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German Pages 332 Year 2022
Simone Jung Debattenkulturen im Wandel
DebattenKulturen | Band 1
Editorial Debattenkulturen sind ein zentrales Merkmal moderner Gesellschaften, die in der »globalen Moderne« eine neue politische Dimension erreichen. Der umfassende Medienwandel im Rahmen der Digitalisierung und modifizierte Formen von Kulturkonflikten stellen die Frage neu: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wer gehört dazu und wer nicht? Vor diesem Hintergrund widmet sich die Reihe »DebattenKulturen« den Bedingungen, Möglichkeitsräumen und Praktiken von Debatten in den Medien und den Populärkulturen, in der Wissenschaft, der Politik und der Kunst vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Ziel der Reihe ist die Zusammenführung von Untersuchungen, die sich einerseits mit den theoretischen und empirischen Fragestellungen sowie andererseits mit den historischen und aktuellen Transformationsprozessen von Debattenkulturen und ihren Praktiken der Kritik auseinandersetzen. Nicht zuletzt sollen normativ-ethische Perspektiven Eingang erhalten, die angesichts eines erstarkenden Rechtspopulismus und neuer Kulturkämpfe an Bedeutung gewinnen. Die interdisziplinär ausgerichtete Reihe versammelt Beiträge aus der Soziologie, der Philosophie, der Politikwissenschaft, der Literaturwissenschaft sowie auch der Medien- und Kulturwissenschaft.
Simone Jung (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Kulturwissenschaften der Leuphana Universität in Lüneburg und hat als Journalistin für verschiedene Printmedien gearbeitet (u.a. taz, Missy Magazine). Sie promovierte am Institut für Soziologie an der Universität Hamburg und lehrte an der Universität Graz, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Paderborn. Ihre Schwerpunkte in der Medien- und Kultursoziologie sind politische Theorie, Kulturen der Kritik und Öffentlichkeit sowie Transformationsprozesse von Hoch-, Pop- und Populärkulturen.
Simone Jung
Debattenkulturen im Wandel Zum Politischen im Feuilleton der Gegenwart
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5894-1 PDF-ISBN 978-3-8394-5894-5 https://doi.org/10.14361/9783839458945 ISSN: 2749-9391 eISSN: 2749-9405 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
1.
Einleitung........................................................................... 7
Das Feuilleton in der Theorie ...................................................... 37 Das Agonale: Antagonismus und Kontingenz, Antagonismen und Pluralität, Agonismus und demokratischer Streit............................................... 38 2.2 Das Hybride: Ästhetisierung und Literarisierung, Versammlung und Komposition, Popularisierung und Affizierung, Öffentlichkeit und Performanz ..... 61 2.3 Methodologie: Interdisziplinär-diskursanalytisches Verfahren, Vier-Dimensionen-Modell, Erhebungs- und Auswertungsstrategien ................... 82 2. 2.1
3. 3.1
Das Feuilleton in der Spätmoderne................................................. 97 Bürgerliche (Hoch-)Kultur und Massenkünste ........................................ 98 3.1.1 1920er und 30er Jahre: »Reklame! Reklame! Tempo! Tempo!« ............... 106 3.1.2 1950er und 60er Jahre: »Hyperzivilisation und Barbarei« ..................... 114 3.2 Popkultur und Grenzüberschreitung ................................................. 119 3.2.1 1970er und 80er Jahre: »Pop und nochmals Pop«............................. 119 3.2.2 1990er Jahre: »Wer hat Angst vorm Feuilleton?«............................. 125 3.2.3 2000er Jahre: »Klassisches populäres und wissenschaftliches Feuilleton« ... 132 3.3 Zusammenfassung: Kultur- und medienhistorische Einordnung des Feuilletons .......147 Das Feuilleton im 21. Jahrhundert: Exemplarische Gegenwartsanalysen .......... 153 Die Volksbühnendebatte: Der Streit um das Berliner Theater ........................ 153 4.1.1 Phase 1: Aktualisierung: »Event-Schuppen« ................................. 156 4.1.2 Phase 2: Politisierung: »Kollaborative Kulturlandschaft«..................... 168 4.1.3 Phase 3: Aushandlung: »Vielheit an Hochkulturen« ...........................179 4.1.4 Mediale Strategien und Kulturkonflikt ....................................... 189 4.2 Die Flüchtlingsdebatte: Die (Re-)Konstitution der Rechtsintellektuellen .............. 196 4.2.1 Phase 1: Aktualisierung: »Der letzte Deutsche« .............................. 199 4.2.2 Phase 2: Politisierung: »Nationalkonservative Bewegungen«................. 213 4.2.3 Phase 3: Aushandlung: »Unbedarftes Dahergerede« ......................... 224 4.2.4 Mediale Strategien und Kulturkonflikt ....................................... 235
4. 4.1
5. 5.1 5.2 5.3
Schlussfolgerungen............................................................... 245 Hybride Hochkulturen.............................................................. 246 Die Sozialfigur der (Medien-)Intellektuellen ......................................... 250 Debattenkulturen der Gegenwart ................................................... 261
6.
Ausblick .......................................................................... 273
7.
Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................ 277
Danksagung ............................................................................ 329
1. Einleitung
Mit der Hegemonie der bürgerlichen Kultur und einer zunehmenden Professionalisierung der Massenmedien bildet sich in der Moderne ein neues Medium aus, das bis heute Bestand hat: das Zeitungsfeuilleton, das sich vor allem im urbanen Raum europäischer Großstädte wie Berlin, Frankfurt, Paris, Prag, Warschau und Wien begründet. Als Erfindung der Metropole und der europäischen Moderne hat es im historischen Wandel unterschiedliche Formen durchlaufen: vom literarischen Feuilleton im 19. Jahrhundert über die soziologisch informierte Zeitdiagnostik zur Zeit der Weimarer Republik bis hin zum Historikerstreit in den 1980er Jahren und dem Debattenfeuilleton in der Spätmoderne. Blickt man zurück, lässt sich der Begründungsakt und davon ausgehend die Besonderheit sowie die medialästhetische Transformation des Zeitungsfeuilletons an einem Zitat von Jules Janin aus dem Jahr 1834 exemplarisch verdeutlichen.1 Der in Paris lebende Schriftsteller und Kritiker fragt in der französischen Zeitschrift Revue de Paris: »Verstehen Sie unter ›leichter‹ Literatur Texte, die aus einem Guss entstehen, denen Sie die Anstrengung nicht anmerken, in denen alle Elemente miteinander verwoben sind, in denen die Übergänge mühelos gelingen und wendig sind wie das Denken, in denen der Ausdruck natürlich, einfach und doch reich ist?« (Janin 1834) Bei dem Zitat handelt es sich um einen Ausschnitt aus einem ästhetischen Manifest der frühen Moderne zur zeitgenössischen Literatur mit dem Titel Manifeste de la jeune littérature. Janin plädiert hier für eine neue – »moderne« – Literatur: »Eine Literatur für alle Tage, eine fröhliche, uneitle Literatur, die aus dem Augenblick 1
Jule-Gabriel Janin (1804-1874) beginnt seine journalistische Karriere nach einer wissenschaftlichen Ausbildung im Jahr 1827 beim Pariser Figaro und tritt 1829 nach Stationen bei La Quotidienne und dem Massager des Chambres in die Redaktion des Journal des Débats ein, wo er ab 1830 Buch- und Theaterkritiker ist und damit eine der wichtigsten Machtpositionen im Pariser Literaturbetrieb inne hat. Zur Biographie und Werk vgl. Landrin 1978, Castex 1974. Die Übersetzung der Zitate aus dem Manifeste de la jeune littérature stammt von Hildegard Kernmayer (2007).
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entsteht, die wenig gelehrt und wenig belehrend ist, die wenig systematisch, dafür aber liebenswert« ist, »eine Literatur, die sich dem Jetzt hingibt, der Freude, der Traurigkeit, die allen Regungen, allen Leidenschaften ihres Herzens folgt« (Janin 1834). Folge sie dem Augenblick und dem Gefühl, so der Kritiker, sei ihr ideales Medium die Zeitung, an dem »der eben erst geborene Gedanke, die noch ungetrübte Freude, der noch tränenfeuchte Schmerz« sofort öffentlich werden könne, um alsbald wieder zu vergehen. In Abgrenzung zur rhetorischen Tradition der Aufklärungspublizistik, wie sie in den »objektiv-analytisch verfahrenden Gelehrten-Artikeln« (Kernmayer 2012a: 519) vor allem in den Intelligenzblättern und den Moralischen Wochenschriften vermittelt wird (vgl. Wilke 2000: 123), zeigt Janin nach den Ereignissen der Französischen Revolution und dem bis 1814 bestehenden Kaiserreich eine alternative Form von Literatur und Kritik auf, die von Sinnier- und Empfindungsweisen und einer radikalen Subjektivität geprägt ist.2 Der Buch- und Theaterkritiker der französischen Tageszeitung Journal des Débats, der in der Feuilletonforschung auch als der eigentliche Begründer der Feuilletonistik geführt wird (Eckstein 1876: 9, Dovifat/Wilke 1976: 80, Kernmayer 2012a: 516), betont in seinem umfangreichen Essay die subjektive Authentizität des Individuums sowie die Möglichkeit der Imagination durch ästhetische Wahrnehmung, die sich im literarischen Schreiben vermittelt. Die Auffassung begründet sich vor dem Horizont der Romantik, die als Gegenkultur zur von Vernunft und Moral geprägten Aufklärung das ästhetische Spiel und subjektive Erleben in den Vordergrund stellt, wenn es um die Autonomisierung des modernen Subjekts geht.3 Mit dem Aufkommen der Massenpresse und der fortschreitenden Emanzipation eines bürgerlichen Lesepublikums entsteht in Frankreich eine neue Form der Kritik, die auch Spuren im deutschen Feuilleton überregionaler Tagesund Wochenzeitungen hinterlässt: die Feuilletonistik, die weniger moralisch und zweckrational vorgeht und mehr die Leichtigkeit und Zugänglichkeit als erzähle-
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Zur Sparte des ›Gelehrten-Artikel‹ in der Zeitung als Vorläufer des Kulturteils und Sammelbecken für wissenschaftliche und gesellschaftliche Berichte sowie für Beiträge aus Kunst und Literatur vgl. Jessen/Meunier 1931: 19, Wilke 2000: 87, Meier 2002: 114-116. Zum romantischen Subjekt vgl. Reckwitz 2006a: 204-242.
1. Einleitung
rische »Ich-Kritik« (Dovifat/Wilke 1976: 80) und »heitere Plauderei«4 in den Vordergrund stellt. Damit entspricht sie einer modernen Leserschaft, die mit Janin (1834) »weniger interessiert als ermüdet« ist und »nicht bis zum letzten Wort folgen kann«.
Feuilletonismus im 19. Jahrhundert Das Feuilleton im Journal des Débats wird richtungsweisend für die Entwicklung des Zeitungsfeuilletons in Deutschland.5 Das zeigt sich zuallererst an der Übernahme des Begriffs »Feuilleton«, mit dem in der Pariser Presse die neue Rubrik betitelt wird: Ursprünglich ein Terminus technicus des Buchbinder- und Druckereigewerbes bedeutet »Feuilleton« im 18. Jahrhundert zunächst nichts anderes als »Faszikel, der ein Drittel eines Druckbogens umfasst« (Mattauch 1964: 273f.). Der Begriff referiert auf das Feuilleton, wie es sich in der Presse in Frankreich in den Jahren um 1800 ›unter dem Strich‹ herausgebildet hat, als etliche Zeitungen das Seitenformat ihrer Paris-Ausgaben um etwa ein Drittel verlängern (vgl. Hömberg 1983: 194, Todorow 1996a: 10). Mit dem neu gewonnenen Raum am unteren Seitenende, der durch einen Strich auch typographisch vom Berichtsteil der Zeitung abgesetzt wird, entsteht eine neue Rubrik: das Feuilleton, das zunächst unter »Vermischtes« läuft und sich nach und nach zu einem eigenständigen Ressort in der Zeitung ausbildet, in das eine Vielheit an Genres Eingang erhält: Leserbriefe, Werbeeinschaltungen von Buchhandlungen und Druckereien, Mode, Rätsel, Prosaskizzen, Kundmachungen, Notizen, Witze, Stimmungsskizzen, nicht zuletzt die Theater-, Literatur- und Musikkritik sowie der Feuilleton-Roman als serielle Erzählung (Haacke 1952: 133). Als
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Die Zuschreibung ›Plauderei‹ (französisch causer, causerie) verweist auf das mündliche Gespräch und die Konversation und damit auf Weisen der bürgerlichen Alltagskommunikation, die im Feuilleton ins Schriftliche übertragen werden und dadurch eine Leichtigkeit und Zugänglichkeit vermitteln. Die Nachahmung der Konversation und die »simulierte Mündlichkeit« ermöglicht sowohl eine assoziative Erzählweise als auch die Einbindung einer allgemein interessierten Zeitungsleserschaft (vgl. Kernmayer 2008: 45-66). Die ins Schreiben gewendete Plauderei eröffnet Interaktionsräume, weshalb der Soziologe Helmut Schelsky (1957) in dem benachbarten Begriff der »Geschwätzigkeit« eine kommunikative Tradition erkennt, die den Verlust eines gemeinsamen Hintergrundwissens in einer komplexer werdenden Gesellschaft ersetzt. Janin trug als Literatur- und Theaterkritiker zum Anstieg der Abonnentenzahlen des Journal de Débats bei, das 1789 als offizielles Wochenblatt der Assembleé Nationale in Paris gegründet wurde und sich mit der Übernahme durch die Gebrüder Bertin im Jahr 1800 in eine Tageszeitung verwandelt. Durch die Pariser Exilanten und Feuilleton-Korrespondenten Heinrich Heine und Ludwig Börne erhalten die Kritiker auch Kontakt zu deutschen Tageszeitungen. Die deutschen Feuilletons orientieren sich in Form und Inhalt an der französischen Feuilletonkultur und übernahmen nicht nur den Titel (›Feuilleton‹), sondern auch den leichten Stil (›Feuilletonismus‹) (vgl. Kraus 1910, Lindemann 1969: 269f., Häfner 2012: 139-147, Kernmayer 2012a: 516).
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Sammelbecken für alles »Unpolitische« (Todorow 1996a: 10) entspringt die Erfindung des Zeitungsfeuilletons in seiner ursprünglichen Form weniger einem ästhetischen oder intellektuellem Bedürfnis als vielmehr einer ökonomischen Entscheidung. So wurde es zunächst als Annoncen-Beiblatt (›Blättchen‹) zur Bewerbung von Waren lose der Zeitung beigelegt und hat sich erst nach und nach zu »einem Sammelbecken für textuelle Ereignisse unterschiedlicher Generizität« (Kernmayer 2012a: 51) entwickelt, bevor es im späten 19. Jahrhundert in das politische Hauptblatt wandert und sich dort als eigenständige Kulturrubrik etabliert. »Da diese Art von Kritik für einen Großteil der Leser weit attraktiver war als die stark akademisch geprägte Kritik der fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, ist es zweifellos richtig, wenn die Entstehung des Feuilletonismus mit dem expandierenden Zeitungsmarkt und dem Streben nach höheren Auflagen in Verbindung gebracht wird.« (Requate 1995: 349) Unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft und eines beginnenden Kapitalismus im Kontext der Kultur- und Medienindustrie bringt das Zeitungsfeuilleton neue Formen der Kritik hervor. Stand die kritische Publizistik in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung noch primär im Dienste einer vernunftgeleiteten Didaktik, die eingebunden in die Diskurse der Gelehrsamkeit den Regeln der Wissenschaft folgte, wendet sich die feuilletonistische Kritik ›unter dem Strich‹ von den akademischen Regeln, aber auch der reflexiven Tiefsinnigkeit der Literaturzeitschriften und den moralischen Bestrebungen der Intelligenzblätter und Moralischen Wochenschriften ab, um einen eigenen kritischen Diskurs in der Moderne auszubilden (vgl. Anz 2004: 34f.).6 Das Feuilleton löst sich vom akademischen und gelehrten Diskurs und stellt die Inszenierung des ästhetischen Subjekts in den Vordergrund, bei der das zu besprechende Werk weniger nach objektiv-analytischen Verfahren und ästhetischen Maßstäben rational beurteilt, als vielmehr im subjektiven Erleben empfunden und literarisch vermittelt wird.7
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Die Zeitschrift besetzt in der Moderne den Raum »der Vermittlung von Bildung und Wissen, der Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit sowie insgesamt der bürgerlichen Selbstvergewisserung im Prozess der Emanzipation« (Kernmayer 2012a: 515). Vor allem die Moralischen Wochenschriften dienen der Einübung eines »moralisch-souveränen Allgemeinsubjekts« (Reckwitz 2006a) zur Repräsentation bürgerlicher Subjektivität, weshalb sie auch als Vorläufer des Feuilletons bezeichnet werden. Die sittlich-lehrhaften Inhalte werden in unterschiedlichen Darstellungsformen mit pädagogischen Absichten unterhaltsam vorgetragen – z.B. moralische Abhandlungen, Satire, Erzählung, Fabel, Allegorie, Brief, Gedicht, Witz – und erweisen sich gerade dadurch als ein Motor der Aufklärung für ein aufstrebendes Bürgertum. Die Kritik »entstand erst aus der – oft polemischen – Distanz zur akademischen Gelehrsamkeit im Umgang mit Literatur« (Anz 2004: 9). Zur gelehrten Polemik im akademischen und literarischen Diskurs im Zeitalter der Aufklärung vgl. Bremer/Spoerhase 2015.
