstellung dieses Anfangs kennzeichnet, ist eine Eigenschaft des Strebens nach Existenz, die sich erst in und durch die Verbindung zwischen Subjekten entfaltet und ist infolgedessen selbst sozial konstituiert. Zentral für diese Anfangsidee des Subjekts ist der ihr innewohnende Begriff eines radikalen Übergangs. Radikal ist diese Übergangsvorstellung deshalb, weil sie nicht nur die Möglichkeit einer (Selbst-)Bildung des Subjekts beschreibt, sondern weil sie damit die Ermöglichung des Subjekts überhaupt verständlich machen soll. Radikal ist diese Übergangsidee auch deshalb, weil sich aus ihrer Form zwar eine Form des Werdens des Subjekts generiert, sich aber zugleich ein Moment in den Prozess der Subjektivierung einschreibt, das wesentlich als außersubjektiv und als das Subjekt selbst überschreitend begriffen wird. Wenn das Subjekt wesentlich ein Subjektivierendes, sich permanent Entwickelndes und Überschreitendes ist, dann ist auch dieses erste Übergangsmoment nur eine Illustration der Möglichkeit einer Freiheit, die sich als Befreiungsprozess des Subjekts von der Welt und von sich selbst realisiert. Ein statisches Verständnis von Freiheit etwa in Form einer habituellen Eigenschaft, die dem Subjekt zukommt oder nicht, ist mit der Perspektive eines prozessualen Subjekts nicht vereinbar: Ist das Subjekt nur Subjekt, indem es sich permanent im Prozess der Subjektivierung befindet, kann auch dessen Freiheit nur in dieser Prozesshaftigkeit liegen. Was die Idee des ersten Übergangs des Subjekts, der absoluten Unbestimmtheit eines Außer-sich-seins, daher leisten soll, ist, die Möglichkeitsbedingung einer solchen Freiheit zu erläutern, die sich im Prozess der Befreiung realisiert und zeigt. Was aber ist unter dieser Unbestimmtheit des Anfangs zu verstehen und wie lässt sie sich konstruktiv in die Formulierung einer radikalen Freiheit einbringen, die mit der sozialen Konstituiertheit des Subjekts entsteht? Anders gefragt: Wie ist die Negativität des Subjekts beschaffen, sodass sie den Prozess der Subjektivierung als radikalen Befreiungsprozess denkbar macht? Diese Negativität, die den genealogischen Grund des Subjekts bildet, lässt sich sowohl im Modus eines Seins als auch eines Scheins oder des Ausdrucks beschreiben. Einerseits wird die absolute Unbestimmtheit durch eine allem vorausgesetzte Sozialität ins Leben gerufen. Andererseits erscheint diese dem einzelnen Subjekt selbst aber als absoluter Nullpunkt der Existenz. Die Unbestimmtheit lässt sich hinsichtlich des ersten Aspekts als Schein beschreiben. Hinsichtlich des zweiten Aspekts wird jedoch deutlich, wie der Schein dieser Unbestimmtheit die Realität für das Subjekt bedingt. Die Ambivalenz der Unbestimmtheit zwischen Schein und Sein entsteht dadurch, dass einerseits sehr genau bestimmbar ist, was das Streben nach Existenz ist: eine Bewegung vom Anderen her, die auf die Fortführung des Lebens zielt (siehe Teil II). Zum anderen ist aber an diesem Streben gar nichts klar und alles versinkt im Dunkel der Unbestimmtheit, wenn die Perspektive des einzelnen Subjekts eingenommen wird, das noch gar nicht als solches existiert und seine eigene vor-Existenz imaginiert. Betrachtete man die Unbestimmtheit des Strebens allein als Sein, würde das die Frage nach dem epistemischen Zugang aufwerfen (siehe Kapitel 3).
5.1 Von sozialer Subjektivierung zu Negativität
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Würde die Unbestimmtheit hingegen nur in ihrer Weise, wie sie dem Subjekt erscheint, betrachtet, stellte sich die Frage nach ihrer Relevanz für die Form der Subjektivierung. Die Unbestimmtheit changiert daher zwischen Schein und Sein. Das Sein dieser Unbestimmtheit ist ihr Schein. Sie existiert nur für das Subjekt, dem es als absolutes Außer-sich-sein und daher als absolute Bedeutungsfülle einerseits und als absolut leerer Nullpunkt andererseits erscheint. Da es im Streben nach Existenz noch gar kein Ich gibt, findet sich das Strebende vollkommen beim Anderen wieder. Dieses beim-Anderen-Sein bedeutet aber, sowohl der Bedeutungsfülle der Ansprüche der sozialen Welt überantwortet als auch einer völligen Leere und Abwesenheit des Selbst ausgesetzt zu sein. Von diesem Standpunkt aus erhält das Subjekt zu allererst die Instrumente der Differenz und daraufhin auch die Instrumente seines Werdens. Hierin deutet sich bereits die produktive Seite dessen an, was Butler als Unterwerfungsstruktur skizziert hat: In der konstitutiven Verflechtung mit dem Sozialen, die im Schein und Sein der Unbestimmtheit des Subjekts impliziert ist, entfaltet sich der ermöglichende und zugleich unterwerfende Charakter der Ambivalenz der Negativität. In welcher Weise dieser Nullpunkt, der eine Lücke oder einen Bruch ins Selbstverhältnis des Subjekts reißt, als „Lücke der Repräsentation“ – also als eine Lücke, die im Prozess der Subjektivierung zum Ausdruck kommt – zu verstehen ist, beschreibt Zeynep Gambetti in ihrem aufschlussreichen Aufsatz über Freiheit The Agent is the Void! from the Subjected. Zunächst fasst Gambetti ähnlich wie in der hier verfolgten Argumentationslinie zusammen, dass eine Form der Leerstelle („void“) respektive Negativität für die Möglichkeit widerständigen Handelns verantwortlich gemacht wird: The impossibility of full determination is mostly imputed to an ontological void within the symbolic order that constitutes the subject. What accounts for the possibility of subversion, what paradoxically enables the subjected subject to become the agent of political change is this void, itself external to the subject. Since the structure is not an absolute necessity, since it is a contingent and historical formation, there is no essential reason why things should be as they are.1
Die Veränderbarkeit der symbolischen Ordnung und damit des Modus der Subjektivierung ist in einer Lücke des Subjektivierungsprozesses selbst begründet. Für Gambetti ist diese Lücke dem Subjekt zunächst äußerlich. Um die Idee der Negativität, die im Begriff der Lücke enthalten ist, so zu wenden, dass die Möglichkeit der Veränderung von den Subjekten mehr oder weniger aktiv genutzt werden kann, bezieht sich Gambetti auf Arendts These über die Singularität des Subjekts. Aus der Lücke in der symbolischen Ordnung wird auf diese Weise eine Lücke, die sich das Subjekt selbst zu Eigen macht. Die unvergleichliche Partikularität jedes einzelnen Menschen, so folgt Gambetti Arendt, lässt sich sprachlich nicht abbilden. Gerade weil sie sich sprachlich nicht abbilden
1Gambetti:
The Agent is the Void! from the Subjected, S. 427.
5 Zum Verhältnis von Negativität und Freiheit
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lässt, entsteht in Bezug auf das Subjekt eine epistemologische Leerstelle, die das Selbstverhältnis des Subjekts affiziert. Diese Negativität, ein absoluter Nullpunkt im Subjekt und für das Subjekt, ist so betrachtet eine Negativität des Ausdrucks. Zeynep Gambetti spricht in diesem Zusammenhang von einer Leerstelle der Repräsentation: „The void is not a pure, ontological negativity; had it been so, it could not have acted. The void is merely a representational void.“2 Bis hierhin gründet sich der Zusammenhang zwischen sozialer Subjektivierung und Negativität auf zwei argumentative Schritte: 1. Das Subjekt ist wesentlich sein eigenes Werden und dieser Prozess der Subjektivierung in sich sozial konstituiert. Dies impliziert die Vorstellung, dass sich die Form der Subjektivierung aus dem Verhältnis des Subjekts zu seiner sozialen Welt generiert. So wird das Subjekt nur vermittels der Formen des Sozialen zum Subjekt. Aus dem grundlegenden Verhältnis des Subjekts zum Sozialen erwächst überhaupt erst die Form des Werdens, die den Kern des Subjekts in seiner Reflexivität ausmacht. 2. Die Weise, in der sich das einzelne Subjekt einerseits zu sich selbst verhält und andererseits aus der Perspektive der dritten Person und daher im Raum des Sozialen zum Ausdruck kommt, lässt sich vermittels einer nicht-teleologischen und genealogischen Haltung als besondere Form des Werdens (nämlich eines freiWerdens) beschreiben. Aus dem Widerspiel zwischen Selbstentzogenheit und Widerständigkeit, das sich in Butlers Theorie der Subjektvierung als Kern eines freiheitlichen Selbstverhältnisses erwiesen hat, ergibt sich die Notwendigkeit, das Subjekt genealogisch zu betrachten: Die fundamentale Selbstentzogenheit, die gleichzeitig Grund für die Widerständigkeit des Subjekts sein soll, lässt sich nicht anders als unter Einbezug eines Moments erklären, das sich der Reflexion entzieht. Was sich der Reflexion entzieht, lässt sich aber mit den Mitteln der dialektischen und phänomenologischen Auffassung von Reflexivität nicht beschreiben. Die Annahme eines vorsubjektiven Anfangs des Subjekts hingegen erklärt, wie die Lücke im Subjekt entsteht, die sich durch Selbstentzogenheit zeigt. Ein radikales Verständnis der Widerständigkeit des Subjekts, also eine radikale Beschreibung der Übergangsmomente, die das Subjekt in seinem Werden stets vollzieht, lässt sich nur unter Verzicht auf ein teleologisches Verständnis dieses Prozesses erklären. Beides, die genealogische Betrachtung und der Verzicht auf Teleologie, sind Bedeutungsdimensionen des Strebens nach Existenz. Aus dieser Auffassung des Existenzstrebens resultiert dessen absolute Unbestimmtheit, wie im zweiten Kapitel aufgezeigt wurde. Bezieht man dieses Ergebnis der Untersuchung aus dem zweiten Kapitel auf die Analyse des Pippinschen Subjektverständnisses, so wird ersichtlich, dass ein Verständnis des Subjekts ganz allein im dialektischen Sinne nicht ausreicht, um Freiheit und soziale Subjektivierung zusammen zu denken. Unter Rückgriff auf Marc Sommers Ausarbeitung des Unterschiedes zwischen Hegelscher und negativer Dialektik lässt sich dieses Problem bei Pippin unter anderem auf
2Ebd.,
S. 432.
5.2 Streben und Negativität als Übergänge
117
sein besonderes Verständnis der Dialektik zurückführen. Laut Sommer unterstellt Pippin, „dass nur das Denken ein dialektisches ist, das zugleich ein unendliches Denken ist, mithin ein Denken, das keine Grenze am Anderen des Denkens findet, sondern alles andere in sich aufgenommen hat.“3 Pippins Subjektverständnis kennt keine außersubjektive Anfangsidee, die sich in der Subjektivierung selbst widerspiegelt, da alles Außersubjektive durch die dialektische Reflexion des Subjekts bereits absorbiert ist. Sein Ansatz scheitert an der Verknüpfung von Sozialität und der Möglichkeit eines freiheitlichen Selbstverhältnisses, das nicht schon durch eben jene Sozialität vorgezeichnet ist (mithin kein freiheitliches mehr wäre), aufgrund des Ausschlusses nicht-dialektischer Elemente im Prozess der Subjektivierung. Butlers Theorie sozialer Subjektivierung ist hingegen das Resultat eines genealogischen, nicht-teleologischen Subjektverständnisses, indem sie die Gleichzeitigkeit von Unterwerfung unter soziale Machtmechanismen und der Widerständigkeit gegen diese Unterwerfung als Ressource für den Prozess der Subjektivierung überhaupt denkt. Weil sie jedoch das fundamentale Streben nach Leben selbst nicht in diesem Kontext spezifiziert, vermag sie es nicht, den Operator dieses Prozesses zu beschreiben.
5.2 Streben und Negativität als Übergänge Zwar ist bisher noch keine Klärung herbeigeführt worden, was genau unter jener absoluten Unbestimmtheit im Streben nach Existenz zu verstehen ist. Aber dennoch lässt sich etwas über dessen Funktion aussagen. Eine Bestimmung der Funktion der absoluten Unbestimmtheit im Existenzstreben kann als Ausgangspunkt für eine genauere Analyse desselben dienen. Die absolute Unbestimmtheit des Existenzstrebens fungiert als Moment eines Übergangs, das alle weiteren Übergänge ermöglicht, die den Prozess der Subjektivierung bestimmen. Denn Subjektivierung ist eine Bewegung, für deren Verständnis ein Verständnis der Möglichkeit eines Übergangs von nicht-Subjekt zur Selbstbildung des Subjekts unabdingbar ist. Diese Ermöglichungsrelation, die die absolute Unbestimmtheit des Strebens in Bezug auf die Form der Übergänge im Prozess der Subjektivierung einnimmt, ist nicht nur im Sinne eines ersten Anstoßens zu verstehen. Da die Idee des außersubjektiven Anfangs in der Praxis und im Selbstverständnis des Subjekts immer wieder virulent wird, ist die Funktion der absoluten Unbestimmtheit des Existenzstrebens, die jener Anfangsidee zugeschrieben wird, in der Subjektivierung nicht auf einen bereits vergangenen, immer schon abgeschlossenen Anfang dieses Prozesses beschränkt. Vielmehr muss angenommen werden, dass sich die Wirkung der Unbestimmtheit im Prozess der Subjektivierung immer wiederholt. Der epistemische Zugang zu dieser Unbestimmtheit, so wurde bereits
3Sommer:
Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 173.
5 Zum Verhältnis von Negativität und Freiheit
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im zweiten Kapitel klargestellt, lässt sich nur über den Ausdruck des Subjekts in seiner Praxis ableiten. Der Anspruch an die Erklärungskraft der absoluten Unbestimmtheit des Strebens nach Existenz ist ein doppelter: Erstens soll sie die subjektive Bewegungsdynamik so präzisieren, dass sie nicht nur einen angenommenen vorsubjektiven Grund der Subjektivierung, sondern auch die Dynamik der Subjektivierung im Allgemeinen beschreibt. Ein zweiter Anspruch an die Unbestimmtheit des Strebens bezieht sich auf die Qualität des Übergangs, den sie erklären soll. Wenn die Ausgangsfrage dieser Arbeit ist, aufgrund welcher Vorgänge sich das Subjekt so an sich abarbeiten kann, dass es seine eigenen Voraussetzungen zu transformieren vermag, dann muss die Qualität der Bewegung dieser Übergänge als radikal beschrieben werden. Johanna Oksala schildert in ihrer Studie zu Foucaults Freiheitsverständnis, wie in Foucaults späterer Subjektphilosophie eben dieser radikale Anspruch an die Übergangsleistung der reflexiven Bewegung der Subjektivierung enthalten ist: It [the subject] turns back upon itself, recognizes itself as a subject of a certain morality, problematizes normalized subjectivity and seeks to create itself anew. At the same time seemingly paradoxically, the subject does not invent itself, but only deploys modes of behavior and thinking of its cultural context.4
Diese Gleichzeitigkeit von transformierendem Selbst- und Weltbezug und der Eingebundenheit in das Soziale ist es, die durch die absolute Unbestimmtheit erläutert werden soll, und die im Streben nach Existenz ihren Ausgangspunkt findet. Die Qualität dieses Übergangs, den die absolute Unbestimmtheit, so die These, besser illustriert als rein dialektische Negativität, lässt sich also nicht bloß als ein Abarbeiten an oder Negieren der eigenen Entstehensbedingungen beschreiben, sondern als eine Veränderung, die zwar auf konstitutive Machtstrukturen bezogen bleibt, in einer Abwendung von diesen, in einer Widerständigkeit, aber etwas Neues zu generieren vermag. Es ist kein origineller Gedanke, dass mit dieser besonderen Form des Übergangs, der sich in der Subjektivierung vollzieht, die Idee der Freiheit verbunden wird. Wiederum Oksala beschreibt, wie diese Vorstellung auch Foucaults Freiheitsverständnis zugrunde liegt: „The subject exercises freedom in withdrawing from itself and problematizing its behavior, beliefs and the social field of which it is part. The practices of freedom are the practices capable of changing the constitutive conditions of our subjectivity as well as its actual forms.“5 Diese Beschreibung trifft auch auf die Weise zu, wie Butler in ihrer Theorie sozialer Subjektivierung die Möglichkeit der Widerständigkeit vorbringt, nämlich als
4Oksala: 5Ebd.,
Foucault on Freedom, S. 192 (meine Anm.). S. 181 (meine Hervh.).
5.2 Streben und Negativität als Übergänge
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Möglichkeit der Veränderung der konstitutiven Bedingungen des eigenen Selbst.6 Dies impliziert eine Form der Reflexivität, die ein anderes Selbstverhältnis als ein bloß negierendes zu etablieren vermag. Doch die Möglichkeit einer solchen freiheitlichen Praxis kundzutun oder vorauszusetzen, damit ist bezüglich eines Verständnisses von Freiheit nicht viel gewonnen. So klagt Zeynep Gambetti an: „Poststructuralist theory is regrettably at an impasse, precisely at the point where the conditions of freedom (or of change) are nominated but not fully explicated.“7 Was durch den Rückgriff auf die absolute Negativität des Strebens nach Existenz gewonnen werden kann, ist, diese Möglichkeit des modifizierenden Selbst- und Weltbezugs vor dem Hintergrund sozialer Subjektivierung erstens zu spezifizieren, d. h. sprachlich zu artikulieren, und zweitens sie so zu spezifizieren, dass sie zur Beschreibung des Subjekts als sozial Konstituiertem beiträgt. Letzterer Aspekt bedeutet nichts anderes, als jene absolute Unbestimmtheit des Strebens nach Existenz ebenso wie alle weiteren Formen der Subjektivierung so zu beschreiben, dass sie als sozial Hervorgebrachtes verständlich ist.
6Die
Notwendigkeit einer solchen Möglichkeit der Selbsttransformation formuliert auch Slavoj Žižek überzeugend, wenn es darum geht, Herrschaftsverhältnisse aufzubrechen. In Die Tücke des Subjekts schreibt er: „Sie [die Sichtweise, durch eine Abschaffung der Unterdrücker sei eine Befreiung der Unterdrückten zu erzielen] ignoriert die Art und Weise, in der die Identität ihrer eigenen Position (die Position des Arbeiters, der Frau, des Afroamerikaners …) schon durch das Andere »vermittelt« ist […]. Will man also das unterdrückende Andere loswerden, so muss man den Inhalt seiner eigenen Position substantiell transformieren.“, S. 97 f. (meine Anm.). 7Gambetti: The Agent Is the Void!, S. 428. Ich möchte betonen, dass ich der scheinbaren Gleichsetzung von Veränderung (change) und Freiheit in diesem Zitat widerspreche. Wichtig und theoretisch aufwendig ist es eben, die Bedingungen der Freiheit herauszuarbeiten, während die Bedingungen von Veränderung oder die Veränderbarkeit mit den Instrumenten poststrukturalistischer Theorien vergleichsweise leicht zu erklären sind.
6
Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
Eine Spezifizierung der Vorstellung des Übergangs, die auf die Annahme eines vorsubjektiven Strebens der absoluten Unbestimmtheit zurückgeht, rekurriert auf den Begriff der Negativität. Wenn das Streben für das Strebende absolut unbestimmt ist und auch das Nachdenken über jenes vorsubjektive Streben nur die Vorstellung einer absoluten Unbestimmtheit hervorbringt – so hatte die Rekonstruktion einer Derridaschen Deutung des Lebensbegriffs im zweiten Teil (4.1.3 und 4.1.4) ergeben – dann handelt es sich hierbei um die Beschreibung einer besonderen Form der Negativität. Welche Form der Negativität aber kann der absoluten Unbestimmtheit des Existenzstrebens zugeschrieben werden? Und welche Form der Negativität ist so beschaffen, dass sie das Paradox, das das Werden des Subjekts in Bezug auf dessen Befreiungsmöglichkeiten heimsucht, produktiv zu wenden vermag? Indem das Übergangsmoment im Werden des Subjekts einerseits durch die sozialen Bedingungen bestimmt ist und dessen Operator nur aus ihnen gewinnen kann, soll hierin gleichzeitig ein Moment der absoluten Distanz zu diesen Bedingungen liegen, das eine Befreiung von eben diesen sozialen Bedingungen ermöglicht. Die bisherige Bezeichnung für die noch zu spezifizierende Negativität war die der absoluten Unbestimmtheit. Der Begriff der Unbestimmtheit legt nahe, dass sich das Konzept von Negativität im Rahmen von Bestimmtheit definiere. Die einfache Negation eines Sachverhalts oder irgendeiner Bestimmung lässt sich beispielsweise unter dem Begriff der Negativität fassen. Doch kann die Bedeutung der Negativität, die sich im Streben nach Existenz entfaltet, im Kontext von Bestimmung erfasst werden? Wird überhaupt und wenn ja, was wird bei dieser Form der Negativität negiert? Die Vorstellung der absoluten Unbestimmtheit des Strebens nach Existenz kann nicht auf eine Operation der einfachen Negation, wie sie aus dem allgemeinen Sprachgebrauch bekannt ist, zurückgreifen, denn sie muss ohne die Möglichkeit einer Bedeutungsgenerierung, ohne die explizit sprachlich-logische Form propositionalen Gehalts auskommen. Würde die absolute Unbestimmtheit als das
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Junker, Soziale Subjektivierung, Negativität und Freiheit, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05734-1_6
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6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
Negieren einer Sache verstanden, wäre dies keine adäquate Beschreibung der absoluten Unbestimmtheit des Existenzstrebens, das sich aufgrund seines vorsubjektiven Status gerade dadurch auszeichnet, dass kein bestimmter Inhalt negiert werden kann. Es liegt in diesem als vorsubjektiv gedachten Streben noch keine Bestimmung vor, auf die sich eine Negation beziehen könnte. Welcher Form aber bedient sich der Ausdruck der absoluten Unbestimmtheit dann, um die logische Lücke einer besonderen Übergangsformel im Prozess der sozialen Subjektivierung zu füllen? Wie bei der Betrachtung des Strebens nach Existenz stellt sich hier die Frage: Welchen Modus der Erkenntnis nimmt eine Spezifizierung dieser Unbestimmtheit ein bzw. mithilfe welcher Instrumente ist eine Erkenntnis möglich? Genauso wie bei der Auseinandersetzung mit dem Streben nach Existenz ist auch bei der Konkretisierung der absoluten Unbestimmtheit dieses Strebens eine begriffliche Auseinandersetzung mit Negativität nicht zu umgehen. Zwar handelt es sich beim Versuch eines sprachlichen Zugriffs auf die Negativität des Existenzstrebens um eine reflexive Weise des Begreifens von etwas, das in sich selbst als nicht reflexives Element des Bewusstseins angenommen wird. Schließlich ist der wesentliche Zug der absoluten Unbestimmtheit des Strebens nach Existenz die Idee eines vorsubjektiven Übergangsmoments. Vermittels der Ausdrucksweisen des Subjekts, wovon eine wesentliche der sprachliche Ausdruck (in einem sehr weiten Sinne) ist, soll Rückschluss darauf gezogen werden, welche verborgenen Konzepte diesen Ausdruck bedingen. Daher soll die Frage nach der Negativität und ihrer Funktionen im jeweiligen Begriffsrahmen Aufschluss darüber geben, was unter der Annahme der absoluten Unbestimmtheit zu verstehen ist. Leitend für die folgende Untersuchung ist daher die Frage, welche Bedeutungen das Negative oder Negativität einnimmt, und in welchem Verhältnis sie zur absoluten Unbestimmtheit steht. Diese Bedeutungsausdrücke der Negativität lassen sich anhand verschiedener Äußerungen menschlicher Lebenspraxis ausmachen und müssen sich nicht zwangsläufig auf reine, im ganz engen Sinne verstandene, sprachliche Ausdrücke beziehen. Wird im Folgenden Negativität als Ausdruck betrachtet, so sind damit immer die verschiedenen Formen menschlicher Lebenswelt impliziert, anhand derer sich die Kraft der Negativität aufzeigen lässt. Die absolute Unbestimmtheit des Existenzstrebens zeichnet sich durch zwei Bedeutungen aus. Erstens ist sie als ein Konzept der Negativität gedacht, das die Bewegung der Subjektivierung begründet. Zweitens fungiert sie als blinder Fleck der dialektischen Subjektivierungsgeschichte. Da Subjektivierung als das Zusammenspiel zweier Prozessualitäten gedacht ist (dialektische Reflexivität und Existenzstreben), liegen ihr auch zwei Negativitäten zugrunde, die sich in sich unterscheiden und doch aufeinander bezogen bleiben. Die bisher als absolute Unbestimmtheit bezeichnete Negativität des Existenzstrebens wird von Butler als die Reflexivität des Subjekts begründend eingeführt. Eine Spezifizierung der Negativität, die im Prozess sozialer Subjektivierung am Werk ist, versucht daher beide Seiten des Negativen dieses Prozesses einzubinden. Sie scheint nur als doppelte Negativität verständlich zu sein. Wenn Butler in Psyche der Macht Subjektivierung als dialektisches Werden beschreibt, in dem das Subjekt nur
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vermittels des Sozialen zu seiner inneren Konstitution kommen kann, und das Existenzstreben diese Bewegung begründet und durchzieht, bleibt die Frage, wie die Negativität diese Prozesses beschaffen ist respektive welche Formen von Negativität die Dynamik und schlussendlich die Handlungsfähigkeit der Subjekte begründet. Bedarf die dialektische Reflexivität grundsätzlich einer sie durchwaltenden Negativität, die selbst nicht dialektisch ist, um eine Emanzipationsgeschichte des Subjekts denkbar zu machen? Hegel ist nicht nur einer der wichtigsten Denker der Dialektik, sondern auch derjenige Theoretiker, der im Hintergrund der Butlerschen Auseinandersetzung mit sozialer Subjektivierung steht. Versucht Butler zu erklären, wie Reflexivität in Abhängigkeit des Sozialen entsteht, bezieht sie sich mit dem Begriff der Reflexivität auf Hegel. Wenn Reflexivität als bestimmter Modus des Werdens verstanden wird, ist auch dies zurückzuführen auf Hegel, der die Frage ganz allgemein angegangen ist, wie Bewegung respektive Subjektbildung oder -geschichte überhaupt denkbar ist. Ein Blick auf Hegels Begriff der Negativität schärft daher nicht nur das der Bulterschen Theorie zugrundeliegende Konzept des Negativen, sondern soll vor allem die dialektische Negativität auf Spuren des nicht-dialektisch Negativen hin untersuchen. Ziel dieser Suche ist es, ein Negativitätsverständnis herauszuarbeiten, das nicht in der dialektischen Reproduktion gefangen bleiben muss, wie es Einige im Anschluss an Hegel diagnostizieren.1 Mit einem Blick auf Jean-Paul Sartres Konzept des Nichts aus Das Sein und das Nichts wird im Anschluss daran ein Ansatz untersucht, der nicht-dialektische Negativität als Kernmoment von Freiheit begreift. Um die richtigen Schlüsse aus der besonderen Interpretation dialektischer Negativität zu ziehen, die in sich über sich hinausweist, wird Sartres Theoretisierung von nicht-dialektischer Negativität als Freiheit zur Kontrastfolie, um einerseits zu zeigen, wie nicht-dialektische Negativität für die Idee der Befreiung wirksam ist, aber gleichzeitig nicht ohne ein dialektisches Verständnis von Reflexivität auskommt. Im Folgenden soll daher der Fokus auf das Verhältnis Hegelscher und Sartrescher Negativität gelegt werden, um die doppelte Negativität, die sich aus dem Gedankengang der sozialen Subjektivierung, die ihren genealogischen Anfang im Streben nach Existenz nimmt, explizieren zu können. Ziel ist es dabei, die Möglichkeit eines radikalen Übergangs verständlich zu machen, um so einerseits die volle Funktionsweise sozialer Subjektivierung nachvollziehen und andererseits eine Beschreibung dessen vornehmen zu können, was unter einem freiheitlichen Selbst- und Weltverhältnis verstanden werden kann.
1So
problematisiert z. B. Žižek: „[…] on the contrary, bearing in mind, that the radically New emerges only through pure repetition, we should say that Hegel’s inability to think pure repetition is the obverse of his inability to think the radically New, that is, a New, which is not potentially already in the Old and has just to be brought out into the open through the work of dialectical deployment.“, in: ders.: Less than Nothing, S. 455 f.