1. Einleitung
»Das Feuilleton dagegen, eine ›Erfindung‹ der tagesaktuellen Presse, besetzt in dieser unzweifelhaft den Raum des Ästhetischen und des Subjektiven. Mit ihm entsteht eine neue Form subjektzentrierter Prosa, die, anders als der Essay und selbst dort, wo sie reflektiert, kritisiert, kommentiert, polemisiert oder auch nur informiert, vor allem unterhalten soll.« (Kernmayer 2018: 62) Gerade die »Narrenfreiheit des subjektivistischen Feuilletons«, das »auf theoretische Reflexion und wissenschaftliche Gültigkeit verzichtete« (Berman 1985: 270) – Nietzsche bezeichnete die Feuilletonist:innen als »Narren der modernen Culture« (Nietzsche 1980: 165) –, ist anschlussfähig für ein allgemeines Publikum, das aktuell informiert und unterhalten werden möchte. Für die Rezeption spielen nicht nur Informationsbedürfnisse, rationale oder staatsbürgerliche Pflichten eine Rolle, es sind auch emotionale Gründe, die für das Lesen einer Tageszeitung ausschlaggebend sind (vgl. Meier 2007: 36). Das »Feuilleton kommt den Vorlieben einer breiten, diverser gewordenen Leserschaft wie kaum eine andere Zeitungsrubrik entgegen« (Matala de Mazza 2018: 12). Als »begleitende und kommentierende Kritik des Kulturlebens« (Todorow 1988: 698) tritt es die Nachfolge des gesellschaftlichen Gesprächs an, das die bürgerliche Kunstöffentlichkeit begründete (vgl. Kernmayer 2008). Das Zeitungsfeuilleton übernimmt die Rolle der Popularisierung von kulturellen Wissensbeständen für ein allgemeines Publikum im Sinn »einer praktischen Aufgeklärtheit« (Reckwitz 2006a: 162). Die Komplexität in der Moderne und das wachsende Spezialwissen in den Künsten und der Wissenschaft, die Ausbildung von hochkulturellen Institutionen und neuen Kulturmärkten geht mit einem gesteigerten Bedarf an Verständigung einher. Während Fachpublikationen und Kulturzeitschriften für ein spezifisches Publikum publizieren, führt das Feuilleton eine Vielzahl an gesellschaftlichen Teilbereichen zusammen und adressiert ein bürgerliches Publikum unterschiedlicher Herkunft. Insofern kann es als ein Ort des Interdiskurses verstanden werden, das verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche und Diskurse miteinander verbindet (vgl. Schmidt-Ruhe 2005, Kernmayer 2008, Todorow 2008) und so einen gesellschaftlichen Austausch ermöglicht.8 Mit dem Zeitungsfeuilleton ›unter dem Strich‹ entsteht im langen 19. Jahrhundert eine alternative Form der Kritik im publizistischen Diskurs. Grundlage bilden die bürgerlichen Kommunikations- und Schreibkulturen, der Briefverkehr und das Salongespräch sowie mündliche Formen der Geselligkeit und der bürgerlichen Konversation, die unter den Bedingungen der Massenpresse eine Modifi8
Während sich Kernmayer auf die »interdiskursiven Verflechtungen« (2008: 66) von Literatur und Publizistik bezieht, orientieren sich Schmidt-Ruhe und Todorow an Jürgen Link (1986), der Interdiskursivität als ein Teilbereich gesellschaftlicher Kommunikation auffasst, in dem sich verschiedene Spezialdiskurse versammeln und als kulturelles Allgemeinwissen wirksam werden. In diesem Sinn wird Interdiskurs als ein Sammelbegriff für das Sprechen außerhalb von Spezialist:innendiskursen aufgefasst.
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kation erfahren (vgl. Kernmayer 2008, 2012b).9 Verschwimmen historisch gesetzte Grenzen zwischen den einzelnen Zeitungsressorts – bereits im frühen 20. Jahrhundert stellen deutsche Zeitungsforscher eine »völlige Durchdringung der Zeitung mit feuilletonistischem Stoff, Stil, Geist und feuilletonistischer Gesinnung« fest (Meunier 1930: 1003) und bewerten diesen Vorgang als »groteske Veroberflächung« (Jessen/Meunier 1931: 133) –, so unterläuft die feuilletonistische Praxis bis in die Gegenwart hinein die Ordnung des Journalismus und bildet einen alternativen Diskursraum zwischen Fakt und Fiktion aus.10 Es reflektiert über gesellschaftliche Entwicklungen, veröffentlicht offene Briefe, Manifeste und Petitionen und führt Stimmen im Schnittfeld von Wissenschaft, Kunst und Politik an einen gemeinsa-
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»Schreiben, zuvor eine auf bestimmte Professionen eingeschränkte und weitgehend von Spezialisten ausgeübte Tätigkeit, wird in den Trägerschichten der aufgeklärten Kultur erstmals ein Alltagsphänomen.« (Koschorke 2003: 171, vgl. auch Reckwitz 2006a: 156) Über das Lesen von Romanen und das Verfassen von Tagebüchern und Briefen ist das bürgerliche Subjekt Rezipient:in und Autor:in und bildet spezifische Praktiken des Selbst sowie ein »autobiographisches Selbstbewusstsein« (Reckwitz 2006a: 169) aus. Das bürgerliche Subjekt lernt seine Lebensführung nicht nur distanziert zu beobachten, sondern auch narrativ zu verschriftlichen und ein ›erzählendes Ich‹ zu entwerfen. Folgt man Reckwitz, so geht es in der bürgerlichen Lese- und Schreibpraxis darum, »im Kunstgriff einer distanzierten, objektivierenden Selbstbeobachtung wie ›von außen‹ und gleichzeitig ›von innen‹ die Wahrheit über das Ich zu produzieren, eine Wahrheit, die sich in den profanen Wahrheiten der alltäglichen Akte manifestiert« (ebd.: 169f.). Unter den massenmedialen Bedingungen, so kann man davon ausgehend formulieren, verlagert sich die ästhetische Produktion des Ichs im Spannungsfeld von Innen- und Außenorientierung hin zum Außen, infolgedessen sowohl die Zerstreuung und Oberfläche als auch die Überprüfung und Beurteilung durch Andere – die Journalist:innen und das Publikum – eine größere Bedeutung erhält und die Performance eine zentrale Rolle spielt (vgl. Riesman/Denney/Glazer 1956). Die künstliche Trennung durch die Zeitungsressorts als Klassifikation der bürgerlichen Gesellschaft wird zwar typographisch bis heute aufrechterhalten, zugleich »häufen sich die Hybridartikel, die eine Kreuzung sind aus Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Recht, Religion, Technik und Fiktion« (Latour 2008: 8) in allen Bereichen der Zeitung. Sowohl die thematische Entgrenzung durch immer neue Ressorts wie Technik, Wissenschaft, Gesellschaft, Reise, Kunstmarkt, Medien, Politisches Buch, Leben und Wohnen (vgl. Meier 2002: 147f.) als auch die Feuilletonisierung der Politik bzw. die Politisierung des Feuilletons (Jessen/Meunier 1931) lösen postulierte Grenzen zwischen einem literarischen Feuilleton und einem informationsorientierten Journalismus der anderen Ressorts auf. Erzählerische Überschriften und räsonierende Artikel finden sich im Politikressort, der Sport wird literarisiert und im Wirtschaftsteil erklären Intellektuelle in Essays und Interviews die Unkontrollierbarkeit des Finanzmarktes oder rezensieren Kinofilme mit ökonomischen Inhalten. Neben der Abwanderung von feuilletonistischen Techniken in andere Ressorts erfolgt umgekehrt eine Themenerweiterung im Feuilleton: Neben Kunst und Kultur werden Phänomene aus Politik, Wirtschaft, Recht und Religion verhandelt.
1. Einleitung
men Ort zusammen, um ihre Positionen in den allgemeinen Diskurs einzuspeisen und Debatten über soziale Fragen zu ermöglichen.11 Damit bildet das Feuilleton traditionell einen Kontrapunkt in der Zeitung aus: Erst in der Andersartigkeit der feuilletonistischen Zuschreibung zeigt sich der Journalismus im klassischen Ideal der Objektivität, erst in der alternativen Perspektivierung von Ereignissen aus anderen Ressorts steigert sich deren Bedeutung im Diskurs. Erstens werden Ereignisse nicht als Fakten vermittelt, sondern als Deutung auf Basis des vorhandenen Wissens im Diskurs, das reinterpretiert und fiktionalisiert wird. Die Kontextualisierung von Nachrichten als Modus »reiner Politik« (Latour 2008: 8) kann Aufmerksamkeit erregen und Anschlüsse generieren bzw. Debatten entfachen und zur Modifikation des Sozialen beitragen (vgl. Frank/Scherer 2011: 528, 533). Zweitens erfolgt eine Abgrenzung sowohl von der Idee des objektiven Journalismus als auch von der hohen Literatur, die sich nicht der Popularität und Aktualität des Tagesgeschäft verschreibt. Drittens werden die historisch gesetzten Grenzen – Politik über dem Strich und Kultur unter dem Strich – unterlaufen, wenn politische Debatten in den Blick geraten. Viertens bewegt sich das Feuilleton bis heute im Spannungsfeld von ästhetisch-empfindsamen Subjektivierungsweisen und rational-reflexiven Bestrebungen, in das zugleich gegenkulturelle Bewegungen wie die Romantik, die Avantgarde, die Counter Culture oder die Popkultur einfließen. Der ästhetische Spielraum des Feuilletons zeigt sich als das Andere in der Zeitung – »eine Zuschreibung, die – je nach Standpunkt – Anlass zur Überhöhung oder zur Abwertung gibt« (Kernmayer/Jung 2018: 10). Die allgemeine Wahrnehmung von dem, was Feuilleton ist und sein kann, oszilliert seit seinem Gründungsakt in der Moderne zwischen zwei Polen. Zum einen wird es als ein Ort wahrgenommen, an dem das ›Kulturgespräch der Gesellschaft‹ geführt und die ›elitäre Hochkultur‹ verhandelt wird – ein »Rückgrat für die diskursive Innenausstattung einer freien politischen Meinungs- und Willensbildung« (Habermas 2003: 20). Zum anderen neige es zum Boulevard in Form von ›interessanter Nichtigkeit‹ ›Plauderei‹, ›Geschwätzigkeit‹ (vgl. Todorow 1996a: 4) und »Dilettantismus« (Jessen 2000: 37) – der »Feuilletonist hatte von nichts eine Ahnung, versuchte es aber schön auszudrücken« (Jessen 2011a: 21), oder wie Karl Kraus (1960: 191) schrieb: Die »Durchsetzung des Journalismus mit Geistelementen« geht mit der »Verschweinung […] 11
Mit Margreth Lünenborg (2005) kann Journalismus als ein kultureller Prozess verstanden werden, insofern die Fiktionalisierung und Unterhaltung grundsätzlich eine Rolle spielt. Ereignisse werden erzählt (vgl. Nünning 2010) und nehmen erst in der Narration Gestalt an, um allgemein nachvollziehbar und diskursfähig zu werden. Damit wird auch der Dualismus zwischen einem objektiv-faktischen Informationsjournalismus und einem subjektiv-unterhaltsamen Feuilleton aufgehoben (Renger 2000, Meier 2007, Klaus 2008). Zur Unterscheidung von Journalismus als fact und Literatur als fiction in historischer Perspektive vgl. Lünenborg 2005, Eberwein 2013.
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Debattenkulturen im Wandel
durch das Ornament« einher.12 Die unauflösbare Unbestimmtheit des Zeitungsfeuilletons als ein hybrider Ort zwischen Literatur und Journalismus, Ästhetik und Ökonomie, bürgerlicher und populärer Kultur bestimmt seine widersprüchliche Charakteristik bis heute.
Debattenfeuilleton im 20. Jahrhundert Im historischen Wandel entwirft das Feuilleton fortwährend neue Verfahren, indem es alte Elemente unter den sich wandelnden Bedingungen mit neuen kombiniert und modifiziert, um anschlussfähig für die Gegenwart zu werden. Insbesondere im 20. Jahrhundert zeichnet sich ein Transformationsprozess vom sogenannten Feuilletonismus – der »Literarisierung der Publizistik« (Kernmayer 2012a: 512) – hin zu einem Debatten- und Rezensionsfeuilleton ab. Das westdeutsche Feuilleton der Nachkriegszeit schließt in seiner Reformulierung nach den Umbrüchen des Nationalsozialismus nicht an das klassisch-literarische Feuilleton der Moderne an, sondern an die Aufklärungspublizistik der bürgerlich-konservativen Intelligenzblätter und die Zeitdiagnostik des soziologisch räsonierenden Feuilletondiskurses zur Zeit der Weimarer Republik (vgl. Hachmeister 2002: 10, Kernmayer/Jung 2018: 18). Mit dem Ideal einer liberalen Diskurskultur geht die Rationalisierung des Kulturteils überregionaler Tages- und Wochenzeitungen einher. Stand im Feuilleton der Moderne das literarische Spiel und die »Inszenierung des Subjekts« (Kernmayer 2012a: 516) im Vordergrund, bestimmt es sich in der Nachkriegszeit über ein ›aufklärerisches Räsonnement‹ in Orientierung an einen vernünftigen Diskurs und die sachliche Auseinandersetzung in der Logik des besseren Arguments. Nicht die literarischen Schreibweisen, die bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein dominieren und in zahlreichen Kritiken, Skizzen, Kolumnen, Denkbildern, Reportagen oder in der Figur der Flaneure zum Ausdruck kommen, stehen im Vordergrund der heutigen Feuilletonproduktion. Zentral ist die reflexiv-sachliche Kritik, die vor allem in den Darstellungsformen Rezension, Essay und Kommentar sowie im Format der Debatte generiert wird.13 Der »Feuilletonismus«, der sich als »heitere Oberfläche« und »schillernde und sprunghaft-launige Plauderei« (Kernmayer 2012a: 516) in der Moderne ›unter dem Strich‹ ausbildet, findet gegenwärtig nur 12 13
Zum ›Antifeuilletonismus‹ seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Literarisierung der Publizistik vgl. Kernmayer 1998: 32-36. Stand bei der bürgerlichen Konservation weniger die sachliche Erörterung und der Erkenntnisgewinn als vielmehr das Spielerische, die kurzweilige Unterhaltung und die Vergemeinschaftung im Vordergrund –, den politischen Disput galt es zu vermeiden (vgl. Simmel 1969), so etabliert sich in der westdeutschen Nachkriegszeit die soziale Praxis der Diskussion in der Funktion der Erörterung strittiger Gegenstände als eine Spielart der sachorientierten Debatte (Verheyen 2010: 308). Zum Begriff der Debatte sowie zur semantischen Beziehung zwischen den Termini Diskussion und Debatte in historischer Perspektive vgl. ebd.: 38-45.
1. Einleitung
noch selten Eingang in das Zeitungsfeuilleton, etwa in der Kolumne oder in personalisierten Blogs der Zeitungen (Kernmayer/Reibnitz/Schütz 2012: 498).14 Ansätze für die Ausrichtung des Feuilletons zu einem Ort der Debattenkultur sind bereits in der Weimarer Republik finden. Insbesondere das Feuilleton der Frankfurter Zeitung in den zwanziger und dreißiger Jahren wird als ›Scharnier und Schwellenraum‹ bezeichnet, wenn es um die Transformationsprozesse vom literarischen zum soziologischen Feuilleton geht (vgl. Todorow 1996a, Payk 2008, Rauchenstrauch 2016, Kernmayer/Jung 2018).15 Räumlich vergrößert und mit weitreichend redaktionellen Mitteln ausgestattet, proklamiert das liberaldemokratische Feuilleton unter der Leitung von Benno Reifenberg ein neues Rollenverständnis, das mit der Ausbildung von alternativen – diskursiven – Feuilletonpraktiken einhergeht.16 Im Juli 1929 bestimmt Reifenberg das Feuilleton als den eigentlich politischen Ort: »In dem journalistischen Bezirk, der nach dem heutigen Aufbau der Zeitungen Feuilleton heißt, werden Berichte gegeben; d.h. hier wird ins allgemeine Bewusstsein gebracht, wie die Substanzen unserer Gegenwart gelagert sind, nach welchen Absichten sie sich ändern. Die Berichte zeigen den Raum an, in dem überhaupt Politik gemacht werden kann. Das Feuilleton ist der fortlaufende Kommentar zur Politik.« (Reifenberg 1929: 4) Die Programmatik von Reifenberg verweist auf die Differenz zwischen der Politik und dem Politischen: Während »Nachricht und Kommentar […] den politischen Teil
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Für die klassischen Feuilletonmedien sind etwa Detlef Kuhlbrodt, Katja Kullmann, Kathrin Passig, Michael Rutschky und David Wagner zu nennen. Für eine Auswahl an literarischen Feuilletons der Gegenwart vgl. beispielsweise www.waahr.de, einem von Joachim Bessing, Ingo Niermann und Anne Waak gegründeten »Online-Archiv für literarischen Journalismus«. Die Kleine Form aktualisiert sich in Blogs oder sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter, die eine schnelle und direkte Vermittlung von flüchtigen Beobachtungen, Empfindungen und Ideen erlauben, um sie in gesammelter Form wiederum in die klassische Buchform zu überführen. Hier sind etwa die Autorinnen Stefanie Sargnagel, Ronja von Rönne oder Birthe Mühlhoff sowie der im Jahr 2013 von Nikola Richter gegründete Berliner Verlag Mikrotext zu nennen. Otto Groth kam in seiner Untersuchung von neun württembergischen Zeitungen und der Frankfurter Zeitung für die Jahre 1911 und 1912 zum Ergebnis, dass im Durchschnitt der politische Teil mit 37,9 Prozent am umfangreichsten war, gefolgt vom Feuilleton mit 23,2 Prozent (Groth 1915: 139, zitiert nach Meier 2002: 32). Die Frankfurter Zeitung wurde 1856 gegründet und war während der Weimarer Republik die renommierteste Tageszeitung in Orientierung an ein Demokratie- und LiberalismusVerständnis sowie an englischen Politik-Idealen. Benno Reifenberg veröffentlichte seit 1919 im Feuilleton kunsthistorische Beiträge und übernahm 1926 die Leitung. Im Jahr 1930 ging er als politischer Korrespondent nach Paris und kam 1932 in die politische Redaktion zurück, bevor die Zeitung 1943 verboten wurde (vgl. Todorow 1988: 709).