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6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
6.1 Hegel Sowohl Butlers als auch Pippins Theorie der Subjektivierung fußen im Wesentlichen auf dem Hegelschen Verständnis von Selbstbewusstsein, dessen zentrales Moment das der dialektischen Reflexivität ist. Dialektische Reflexivität ist ein Prozess, der durch ein dialektisches Verständnis von Negativität bestimmt ist. Interessant an Hegels Konzept der Negativität ist für Butler sowie auch für die Frage dieser Arbeit, dass er Negativität als den Operator des Werdens beschreibt. Negativität ist dasjenige Instrument des Denkens, das überhaupt einen Fortgang zu begründen vermag. Ob es um einen Fortgang in der Geschichte des Subjekts oder die Entwicklung eines wahren Begriffs geht – beides wird durch dialektische Negativität erklärt. Wie das Subjekt zum Subjekt wird, ist für Hegel daher maßgeblich durch die Kraft der Negativität bestimmt. Hegel befasst sich in Bezug auf das Negative mit zwei Begrifflichkeiten, die zunächst darauf schließen lassen, dass er zwei Konzepte des Negativen differenziert: Einmal wird Negativität als Operation der Negation verwendet, die auf mehreren Stufen vollzogen wird und auf diese Weise das Resultat einer Bestimmung erzielt. Und zweitens bezieht Hegel den Begriff des Nichts in seine logische Struktur des Werdens ein. Was verraten bestimmte Negation auf der einen und das Nichts auf der anderen Seite über die Wirkungsweise des Werdens des Subjekts? Ist lediglich die stufenweise dialektische Negation bestimmend für die Dynamik des Werdens? Oder nimmt jede Negation mit einem Nichts ihren Anfang? Gibt es überhaupt einen funktionalen Unterschied zwischen Nichts und Negation?
6.1.1 Negation und Bestimmung Negativität steht für Hegel grundsätzlich im Kontext von Bestimmtheit. Die Negation ist eine Operation, die notwendigerweise auf eine Bestimmtheit Bezug nimmt und eine neue Bestimmtheit zur Folge hat. Negativität ist daher im Allgemeinen als Instrument zu verstehen, das Bestimmtheit herstellt und von Bestimmtheit ausgeht. Was Hegel unter bestimmter Negation versteht, lässt sich im Kontrast zu einer logischen Form von Negation erklären. Die logische Verwendung des Begriffs der Negation bezieht sich auf den linguistischen Gebrauch, der Negation vor allem als Negation eines propositionalen Gehalts begreift. Dabei wird ein bestimmter Inhalt (eines Satzes oder Teilsatzes) verneint: A ist nicht p. Diese Negation bleibt ohne ontologische Konsequenzen für A oder für p und ist eine sprachliche Operation, die von einer von A und p unabhängigen Instanz vorgenommenen wird. Jemand muss verneinen, dass A p sei. Hegels Negationsbegriff ist dieser Vorstellung zwar nicht komplett entgegengesetzt – auch die bestimmte Negation arbeitet mit dem logischen Begriff der Negation. Aber sie geht weit darüber hinaus. Die bestimmte Negation ist eine Operation, die aus Hegels Sicht einen ontologischen Effekt hat. Ausgangspunkt und Resultat der bestimmten Negation ist Bestimmung. Hegel stellt den Übergang
6.1 Hegel
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von etwas unmittelbar Bestimmten zu einer Bestimmung so dar, dass das bestimmte Unmittelbare bereits seine eigene Negation aufweist und damit zu einer Bestimmung führt, die eine neue Qualität erhält. Es wird negiert, dass A p sei, weil A vielmehr q ist. Es tritt zur rein logischen Negation eine neue Bestimmung hinzu. Die so gewonnene Bestimmung unterscheidet sich von dem Negierten dadurch, dass die Art und Weise, in der die Bestimmung vorliegt, eine gewordene, hervorgebrachte ist. Ihr ontologischer Status hat sich somit verändert. Hervorzuheben ist an dieser Form der Negation, dass sie, anders als die logische Negation, Folge einer Selbsttransformation ist. Die Negation ergibt sich aus dem Negierten selbst. Hegel beschreibt dies in der Wissenschaft der Logik II so: So sind alle fest angenommenen Gegensätze, wie z.B. Endliches und Unendliches, Einzelnes und Allgemeines, nicht etwa durch eine äußerliche Verknüpfung in Widerspruch, sondern sind, wie die Betrachtung ihrer Natur gezeigt, vielmehr an und für sich selbst das Übergehen; die Synthese und das Subjekt, an dem sie erscheinen, ist das Produkt der eigenen Reflexion ihres Begriffs.2
Aus diesem Zitat geht Zweierlei hervor: 1. Der Übergang von einer Bestimmung zur anderen, der durch die bestimmte Negation geleistet wird, ergibt sich aus der Natur des ersten Bestimmten selbst und ist ihr eigen. 2. Das Subjekt ist ein Medium für den Ausdruck dieser Negativität, in ihm erscheinen die Gegensätze, indem es sich selbst reflektiert. Die Negativität resultiert aber aus der Bestimmung selbst und nicht aus der Kognitionsleistung des Subjekts. Hier ist es anders als bei der logischen Negation: Es muss nicht jemand negieren, dass A p sei, sondern A verweist von sich aus auf sein Nicht-p-Sein. Um zu einer wirklich neuen Bestimmung ausgehend von der unmittelbaren Bestimmtheit zu kommen, muss, so Hegel, noch eine zweite Negation und mithin drei Ebenen der Bestimmtheit angenommen werden. Denn nach der ersten Stufe der bestimmten Negation ist das so gewonnene Bestimmte noch nicht vollständig bestimmt. Nach der ersten Form der Negation ist das anfänglich Gegebene in sein Gegenteil übergegangen und damit zunächst nicht mehr Gegenstand in der so gewonnenen neuen Bestimmung: Das Unmittelbare ist nach dieser negativen Seite in dem Anderen untergegangen, aber das Andere ist wesentlich nicht das leere Negative, das Nichts, das als das gewöhnliche Resultat der Dialektik genommen wird, sondern es ist das Andere des Ersten, das Negative des Unmittelbaren; also ist es bestimmt als das Vermittelte, – enthält überhaupt die Bestimmung des Ersten in sich.3
Was Hegel durch eine weitere Negation erklärt, ist, wie es zu einem Begriff kommen kann, der sowohl das unmittelbare Erste als auch das Negative desselben in Einem enthält. Es soll im Begriff also festgehalten werden, dass das Negierte
2Hegel: 3Ebd.,
Wissenschaft der Logik II, S. 560. S. 561.
6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
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nicht einfach Negiertes bleibt, sondern als Hervorgegangenes aus einem Ersten begriffen wird. In der zweiten Negation wird folglich negiert, dass A einfach nur nicht p sei, sondern vielmehr q ist. Q enthält die inhaltliche Bestimmung, das Resultat der Differenzierung zwischen A und p zu sein und diese zusammen zu bringen. Hegel fasst den Bildungsprozess eines Begriffs so zusammen: Weil das Erste oder Unmittelbare der Begriff an sich, daher auch nur an sich das Negative ist, so besteht das dialektische Moment bei ihm darin, dass der Unterschied, den es an sich enthält, in ihm gesetzt wird. Das Zweite hingegen ist selbst das Bestimmte, der Unterschied oder Verhältnis; das dialektische Moment besteht bei ihm daher darin, die Einheit zu setzen, die in ihm enthalten ist.4
Auch der zweite Schritt dialektischer Negativität ergibt sich unmittelbar und „an sich“ aus dem Resultat der ersten gewonnenen Bestimmtheit. In ihr ist an sich enthalten, dass sie selbst Resultat der Negation aus dem Ersten ist und verweist somit selbst auf ihre eigene Negation, die die Einheit des Ersten und Negierten zur Folge hat. Was für die Bestimmtheit eines jeden Begriffs gilt, gilt für Hegel ebenso für den Begriff des Subjekts, das er gleichfalls als Gewordenes, als Resultat eines Bildungsprozesses betrachtet. Im Kontext der Subjektivierung ist Negativität so wie oben auf abstrakter Ebene skizziert, für Hegel ein Operator der Bewegung, die sich aus dem jeweilig Vorhergegangenen gemäß seines Begriffs ergibt. In der Bildung des Subjekts wird vermittels Negativität vor allem die Entwicklung zu einem entzweiten Subjekt erreicht, das der Reflexivität fähig ist. Wenn, wie Jean-Luc Nancy rekonstruiert, „»Selbst« bedeutet: »sich auf sich selbst [zu] beziehen[]«“,5 dann ist dem Selbstbewusstsein, was eine grundlegende Bestimmung von Subjektivität ist, seine Entzweiung wesentlich. Das Selbstbewusstsein muss, um wirkliches Bewusstsein seines Selbst sein zu können, ein Selbstverhältnis zu dieser Entzweiung eingehen können. Diese Entzweiung und die Reflexion hierauf werden laut Hegel aufgrund der inneren Negativität der Bewusstseinsstufen des Subjekts ermöglicht. Erstes Moment im Gang des Selbst zur reflexiven Bezugnahme auf sich selbst ist für Hegel ein Bewusstsein, das sich in der unmittelbaren Wahrnehmung eines Gegenstandes äußert. Ein noch nicht reflektiertes, unmittelbares Bewusstsein, mithin eine Bewusstseinsform, die selbst noch nicht im vollen Sinne als subjektive bezeichnet werden kann, bildet laut Hegel den Anfang des Subjektivierungsprozesses. Wie aus der Auseinandersetzung anhand des Lebensbegriffs im zweiten Teil (4.1.2) hervorgegangen ist, lässt sich die Begründung des Werdens bei Hegel schwer nachvollziehen. Gleichzeitig ist aber die Idee des Arguments für die Verknüpfung von Negativität und Befreiung, dass der Subjektivierungsprozess maßgeblich durch seinen
4Ebd.,
S. 562. Hegel, S. 166.
5Nancy:
6.1 Hegel
127
Anfang geprägt ist und hierin eine bestimmte Form der Negativität zu finden ist.6 Für Hegel hält der Anfang einerseits in sich schon den Weg der Subjektivierung bereit, indem er auf sein Negatives verweist. Andererseits ist er aber selbst unbestimmt: „Auf diese Weise ist es, daß jeder Schritt des Fortgangs im Weiterbestimmen, indem er von dem unbestimmten Anfang sich entfernt, auch eine Rückannäherung zu demselben ist, […]“.7 Die Unbestimmtheit des Anfangs muss aber in Anbetracht der Tatsache, dass er den Gang seiner eigenen Bestimmtheit bereits enthält, vielmehr als noch-nicht-Bestimmtheit aufgefasst werden und nicht als eine Unbestimmtheit, die eine Grenze zur Bestimmung markiert. Auf das Werden des Selbstbewusstseins bezogen bedeutet dies, dass das erste Bewusstsein, z. B. die Wahrnehmung eines einfachen Sachverhalts – ‚Da ist ein Baum‘ – bereits auf seine Negation verweist. Es ist selbst noch nicht bestimmt (obwohl es zum Zwecke der Erklärung bereits in Worte gefasst ist, ist hier wirklich nur die einfache Wahrnehmung gemeint), aber es enthält eine Negativität in sich, ein Potential der Bestimmung. Über diese Wahrnehmung hinaus gehend abstrahiert das Subjekt in einem zweiten Schritt von dem Status der bloßen Wahrnehmung des Baums und sieht sich in dieser Wahrnehmung als wahrnehmendes Subjekt: ‚Ich bin es, der den Baum wahrnimmt.‘ Die Wahrnehmung des Baumes verweist auf ihr Negatives, nämlich die nicht-Wahrnehmung des Baumes, die durch das Subjekt ermöglicht wird, also auf den Rezipienten selbst. In diesem Schritt besteht der Negationsakt darin, die Unmittelbarkeit der ersten Bestimmung zu negieren und die bestimmte Wahrnehmung als subjektive zu erkennen. Wiederum ist dies für Hegel noch nicht die ganze Wahrheit des Selbstbewusstseins, sondern vielmehr ist hier bloß die Entzweiung geleistet. Das Subjekt ist aber noch kein Verhältnis zu dieser Differenz eingegangen. In einem zweiten Akt der Negation sieht sich das Subjekt jedoch mit dem Gegenstand in Konflikt: ‚Der Baum existiert unabhängig von meiner Wahrnehmung und die Bestimmung seiner Existenz ist nur meine Bestimmung. Er ist selbstständig.‘ Diese Konfliktsituation mündet gleichsam vermittels ihrer inneren Negativität in einer ersten Stufe des Selbstbewusstseins, die sich nicht nur auf eine bloße Bewusstheit des eigenen Selbst bezieht, sondern vielmehr das Sich-selbst-bewusst-sein aus dem Bewusstsein der Welt heraus bezieht. In der Phänomenologie des Geistes beschreibt Hegel diese Stufe des Selbstbewusstseins so: Das Bewußtsein hat als Selbstbewußtsein nunmehr einen gedoppelten Gegenstand, den einen, den unmittelbaren, den Gegenstand der sinnlichen Gewißheit und des Wahrnehmens, der aber für es mit dem Charakter des Negativen bezeichnet ist, und den
6Gewissermaßen wird Hegels Theorie der Negativität auf eine Frage hin untersucht, die diese selbst gar nicht stellt, nämlich: Wie lässt sich Negativität als Motor des Werdens verstehen, sodass sie aus einem Anfang des Werdens resultiert, der sich von der Negativität des Werdens selbst unterscheidet, und in ihr trotzdem wirksam ist. Es soll aber in der Auseinandersetzung mit Hegel gezeigt werden, dass Hegel diese Frage zwar aufgrund seiner phänomenologischen Methode nicht stellt, sie aber trotzdem implizit aufwirft. 7Hegel: Wissenschaft der Logik II, S. 570 (meine Hervh.).
6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
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zweiten, nämlich sich selbst, welcher das wahre Wesen und zunächst nur erst im Gegensatze des ersten vorhanden ist.8
Vermittels bestimmter Negation, die zwar von Subjekten reflektiert wird, aber selbst den jeweiligen Gegenständen innerlich ist, entsteht ein selbstbewusstes Subjekt. Negativität ist für Hegel ein den Gegenständen inhärenter Motor der Bewegung, die jeweils Übergänge zu Begriffen mit neuer Qualität schafft. Ob diese Übergänge vollzogen werden, hängt von der Reflexionsleistung der Subjekte ab, sie sind aber immer schon in den Dingen selbst angelegt. So sind im Beginn der Subjektivierung für Hegel notwendigerweise die Ressourcen für die Bildung eines befreiten Subjekts enthalten. Negativität bezeichnet in diesem Sinne also den Gang einer reflexiven Bewegung, die einen unreflektierten Umgang, ein unreflektiertes In-der-WeltSein (oder Bei-den-Dingen-Sein) zum Ausgangspunkt hat. Insofern nimmt die dialektische Negativität, wie sie hier rekonstruiert wurde, eine Funktion ein, die für den Zweck der Frage nach der Verbindung von Negativität und Übergang, von Negativität und Bildung oder Entwicklung, von entscheidender Bedeutung ist: Hegels Negativität soll genau das leisten, nämlich erklären, wie das Werden des Subjekts überhaupt möglich ist. Die dialektische Negativität verbindet auf diese Weise zwei Hinsichten, die für Subjektivierung zentral sind: Einerseits ist durch dialektische Negativität der Tatsache Rechnung getragen, dass Subjektivierung nur im Rahmen bestimmter vorgezeichneter Bedingungen vonstattengehen kann. Andererseits soll die bestimmte Negation auch den Sinn einer befreienden Bewegung erklären. Sie soll sichtbar machen, inwiefern sie das Werden eines sich befreienden Subjekts ermöglicht: Das zweite Negative, das Negative des Negativen, zu dem wir gekommen, ist jenes Aufheben des Widerspruchs, aber ist sowenig als der Widerspruch ein Tun einer äußerlichen Reflexion, sondern das innerste, objektivste Moment des Lebens und des Geistes, wodurch ein Subjekt, Person, Freies ist.9
In welcher Hinsicht diese Idee der Freiheit, die Hegel vor dem Hintergrund dialektischer, bestimmter Negation zeichnet, mit einer Vorstellung von Befreiung kompatibel ist, die eine solche Bewegung im Prozess der Subjektivierung zulässt, sodass Subjektivierung auch bedeuten kann, sich von den Mechanismen zu emanzipieren, die den Prozess der Subjektivierung mitbestimmt haben, bleibt vor dem Hintergrund der bisherigen Rekonstruktion zweifelhaft. Wie ist im Rahmen einer Negativität, die immer nur im Kontext von Bestimmung operiert, denkbar, dass das Werden des Subjekts ganz neue Wege nehmen kann, die nicht schon vorgezeichnet sind und die nicht in jedem Übergang hin zu einer neuen Bewusstseinsund Praxisform alles Problematische des Alten reproduziert?
8Hegel: 9Hegel:
Phänomenologie des Geistes, S. 139. Wissenschaft der Logik II, S. 563.
6.1 Hegel
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6.1.2 Abstrakte Negation? Aus der Darstellung der dialektischen Negation, wie sie Hegel der Form des Denkens im Allgemeinen zuschreibt, folgt, dass ihr eine ontologische Aussage zugrunde liegt: Ausgangspunkt ist zwar das unmittelbare Sein (in Bezug auf das Subjekt ein unmittelbares Bewusstsein), gleichzeitig ist in diesem Ausgangspunkt aber notwendig schon enthalten, dass dieses unmittelbare Sein sein eigenes Gegenteil, seinen Widerspruch produziert. Anders als durch eine Setzung dieses Sachverhalts (dass nämlich im Anfang der Kette der Negationen die Kraft der Negation selbst schon enthalten sein muss), lässt sich nicht erklären, wie es zu einem Übergang von der ersten Unmittelbarkeit zu seiner Negation kommen sollte. In diesen Schritten der Negation, vor allem in der auf sich selbst angewandten Negation, aber liegt, so Hegel, „der innerste Quell aller Tätigkeit, lebendiger und geistiger Selbstbewegung, die dialektische Seele, die alles Wahre an ihm selbst hat, durch die es allein Wahres ist.“10 Weiter schreibt Hegel diesem Prozess die Hervorbringung der inneren Wahrheit des Subjektiven zu. Wenn Negativität eine konstitutive Rolle für das Selbstbewusstsein einnimmt, Selbstbewusstsein aber vor allem als Prozess der Befreiung verstanden wird, setzt dies eine Negativität in einem radikaleren Sinne als der bestimmten Negation voraus. Andernfalls ließe sich das Werden des Subjekts nicht von evolutionären Vorgängen unterscheiden und müsste als vollständig – durch seine innere Negativität bestimmt – determiniert beschrieben werden. Doch gerade diese Form des Prozesses möchte Hegel in seiner Theorie des Subjekts ausschließen. Und tatsächlich greift Hegel auf eine besondere Negativität zurück, wenn er die Mechanismen eines freien Willens beschreibt. Es lässt sich der Hinweis einer nicht-dialektischen Negativität in den Grundlinien der Philosophie des Rechts beobachten, wenn Hegel den Begriff der Freiheit des Subjekts entwickelt. Eine Seite des freien Willens ist, wie Hegel in den Paragraphen §§ 4-7 beschreibt, die Möglichkeit, von „allem abstrahieren zu können“. Diese Fähigkeit, so Hegel, finde jedes Selbstbewusstsein in sich, wenn es sich danach befrage: „Jeder wird zunächst in sich finden, von allem, was es sei, abstrahieren zu können, und ebenso sich selbst bestimmen, jeden Inhalt durch sich in sich setzen zu können […].“11 Im Folgenden betitelt Hegel diesen Teil des freien Willens als „das Element der reinen Unbestimmtheit […], in welcher jede Beschränkung, jeder durch die Natur […] gegebene und bestimmte Inhalt aufgelöst ist“.12 Dies nennt Hegel die abstrakte Negativität. Wie unterscheiden sich bestimmte und abstrakte Negativität genau und welche Funktion nimmt die abstrakte Negativität ein? Im Zusatz zu § 5 beschreibt Hegel die abstrakte Negation mit dem Begriff des „Verlöschens“: „Der Mensch ist das reine Denken
10Ebd. 11Hegel: 12Ebd.,
Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 4, S. 49. § 5, S. 49.
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seiner selbst, und nur denkend ist der Mensch diese Kraft, sich Allgemeinheit zu geben, das heißt alle Besonderheit, alle Bestimmtheit zu verlöschen.“13 In der abstrakten Negation wird also anders als in der bestimmten Negation nicht etwas bestimmtes negiert, sondern grundsätzlich jede Bestimmtheit. Die abstrakte Negation wird zunächst als etwas vorgestellt, das absolute Bestimmungslosigkeit als Resultat hätte. Eigentlich fungiert die abstrakte Negation als Mittel zur Herstellung einer absoluten Leerheit, einer nicht-dialektischen Negativität, die dem Prozess der Dialektik eine Dimension der Befreiung von Bestimmtheit verleihen soll. Für den freien Willen scheint es in Hegels Sinne zunächst entscheidend zu sein, sich von jeder Bestimmtheit frei machen zu können und hiermit eine Ausgangssituation der ‚tabula rasa‘ für die Bewegung des Willens zu schaffen. Doch gleichzeitig verfolgt Hegel diese Spur einer nicht-dialektischen Negativität für den weiteren Prozess der Dialektik nicht. Der freie Wille ist im Weiteren durch die Abfolge der dialektischen bestimmten Negation definiert. Innerhalb dieser Abfolge ist keine Dimension mehr enthalten, die der bestimmten Negation vollkommen äußerlich wäre. Und auch die Weise, in der er die abstrakte Negation einführt, verbleibt im Kontext der Bestimmung. Sie verweist zwar auf ein absolutes Nichts, auf einen Bruch in der Bewegung des Willens, ist selbst aber im Rahmen von Bestimmung definiert. Inhalte zu „verlöschen“ heißt, dass etwas zuvor Gegebenes aufgegeben, mithin eine bestimmte Negation vorgenommen wird. Abstrakte Negation muss vor diesem Hintergrund als ein Hyponym der bestimmten Negation angesehen werden. Das Resultat ist im Unterschied zur bestimmten Negation zwar eine absolute Unbestimmtheit. Aber aus der Negation von Bestimmtem kann nicht Bestimmungslosigkeit respektive vollkommene Leerheit als Sein im Subjekt resultieren. Vielmehr scheint es so, dass die von Hegel beschriebene Fähigkeit zur absoluten Abstraktion ein Symptom der nichtdialektischen Negativität des Menschen in seiner Seinsweise und seinem Werden ist. Wenn Hegel zu Beginn von § 5 erklärt, dass die „schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraktion oder Allgemeinheit, das reine Denken seiner selbst“ sei oder die „reine Reflexion des Ich in sich“14, beschreibt Hegel die abstrakte Negation als etwas, das das Subjekt aufgrund einer inneren absoluten Negativität in sich vorfindet. Diese der Operation der Negation, der abstrakten ebenso wie der bestimmten, zugrundeliegende absolute Negativität bleibt als ein sich der Dialektik entziehendes Moment wiederum für Hegels weiteren Gedankengang in Bezug auf die Freiheit des Willens folgenlos. Weil der freie Wille bei Hegel durch eine bestimmte Negativität begründet ist, bleibt er einer radikalen Form von Transformation versperrt. Ohne Einbezug einer zugrundeliegenden absoluten Negativität lässt sich Hegels dialektische Negativität als ein Werdensprozess verstehen, der kein Moment der Unberechenbarkeit, mithin keine radikale Veränderungsform zulässt. Dieses rein dialektische Werden ist
13Ebd., 14Ebd.,
§ 5, Zusatz, S. 51. § 5, S. 49.
6.1 Hegel
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auf eine solche Weise zirkulär, sodass auf jeder Stufe das Alte notwendigerweise reproduziert wird und dessen Qualität sich in der neuen Kreisbewegung niemals grundlegend verändern kann. Grund hierfür ist die Vorstellung von Negativität, die immer ausschließlich auf Bestimmtes bzw. Vorhergegangenes verwiesen bleibt. Mit der Vorstellung der abstrakten Negation soll die Bedeutung der Freiheit des Willens erklärt werden. Aber Hegel entwickelt an dieser Stelle gar keinen Begriff absoluter Negativität, sondern verbleibt auch in der Beschreibung der Abstraktheit der Negativität des freien Willens in der Deutungslinie dialektischer bestimmter Negativität. Was in den Paragraphen §§ 4-6 der Rechtsphilosophie als Möglichkeit der absoluten Abstraktion erkennbar wird, kann vielmehr als textueller Hinweis auf die Notwendigkeit der Annahme nicht-dialektischer Negativität für den Bildungsprozess des Subjekts gedeutet werden. Wie lässt sich vor dem Hintergrund dialektischer Negativität die Möglichkeit radikaler emanzipativer Praxis beschreiben? In der Darstellung der bestimmten Negation zeigt sich eher der im zweiten Kapitel formulierte Verdacht, dass Hegels Begriff der Lebendigkeit und damit die Idee der (Selbst-)bewegung des Subjekts im Allgemeinen auf eine dialektische Struktur zurückzuführen ist, die von vornherein als gesetzt angenommen wird – das Subjekt lebt, Lebendigkeit ist dialektische Bewegung, dialektische Bewegung ist Negativität. Hegels Beschreibung einer bestimmten Negation ist bezüglich einer Form von Negativität indifferent, die im Anfang der Lebendigkeit des Subjekts die Radikalität eines Übergangs ausfindig macht, dessen Resultat nicht vollständig in seinem Anfang enthalten ist. Zwar ist durch dialektische Negativität eine Erklärung gegeben, wie sie das Werden des Subjekts vorantreibt. Aber warum die bestimmte Negation als ein ontologisches Prinzip vorgestellt wird, das die Seinsweise von Bestimmungen verändert und im Sein der Bestimmungen selbst verankert ist, bedarf weiterer Erklärung. Zu Beginn der Wissenschaft der Logik I legt Hegel die ersten Prämissen und Voraussetzungen der Dialektik dar. Als Anfang jeder weiteren Auseinandersetzung widmet sich Hegel hier dem Verhältnis von Sein und Nichts. Da Hegel das Negative und das Nichts begrifflich auseinanderhält, ist zu erwarten, dass er mit dem Begriff des Nichts ein anderes Konzept der Negativität entwickelt, das die Bedingungen der dialektischen bestimmten Negation zu begründen vermag. Besteht in Hegels Konzept des Nichts die Möglichkeit, eine abstrakte Negationsleistung zu sehen, die auch für Hegel so fundamental für die Freiheit des Subjekts zu sein scheint? Liegt im Nichts eine Bedeutungsspur dessen, was den unbestimmten Anfang zu einem Anfang für bestimmte Negationsoperationen werden lässt? Lässt sich Hegels Begriff des Nichts im Sinne einer Begründung für den Beginn des Werdens des Subjekts deuten, der sich in seiner Radikalität auf den Prozess des Werdens reflektieren lässt?