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einer Zeitung aus[machen]« (ebd.), erhalte das Feuilleton seine politische Relevanz durch die Befragung des politisch Grundsätzlichen und damit über »eine interdiskursive Ausrichtung auf die Gesamtgesellschaft« (Todorow 2008: 285). Konkret forciert das Feuilleton der Frankfurter Zeitung neben dem Besprechungswesen der klassischen Künste die Auseinandersetzung mit aktuellen Diskurslagen und die Reflexion von politischen Ereignissen, die alternativ perspektiviert in die Öffentlichkeit getragen werden. Damit übernimmt es eine »diskursintegrierende Funktion« (Todorow 2008: 290) und wandelt sich zu einem »politischen Reflexionsraum« (Matala de Mazza 2010: 120) und »Diskursraum« (Bussiek 2011: 171), in dem Diskurse aus Kunst, Literatur, Arbeit, Alltag, Philosophie und Soziologie zusammengeführt werden, um Fragen der Kultur in einer sich zunehmend pluralisierenden Gesellschaft auszuhandeln. Die »wissenschaftlich-publizistische Beschäftigung mit der sozialen Wirklichkeit« (Todorow 1988: 737) geht mit einer expliziten Abgrenzung vom ›Feuilletonismus‹ einher. An die Stelle der Plauderei tritt die »große Bestandsaufnahme der Zeit« (Reifenberg 1929: 4) – eine Wende, die auch der Feuilletonist und Schriftsteller Joseph Roth in einem Brief an Reifenberg aus dem Jahr 1926 beschreibt: »Ich mache keine ›witzigen Glossen‹. Ich zeichne das Gesicht der Zeit. Das ist die Aufgabe einer großen Zeitung.« (Roth 1970: 100) Die Transformation von »einer belletristischen Plattform zu einem Schauplatz für diagnostische Analysen von modernen Phänomenen« (Levin 1995: 5) und die »Verschiebungen von der Plauderei und Causerie hin zu Referat und Kritik« (Schütz 2000: 183) führen schließlich zur Etablierung der Intellektuellen im deutschen Feuilleton.17 Der feuilletonistische Diskurs zur Zeit der Weimarer Republik vollzieht sich unter Einbezug einer »intellektuell bestimmenden Schreiberschaft« (Jäger/Schütz 1999: 10) und wirkt an der Mitbestimmung des Status der kritischen Öffentlichkeit mit.18 Dabei bilden sich unterschiedliche Sprechertypen und hybride Darstellungsformate aus, in denen konventionelle Grenzen
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Hier sind bereits Ansätze für das spätmoderne Debattenfeuilleton zu beobachten. Beispielhaft ist die im November 1930 gestartete Reihe über aktuelle Dichtung in der Frankfurter Zeitung »Wie sieht unsere Zeitliteratur aus?« und »Über Erfolgsbücher und ihr Publikum« im Literaturblatt oder die Kontroverse zur Figur der Intellektuellen anlässlich einer Buchrezension von Alfred Döblin zu nennen (vgl. Stalder 2003: 99f.). Dies hat nicht zuletzt ökonomische Gründe, so war die schreibende Intelligenz nach dem Ersten Weltkrieg trotz Anwachsens des Buchmarktes auf das Feuilleton als Publikationsmöglichkeit und Erwerbstätigkeit angewiesen (vgl. Todorow 1988: 698). Zugleich steigert das Feuilleton durch die Integration von prominenten Schreiber:innen aus dem literarischen und wissenschaftlichen Feld seine Relevanz und erwarb zunehmend den Ruf als »intellektuelles Meinungsforum« und eines »innovativen literarischen Experimentierraums« (Rautenstrauch 2016: 75).
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zwischen theoretischen, literarischen und journalistischen Schreibweisen aufgebrochen werden (vgl. Todorow 1988: 699).19 »Der Journalist mit akademischer Bildung schreibt Feuilletons mit essayistischem Anspruch (Modell Kracauer); der Wissenschaftler publiziert in Tagezeitungen zwischen Rezension, Essay und Denkbild (Modell Benjamin), zwischen beiden Modellen angesiedelt publiziert der Akademiker als Schriftsteller in der Tageszeitung (Modell Musil).« (Frank/Scherer 2012: 535) Das soziologisch räsonierende Feuilleton zur Zeit der Weimarer Republik rekurriert auf die Sozialfigur der Intellektuellen, die sich in der französischen Öffentlichkeit Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge der Affäre um den unschuldig verhafteten Alfred Dreyfus (1859-1935) ausbildete und bis heute in den Kulturteilen der großen Zeitungen Bestand hat.20 Bei »public intellectuals« (Collini 2006: 52) handelt es sich um rhetorisch versierte Stimmen aus dem künstlerisch-intellektuellen 19
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Als Vorläufer kann der »Zeitschriftensteller« (Roß 2004: 77f.) genannt werden, der seine Veröffentlichungen zur Zeit der Umbrüche der Französischen Revolution im Kampf gegen die alte Elite des Adels öffentlich wirksam einsetzt (vgl. Hömberg 1975). Ludwig Börne nutzte die »neue Schreibweise auch als ›Waffe‹ im publizistischen Kampf gegen die absolutistischen Regime des Vormärz« (Kernmayer/Jung 2018: 4). In der von ihm zwischen 1818 und 1821 herausgegebenen Zeitschrift Die Waage fordert er dazu auf, die »Aussagen der Zeit zu erlauschen, ihr Mienenspiel zu deuten und beides niederzuschreiben« und »als das Triebwerk selbst [zu dienen], welches die Gänge der Zeit regelmäßig erhält und ihre Fortschritte abmißt« (zit.n. Roß 2004: 77). In dieser Vorstellung, die auch Heine vertritt, der sich ebenfalls nicht als bloßer Chronist versteht und die öffentliche Einmischung einfordert, wird die Wirklichkeit zum Gegenstand der Literatur und erfährt im Kampf gegen die herrschenden Strukturen eine Politisierung (Roß 2004: 78). Von Zeitschriftensteller:innen zu unterscheiden sind die Kunstrichter:innen, die als Vorläufer von Großkritikern wie der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki oder Musikkritiker Joachim Kaiser Betrachtung finden kann, die im 20. Jahrhundert das deutsche Rezensionsfeuilleton bestimmen. Mit Jürgen Habermas wird die Instanz des »Kunstrichters« nicht als »Berufsrolle im strengen Sinn« (Habermas 1990: 103) geführt, sondern als ein professionalisierter Laie, der seine Amateurhaftigkeit trotz seines Expertenstatus behält. Damit handelt es sich um eine Instanz, in der »sich das Laienurteil« organisiert und verdichtet, »ohne jedoch durch Spezialisierung etwas anderes zu werden als das Urteil eines Privatmannes unter allen übrigen Privatleuten, die in letzter Instanz niemandes Urteil außer ihrem eigenen als verbindlich gelten lassen dürfen« (ebd.: 104). Im Anschluss an Habermas schreibt Ott: »Der Kunstkritiker ist daher weniger der gelehrte Kunsthistoriker, sondern eher der ästhetisch sensible Intellektuelle und Grenzgänger.« (Ott 1998: 349) Zugleich setzt die Publizitität den:die Kunstrichter:in vom bloßen Laienpublikum ab und etabliert ihn als »Sprecher des Publikums« (Habermas 1990: 103). Zur Vermittlung zwischen Expertenkulturen und Alltagswelt bei Habermas in Kunst, Philosophie und Literaturkritik vgl. Zahner 2017. Zur ›Dreyfus-Affäre‹ als Gründungsakt für die Sozialfigur der modernen Medienintellektuellen vgl. Suntrop 2010: 18-40, zur Wirkmächtigkeit von Schriftsteller:innen in der Massenpresse vgl. Jäger 2000.
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Feld, die ihre Kritik im Kampf um universalistische Werte der Menschenrechte, Aufklärung und Emanzipation öffentlich zur Sprache bringen und auf entsprechende Kommunikationsmittel und Institutionen angewiesen sind (vgl. Moebius 2010: 278, Ziemann 2018: 311). Insbesondere das Feuilleton zeichnet sich durch Aktualität, schnelle Distributionswege sowie einen breiten Adressaten- und Wirkungskreis aus und stellt einen geeigneten Raum für Intellektuelle bereit (vgl. Rautenstrauch 2016: 75). »Viele Intellektuelle bevorzugten aus gesellschaftspolitischen Gründen bewusst die Publikation im Massenmedium Zeitung – sei es der wesentlich breiteren Einflussmöglichkeiten wegen, sei es aufgrund des stark angewachsenen Bedürfnisses nach öffentlicher Sinndeutung und intellektuellem Diskurs.« (Todorow 1988: 698) Mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit und der intensivierten Nutzung der Medien ändert sich auch die Gestalt der Intellektuellen. Klassische Intellektuelle wurden als Wächter:innen von kollektiven Normen angesehen; Universalgelehrte, die sich als moralische Instanz zu sozialen Fragen äußern und im Namen der Gerechtigkeit eine universelle Wahrheit vertreten. In der Spätmoderne bildet sich ein neuer Intellektuellentypus aus, der »spezielle Intellektuelle« (Foucault 2010, 2011), der sich durch ein spezifisches Wissen sowie Sachkenntnis auszeichnet und seine Kritik aus den ihn umgebenden Lebens- und Arbeitsbedingungen speist. Im Feuilleton sprechen dann nicht mehr nur Schriftsteller:innen oder Universalgelehrte, die rhetorisch versiert und normativ aufgeladen ihr Anliegen hervorbringen, sondern auch Wissenschaftler:innen, die ihre Expertise einem breiteren Publikum vermitteln und sich konkret in Debatten einmischen. Schließlich bildet sich seit den 1970er Jahren die Figur der Medienintellektuellen aus, die in Deutschland vor allem von Philosophen wie Peter Sloterdijk und Richard David Precht repräsentiert wird (vgl. Bock 2009). Mit dem Eingang der Intellektuellen in das Feuilleton verändern sich sowohl die Formen der Interventionen als auch die Themen: Geraten immer schon politische Ereignisse in den Blick, so vollziehen sich Debatten im Feuilleton bis in die frühen 1980er Jahre noch primär über ästhetische, kulturelle und wissenschaftliche Gegenstände. Seither erhalten zunehmend auch genuin politische Themen Eingang. Jens Jessen, von 1996 bis 1999 Ressortleiter des Feuilletons der Berliner Zeitung und von 1988 bis 1996 Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, heute Redakteur im Feuilleton der Zeit, schreibt: »Das Herzstück des Feuilletons ist die Kritik. Das meint nicht nur die Kritik von Musik, von Ausstellungen, von Literatur und Theater. Da gute Kunst immer kritische Kunst ist und eher misstrauisch mit Politik und Gesellschaft umgeht, wird sich auch das Feuilleton mit politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen kritisch
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beschäftigen, soweit sie für unsere Kultur bezeichnend und prägend ist.« (Jessen 1997) In der Vorstellung von Jessen kommt ein weiter Kulturbegriff zum Vorschein, in dem sich das ankündigt, was allgemeinhin als das ›politische Feuilleton‹ bezeichnet wird: die Auseinandersetzung mit soziohistorischen Verhältnissen und genuin politischen Ereignissen. Dabei ist es Joachim C. Fest (1926-2006), von 1973 bis 1993 Herausgeber des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der darauf bestanden haben soll, dass der Begriff des ›politischen Feuilletons‹ in seinem Vertrag explizit Erwähnung findet, um so die ›politische Kultur‹ im Programm der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu verorten und die Zeitung mit Deutungsmacht auszustatten (vgl. Hachmeister 2007: 191). Blieb dieses Vorhaben für die folgenden Jahre zunächst auch wirkungslos, so stärkte Fest das Feuilleton innerhalb der Zeitung und baute es als ›drittes Buch‹ neben den Ressorts Wirtschaft und Politik auf. Soziologie, Politologie und Psychoanalyse im Kontext der 1968er-Bewegung verschwanden aus dem Kulturteil, wissenschaftliche Themen wurden auf die traditionellen Geisteswissenschaften beschränkt: Philosophie, Geschichte, das klassische Altertum. Zudem wurden wichtige Ereignisse »in der FAZ zuverlässig mindestens zweimal durchgenommen: im Politik-Ressort und im Feuilleton« (Busche 1996: 39f.). Ende der 80er Jahre etablierte Fest ein Berichtsfeld »politische Kultur« im Feuilleton (Jessen 2002: 30). Der sogenannte Historikerstreit von 1986/1987, der unter Fest in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung initiiert wurde, gilt gemeinhin als Initialzündung des Debattenfeuilletons. »Dieser Streit ging eigentlich unentschieden aus, aber es war der Streit, in dem zum ersten Mal deutsche Vergangenheit wirklich gründlich diskutiert wurde, und das war ein Stück Neuordnung der Bundesrepublik«, notiert Thomas Steinfeld (Kluge 2004). Die »geschichtspolitische Großdebatte« (Hachmeister 2002: 7) um die richtige Form der Vergangenheitsbewältigung einer Nation, die wesentlich zwischen dem Historiker Ernst Nolte (1986) und dem Philosophen Jürgen Habermas (1986) ausgetragen wurde, leitet nicht nur einen Umbruch in der Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ein. Sie etabliert auch eine neue Form des öffentlichen Gespräches über allgemeine Angelegenheiten im deutschen Feuilleton: die Debatte, die sich im Verlauf der 1990er Jahre professionalisiert und unter Einbezug von Stimmen aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld zu einer eigenen Form findet. Der promovierte Literaturwissenschaftler Frank Schirrmacher (1959-2014) gilt gemeinhin als »einer der zentralen Architekten des Politischen Feuilletons« (Jessen 2002: 33). Geht man davon aus, dass der Historikerstreit »zum womöglich entscheidenden Vorbild der von Frank Schirrmacher später forcierten Debattenproduktion« (Demand/Knörer 2015: 61) wurde, dann kann das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als ein Leitmedium der intellektuellen Öffentlichkeit in Deutsch-
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land verstanden werden. Schirrmacher, der von 1994 bis zu seinem Tod im Jahr 2014 Leiter des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war, zeigte sich »fasziniert« davon, so Hachmeister, »Debatten über den reinen Literaturzirkus hinaus auszulösen, Themen zu setzen, Experimente zu machen, kurz: die Nation aufzuwühlen« (2007: 192). Schirrmacher führt Stimmen aus unterschiedlichen Feldern und wissenschaftlichen Disziplinen zusammen, um sozial relevante Themen öffentlichkeitswirksam zu verhandeln. Der Historikerstreit zeigt sich noch vorrangig als eine Debatte, die sich aus dem akademischen Raum herausbildet und im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Ort findet, um ihn öffentlich auszutragen. Wesentlich unter Schirrmacher setzt das Feuilleton zunehmend selbst Themen und produziert eigenständig Ereignisse. Auch wenn »der Historikerstreit mit Ernst Noltes revisionistischem Aufsatz eher beiläufig und ohne Spekulation auf seine Folgen begonnen habe, so hat man doch bald in der FAZ begriffen, dass man mit gezielt ›Unkorrektem‹ Debatten initiieren kann, bei denen der Austausch der Argumente das Interesse auf das Feuilleton fokussieren würde« (Schütte 2004: 38). Oder wie Jessen formuliert: »Wenn der Gegenstand zur Debatte nicht vorhanden war, dann wurde er eben durch die Debatte geschaffen.« (Jessen 2014: 43) In der Bezugnahme der einzelnen Zeitungsfeuilletons aufeinander und der diskursiven Form der Auseinandersetzung zwischen Wissenschaftler:innen, wie es im Historikerstreit zwischen der Frankfurter Allgemeiner Zeitung und der Zeit praktiziert wird, erkennt Schirrmacher ein neues Diskursmuster, das ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Deutungsmacht generiert.21 Mit der Vergrößerung der Redaktionen und der Umfänge der Zeitungsseiten wie auch den Ereignissen der deutschen Wiedervereinigung in den 1990er Jahren entwuchs »das zeitdiagnostische Räsonnement […] der klassischen Spartenkritik und etablierte sich als eigenständiges, politik- und wissenschaftsnahes Genre […]« (Steinfeld 2004: 20). Als »Emanzipation (oder Abspaltung) des gesellschaftskritischen Interesses von der Rezensionstätigkeit« (Jessen 2002: 30) wurde das politische Feuilleton zu einem festen Bestandteil im Kulturteil der Zeitung. In eine ähnliche Richtung geht auch Steinfeld, wenn er feststellt: »Da wo die politischen Ressorts die politische Analyse preisgab, übernahm das Feuilleton das Genre des großen, meist historisch ausholenden Kommentars.« (Steinfeld 2004: 22)
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Stand Kultur in den 1970er Jahren im Sinn einer »Kultur für alle« noch im Fokus des allgemeinen Interesses, so stieg das Interesse Anfang der 1990er Jahre für Politik und Wirtschaft an. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gewinnt das Ressort Wirtschaft im Zuge der Globalisierung, des Börsenbooms und der New Economy an Bedeutung (Meier 2002: 146, 148f.). Unter diesen Bedingungen erfolgt eine Neuausrichtung des Feuilletons im Format der Debatte, um innerhalb der Zeitung wettbewerbs- und konkurrenzfähig zu bleiben.
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Die steigende Bedeutung des Politischen im Feuilleton (vgl. Reus/Harden 2005) zeigt sich auch an personellen Besetzungen, wenn etwa Nils Minkmar im Jahr 2012 die Leitung des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung übernimmt. Aus redaktionsorganisatorischer Perspektive ist die Neubesetzung ein wichtiger Indikator für die Relevanz des Politischen im Feuilleton, hatte der Journalist doch bis dahin die einzige politische Redakteursstelle im Feuilleton inne. Ab 2001 war der promovierte Historiker als Redakteur für das politische Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zuständig, bevor er von 2012 bis 2014 die Nachfolge von Patrick Bahners als Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung antrat. Nach dem Tod von Schirrmacher berief der Aufsichtsrat der Zeitung den Soziologen Jürgen Kaube zum 1. Januar 2015 in den Herausgeberkreis der Zeitung, der ab diesem Zeitpunkt auch für die Leitung des Feuilletons zuständig ist. Minkmar war von 2015 bis 2021 als Redakteur für das Kulturressort im Spiegel tätig und wirkt heute als freier Autor. Geht man mit dem Feuilletonisten Gustav Seibt von einem Feuilleton aus, bei dem es sich »um die relativ geschlossene Welt der aufeinander reagierenden Kulturteile in der überregionalen Tages- und Wochenpresse« (1998: 731) handelt, kann das ›Debattenfeuilleton‹ als ein agonales Bezugssystem aufgefasst werden, das in wechselseitiger Beobachtung der Zeitungsteile öffentliche Diskussionen angestoßen hat. Die »relative Geschlossenheit« (ebd.) bedingte eine gewisse Zentralität der meinungsführenden Printmedien und verweist auf einen zirkulierenden Reflexionsmodus im öffentlichen Diskurs, in dem Bedeutung konstituiert wird.22 Klassische Medien waren Taktgeber für andere Journalist:innen und stellten auf diese Weise ein spezifisches Netzwerk an Bedeutungen her. Die überregionalen Feuilletons lesen, zitieren und korrigieren sich wechselseitig und bilden ein spezifisches Relations- und Differenzsystem aus, in dem Themen strategisch platziert und Ereignisse agonal verhandelt wurden. Die diskursive Praktik des In-Beziehung-Setzens wird als zentrale politische Strategie des Feuilletons markiert: Wenn die einzelnen Kulturteile als eine kulturelle Einheit wahrgenommen werden und ein übergreifender Diskurszusammenhang sichtbar wird, dann zeigte sich das Feuilleton als machtvolle Deutungsinstanz. Als wichtiges Forum für eine intellektuelle Öffentlichkeit wandelt sich das Feuilleton in der Bundesrepublik zu einem Ort, an dem sich das künstlerischintellektuelle Feld nicht nur mit sich selbst verständigt, sondern auch seine Leitbilder und Identitätskonzepte präsentiert, entwirft und fortwährend neu aushandelt.
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Der Literaturwissenschaftler und Feuilletonforscher Günther Oesterle spricht in Bezug auf das Feuilleton der 1920er auch von »internationaler Ideenzirkulation« (2000: 230f., 240f.) und nimmt dabei die kulturpoetische Funktion des Feuilletons im Rahmen der Modernisierungsprozesse in den europäischen Metropolen in den Blick. Ich danke Christoph H. Winter an dieser Stelle für den Hinweis.
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Historische Entwicklungen wie der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges, die Wiedervereinigung und die Neukonstitution des deutschen Nationalstaates stellen die Bundesrepublik in den 1990er Jahren vor neue Herausforderungen und entfachen eine Reihe von Selbstverständigungsdebatten im Feuilleton, wie sie beispielsweise im ›deutsch-deutschen Literaturstreit‹ um die Stasi-Kontakte von DDR-Schriftsteller:innen rund um Christa Wolf in den Jahren 1989/90, in der Debatte zur deutschen Hauptstadtentwicklung im Zuge der Berliner Republik und den geschichtspolitischen Normalisierungsdiskursen etwa zum Holocaust-Denkmal und dem Deutschen Historischen Museum zum Ausdruck kommen. Ferner werden gesamtgesellschaftliche Ereignisse wie die Finanz- und Bankenkrise oder die Debatten um die deutsche und europäische Leitkultur im deutschen Feuilleton verhandelt. Im neuen Jahrtausend sind es Debatten zu Technik, Digitalisierung, Naturwissenschaft und Gentechnologie, die von Schirrmacher im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung inszeniert werden, der sich von der Kommentierung genuin politischer Ereignisse zunehmend entfernt und das Ende des klassischen politischen Feuilletons verkündet (Milz 2001: 25). Das Feuilleton hat immer dann politische Konjunktur, wenn kulturelle Bestände aufbrechen und gesellschaftliche Routinen unterbrochen werden, wenn vertraute Gewissheiten als überkommen erscheinen und bestehende Sinn- und Deutungsweisen modifiziert werden. Gegenwärtig durchlaufen moderne Gesellschaften einen Wandel, bei der die Verbindung von Kultur und Politik eine neue politische Dimension annimmt. Handelt es sich bei den Debatten im späten 20. Jahrhundert vor allem um nationalgeschichtliche bzw. ethische Konflikte, so stellen weltweite Migrationsbewegungen, Terroranschläge des islamistischen Fundamentalismus und ein Aufschwung des Rechtspopulismus im Westen die Gesellschaft vor neue Herausforderungen. Die grundsätzliche Infragestellung von Kategorien wie Nation, Volk, Klasse oder Identität löst »Neue Kulturkämpfe« (Knoblauch 2019) um das Soziale aus. Pluralisierung findet hier nicht nur als Möglichkeit der Selbstverwirklichung im Modus der Öffnung Betrachtung, wie es ab den späten 1960er Jahren von den Studentenbewegungen und Anfang der 1980er Jahre von den »Neuen sozialen Bewegungen« forciert wurde, sondern auch als potenzielle Gefahr für den Bestand des Staates und den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die transnationalen Transformationsprozesse einer global orientierten Gesellschaft gehen mit einer fortschreitenden Entgrenzung sowohl von nationalen Identitäten als auch von bürgerlichen Hochkulturen einher, wie sie sich im 18. Jahrhundert ausgebildet haben und seither die Identifikation einer Gesellschaft mit sich selbst ermöglichen. Auf diese Weise lösen sie Kulturkonflikte aus, die auch im Feuilleton zum Ausdruck kommen und Deutungskämpfe über die richtige Form von Gesellschaft entfachen. Neben einer Re-Politisierung des Kulturteils überregionaler Zeitungen im Kontext eines erstarkenden Rechtpopulismus und Nationalismus seit den 2010er
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Jahren zeichnet sich zugleich ein Bedeutungsverlust ab. Das Feuilleton ist mit einem grundlegenden Wandel im Journalismus konfrontiert. Dazu gehören die ökonomischen Veränderungen der Zeitungsbranche: Die Anzahl der Abonnements klassischer Printmedien und das Anzeigengeschäft sinken (vgl. Glotz/Meyer-Lucht 2004), weshalb auch von der »größten Zeitungskrise seit dem Zweiten Weltkrieg« (Meyer-Lucht 2002: 545) die Rede ist. Im Rahmen der Digitalisierung und des Internets greifen klassische Finanzierungsmodelle nicht mehr, was mit einer schrumpfenden Leserschaft einhergeht, von der auch das Feuilleton betroffen ist (vgl. Steinfeld 2004).
Fragestellung und Fallauswahl Vor diesem Hintergrund erkundet das vorliegende Buch die diskursive Konstruktion des Politischen im Feuilleton der Gegenwart: • • •
Auf welche Art und Weise und unter welchen Bedingungen wird das Politische im Feuilleton überregionaler Zeitungen verhandelt? Welche kulturellen Differenzen und Formen des Anderen werden in den Sprecherpositionen produziert und im Konflikt artikuliert? Welche Form des Konflikts und welche Praktiken der Kritik können im Feuilleton der Gegenwart identifiziert werden? Welche mediale Logik bestimmt die Debatte heute?
Das Format der Debatte bildet aufgrund seiner herausragenden Stellung im spätmodernen Feuilleton den zentralen Untersuchungsgegenstand für die empirische Analyse. Als Ort der Auseinandersetzung zeigen Debatten nicht nur feuilletonspezifische Verfahren zur Herstellung von politischen Öffentlichkeiten und ihren Praktiken der Kritik auf. Sie geben auch Aufschluss über die Form von Konflikten im 21. Jahrhundert und die politischen Möglichkeitsräume des Feuilletons in der Gegenwart. Damit haben sie einen zeitdiagnostischen Charakter, das heißt die Auseinandersetzungen geben Auskunft darüber, welche Vorstellungen von Nation, Identität und Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt existieren und im Konflikt gegenüberstehen. Für die Bestimmung des Zeitraums der Untersuchung ist der »Struktur- und Mentalitätswandel« (Koppetsch 2019: 12) seit den 2010er Jahren ausschlaggebend. Im Kontext eines erstarkenden Rechtspopulismus konstituieren sich »Neue Kulturkämpfe« (Knobloch 2019), die auch im Feuilleton auf eine spezifische Weise zum Ausdruck kommen. Der Aufstieg der populistischen Rechten zeigt »eine längerfristige strukturelle Veränderung« an, »von der nicht nur die Anhängerschaft der neuen Rechtsparteien, sondern die gesamte Gesellschaft betroffen ist« (Koppetsch 2019: 12). Damit einher geht ein Wandel, der durch einen politisch und gesellschaft-
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lich bislang unbewältigten Epochenbruch ausgelöst worden ist (ebd.). In Orientierung an Nancy Fraser schreibt die Soziologin Cornelia Koppetsch: »Bei diesem Umbruch handelt es sich um die im Mauerfall kulminierende Neuausrichtung westlicher Gesellschaften von einer im nationalen Rahmen verankerte Industriemoderne hin zu einer Ordnung, die […] als globale Moderne bezeichnet wird und die kulturell durch das Regime des progressiven Neoliberalismus abgestützt wird […].« (Koppetsch 2019: 14) Auch wenn Paradigmenwechsel langfristiger Natur sind, so konkretisieren sie sich in spezifischen Ereignissen, die das Auftauchen wirkmächtiger Gegenbewegungen markieren oder Ausgangspunkt für längere Entwicklungen bilden. So wird mit Koppetsch davon ausgegangen, dass der Wandel nicht plötzlich vollzogen, sondern sich seit etwa dreißig Jahren angebahnt hat (2019: 12f.). Zugleich hat das Ereignis der Fluchtmigration »im langen Sommer der Migration« (Hess et al. 2016) eine gesamtgesellschaftliche Debatte über Migration und das soziale Zusammenleben in Deutschland ausgelöst. Die Ereignisse der Ankunft der Geflüchteten und die Entscheidung von Bundeskanzlerin Merkel im Sommer 2015, etwa eine Million größtenteils muslimischer Flüchtlinge ins Land zu lassen, haben eine öffentliche Debatte angestoßen und eine Polarisierung des politischen Raums eingeleitet. Insofern handelt es sich um »krisenhafte Ereignisse« (Hildebrand 2017: 96), die Auseinandersetzungsprozesse um die Einrichtung der Gesellschaft eröffnen und soziale Transformationen einleiten. Davon ausgehend wurden die Fallstudien für die exemplarische Debattenanalyse im Feuilleton ausgewählt. Es werden zwei Debatten im Zeitraum von 2015 bis 2016 untersucht: zum einen die Flüchtlingsdebatte (Oktober 2015 bis März 2016), die eine Re-Konstitution von Rechtsintellektuellen behauptet und in einen Intellektuellenstreit zur Entscheidung der Grenzöffnung durch die deutsche Bundesregierung mündet, und zum anderen die Volksbühnendebatte (April 2015 bis Juni 2016), bei der eine Personalentscheidung durch die Berliner Kulturpolitik einen Streit um das deutsche Stadttheater auslöst.23 Beide Debatten vollziehen sich vor dem Horizont der fortschreitenden Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozesse, die mit einem Souveränitätsverlust von Nationalstaaten sowie einer Entgrenzung nationaler und kultureller Identitäten einhergehen (vgl. Merkel 2017, Koppetsch 2019, Reckwitz 2019) und Kämpfe um die Ordnung der Kultur auslösen. Dabei stellt sich auch die Frage, wie die Konflikte und Transformationen im Kontext der ›globalen Moderne‹ im Feuilleton als tradiert bürgerliches Medium verhandelt werden und welche Vorstellungen von Kultur und Kunst im 21. Jahrhundert konflikthaft gegenüberstehen bzw. gegenübergestellt werden.
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Beide Fallstudien wurden bereits in gekürzter Form veröffentlicht (Jung 2018, 2019).
1. Einleitung
Feuilletonforschung Blickt man für eine erste Orientierung im Rahmen der Umsetzung des Forschungsvorhabens auf die klassische Feuilletonforschung, so ist diese eine vergleichsweise randständige Disziplin in der Wissenschaft geblieben. Beteiligte sich die historisch orientierte Zeitungswissenschaft mit Wissenschaftlern wie Wilmont Haacke, Ernst Meunier, Emil Dovifat oder Otto Groth im frühen 20. Jahrhundert noch rege am Forschungsprozess, so wird ihr für die Gegenwart ein mangelhaftes Ergebnis bescheinigt (vgl. Kauffmann 2000: 11, Reus/Harden 2005: 153): »Die Forschung ist bei einem heute veralteten Stand der Feuilletonkunde der sechziger Jahre stehen geblieben«, kritisiert die Literaturwissenschaftlerin Almut Todorow (1996a: 3). Es »fehlen notwendige Grundlagenkenntnisse über das Feuilleton, seine Geschichte und seine charakteristischen Ausprägungen« (Todorow 1988: 699). Mit dem Auslaufen der älteren zeitungswissenschaftlichen Schulen bzw. mit der Integration der historischen Zeitungswissenschaft in eine weiter gefasste Publizistik und Kommunikationswissenschaft ist die akademische Beschäftigung mit dem Feuilleton als eigenständigem Forschungsgegenstand zum Erliegen gekommen. Als Interdiskurs und »Grenzphänomen des Ästhetischen« (Preisendanz 1973: 28f.), das weder dem Journalismus noch der Literatur oder Wissenschaft eindeutig zugeordnet werden kann, entging das Feuilleton der Aufmerksamkeit thematisch nahestehender Fächer wie der Literatur-, Medien- und Kommunikationswissenschaft (vgl. Jäger 1988). Erst Ende der 1980er Jahre beginnt sich eine vorwiegend literaturwissenschaftlich orientierte Feuilletonforschung als eigener Forschungszweig am Rand der Disziplin zu etablieren. Damit einhergehend erscheinen Publikationen, die das Feuilleton als Forschungsgegenstand in den Blick nehmen und einen Überblick über die Lage der Feuilletonforschung geben: Zum einen der im Jahr 2000 erschienene Band »Die lange Geschichte der Kleinen Form« (hg. von Kai Kauffmann und Erhard Schütz), der auch ein Kapitel »Politik im Feuilleton« (Sösemann 2000) enthält, und das 2012 von Hildegard Kernmayer, Barbara von Reibnitz und Erhard Schütz betreute Themenheft der Zeitschrift für Germanistik »Zur Poetik und Medialität des Feuilletons«. Zum anderen gibt der im Jahr 2018 von Kernmayer und mir herausgegebene Band »Feuilleton. Schreiben an der Schnittstelle von Journalismus und Literatur« ebenfalls einen Überblick zum Feuilleton und verfolgt eine interdisziplinär-historische Perspektive, wenn er theoretische Reflexionen und empirische Analysen aus der Literaturwissenschaft, der Soziologie sowie der Kultur- und Medienwissenschaft miteinander in den Dialog bringt und die medialen Umbrüche seit dem 19. Jahrhundert bis heute in den Blick nimmt. Im historischen Verlauf zeigt sich nicht zuletzt die mangelnde Beschäftigung mit dem Feuilleton als politischem Medium. Das Feuilleton als Ort der Debatte ist ein noch relativ unerforschter Bereich. Wurde auch eine Reihe an (Lehr-)Bü-
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chern zum Kulturjournalismus publiziert (Haller 2002, Porombka/Schütz 2008, Lamprecht 2012, Nagy 2013), die in theoretische Konzepte und die praktische Arbeit einführen und zu Teilen auch ein Kapitel zum Debattenfeuilleton enthalten (Lüddemann 2015, Hettinger/Kramp 2013), ist die Forschung zum politischen Feuilleton als eigenständiger Untersuchungsgegenstand ein Desiderat geblieben. Wissenschaftliche Studien, die die intellektuelle Öffentlichkeit in Deutschland im Fokus haben, beziehen bisweilen Feuilletondebatten ein, ohne jedoch das Feuilleton und das Format der Debatte als eigenständigen Forschungsgegenstand zu untersuchen, weil es in der Funktion der Quelle und des Archivs von historischem Textmaterial verbleibt. Zudem existieren eine Reihe an Anthologien, die Beiträge verschiedener Feuilletondebatten in einem Buch versammeln oder auch populärere Literatur zum Thema, die bisweilen von Journalist:innen selbst verfasst wurde wie etwa das Kapitel »Frank Schirrmacher und das politische Feuilleton« in dem Buch »Nervöse Zone« von Lutz Hachmeister (2007) oder die Publikation »Schirrmacher. Ein Portrait« von Michael Angele (2018), einer der Chefredakteure der Wochenzeitung Der Freitag.24 Die Politisierung der Kulturteile überregionaler Tages- und Wochenzeitungen macht ein Forschungsprogramm notwendig, das über eine statistische Erhebung und qualitative Auswertung von Politik im Feuilleton (vgl. Reus/Harden 2005, 2015; Theobalt 2019) hinaus die politischen Auseinandersetzungen in diskurstheoretischer Perspektive in den Blick nehmen möchte. Hier kann zunächst an die literaturwissenschaftliche Feuilletonforschung angeschlossen werden, die sich Ende der 1980er Jahre im Kontext der sprachphilosophischen Wende (sog. linguistic turn) unter prägenden Einflüssen von strukturalistischen und poststrukturalistischen Ansätzen herausbildet. Auch wenn sich die Forschung primär auf die Poetik des Feuilletons als »Kleine Form« und damit auf Konzepte von Text, Autorenschaft und Werk bezieht, so vollzieht sich hier eine Wende von einer zeitungsund kommunikationswissenschaftlich ausgerichteten zu einer diskursorientierten Feuilletonforschung (vgl. Todorow 1996a, Kernmayer 1998, Jäger/Schütz 1999; Matala de Mazza 2010).25 Mit der programmatischen Neuausrichtung der Literaturwissenschaft geht die Reformulierung des Feuilletons einher: Wo das Verständnis der Wissensproduktion als soziale Konstruktion die literaturwissenschaftliche Forschung erreicht, wurde das Feuilleton als Forschungsgegenstand alternativ bestimmt (vgl. Jäger 1988). In der neueren Forschungsperspektive bringen Diskurse
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Eine zentrale Arbeit zur Lage des Feuilletons ist das von Thomas Steinfeld herausgegebene Buch »Was vom Tage bleibt« (2004). Weiterhin existieren Beiträge in Fachmagazinen sowie Interviews mit Protagonist:innen des Gegenwartsfeuilletons (vgl. Koelbl 2000). Zu »Kleinen Form« in der Feuilletonforschung vgl. Berg/Gronau/Pilz 2017, Gamper/Mayer 2017, Kernmayer/Reibnitz/Schütz 2012, Kauffmann/Schütz 2000.