6.1.3 Hegels Nichts Mit der Darstellung des Verhältnisses von Sein und Nichts geht Hegel zum Anfang jeder dialektischen Bewegung, allen Denkens, mithin zum Anfang von
132
6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
Subjektivität überhaupt zurück. Weil es in der Auseinandersetzung mit Butlers Theorie sozialer Subjektivierung genau darum geht, erstens eine vorsubjektive Prozessualität als Annahme zu beschreiben und zweitens die Negativität dieses ‚Anfangs‘ zu begreifen, ist ein Blick auf Hegels Auseinandersetzung mit dem (logischen) Beginn des Werdens vielversprechend. Entgegen der auf Parmenides zurückgehenden Trennung von Sein und Nichts behauptet Hegel deren Identität. Während Parmenides konstatiert ‚Ein Nichts gibt es nicht‘ und ‚Das, was Du denkst ist Sein‘,15 wendet sich Hegel gegen diese kontradiktorische Differenzierung von Sein und Nichts. Sowohl Sein als auch Nichts seien ununterscheidbar.16 Sein und Nichts werden von Hegel also miteinander identifiziert, die Sätze des Parmenides mithin umgekehrt: ‚Sein ist Nichts‘ und ‚Nichts ist Sein‘. Hierin scheint sich gegenüber der bestimmten Negation eine fundamental neue Bedeutungsdimension des Negativen bei Hegel zu entfalten: Das Nichts stellt Hegel ebenso wie das Sein als vollkommene „Bestimmungs- und Inhaltslosigkeit“17 dar, nicht etwa als Negation eines Bestimmten. Während Negativität im oben beschriebenen Sinne stets einen Absetzungsmechanismus eines positiven Inhalts beschreibt, zeichnet sich das Nichts durch eine absolute Leere aus. Da aber Sein und Nichts beides absolut leere Begriffe sind, lässt sich über sie, so Hegel, nur jeweils in Beziehung zueinander sprechen. Isolierte Aussagen über Sein und Nichts erforderten eine Definition. Definitionen könnten aber nur unter Rückgriff auf irgendwelche Bestimmungen geschehen, ergo sei ein Sprechen über Sein und Nichts im Einzelnen nicht möglich.18 Das Nichts wird auf diese Weise als eine Form der Negativität vorgestellt, die nicht im Kontext von Bestimmung operiert. Der Begriff des Nichts bezieht sich auf nichts Bestimmtes und seine Funktion wird auch nicht in Relation zu einem Bestimmten begriffen. Im Unterschied zur Negation, die selbst das Negieren eines Inhalts ist und in diesem Negieren einen neuen Inhalt produziert, ist das Nichts mit seiner Bestimmungslosigkeit diesem Begriff zunächst gegenübergestellt. Aber, was Hegel in Bezug auf dieses Nichts ebenso bemerkt, ist, dass ihm aus dem Grund seiner Bestimmungslosigkeit keine Bedeutungselemente zugeschrieben werden können. Wiederum bezieht Hegel also nur Gedanken in seine Logik der Dialektik mit ein, über die sich im Rahmen von Bestimmtheit reden lässt. In der Phänomenologie des Geistes äußert Hegel diesen Gedanken explizit, wenn er sich von der Wissensform des Skeptizismus abgrenzt: „Das Nichts ist aber nur, genommen als das Nichts, dessen, woraus es herkommt, in der Tat das wahrhafte Resultat; es ist hiermit selbst ein bestimmtes und hat einen Inhalt.“19
15Parmenides
äußert diese Schlussfolgerung in seinem Lehrgedicht „Über die Natur“. Helmuth Vetter hat Parmenides’ Verse übersetzt und detailliert kommentiert. Vgl. Parmenides: Sein und Welt. Die Fragmente, S. 166. 16Vgl. Hegel: Wissenschaft der Logik I, S. 83. 17Ebd. 18Ebd., S. 96. 19Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 74.
6.1 Hegel
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Indem Hegel den Begriffen Sein und Nichts und deren Verhältnis zueinander jedoch die Funktion des Anfangs des Werdens zuweist, wird die Bedeutungsdimension der Bestimmungslosigkeit des Nichts unwirksam gemacht und im weiteren Verlauf negiert. Laut Hegel muss der Beginn jeder Bewegung im Sein zu suchen sein. Alles beginne also mit dem Sein und dieses Sein schlage notwendig in Nichts um. Aller Anfang liegt im Sein, denn der „Anfang schließt ein Sein in sich, aber das Nichts enthält kein Sein.“20 Die Identität von Sein und Nichts ist also gemäß der Prozesshaftigkeit des Denkens eine nachträglich entstehende. In der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I führt Hegel diese Schlussfolgerung aus: Das wahre Verhältnis ist dagegen dieses, daß das Sein als solches nicht ein Festes und Letztes, sondern vielmehr als dialektisch in sein Entgegengesetztes umschlägt, welches, […] das Nichts ist. Es bleibt somit dabei, daß das Sein der erste reine Gedanke ist und daß, womit auch sonst der Anfang gemacht werden mag […], dies Sonstige zunächst nur ein Vorgestelltes und nicht ein Gedachtes, und daß dasselbe seinem Gedankeninhalt nach eben nur das Sein ist.21
Dass das Nichts Sein ist, ist Resultat einer bestimmten Negation, wie sie im vorherigen Abschnitt rekonstruiert wurde. Die Bestimmungslosigkeit des Nichts wird vermittels bestimmter Negation unmittelbar aufgehoben. Das heißt mit anderen Worten, dass Hegels Darlegung des Anfangs aus dem Sein in Wirklichkeit keine Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen der Dialektik ist, sondern die Bewegung der Dialektik lediglich wiederholt. Das Nichts fungiert darin als ein Resultat eines Negationsaktes, das selbst als Nichts eigentlich keine Bestimmung hat, denn als Resultat ist es bereits Sein. Dieser Umschlag des Seins ins Nichts sei, so Hegel, der Anfang des Werdens an sich. Dies wiederum weist dem Anfang des Werdens nicht die Bedeutung eines Werdens aus etwas anderem als dem Werden selbst zu. Im Anfang, dem Sein, ist der ‚Umschlag‘ zum Nichts bereits enthalten und somit ein erstes Moment des Übergangs vollzogen. Die Antwort auf die Frage, worauf das Werden dialektischer Negativität zurückzuführen ist, besteht folglich im Werden selbst. Der vermeintliche Unterschied der Negativität des Nichts gegenüber der dialektischen, bestimmten Negativität besteht daher einzig in einer Begrifflichkeit, die Hegel tatsächlich anders als unter bloßem Rückgriff auf Negation bestimmt, aber für die Frage nach dem Werden des Subjekts, wie sie in dieser Arbeit gestellt ist, keine Erklärungskraft bietet. Das Nichts als reine Bestimmungslosigkeit im Gegensatz zur Negation, dem Zurückweisen eines bestimmten Inhalts, beschreibt zwar eine besondere Form der Negativität – in ihm wird von allem Sein abstrahiert, nicht nur von bestimmtem Sein –, aber in seiner Funktionsweise ist es mit der bestimmten Negation identisch. Die vermeintliche Differenz
20Hegel: 21Hegel:
Wissenschaft der Logik I, S. 110. Enzyklopädie der Wissenschaften I, § 86 Zusatz 2, S. 185 f.
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6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
der Bedeutung von Sein und Nichts ist laut Hegel folgen- und damit auch bedeutungslos für das Werden. Sie haben jenseits ihrer Einheit keine Relevanz. „Ihre Wahrheit [die der Einheit von Sein und Nichts] ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Werden; eine Bewegung, worin beide unterschieden sind, aber durch einen Unterschied, der sich ebenso unmittelbar aufgelöst hat.“22 Hegel verwendet aber die Begriffe Sein und Nichts als voneinander Getrennte, um das Denken deren Einheit, also das Werden, zu beschreiben. Der Verweis auf die Relation zwischen Sein und Nichts, die im Verschwinden des einen im Anderen besteht, deutet, so wird aus dem Zitat deutlich, auf ein Sein und Nichts jenseits dieser Einheit hin – andernfalls würde sich die Notwendigkeit eines Weges zu einer Einheit nicht ergeben. Nur wenn eine Differenz zwischen Sein und Nichts angenommen wird, kann diese Differenz aufgelöst werden. Gleichzeitig aber ist die Einheit von Sein und Nichts für Hegel immer schon gegeben. Wenn Werden laut Hegel gerade im Übergang von Sein zu Nichts besteht, muss jedoch insgeheim eine Differenz von Sein und Nichts angenommen werden. Hingegen behauptet Hegel deren Differenzlosigkeit. Warum also rekurriert er auf zwei scheinbar bedeutungslose Begriffe, um den Anfang des Werdens zu begründen, und warum bleibt deren Bestimmungslosigkeit als eine besondere Form der Negativität für das Werden selbst folgenlos? Ist in diesem Gedanken nicht vielmehr eine doppelte Struktur der Negativität enthalten, die Hegel im oben zitierten Gedankengang andeutet, aus der er aber keine Konsequenzen zieht? Ein „Verschwinden“ des Nichts im Sein bedeutet notwendigerweise, dass es ein Nichts außerhalb des Seins gegeben hat. Ein solches Nichts als Moment im Anfang des Werdens – so ist die Hoffnung – könnte gegenüber der Hegelschen Bestimmung das Werden tatsächlich als einen Prozess beschreiben, der ein Verständnis der Möglichkeiten von Befreiung zulässt. Die Bedeutung des Wortes ‚verschwinden‘ impliziert zwangsläufig eine vorhergegangene Präsenz, ein Sein. Dieses (verschwundene) Sein des Nichts jedoch, das vor der Vereinigung mit dem Sein gewesen sein muss, bleibt für Hegels weitere Argumentation irrelevant. Dieses Nichts scheint jedoch dasjenige Moment zu sein, das der dialektischen Negativität äußerlich ist und ihr vorausgeht. Aus Hegels Ausführungen resultiert aber eine Erklärung des Werdens aus dem Begriff des Werdens selbst und eine Bestimmung der Voraussetzungen bestimmter Negation mit Rekurs auf eine immer schon vorhandene dialektische Negativität. Ein nicht-dialektisches Nichts taucht vielmehr als nicht weiter beachtete Spur in der Hegelschen Logik des Anfangs und des Werdens auf. Das Nichts bei Hegel ist also kein Begriff, der die Abstraktheit der Negativität des Willens, die er selbst in den Grundlinien der Philosophie des Rechts beschreibt, erklären könnte. Demgegenüber wirft Hegels Bestimmung des Verhältnisses zwischen Nichts und Sein die Frage auf, wie aus deren Differenzlosigkeit ein Werden resultieren soll, das die Vorstellung einer radikalen Befreiung im Subjektivierungsprozess erhellen könnte.
22Hegel:
Wissenschaft der Logik I, S. 83 (meine Anm.).
6.1 Hegel
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6.1.4 Das Andere der Dialektik In welchem Verhältnis steht der Hinweis auf eine nicht-dialektische Negativität, den Hegel implizit selbst gibt, zur Dialektik selbst? Ist sie ihr ganz äußerlich und, wie meine hier vorgeschlagene Lesart von Hegel implizit nahelegt, für die Dialektik irrelevant? Muss die Dialektik selbst erweitert oder modifiziert werden, oder lässt sich eine nicht-dialektische Negativität in die Vorstellung dialektischen Werdens integrieren? Marc Nicolas Sommer beschreibt das Problem der Dialektik in Das Konzept einer negativen Dialektik als eines, das in ihrer Verhältnisbestimmung zum Anderen besteht. Entgegen Adornos negativer Dialektik, wie sie Sommer beschreibt, vermag es Hegels Begriff der Dialektik nicht, sich diesem Anderen seiner selbst zu stellen. Auch der Grundzug meines Arguments in den ersten beiden Kapiteln ist, dass es um die genealogische Suche nach dem Anfang des Werdens geht, die zu etwas dem Subjekt Äußerlichem, aber dennoch für die Dynamik der Subjektivierung besonders Wirkungsvollem führt. Was in Marc Nicolas Sommers Argument gegen die Hegelsche Dialektik als das ‚Andere der Dialektik‘ bezeichnet wird, kann in diesem Kontext mit jener nicht-dialektischen Negativität beschrieben werden. Sommer schlägt vor diesem Hintergrund vor, die Problematik der Dialektik zu lösen, indem sie über sich hinausgeht: „Dialektik kann die Paradoxie nur auflösen, wenn sie auf der einen oder anderen Seite gegen ihr eigenes Prinzip verstößt: Entweder sie negiert das Undialektische und wird selbst undialektisch, oder sie findet ihre Grenze am Undialektischen und denkt sich selbst dialektisch.“23 Die Paradoxie, von der Sommer in diesem Auszug spricht, bezieht sich auf die durch Adorno und Merleau-Ponty herausgestellte Inkonsequenz, dass die Hegelsche Dialektik sich nicht auf sich selbst anwendet, das heißt sich selbst als undialektisch auffasst. Sommer legt folglich nahe, dass die Dialektik selbst nicht über die nötigen Ressourcen verfügt, sich zu ihrem Anderen in ein Verhältnis zu setzen. Für das Thema dieser Arbeit umformuliert bedeutet der Vorschlag: Innerhalb der Hegelschen Dialektik lässt sich das vorsubjektive Streben als absolute Negativität nicht denken. Es gibt mithin keine vorsubjektive Dimension in der Subjektivierung. Das Subjekt ist und wird voll und ganz es selbst. Entgegen dieser Diagnose von Sommer bezüglich der Hegelschen Dialektik soll hier konstatiert werden, dass sich bei Hegel bereits selbst eine Spur findet, ein der dialektischen Negativität entgehendes, sich ihr entziehendes und damit ein unberechenbares Moment anzunehmen. Bezüglich der Frage nach dem Anfang des Werdens geht es ebenfalls um eine Verhältnisbestimmung der Dialektik zu ihrem Anderen, einem nicht in der Dialektik enthaltenen Grund. Dieses Verhältnis lässt Hegel für die Funktionsweise der Dialektik außer Acht. Es lässt sich aber sehr implizit die Notwendigkeit der Annahme eines sich dem dialektischen Werden entziehenden Anderen erkennen und diese Annahme lässt sich für die Dialektik selbst fruchtbar machen. Mit dieser These wird zugleich die These vertreten, dass in
23Sommer:
Das Konzept einer negativen Dialektik, S. 177.
6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
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Hegels phänomenologischer Methode bereits die Frage nach dem genealogischen Anfang des Werdens gestellt wird. Aber Hegels Phänomenologie schöpft die Ressourcen dieser Methode nicht aus, um der genealogischen Dimension des Subjektivierungsprozesses Rechnung zu tragen. Marc Nicolas Sommer empfiehlt eine Rettung der Dialektik durch den Einbezug des „Undialektischen“. Ich plädiere dafür, dass dieses Undialektische im Dialektischen durch das implizite Denken einer nicht-dialektischen Negativität bereits enthalten ist. Indem sie bewusst in den Werdensprozess einbezogen wird, lässt sich die Bedeutung der Befreiung in diesem Werden besser verstehen und ihr eine Dimension der Radikalität verleihen, die ohne sie nicht auf der Hand liegt. So schwer und unmöglich es ist, über dieses Nichts zu sprechen, so notwendig scheint eine explizite Bezugnahme auf ein solches Nichts zu sein, um die Wirkungsweise dialektischer Reflexivität aufrecht zu erhalten und erklären zu können. Aus der Betrachtung der Hegelschen Konzepte von Negativität geht hervor, dass die Frage nach dem Anfang des Werdens eine Verhältnisbestimmung der dialektischen Negativität zu ihrem Anderen erfordert und Hegels Philosophie eines solchen Verhältnisses jedenfalls unter der Voraussetzung der hier dargestellten Lesart verstellt bleibt. Jean-Luc Nancy beschreibt in seinem Essay Die Unruhe des Negativen die Dynamik Hegelscher Negativität, mithin implizit die Funktionsweise des Prozesses der Subjektivierung, wie folgt: „Dies ist die erste und grundlegende Bestimmung der absoluten Negativität: Das Negative ist die Vorsilbe des Un-Endlichen, als Behauptung, dass alle Endlichkeit (und jedes Sein ist endlich) in sich über ihre Bestimmtheit hinausgeht.“24 Nancy reflektiert hierin Hegels These, dass jedes Sein in sein Negatives umschlägt, dass jedes Sein in sich die Bedingung des Werdens trägt, nämlich negativiert zu werden. Nancy rekonstruiert Hegels Negativität als eine, die implizit in sich schon über dialektische Negativität (die immer nur im Rahmen von Bestimmtheit operiert) hinausweist. Hegels Negativität enthält damit implizit schon ihr Anderes, expliziert dieses Verhältnis jedoch nicht. Statt diese Relation der dialektischen Negativität zu ihrem Anderen jedoch ausdrücklich zu begreifen, lässt sich aus Hegels Ausführungen zum Beginn dialektischen Denkens nur die Annahme entnehmen, dass der Beginn dieses Denkens in Abwesenheit verschwindet und folglich auch keine Verhältnisbestimmung der Dialektik zu ihrem Anderen erfolgt. Nancy bezeichnet Hegel aus diesem Grund als das „Gegenteil eines »totalitären Denkers«“, denn seinem Denken sei die „Abwesenheit des Beginns und des Endes, Abwesenheit des Grundes und Abwesenheit der Vollendung“25 eigen. Doch wird in Hegels Gedanke das Potential dieser Abwesenheit des Beginns hinsichtlich seiner Deutungskraft menschlicher Freiheit nicht gänzlich ausgeschöpft. Ein Ziel der Betrachtung von Hegels Negativitätsbegriffs war, herauszufinden, ob und in welcher Weise das Verhältnis der Funktionsweise des Werdens zur Abwesenheit
24Nancy: 25Ebd.,
Hegel, S. 174. S. 170.
6.1 Hegel
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ihres Beginns fruchtbar gemacht werden kann. Problematisch ist daher nicht, dass Hegels Denken, wie Nancy es beschreibt, aufgrund der Abwesenheit von Anfang und Ende des Denkens nicht-totalitär ist (was in jedem Fall wünschenswert ist), sondern problematisch ist vielmehr, dass die Abwesenheit des Beginns nicht als solche zum Thema für das Werden des Subjekts gemacht wird. Indem diese dem dialektischen Werden implizite Voraussetzung in der Dialektik selbst thematisch ausgelassen wird, wird ihr eigenes Potential hinsichtlich eines radikalen Begriffs der Befreiung nicht genutzt. Hegel lässt eine Lücke, die als diese Lücke produktiv für ein Verständnis von Freiheit gemacht werden kann. Dass dem Subjekt sein Anfang nur als absolute Abwesenheit erscheint, ist eine These, die zu Butlers Theorie sozialer Subjektivierung zurückführt. Dem Subjekt sind auch in ihren Ausführungen die Ursprünge des eigenen Werdens fundamental entzogen. Das asymmetrische Verhältnis zwischen Subjekt und sozialem Kontext – wie auch immer dieser im Wesentlichen beschrieben wird, ob als Anerkennungsstrukturen, Normativität oder Disziplinierung – begründet das Subjekt und wird von ihm gleichsam geleugnet, um sich als autonom betrachten zu können. Darüber hinaus können ihm die grundlegenden Weisen dieser Abhängigkeit zur lebenssichernden Sozialstruktur niemals in Gänze präsent sein. Nancy spitzt die These der Abwesenheit des Anfangs für das Subjekt ganz in Übereinstimmung mit Butlers Weise, die soziale Konstitution des Subjekts zu verstehen, zu: „Die einzige Voraussetzung des Selbst ist, dass es sich nicht voraussetzen kann.“26 Dies entspricht der grundlegenden These Butlers, nämlich dass das Subjekt durch etwas anderes als es selbst hervorgebracht wird. Aber anders als Hegel leitet Butler diese Diagnose der Subjektivierung über zur Frage nach diesem Anderen, das das Subjekt anders als es selbst hervorbringt. Gemäß Hegels phänomenologischer Methode, der Selbstschau des Geistes, ist sein Umgang mit dem Verhältnis der dialektischen Negativität zu ihrem Anderen nur konsequent: Für das Subjekt selbst erscheint sein eigenes Werden als immer schon gegeben oder eben dessen Anfang als absolut außerhalb des eigenen Erkennens, also abwesend. Das Subjekt muss seinen eigenen Anfang als Abwesenheit wahrnehmen, da es nicht als es selbst beginnt und jede reflexive Bewusstseinsstruktur an einem Punkt einsetzt, an dem es bereits geworden ist. Butler bezeichnet dieses Selbstverhältnis als Selbstentzogenheit. Gleichzeitig aber stellt sich die Abwesenheit des Anfangs gerade durch ihre Abwesenheit dem Subjekt in seinem Werden beziehungsweise seinem Sein als Frage. Mit dieser Frage wird im gleichen Zug eine Annahme über diesen Anfang aufgestellt. In diesem Selbstverhältnis des Sich-selbst-entzogen-Seins, in dem die Abwesenheit des Anfangs permanent reproduziert wird, liegt das Verständnis dessen, was es heißen kann, ein emanzipatorisches Selbst- und Weltverhältnis zu etablieren. Nur unter der Annahme, dass Subjektivierung auch als Ausdruck jenes Anderen des Subjekts, das es begründet und in seinem Werden fundiert, aufgefasst werden kann, kann
26Ebd.,
S. 196.
6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
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dieses Andere, das im Modus einer anderen Negativität erscheint, eine Konzeptualisierung erfahren, die der Tücke einer dialektischen Negativität entgeht, die jenes Andere begrifflich nicht enthält. Diese Tücke besteht insbesondere in einem Begriff der Befreiung, der in jedem Akt der Befreiung notwendig dieselbe Unfreiheit reproduziert, von der sie sich zu emanzipieren suchte. Einer erweiterten Perspektive auf die Negativität des Subjekts, die die phänomenologische mit einer genalogischen Betrachtung auf die Weise verbindet, dass sie das Subjekt in seiner Ausdrucksform betrachtet, entspricht infolgedessen die Annahme einer doppelten Negativität, die im Subjekt wirksam ist. Mit Hegel wurde die Negativität reflexiven Bewusstseins beschrieben, die auch Butler vorsieht und deren Konstitution sie auf das Soziale zurückführt. Gleichzeitig hat sich in dieser Weise, Negativität zu denken, eine Lücke ergeben, die in Form einer ihr zugrundeliegenden Möglichkeitsbedingung erscheint und daher nicht ohne sie bestehen kann. Schon die Betrachtung des Strebens nach Existenz hat gezeigt, dass diese Lücke als besondere Weise der Negativität aufgefasst werden muss, die eine nicht-dialektische Idee der Negativität offenbart. Indem jene nicht-dialektische Negativität, die dem Dialektischen implizit zu sein scheint, theoretisch eingebunden wird, kann im Prozess dialektischer Bestimmung ein Moment des Unberechenbaren identifiziert werden, die das dialektische Werden um eine neue Bedeutungsdimension der Möglichkeiten von Befreiung erweitert. Ist es überhaupt und wenn ja, wie ist es möglich, Negativität nicht-dialektisch zu denken? Obwohl Jean-Paul Sartre sicher nicht als Genealoge und schon gar nicht als Denker sozialer Subjektivierung, sehr wohl aber für seine Philosophie des Nichts bekannt ist, soll im Folgenden sein Konzept des Nichts hinsichtlich der Frage betrachtet werden, ob es bei der Beschreibung der Annahme nichtdialektischer Negativität hilfreich sein kann.
6.2 Jean-Paul Sartre und das Nichts Ein Weg, nicht-dialektische Negativität als Grundzug von Freiheit zu denken, wird von Jean-Paul Sartre in Das Sein und das Nichts aufgezeigt. Entgegen Hegel bezieht sich Sartre auf die Idee einer Negativität, die an der Parmenideischen Formel festhält: „Kurz, was man hier gegen Hegel in Erinnerung bringen muß, ist, daß das Sein ist und daß das Nichts nicht ist.“27 Er beschreibt mit dem Begriff des Nichts genau eine solche Form der Negativität, die bei Hegel nur als Hinweis zu finden ist, nicht aber ausgeführt wird: eine fundamentale, nicht-dialektische Negativität. Es geht Sartre um eine Negativität, die reflexivem Denken vorausgeht oder ihr zugrunde liegt. Interessant kann Sartres Negativitätsverständnis für diese Arbeit deshalb sein, weil es das Nichts als Möglichkeitsbedingung der Negation auffasst und es mit Freiheit identifiziert. Ein nicht-dialektisches Nichts
27Sartre:
Das Sein und das Nichts, S. 69.
6.2 Jean-Paul Sartre und das Nichts
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fungiert in Sartres Subjekttheorie als absolut selbstbegründendes Moment. Es soll daher im Folgenden der von Sartre dargelegte Zusammenhang von Freiheit und nicht-dialektischer Negativität rekonstruiert werden, um ihn zur Hegelschen Idee der Subjektivierung in Relation zu setzen und im besten Fall in Verbindung zu bringen. Dabei werden notwendigerweise unter Umständen wesentliche Züge des Sartreschen Theorierahmens außer Acht gelassen. Es wird also keine vollständige Rekonstruktion des Sartreschen Gedankengangs angestrebt, sondern vielmehr eine Rekonstruktion zweier Begriffe, die darauf hinarbeitet, der aus der Auseinandersetzung mit Hegels dialektischem Werden resultierenden Vorstellung einer nicht-dialektischen Spur nachzugehen, um diese in eine Idee von Befreiung einzuordnen, die beide Kräfte der Negativität einbezieht. Dass die Rekonstruktion der Begriffe des Nichts und der Freiheit den Sartreschen Theorierahmen notwendigerweise überschreiten muss und seinen eigenen Konzeptualisierungen nicht ganz gerecht werden kann, geht auf seine phänomenologische Methode zurück, die das Subjekt maßgeblich nicht in seinem sozial konstituierten Werden betrachtet. Diese Prämisse soll aber während der Auseinandersetzung mit Sartres Weise, Freiheit vor dem Hintergrund einer nichtdialektischen Negativität zu verstehen, nicht aufgegeben werden. Ausgangspunkt für Sartres Philosophie ist ein egologischer und phänomenologischer Standpunkt eines erkennenden Subjekts, das nicht in seiner sozialen Subjektivierung betrachtet wird. Ohnehin ist die Frage nach dem Werden des Subjekts und nach einem genealogischen Verständnis des Übergangs in diesem Werden überhaupt nicht Thema seiner Auseinandersetzung. Da die Form nicht-dialektischer Negativität, deren Spur in der Theorie sozialer Subjektivierung bislang verfolgt wurde, aus einem angenommenen vorsubjektiven Status resultiert, ist sie mit der Schwierigkeit konfrontiert, innere und äußere Perspektiven28 auf das Subjekt zu verbinden. Diese multiple Perspektive lässt Sartres philosophische Methode hingegen nicht zu.
6.2.1 Sartres Nichts: Sein versus Akt Zentral für das Verständnis von Sartres Konzept des Nichts ist sein methodisches Vorgehen. Das Nichts ergibt sich für ihn aus der phänomenologischen Betrachtung der Seinsweise des menschlichen Bewusstseins. Seine Theorie des Bewusstseins basiert im Wesentlichen auf der These, die er gegen Kant vertritt. Er w iderspricht
28Die
Verwendung der Begriffe ‚innen‘ und ‚außen‘ in Bezug auf das Subjekt ist leicht missverständlich. Gemeint ist an dieser Stelle die Verbindung der Selbstbetrachtung der phänomenologischen Herangehensweise mit der Analyse der Subjektivierung als Ausdrucksform. Subjektivierung in ihrem Ausdruck zu betrachten kündigt sicher nicht die ‚Innenperspektive‘ des Subjekts vollständig auf. Aber sie geht über die ‚Innenperspektive‘ des einzelnen Subjekts hinaus. Diese Verflechtung von epistemischen Zugängen zum Prozess der Subjektivierung lassen sich aus Sartres phänomenologischer Methode nicht ableiten.
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6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
der Ansicht, dass „Das: Ich denke […] alle meine Vorstellungen begleiten können“29 muss. Sartre hingegen postuliert die Möglichkeit eines Bewusstseins, das vor – und damit unabhängig von – jeder Form des Selbstbewusstseins besteht: „Das Bewußtsein kann zwar erkennen und sich erkennen. Aber es ist in sich selbst etwas anderes als eine zu sich zurückgewandte Erkenntnis.“30 Nur für erkennendes Bewusstsein gilt, so Sartre, dass „es Bewußtsein von sich selbst als diese Erkenntnis ist.“31 Grund für die Differenzierung von erkennendem, also reflexivem, und nicht-reflexivem Bewusstsein ist, dass Sartre die Vorstellung einer Entzweiung des Subjekts im Sinne eines Subjekt-Objekt-Dualismus vermeiden möchte: Die Reduktion des Bewußtseins auf die Erkenntnis impliziert ja, daß man in das Bewußtsein die Subjekt-Objekt-Dualität einführt, die typisch für die Erkenntnis ist. […] Das Bewußtsein von sich ist nicht paarig. Wenn wir den infiniten Regreß vermeiden wollen, muß es unmittelbarer und nicht kognitiver Bezug von sich zu sich sein.32
Wenn das Selbstbewusstsein des Subjekts nicht in gleicher Weise funktionieren kann wie Objektbewusstsein und daher nicht in eine subjektive und eine objektive Seite zerfallen soll, so muss Sartre verschiedene Modi des Bewusstseins annehmen, deren einer in einem Selbstverhältnis besteht, das aber nicht als reflexiv im Hegelschen Sinne, also selbsterkennend,33 zu verstehen ist. Ein solches unmittelbares „präreflexives Cogito“, das „erst die Reflexion ermöglicht“34, ist für Sartre die Bedingung eines erkennenden Zugangs zur Welt und somit auch zum Sein und dem Nichts. Die Weise, wie Sartre das Selbstbewusstsein des Subjekts auffasst, bietet für ihn den direkten Zugang zu einer Version des Nichts, das im menschlichen Bewusstsein, nicht aber im reflexiven Bewusstsein existiert. Indem Sartre das Selbstbewusstsein untersucht, macht er jene doppelte Bewusstseinsstruktur ausfindig und verortet das Nichts im Bereich des nicht-reflexiven (oder ‚präreflexiven‘) Bewusstseins. Im erkennenden Bewusstsein von der Weise, wie das Subjekt sich zur Welt ver hält, will Sartre eine „neue Komponente des Realen“ ausfindig machen, n ämlich
29Kant:
Kritik der reinen Vernunft 1, § 16, S. 136. Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 19. 31Ebd., S. 20. 32Ebd., S. 21. 33Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass Sartre sich hier gegen eine bestimmte Interpretation des Hegelschen Selbstbewusstseins wendet, die nicht unumstritten ist. Es ist durchaus möglich, Hegels Verständnis des Selbstbewusstseins ebenso unmittelbar und nicht als selbst erkennendes Bewusstsein zu verstehen wie Sartre es vorschlägt. Stellen in der Enzyklopädie III z. B. deuten darauf hin, dass es Hegel mit Blick auf den Begriff des Selbstbewusstseins gerade darum geht, ein Verhältnis zu beschreiben, das sich unmittelbar in jedem Bewusstseinsakt mit vollzieht, ohne selbst explizit bewusst werden zu müssen (jedenfalls auf einer ersten Stufe der Reflexion). Vgl. Hegel: Enzyklopädie III, S. 199–227. 34Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 22. 30Jean-Paul
6.2 Jean-Paul Sartre und das Nichts
141
das „Nicht-sein“35. Vermittels einer fragenden Haltung gegenüber sich und der Welt stößt das Subjekt, wie Sartre es beschreibt, stets auf die Möglichkeit des Nicht-seins, einer Abwesenheit. Das Besondere an der fragenden Haltung ist für ihn, dass die permanente Möglichkeit der Leere bzw. Abwesenheit, oder des Nicht-seins, die Bedingung des Fragens und jeder anderen Form erkennenden Zugreifens auf Objekte ist. Bezogen auf den Akt der Bestimmung, in dessen Kontext Hegels Konzept der Negativität betrachtet wurde, ist dieses Nicht-sein die Bedingung für bestimmte Negation überhaupt. Nur vermittels der Möglichkeit des Nicht-seins ergibt sich erst der Akt der Negation von etwas Bestimmtem. Sartre behandelt Negativität so gesehen folglich entgegen Hegels Annahme als etwas, das den Dingen nicht selbst anhaftet, sondern durch das Subjekt zum Vorschein gebracht und ins Leben gerufen wird. Ohne die grundlegende Erfahrung, dass das, wonach das Subjekt sucht, einfach nicht da ist, nicht existiert, entstünde die Notwendigkeit der Frage gar nicht. Dieser Abwesenheit von bestimmten Dingen in der Welt liegt ein Nichts zugrunde, das diese ermöglicht, so die zentrale These in Bezug auf die Negativität des Nichts, die es im Folgenden zu verstehen gilt. Sartre verfährt in seiner Argumentation für diese These so, dass er gegenteilige Annahmen logisch ausschließt. Wäre es der Fall, dass die Negation keiner Bedingung bedürfte, würde aus Sartres Sicht der Tatsache nicht angemessen Rechnung getragen, dass die Negation selbst ein Urteilsakt ist, der sich nicht unmittelbar aus dem Sein ergibt. Jedenfalls ist die Negation für das Subjekt ein Urteilsakt, und für das Subjekt ergibt sich die Negation. Folglich ist der Weg der Bestimmung nicht unmittelbar gegeben oder resultiert nicht automatisch aus der Negativität der Dinge selbst. Nicht jedes Faktum wird laut Sartre durch Negation ins Bewusstsein des Subjekts gerufen. Die Welt des Bewusstseins besteht aus der Welt derjenigen Entitäten, die es vermittels Negation ins Bewusstsein gerufen hat. Sartre geht daher von einem Primat des Seins aus. Sein verbindet Sartre also keineswegs mit Bestimmt-Sein, sondern einfach mit einer nicht-bestimmten Form des bloßen Daseins. Das Sein ist da und jeder Akt der Negation ist ihm logisch nachträglich. Sartre nimmt an, dass es außerhalb des Subjekts ein Sein gibt. Damit Seiendes aber für das Subjekt erkennbar ist, bedarf es der Negation. Die Negation schafft also erst eine bestimmte Relation des Subjekts zum Sein. Dieser Akt der Negation ist aus sich selbst heraus jedoch, wie Sartre bemerkt, nicht zu erklären. Wenn Negation als ein Verhältnis des Subjekts zu diesem Sein verstanden wird, folgt aus dem Sein selbst in keiner Weise ein solcher Akt der Negation. Die Richtung des Verhältnisses des Subjekts zum Sein wird für Sartre vom Subjekt selbst bestimmt. Ob ich z. B. diesen Baum als Gegenstand meines Bewusstseins begreife und mich in Relation zu ihm setze, ergibt sich keineswegs allein auf der Grundlage der Existenz des Baumes, sondern aus der Art des Bezugs zu ihm. Deshalb stellt Sartre an Hegel und Heidegger, die sich beide unterschiedlich mit Sein
35Ebd.,
S. 53.
142
6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
und Nichts befassen, aber jeweils den Akt der Negation voraussetzen, eine ähnliche Frage: […] zu Hegel muß man sagen: »[…] Was muß der Geist sein, damit er sich als negativ konstituieren kann?« Und Heidegger kann man fragen: »Wenn die Verneinung die primäre Struktur der Transzendenz ist, was muß dann die primäre Struktur des »Daseins [réalitéhumaine]« sein, damit es die Welt transzendieren kann?« In beiden Fällen zeigt man uns eine verneinende Tätigkeit und kümmert sich nicht darum, diese Tätigkeit auf ein negatives Sein zu gründen.36
Worum Sartre also bemüht ist, ist, die Bedingung der Möglichkeit der „verneinenden Tätigkeit“ zu bestimmen. Hegel behandelt diese Tätigkeit als Ausdruck der Negativität der Dinge selbst, wie sie sich dem Subjekt dartun und verortet das „negative Sein“ im Sein der Dinge. Weil Sartre aber das Bewusstsein als dasjenige begreift, das den Dingen die Negativität ‚antut‘, sucht er nach der Bedingung der Möglichkeit der bestimmten Negation im Subjekt selbst. Um also die Möglichkeit des fragenden Bezugs zur Welt zu erklären, differenziert er zwischen zwei Modi der Negativität: Einmal der Negativität, die eine Aktivität impliziert und zweitens eine Negativität, die ohne den Akt der Negation existiert. Zwar zeigt sich letztere Form der Negativität in jeder Negation, aber sie ist nicht mit ihr identisch. Das Nichts, jene zweite Negativität im Modus des Seins, ermöglicht laut Sartre die erste Negativität, „weil es das Nein als seine wesenhafte Struktur in sich einschließt.“37 Der qualitative Unterschied zwischen Nichts und Negation liegt für Sartre also nicht in deren fundamental verschiedener Bedeutung, sondern in deren unterschiedlichen Modi. Nichts ist ebenso wie Negation Verneinung: „Es [das Nichts] ist der Ursprung des verneinenden Urteils, weil es selbst Verneinung ist. Es begründet die Verneinung als Akt, weil es die Verneinung als Sein ist.“38 Aus der Untersuchung des Strebens nach Existenz sowie der Rekonstruktion des Hegelschen Negativitätsverständnisses resultierte die Notwendigkeit, eine Form der Negativität zu finden, die die dialektische Negativität zu begründen vermag. Wie aber lässt sich die Differenz von Akt und Sein hinsichtlich der Negativität so denken, dass sie die Ermöglichungsrelation des Nichts in Bezug auf dialektische Negativität wirklich erklärt? Anders als bei Hegel ist für Sartre das Nicht-sein respektive das Nichts nicht einfach dem Sein gegenübergestellt, weder gleichbedeutend mit ihm, noch eine Entgegensetzung ‚unter Gleichen‘. Das Nichts ist zwar ein Sein, das heißt es existiert in irgendeiner Weise. Aber Sartre hält fest, dass es als Leere von Sein nur im Sein selbst existiert. Die Relation zwischen Sein und Nichts ist für Sartre also eine umschließende: Das Sein ist die Voraussetzung für das Nicht-sein. Innerhalb des Seins, so Sartre, existiert erst Negativität. Er resümiert hierzu: „[…] wenn das
36Ebd.,
S. 74. S. 73. 38Ebd., S. 73 f. (meine Anm.). 37Ebd.,
6.2 Jean-Paul Sartre und das Nichts
143
Nichts gegeben sein kann, so weder vor noch nach dem Sein, noch in allgemeiner Weise außerhalb des Seins, sondern nur innerhalb des Seins selbst, in seinem Kern, wie ein Wurm.“39 Sartre möchte diesen Schritt jedoch nicht unhinterfragt behaupten, sondern versucht zu klären, wie das Nichts dazu kommt, in diesem Sein zu existieren. Dem Bewusstsein in seiner reflexiven und nicht-reflexiven Doppelstruktur, das den Ausgangspunkt Sartres ganzer Untersuchung darstellt, bleiben wenig andere Optionen, dieser Frage nachzugehen, als sich selbst zu beobachten. Daher überrascht es nicht, dass Sartre das Subjekt selbst als jenes Sein identifiziert, das das Nichts zu seinem Sein im Sein bringt: „Das Sein, durch das das Nichts in die Welt kommt, ist ein Sein, in dem es in seinem Sein um das Nichts seines Seins geht: das Sein, durch das das Nichts zur Welt kommt, muß sein eigenes Nichts sein.“40 In der Weise, wie das Subjekt Bewusstsein von etwas haben kann, zeigt sich, so Sartre, dass es ein Nichts beherbergt, das ihm den Akt der Negation ermöglicht. Hinzu kommt eine weitere These, die im obigen Zitat zum Ausdruck kommt: Das Subjekt soll nicht nur auf Basis eines Nichts zur Negation fähig sein, sondern es soll dieses Nichts selbst sein. Damit wird das Nichts für Sartre zu einer ontologischen Bestimmung des Subjekts. Wie kann die Differenzierung zwischen Negativität als Sein und Negativität als Akt jedoch dem Verständnis dessen, was das Nichts im Konkreten ist, dienlich sein? Wie begreift Sartre das Nichts vor diesem Hintergrund und in welcher Hinsicht kann es für eine Illustration der absoluten Unbestimmtheit des Strebens nach Existenz nützen? Da sich die Bedeutungen des Nichts und des Seins laut Sartre kontradiktorisch gegenüberstehen, und nicht identisch sind, wie Hegel annimmt, kann das Nichts genaugenommen auch kein eigenes Sein sein. Sartre hält gegenüber Hegel an der Parmenideischen Formel fest und fügt ihr hinzu: „Das Nichts ist nicht, das Nichts »wird geseint [est été]«“.41 Das Nichts ist also nur vermittels des Subjekts im Sein, so Sartre. Die Anwesenheit des Nichts ist daher nicht von selbst und unabhängig des Subjekts vorhanden, sondern beschränkt sich vielmehr auf dessen Erscheinung im Prozess menschlichen Bewusstseins. Das Nichts ist für Sartre im Sein anwesend in der Form, wie es sich im speziellen, aber für das Subjekt fundamentalen Verhalten des Zweifelns oder Fragens zeigt. Dieser Argumentationsschritt, das Nichts vermittels einer bestimmten Verhaltensweise des Subjekts ausfindig zu machen, erinnert an das Vorgehen, das Streben nach Existenz als ein der Unterwerfung unter die bestehenden sozialen Anerkennungsmechanismen zugrundeliegenden Operator auszumachen. Verlässt man das Terrain Sartrescher Phänomenologie, könnte seine Strategie auch folgendermaßen beschrieben werden: Das Bewusstsein dient Sartre (vermutlich anders als er selbst formulieren würde) als zeichenhafte Ausdrucksform eines darunter liegenden Prozesses, der mit dem Zeichen selbst nicht identifiziert werden kann. Das
39Ebd.,
S. 79. S. 81. 41Ebd., S. 80. 40Ebd.,
144
6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
Bewusstsein identifiziert, indem es negiert und zweifelt, indem es wiederum der Negation fähig ist. Für Sartre ist in Bezug auf die Weise, wie das Bewusstsein im Fragen oder Zweifeln verfährt, elementar, dass dies als „zeitliche Operation“42 zu betrachten ist. „Es [das Fragen] ist also ein Verhältnis zu sich während eines zeitlichen Prozesses,“43 das für Sartre darin besteht, in eine Distanz mit sich selbst zu treten. Was mit Sartre hier beschreiben wurde ist, was Butler mit Hegel unter Reflexion und als die Wesensstruktur des Subjekts versteht, nämlich ein jedem Akt des Objektbewusstseins eingeschriebenes Selbstverhältnis. Zeitlich ist für Sartre dieser Prozess deshalb, weil er davon ausgeht, dass das Subjekt zunächst einfach in sich ‚ruht‘, also ohne bereits in Selbstreflexion zerfallen zu sein, und in einem nächsten Schritt erst etwas in der Welt mittels Negation identifiziert, das es auf seine Bedürfnisse hin befragen kann. Dies erfordert, so Sartre, „einen Schnitt zwischen der unmittelbaren psychischen Vergangenheit und der Gegenwart. Dieser Schnitt ist genau das Nichts.“44 Die Grundkonstellation der Entzweiung des Subjekts ist folglich eine andere als Butler sie auffasst. Während sich in Butlers Theorie der Subjektivierung das Subjekt in verschiedene psychische Instanzen teilt, deren Verhältnis untereinander das Selbstverhältnis des Subjekts begründen, ist Sartres Subjekt zunächst nicht psychisch gespalten, sondern im Bewusstsein aufgrund des Nichts entzweit. Sartres Entzweiung des Subjekts ist daher eine, die ganz unabhängig vom sozialen Kontext und individuellen Reaktionen auf die Faktizität formiert ist. Die Rolle des Nichts, die es in Sartres Bewusstseinsphilosophie einnimmt, muss daher adaptiert werden, wenn die Idee der sozialen Konstituiertheit der Subjektivierung aufrechterhalten werden will. Sartres Nichts fungiert im Selbstverhältnis des Subjekts entgegen der Annahmen sozialer Subjektivierung vielmehr als unbestimmbarer Zufallsfaktor im Subjekt. Diese Sichtweise hält jedoch nicht die für eine gesellschaftskritische Sozialphilosophie wichtigen Instrumentarien bereit, um die das Subjekt bedingenden Machtmechanismen zu beschreiben und einzubeziehen. Was Sartre zu der These bewegt, im reflexiven Bewusstsein einen Bruch als Bedingung jeder „Nichtung“ anzunehmen, ist, dass durch das Sein keinesfalls vorherbestimmt ist, was das Bewusstsein in ihm und an ihm als für es selbst relevant identifiziert. Sartres grundlegende Annahme über das Sein folgt dem Hegelschen Verständnis, nämlich dass es für das Subjekt vollkommen unbestimmt ist, und aus sich selbst heraus keine Bestimmung hervorbringen kann. Vor dem Hintergrund der Butlerschen Subjektivierungstheorie hingegen könnte demgegenüber eine ganz andere Perspektive vertreten werden, nämlich, dass das Subjekt sich in einer Welt vorfindet und durch diese subjektiviert wird, die das zu werdende Subjekt an Bestimmung und Bedeutung geradezu überfordert.
42Ebd.,
S. 85. (meine Anm.). 44Ebd., S. 88. 43Ebd.
6.2 Jean-Paul Sartre und das Nichts
145
Das Subjekt erzeugt die Bestimmungen des Seins in dieser Hinsicht nicht selbst, sondern ist dabei auf den vorgeprägten Rahmen des sozialen Umfelds, der Gesellschaft, der Kultur angewiesen. In diesem Sinne ist das Nichts, das sich für Sartre als Bruch im Subjekt erweist, die Voraussetzung jedes Bewusstseinsaktes, jeder reflexiven Operation und so kann seine Aussage in diesem Kontext gedeutet werden, dass das Subjekt dieses Nichts ist. Denn nur im Akt subjektiver Reflexion zeigt sich dieser Bruch als Möglichkeitsbedingung derselben. Er ist die anwesende Abwesenheit der Möglichkeitsbedingung von Reflexivität. Aber die Art, in der das Nichts das Bewusstsein des Subjekts bestimmt, muss entgegen Sartres Auffassung als Effekt der Sozialität beschrieben werden. Anderenfalls würde – wird das Nichts als Moment des Lebensprozesses, der sich im Streben nach Existenz spiegelt, aufgefasst – die Ansicht vertreten, dass das Vorsubjektive selbst schon die Differenz aufweisen würde, die es nach dem Übergang zum Subjektiven bestimmt. Bezogen auf die Butlersche Theorie der Subjektivierung lässt sich dieser Bruch im Selbstverhältnis des Subjekts, das ‚Losreißen‘ des Subjekts von sich selbst, gut mit ihrem Verständnis der Widerständigkeit zusammen denken. Die Widerständigkeit des Subjekts ist für Butler Resultat der Wirkungsweisen des Sozialen und verspricht, ähnlich wie Sartres Nichts, die Möglichkeit, sich kreativ mit dem Gegebenen auseinanderzusetzen und nicht rein affirmativ. Entzündete sich in der Rekonstruktion der Butlerschen Subjektivierung gerade am Postulat der Möglichkeit des Widerstands die Frage, auf welcher Basis und mit welchen Mitteln diese ermöglicht wird, scheint die Vorstellung eines Bruchs im Subjekt einen Ansatz zu bieten, diese Möglichkeitsbedingung zu beschreiben. Im Kontext der Frage dieses Kapitels, in dem es darum geht, einen nichtdialektischen Sinn von Negativität zu finden, der die Funktion der Ermöglichung dialektischer Reflexivität einnimmt, lässt sich Sartres Konzept des Nichts, wie es hier rekonstruiert wurde, als Idee eines Übergangs beschreiben, wie er der Annahme über die absolute Negativität des Strebens nach Existenz inhärent ist. Auch wenn Sartre die Prozesshaftigkeit des Subjekts anders als im Zusammenhang mit einer Theorie der Subjektivierung45 vorbringt, kann das Nichts als Übergangsmoment begriffen werden, das die Struktur des dialektischen Werdens bedingt. Gegenüber Hegel hält Sartre mit dem Begriff des Nichts fest, dass jedem Moment des Werdens eine vollkommene Selbstdistanz eingeschrieben ist. In Butlers Theorie der Subjektivierung erscheint diese Selbstdistanz als Selbstentzogenheit, die durch die Machtmechanismen der sozialen Subjektivierung entstehen. Auch für Butler liegt in eben jener Selbstentzogenheit die Möglichkeit, ein emanzipatives Selbstverhältnis einzugehen. Ohne die theoretischen Hintergründe und Konsequenzen aus Sartres Konzept des Nichts übernehmen zu müssen, lässt sich die Idee adaptieren, dass diese Selbstentzogenheit in der Subjektivierung in Form einer Negativität des
45Für
Sartre stellt sich die Frage des Werdens des Subjekts nicht. Prozesshaftigkeit in seinem Sinne besteht vielmehr schlicht in der zeitlichen Abfolge von Momenten, denen das Subjekt ausgesetzt ist und denen gegenüber es sich verhalten muss.
146
6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
Nichts wirkt, die Sartres Beschreibung eines Bruchs mit sich selbst entspricht, dessen Distanz niemals ergründet oder überbrückt werden kann. Sie ist nichts ist als dieses Nichts, aber entfaltet eine Wirksamkeit in Bezug auf die Form der Reflexion des Subjekts. Durch den Abgrund, der das Nichts im Subjekt als immerwährende Anwesenheit bedeutet, wird eine Möglichkeitsbedingung der Widerständigkeit des Subjekts beschrieben, deren Sinn es mit der Suche nach einem genealogischen, außersubjektiven Grund des Subjekts zu erhellen galt. Nur vermittels einer Negativität, die sich nicht in der Bedeutung der Negation eines bestimmten Inhalts erschöpft, sondern wirklich in einem Bruch im Subjekt besteht, der nichts ist, für das Subjekt vollständig entzogen bleibt, lässt sich die Möglichkeit denken, ein anderes Selbstverhältnis einzugehen als im dialektischen Werden. Dort besteht jede Widerständigkeit allein in der Abgrenzung, dem Negativieren von Bestehendem. Diese Funktion bleibt mit der Annahme eines Nichts im Subjekt bestehen, gibt ihr jedoch die zusätzliche Bedeutung, nicht ganz und nicht in jeder Hinsicht nur zu negativieren, sondern einen Rest dieser Negation zu produzieren. Die absolute Unbestimmtheit des Strebens nach Existenz, wie sie sich in der Subjektivierung im Subjekt als Annahme eines genealogischen Ursprungs ausdrückt, illustriert eben jenen genealogischen Grund dieses Nichts. Beschreibt man das Nichts jedoch im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Streben nach Existenz, erscheint es nicht mehr wie bei Sartre als ontologische Setzung. Das Nichts wird in das Subjekt dann vielmehr aufgrund der Struktur des Begehrens vom Anderen her, dem Außersichsein im Streben nach Existenz, also durch Sozialität eingetragen. Das Nichts tritt also als jener Grund der Subjektivierung auf, der nicht dem Subjekt selbst entspringt, sondern den ersten Übergang als Bedingung des Werdens des Subjekts aus etwas anderem als dem Subjekt selbst her denkt.
6.2.2 Der Zusammenhang von Freiheit und Nichts bei Sartre Sartre identifiziert das Frei-Sein des Menschen mit jenem Nichts. Im vierten Teil von Das Sein und das Nichts (Haben, Handeln, Sein) resümiert Sartre seine Überlegungen zum Nichts folgendermaßen: Diese mißlungenen Versuche, die Freiheit unter dem Gewicht des Seins zu ersticken […] zeigen zur Genüge, daß die Freiheit in ihrem Kern mit dem Nichts zusammenfällt, das mitten im Menschen ist. […] Die Freiheit ist genau das Nichts, das im Kern des Menschen geseint wird [est été] und die menschliche-Realität zwingt, sich zu machen statt zu sein.46
Freiheit wird ebenso wie das Nichts als eine Seinsweise des Subjekts bestimmt. Die Art, wie das Subjekt existiert, muss nach Sartre als frei beschrieben werden.
46Sartre:
Das Sein und das Nichts, S. 765 (meine Hervorh.).
6.2 Jean-Paul Sartre und das Nichts
147
Indem er die innere Struktur von Handlungen analysiert, weist Sartre gleichzeitig auf, wie die Freiheit des Subjekts zur Voraussetzung einer jeden Handlung überhaupt wird. Der Begriff der Freiheit wird durch diese Perspektive, als Seinsweise bestimmt und nicht als etwas, das sich im praktischen Vollzug des Subjekts erweisen würde. Die von Sartre beschriebene Handlungsstruktur selbst unterscheidet sich nicht von philosophisch gängigen Beschreibungen. Für eine Handlung sind laut Sartre drei Elemente konstitutiv: das Motiv, der Antrieb und der Wille. Notwendige Bedingung für das Entstehen eines Motivs oder Antriebs ist die Bestimmung eines Mangels. Jene erfolgt wiederum auf der Grundlage des Nichts, das es dem menschlichen Bewusstsein ermöglicht, von den Gegebenheiten abzurücken. Was als Mangel begriffen wird, ergibt sich für Sartre aus dem Wert, der den Gegebenheiten beigemessen wird. Sartres Vorstellung von einer freien Handlung unterscheidet sich dadurch, dass er die Handlung mit allen ihren miteinander korrelierenden Momenten gewissermaßen nur als notwendige Folge einer ihr zugrundeliegenden ‚Wahl‘ versteht. Auf dieser tieferliegenden Ebene innerhalb des praktischen Verhaltens des Subjekts verortet er dessen Freisein. Die Handlung zeigt nur noch an, welche Wahl zuvor schon getroffen wurde und macht diese bereits getroffene Wahl reflexiv zugänglich. Sartre schreibt: „Wenn der Wille interveniert, ist die Entscheidung schon getroffen, und er hat keinen andern Wert als den eines Ankündigers.“47 Der Wille als konstituierendes Moment der Handlung resultiert aus der ursprünglichen Wahl. Die Handlung selbst lässt sich folglich gar nicht in derselben Weise als frei bezeichnen wie die ursprüngliche Wahl. Der Moment der Handlung nötigt sich dem Subjekt vielmehr durch eine fundamentalere und nicht-reflexive freie Wahl auf. Freiheit ist vor diesem Hintergrund nicht – wie fälschlicherweise oft in Bezug auf Sartres radikale Freiheitstheorie geschehen – als absolut freie Wahl zwischen mehreren Alternativen in einem bestimmten Moment der Handlung oder Willensbildung zu verstehen. Das Freisein des Subjekts bezieht sich auf eine nicht-reflexive Ebene des Bewusstseins. Im Moment eines sich zur Handlung kristallisierenden Willens ist das Subjekt schon nicht mehr in derselben Weise frei, sondern folgt nahezu mit Notwendigkeit seinem ursprünglichen Entwurf. Der ursprüngliche Entwurf scheint mit der Bewusstseinsform zu korrelieren, die Sartre als präreflexiv beschreibt: Er besteht in der ganz fundamentalen Weise, sich in der Welt zu verorten und vollzieht sich nicht auf reflexive Weise, ist aber reflektierbar. Dieser sogenannte ursprüngliche Entwurf ist es, der die Determinationslücke des Anfangs der Subjektivierung bei Sartre füllt. Auf ihn gehen die ganze Existenz und die Weise, wie sich das Subjekt gemäß dieses Entwurfes selbst gestaltet, zurück. Sartre sieht in dem fundamentalen Bezug des Subjekts zur Welt eben jene Form der freien Wahl: „Aber dieser ursprüngliche Bezug ist nichts anderes eben als das In-der-Welt-sein des Für-sich, insofern dieses In-der-Welt-sein Wahl ist, das heißt, wir haben den ursprünglichen Nichtungstypus erreicht, durch den das
47Ebd.,
S. 782.
148
6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
Für-sich sein eigenes Nichts zu sein hat.“48 Die Ebene, auf der Sartre das Subjekt als absolut frei aufgrund seines Nichts-seins bezeichnet, bezieht sich also auf die fundamentale Art, sich mit der Welt in Bezug zu setzen. Sie umfasst das Wahrnehmen und Bewerten der Welt in Bezug auf das Subjekt als das praktische Tun desselben. Zwar ist Sartre kein Subjektivierungstheoretiker, weil er die Frage nach dem Werden des Subjekts nicht explizit stellt. Aber im Kontext sozialer Subjektivierung, wie sie in dieser Arbeit im Fokus steht, kann Sartres ursprünglicher Entwurf als Versuch gedeutet werden, den paradoxen Zirkel der Subjektivierungsgeschichte durch einen absolut freien, selbstbestimmten, nicht-reflexiven Anfang des subjektiven Bewusstseins aufzulösen. Dass dieser ursprüngliche Entwurf frei ist, wird auf seine nicht-dialektische Negativität zurückgeführt. Diese so verstandene Freiheit bedeutet für Sartre, dass es eine Weise gibt, in der Subjekte dazu gezwungen sind, sich frei mit der Welt in Beziehung zu setzen. Sie bedeutet aber auch, dass dieser fundamental gewählte Bezug für das praktische Sein des Subjekts eine Verbindlichkeit erhält, die vielleicht vergleichbar ist mit dem, was andere als Habitus, Gewohnheit oder zweite Natur bezeichnen. Weil diese Gewohnheiten oder der Habitus aber auf eine selbst gesetzte freie Wahl zurückgehen, gelten auch diese für Sartre als absolut frei. Er folgert daraus auch eine absolute Eigenverantwortlichkeit gegenüber diesem Habitus.49 Sartre ordnet nichts an dem, was sich das Subjekt als Habitus angeeignet hat, dem notwendig sozialen Bezug desselben zu seinem Umfeld zu. Alles bezieht es aus sich selbst und hat es selbst bestimmt. Diese Vorstellung scheint nichts mehr mit dem zu tun zu haben, was im Laufe der vorliegenden Auseinandersetzung mit Subjektivierung und Befreiung erläutert und in Bezug auf die Widerständigkeit gegen unterdrückende Formen der Subjektivierung problematisiert wurde. Die Sozialität der Subjektivierung und die in diesem Werden und im Selbstverhältnis des Subjekts notwendig heteronomen Momente derselben würden vor dem Hintergrund einer solchen Idee der Freiheit, die das Subjekt ganz bestimmt, völlig außer Acht gelassen. Annemarie Pieper interpretiert Sartres Idee der Freiheit aber auf eine Weise, die seine These über den ursprünglichen Entwurf und dessen Freiheit auf eine schwächere Weise interpretierbar macht und sich so in das Argument fügen könnte, das überhaupt erst zur Auseinandersetzung mit Sartre geführt hat. Sie schreibt in ihrem Aufsatz Freiheit als Selbstinitiation: „Wer wir sind, können wir also nicht durch einen direkten Zugriff auf die Ur-Wahl als daraus ableitbare Folge erkennen, sondern nur über unsere alltäglichen Gepflogenheiten und individuellen Vorlieben.“50 Und sie zitiert Sartre: „Der Wert der Dinge, […] meine Kleidung, […], meine Möbel, die Straße, die Stadt, in der ich wohne, die Bücher, mit denen ich mich umgebe, die Zerstreuungen, denen ich nachgehe, […] alles
48Ebd.,
S. 792. Sartre: Freiheit und Verantwortlichkeit, in: ders.: ebd., S. 950–956. 50Pieper: Freiheit als Selbstinitiation, S. 204. 49Vgl.