1. Einleitung
die soziale Wirklichkeit erst hervor, insofern Aussagen und Praktiken auf sprachliche Bedeutungs- und Regelsysteme zurückgeführt werden. Die klassische Feuilletonforschung (vgl. Haacke 1969: 218-235, Groth 1972: 67f., Dovifat/Wilke 1976: 73, Hömberg 1983: 193) unterscheidet zwischen einem Feuilleton als Rubrik und Ressort in der Zeitung (1), als Textform und Kleine Form (2), als Stil und Schreibweise bzw. Feuilletonismus (3), schließlich dem Feuilleton-Roman als serielle Reihe und spezifisches Genre im Feuilleton (4). Damit begrenzt sie ihre Forschung auf das Feuilleton als ein Bestandteil in der Zeitung, ohne jedoch seine diskursive Eingebundenheit in die publizistischen und soziohistorischen Kontexte zu integrieren. Die neuere Forschung nimmt die Typologie des Feuilletons auf, um sie für eine diskursorientierte Perspektive zu öffnen. Wenn das Feuilleton als eine Rubrik oder ein Ressort in der Zeitung wahrgenommen wird, »an dem sich Literatur, Publizistik, Gesellschaft und Politik wechselseitig durchdringen« (Kauffmann 2000: 12), dann wird eine kontextorientierte Feuilletonforschung möglich, die das Feuilleton in seinem Entstehungskontext innerhalb wie außerhalb der Zeitung untersuchbar werden lässt (vgl. Todorow 1996b: 259). Eine diskursorientierte Literaturwissenschaft begreift das Feuilleton als ein Medium, »das die Konstruktion von Wirklichkeit täglich erneuerte, die Gegensätze wie die Muster der Wahrnehmung prägte, Werte fortschrieb, veränderte oder ersetzte – als ein Prozess von Tag zu Tag. Wie kaum eine andere Abteilung im Archiv der kulturellen Geschichte kann die des Feuilletons Auskunft geben über die Selbstwahrnehmung der Zeit, liefert die intellektuell bestimmende Schreiberschaft das facettenreiche Selbstbild in der sozialen Realität der Epoche« (Jäger 1994: 336). Das Feuilleton wird hier als eine Kommunikationsform begriffen, in der »kulturelle Identität sich artikuliert, kulturelle Diskurse formiert und Spezialdiskurse transformiert werden, Expertenwissen in Alltagswissen überführt und lebensweltlich konstruierte Wirklichkeiten herausgebildet werden« (Todorow 2008: 281).
Soziologische Perspektiven und diskurstheoretische Rahmung Die wissenssoziologische Perspektive in der neueren Feuilletonforschung ist anschlussfähig für eine diskurstheoretisch orientierte Forschung, welche die diskursive Konstruktion von Bedeutung durch Sprache ernst nimmt. Die diskursorientierte Literaturwissenschaft bezieht sich jedoch wesentlich auf das Feuilleton als Schreibweise, die eine »tendenziell reflexive, spielerische Art der Gegenwartsbeobachtung« (Porombka 2009: 266) aufweist; es kommt »aus der werkorientierten Perspektive des Autors« (Todorow 1988: 698) in den Blick. Demgegenüber soll eine soziologisch informierte Feuilletonforschung die politische Auseinandersetzung in den Fokus nehmen und für eine empirische Analyse zugänglich machen. Im Blickwinkel einer politischen Soziologie bezieht sich das Phänomen der Diskursivität nicht auf ein literarisch-publizistisches Textgenre, als vielmehr auf die Funktions-
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Debattenkulturen im Wandel
logik des politischen Diskurses im Feuilleton. Als Ort des Interdiskurses bietet das Feuilleton eine Vielzahl an Anschluss- und Vernetzungsmöglichkeiten für einen gesellschaftlichen Austausch, der hier als konflikthafte Aushandlung begriffen wird. Eine derart gelagerte Perspektive erfordert eine Neubestimmung von Begriffen, die für die Untersuchung des Feuilletons entscheidend sind: Diskurs, Kultur und Politik. Besonders die Diskursforschung hat in den Sozial- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten an Relevanz gewonnen (vgl. Keller et al. 2011). In der Soziologie erlebt sie ihren Durchbruch mit der Etablierung poststrukturalistischer Sozialtheorien vor allem seit den 1990er Jahren (Angermüller/Wedl 2014).26 Bestehen auch unterschiedliche Verwendungstraditionen innerhalb der poststrukturalistisch informierten Diskursforschung (vgl. Moebius/Reckwitz 2008), so erweist sich die politische Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe als ein innovatives Verfahren für die systematische Analyse von politischen Phänomenen in modernen pluralistischen Gesellschaften. Die am Schnittpunkt zwischen Postmarxismus und Poststrukturalismus angesiedelte Diskurstheorie, die in eine allgemeine Sozialtheorie überführt wird, fokussiert den sozialen Konfliktcharakter und gilt gemeinhin »als einer der einflussreichsten Beiträge zur politischen Theorie der Gegenwart« (Nonhoff 2007: 7) bzw. als einer der »wichtigsten aktuellen Diskurstheorien« (Keller et al. 2011: 12). Die sozialwissenschaftliche Konflikttheorie (vgl. Auer 2008) und poststrukturalistische Sozialwissenschaft (vgl. Stäheli 2000b) begreift das Soziale als Effekt von politischen Auseinandersetzungen und Ausdruck
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In soziologischen Forschungszusammenhängen wird der Diskursbegriff explizit seit den 1970er Jahren verwendet, wobei im deutschsprachigen Raum bis in die 1990er Jahre häufig auf die Theorie des kommunikativen Handelns (1981) und das Konzept der Diskursethik (1983) von Jürgen Habermas Bezug genommen wird (vgl. Neidhardt 1994, Gerhards 1998, Peters 2001). Während poststrukturalistische Ansätze in englischsprachigen Gesellschafts- und Kulturwissenschaften bereits seit den 1980er Jahren Aufmerksamkeit erzielt haben, wurden sie in Deutschland stärker in semi- oder außeruniversitären sowie linksalternativen Kreisen rezipiert, bevor sie in den 1990er Jahren »in einer zweiten Welle« Eingang in die Soziologie erhalten. In der soziologischen Diskursforschung werden idealtypisch folgende Richtungen unterschieden: Erstens (Post-)Strukturalismus, zweitens interaktionale Praxeologie sowie drittens interpretativ-hermeneutische Orientierungen der qualitativen Sozialforschung und Sozialphänomenologie (Angermüller/Wedl 2014: 162-165). Keller (2011 et al.) unterscheidet in Bezug auf die Verwendung des Diskursbegriffes und »der sprachförmigen Konstitution der (sozialen) Welt« (ebd.: 8) vier Stränge: (1) die discourse analysis, (2) die Diskursethik nach Jürgen Habermas, (3) die Diskurstheorie in der Tradition der französischen Strukturalisten und Poststrukturalisten, hier v.a. Michel Foucault, (4) und die kulturalistische Diskursanalyse (vgl. ebd.: 9-13). Grundsätzlich wird die ›Diskurstheorie‹ zwischen Soziolinguistik und Bereichen der Soziologie (etwa der Wissenssoziologie, den Cultural Studies, der Geschlechtersoziologie, der Mediensoziologie) sowie der Geschichtswissenschaft, Wissenschaftsgeschichte u. a verortet.
1. Einleitung
von Machtverhältnissen. Damit ermöglicht sie eine Analyse von Debatten im Feuilleton, in denen Konflikte machtvoll hergestellt und diskursiv verhandelt werden. Diskursivität in diesem Sinn stellt sich als ein Terrain überdeterminierten Sinns dar; ein »Gewimmel unterschiedlicher, ja widersprüchlicher Stimmen« (Angermüller 2007: 115), in denen sich Ordnungen auf Dauer ausbilden, zugleich aber umkämpft bleiben (Laclau/Mouffe 2012). Auch wenn Bedeutung als relativ stabil gelten darf, bleiben einmal hergestellte Ordnungen grundsätzlich verhandlungsoffen – eine Konstellation, die im theoretischen Kapitel vertiefend dargestellt und programmatisch auf das Feuilleton bezogen wird. Hier ist zunächst festzuhalten: Erst die Vielstimmigkeit und Unabgeschlossenheit von Diskursen ermöglicht es, das Feuilleton als einen Ort zu denken, an dem Stimmen aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld auf eine bestimmte Weise orchestriert werden, um Deutungskämpfe öffentlich auszutragen. Damit wird ein diskurstheoretisch informiertes Programm notwendig, das an die Vorstellung des Feuilletons als ein Ort des Interdiskurses anschließt, um sie zu erweitern: zum Ort der Debatte, an dem Konflikte organisiert werden. In diesem Verständnis ist das Feuilleton nicht nur ein »diskursiver Raum« (Todorow 2008), in dem Kultur vermittelt und eine Heterogenität an gesellschaftlichen Bereichen interdiskursiv in Beziehung gesetzt wird; Kultur im hier verstandenen Sinn wird vielmehr erst hergestellt und konflikthaft ausgehandelt. Betrachtet man davon ausgehend die für die Feuilletonanalyse zentrale Begriffstrias – Diskurs, Kultur, Politik –, dann übernimmt das Konzept des Diskurses eine zentrale Bedeutung in der Theorie von Laclau und Mouffe (vgl. Nonhoff 2007: 8). Diskurs bezieht sich auf die Zirkulation von Deutungsbeständen und damit auf den Prozess der diskursiven Artikulation, also auf all das, was sich innerhalb der Gesellschaft zwischen den Bereichen der Ökonomie, Politik, Kunst, Bildung, Religion und Technik ereignet.27 Kultur reduziert sich weder allein auf die Künste als spezialisiertes soziales System oder die Hochkulturen, ihre Institutionen und ästhetischen Gegenstände, noch allein auf Sinnbestände und Wahrnehmungsstrukturen, Normen und Weltbilder. Findet ein »bedeutungsorientierter Begriff«28 Verwendung, der Kultur als sinnhaft und sozial konstruiert versteht, zeigt 27
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Artikulation meint eine Vielzahl an Relationen zwischen verschiedenen Elementen, die erst durch ihre Beziehung zueinander bedeutsam werden und einen Diskurs als »strukturierte Totalität« begründen (Laclau/Mouffe 2012: 105). Der Begriff geht mit einer konstruktivistischen Perspektive einher, die konstitutiv für das Verständnis von Politik ist: »Der bedeutungsorientierte Kulturbegriff impliziert ein theoretisches Argument: dass diese Verhaltensmonopole vor dem Hintergrund von symbolischen Ordnungen, von spezifischen Formen der Weltinterpretationen entstehen, reproduziert werden und sich verändern.« (Reckwitz 2010b: 25) Wenn Verhaltensmonopole veränderbar sind, dann sind sie umkämpft und zeigen sich als Orte der Macht und des Konflikts. Das Verständnis von Kultur und Politik unterscheidet sich vom Konzept der »politischen Kultur« in der
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sich diese weder als homogen noch endgültig fixiert, sondern als fortlaufender Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Deutungskulturen, die in pluralistischen Gesellschaften um Hegemonie konkurrieren.29 Wird Kultur in ihrem Bestand ereignishaft herausgefordert, wird sie schließlich selbst zum Austragungsort von Konflikten: Im Deutungskampf fungiert sie nicht mehr allein als Sinnsystem von Normen, in ihr artikulieren sich vielmehr Kämpfe um die Ordnung der Kultur selbst. Politik bezieht sich somit nicht vorrangig auf das staatliche Handeln und ihre Entscheidungsträger:innen, sondern wird als eine »Welt kontingenter Artikulationen« (Laclau 2007: 36) begriffen, aus denen sozialer Wandel und Machtverhältnisse resultieren. Poststrukturalistisch informierte Theorieansätze wie die von Laclau und Mouffe eröffnen ein breiteres Analysefeld als traditionelle Politik- und Diskursbegriffe. Politisches Handeln beschränkt sich hier nicht auf die Vermittlungsstrategien von Staats- und Parteipolitik im Rahmen der Dimensionen der politics, policy und polity (vgl. Rohe 1994: 67), noch auf die Kommunikation des politischen Systems wie bei Niklas Luhmann, sondern bezieht komplexe heterogene, strategische und machtkonstituierte Strukturen mit ein. Politische Auseinandersetzungen betreffen dann nicht alleine die Debatten im Bundestag oder kollektiv verbindliche Entscheidungen des politischen Systems, sondern auch die sozialen Lebensformen und Identitäten moderner pluralistischer Gesellschaften (vgl. Marchart 2010: 9f.). Konflikte um die Einrichtung der Gesellschaft beschränken sich nicht auf das Feld der Politik, sondern können prinzipiell überall und jederzeit stattfinden. Soziale Fragen zur Fortschrittlichkeit und zum nationalen Interesse, zur Demokratie und
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Politikwissenschaft, das die Orientierungsmuster gegenüber politischen Objekten in einer Nation meint (Almond/Verba 1963). »Mit bestimmten Grundannahmen über die politische Welt sind nicht zufällig auch eine Reihe mehr instrumentell zu verstehender operativer Ideen verbunden, also ein zu Denk- und Handlungskonventionen geronnenes Wissen darüber, wie Probleme angegangen werden, welche ›Antworten‹ sich in der Vergangenheit bewährt haben und welche nicht und wie man öffentlich reden und auftreten muss, wenn man politisch erfolgreich sein will.« (Rohe 1994: 1f.) Der Begriff der Hegemonie, wie er von Laclau und Mouffe im Anschluss an Antonio Gramsci (1891-1937) entwickelt wird, meint einen Prozess, in dem Bedeutung und Identität konstruiert wird. Hegemonien werden auf Grundlage diskursiver Praktiken sowie artikulatorischen und repräsentativen Prozessen hervorgebracht. Erfolgreich sind sie dann, wenn bestimmte Deutungsangebote an Dominanz gewinnen und sich allgemein durchsetzen, infolgedessen Alternativen an den Rand gedrängt und unterdrückt werden, jedoch keinesfalls verschwinden (vgl. Gramsci 1996: 1156-1573). Wird der Kampf um Hegemonie als konstituierende Kraft und ergebnisoffener Konflikt verstanden, zeigt sich das Soziale als ein dynamisches Kräftefeld, auf dem Hegemonie machtvoll ausgeübt und herausgefordert wird. Das Hegemoniekonzept wird anschlussfähig für die Theorie von Laclau und Mouffe, weil sie die der modernen Ordnung zugrunde liegende Widersprüchlichkeit und Instabilität berücksichtigt, in der immer wieder ein Aufbrechen herrschender Strukturen erfolgt.
1. Einleitung
zur Freiheit des Einzelnen, zur künstlerischen Autonomie und zur richtigen Form des kollektiven Lebens können im Feuilleton genauso zum Bestandteil des politischen Diskurses werden wie ästhetische Gegenstände aus Kunst, Theater, Musik und Literatur. Das erweiterte Begriffsverständnis ermöglicht eine Analyse des Feuilletons, das Sprecher:innen mobilisiert und konkurrierende Repräsentationen in Bezug setzt, um die Antagonismen einer pluralistischen Gesellschaft zu verhandeln.30 Davon ausgehend wird das Feuilleton als ein Diskursraum begriffen, in dem Ereignisse medial konstruiert und machtvoll produziert werden (vgl. Hall 1989). Im Unterschied zu kommunikationswissenschaftlichen Ansätzen wird es weder als Informationsträger und vermittelndes Medium verstanden, noch als »Schauplatz kommunikativer Rationalität« (Habermas 1981: 114) und herrschaftsfreier Diskurs, auf dem ein organisierter Prozess argumentativer Auseinandersetzung eine spezifische Form kommunikativen Handelns ausbildet, sondern als eine diskursive Arena der konflikthaften Aushandlung im Kampf um Bedeutung und Position. Eingebunden in Machtverhältnisse zeigt sich das Feuilleton als ein Ort der politischen Auseinandersetzung, an dem es um die Installierung von kultureller Hegemonie in der Formulierung von bestimmten Gesellschafts- und Kulturbildern geht, an dem also Ein- und Ausschlüsse produziert werden und an dem sich mitentscheidet, welche Deutungsmuster ins Zentrum wandern und welche in die Peripherie (vgl. Reckwitz 2004b: 34f., 50).
Methodische Herausforderungen Für die Erforschung des Feuilletons als Ort der Debatte soll ein diskursanalytisches Verfahren in Orientierung an Laclau und Mouffe entworfen werden. Damit schließt die Arbeit eine Lücke in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungspraxis.31 In den letzten Jahren ist eine Reihe an Standard- und Überblickswerken zu ihrer politischen Theorie und zur poststrukturalistischen Soziologie erschienen (Stäheli 2000b, Reckwitz 2006b, Nonhoff 2007, Marchart 2010, Angermüller/Wedl 2014). Die Theorie hat zahlreiche empirische Arbeiten der Diskursforschung inspiriert, zugleich befindet sich die methodische Umsetzung noch am Anfang (vgl. Marchart 2017a). Besonders die »kulturalistische Theorie und Analyse der Politik
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Zur Unterscheidung zwischen dem Sozialen und dem Kulturellen vgl. Reckwitz 2009: 415. Zum Verständnis von Öffentlichkeit als empirische Kategorie vgl. Bunz (2013) und Hahn/Langenohl (2017) sowie Fraser (2001), die mit Bezug auf Gramsci neue Perspektiven auf die »bürgerliche Öffentlichkeit« (Habermas) als Basismodell für gegenwärtige Demokratien eröffnet und die nationale Verankerung seines Öffentlichkeitsmodells befragt. Zur poststrukturalistischen Theorie- und Methodenbildung in der deutschsprachigen Soziologie vgl. Moebius/Reckwitz 2008, Angermüller/Wedl 2014.