6.2 Jean-Paul Sartre und das Nichts
149
das unterrichtet mich selbst über meine Wahl, das heißt über mein Sein.“51 Ein direkter epistemischer und reflexiver Zugang zur eigenen ursprünglichen Wahl ist dem Subjekt laut Sartre nicht möglich. Mit dieser Information erscheint die ursprüngliche Wahl vielmehr, wie auch die absolute Negativität des Existenzstrebens, als eine nachträglich vorgenommene Annahme, die das Subjekt über sein eigenes Werden trifft. Das Subjekt findet sich demgemäß in seiner phänomenologischen Selbstbetrachtung als eines vor, dessen fundamentaler Bezug zur Welt grundsätzlich (auch) durch es selbst hervorgebracht ist. Gleichzeitig ist aber dieser eigens produzierte Bezug zur Welt – und hier muss Sartre widersprochen werden – niemals reflektierbar. Er erscheint dem Subjekt als ein absoluter Bruch im Selbstverhältnis, den es selbst zu verantworten hat, ihn aber nur in anderer Form an sich selbst bemerken kann. Sartre nennt diese Erscheinungsformen des Nichts „Unaufrichtigkeit [movaise foi]“ oder „Angst“.52 Die ursprüngliche Wahl lässt sich damit als imaginierter, vollkommen freier und selbstgesetzter Zustand beschreiben, den das Subjekt retrospektiv so mutmaßt. Als würde das Subjekt sich sagen müssen: ‚Dass ich so handle, diesen Willen bilde und diese Werte meine Handlungen bestimmen lasse, und dass es mir so erscheint, dass ich in diesem Moment nicht unbedingt anders kann als so zu handeln, muss auf meine freie Wahl zurückgehen, die ich auf andere Weise und vorher getroffen habe.‘ Die Veränderbarkeit des Seins bzw. Sich-gemacht-Habens des Subjekts bezieht Sartre also aus der Vorstellung, dass man es selbst begründet hat und nicht etwa wie Foucault beschreiben würde, aus der Geschichtlichkeit des Gegebenen. Auch in Sartres Theorie der Freiheit des Subjekts, die sicherlich einen ganz anderen Weg des Zugangs zur Bedeutung der Freiheit wählt als Butlers Subjektivierungstheorie, wird also ein Anfang der eigenen Geschichte des Selbst imaginiert und als Annahme konstruiert, die für das weitere Werden des Subjekts von entscheidender Bedeutung bleibt. Dieser Anfang fungiert bei Sartre ebenso wie in der Idee des Strebens nach Existenz dazu, jede Form von Selbstbewegung erklärbar zu machen.
6.2.3 Das Nichts im Verhältnis zur sozialen Subjektivierung Vor dem Hintergrund einer Theorie sozialer Subjektivierung muss Sartres Identifizierung von Nichts und Freiheit, die dann als absolut selbstgesetzter Anfang des Subjekts aufgefasst wird, jedoch zurückgewiesen werden. In der Geschichte sozialer Subjektivierung wird das Werden des Subjekts in seinem Zusammenhang mit dem Sozialen betrachtet und – wie in dieser Arbeit versucht – auch die angenommene Herkunft der Subjektivierungsbewegung als sozial konstituiert aufgefasst. Wenn Sartre Freiheit als Sein des Subjekts bezeichnet, widerspricht dies der Prozesshaftigkeit des Subjekts, das all seine erworbenen Fähigkeiten
51Sartre: 52Vgl.
Das Sein und das Nichts, S. 803. ebd., S. 119–162.
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zuerst gebildet hat und immer wieder neu bilden muss. Doch worauf auch immer das praktische Tun des Subjekts zurückgeführt wird – in der Tatsache, dass die Veränderbarkeit eines in der Subjektivierung eingeübten und disziplinierten Verhaltens oder Handelns eine besondere Form der Widerständigkeit erfordert, darin stimmen Sartre und Butler überein. Sartre nutzt ein Beispiel, um zu verdeutlichen, wie das Subjekt in einer bestimmten Situation aufgrund seines ursprünglichen Entwurfs genötigt ist, auf eine spezifische Weise zu handeln, und dass eine diesem Entwurf widersprechende Handlung für das Subjekt selbst eine große Hürde darstellt: […] konnte ich anders handeln, ohne die organische Totalität der Entwürfe, die ich bin, spürbar zu modifizieren, oder aber kann nicht die Tatsache eines Widerstands gegen meine Müdigkeit, statt eine bloße örtliche und zufällige Modifikation meines Verhaltens zu sein, nur dank einer radikalen Transformation meines In-der-Welt-seins entstehen – einer übrigens möglichen Transformation? Anders gesagt: ich hätte anders handeln können, zugegeben; aber um welchen Preis?53
Sartre konstatiert hier zweierlei, was in Bezug auf einen Begriff der Befreiung auseinanderzuhalten ist: Einerseits behauptet er die Veränderbarkeit bzw. die Möglichkeit der Alternative zum eigenen praktischen Tun. Andererseits stellt er die Hartnäckigkeit des Habitus respektive die Schwierigkeit einer solchen praktischen Alternative dar, die der eigenen gewordenen Identität widersprechen würde. Die Veränderbarkeit des praktischen Tuns führt Sartre auf das Nichts im Sein des Menschen zurück und bezeichnet dies bereits als dessen Freisein. Die zweite Implikation des Zitats lässt sich aus Sartres Theorie des Subjekts und dessen Freiheit nicht leicht ableiten. Was Sartre hier aufzeigt, könnte als Freiheit zweiter Ordnung beschrieben werden. Sie bezieht sich auf die Transformation der bereits selbst gesetzten freien Wahl. Freiheit erster Ordnung wäre das, was Sartre mit der Freiheit der ursprünglichen Wahl bezeichnet und mit der Negativität des präreflexiven Bewusstseins in Verbindung bringt. Aber die Möglichkeit einer Befreiung aus der ‚Knechtschaft‘ des eigenen Entwurfs, die Sartre hier diskutiert, ist von ganz anderer Art als das Freisein des Subjekts in seinem fundamentalen Weltbezug. Die Möglichkeit einer Befreiung von der Weise, wie man als Subjekt geworden ist, scheint dem viel näher, was hier als Ausgangspunkt des Problems radikaler Selbsttransformation beschrieben wurde. Im ersten Kapitel wurde die Frage nach der Freiheit in den Kontext einer Selbsttransformation gestellt, die gerade deshalb zur Debatte steht, weil sie im Zusammenhang mit einer nicht vollständig selbst gesetzten Subjektivierungsgeschichte steht. Hier wie in Sartres Beispiel stellt sich eine solche Situation als eine dar, die zwar potentiell als veränderbar begriffen wird, ja als veränderbar verstanden werden muss (andernfalls müssten wir uns ein mechanistisches Selbstverständnis eingestehen, das uns nicht ermöglicht, auf uns selbst und unsere (Um)Welt eigenständig Bezug zu nehmen),
53Ebd.,
S. 787.
6.2 Jean-Paul Sartre und das Nichts
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aber gleichzeitig einen sehr hohen Preis erfordert, nämlich den der (zumindest teilweisen) Selbstaufgabe. Sartre erzählt die oben angefangene Emanzipationsgeschichte eines Subjekts, das sich mit seinem eigenen Entwurf – man könnte sagen mit seiner eigenen gewordenen Identität – in Konflikt sieht, so, dass es die Wahl des eigenen In-der-Welt-seins modifizieren müsste. In Butlers Narration müsste das Subjekt Teile einer Identität aufgeben, die im Verhältnis zum Sozialen entstanden ist. Was anhand dieses Beispiels von Sartre deutlich wird, in dem ein Subjekt seinem eigenen Habitus folgt, ist, dass die Form von freiheitlicher Emanzipation, um die es in dieser Arbeit geht, eine Reflexivität erfordert. Befreiung und Reflexivität stehen in einem direkten Bezug zueinander. Das, was im Kontext dieser Arbeit unter freiheitlicher Transformation des Selbstund Weltbezugs vorgestellt wird, zeigt auf, wie eine radikale Transformation des eigenen Selbst- und Weltbezugs eine krisenhafte reflexive Bewusstwerdung der eigenen Stellung zur Situation erfordert. Befreiung kann vor diesem Hintergrund nicht, wie Sartre es nahelegt, in einem nicht-reflexiven Bezug zur Welt bestehen. Das, was Sartre das absolute Freisein des Subjekts nennt und mit dessen Nichts-sein identifiziert, kann aufgrund seines nicht-reflexiven Status nicht mit einer Theorie der Emanzipation, wie sie hier angestrebt wird, zusammengebracht werden. Vielmehr wurde nicht-dialektische Negativität beziehungsweise das Nichts mit der Hoffnung beleuchtet, es als Möglichkeitsbedingung für die dialektische Auffassung der Subjektivierung ins Feld zu führen. Das Nichts bzw. das, was Sartre als Freiheit identifiziert, kann demgegenüber als Seinsweise des Subjekts nicht selbst schon als Freiheit angesehen werden. Meine These ist daher, die Identitätsrelation zwischen Freiheit und absoluter Negativität entgegen Sartres Annahme zu entkoppeln. Was sich aber anhand der Auseinandersetzung mit Sartres Weise, Nichts und Freiheit im Zusammenhang zu sehen, zeigt, ist, dass Widerständigkeit im Prozess der Subjektivierung mit Reflexivität einhergeht und die Möglichkeit dieser Widerständigkeit auf eine nicht-dialektische Negativität zurückgeht, die aber selbst noch nicht als Freiheit bezeichnet werden kann. Das Subjekt als sozial Konstituiertes zu verstehen – dies war die zugrundeliegende These und der Ausgangspunkt der Arbeit – bedeutet, die Subjektivierung des Subjekts so zu beschreiben, dass die Sozialität des Subjekts in diesem Prozess eine bestimmende Rolle einnimmt. Sartres Auseinandersetzung mit dem Nichts lässt sich jedoch nicht als Analyse eines Bewusstseins oder Selbstbewusstseins lesen, das durch Sozialität hervorgebracht wäre. Bedingt durch seine Methode wird die Genese des Subjekts bei Sartre nicht in den Blick genommen. Mithin ist für die innere Struktur desselben die Begegnung mit anderen Subjekten in Das Sein und das Nichts sehr zweitrangig. Zwar behauptet Sartre keinesfalls, dass das Verhältnis zwischen Subjekten untereinander nicht von hoher Relevanz für die jeweiligen Subjekte wäre.54 Aber Bewusstsein und Selbstbewusstsein sowie die Freiheit des Subjekts basierend auf dem Nichts sind davon zunächst unberührt
54Vgl.
Sartre: Dritter Teil: Das Für-Andere, in: ders.: ebd., S. 405–632.
6 Gedoppelte Negativität: Hegel und Sartre
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und lassen sich für Sartre isoliert von intersubjektiven Verhältnissen betrachten. Ein Verständnis von Befreiung ist folglich innerhalb Sartres Subjekttheorie unabhängig von der sozialen Konstituiertheit desselben. Das Nichts gilt für die Zwecke meiner Betrachtung hingegen nicht als ontologische Voraussetzung, sondern fungiert vielmehr als notwendige Annahme über die Beschaffenheit des Strebens nach Existenz. Dessen Bedeutung wiederum wurde mit Rekurs auf den Begehrensbegriff als Begehren vom Anderen her entfaltet. Das Streben nach Existenz ist also insofern als absolut unbestimmt anzusehen, als es für das Subjekt in diesem Begehren vom Anderen her, dem Streben, das vom Anderen kommt, keine Bestimmung geben kann. Inhalte sowie Form dieses Begehrens entziehen sich dem Subjekt, das in seinem vorsubjektiven Status imaginiert wird, vollkommen. Diese Entzogenheit ist eine aktuelle und eine nachträgliche. Noch nicht über Formen des Bewusstseins und Erkennens verfügend lässt sich das Erlebte für das Subjekt nicht in seine spätere Sprache und innere Grammatik übersetzen. Der Rest bleibt zurück in Form eines Nicht-seins, das das Subjekt von sich selbst trennt. Nicht als Negation, sondern als absolute Lücke, die sich permanent in jeder neuen Form von Bewusstsein und Selbstbewusstsein ins Selbstverhältnis des Subjekts einträgt, bleibt die angenommene Negativität des Strebens nach Existenz für das Werden des Subjekts bestimmend. Das vorsubjektive Streben kennt den Anderen oder das Andere nicht. Der erste Übergang, um dessen Bedeutung es in diesem Kapitel geht, lässt sich daher als eine Bewegung verstehen, deren Grund und Ziel für das Streben in vollkommener Abwesenheit verschwindet und gleichzeitig eine vollkommene Fülle an Bedeutung und Sein für jenes bedeutet. Es wird vom Anderen überfrachtet mit Bedeutung, Sprache, Normen, kurz: der Welt, und sieht in diesem Überschuss bloß eine vollkommene Leere und Abwesenheit an Bedeutung. Hierin liegt das Nichts, das diesen ersten Anfangsübergang des Subjekts bestimmt und sich fortan in seine Bewusstseinsstruktur eingetragen ist. Dieter Henrichs Beschreibung der Unbestimmbarkeit und des Gehalts des Nichts beleuchtet die Abwesenheit und Unbestimmtheit dieses nicht-dialektischen Nichts von einer anderen Seite her, erhellt aber die Idee, dass es sich um eine die dialektische Negativität begründende Form derselben handelt: Gedanken haben insofern einen Gehalt, als sich das, was in ihnen gedacht wird, von irgendeinem anderen Gehalt unterscheiden lässt. Wenn in einem Gedanken alles überhaupt Denkbare aufgehoben wird, dann darf in ihm keine Beziehung, auch keine negative Beziehung, auf irgendein anderes enthalten, in Anspruch genommen oder vorausgesetzt sein. Der Gedanke von einem absoluten Nichts wäre also zugleich das Nichts von jeglichem Gedanken und somit nichts anderes als der Gedanke davon, dass gar nichts gedacht wird. […] Er [dieser Gedanke] spricht aber dem Gedanken von einem absoluten Nichts jeden Gehalt ab und bestreitet ihm den Status, überhaupt ein Gedanke zu sein.55
55Henrich,
Sein oder Nichts, S. 119.
6.2 Jean-Paul Sartre und das Nichts
153
Da das Nichts in meiner Argumentation seine Funktion als genealogischer Grund der Subjektivierung in Form der absoluten Unbestimmtheit des Strebens nach Leben einnimmt, und dieses Streben nach Existenz sich gerade dadurch auszeichnet, dass der Übergang zu reflexiven Denkstrukturen erst vollzogen werden muss, trifft Henrichs Beschreibung der Aufhebung des Denkens hinsichtlich der Bestimmung des Nichts auch auf diesen Vorgang zu. Im Existenzstreben ist noch kein Gedanke zu fassen, es ist die Vorstellung davon, „dass gar nichts gedacht wird.“ Doch genau dieser Gedanke von einem absoluten Nichts reißt als dieser retrospektiv auf den Beginn projizierte Gedanke eine Lücke ins Selbstverhältnis des Subjekts, das durch dieses Nichts mitbegründet wird. Für das Subjekt existiert dieses Nichts als Leere und Fülle und funktioniert anders als Negation. Das Nichts ist vielmehr, wie Sartre es beschreibt, in der Seinsweise des Subjekts eingeschrieben und lässt sich nicht als kognitiver, reflexiver Akt der Negation verstehen, sondern ist dem Akt der Negation zugrunde gelegt.
7
Das Nichts: Möglichkeiten und Grenzen einer Befreiung
Lässt sich radikale gesellschaftliche Transformation ausgehend von der sozialen Konstituiertheit des Subjekts denken? Diese Frage greift grundsätzlich auf drei Dimensionen gesellschaftlicher Transformation zurück: erstens die subjektive, zweitens die soziale oder gesellschaftliche und drittens die politische. Nur in ihrem Zusammenwirken und ineinander Übergehen ist gesellschaftliche Transformation zu verstehen. Aufgabe dieses Kapitels ist es, die Perspektive auf das individuelle Subjekt und seine konstitutiven Verflechtungen mit dem Sozialen stärker auf die anderen beiden Dimensionen gesellschaftlichen Wirkens zu beziehen, um die Bedeutung von Emanzipationspraktiken vor dem Hintergrund sozialer Subjektivierung besser verstehen zu können. Wie lässt sich Befreiung so bestimmen, dass sie radikal neue Subjektivierungsformen hervorzubringen vermag? Dies war die Ausgangsfrage der Untersuchung, die zu einer Auseinandersetzung mit nicht-dialektischer Negativität geführt hat. Jene wiederum erweist sich als Kernmoment sozialer Subjektivierung, wie sie sich im Gegensatz zu Robert Pippins pragmatistischer Hegelauslegung und aus Judith Butlers Weiterdenken Hegelscher Subjektivierungstheorie ergeben hat. Welches Bild von Freiheit lässt sich mit Einbezug dieses Nichts zeichnen? Butlers Widerständigkeit des Subjekts gründet sich auf dessen Selbstentzogenheit, die im Subjektivierungsprozess notwendig entsteht. Sie wirft die Frage auf, wie der Übergang von unterworfenem zum dissidenten Subjekt auf der Basis eines grundlegend selbstentzogenen Subjekts denkbar ist. Hatte ihr Argument für ein sozial konstituiertes Subjekt über den Weg seines genealogischen Anfangs zu einer besonderen Form von sozialer, nicht-dialektischer Negativität geführt, soll gleichsam der Einbezug dieses Nichts in eine Theorie der Subjektivierung die Besonderheit dieses Übergangs von unterworfenem zu widerständigem Subjekt erhellen. Aus der Betrachtung der absoluten Unbestimmtheit des Strebens nach Existenz, die als Prämisse sozialer Subjektivierung bei Butler herausgestellt wurde, resultiert eine Struktur der Negativität, die sich als gedoppelte beschreiben lässt. Doppelte
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Junker, Soziale Subjektivierung, Negativität und Freiheit, Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05734-1_7
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7 Das Nichts: Möglichkeiten und Grenzen einer Befreiung
Negativität bedeutet, dass verschiedene Formen des Negativen als den Prozess der Subjektivierung bestimmend angenommen werden. Einmal ist Negativität in ihrer dialektischen Form der Negation als ein Element im reflexiven Selbstverhältnis zu begreifen. In der dialektischen Weise, Subjektivierung zu verstehen, zeichnet sich jedoch mit Butler andererseits eine Offenheit ab, die auf eine andere Form als die dialektische Negativität schließen lässt. Aus einer phänomenologisch genealogischen Perspektive auf das Subjekt, wie sie im Anschluss an Butlers Theorie der Subjektivierung einzunehmen versucht wurde, findet das Subjekt bei der Ergründung der Bedingungen des eigenen Werdens ein Nichts vor. Die Narration um die Bedingungen des eigenen Werdens kann aber stets nur vermittels der Erzählungen Anderer intelligibel werden. Nur durch die Geschichten meines unmittelbaren sozialen Umfelds weiß ich um den Anfang meiner Geschichte. Nur durch jene Geschichten der anderen gewinne ich einen Eindruck von der Weise, in der ich abhängig war und bin, um zu überleben. Befrage ich allein mich selbst, kann ich diese Bedingungen meines eigenen Werdens niemals ergründen, finde niemals mehr eine wahre Entsprechung der Wahrnehmungs- und Empfindungsformen, die mich begründet und den Gang meiner innersubjektiven Entwicklung ermöglicht haben. In diesem speziellen Sinne ist mir der Beginn meines eigenen Werdens ein Nichts, das absoluter nicht sein könnte. Mir stehen die Wahrnehmungsformen dieses ersten Übergangs von einem noch-nicht-Subjekt zu etwas, das Subjekt werden konnte, schlichtweg nicht mehr zur Verfügung. Sie stehen niemandem zur Verfügung. Meine Herkunft kommt für mich aus dem Nichts. Und ich bin als Ich plötzlich von dem Moment an da, an dem ich Erinnerungen an mich selbst habe, die notwendig zu einem Zeitpunkt ansetzen, an dem ich gewissermaßen schon bin. In diesem Sinne bin ich, wie Sartre sagt, von mir getrennt durch ein Nichts, bin durch das Nichts wesentlich gebrochen, von mir abgeschnitten. Das so vorgefundene Nichts ergibt sich im Selbstverständnis des Subjekts aber als Resultat seiner sozialen Konstituiertheit. Denn nur die sozial konstituierte Realität der Subjektivierung kann Ausgangspunkt für das Ergründen der eigenen Werdensbedingungen sein. Die Tatsache, dass das Subjekt aber nichts vorfindet, was sein eigenes Werden begründet, hat Hegel dazu angeregt, einen Regress zu formulieren: Hegel wendet dieses Nichts des eigenen Grundes so, dass es tatsächlich keine Auswirkungen auf den dialektischen Prozess hat, folglich ist für Hegel der Prozess der Subjektivierung immer schon gegeben, das Werden immer schon Werden und dialektische Negativität nichts anderes als Negationsoperationen. Dass das Subjekt aber mit seiner eigenen Offenheit, mit seinen eigenen Abgründen im reflexiven Selbst- und Weltverhältnis permanent konfrontiert ist, wie Butler es beschreibt, lässt sich mit dem Streben nach Existenz, einer nicht-reflexiven Form des Begehrens, in Verbindung mit Aspekten von Sartres Konzept des Nichts anders beschreiben: Es ist ein Nichts, das gleichursprünglich mit einer nicht-reflexiven Bezugnahme auf sich und die Welt vom Anderen her das Werden des Subjekts bedingt und bestimmt. Sartre identifiziert in Das Sein und das Nichts das Nichts mit der Freiheit. Die Freiheit des Subjekts sei das Nichts selbst. Aus dem Nichts, wie er es beschreibt,
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folgt, so Sartre, die Tatsache, dass das Subjekt notwendig frei ist. Es ist frei, weil es sein Nichts ist und es ist sein Nichts, weil es frei ist. Diese Identifizierung von Nichts und Freiheit ist in Bezug auf die Rolle der Befreiungsprozesse, wie sie hier in den Blick genommen werden, nicht plausibel, wird Befreiung doch als Moment der Widerständigkeit gegen Unterdrückungsverhältnisse gedacht. Außerdem hat die Identität von Freiheit und Nichts die Vorstellung eines Seins der Freiheit des Subjekts zur Folge, die vor allem der Prozesshaftigkeit desselben widerspricht. Sartres statisches Subjektverständnis, das aus seiner speziellen phänomenologischen Vorgehensweise folgt, führt zu einem statischen Freiheitsverständnis. Sowohl das Subjekt als auch dessen Freiheit existieren einfach und sind innerhalb seines Arguments nichts Gewordenes. Ausgangspunkt des in dieser Arbeit verfolgten Arguments war jedoch die Prämisse, dass das Subjekt sozial hervorgebracht wird, was ein genuin prozesshaftes Verständnis des Subjekts impliziert. Wenn Subjektivierung in einem permanenten Prozess der Etablierung und Modifizierung eines Selbstverhältnisses, mithin immer in Reflexivität besteht, ist die Bedeutung eines ‚Seins‘ des Nichts respektive der Freiheit, wie Sartre es hervorhebt, nicht mehr nachvollziehbar. Besteht das Subjekt nur in seinem Werden, kann auch dessen Möglichkeit der Befreiung nur aus einem Werden geschöpft werden. Aus diesem Grund kann – auch wenn Sartres Auseinandersetzung mit Negativität entscheidend zum Verständnis nicht-dialektischer Negativität und damit der Voraussetzung von Freiheit beigetragen hat – Sartres Begriff der Freiheit in dieser Arbeit nicht uneingeschränkt als Vorlage dienen. Vielmehr entfaltet sich Freiheit im Werden des Subjekts und kann folglich nicht als etwas aufgefasst werden, das dem Subjekt innewohnt, oder etwas, zu dem das Subjekt ein für alle Mal befähigt ist. Christoph Menke illustriert die Bedeutung der Freiheit als Befreiung in Anlehnung an Hegels Freiheitsverständnis folgendermaßen: Der freie Wille, so Hegel hier mit Nietzsche, ist nicht ein „vorausgesetztes Subjekt“ (ebd.), sondern besteht nur in dem Prozess seiner tätigen Selbstverwirklichung. […] Der Prozess, der das Sein der Freiheit definiert, hat keinen Zustand verwirklichter Freiheit zum Telos. Das Werden der Freiheit ist unendlich.1
Menke hebt in dieser Passage zwei zentrale Aspekte von Freiheit als Befreiung im Hegelschen Sinne hervor: 1. Freiheit ist Prozess und 2. Freiheit ist deshalb niemals verwirklicht, sondern besteht in einem permanenten Akt der Befreiung ohne abgeschlossenes Ziel. Weiter rekonstruiert Menke, dass dieser Prozess der Befreiung stets mit seinem Gegenteil, der Unfreiheit, verknüpft bleibt. Wenn Befreiung ein nie abgeschlossener Prozess ist, gibt es auch immer wieder Unfreiheit, die im Prozess der Befreiung permanent negiert werden muss: „Freiheit als Befreiung zu verstehen heißt, Freiheit […] deshalb nicht als Zustand, sondern als Prozess zu denken, weil Freiheit allein in der unendlichen Wiederholung
1Menke:
Hegels Theorie der Befreiung, S. 301 f.
7 Das Nichts: Möglichkeiten und Grenzen einer Befreiung
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der Negation von Unfreiheit besteht. Dass Freiheit Befreiung ist, definiert ihre Negativität.“2 Im Gegensatz zu einem Freiheitsverständnis, das Freiheit als verwirklichten subjektiven Zustand begreift, wie es etwa bei Sartre der Fall ist, kann Freiheit im Anschluss an die Auseinandersetzungen mit Butler und Hegel nur als eben jener Prozess verstanden werden, dessen Movens Negativität ist. Denn wenn Subjekte sozial konstituiert sind, und die soziale Konstituiertheit des Subjekts zwischen Ermächtigung und Unfreiheit changiert, kann Befreiung kaum darin liegen, diese Konstituiertheit irgendwann zu überwinden. In der Dimension der Unfreiheit, die mit der sozialen Konstituiertheit einhergeht, ist aber auch die Möglichkeit von Befreiung impliziert. Die Ressourcen sowohl der Befreiung als auch der Unfreiheit liegen im Subjektivierungsprozess selbst, der in dieser Arbeit als sozial konstituiert gedacht werden soll. Freiheit und Unfreiheit bleiben somit immer aufeinander verwiesen. Wenn Freiheit Befreiung ist, diese Befreiung ihre „Negativität definiert“ und der Prozess der sozialen Subjektivierung aber mehrere Negativitätsformen hervorbringt, stellt sich die Frage, welche Negativität eigentlich maßgeblich die Befreiung definiert. Die Antwort, die vor dem Hintergrund des bisherigen Arguments bemüht wird, ist: die nicht-dialektische und die dialektische Negativität. Befreiung besteht in ihrer „unendlichen Wiederholung der Negation von Unfreiheit“3 (dialektisch), die aber ermöglicht wird durch das Nichts, die nicht-dialektische Negativität. Weil aber der dialektische Prozess der Befreiung durch eine nicht-dialektische Negativität heimgesucht wird, muss sein Resultat nicht notwendigerweise allein in der Reproduktion von Unfreiheit bestehen. Vermittels der nicht-dialektischen Negativität besteht die Möglichkeit, durch emanzipative Prozesse radikal neue Verhältnisse zu etablieren – freilich nicht ohne (womöglich radikal) neue Formen von Herrschaft. Gegenüber einem Verständnis von Befreiung, das allein durch dialektische Negativität bestimmt ist, verspricht der Einbezug der nicht-dialektischen Negativität in den Begriff der Befreiung, Unfreiheit so zu transformieren, dass daraus tatsächlich qualitativ neue Verhältnisse resultieren. Diese zeichnen sich nicht durch die Abwesenheit von Unfreiheit aus, aber auch nicht durch eine bloße Verschiebung oder Reproduktion einer Unfreiheit, die in Teilen bewahrt wird. Stattdessen besteht die Möglichkeit, dass Befreiungsprozesse tatsächlich neue Verhältnisse etablieren, in denen ganz neue Formen von Freiheit und Unfreiheit erlebt werden. Während dialektische Negativität das regressive Moment impliziert, im Zuge der Befreiung dieselben Formen von Unfreiheit zu reproduzieren, soll hier ein Ausblick darauf gegeben werden, wie mithilfe der doppelten Negativität die Dynamik der Subjektivierung so beschrieben werden kann, dass eine emanzipative Selbst- und Weltbezugnahme denkbar wird. Unter Rückgriff auf eine doppelte Negativität werden die Möglichkeitsbedingungen eines Freiheitsverständnisses deutlich, das weder die problematischen Implikationen des Autonomiekonzepts
2Ebd, 3Ebd.
S. 302.
7.1 Bedingungen für Befreiung
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reproduziert, noch angesichts der heteronomen Subjektvierungsmechanismen in Ratlosigkeit verfällt, welchen Zugriff Subjekte auf ihre Befreiungsgeschichte überhaupt noch haben. Wie kann Befreiung im Lichte des Nichts formuliert werden, die radikal transformative Praktiken begründen kann?
7.1 Bedingungen für Befreiung 7.1.1 Sich gegen sich wenden: zwei Wege Wenn das Subjekt in irgendeiner Weise befreiend tätig ist (wie auch immer diese Befreiungstätigkeit aussehen und vor allem kollektiv beschaffen sein mag), ist es das nur vermittels seiner Reflexivität. Für Butler (und für viele andere Denker*innen im Anschluss an Hegel) besteht Subjektsein darin, dass es vor allem reflexiv auf sich Bezug nimmt, dass es eine „Rückwendung gegen sich“4 vollzieht. Zwar hat Sartre berechtigterweise eingewendet, dass nicht jeder Bewusstseinsprozess reflexiv verläuft,5 aber es lässt sich zumindest – und dafür muss Sartres Einwand gar nicht in allen seinen Aspekten zurückgewiesen werden – Reflexivität als eine maßgebliche Dimension von Prozessen der Befreiung feststellen. Reflexivität bedeutet, auf sich selbst in bestimmter Weise Bezug zu nehmen, die in mindestens einer Hinsicht in Befreiungsprozessen definitiv der Fall ist: Will sich das Subjekt von Unfreiheit befreien, so hat dies zur Voraussetzung, dass es sich mit sich selbst befasst oder befasst hat. Explizit möchte ich davon Abstand nehmen, diese reflexive Bezugnahme so zu verstehen, dass sie immer ganz bewusst und rational vollzogen werden muss. Es sind auch andere Formen der reflexiven Bezugnahme denkbar als eine rein rationalisierte. Wenn beispielsweise das eigene Unwohlsein in Bezug auf eine erlebte Situation gespürt wird, so ist dies bereits ein reflexiver Akt und möglicherweise der Ansatz einer Befreiungsbewegung. Der Prozess der Befreiung zeichnet sich also durch eine Figur der Wendung auf sich selbst aus. In der Befreiung setzt sich das Subjekt mit seiner eigenen Unfreiheit auseinander. Insbesondere wenn es darum geht, zu begreifen, wie Subjekte an einem Prozess zu neuen Subjektivierungsformen beteiligt sein können, muss diese Wendung als eine Wendung gegen sich verstanden werden. Die bisherige Auseinandersetzung war den beiden Intuitionen gefolgt, dass auch radikale gesellschaftliche Transformationsprozesse mit den Transformationsprozessen von Subjekten zu tun haben und dass diese radikale Transformation mit einer radikalen Selbsttransformation einhergehen muss. Inwiefern diese Transformationen nur kollektiv gelingen können, wird im Abschnitt 7.2 Ausblick: Politiken der Befreiung
4Butler:
Psyche der Macht, S. 67. Opposition gegen ein ausschließlich reflexives Subjektverständnis richtet sich vor allem gegen eine Vorstellung von Reflexivität, die als Subjekt-Objekt-Relation gedacht wird. Dass Reflexivität nicht zwangsläufig so zu verstehen ist, ist eine separate Diskussion. 5Sartres
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7 Das Nichts: Möglichkeiten und Grenzen einer Befreiung
thematisiert. Dass aber auch kollektive Prozesse aus dem Zusammenspiel von einzelnen zur Transformation bereiten Subjekten bestehen, und dass die Bereitschaft zur Transformation einzelner Subjekte wiederum durch die Organisation des Zusammenlebens mitbestimmt wird, motiviert in diesem Argumentationsschritt vorerst das genauere Hinsehen auf die Beschaffenheit der Wendungsfigur im einzelnen Subjekt. Der Anspruch einer radikalen Transformation, das heißt einer Befreiung, die die Qualität der als unfrei aufgefassten Herrschaftsverhältnisse radikal ändert, erfordert eine Wendung gegen sich selbst, gegen die Bedingungen, die das Subjekt überhaupt erst hervorgebracht haben. Vor dem Hintergrund der sozialen Subjektivierung ergeben sich diesbezüglich zwei Möglichkeiten, die scharf auseinanderzuhalten sind. Während jede Subjektivierungsgeschichte eine Geschichte der Unterwerfung ist, mithin die soziale Konstituiertheit des Subjekts immer auch mit einer Dimension der Unfreiheit verbunden ist, kann eine Subjektivierungsgeschichte, die eine Geschichte der Befreiung ist, nicht zum Ziel haben, sich von jener sozialen Konstituiertheit per se zu emanzipieren. Gleichzeitig ergibt sich aus einer sozialphilosophischen Perspektive auf das Subjekt die Schwierigkeit zu begreifen, wie es möglich sein kann, sich von unterdrückenden Machtmechanismen zu befreien, deren Wirkung sich nur im Beziehungsgeflecht des Sozialen entfaltet, also auch Teil des sozialen Konstituierungsprozesses ist. Die zwei Möglichkeiten, die eine Befreiung als Wendung gegen sich selbst nehmen kann, sind daher folgende: 1. Das Subjekt macht seine eigene Sozialität als solche zum Problem und wendet sich gegen seine soziale Konstituiertheit, leugnet die basale Abhängigkeit von Anderen. Für diesen (vermeintlichen) Ausweg aus der eigenen Unfreiheit tritt etwa ein neoliberales Verständnis von Autonomie ein. Indem eine permanente Selbstverwirklichung darauf zielt, vor allem die Eigenleistung gegen die Abhängigkeitsgeflechte mit Anderen hervorzuheben, versucht sie sich explizit von der eigenen sozialen Konstituiertheit zu emanzipieren.6 Ein solches Freiheits verständnis produziert letztlich noch größere Unfreiheit, weil das Subjekt von sich mehr verlangt, als es jemals einlösen kann.7 Es ist schlichtweg nur vermittels 6Eine
Analyse der Konsequenzen aus einem solchen neoliberalen Freiheitsverständnis bietet zum Beispiel Wendy Brown in States of Injury. Auch Juliane Rebentisch insistiert aufgrund der Gefahren, die neoliberale Freiheit für eine demokratische Organisation der Gesellschaft bergen, darauf, „die ideologische Vorstellung einer abstrakten, nämlich von ihren sozialen Bedingungen abstrahierenden Freiheit in ihren begrifflichen Voraussetzungen ebenso wie in ihren für das Leben der Einzelnen und der Demokratien problematischen Konsequenzen zu kritisieren“, in: dies.: Die Kunst der Freiheit, S. 373 (meine Hervorh.). Eine eindrückliche soziologische Perspektive auf den Selbstverwirklichungszwang neoliberaler Subjektivitäten und dem damit einhergehenden Bestreben, sich gegen die eigene soziale Verwickeltheit zu wenden, schildert Andreas Reckwitz in seinem Buch Die Gesellschaft der Singularitäten. 7Wie gefährlich eine solche Haltung nicht nur für das Subjekt sein kann, das sie einnimmt, sondern vor allem auch Konsequenzen im Umgang mit den anderen und dem Anderen hat, schildert z. B. Rosi Braidotti in ihrem Buch Posthumanismus. Sie führt an, wie jene Form von Subjektivität mit „Selbstbestimmung“ gleichgesetzt wird und darin eine Logik der Abwertung der Differenz zum Anderen zum Tragen kommt, sodass „Differenz zum Ausdruck von Minder-
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seiner Beziehungsweisen zu anderen überlebensfähig und produziert in einer Abspaltung dieses Faktums Knechtschaft. 2. Das Subjekt erkennt sich selbst in seinen Beziehungsweisen zu Anderen, hat folglich seine soziale Konstituiertheit als Teil seines Selbstverständnisses anerkannt. Es wendet sich gegen solche Machtmechanismen, die es ermöglicht haben, aber gleichzeitig zu seiner Unterdrückung beitragen. Vermittels eines Prozesses der Befreiung zu sich zu kommen, das heißt einen Umgang mit jenen Formen unterdrückender Abhängigkeitsrelationen zu finden, kann folglich nicht darin liegen, sich gegen den Anderen schlechthin zu wenden, Sozialität als konstitutiven Teil des eigenen Selbst abzuspalten, sondern kann vielmehr nur im Zusammenspiel mit den Anderen gelingen. Wenn die doppelte Negativität die Modalitäten des Befreiungsprozesses definiert, und diese Negativität selbst sozial konstituiert ist, so folgt aus der sozialen Konstituiertheit jener Negativität, dass sich das Subjekt im Befreiungsstreben nur gegen bestimmte Formen der es bedingenden sozialen Abhängigkeit wenden kann. Das Subjekt vermag sich nur von gewissen Inhalten der sozialen Beziehungsweise zu emanzipieren, nicht aber von seiner fundamentalen Beziehung zu anderen per se. Es kann sich nur von unterdrückenden Abhängigkeitsstrukturen zu befreien suchen, nicht aber von Abhängigkeitsstrukturen im Allgemeinen. Der Versuch, sich von notwendig konstitutiven Abhängigkeitsrelationen loszusagen und diese beherrschen zu wollen, führt zu einem falsch verstandenen und defizitären Freiheitsbegriff. Wendy Brown kommt in Manhood and Politics zu einem ähnlichen Schluss: „We cannot dominate anything we are related to and find our freedom through that domination. […] We must learn to engage with the materials of our existence in a manner that draws forth its possibilities rather than imposes a form upon it.“8 Dieser Schluss lässt sich aus der sozialen Konstituiertheit der Negativität ziehen, die den Befreiungsprozess bestimmt. Welchen Schluss lässt aber die nicht-dialektische Negativität in Bezug auf Befreiung zu, die als Ermöglichungsbedingung für dialektische Reflexivität ins Spiel gebracht wurde?
7.1.2 Das Nichts als Möglichkeitsbedingung für Radikalität Indem Johanna Oksala in Foucault on Freedom sich den poststrukturalistischen Konsequenzen für einen Freiheitsbegriff nähert, beschreibt sie zwei Grundzüge von Befreiung, die auch aus dem in dieser Arbeit verfolgten Argument folgen: The freedom that opposes domination and abusive power in this view is the freedom embedded in critical inquiries and practices. Freedom is not a moral or political principle underlying specific practices, it is practice. Neither is it a state of being of the subject or a legal or institutional structure. The subject exercises freedom in withdrawing from
wertigkeit wird.“ Ihr kommt dann eine „qualitative, tödliche Bedeutung für jene [zu], die als »Andere« gekennzeichnet werden.“ (In: ebd., S. 21, meine Anm.) 8Brown: Manhood and Politics, S. 195.
162
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itself and problematizing its behavior, beliefs and the social field of which it is part. The practices of freedom are the practices capable of changing the constitutive conditions of our subjectivity as well as its actual forms.9
Befreiung bedeutet im Foucaultschen Kontext demnach einerseits, dass sie stets als Prozess zu verstehen ist, der nur in und durch Praxis existiert. Andererseits impliziert die Befreiungspraxis, die Foucault laut Oksala im Sinn hat, eine Radikalität, deren Erklärung insbesondere Ziel dieser Arbeit ist: Befreiung auch von repressiven Machtstrukturen im Prozess der Subjektivierung. Es wird die Möglichkeit einer Emanzipation von repressiven konstitutiven Bedingungen unserer Subjektivität geltend gemacht. Im Folgenden soll dafür argumentiert werden, dass die nicht-dialektische Dimension der Negativität, die Befreiung bestimmt, einen Beitrag zum Verständnis dieser radikalen Befreiungspraxis leisten kann. Ein Nichts, das dialektische Negativität und damit Praktiken des Widerstands ermöglicht, wirkt sich, so die These, radikalisierend auf die Widerständigkeit des Subjekts aus und nimmt trotzdem die soziale Konstituiertheit im Begriff der Befreiung auf. Eine solche radikal kritische Haltung, von der Oksala spricht, kann mit Rekurs auf die absolute Negativität der Reflexivität des Subjekts verständlich gemacht werden. Negativität ist also Movens der Befreiung, nicht aber Befreiung selbst. Der Begriff der Befreiung erschöpft sich nicht im Verständnis der Negativitäten, die sie bedingen. Das Nichts, das jedem dialektischen Prozess der Wendung gegen sich selbst innewohnt, steht zur Befreiungspraxis gleichermaßen wie zur dialektischen Reflexivität in einer Ermöglichungsrelation. Es ist nicht selbst Befreiung, sondern es ermöglicht eine bestimmte Form dieser Befreiungspraxis. Die Radikalität der Befreiungspraxis schöpft sich, so die hier vertretene These, aus der nichtdialektischen Dimension des Subjektivierungsprozesses. Wie lässt sich eine Radikalität der Befreiung vor dem Hintergrund des Nichts beschreiben? Die Radikalität der Befreiung kann sich nicht darauf beziehen, aus sich selbst heraus die Bedingungen der eigenen Subjektivierung neu zu organisieren und auf diese Weise sich selbst hervorzubringen. Radikal zu transformieren kann nicht bedeuten, sich wie im Abschnitt 7.1.1 beschriebenen Sinn gegen sich zu wenden. Demgegenüber ist die Negativität des Nichts eine Ressource des Subjekts, die Möglichkeit, eine widerständige Haltung gegenüber den eigenen Entstehensbedingungen einzunehmen. Das Nichts lässt sich als radikale Möglichkeit beschreiben, noch das verfestigste eingewöhnte Selbstverständnis zu hinterfragen und ein radikal modifiziertes Verhältnis dazu zu gewinnen. Jene Radikalität der Transformationsmöglichkeiten lässt sich nicht aus einem dialektischen Negativitätsverständnis erklären, das ihrer nicht-dialektischen Bedingungen keine Rechnung trägt. Ist Befreiung nur durch bestimmte Negativität definiert, bleibt jeder Befreiungsprozess mit der zu überwindenden Unfreiheit
9Oksala:
Foucault on Freedom, S. 181 f. (mein Hervorh.).
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verhaftet. Das Subjekt ist aber in seiner Wendung gegen sich selbst absolut gebrochen, durch ein Nichts von sich getrennt, sodass jeder Negationsvorgang eine absolut neue Qualität der Bestimmung hervorbringt. Diese nicht-dialektische Negativität offenbart sich in der Wendung gegen sich selbst nicht als Akt, sondern als Sein, als Art und Weise, in der diese Wendung selbst nur existiert. Das Nichts selbst eliminiert folglich nicht die Wirkungsweise unterwerfender Machtmechanismen, es lässt sich vielmehr als eine Möglichkeitsbedingung radikaler Befreiungsprozesse verstehen. Das Verhältnis von Befreiung und Nichts ist also das einer Ermöglichungsrelation. Vermittels des Nichts werden radikale Prozesse der Befreiung denkbar. Jean-Luc Nancy definiert Freiheit in seiner Auseinandersetzung mit Hegels Negativität ebenfalls über die Sprengkraft absoluter Negativität, einem Nichts: „Freiheit ist die Setzung der Negativität als solche. […] Weil eine solche »Setzung« genau das Gegenteil von etwas Gesetztem ist […], ist die Freiheit Setzung … von nichts, sie ist Befreiung … von allem. Notwendigkeit und Anarchie des Absoluten.“10 Obwohl Nancy diesen Begriff der Befreiung von Hegel herleitet, geht er doch über die von Hegel explizierte Bestimmung hinaus, weil sein Bedeutungssinn von Freiheit an ein Verständnis der bestimmten Negation gebunden bleibt. Eine Vorstellung radikaler Formen der Befreiung setzt voraus, dass die Bewegungen des Widerstands tatsächlich etwas Neues hervorbringen und nicht nur das Negative eines Positiven sind. Verständlich wird diese Radikalität durch jenes nicht-dialektische Nichts, das sich im Selbstverhältnis des Subjekts in verschiedenen Hinsichten zeigt und das sich vermittels des Sozialen im Selbstverhältnis etabliert. Als radikal kann Befreiung nur dann beschrieben werden, wenn die Dimension des absolut Negativen, des Nichts, in ihr eine Entsprechung findet. Der absolute Bruch im Selbstverhältnis des Subjekts begründet dabei die (mögliche) Radikalität der Widerständigkeit des Subjekts. Die Wendung gegen sich selbst enthält das Moment einer radikalen Befreiung „von allem“, weil sie durch das Nichts, einem absoluten Bruch, in der Wendungsfigur gekennzeichnet ist. Das Nichts ist eine Komponente absoluter Unberechenbarkeit in der Struktur des Subjekts, die Basis für eine radikale Befreiungspraxis sein kann. Im Kontext eines nicht-dialektischen Nichts als Bedingung für radikale Befreiung lässt sich auch Hannah Arendts Idee des Neuanfangens betrachten. Zwar bezieht sich Arendts Vorstellung des Neuanfangens auf die Struktur der Handlung und fügt sich dementsprechend nicht bruchlos in das Argument für die Möglichkeit radikaler Befreiungspraxis in diesem Zusammenhang ein,11 aber dennoch kann die Bedeutungsdimension des Neuanfangens als Beschreibung
10Nancy:
Hegel, S. 228. geht gar nicht darum, dass radikale Befreiungspraxis nicht auch in Handlungen münden kann. Aber Handlungen sind nur ein Teil dessen, wie Subjekte radikal transformierend tätig sein können. Die widerständige Wendung gegen sich selbst kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von denen eine eine Handlung im handlungstheoretischen Sinne mit explizitem Motiv sein kann. 11Es
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dafür dienen, welche Form eine radikale Wendung gegen sich selbst vor dem Hintergrund nicht-dialektischer Negativität annehmen kann: Die Tatsache, daß der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangens begabt ist, kann daher nur heißen, daß er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht, daß in diesem einen Fall das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat […]. Und diese Begabung für das schlechthin Unvorhersehbare wiederum beruht ausschließlich auf der Einzigartigkeit, durch die jeder von jedem, der war, ist oder sein wird, geschieden ist, wobei aber diese Einzigartigkeit […] auf dem alles menschliche Zusammensein begründenden Faktum der Natalität beruht, der Gebürtlichkeit, kraft deren jeder Mensch einmal als einzigartig Neues in der Welt erschienen ist.12
Arendt führt die Wirkungsweise einer absoluten Negativität in der Handlung des Subjekts auf dessen Gebürtlichkeit und damit Einzigartigkeit zurück. Anders als im von mir entwickelten Argument wird der radikale Bruch, den die Befreiungspraxis des Subjekts bestimmt, als eine ‚Begabung‘ aufgefasst, mithin eine Fähigkeit, die dem Subjekt immer schon bereit steht. Allerdings versteht Arendt, ähnlich wie in der Herleitung des nicht-dialektischen Nichts als Movens eines widerständigen Subjekts, die Fähigkeit des Neuanfangens vom Anfang des Subjekts her, von dessen Gebürtlichkeit. Die Gebürtlichkeit fungiert hier als Sinnbild für den dem Subjekt absolut entzogenen Anfang der Reflexivität, die Voraussetzung jeder dialektischen Bewegung ist. Sie illustriert damit implizit ein Nichts, das sich ins Selbstverhältnis des Subjekts einschreibt. Arendt folgert aus diesem Beginn, der Geburt, die Einzigartigkeit des Subjekts. Weil der Beginn absolut strukturlos, partikular und einzigartig ist, begründet er die Unberechenbarkeit des Subjekts. Tatsächlich findet sich eine sehr ähnliche Formulierung in Die Kritik der ethischen Gewalt von Butler: Die Einzigartigkeit wird auf ein „nicht erzählbares Ausgesetztsein“13 zurückgeführt, eine Lücke in der Narration der eigenen Geschichte. Die Unberechenbarkeit der Handlungspraxis bei Arendt beschreibt eine radikale Form von Befreiung, die an Sartres Freiheitsbegriff erinnert und in einer Hinsicht missverständlich sein kann oder anfällig dafür ist, den erfolglosen Lösungsweg aus der Unfreiheit zu verfolgen, wie er im vorherigen Abschnitt 7.1.1 geschildert wurde: Folgerte man aus der hier skizzierten Arendtschen Idee des Neuanfangens einen Begriff der Befreiung, so schien dies nahezulegen, dass der Befreiung keine Grenzen gesetzt seien. Sowohl Arendts als auch Nancys Beschreibungen dessen, was Befreiung genannt werden kann, lassen problematischerweise beide Formen der Wendung gegen sich selbst zu – diejenige, die Selbstbestimmung in einer Befreiung von jeglicher Sozialität per se sieht und diejenige, die sich gegen bestimmte Formen der Ausgestaltung von Sozialität wendet. Arendts Begriff der Gebürtlichkeit trägt der Tatsache keine Rechnung, dass jener Beginn, jener Abgrund der eigenen Herkunft, immer nur
12Arendt: Vita 13Butler:
activa, S. 217. Kritik der ethischen Gewalt, S. 55.
7.1 Bedingungen für Befreiung
165
im Medium des Anderen geschehen kann. Ohne Mutterleib, keine Geburt. Der Mutterleib, das absolut Andere der Anfangsbewegung im Akt der Geburt, ist gleichzeitig Hindernis und Ermöglichung des Übergangs zu eigenem Leben. Nur unter der Voraussetzung des Arbeitens mit dem Anderen, kann die Einzigartigkeit und Unberechenbarkeit respektive das Nichts im Subjekt entstehen. Die Kehrseite dieser Einzigartigkeit, die in Arendts Gedanke als Ressource für widerständiges Handeln gilt, ist daher immer die Konstituiertheit dieses Einzigartigen durch das Andere, das Soziale, die Welt14. Die absolute Unbestimmtheit im Selbstverhältnis des Subjekts erhält somit stets ein Vorzeichen, nämlich aus der Beziehung zum Anderen also vom Anderen her zu kommen. Sie markiert Möglichkeit und Grenze der Befreiungspraktiken des Subjekts. Ohne diesen Bedeutungssinn der sozialen Konstituiertheit der Geburt verleitet der Terminus des absoluten Neuanfangens dazu, eine Wendung gegen sich selbst als Befreiung aufzufassen, die gegen Abhängigkeitsrelationen vom Sozialen als solche gerichtet sind. Neuanfangen mit der Ressource der absoluten Unberechenbarkeit aufgrund der Einzigartigkeit und des Gebärens vergisst, dass Befreiung niemals bedeuten kann, sich von der eigenen sozialen Konstituiertheit zu emanzipieren, sondern diese in ihren Begriff mit aufnehmen muss. Nancys Bestimmung des „Loslösens von jeder Bestimmtheit“ trägt einen ähnlichen Zug und bezieht nicht ein, dass ein gelingendes widerständiges Selbst- und Weltverhältnis notwendig durch die soziale Konstituiertheit des Subjekts und dessen Befreiungsressource begrenzt ist. Die Radikalität der Befreiung kann nur darin bestehen, Reflexivität zu einer radikal kritischen Haltung im Medium des Sozialen zu machen. Praktiken, die hieraus folgen, können nicht von der Idee geleitet sein, dass jede Form der Hervorbringung eines Neuen möglich ist. Aber sie sind auch nicht vollkommen festgelegt durch den gegebenen sozialen Kontext. Warum sie nicht vollkommen determiniert sind, das erklärt das Nichts. Nicht weil Subjekte Negativität im dialektischen Sinne „können“,15 sondern weil sie beides – nicht-dialektische und dialektische Negativität – „können“, was sie im Verhältnis zum Anderen von Beginn an im Selbstverhältnis etablieren.
14Und
diese Welt ist notwendig sozial verfasst, weil es keine Vorstellung des Selbst ohne bspw. Sprache geben kann. So schreibt Butler: „Das »Ich« hat gar keine Geschichte von sich selbst, die nicht zugleich die Geschichte seiner Beziehung – oder seiner Beziehungen – zu bestimmten Normen ist. Nun fürchten viele zeitgenössische Kritiker, dies bedeute, es gebe keinen Begriff des Subjekts, das als Grundlage der moralischen Handlungsfähigkeit und der moralischen Zurechenbarkeit dienen könnte; aber dieser Schluss ist keineswegs zwingend. In gewissem Maße ist das »Ich« sich immer durch seine gesellschaftlichen Entstehensbedingungen enteignet. […] Diese Unverfügbarkeit [könnte] gerade die Voraussetzungen moralischer Fragestellungen sein, die Bedingungen, unter welcher die Moral selbst erst entsteht.“, in: ebd., S. 15. 15Vgl. Menke: Hegels Theorie der Befreiung, S. 309 ff.
166
7 Das Nichts: Möglichkeiten und Grenzen einer Befreiung
7.1.3 Befreiung zwischen Subjekt, Gesellschaft und Politik Wird der Prozess der Subjektivierung so aufgefasst, dass er eine emanzipative Wendung gegen sich selbst zulässt, die maßgeblich durch ein nicht-dialektisches Nichts im Werden des Subjekts ermöglicht wird, lässt sich damit vor allem eines verständlich machen: Die Relationalität des Subjekts zur sozialen Umwelt bedeutet einerseits eine Unterwerfung, die das Subjekt in seiner Reflexivität immer an dessen Sozialität bindet. Andererseits bezieht es aus dieser Relationalität eine Form des Werdens, die dem Subjekt eine radikale Wendung gegen sich selbst ermöglicht. Die nicht-dialektische Negativität des Werdens macht den ermöglichenden Charakter der sozialen Subjektivierung aus. Er ist Möglichkeitsbedingung für radikal emanzipative Praktiken. Vor dem Hintergrund dieser nichtdialektischen Negativität wird eine Form von Befreiung denkbar, die nicht mit dem Schicksal behaftet ist, in ihrem Resultat in die Form der Unfreiheit umzuschlagen, von der sie sich zu emanzipieren suchte. Zwar ruft jede Befreiung notwendig neue Herrschaftsverhältnisse hervor. Aber jene neuen Herrschaftsverhältnisse können vermittels des absoluten Bruchs, der in der Befreiung liegt, so radikal neu gestaltet sein, dass sie die alten Herrschaftsverhältnisse nicht zwangsläufig reproduzieren. Dieser Blick auf die soziale Konstituiertheit des Subjekts macht aber auch deutlich, dass jene radikale Wendung gegen sich selbst eine zwar sozial konstituierte aber trotzdem individuelle Form16 eines emanzipativen Selbstverhältnisses ermöglicht, dessen Gelingen von der Beziehung zu anderen abhängt. Diese Ebene der Befreiungsmöglichkeit kann aber nicht mit dem Anspruch strapaziert werden, globale Unterdrückungsverhältnisse abschaffen zu können. Sie zeigt lediglich auf, dass Subjekte über eine gewisse Ressource verfügen, die auch für eine kollektive Emanzipation von Unterdrückungsverhältnissen eine Möglichkeitsbedingung darstellt. Ohne die prinzipielle Fähigkeit, vermittels anderer ein solches reflexives Verhältnis zu sich zu gewinnen, das sich durch eine transformative Haltung zu repressiven Bedingungen des eigenen Werdens auszeichnet, ist auch eine kollektive und gelingende emanzipative Praxis nur schwer denkbar. Da aber Subjekte in ihrem praktischen Tun von gesellschaftlichen Dynamiken sowie politischen Regierungstechniken abhängen, erfordert eine Überwindung repressiver Verhältnisse auf dieser Ebene womöglich auch andere Strategien und Formen der Befreiungspraxis. Es ist nicht einfach, Beispiele zu finden, in denen solche Befreiungsbewegungen als gelungen bezeichnet werden können. Grund hierfür ist aber nicht, dass Emanzipation in diesem Sinne per se nicht möglich sei. Vielmehr liegt die Schwierigkeit darin, dass die allermeisten Emanzipationskämpfe in ihren Lebens-
16Die
Opposition zwischen sozial und individuell erscheint vor dem Hintergrund der hier in den Blick genommenen Theorie der Subjektivierung vielleicht problematisch, ist doch jede individuelle Subjektivierungsgeschichte in sich schon mit dem Sozialen konstitutiv verbunden. Es bleibt aber, dass vermittels sozialer Subjektivierung einzelne Subjekte hervorgebracht werden, die ihre Individualität nicht unbedingt in Opposition zum Sozialen verstehen müssen.