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Debattenkulturen im Wandel
hat zunächst den Status eines Parasiten« (Reckwitz 2004b: 33) in den Sozialwissenschaften, was nicht zuletzt an der häufig kritisierten Abstraktheit des Theoriemodells liegt, die konkrete Anleitungen zur empirischen Durchführung erschweren (Keller et al. 2011: 16). Ziel der Arbeit ist, auf Basis der Theorie empirisch am Format der Debatte herauszuarbeiten, wie das Feuilleton Dissens produziert und auf welche Art und Weise Konflikte ausgehandelt werden, schließlich welche Effekte die Debattenproduktion auf den zu verhandelnden Diskurs hat. Die Analyse fokussiert die Funktionslogik des politischen Diskurses und damit die Form der Debatte, das heißt es gilt sowohl die diskursiven Strategien als auch die mediale Logik zu erforschen, mit denen politische Diskurse im Feuilleton organisiert werden.32 Hier eröffnet die politische Diskurstheorie eine alternative Perspektive und bietet ein vielseitig einsetzbares Instrumentarium für eine politische Medien- und Kulturanalyse (vgl. Hall 2000: 141, Marchart 2005: 25). Die Herausforderung besteht nun darin, ihre Theorie für eine methodisch fundierte Debattenanalyse weiterzuentwickeln. Feuilletondebatten sind in historische Kontexte eingebettet und entstehen im Produktionsverhältnis ästhetischer, journalistischer, technischer und ökonomischer Diskurse. Damit finden sie weder allein als Kampf um Interpretationen noch als Abbildung einer Wirklichkeit Betrachtung, sondern als ein »Prozess der diskursiven Konstruktion der Realität selbst« (Laclau 1988: 57). Davon ausgehend sollen die spezifischen Praktiken, mit denen das Feuilleton Dissens produziert und Konflikte aushandelt, mit denen es also ›Politik macht‹, bestimmt und mit der gesellschaftstheoretischen Kategorie des Politischen verknüpft werden. ›Politik machen‹ bezieht sich nicht allein auf den Versuch, politische Entscheidungen zu prüfen oder Politiker:innen in ihrer Position zu ermöglichen oder zu verunmöglichen (vgl. Angele 2018: 13), sondern erstreckt sich auf den Akt der politischen Artikulation. Theoretisch informiert leitet sich die methodische Herangehensweise aus der Forschungsfrage selbst ab: Auf welche Art und Weise und unter welchen Bedingungen wird das Politische im Feuilleton überregionaler Zeitungen verhandelt? Betrachtet man die Fragestellung zur Erschließung eines soziologischen Forschungskonzepts genauer, kommen die zentralen Analysekategorien zum Vorschein: Die Forschungsfrage betrifft die historischen Voraussetzungen und Konstellationen des Sozialen, in denen Antagonismen unterschwellig fortlaufend 32
Damit unterscheidet sich dieser Ansatz von der wissenssoziologischen Diskursanalyse, welche die strukturellen Regelmäßigkeiten von Diskursen oder die diskursive Konstruktion intersubjektiv geteilten Wissens fokussiert. Sie betont zwar die Rolle von Deuten und Verstehen als elementare Praxis in sozialwissenschaftlicher Forschung, versteht Akteure aber als sinnstiftende Subjekte (und nicht als diskursive Effekte) (vgl. Angermüller/Wedl 2014: 180). Zur wissenssoziologischen Diskursanalyse und zu Positionen des symbolischen Interaktionismus im Kontext von öffentlichen Diskursen und Aushandlungsprozessen vgl. Keller 2011a: 73-82.
1. Einleitung
um Bedeutung kämpfen. Das Politische zeigt sich als ein Katalysator und Möglichkeitsraum von Konflikten: Es kann jederzeit durch ein Ereignis aktualisiert und in einen empirisch wahrnehmbaren Konflikt überführt werden, der im Feuilleton medial inszeniert zur Aufführung gebracht wird. Politik findet dann im Feuilleton statt, wenn alternative Positionen im Deutungskampf gegenüberstehen und um Hegemonie ringen bzw. den Diskurs in die eine oder andere Richtung bewegen. Die Bedingungen betreffen demnach die soziohistorische Situation zum einen und die Produktionsverhältnisse sowie medialen Praktiken des Feuilletons zum anderen. Insofern rücken die Form der medialen Inszenierung sowie die Verfahren, Strategien und Effekte der spezifischen Debattenproduktion im Feuilleton in den Vordergrund der Analyse. Das Feuilleton ist ein Diskursproduzent und gestaltet den politischen Diskurs der Gesellschaft mit. Davon ausgehend stellen sich spezifische Teilfragen an die Empirie: •
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Welche feuilletontypischen Praktiken finden Anwendung, die einen Dissens im Feuilleton entfachen und den Konflikt organisieren? Welche Verfahren und Strategien bringt das Feuilleton hervor, die eine Debatte entzünden und am Laufen halten? Welche Formen des Anderen artikulieren sich und welche Antagonismen werden auf der Bühne des Feuilletons zusammengeführt und in Beziehung gesetzt? Welche Konflikte gelangen damit an die soziale Oberfläche und wie werden sie im Feuilleton (auf)gezeigt, sichtbar gemacht und agonal verhandelt?
In Verbindung von empirischer Medienforschung und politischer Theorie muss das Forschungsdesign demnach zwei Analyseebenen Raum geben bzw. konstitutiv miteinander verschränken: die diskursive Beschaffenheit des politischen Diskurses und die Weise seiner medialen Inszenierung. Unter welchen Wahrnehmungs- und Produktionsbedingungen und mit welchen medialen Praktiken werden Konflikte im Feuilleton produziert und verhandelt? Bei der Überführung des Theoriegebäudes in die empirische Medien- und Kulturforschung zeigt sich allerdings eine problematische Konstellation. Bei der Diskurstheorie ergibt sich eine »soziologischpraxeologische begriffliche Unbestimmtheit« (Reckwitz 2006b: 348), die eine Untersuchung der feuilletontypischen Praxis erschwert. Insbesondere Laclaus Interesse zielt im engeren Sinn auf politische Konflikte, weshalb gerade medienwissenschaftliche Problemstellungen in ihrer Begrifflichkeit unterentwickelt bleiben. Vor diesem Hintergrund wird ein interdisziplinäres Verfahren vorgeschlagen, das die politische Diskurstheorie um Elemente aus der Kultur- und Mediensoziologie ergänzt. Das Feuilleton wird als eine hybride Konstellation im Spannungsverhältnis von bürgerlichen und populären Kulturen konzipiert, das spezifische Praktiken für die Herstellung von Debatten ausbildet. Das Konzept zum Hybriden entwickelt
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Debattenkulturen im Wandel
das diskurstheoretische Denken weiter und bildet eine Grundlage für die methodische Ausarbeitung. Es bildet ergänzend den theoretischen Bezugspunkt, mit dem sowohl die spezifische Charakteristik des Feuilletons bestimmt als auch die empirische Debattenanalyse durchgeführt werden kann.
Überblick Die Arbeit sieht in einem ersten Schritt die theoretische Rahmung der Studie vor. In Erweiterung der politischen Theorie von Laclau und Mouffe um kultur- und mediensoziologische Perspektiven wird ein interdisziplinäres Forschungsdesign entworfen, mit dem Debatten im Feuilleton untersucht werden (Kapitel 2). Zwei Dimensionen bestimmen die politische Artikulation: das Agonale und das Hybride. Das Agonale stellt die Funktionsweise des politischen Diskurses in gesellschaftstheoretischer Perspektive in den Vordergrund und fragt in Anlehnung an das Konzept des Agonismus von Chantal Mouffe nach der Form der Debatte im Feuilleton. Das Hybride nimmt die soziohistorischen Konstitutionsbedingungen des Feuilletons zwischen bürgerlichen und populären Kulturen in den Blick, um davon ausgehend seine medialen Praktiken zu bestimmen und ein performatives Konzept von Öffentlichkeit vorzuschlagen. Die Dimensionen bilden die theoretische Grundlage für die Ausarbeitung eines Forschungskonzepts, das im Anschluss zu einem diskursanalytischen Verfahren aufbereitet wird und den Analyserahmen für die empirischen Gegenwartsanalysen im vierten Kapitel bereitstellt. Ausgehend von dem theoretischen Hintergrund kann der Blick auf die Kulturgeschichte des Feuilletons und damit auf die Entgrenzungsprozesse im Spannungsfeld von bürgerlichen und populären Kulturen gerichtet werden (Kapitel 3). Im Zuge der Massendemokratisierung und der gesamtgesellschaftlichen Expansion des Ästhetischen (Reckwitz 2012: 17) finden seit Ende der 1960er Jahre neben bürgerlichen Hochkulturen zunehmend auch massenmediale Unterhaltungskulturen und popkulturelle Artefakte Eingang in das Feuilleton, das sich zu einem Spannungsraum der Heteregonität der Kulturen wandelt. Die Pluralisierung in der Spätmoderne ist Ergebnis von politischen Auseinandersetzungen, weshalb dem Wandel anhand von ausgewählten Feuilletondebatten nachgespürt wird: Auf welche Weise werden die kulturellen Konflikte zwischen den bürgerlichen und populären Kulturen im deutschen Zeitungsfeuilleton verhandelt? Welche Konfliktlinien und kulturelle Differenzen können hier beobachtet werden, die wiederum grundlegend für die Debatten im 21. Jahrhundert sind? Die theoretische Rahmung und historische Verortung des Feuilletons bilden die Basis für die empirischen Gegenwartsanalysen im nächsten Kapitel, die sich auf ausgewählte Debatten im deutschsprachigen Raum zwischen den Jahren 2015 und 2016 beziehen. Im Einzelnen handelt es sich dabei um die Flüchtlingsdebatte und die Volksbühnendebatte (Kapitel 4). Beleuchtet werden die mit Feuilleton über-
1. Einleitung
schriebenen Seiten der überregionalen Tages- und Wochenpresse in Deutschland und damit die auflagenstärksten Zeitungen als zentrale Orte für die Konstitution gesellschaftlicher Kommunikation und Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften (Göttlich 2002: 193f.). Ausgehend von den empirischen Ergebnissen werden die Logik der Feuilletondebatte und ihre Praktiken der Kritik diskutiert und vor dem Hintergrund zeitgenössischer soziologischer Theoriebildung reformuliert (Kapitel 5). Damit leistet die Studie sowohl einen Beitrag zur Debatte der politischen Theorie und zur politischen Medienforschung in diskursanalytischer Perspektive als auch zur Feuilletonforschung, die bislang wenig theoretische Bezugspunkte zum politischen Feuilleton entwickelt hat. Die Diskussion erfolgt anhand von drei Kategorien, die zugleich die Konstitutionskomponenten des politischen Feuilletons bilden: die Hochkultur, die Figur der Medienintellektuellen und die Debattenkultur. Davon ausgehend kann im letzten Kapitel ausblickhaft die Zukunft des Feuilletons betrachtet werden. Welcher Idealtypus der kulturellen Gegenwartsbeobachtung kann vor dem Hintergrund der theoretisch-empirischen Ergebnisse geltend gemacht werden: ›Kulturkampf‹ oder integrativer Spannungsraum heterogener Kulturen? (Kapitel 6).
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2. Das Feuilleton in der Theorie
Wie kann die politische Theorie von Laclau und Mouffe für eine Analyse von Konflikten im Feuilleton als Ort der Debatte fruchtbar gemacht werden? Die gesellschaftskritische Diskurstheorie stellt empirisch-materiale Anschlussmöglichkeiten für die Analyse von politischen Auseinandersetzungen bereit (vgl. Reckwitz 2006b: 347). Als zentral für die Debattenanalyse im Feuilleton erweisen sich die Konzepte des Antagonismus im Kontext einer radikalen Demokratie, die Vielheit an Antagonismen und ihre Kämpfe um Hegemonie sowie das Konzept des Agonismus als Möglichkeitsform von Konflikten, die im Abschnitt zum Agonalen erläutert und auf den Gegenstand Feuilleton bezogen werden. Die Politikwissenschaftler:innen bieten ein überzeugendes Konzept für die Untersuchung der Funktionslogiken von politischen Diskursen an. Zugleich hinterlässt ihr Fokus auf politische Konflikte und soziale Bewegungen eine Lücke, was publizistische Öffentlichkeiten und medienwissenschaftliche Frage- und Problemstellungen angeht. Welche genaue Gestalt und mediale Logik nehmen die politischen Auseinandersetzungen im Format der Debatte im Feuilleton an? Medien werden nicht als objektive Vermittlungsinstanzen oder reine Informationsträger im Sinn eines Sender-Empfänger-Modells begriffen, sondern als historisch-diskursive Gebilde, die prägen, was sie vermitteln (vgl. Innis 1950, McLuhan 1994, Krämer 2008). Besonders das Feuilleton setzt spezifische Verfahren der Debattenproduktion ein und wird dadurch zu einem »media event« (Vogl 2001: 116), in dem es sich »selbst auf spezifische Weise mitkommuniziert« (ebd.: 122): Es stellt Öffentlichkeit für Ereignisse mit spezifischen Mitteln her, setzt Themen und initiiert aktiv Debatten. Für die Untersuchung von Debatten im Feuilleton wird deshalb ein interdisziplinäres Verfahren entwickelt, das die politische (Gesellschafts-)Theorie um medien- und kultursoziologische Perspektiven erweitert. Die Dimension des Hybriden ergänzt den agonalen Charakter des Feuilletons und stellt in Auseinandersetzung mit theoretischen Konzepten die Medialität in den Vordergrund: Unter welchen Bedingungen produziert das Feuilleton Debatten und welche medialen Praktiken bildet es aus, um Diskurse zu gestalten und zu politisieren? Die theoretischen Überlegungen in diesem Kapitel – die Dimensionen des Agonalen und Hybriden – betreffen die politische Artikulation und den Ermöglichungsraum der
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Debattenkulturen im Wandel
feuilletonistischen Praxis und bilden die Grundlage sowohl für die Ausarbeitung des diskursanalytischen Verfahrens im Methodenkapitel als auch für die Untersuchung der historischen Verläufe in der Spätmoderne im dritten und für die Gegenwartsanalysen im vierten Kapitel.
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Das Agonale: Antagonismus und Kontingenz, Antagonismen und Pluralität, Agonismus und demokratischer Streit
Die politische Theorie steht in der Tradition einer Denkrichtung, die den umkämpften Charakter des Sozialen in den Vordergrund stellt und als Ergebnis von Konflikten und Ausdruck von Macht- und Herrschaftsverhältnissen anerkennt. Besonders historische Großereignisse wie der Zusammenbruch des Realsozialismus, das Ende des Kalten Krieges und der Fall der Berliner Mauer, aber auch die Folgen der Finanzkrise für den Kapitalismus und die Prozesse der Globalisierung und Transnationalisierung bringen einst für selbstverständlich gehaltene ›Wahrheiten‹ ins Wanken und führen zur Reformulierung von politischen Begriffen (vgl. Marchart 2010: 8). Das »fortdauernde Dahinschmelzen scheinbar solider Fundamente« im späten 20. Jahrhundert (ebd.: 202f.) bricht kulturelle Gewissheiten auf und leitet Prozesse der Politisierung westlicher Gesellschaften ein, die auch das Nachdenken über Politik verändern. Während das Feuilleton als publizistisches Medium auf die neuen Unsicherheiten mit dem Format der Debatte reagiert, bilden sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften alternative Theoriekonzepte aus, die wiederum in die empirische Erforschung von Politik als auch in die praktische Politik selbst einfließen (ebd.: 186f., 2017b: 3) und nicht zuletzt das Feuilleton erreichen (vgl. Staun 2016: 41). Die historische Erfahrung der Abwesenheit eines letzten Grundes beschreibt Laclau als essenziell für sein politisches Denken: »Die Krise des essentialistischen Universalismus als selbst-erklärter Grund hat unsere Aufmerksamkeit auf die kontingenten Gründe (im Plural) seines Entstehens und auf die komplexen Prozesse seiner Konstruktion gelenkt.« (Laclau 1994: 2) Die Kritik an essenzialistischen Denkschemata zielt auf die »Dechiffierierung von Universalien« (van Dyk 2012: 189) und den Versuch, das Projekt der Aufklärung kritisch weiterzuentwickeln. Poststrukturalistischen Theorien gemeinsam ist der Ansatz, das soziale Ordnungen nicht auf ein Fundament oder ein organisierendes Prinzip rekurrieren wie etwa die Vorstellung eines ökonomischen Determinismus im Marxismus, sondern kontingent und sozial konstruiert sind. »Post-foundationalist«-Ansätze (Stäheli 2000b: 9) gehen mit der Befragung einer konstruktivistischen Sozialtheorie einher, die zwar eine objektivistische Konzeption von Gesellschaft vermeidet und zugleich in sich häufig repräsentationalen Mustern folgt, wenn sie die Unterscheidung von Basis und Überbau, dem Sozialen und der Kultur
2. Das Feuilleton in der Theorie
oder von Gesellschaftsstruktur und Semantik voraussetzt (ebd.: 13).1 Im postfundamentalistischen Ansatz ist der Status von Repräsentation ein anderer: Er ist nicht als passiver Ausdruck von etwas Bestehendem zu verstehen, sondern an der Herstellung des von ihnen Repräsentierten beteiligt und wird selbst zur sozialen Praxis (ebd.: 13f.). Die Auflösung der »Grundlagen aller Gewissheit« (Marchart 2010: 11) meint nicht eine bloße Beliebigkeit im Sinn eines anything goes (vgl. Angermüller 2008) oder ist gleichbedeutend mit einem »Sprachspiel jenseits von Materialität und Institutionalisierung« (van Dayk 2013: 189). Poststrukturalistische Ansätze interessieren sich »für die Genese von institutionalisierten Formen, Körpern und Praktiken, als dass sie ihre materiale Existenz negieren würden« (ebd.) und versuchen, auf ein »solches repräsentationales Denken zu verzichten, um die rhetorischen Konstitutionsbedingungen des Sozialen – und damit auch des Schreibens über das Soziale – untersuchen zu können« (Stäheli 2000b: 13). In diesem Sinn verabschiedet sich der postfundamentalistische Ansatz von der Idee eines letzten, »eines ultimativen Grundes« (ebd.: 62). Das Soziale wird zwar nicht auf ein unverrückbares Fundament wie eine ›göttliche Ordnung‹, ein ›Gesetz der Ökonomie‹ oder eine ›Vernunft‹ zurückgeführt, zugleich dürfe der Ansatz »nicht mit der Abwesenheit aller Gründe« verwechselt werden (Marchart 2013: 11, Hervorheb. i. O.). »Bestritten wird die Möglichkeit von Letztbegründungen, nicht die Notwendigkeit partieller und immer nur vorläufiger Gründungsversuche« (Marchart 2010: 16). Weder verschwinden Fundamente in dieser Sichtweise also völlig, noch gehen sie als Grund der Gesellschaft verloren, sondern zeigen sich als kontingent und stehen fortlaufend zur Disposition, bilden also die Grundlage für Auseinandersetzungen um die Einrichtung der Sozialen. Vor diesem Hintergrund werden basierend auf der politischen Theorie der »diskursive[n] Konstruktion sozialer Verhältnisse« (Laclau/Mouffe 2012: 147) im Folgenden drei Existenzbedingungen von Konflikten bestimmt, die grundlegend für das politische Feuilleton sind: (1) Der Antagonismus installiert als sozialontologische Grundkonstante die Dimension des Politischen als Voraussetzung für die grundsätzliche Offenheit und Konflikthaftigkeit des Sozialen, welche die Bedingung der 1
Der Verzicht auf einen letzten Grund wird mit dem Begriff des Postfundamentalismus beschrieben. Marchart versteht darunter »einen Prozess unabschließbarer Infragestellung metaphysischer Figuren der Fundierung und Letztbegründung« (Marchart 2010: 8). Entsprechend verzichten ›poststrukturalistische Soziologien‹ auf die Frage nach epochalen Umbrüchen von der Moderne zur Postmoderne, weil sie »das Vertrauen in totalisierende Begriffe verloren haben« (Stäheli 2000b: 10). Es erfolgt eine Problematisierung fundamentaler Kategorien der Soziologie wie ›Gesellschaft‹, ›Struktur‹, ›Subjekt‹ und ›Akteur‹ (vgl. Moebius/Reckwitz 2008). Im Unterschied zur klassischen Soziologie wird das ›Subjekt‹ etwa nicht als originäre Handlungs- und Sinnstiftungsinstanz betrachtet, sondern als ein diskursiver Effekt und als kommunikative Konstruktion durch Andere (vgl. Angermüller/Wedl 2014: 168).