7.1 Bedingungen für Befreiung
167
formen, die sie hervorbringen, von den herrschenden und beherrschenden Machtverhältnissen absorbiert werden. Dies ist aktuell vor allem auf die Vielfältigkeit und Durchschlagskraft neoliberal kapitalistischer Herrschaftsmechanismen zurückzuführen. Diese erweisen sich als besonders repressiv und subtil, sodass es ihnen leicht gelingt, sich ihnen widersetzende Bewegungen für sich zu nutzen und ins Repertoire der Regierungsstrategien aufzunehmen. Auf diese Weise lassen sich die Errungenschaften der Emanzipationsbewegungen zumeist als Verschiebungen von Herrschaftsverhältnissen erkennen, die bestenfalls eine Verbesserung der Lebensweisen zur Folge haben, und nicht so sehr als die Hervorbringung radikal neuer Machtverhältnisse. So haben sicherlich die Befreiungskämpfe von Frauen* der letzten Jahrhunderte zu einem sehr viel lebbareren Leben geführt, und dennoch kann weder gesagt werden, dass die Abschaffung patriarchaler Herrschaftsverhältnisse gelungen sei, noch, dass sich nicht auch diese Errungenschaften durch eine neoliberale Umdeutung wieder gegen das angestrebte Geschlechterverhältnis wendet. Dass Frauen* beispielsweise viel mehr ökonomische Unabhängigkeit und Selbständigkeit erlangen konnten, kommt der neoliberal kapitalistischen Ordnung nur gelegen, sodass sich die Repressionsformen verschieben und wiederum zumeist Frauen* zum Beispiel unter mehrfachen Belastungen dieser Repressionen des Arbeitsmarktes leiden. Die Tatsache jedoch, dass Emanzipationsbewegungen von herrschenden politischen Regulationsmechanismen absorbiert werden können, zeigt aber noch nicht, dass radikale Befreiungsbewegungen im oben beschriebenen Sinne prinzipiell unmöglich sind. Es lässt sich hierin vielmehr die konstitutive Verflechtung von Befreiungspraktiken mit der gesellschaftlichen und politischen Ordnung erkennen. Aber auch dieses Verhältnis kann so aufgefasst werden, dass es durch eine nicht-dialektische Negativität bestimmt ist, durch die sich zumindest das Potential aufweisen lässt, jenes Verhältnis zwischen Subjekt, Gesellschaft und Politik so zu modifizieren, dass sich darin Machtverhältnisse etablieren können, die weniger repressiv sind. Wenn das Nichts aus der Relationalität zwischen Subjekten hervorgeht, scheint es das Verhältnis zwischen Menschen selbst mitzubestimmen. So ist anzunehmen, dass auch das gesellschaftliche Zusammenleben als ein Prozess bezeichnet werden kann, der durch eine Unberechenbarkeit und absolute Differenz gekennzeichnet ist. Dieser Prozess gesellschaftlichen Zusammenlebens ist jedoch unweigerlich mit einer politischen Ordnung verwoben und umgekehrt wird die politische Ordnung vermittels ihres Verhältnisses zur Gesellschaft hervorgebracht. Befreiungspraktiken finden also notwendig in einem Rahmen von Gesellschaft und Politik statt und können nur in diesem Rahmen als solche Praktiken erkennbar sein und gelingen. Das Gelingen von Befreiungspraktiken ist an eine Transformation der Regulationsmechanismen der politischen und gesellschaftlichen Ordnung gebunden. Wenn aber gesellschaftliches Zusammenleben so gedacht wird, dass es ebenso wie der Prozess der Subjektivierung durch eine fundamentale Entzogenheit und Unberechenbarkeit, durch nicht-dialektische Negativität, vorangetrieben wird, muss der politische regulierende Zugriff auf die Formen des Zusammenlebens immer schon zum Teil misslingen. Dieses Misslingen gilt es, für Befreiungsbewegungen ausfindig zu
7 Das Nichts: Möglichkeiten und Grenzen einer Befreiung
168
machen, die bestehende Ordnung aus diesem Nicht-Ort heraus zu stören und so zu einer offeneren, besseren Form des Regierens zu zwingen. Es lassen sich mindestens drei Dimensionen einer solchen Befreiungspraxis betrachten, die eine nachhaltige radikale Transformation voranzutreiben in der Lage ist: die individuelle, die gesellschaftliche und die politische. Im Blick auf eine Beschreibung der Möglichkeit radikaler Transformation aller dieser drei Ebenen besteht jeweils die Gefahr, eine der Ebenen zu priorisieren. So kritisiert zum Beispiel Bini Adamczak in ihrer philosophischen und soziologischen Auseinandersetzung mit den Revolutionen 1917 und 1968 zurecht, dass deren Probleme jeweils in einer Verabsolutierung einer dieser Ebenen liegen. Auf der einen Seite diagnostiziert sie eine „Strukturfixiertheit der alten Linken, etwa des klassischen Marxismus – der Staat, das Kapital, die Determination, die Klasse“ und auf der anderen Seite eine „Singularitätszentriertheit der Neuen Linken, etwa der klassischen Queer Theory – das Subjekt, die Markierung, die Subversion, das Ereignis.“17 Fasst man Emanzipation so auf, dass sie ausschließlich auf gesellschaftlicher Ebene zu organisieren sei, verliert man das Individuum aus dem Blick. Wird Emanzipation wiederum ausschließlich individuell gedacht, büßt man die gesellschaftliche und politische Dimension ein, die das Individuum als solches per se auszeichnet. Mit dieser Überlegung wird klar, dass es eine Allianz von gesellschaftlicher, politischer und individueller Emanzipationsbewegungen geben muss, die sich gegenseitig anstiften, vorantreiben und bedingen, damit Emanzipation auf irgendeiner dieser Ebenen gelingen kann. Bini Adamczak schlägt mit dem Begriff der „Beziehungsweise“ eine Überwindung dieser jeweiligen Vereinseitigungen vor und legt gerade den Fokus auf die Verbindungen zwischen Subjekten sowie zwischen Subjekt(en) und Gesellschaft. Die Bedeutung des Begriffs fasst sie folgendermaßen zusammen: „Erstens wird ein Begriff gesucht, der zugleich für die sozialen Verhältnisse der Produktionssphäre wie der Reproduktionssphäre Gültigkeit hat. Der Begriff der Beziehungsweise erlaubt es, Mikro- und Makroebene zugleich zu fassen, intime informelle wie versachlicht formalisierte, Nah- und Fernbeziehungen auf einem terminologischen Niveau zu diskutieren, […]. Zweitens braucht es einen Begriff, der weder […] auf die Totalität, das heißt den Staat fixiert ist, noch […] auf das Individuum bzw. auf das Subjekt, sondern auf die Verhältnisse fokussiert, die sich dazwischen ereignen. […] Damit ist es drittens möglich, Veränderung als Ergebnis pluraler kollektiver Praxis zu verstehen, das heißt weder als Regierung eines zentralistisch verfassten Staatssubjekts noch als voluntaristische Aktion widerständiger Individuen.“18
Mit dem Blick auf soziale Subjektivierung und einer darin enthaltenen Möglichkeit einer radikal emanzipativen Reflexivität ist also nur eine der vielen Möglichkeitsbedingungen thematisiert, die eine radikale Transformation von Unterdrückungsverhältnissen erfordern. Schließt man sich Adamczaks Diagnose
17Adamczak: 18Ebd.,
Beziehungsweise Revolution, S. 250. S. 256.
7.2 Ausblick: Politiken der Befreiung
169
an, dass eine solche radikale Transformation nicht eindimensional erfolgreich sein kann, sondern der Fokus vielmehr auf die Beziehungen gelegt werden sollte, bietet die in dieser Arbeit skizzierte Perspektive auf Befreiung einen möglichen Ansatzpunkt, deren Gelingen zu verstehen. Befreiung, die sich das konstitutive, absolute Nichts des Existenzstrebens ebenso zunutze macht wie den reflexiven Subjektivierungsprozess, mithin eine Befreiung, die zwischen Menschen in deren Beziehungsweisen vorangetrieben wird, ist insofern eine riskante Vorstellung, als sie sich der Unberechenbarkeit eines solchen Prozesses stellt. Eine Idee davon äußert auch Derrida in Schurken: „Was es hier zu denken gilt, ist etwas Unvorstellbares oder Unerkennbares: eine Freiheit, die nicht mehr die Macht eines Subjekts wäre, vielmehr eine Freiheit ohne Autonomie, eine Heteronomie ohne Knechtschaft, kurz, so etwas wie eine passive Entscheidung.“19 Daniel Loick fügt diesem Gedanken in seinem Aufsatz Immunität und Ansteckung zu, dass dies „das Versprechen einer gewaltlosen Allianz von Singularität und Universalität [sei], das nur gesellschaftlich einzulösen ist.“20 Ein Begriff von Befreiung, wie er in dieser Arbeit im Anschluss an Butlers Theorie sozialer Subjektivierung gezeichnet wird, ist also nur verständlich, wenn er auf gesellschaftlicher, politischer und subjektiver Ebene angestrengt wird. Das bedeutet nicht, dass man nicht subjektive von gesellschaftlichen Aspekten einer emanzipativen Praxis auseinanderhalten könnte. Befreiend sind solche Praktiken allerdings nur, wenn alle Dimensionen, die das Subjekt genauso wie die Gesellschaft und die Politik bestimmen, auch gleichzeitig in Bewegung kommen.
7.2 Ausblick: Politiken der Befreiung Welche Konsequenzen sich aus den Überlegungen zur Befreiung im Lichte des Nichts für eine Politik der Befreiung ergeben, kann hier daher nur angedeutet werden. Es wird an dieser Stelle nicht angestrebt, die Idee der Befreiung, wie sie hier umrissen wurde, im Feld der politischen Theorie abschließend zu kontextualisieren. Für die Frage nach der Möglichkeit radikaler gesellschaftlicher Transformation ist es aber dennoch von Bedeutung, auf die gesellschaftliche und politische Verfasstheit einer Befreiungspraxis hinzuweisen und dem nachzugehen, was überhaupt Tätigkeiten radikaler gesellschaftlicher Transformation sein können bzw. inwiefern diese Tätigkeiten politisch sind oder nicht. Vor dem Hintergrund des Verständnisses von Freiheit als Befreiung, die radikale Formen annehmen kann und nur im Zwischenspiel zwischen einzelnem Subjekt und dessen Beziehungsweisen zu Anderen21 gelingt, stellen sich vor allem zwei Fragen: Was
19Derrida:
Schurken, S. 207. Immunität und Ansteckung, S. 42. 21‚Anderen‘ wird hier bewusst groß geschrieben, um in der Bedeutung der Beziehungen zwischen Subjekten beispielsweise auch institutionelle Verhältnisse oder Verhältnisse zu Produktions- und Reproduktionsbedingungen einzuschließen. 20Loick:
170
7 Das Nichts: Möglichkeiten und Grenzen einer Befreiung
können mögliche Tätigkeiten der Befreiung oder emanzipatorische kollektive Prozesse sein? Lassen sich mit den Ressourcen aus dem bisherigen Argument gute und schlechte radikale Transformationsprozesse auseinanderhalten – und wenn ja, wie? Dass Emanzipation ihrem Wesen nach politisch ist, folgt aus der sozialen Konstituiertheit des Subjektivierungsprozesses und der darin implizierten notwendig sozialen Befreiungspraxis, die allein Subjekte zu einer befreienden Reflexivität befähigt. Annika Thiem hat die intrinsisch politische Bedeutung der Subjektivierung, deren eine Bedeutungsdimension ebenso intrinsisch die der Befreiung ist, treffend zusammengefasst: The question of subject formation and how subject formation is theorized, then, is not primarily unrelated to political questions, because who gets to be a subject and how subjects get to be delimits the field of intelligibility and determines what can and cannot appear as legitimate political demands and issues. Insofar as subject formation is constitutively bound up with ethical and political questions, such as recasting of the subjects in terms of subject formation will have to have consequences for thinking about ethics and politics as well.22
Dass radikale Widerständigkeit nur im Kontext des Politischen verständlich und erfolgreich sein kann, folgt aber auch aus einer bestimmten Auffassung darüber, was überhaupt das Politische ist. Fasst man den Begriff des Politischen in einem weiteren Sinne als das Alltagsverständnis bereithält, geht die Extension des Begriffs deutlich über die politischen Institutionen und Organisationsformen hinaus. Allem Politischen ist gemeinsam, dass es darauf bezogen ist, das kollektive Zusammenleben zu ordnen. Ist aber jedes einzelne Subjekt in seinem Kern durch kollektive Prozesse des Sozialen konstituiert, wohnt dem Prozess der Subjektivierung per se eine politische Dimension inne. Folglich muss auch jede Form von Befreiungsprozess nicht in allen Hinsichten, aber mindestens in einer als politisch aufgefasst werden: Sie berührt immer auch die Bedingungen der eigenen Subjektivierung und greift damit in die Ordnung des Politischen ein. Diese Beschreibung zielt nicht darauf, Bereiche des Politischen und Normativen und anderen Wirkungsweisen von Regelsystemen gleichzusetzen – jeder Bereich hat seine spezifischen Funktionsweisen und Modi. Aber allen Formen von Regelsystemen, die das kollektive Zusammenleben betreffen und auf diese Weise auch die innere Verfasstheit einzelner Subjekte im tiefsten Sinne bestimmen, wohnt eine Dimension des Politischen inne. Daher soll im Folgenden ein resümierender Ausblick auf Politiken der Befreiung geworfen werden.
7.2.1 Befreiungspraxis mit Butler Wie in Teil I Das Subjekt als sozial Konstituiertes erarbeitet wurde, versteht Butler den Prozess der Subjektivierung notwendig als einen Prozess, der ein Subjekt
22Thiem:
Unbecoming subjects, S. 5.
7.2 Ausblick: Politiken der Befreiung
171
hervorbringt, das sich (auch) widerständig zu seinen eigenen Entstehensbedingungen verhält. Die konstitutive Widerständigkeit im Subjektivierungsprozess kann allerdings nur als Ressource verstanden werden, auf die gesellschaftliche Befreiungspraktiken zurückgreifen können, nicht jedoch als gesellschaftliche Befreiungspraxis selbst. Andernfalls würde jedes Subjekt in seinem Werden konstitutiv an der Befreiung aus eigenen Unterdrückungsverhältnissen arbeiten, was nicht der Fall ist. Aus der Widerständigkeit, wie sie aus Butlers Subjektivierungstheorie resultiert, folgt daher nicht notwendig die Verwirklichung von Emanzipationsprozessen. Trotzdem lässt sich Butler insbesondere im Hinblick auf ihre späteren Schriften als Theoretikerin einer Politik der Befreiung lesen. Aus der konstitutiven Widerständigkeit ihrer Subjektivierungstheorie folgt für sie ein gewisses Verständnis einer Politik der Befreiung. Im ersten Kapitel wurde bereits angedeutet, dass ihre politischen Auseinandersetzungen vor allem durch eine Ethik des Überlebens gekennzeichnet sind. Während das Überleben oder die Eröffnung von Möglichkeiten für verschiedenste Lebensformen als ethischer Maßstab für gute und schlechte emanzipatorische Haltungen und Handlungen zählt, ist es nicht leicht auszumachen, was eigentlich überhaupt als transformative oder emanzipatorische Tätigkeit im Feld des Politischen zu bezeichnen ist. Butlers gesamtes Werk wird durch die Vorstellung einer Politik der Befreiung bestimmt, die in einer Öffnung, Variabilisierung und Verschiebung von Normen besteht: Die Konzeption von Politik, die hier zum Tragen kommt, ist wesentlich an der Frage nach dem Überleben interessiert, daran, wie eine Welt geschaffen werden kann, in der diejenigen, die ihre Geschlechtsidentität und ihr Begehren als nicht normkonform verstehen, nicht nur ohne Gewaltandrohung der Außenwelt leben und gedeihen können, sondern auch ohne das allgegenwärtige Gefühl ihrer Unwirklichkeit […].23
Sind Normen, die zwangsläufig immer an der Konstitution von Subjekten beteiligt sind, zu starr, abgeschlossen und enggefasst, laufen sie Gefahr, Lebensformen zu bedrohen, die ihnen nicht entsprechen können oder wollen. Eine solche Beschaffenheit von Normen wird tendenziell als unfrei aufgefasst. Befreiungsbewegungen zielen daher für Butler immer auf eine Solidarisierung mit dem prekären Leben, mit Lebensformen und Körpern, die von unterdrückenden und ausschließenden normativen Machtmechanismen bedroht werden. Um sich diesem Ziel der Öffnung von Normen zu nähern, scheint Butler vor allem zwei Weisen im Blick zu haben, sich unterdrückenden Herrschaftsverhältnissen zu widersetzen: Kritik und kollektive Praktiken des Widerstands. Insbesondere in den frühen Schriften wie z. B. in Das Unbehagen der Geschlechter beschreibt Butler vor allem die Möglichkeit der Kritik durch subversive Wiederholung von Normen in der Parodie. Im späteren Werk geht sie mehr auf kollektive Widerstandsformen
23Butler:
Macht der Geschlechternormen, S. 347.
172
7 Das Nichts: Möglichkeiten und Grenzen einer Befreiung
ein, die die Form der Kritik zu überschreiten scheinen und daher eine andere Sprengkraft in Bezug auf prekarisierende Machtverhältnisse haben. Mit beiden Arten politischer Befreiungspraxis, der Kritik und dem Widerstand, ist für Butler ein Politikverständnis verbunden, das sich vor allem auf die Erscheinung und Sichtbarkeit von Körpern und Positionen bezieht. Diese Politiken der Sichtbarkeit und des Erscheinens sind aber nicht zu verwechseln mit einer Arendtschen Politikauffassung, die das Politische mit dem Öffentlichen identifiziert. Vielmehr beschreibt Butler in einem frühen Text Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der »Postmoderne« von 1993, inwiefern das Subjekt in seinem Subjektsein politisch ist und daher seine politischen Erscheinungsformen nicht an eine Öffentlichkeit im Arendtschen Sinne gebunden sind: Es genügt nicht zu sagen, daß das Subjekt stets im politischen Feld engagiert ist. Diese phänomenologische Formulierung verfehlt genau den Punkt, daß das Subjekt eine im Voraus regulierte und produzierte Errungenschaft ist. Und als solche ist das Subjekt ein vollständig politisches Phänomen, ja, möglicherweise ist es sogar dann am politischsten, wenn es behauptet, der Politik selbst vorgängig zu sein.24
Das Subjekt ist für Butler also in seinem Kern politisch, weil es hervorgebracht wird durch Mechanismen, die insbesondere in regulierenden Normen ihre Wirkung zeigen, und die wiederum durch den Raum des Politischen bestimmt und verwaltet werden. Allerdings entsteht, ebenso wie das Subjekt überhaupt erst im Raum des Sozialen hervorgebracht wird, auch dessen Politizität nur innerhalb eines Kollektivs und ist an Formen der Anerkennung gebunden. In den Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung beschreibt Butler, wie „gefährdete Leben […] Allianzen bilden, die um einen Erscheinungsraum kämpfen müssen.“25 Die Handlungsfähigkeit des Subjekts bleibt an „Unterstützung“ durch die Anderen gebunden.26 Die Fähigkeit zur Kritik bezieht sich in diesem Rahmen auf die Wiederholung von Normen, die das Subjekt ohnehin in allen seinen Verhaltensweisen vollzieht, aber in einer subversiven Wiederholung die Gemachtheit der Norm aufzeigen kann. Hierin sieht Butler eine Dimension der Handlungsfähigkeit des Subjekts: „In bestimmter Hinsicht steht jede Bezeichnung im Horizont des Wiederholungszwangs; daher ist die »Handlungsmöglichkeit« in der Möglichkeit anzusiedeln, diese Wiederholung zu variieren.“27, schreibt Butler in Das Unbehagen der Geschlechter. Weiter sieht sie die Möglichkeit der politischen Transformation, eine „Subversion der Identität“, überhaupt nur „innerhalb der
24Butler:
Kontingente Grundlagen, S. 46. zu einer performativen Theorie der Versammlung, S. 117. 26Ebd., S. 99. 27Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 213. 25Butler: Anmerkungen
7.2 Ausblick: Politiken der Befreiung
173
Verfahren repetitiver Bezeichnung.“28 Abgesehen von der Frage, ob politische Transformation tatsächlich so eng an die „Subversion von Identität“ geknüpft sein muss, was den Skopus der Wirksamkeit von Normen und deren Änderung sehr einschränken würde, beschreibt Butler hier ein Kritikpotential, das einen Anfang radikaler Widerständigkeit bildet, selbst aber noch nicht zur radikalen Neugestaltung von Normen beiträgt. Die Konstrukthaftigkeit einer Norm aufzuzeigen, kann zu einer Politik der Befreiung insofern beitragen, als dieses Aufzeigen bereits als erster Schritt gedeutet werden kann, eine repressive Norm aufzuweichen. Was nicht natürlich gegeben ist, kann verändert werden. Was hier als individualistische Möglichkeit transformativen Verhaltens erscheint, kann laut Butler aber auch in den frühen Schriften schon nur im Zwischenspiel mit Anderen gelingen. Die subversive parodistische Wiederholung von Normen kann ihr kritisches Potential nur entfalten, wenn sie auch tatsächlich für andere erscheint und als solche Kritik aufgefasst werden kann. Zwischen Bühne und Publikum entsteht überhaupt erst die kritische Sprengkraft des subversiven Akts. Dass die Parodie der Norm beziehungsweise eine subversive Wiederholung von Normen Teil dessen ist, was als Politik der Befreiung bezeichnet werden kann, ist sicherlich unstrittig. Inwiefern sie aber auch als radikal widerständige Befreiungspraxis von prekarisierenden Verhältnissen wirksam werden kann, bleibt in Butlers Kontext offen. Der Übergang von Kritik zu Widerstand ist fließend. Kollektive widerständige Praxis, wie Butler sie in den Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung beschreibt, ist jedenfalls nicht unbedingt an eine aktive Handlung im handlungstheoretischen Sinne gebunden. Sie erfordert kein klares Motiv verbunden mit einer geäußerten Handlung, sondern kann auch darin bestehen, „gegen die Kräfte“ zu beharren, „die seine [des Körpers] Schwächung oder Auslöschung anstreben.“29 Politiken der Befreiung gehen also nicht in Handlungen auf, die eindeutig als solche zu identifizieren sind und zwangsläufig in der Öffentlichkeit erscheinen, sondern beinhalten auch passivierte Formen der Umgangsweisen mit Körpern. Die Konsequenzen aus einem Verständnis von Befreiung basierend auf dem Nichts, für Politiken der Befreiung, wie es hier als Folge einer Theorie sozialer Subjektivierung umrissen wurde, widersprechen Butlers Verständnis widerständiger Praktiken in ihrem Kern nicht unbedingt. Die Befreiungsbewegungen des Subjekts, die durch eine nicht-dialektische Negativität bestimmt werden, lassen sich ebenfalls zwischen Kritik und Widerstand abstufen, können als subversive Wiederholungen von Normen erscheinen, die eine Normverschiebung zur Folge haben und sind vor allem ausschließlich als kollektive Praxis erfolgreich. Sie erfordern stets, wie Butler es beschreibt, Anerkennung und Gesehenwerden durch Andere. Die Grundlage der Befreiung ist sozial, weil das Nichts sozial konstituiert ist – also ist auch Befreiung selbst nur sozial zu verstehen. Da
28Ebd. 29Butler: Anmerkungen
zu einer performativen Theorie der Versammlung, S. 113 (meine Anm.).
7 Das Nichts: Möglichkeiten und Grenzen einer Befreiung
174
sich die Wirkungsweisen des einzelnen Subjekts auf sein Umfeld nicht allein in Handlungen erschöpfen, sind auch Politiken der Befreiung für Butler und für das hier daraus abgeleitete Verständnis von Befreiung nicht ausschließlich in widerständigen Handlungen zu finden. Transformationsprozesse können von Subjekten durch verschiedenste Haltungen und Tätigkeiten vorangetrieben werden, die nicht alle bewusst reflektiert und intendiert sein müssen, um als Praktiken der Befreiung erkannt zu werden und erfolgreich zu sein. Vielmehr besteht in jeder transformativen Praxis selbst konstitutiv eine Enteignung, die notwendig zur Folge hat, sein eigenes Handeln oder Verhalten oder Erscheinen nicht vollständig begreifen und absehen zu können. Butler beschreibt dies in den Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung: […] wir werden für andere erreichbar, deren Perspektive wir weder vollständig antizipieren noch kontrollieren können. In diesem Sinne bin ich als Körper nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie, für mich, sondern ich finde mich, sofern ich mich überhaupt finde, durch die Perspektive anderer konstituiert und enteignet.30
In einer anderen Form wurde diese konstitutive Enteignung schon in Butlers Theorie sozialer Subjektivierung in Psyche der Macht beschrieben. In der Art, wie das Subjekt zu sich selbst wird, ist ein Moment konstitutiver Enteignung vorhanden. In diesem späteren Text aber bezieht Butler diese Enteignung konkret auf die politische Praxis der Subjekte. Dieser Gedanke folgt auch aus der Vorstellung von Befreiung im Lichte des Nichts. Jene nicht-dialektische Negativität, deren eine mögliche Erscheinungsform gerade in dieser Selbstentzogenheit der Reflexivität, aber auch in der körperlichen Erscheinungsform des politischen Subjekts liegt, begründet Befreiungspraktiken notwendig als Praktiken, deren gegenwärtige und zukünftige Konsequenzen von allen Beteiligten niemals vollständig intendiert und absehbar sein können. Politiken der Befreiung sind also aufgrund des Nichts durch eine Komponente der Unberechenbarkeit gekennzeichnet, die ebenso wie sie das Subjekt bestimmt, auch dessen Befreiungspraxis ausmacht. So kann mit Martin Saar gesagt werden, dass Butler eine Reflexivität des Subjekts beschreibt, in der die normierende Praxis, die jene Reflexivität hervorbringt, niemals ganz ihre Ziele verwirklichen kann, weil sich das Subjekt dieses Zugriffs auch immer zu einem Teil konstitutiv entzieht. Dies beinhaltet „die Idee, dass jede identifizierende Praxis auch ein Moment der Abweichung, Verschiebung und Subversion enthält, das die gebildeten Bedeutungen und Identitäten anfällig oder brüchig macht.“31 Was Butlers Auseinandersetzungen mit sozialer Subjektivierung und politischen Transformationsmöglichkeiten des Subjekts jedoch nicht konkretisieren, ist die Frage, wie das Subjekt zu seiner kritischen Haltung kommt. Gerade in den späteren Schriften scheint es immer wieder so, als würde Butler die Widerständigkeit
30Ebd.,
S. 104.
31Saar: Analytik
der Subjektivierung, S. 25.
7.2 Ausblick: Politiken der Befreiung
175
prekarisierter Lebensformen einfach voraussetzen. Nicht aber geht sie auf die Frage ein, wie es dazu kommt, und aufgrund welcher Ressourcen prekarisierte Leben überhaupt zu einer kritischen Distanz und somit zu subversiver Praxis übergehen können. Wieso sollte sich das Subjekt in befreienden Praktiken gegen sich wenden wollen? Viel besser könnte man vor dem Hintergrund ihrer Theorie sozialer Subjektivierung erklären, wie Subjekte im gegebenen Herrschaftssystem dazu neigen, an ihrer eigenen Unterdrückung mitzuwirken, als sie zu transzendieren. Für diesen Weg ließen sich weitaus mehr Argumente finden, als für die vermeintlich intrinsische Widerständigkeit prekarisierten Lebens. Für Butler bezieht das Subjekt seine Widerständigkeit unmittelbar aus seiner Verletzbarkeit und Selbstentzogenheit. Demgegenüber kann mit dem Einbezug der Idee des nichtdialektischen Nichts, das das Werden des Subjekts von Beginn an mitbestimmt, genau jene Relation zwischen Verletzlichkeit beziehungsweise der grundlegenden Angewiesenheit auf Andere und den damit verbundenen Risiken, diese Abhängigkeitsrelation auszubeuten, und Befreiungspraktiken erhellt werden. Das Nichts beschreibt die Möglichkeitsbedingung für Befreiungsbewegungen. Diese stützt sich auf die Beziehung zu Anderen und damit auf einen Teil des Selbstverständnisses, das für das Subjekt immer absolut unbestimmt bleibt. Diese Relation kann vor dem Hintergrund des hier dargelegten Arguments allerdings nur als Möglichkeitsbeziehung verstanden werden, während Butler in der Prekarisierung von Lebensformen und der Verletzlichkeit der Subjekte scheinbar eine Notwendigkeit der Widerständigkeit annimmt. Aus dem Nichts, mithin der sozialen Subjektivierung folgt nicht automatisch ein widerständiges Subjekt. Eine kritische Haltung und in weiterer Folge Transformationsprozesse ergeben sich nicht zwangsläufig aus einer prekarisierten und damit besonders verletzlichen Lebensform. Was Butler vorschwebt, wenn sie von widerständigen Praktiken (im Gegensatz zur parodistischen Kritik) spricht, fassen die folgenden Aussagen gut zusammen: Ich denke, wenn das Unwirkliche Anspruch erhebt auf Realität […], kann etwas anderes und wird etwas anderes geschehen als eine einfache Anpassung an vorherrschenden Normen. Die Normen selbst können erschüttert werden, können ihre Instabilität zeigen und können der Umdeutung zugänglich werden.32
Weiter heißt es: Das verkörperte Verhältnis zur Norm verfügt über ein transformatives Potential. Möglichkeiten jenseits der Norm oder sogar eine andere Zukunft für die Norm selbst zu postulieren ist Teil der Phantasietätigkeit, wenn wir Phantasie so verstehen, dass sie den Körper zum Ausgangspunkt für eine Artikulation nimmt, die nicht immer vom Körper beschränkt ist, so wie er nun einmal ist.33
32Butler: 33Ebd.,
Macht der Geschlechternormen, S. 51 (meine Hervorh.). S. 52 (meine Hervorh.).
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Tätigkeiten oder Vollzüge der Befreiung liegen für Butler vor allem darin, die Zeichenstruktur der Norm zu verändern, also ihre Erscheinungsform. Normen erschüttern, ihre Instabilität zeigen, für Umdeutung zugänglich machen, eine andere Norm postulieren und artikulieren – dies alles sind Sprechakte, die sich innerhalb der gegebenen Diskurse bewegen und aus ihnen heraus deren Verlauf beeinflussen wollen. Politiken der Befreiung vollziehen sich in diesem Sinne ausschließlich diskursiv, wobei der Körper explizit ein Medium dieses Raums an diskursiven Zeichen darstellt und somit auch Gegenstand und Movens von Veränderung dieser Zeichenstruktur von Normen ist. Parodistische Kritik stellt in diesem Zusammenhang einen Anfang dieser Subversion von Normen dar. Aber die tatsächliche Umdeutung von Normen ist auf eine kollektive Größe auf der Seite der Kritisierenden angewiesen, die wiederum in deren Zusammenwirken tatsächlich verschobene Normstrukturen lebbar machen, wie es etwa in Subkulturen geschieht. Hier deutet sich der häufig gemachte und von Adamczak als „Sing ularitätszentriertheit“34 bezeichnete Vorwurf an, dass Butlers Theorie der Subjektivierung trotz der sozialen Konstituiertheit des Subjekts eine individualistische Perspektive auf Befreiungspraktiken nicht ganz überwinden zu können scheint. Lassen sich diese skizzierten Formen kritischer Haltungen und subversiver Widerständigkeit, die aus Butlers Denken von Subjektivierung folgen, auch im Kontext radikaler Transformationsprozesse fruchtbar machen? Wie kann subversive Wiederholung und Kritik tatsächlich eine radikale Transformation politischer und normativer Ordnungssysteme bewirken? Hierauf findet sich bei Butler keine abschließende Antwort. Dass diese Antwort ausbleibt, scheint einerseits damit zusammenzuhängen, dass sie explizit keine Denkerin revolutionärer Bewegungen ist und andererseits darauf zurückzugehen, dass sie gesellschaftliche Befreiungsbewegungen allein aus der Perspektive auf das einzelne Subjekt zu denken scheint. Meine These ist auch, dass sie die theoretischen Schlüsse aus ihrer Subjektivierungstheorie, deren bestimmendes Element jene nicht-dialektische Dimension der Negativität ist, nicht bis zu letzter Konsequenz zieht. Hanna Meißners in ihrem Überblickband zu Butler formulierte Kritik ist daher nicht von der Hand zu weisen: Butlers Konzeption von Politik und Widerständigkeit als Praxis der Öffnung von Normen wirft das Problem auf, dass kritische Resignifikation und die Flexibilisierung von Identitätskategorien, isoliert betrachtet, gesellschaftliche Hierarchisierungen höchstens verschieben, nicht aber überwinden können.35
Allein aus der Idee der Umdeutung von Normen lässt sich nicht erklären, wie sich Herrschaftsverhältnisse radikal transformieren lassen. Die Umdeutung einer Norm bleibt auf den hegemonialen Kontext verwiesen und zeigt kein Moment der Überschreitung desselben auf. Damit soll deren Errungenschaft und Wert
34Adamczak: 35Meißner:
Beziehungsweise Revolution, S. 250. Butler, S. 106.
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für die Transformation unterdrückender Herrschaftsverhältnisse nicht herabgesetzt werden. Doch hierin allein, so wie Butler diese Widerstandsformen denkt, kann keine radikale Befreiungspraxis liegen. Diese Widerstandsformen bringen keine fundamental neuen Subjektivierungen hervor. Wird Befreiung aber vor dem Hintergrund einer doppelten Negativität gedacht, dem Zusammenwirken von dialektischer Negativität und Nichts, werden Widerstandsformen denkbar, die tatsächlich etwas Neues hervorbringen, ohne diejenigen Herrschaftsstrukturen zu perpetuieren, von denen sie sich absetzen. Zwar werden zwangsläufig neue Abhängigkeitsrelationen geschaffen, die nicht unbedingt herrschaftsfrei bleiben, aber Praktiken der Befreiung, so die hier vertretene These, können unter Umständen tatsächlich eine radikale Transformation von Regelsystemen bewirken, ohne die alten nur zu wiederholen. Politiken beziehungsweise Praktiken der Befreiung, wie sie aus der doppelten Negativität folgen, können also im Gegensatz zu Butlers Beschreibungen der Subversion mitunter größere Sprengkraft aufweisen als eine bloße Verschiebung nahelegt, die nie wirklich mit alten Herrschaftsverhältnissen brechen kann. Die Tätigkeiten und Vollzüge der Befreiung bleiben auf der subjektiven Ebene womöglich die gleichen, wie Butler sie vorstellt: Postulieren, Artikulieren, Erschüttern, Aufzeigen, Zulassen. Sie lassen sich nur kollektiv vollziehen und bringen in ihrer zwangsläufigen Wiederholung und Verwiesenheit auf das Gegebene aufgrund des Nichts eine absolute Distanz zu diesem Gegebenen zum Vorschein, die Raum für ganz neue Resignifikation bietet. Weil sich damit Beziehungsweisen verändern lassen, wie sie Adamczak in Beziehungsweise Revolution im Blick hat, kann diese Dimension von Befreiungspraxis Teil einer solchen Befreiungsbewegung werden, die tatsächlich gesellschaftliche Verhältnisse und politische Regierungstechniken aufzubrechen vermag. „Beziehungen verbinden, trennen und weisen Positionen zu,“36 so Adamczak. Und weil Subjekte in ihrer Reflexivität durch solche Beziehungen hervorgebracht werden sowie zu diesen Verbindungen, Trennungen und Positionszuweisungen Stellung beziehen, haben sie Teil an der Praxis der Beziehungsweisen. Eine Transformation repressiver gesellschaftlicher Verhältnisse kann jedoch nur – anders als es Butlers Perspektive nahezulegen scheint – durch ein Zusammenspiel der Herstellung von Beziehungen gelingen und hiervon ausgehend radikal neue Verhältnisse etablieren.
7.2.2 Queere Befreiungspraxis Was könnte eine Politik der Befreiung auszeichnen, die aus dem konstitutiven Nichts als Möglichkeitsbedingung für radikale Transformationsprozesse folgt? In Auseinandersetzung mit Butler wurde deutlich, dass Praktiken der Befreiung notwendig geteilte kollektive Praktiken sind. Politiken der Befreiung gehen
36Adamczak:
Beziehungsweise Revolution, S. 253.
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aus kollektiven Befreiungspraktiken hervor und unterscheiden sich ihrer Form nach von kollektiven Praktiken einer gewissen Lebensführung und Etablierung von Beziehungsweisen dadurch, dass sie in einer Regulierung des Zusammenlebens bestehen. Der Ausdruck ‚Politiken der Befreiung‘ lässt sich hinsichtlich zweier Dimensionen unterscheiden: Erstens bezeichnet er Befreiungspraktiken, die politischen Charakter haben, weil sie politische Regulationsmechanismen in Frage stellen. Die Schilderung der Aktivistin und Schriftstellerin Audre Lorde ihres Lebens in der lesbischen Subkultur der fünfziger und sechziger Jahre in New York in ihrer Biographie Zami37 lässt sich beispielsweise als eine kollektive Praxis der Befreiung beschreiben, die in der Etablierung neue Beziehungsweisen bestand. Indem ein Ausleben lesbischer Lebensformen im Kontext eines politischen Apparats, der solche Lebensformen zu unterdrücken suchte, durch das Zusammenwirken und Solidarisieren einer ganzen Gruppe von Menschen ermöglicht wurde, wurden eben jene politischen Regulationsmechanismen in Frage gestellt. Indem sie bestimmte Formen des Lebens gegenüber anderen priorisieren, erweisen sich diese dann als undemokratisch und fehlgehend, wenn sich innerhalb der Gesellschaft vermittels kollektiver Unterstützung Lebensräume und -praktiken entwickeln, die sich bis zu einem gewissen Grad der politischen Regulation entziehen und dieser gegenüber durch ihre Existenz ihre Daseinsberechtigung behaupten. Diese Praxis der Befreiung bezieht sich jedoch auf ein partikulares Interesse an der Hervorbringung neuer Verhältnisse, die so auch neue Beziehungsweisen ermöglichen. Sie beschreibt zwangsläufig nicht eine Abschaffung jedweder Unterdrückungsverhältnisse. Zweitens wird mit ‚Politiken der Befreiung‘ das bezeichnet, was sich im engen Sinne als Politik beschreiben lässt, nämlich solche Formen politischer Regulierungstechniken der Beziehungs- und Lebensweisen der Menschen, die eine Selbstorganisation und Selbstbestimmung der Gesellschaft und deren Individuen ermöglichen oder verhindern können. Auch politische Regulierungsmaßnahmen können darauf zielen, die Subjektivierungsprozesse derjenigen, auf die sie zielen, so zu gestalten, dass sie möglichst vielfältige Selbstbezugnahmen erlauben und das vielfältige Bestreben der Subjekte im gesellschaftlichen Zusammenleben aufgreifen. Solche Regulierungsformen gehen aber notwendig – sollen sie als Politiken der Befreiung verstanden werden – aus einer kollektiven Selbstformierung hervor, die vermittels der nicht-dialektischen Negativität im Subjektivierungsprozess und im Verhältnis zwischen Menschen überhaupt erst in seiner Selbstorganisierung ermöglicht wird. Die beiden Dimensionen einer ‚Politik der Befreiung‘ bedingen sich also gegenseitig. Die Wirkung transformativer Bewegungen kann sich daher erst im Beziehungsgeflecht mit anderen entfalten. Das radikal transformative Interesse entsteht erst durch die Beziehung zum Anderen, die im Begehren des Anderen ihren Anfang nimmt. Wird die Kollektivität der eigenen Entstehungsgeschichte und des eigenen Selbst nicht anerkannt, läuft die Befreiungsbewegung Gefahr,
37Vgl.
Lorde: Zami. Eine Mythobiographie.
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jenen ersten Weg einzuschlagen, der unter Abschnitt 7.1.1 geschildert wurde. Diesen Weg zu nehmen bedeutet, sich gegen Sozialität im Allgemeinen zu wenden, während gelingende Befreiung sich nur gegen bestimmte Organisationsformen des Sozialen wenden kann. Das Soziale spielt für Politiken der Befreiung folglich eine konstitutive Rolle in zweierlei Hinsicht: Der Transformationsprozess nimmt notwendig schon im Beginn seinen Anfang im Sozialen, weil diejenigen, die ihn vorantreiben, sozial konstituiert sind und aufgrund dessen auch in ihrer epistemischen und materiellen Praxis auf das Kollektiv angewiesen sind. Und das Gelingen des Transformationsprozesses hängt – daraus folgend – von der Art ab, wie er die Kollektivität dieses Prozesses einbindet. Vor dem Hintergrund einer Butlerschen Perspektive sind Politiken der Befreiung im Wesentlichen an Prozessen orientiert, die sich vor allem diskursiv und normativ beschreiben lassen. Radikal transformative Bewegungen auf der Basis eines Verständnisses nicht-dialektischer Negativität im Subjektivierungsprozess zielen auf die Änderung von Ordnungen, Strukturen und Verhältnissen, materielle wie immaterielle, die diskursiv verfasst sind. Resignifizieren, umdeuten, kritisieren, Normen erschüttern, andere Normen artikulieren und postulieren, indem neue Verbindungen hergestellt und andere getrennt werden – dies alles sind diskursive Praktiken, die nicht unbedingt nur im Medium der gesprochenen oder geschriebenen Sprache funktionieren. Körperliche, materielle Gegebenheiten können ebenso diskursiv beschrieben und umstrukturiert werden. Das Nichts lässt ein Verständnis dessen entstehen, was es heißen kann, die absolute Selbstdistanz des Subjekts nutzbar zu machen, um Formen von Regelsystemen zu transformieren. In seinem Aufsatz Kraft und Bedeutung beschreibt Derrida die Rolle eines Nichts für Befreiungsprozesse: „Einzig und allein die reine Abwesenheit – nicht jedoch die Abwesenheit von diesem oder jenem – kann inspirieren, anders ausgedrückt, kann wirken und zur Arbeit zwingen.“38 Während Derrida die „reine Abwesenheit“ in der Funktionsweise der Bedeutungsstruktur im Allgemeinen ausfindig macht, lässt sie sich in diesem Kontext, wie schon in Teil II aufgeworfen wurde, auf das Nichts beziehen, wie es im Laufe der Argumentation dieser Arbeit thematisiert wurde: Als reine Abwesenheit der Bedingungen des eigenen Werdens, die eigentlich vom Begehren des Anderen her kommt, insofern also selbst sozial konstituiert ist, in der eigenen Subjektivierungsgeschichte und im Reflexionsprozess permanent als pure Abwesenheit, als absolutes Nichts erscheint. Diese Abwesenheit ermöglicht dem Subjekt einen radikaleren Zugriff auf die diskursiven Strukturen, die sein materielles und immaterielles Leben organisieren. Indem diese nicht-dialektische Negativität aus der Relationalität zwischen Subjekten entsteht und so erklärbar macht, wie sich die Ordnungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens jedem Regulationsmechanismus in Teilen notwendig entzieht, lässt sich hierhin eine Möglichkeitsbedingung auch für Politiken der Befreiung sehen. Eine solche könnte darin
38Derrida:
Die Schrift und die Differenz, S. 17.
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bestehen, den konstitutiven Fehlgriff normativer und politischer Regulationen als Raum für das Etablieren neuer Beziehungsweisen zu nutzen und so eine Selbstorganisierung des Zusammenlebens von Subjekten zu ermöglichen. Durch eine Adaption von Normen in anderen Kontexten,39 durch das Arbeiten an der eigenen und kollektiv organisierten Praxis und durch das Schaffen von neuen Zusammenhängen kann – bedingt durch den Kontext des Sozialen, der niemals überschritten werden kann – eine radikal neue Ordnung entstehen. Diese Form der ‚Umdeutung‘ von Normen impliziert nicht nur neue Benennungen, sondern damit verbunden auch die Hervorbringung neuer Praktiken und Beziehungsweisen. Ein Etablieren neuer Beziehungsweisen kann nur durch eine „beharrliche Praxis der Übung“ gelingen, wie es Daniel Loick in seinem Aufsatz Gegenhegemoniale Gewöhnung mit Bezug auf Menke formuliert.40 Für eine Veränderung der Subjektivierungsweisen, also der Prozessualität des Subjekts, die auch als ‚zweite Natur‘ beschrieben werden kann, bedarf es einer „gegenhegemonialen »Gewöhnung«“41, so Loick. Meine These ist, dass diese gegenhegemoniale Gewöhnung durch die Verbindung zweier Prozessualitäten ermöglicht wird, deren Kern in ihren jeweiligen Negativitäten liegt. Damit ist aber auch die Form und Richtung einer Arbeit an neuen Beziehungs- und Subjektivierungsweisen vorgezeichnet. Oder umgekehrt: Es werden explizit solche Praktiken als Praktiken der ‚Gegengewöhnung‘ undenkbar, die die Doppelbödigkeit des Subjektivierungsprozesses unterminieren. Demgegenüber greift der Begriff einer queeren Politik eben das auf, was diese komplizierte Subjektivierungsform abbildet. Loick beschreibt diese als „transgressive Praktiken“, die nicht nur darauf zielen, „als legitime Lebensweisen im Rahmen eines liberalen Pluralismus anerkannt zu werden, sondern die regulierenden und normalisierenden Normen des Liberalismus grundsätzlich in Frage [zu stellen].“42 Queere Praktiken konstituieren sich gerade dadurch, sich einer Festschreibung und damit einer Normalisierung zu entziehen. Sie öffnen daher den Raum des Möglichen auf maximale Weise. Politiken der Befreiung sind vor dem Hintergrund des Nichts keineswegs aufgrund ihrer konstitutiven absoluten Negativität per se als Politiken der Auslöschung zu verstehen. Das Nichts gilt darin nicht als Ziel der Transformationsbewegung, sondern als eines ihrer Instrumente. Weil das Nichts hier als konstitutiv für Befreiungspraxis gesehen wird, ist die radikale Transformation, die aus ihr entstehen kann, keine, die an einem absolut Guten als Telos orientiert sein kann.
39Siehe hierzu auch Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, S. 335. Allerdings muss Derridas Beschreibung der Subversion von Bedeutung in diesem Kontext beigefügt werden, wie sich hieraus auch praktische Konsequenzen ergeben. Die Veränderung von sprachlichen Bedeutungen ist darin nur ein Teil, der auf das Funktionieren von Praktiken und Verbindungen zwischen Subjekten übertragen werden muss. 40Vgl. Loick: Gegenhegemoniale Gewöhnung, S. 311–328. 41Ebd., S. 326. 42Ebd., S. 327.
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Ausgangspunkt ist das Abrücken und das Distanzieren von Herrschaftsmechanismen, deren Ziel einzig sein kann, diese bestimmten Mechanismen im Sinne eines Besseren zu transformieren, ohne einen neuen Zustand im Lichte des Guten zu antizipieren. Lee Edelman attestiert einer solchen Politik, die sich an der Zukunft eines zuvor definierten Guten orientiert, sogar, die Herrschaftsstruktur der sozialen Ordnung zwangsläufig zu affirmieren und in die Zukunft zu überführen.43 Weil Politiken im Zeichen des „Futurismus“, wie Edelman diese politische Haltung nennt, die auf das „Gute“ gerichtet ist, sich in ihrem Grunde mit der Ordnung des herrschenden Systems verschwistern und ihre Zukunftsideen aus diesem beziehen, sind sie niemals in der Lage, diese radikal zu transformieren. Demgegenüber fußen Politiken der Befreiung vor dem Hintergrund der nicht-dialektischen Spur in der Subjektivierung und deren Befreiungsmöglichkeiten auf der Unberechenbarkeit dessen, was die Richtung der Befreiungsbewegung ist. Indem sie sich absolut von der bestehenden Ordnung lossagen, begeben sie sich auf einen unberechenbaren Weg, aber stellen die herrschende Ordnung damit ganz anders in Frage, als unmittelbar ein Telos zu formulieren. Hingegen schlägt Edelman auch eine Politik der „Queerness“ vor, die von vornherein die bestehende Ordnung verneint.44 Wenn Queerness, so wie Lee Edelman sie versteht, der Name für das ist, was sich der Ordnung konstitutiv entzieht, dann lässt sich eine radikal transformative Praxis der Befreiung vermittels des Nichts als eben solche queere Praxis bezeichnen. Queere Befreiungspraxis bedeutete dann, das eigene Selbstverhältnis und damit auch das Verhältnis der Subjekte untereinander von einem Nicht-Ort der Ordnung her zu konzipieren und zu leben. Dieser Nicht-Ort der Ordnung wohnt jedem Prozess der Subjektivierung inne und birgt die Möglichkeit, von ihm aus auch eine radikal transformative Politik der Befreiung zu praktizieren. Dieses Queere kann dann nicht darin bestehen, das, was sich jeder politischen Regulation entzieht, für neoliberale Selbstverwirklichungsstrategien zu nutzen. Und so lautet auch ein gängiger Vorwurf gegen das Leben queerer Geschlechtsidentitäten:45 Hierin würde die neoliberal kapitalistische Behauptung verfestigt, die Einzelne könne alles sein und erreichen, was sie nur wolle. Identitäten, auch geschlechtliche, würden so zum Kampfplatz von Interessenskonflikten und ähnelten einer konsumorientierten Aneignung. Queere Politiken, wie sie vor dem Hintergrund nicht-dialektischer Negativität im Werdensprozess gezeichnet werden könnten, lägen demgegenüber vielmehr in der Anerkennung und Ermöglichung des Queeren, das sich der neoliberalen Flexibilisierungsideologie entzieht und sagt: ‚Ich bin nirgends und wenn ich irgendwo sein werde, wird es ein anderes nirgends geben.‘ Zum Beispiel lässt sich die politische Entscheidung, ein drittes Geschlecht aufzunehmen, nicht als eine solche queere Politik deuten.
43Vgl.
Edelman: No Future, S. 3 f. ebd., S. 5. 45Der Ausdruck ‚queere Geschlechtsidentität‘ ist eigentlich ein Oxymoron. Genaugenommen besteht das queere Praktizieren des Körpers ja darin, dem Festlegen einer Geschlechtsidentität zu entgehen. 44Vgl.
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Sie versucht zwar, einer Vielfalt an Geschlecht Rechnung zu tragen, behält aber die Vorstellung einer (Geschlechts-)identität als notwendiges, auch politisches, Instrument bei. Wenn Butler fragt: „Gibt es eine Möglichkeit, anderswo oder anders zu sein, ohne unsere Komplizenschaft mit dem Gesetz zu leugnen, gegen das wir uns wenden?“,46 scheint auch sie in ihrer Antwort nahezulegen, dass es bei einer Befreiungspolitik vor allem darum geht, das nutzbar zu machen, was sich im Subjektivierungsprozess entzieht: Eine solche Möglichkeit würde eine andere Art von Wendung erfordern, eine Wendung, die, durch das Gesetz ermöglicht, eine Abwendung von Gesetz ist und den Identitätsverlockungen widersteht, eine Handlungsfähigkeit gegen und über ihre eigenen Entstehungsbedingungen hinaus. Eine solche Wendung erfordert die Bereitschaft, nicht zu sein – eine kritische Desubjektivation […].47
Konsequenter wäre also, die Einteilung in Geschlechter zum Zwecke der Identitätskonstruktion im Allgemeinen in Frage zu stellen und die Angabe, welchen Geschlechts man sei, überall da überflüssig zu machen, wo sie de facto überflüssig ist. Paul B. Preciados Kontrasexuelles Manifest gibt eine Vorstellung davon, wie solche queeren Praktiken aussehen können. Diese Vorstellung entspricht einer ‚Desubjektivation‘, wie sie Butler beschreibt, ebenso wie der Bereitschaft, sich einem Guten in der Zukunft als Orientierungspunkt zu entsagen. Die von Preciado vorgeschlagenen Übungen beschreiben, was es bedeuten könnte, sich in einem Nicht-Ort der Ordnung einzurichten und von dort aus neue Beziehungsweisen, neue Subjektivierungsformen, neue Kollektivitäten und nicht zuletzt neue Körper hervorzubringen. Preciado schreibt: „Kontra-Sexualität spricht nicht von einer kommenden Welt; stattdessen folgt sie den Spuren, die das Ende eines Körpers anzeigen, wie es durch die Moderne definiert wurde.“48 Und weiter heißt es: „Es ist Aufgabe der Kontra-Sexualität, fehlerhafte Räume aufzufinden, Beispiele für das Scheitern von Textstrukturen […] und damit die Macht der Abweichungen, der Abschweifungen vom heterozentristischen System zu verstärken.“49 Befreiung liegt dann in einer nachträglichen Aneignung dessen, was man durch das Andere geworden ist. Diese Aneignung kann in einem Verlernen, Entsagen oder Ablehnen, dem Einstudieren anderer Praktiken liegen. In der Art der Bezugnahme auf sich als Anderes ist das Subjekt vermittels des Nichts frei. Dies ist, was queere Politik sich anzueignen versucht. Sie bedeutet nicht, zu sein oder werden zu können, was man will, aber sie bedeutet, sich seine Geschichte zu eigen zu machen und sich einer gewissen Ordnung zu entziehen, ohne zu wissen, was daraus wird. Diese Aneignung ist nur mithilfe eines sozialen Kontextes möglich und ist daher niemals nur ein individuelles Projekt.
46Butler:
Psyche der Macht, S. 122 (meine Hervorh.). 48Paul B. Preciado: Kontrasexuelles Manifest, S. 12 f. 49Ebd., S. 15. 47Ebd.
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In der gleichen Weise wie individuelle und kollektive Befreiungspraktiken in ihrem Gelingen von ihrer Durchschlagskraft auf politische Regulationsmechanismen abhängen, die die materiellen und sozialen Verhältnisse des Zusammenlebens regeln, sind die Formen dieser Politik Resultat der etablierten Praktiken des kollektiven Zusammenlebens. Beide Dimensionen einer Politik der Befreiung – einmal die Befreiungspraxis von Individuen, jene „kritische Desubjektivation“, die durch das Nichts ermöglicht wird, und zum Zweiten das gesellschaftliche Zusammenwirken solcher ‚desubjektivierten Subjekte‘, die auch politische Mechanismen50 zwingen, diese Beziehungsweisen in der Gesellschaft angemessen zu organisieren – bleiben aufeinander bezogen und lassen sich nicht unabhängig voneinander als gesellschaftliche Transformation betrachten. „Das Unheil liegt in den Verhältnissen, welche die Menschen zur Ohnmacht und Apathie verdammen und doch von ihnen zu ändern wären“51 – so stellt Adorno in der Negativen Dialektik diese konstitutive Verbindung einer Emanzipation von Herrschaftsverhältnissen mit den beiden Dimensionen einer Politik der Befreiung dar. Die nicht-dialektische Negativität des Nichts zeigt die Lücke im Prozess der Subjektivierung sowie im Werden gesellschaftlicher Organisation und im Verhältnis gesellschaftlichen Zusammenlebens mit ihrer politischen Form auf. Sie tritt immer dann hervor, wenn Menschen, Lebensformen oder Momente der Beziehungsweisen unter Menschen verschwinden oder zum Verschwinden gebracht werden. Das, was sich im dialektischen Werden entzieht, kann dann als Möglichkeit erscheinen, jene „Ohnmacht und Apathie“ aufzubrechen, von der Adorno spricht. Neue Formen des subjektiven und gesellschaftlichen Werdens – mit und gegen die bereits etablierten Herrschaftsverhältnisse – versprechen so, nicht für immer nur eine Möglichkeit zu bleiben.
50Daniel
Loick legt z. B. in seinem Buch Juridismus dar, wie die politische Sphäre an einer Vielfalt politischer Regierungstechniken krankt und ausschließlich das Instrument des Gesetzes kennt, um gesellschaftliches Zusammenleben zu organisieren. Eine Politik der Befreiung würde vor diesem Hintergrund auch darin bestehen, die Verhältnisse der Subjekte untereinander mit vielfältigeren und damit in manchen Hinsichten auch angemesseneren Mitteln zu organisieren. 51Adorno: Negative Dialektik, S. 191.
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