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Möglichkeit von politischen Kämpfen im Feuilleton bilden. (2) Die Vielzahl an Antagonismen in einer modernen pluralistischen Gesellschaft ermöglicht die Analyse der konkreten politischen Praxis, bei der unterschiedliche politische Forderungen und Interessen fortlaufend um Hegemonie kämpfen. (3) Der Agonismus als eine spezifische Form der politischen Auseinandersetzung, wie er von Chantal Mouffe in ihren neueren Schriften entwickelt wird, zeigt schließlich die Möglichkeit der Zähmung auf, indem der potentielle Antagonismus in einen demokratischen Streit überführt wird. Das Feuilleton als Ort der Debatte kann davon ausgehend als politische Bühne verstanden werden, auf der Antagonismen in Beziehung zueinander treten und in Anerkennung ihrer Differenz um die Einrichtung der Gesellschaft streiten. Im Folgenden werden die drei Dimensionen – Antagonismus, Antagonismen, Agonismus – dargelegt und mit einer spezifischen Interpretationsleistung angereichert, um sie zugänglich für die empirische Medien- und Diskursanalyse von politischen Konflikten im Feuilleton zu machen.
Antagonismus und Kontingenz Moderne Gesellschaften sind Kontingenz- und Konfliktgesellschaften, ihr zentrales Element ist der Streit. Bereits Zygmunt Bauman beschrieb die Moderne als Zeitalter der Kontingenz, »denn wo zwei eherne Gewissheitssysteme in Konflikt miteinander liegen, dort wird bereits offenbar, dass die eigenen Gewissheiten alles andere als selbstverständlich sind, ja dass sie auch andere Gewissheiten oder die Gewissheiten anderer sein könnten«, konkretisiert Machart (2010: 8). Kontingenz meint dabei keine bloße Zufälligkeit oder Willkür als vielmehr die Erfahrung von Alternativen und kann als Existenzbedingung von Konflikten begriffen werden: Die Dinge können so liegen, sie können aber auch anders geordnet sein. Die umfassende »Kontingenzkultur« offenbart, dass »nicht sein muß, was ist« (Blumenberg 1987: 57); denn »kontingent ist, was auch anders möglich ist« (Makropoulos 2004: 371). Unter den Bedingungen der radikalen Kontingenz – der »Abwesenheit eines letzten Grundes« (Marchart 2010: 9) –, ist nichts in der Gesellschaft selbstverständlich oder natürlich gegeben. Grundsätzlich kann also alles politisiert und jede Angelegenheit potentiell zur öffentlichen Streitsache werden. Gleichzeitig werden soziale Ordnungen als relativ stabile Systeme verstanden, die sich aus kollektiven Sinnmustern und kulturellen Codes zusammensetzen – sie geben vor, was denkund sagbar ist, was also Sinn ergibt und was nicht (Reckwitz 2006b: 344). Damit verbunden sind Werte und Überzeugungen, Gewissheiten und Traditionen, die das soziale Handeln und das Miteinander in einer Gesellschaft bestimmen. Sind diese Ordnungen weder vorbestimmt noch objektiv gegeben als vielmehr politisch erund umkämpft, stellt sich die Frage: Wie begründen sich soziale Ordnungen und wie bleiben sie dauerhaft erhalten, obwohl ihr Grund umstritten bleibt? Oder um-
2. Das Feuilleton in der Theorie
gekehrt: Wie können relativ stabile Ordnungen kritisch befragt und politisiert werden, obwohl sie uns wie selbstverständlich erscheinen und in unserem alltäglichen Leben als zwingende Objektivität entgegentreten? Die neuere politische Philosophie, auf die sich Laclau und Mouffe beziehen, beantwortet diese Frage mit der Theoriefigur der »politischen Differenz«, welche die fundamentale Bedeutung von Kontingenz und die damit verbundene Konflikthaftigkeit zu erfassen sucht (vgl. Bedorf/Röttgers 2010, Marchart 2010, Bröckling/Feustel 2012). Während mit Politik die institutionelle Ordnung gemeint ist, um deren Gestaltung gestritten wird (Flügel-Martinsen 2017a: 164f.), verweist der Begriff des Politischen auf die dauerhafte Umkämpftheit von sozialen Verhältnissen. Die Unterscheidung von Politik auf ontischer Ebene und dem Politischen auf ontologischer Ebene hat Mouffe in ihrer Schrift Über das Politische ausgearbeitet. Während sie mit Politik die »vielfältigen Praktiken der Politik im konventionellen Sinne« (Mouffe 2007a: 15) und damit das »Ensemble von Praktiken, Diskursen und Institutionen« bezeichnet (2008: 103), meint das »Politische« einen der Gesellschaft zugrundeliegenden Antagonismus: »Mit dem ›Politischen‹ meine ich die Dimension des Antagonismus, die ich als für menschliche Gesellschaften konstitutiv betrachte, während ich mit ›Politik‹ die Gesamtheit der Verfahrensweisen und Institutionen meine, durch die eine Ordnung geschaffen wird, die das Miteinander der Menschen im Kontext seiner ihm vom Politischen auferlegten Konflikthaftigkeit organisiert.« (Mouffe 2007a: 16) »Mit anderen Worten: Politik strebt nach der Errichtung von Ordnung« (ebd.: 44) und organisiert das menschliche Miteinander unter Bedingungen, die »immer potentiell konfliktorisch sind, da sie von der Dimension des ›Politischen‹ affiziert werden« (Mouffe 2008: 103). Mit der Differenz von Politik und dem Politischen bleibt ein grundlegender Antagonismus bestehen, der einen Katalysator für Konflikte bereitstellt und gesellschaftliche Debatten zulässt: Er wirkt ermöglichend, indem sich eine soziale Ordnung nur in Abgrenzung zu einem Außen herstellt. Auf diese Weise entsteht eine allgemein erstrebenswerte und relativ stabile Identität, über die sich eine Gesellschaft konstituiert und als solche identifizierbar wird. Zugleich installiert er eine Offenheit, die Gesellschaft immer schon als kontingent und instabil erscheinen lässt. Durch diesen unauflösbaren Widerspruch entsteht ein permanenter Kampf um das Soziale, der durch alltägliche Routinen in Schach gehalten wird, aber jederzeit ausbrechen kann (Mouffe 2014: 39).2
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Im Anschluss an Derrida (2001) entsteht die Einheit einer sozialen Formation erst durch eine Grenzziehung zu einem unfassbaren Außen, das die Identität und Stabilität im Inneren garantiert. Das Außen wird dann zu einem »konstitutiven Außen«, das als solches nicht an einem imaginierten Rand der Gesellschaft verortet werden kann, sondern diese durchzieht. Auf diese Weise kann sich eine Gesellschaft nie vollständig schließen und es kommt immer
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Laclau und Mouffe unterscheiden zwischen dem Politischen und dem Sozialen als zwei Seiten von Gesellschaft. Das Soziale meint die »sedimentierten Formen der Objektivität« (Laclau 1990: 35), welche die »ursprünglichen Akte ihrer kontingenten politischen Instituierung verhüllen und als selbstverständlich angesehen werden als wären sie in sich selbst begründet« (Mouffe 2007a: 26). Zugleich hält das Politische das Soziale für Transformationen offen, können die Akte der Konstitution und die Spuren der Kontingenz doch nie vollständig verwischt werden (vgl. Laclau 1990: 34f.). Während also das Soziale das »Moment der Ordnung der diskursiv-sozialen Elemente« meint, ist das Politische das »Moment des immer neuen Ordnens« (Nonhoff 2010: 41). Bei der politischen Differenz handelt es sich nicht um eine erfahrungswissenschaftliche Dimension, sondern um eine philosophisch-theoretische Grundlegung (Mouffe 2007a: 13, Marchart 2010: 18). Die ontologische Dimension des Politischen ist der Politik vorgelagert und zeigt sich immer nur, wenn die Ordnung konkreter Politik auf ontischer Ebenen irritiert wird – beispielsweise, wenn sich Debatten aufgrund von bestimmten diskursiven Ereignissen entzünden. Dann wird der Antagonismus als »die unentscheidbare Natur der Alternativen und ihre Entscheidung durch Machtverhältnisse vollständig sichtbar« (Laclau 1990: 35). Bei dem »Moment des Politischen« handelt es sich folglich um eine Erfahrung radikaler Kontingenz, die sich auf der ontischen Ebene manifestiert und die strittige Natur der sozialen Verhältnisse zum Vorschein bringt (Marchart 2010: 80). In diesem Sinn markiert der Antagonismus die Grenze des Sozialen und deren Artikulation im politischen Diskurs (Stäheli 2000b: 36). Beispielhaft kann die Debatte um die ›deutsche Leitkultur‹ genannt werden, die auch im Feuilleton geführt wurde. Dabei handelt es sich um einen Begriff, der von dem Politikwissenschaftler Bassam Tibi im Jahr 1998 für die Bezeichnung eines gemeinsamen Wertekonsens der Länder der Europäischen Union verwendet wurde. Der CDU-Politiker Friedrich Merz griff den Begriff im Jahr 2000 auf, um ein Konzept für die nationale Identität von Deutschland zu begründen und die Risse in der Gesellschaft nach den Ereignissen der Wiedervereinigung im November 1989 zu vernähen. Während die CDU/CSU in Orientierung an ›christlich-abendländische Werte‹ die deutsche Sprache, die Bildung, die Verfassungstreue und die Gleichstellung der Frau nannte, über die sich die deutsche Nation idealtypisch bestimmen sollte, fordert die gegnerische Position eine größere Vielfalt an Lebensund Bildungsformen. Ähnliches gilt für die Europa-Debatte: Solange der kommunistische Osten als gemeinsames Feindbild die europäischen Länder zusammen-
wieder zu Blockaden und Brüchen im Inneren (Laclau 1990: 17f., Mouffe 2008: 36). »Dieses Außen bezeichnet somit eine radikale Andersheit – etwas, das im Sinnhorizont einer Gesellschaft nicht gefasst werden kann und diesen trotzdem heimsucht und in ihm insistiert.« (Stäheli 2000b: 37)
2. Das Feuilleton in der Theorie
führt und Identität bzw. Stabilität garantierte, wurde die Grenze Europas als relativ eindeutig wahrgenommen. Der Zusammenbruch des Kommunismus löste erneut Deutungskämpfe um die europäische Identität aus. Die Suche nach einer gemeinsamen Identität – national oder europäisch – artikuliert sich als fortwährender Aushandlungsprozess zwischen konfligierenden Alternativen mit dem Ziel, die konstitutive Offenheit der Gesellschaft zu überwinden. Dies gelingt jedoch immer nur temporär, ein Zustand der endgültigen Schließung kann in der postfundamentalistischen Perspektive nicht erreicht werden. Antagonistisch verfasst wird eine konfliktfreie oder mit sich selbst identische Gesellschaft unmöglich, besteht sie doch »immer nur aus fehlschlagenden Versuchen, sich selbst als universalen und hegemonialen Horizont zu etablieren« (Stäheli 2000b: 34). Wenn grundsätzlich jede Angelegenheit für strittig erklärt wird, dann existiert keine Gesellschaft als solche, sondern lediglich Versuche, sie herzustellen und als »einheitliches Objekt« (ebd.: 36) zu repräsentieren. »Das Ringen um die Einrichtung von Gesellschaft« (Flügel-Martinsen 2017b: 14) wird nicht als Gefahr oder Ausnahme begriffen, sondern als ein selbstverständlicher Teil des Sozialen, in dem sich die Ordnung einer Gesellschaft immer wieder neu herstellt und fortlaufend modifiziert, wie es bereits Georg Simmel betont hat (1908: 186f.). Konflikte vollziehen sich in dieser Perspektive in einem widersprüchlichen Modus: Sie produzieren Entzweiung und Vergesellschaftung, schaffen Ordnung und Unordnung. Das heißt sie formen einerseits das Soziale zu einem sinnvollen Gefüge, schaffen also Orientierungsmuster und besitzen damit eine ordnungsbildende Kraft. Zugleich sind die auf diese Weise hervorgebrachten Weltbilder und Identitätskonstruktionen immer temporär und einer unberechenbaren Logik historischer Zusammenhänge unterworfen, einmal institutionalisierte Normensysteme können jederzeit befragt und modifiziert werden – Gesellschaft in diesem Sinn bleibt ein offenes und unabschließbares Projekt (Laclau 1990: 89-92). Die These der »Unmöglichkeit der Gesellschaft« (ebd.) durch die Abwesenheit eines letzten Grundes verneint demnach nicht die Konstitution von Gesellschaft oder Gesellschaft an sich. Sie stellt aber einen Begriff in Frage, der »Gesellschaft als transparente und sich selbst reproduzierende Einheit denkt« (Stäheli 2000b: 36).3 3
Der für die Soziologie zentrale Begriff ›Gesellschaft‹ wird durch Konzepte der funktionalen Differenzierung und von hierarchisch verfassten Basis-Überbau-Modellen erklärt, und steht mit den Erfahrungen des »Verschwinden von Sicherheit« seit den 1980er Jahren zur Diskussion (vgl. Stäheli 2000b, Marchart 2010, Bonacker 2013, Latour 2017, Reckwitz 2019). Die postfundamentalistische Perspektive kritisiert Ansätze, die das Verhältnis von Gesellschaft und Politik als unabhängig voneinander verfasst beschreiben. In dieser Vorstellung wird Gesellschaft mit ihren Lebensformen sowie Werte- und Normensystemen als eine private Sphäre aufgefasst; die Politik hingegen als ein Bereich, in dem politische Institutionen wie Regierungen und Parlamente allgemein wirksame Entscheidungen treffen. Während diese Vorgehensweise in »einer Art Bereichsdenken, einem Denken in gesellschaftlichen Handlungs-
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Der postfundamentalistische Ansatz betont, dass Strukturierungen nie notwendigerweise gegeben sind, sondern ihre Grenzen immer in der Kontingenz und Ereignishaftigkeit finden, die im Sozialen allgegenwärtig sind (vgl. Nonhoff 2007: 8). So wird zum einen Sinn reproduziert und fortgeschrieben, um symbolische Ordnungen zu etablieren, zum anderen verweist das Scheitern von Sinn auf Bruchstellen im Sozialen und damit auf die Möglichkeit der Transformation.
Antagonismen und Pluralität Für eine »poststrukturalistisch informierte Soziologie« (Stäheli 2000b: 26), die Theorie mit empirischer Analyse produktiv verbinden möchte, reicht es nicht aus, die konstitutive Offenheit und Brüchigkeit des Sozialen und damit einhergehend die Unmöglichkeit von Gesellschaft als Totalität und Fundament zu postulieren. Eine postfundamentalistische Theorie des Politischen erfordert eine sozialtheoretische Ergänzung, welche die diskursive Konstruktion des Sozialen als umkämpfte Prozesse nicht nur als philosophisches Problem begreift, sondern für eine empirische Untersuchung von Debatten zugänglich macht. Damit einher geht die Frage, wie die These der radikalen Kontingenz und Konflikthaftigkeit zu operationalisieren ist. Wie lässt sich die Form der diskursiven Konstruktion des Sozialen im Kampf um die Einrichtung der Gesellschaft angemessen theoretisch beschreiben und empirisch fassen? »Die sozialontologische Konstellation des Antagonismus im Singular« führt sozialtheoretisch betrachtet zu »einer Pluralität gesellschaftlicher Antagonismen«, schreibt Nonhoff (2017: 90). Was ist damit gemeint? Wie bereits an den Debatten um die deutsche Leitkultur und die europäische Identität gezeigt wurde, bleibt Gesellschaft ein »leerer Ort« (Lefort 1988: 17), an dem fortwährend politische Kämpfe um die ›richtige‹ Form geführt werden. Während der »Antagonismus im Singular« (Nonhoff 2017: 90) – auf ontologischer Ebene – die »konstitutive Offenheit« und damit die Bedingung der Möglichkeit von Politik darstellt, können die daraus hervorgehenden Konflikte – auf ontischer Ebene – als Antagonismen im Plural bezeichnet werden. Damit eröffnet sich eine neue Bedeutungsebene: Meint der konstitutive Antagonismus grundsätzlich »das Verhältnis zwischen allen Bedeutungen tragenden Elementen eines strukturellen Differenzsystems einerseits und dem, was aus diesem Differenzsystem ausgeschlossen ist, andererseits« (Nonhoff 2014: 31), kann zwischen einem »allgemein Auszuschließenden« im Singular und »spezifisch Auszuschließenden« im Plural unterschieden werden (vgl. Nonhoff 2014: 32). Während ersteres auf die Grenze des Sozialen verweist (Stäheli 2000b: 36) und »in jeder menschlichen Gesellschaft angelegt ist« (Mouffe 2007b: 44), damit eine Schließung verhindert und zugleich Antagonismen ermöglicht, meint letzteres die sphären oder Funktionssystemen verhaftet« (Marchart 2010: 9) ist, fokussiert der postfundamentalistische Ansatz die empirische Praxis politischer Kämpfe.
2. Das Feuilleton in der Theorie
konkreten Kämpfe um die Einrichtung der Gesellschaft, die sich in der Form von Wir-Sie-Konstruktionen artikulieren. Davon ausgehend wird das Soziale als ein agonal strukturiertes Diskursfeld begriffen, in dem eine Vielfalt möglicher Antagonismen spezifische Ein- und Ausschlussprozesse produzieren (vgl. Laclau/Mouffe 2012: 171). Das zentrale Anliegen der politischen Gesellschaftstheorie ist es nun, eine Begrifflichkeit zu entwickeln, die es ermöglicht, die komplexen Konstellationen von sozialer Stabilisierung bei gleichzeitiger Destabilisierung in ihrer widersprüchlichen Logik von Schließung und Öffnung zu erfassen. Eine poststrukturalistisch informierte Diskurstheorie verbindet beide Logiken miteinander: Die Stabilisierung des Sozialen durch Bedeutungsfixierung (Schließung) und die Möglichkeit der Destabilisierung durch Kontingenz (Öffnung). So besteht zwar ein gesellschaftlicher Konsens, dieser ist aber nicht einfach gegeben, sondern wird durch politische Auseinandersetzungen hergestellt und bleibt dauerhaft umkämpft. Um das Grundprinzip der Kontingenz als Möglichkeitsraum für konflikthafte Auseinandersetzungen theoretisch denken zu können, schließen Laclau und Mouffe zunächst an die Sprachtheorie und das strukturalistische Zeichenmodell des Linguisten Ferdinand de Saussure an. Der »relationale Ansatz« von Saussure erklärt »das Sprachsystem (langue) nicht aus den Eigenschaften der einzelnen Elemente, sondern aus den Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen« (Stäheli 2000b: 18). Das bedeutungsstiftende Moment liegt dann nicht in einem äußerlichen Objekt begründet als vielmehr in der Differenz und Relationalität der Elemente.4 Zwei Schlussfolgerungen sind grundlegend für die Diskurstheorie: Erstens geht Bedeutung aus Relationen und Differenzen hervor, indem einzelne Elemente aneinan4
Mit Saussure erfolgt die Repräsentation von Wirklichkeit über Sprache. Zentral dabei ist, dass sich die Bedeutung von sprachlichen Zeichen immer nur in ihrer Differenz zu anderen Zeichen begründet, weshalb Sprache nicht einfach die Welt abbildet, so ›wie sie ist‹, sondern sie konstituiert und herstellt. Seinem Zeichenmodell zufolge besteht jedes Zeichen (signe) aus dem Bezeichneten (dem Signifikat), also der Vorstellung, und dem Bezeichneten (Signifikant), dem Lautbild bzw. dem Schriftbild, innerhalb eines relationalen Gesamtsystems (langue). Damit besteht zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat kein notwendiger Zusammenhang, es handelt es sich folglich um eine beliebige (arbiträre) Beziehung (vgl. Stäheli 2000b: 17). Das geschriebene Wort »Frau« könnte man beispielsweise auch auf das Konzept »Mann« beziehen. Zugleich ist das Wort »Frau« ein soziales Gebilde und mit bestimmten Vorstellungen verbunden, die das soziale Miteinander regulieren. Hier zeigt sich die Anschlussfähigkeit zum postfundamentalistischen Ansatz: Gibt es keinen ›Grund‹, wird eine vorgegebene Einteilung zwischen den Zeichen unmöglich. Auch wenn Zeichen im täglichen Sprachgebrauch als relativ ›natürlich‹ wahrgenommen werden, erhalten sie erst dadurch eine Bedeutung, dass sie in Verbindung zu anderen Zeichen stehen und sich von diesen unterscheiden. Sprache wird dann als ein Gefüge an Zeichen verstanden, die aufeinander verweisen und sich gegenseitig bedingen, d.h. »Geltung und Wert des einen« ergeben sich »nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des andern« (Saussure 1967: 137).
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dergekoppelt und miteinander verbunden werden. Elemente erhalten somit erst durch ihre Beziehung zueinander eine Bedeutung, weshalb sie zweitens als Effekte einer Struktur begriffen werden und sozial konstruiert sind (ebd.: 19). Eine Aussage ist dann weder eine Repräsentation einer außersprachlichen Wirklichkeit noch ein Abbild von Wirklichkeitswahrnehmung, sondern stellt Wirklichkeit erst her. Zur Konzeptionalisierung der Gesellschaftstheorie führen Laclau und Mouffe den Diskursbegriff ein. Dabei orientieren sie sich explizit am Diskursbegriff von Foucault in der »Archäologie des Wissens« (Laclau/Mouffe 2012: 142) und überschreiten ihn zugleich, indem sie die Trennung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken aufheben.5 Um die Verknüpfung von sprachlichen und materiellen Elementen erfassen zu können, unterscheiden die Politikwissenschaftler:innen zwischen Artikulation und Diskurs. Artikulation ist »jede Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, dass ihre Identität als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird. Die aus der artikulatorischen Praxis hervorgehende strukturierte Totalität nennen wir Diskurs. Die differentiellen Positionen, insofern sie innerhalb eines Diskurses artikuliert erscheinen, nennen wir Momente. Demgegenüber bezeichnen wir jede Differenz, die nicht diskursiv artikuliert ist, als Element.« (Ebd.: 141) In diesem Sinn werden Diskurse als diskursive Artikulationsprozesse respektive als Ergebnis von Artikulationen verstanden. Artikulationen sind Akte der relationalen Sinnstiftung, also Praktiken des In-Beziehung-Setzens, insofern Diskurse und Identitäten dann entstehen, wenn Elemente sinnhaft zu diskursiven Momenten verbunden werden. »Die aus der artikulatorischen Praxis hervorgehende strukturierte Totalität« (ebd.: 105) bezeichnet den Diskurs, der sich aus einem relativ stabilen und dauerhaften Ensemble aufeinander bezogenen Aussagen und Ideen zusammensetzt, die wiederum nur durch ihre Beziehung zueinander bedeutsam werden. »Die soziale Wirklichkeit kann insofern als wesentlich diskursiv verstanden werden, als sie eine sinnhafte Wirklichkeit ist, in der sich die Bedeutung aller sinntra-
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Die im Feld der foucaultschen Diskurstheorie bisweilen gebräuchliche Unterscheidung von diskursiven (sprachlichen) und nicht-diskursiven Praktiken (Institutionen, Techniken) entfällt (vgl. Jäger 2005, Bührmann/Schneider 2008: 47f.). Foucault selbst hat die Unterscheidung in der Archäologie des Wissens (1981: 234) getroffen und auch wieder aufgegeben bzw. in seinen Ausführungen zum Dispositiv weiterentwickelt. »Das Konzept des Dispositivs, das er im Rahmen der Machtanalytik von Der Wille zum Wissen entwickelte, ist weiter gefasst als das des Diskurses und schließt Techniken körperlicher Zurichtung ebenso ein wie architektonische Arrangements, politische Regulationsmechanismen und Normensysteme.« (Bröckling/Krassmann 2010: 24)
2. Das Feuilleton in der Theorie
genden Einheiten erst in Relation und damit in Differenz zu anderen Einheiten etabliert.« (Nonhoff 2007: 9) Als »Fixierung/Verlagerung eines Systems von Differenzen« organisieren Artikulationen die »gesamte materielle Dichte der mannigfaltigen Institutionen, Rituale und Praxen« (Laclau/Mouffe 2012: 146). In dieser Hinsicht ist das Diskursive »gleichbedeutend mit dem Sozialen als solchem« (Laclau 1981: 176). Wenn das Soziale »nichts anderes als eine Agglomeration von Diskursen« (Reckwitz 2006b: 344) ist, »ein Gemenge und eine Serie von unterschiedlichen diskursiven Praktiken« (Stäheli 2000b: 35), dann muss »jegliches soziale Geschehen […] als Sinngeschehen analysiert werden« (Stäheli 2009: 258). Damit erlaubt ihr Diskursbegriff »eine dezidiert konstruktivistische Position«, die es ermöglicht, »das Soziale unter dem Gesichtspunkt der Sinnerzeugung und des Scheiterns von Sinnfixierungen« zu analysieren (ebd.). Zugleich nehmen Laclau und Mouffe keine radikalkonstruktivistische Position ein: »Was die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit betrifft, wird die Welt jenseits des Diskurses nicht in Abrede gestellt, sondern lediglich im Hinblick auf ihre Unerfahrbarkeit problematisiert.« (van Dayk 2013: 189) »Nicht die Existenz von Gegenständen außerhalb unseres Denkens wird bestritten, sondern die ganz andere Behauptung, daß sie sich außerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens als Gegenstände konstituieren können.« (Laclau/Mouffe 2012: 144f.) Der Strukturalismus von Saussure versteht Sprache noch als ein stabiles Zeichensystem, dessen Einteilung zwischen den Zeichen zwar nicht vorgegeben, aber dennoch feststehend ist. Hier stellt sich die Frage: Wie können Differenzsysteme als Relationsgefüge heterogener Elemente in einen sozialtheoretischen Ansatz überführt werden, bei dem zwar relativ stabile und dennoch dynamisch-bewegliche Strukturen erkennbar werden? Laclau und Mouffe gehen davon aus, dass Ordnungen nur durch konfliktreiche Grenzziehungen entstehen. »Wahre Grenzen sind immer antagonistisch«, so Laclau, sie setzen »die radikale Ausschließung« (2013d: 67) voraus. So besehen ist Politik eine artikulatorische Praxis der Grenzziehung, bei der Diskurse in die Bereiche des ›Eigenen‹ und des ›Anderen‹ unterteilt werden. Die Sinngrenze zwischen einem ›Wir‹ und einem ›Sie‹ schafft Ordnung und nachhaltige soziale Strukturen; sie muss jedoch immer wieder neu artikuliert und legitimiert werden, um zu bestehen. Dies führt nicht nur zu wiederholten Ausschlussversuchen, sondern auch zu prekären Schließungsprozessen – wenn eine Ordnung auf Exklusion aufbaut, dann birgt sie ein Moment der Unentscheidbarkeit in sich und kann jederzeit herausgefordert werden. Von Antagonismen kann gesprochen werden, wenn unterschiedliche Vorstellungen von Ordnung vorliegen und sich Artikulationen bekämpfen und sich gegenseitig ausschließen (vgl. Stäheli 2000a: 57).
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Was aber vereinheitlicht die Identität eines Diskurses und wie kann sie sich trotz der irreduziblen Unentscheidbarkeit nachhaltig stabilisieren? Um die Fixierung von Bedeutung theoretisch zu beschreiben, wird die Logik der Äquivalenz eingeführt. Dabei handelt es sich um eine Operation, bei der sich heterogene Elemente in Abgrenzung zu einem gemeinsamen Außen imaginär zu einer Einheit zusammenschließen. Diese Bewegung wird unter dem Begriff des leeren Signifikanten zusammengefasst, der die allgemeine Repräsentation der Äquivalenzkette übernimmt und die antagonistische Grenzziehung zwischen den Elementen eines Diskurses und seinem Außen ermöglicht. Als partikulares Element, das auf das Allgemeine des Diskurses verweist, verbindet er verschiedene Interessen und Forderungen miteinander und repräsentiert so eine soziale Einheit. Als »gemeinsamer Nenner« (Laclau 2005: 95) streifen leere Signifikanten ihre partikulare Bedeutung ab und heben die Differenzbeziehungen der Elemente symbolisch auf. Damit nehmen sie eine »Platzhalterrolle ein, indem sie bezeichnen, was eigentlich nicht bezeichnet werden kann: die Identität eines Diskurses« (Stäheli 2009: 261). Mit der Ausbildung von Äquivalenzketten repräsentiert durch einen leeren Signifikanten geht eine Schließungsbewegung im Sozialen einher. Dabei handelt es sich um den Versuch, dislozierte Systeme durch eine imaginäre Vollheit zu vernähen (Stäheli 2000a: 60) und das Fließen des Diskursiven durch die Einrichtung von Knotenpunkten zu unterbrechen (Laclau/Mouffe 2012: 150). Beispielsweise gewinnt der leere Signifikant ›Nation‹ im Kampf um Hegemonie in rechtspopulistischen Diskursen an Relevanz, um eine nationale Einheit als identitätsstiftende Form zu imaginieren und zu hegemonisieren. Über die Konstruktion von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit wird etwa der Migrant als bedrohliches Außen dargestellt, von dem man sich abgrenzt, um eine nationale Identität zu begründen. Das Außen wird dann zu einem konstitutiven Außen, das verschiedene Forderungen und Interessen äquivalent setzt und über den leeren Signifikaten ›Nation‹ vereinheitlicht. In diesem Sinn kann das »Prinzip der Kohärenz einer diskursiven Formation« (Marchart 2017a: 58) nur durch einen grundlegenden Antagonismus erreicht werden. Zugleich installiert die positiv gestiftete Negativität eine Leerstelle im Sozialen. Dabei handelt es sich um einen »unentscheidbare[n] Ort, in welchem sowohl die Logik der Differenz als auch die Logik der Äquivalenz arbeitet« (Laclau 2013c: 69). »Jeder Signifikant des Systems ist stets zwischen seiner differentiellen (das heißt einer partikularen Bedeutung innerhalb des Systems) und seiner äquivalenten Seite (das heißt der Auslöschung partikularen Sinns durch den gemeinsamen Systembezug) gespalten.« (Stäheli 2000a: 59) Damit entsteht ein Spannungsverhältnis: Zum einen sind die einzelnen Momente verschieden, zugleich sind sie im Hinblick auf das antagonistische Gegenüber gleichartig. Während die Logik der Differenz die Unterschiedlichkeit der Elemente im Inneren erlaubt, setzt die Lo-
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gik der Äquivalenz die internen Differenzen gleich, indem sie einen Unterschied sichert, den das System in seiner Totalität macht (vgl. Laclau 2013c: 66). Das hat zwei Effekte für den politischen Diskurs: Zum einen ist jedes System von einer Spaltung durchzogen und von einem Moment der Unentscheidbarkeit affiziert, die nicht überwunden werden kann und jeden Grund einer Ordnung für strittig erklärt. Zum anderen bedingen sich die beiden Logiken wechselseitig: »Nur wenn etwas nicht im Grunde identisch, sondern verschieden ist, kann es überhaupt äquivalent gesetzt werden und zu sogenannten Äquivalenzketten verknüpft werden; und erst wenn das, was einst verschieden war, als Teil einer Kette artikuliert werden kann, die ein gemeinsames Anliegen konstituiert, ist es möglich, dass sich die strukturell arretierten Differenzen verflüssigen.« (Hildebrand 2017: 99) Damit werden Gesellschaften als relativ stabile und dennoch bewegliche Systeme beschreibbar: Einerseits findet eine gewisse ›Sedimentierung‹ von Sinn statt, die zur Stabilisierung des Sozialen führt, andererseits erfolgt an bestimmten Punkten ein Aufbrechen dieser Ordnungen, das auf die Normalität von Bedeutungsüberschüssen zurückzuführen ist (Laclau/Mouffe 2012: 151). Hier zeigt sich das Soziale als eine dynamisch-bewegliche Struktur, die über eine relative Fixiertheit verfügt und zugleich von Rissen und Brüchen durchzogen ist, die soziale Transformationen und Kämpfe um Hegemonie ermöglichen. Für die empirische Analyse stellen sich davon ausgehend folgende Fragen: Wie zeigt sich das bedrohliche Andere im Inneren der Gesellschaft und auf welchen Antagonismus bezieht sich eine Debatte? Welche Äquivalenzketten und diskursive Knotenpunkte bilden sich über welche Ein- und Ausschlussprozesse aus, um politische Diskurse im Feuilleton herzustellen? Welche Antagonismen stehen sich konflikthaft gegenüber? Im Zusammenhang mit der Praxis der politischen Artikulation im Feuilleton möchte ich das Konzept der Iterabilität von Derrida aufgreifen, auf das sich Laclau und Mouffe beziehen. Derrida entwirft die Logik der Iterabilität, um Prozesse der Wiederholung und Verschiebung miteinander zu verweben und Kontingenz als Möglichkeit des Scheiterns von Sinnprozessen zu operationalisieren. Einfach gesprochen meint Iteration, dass die Wiederholung des Gleichen immer auch eine, wenn auch winzige Veränderung des Aussagewertes ergibt. »Keine Wiederholung lässt die wiederholte Identität intakt, ist sie doch immer ein Umweg über das Andere, über die Leerstellen, welche die Wiederholungen voneinander trennen.« (Stäheli 2000a: 170) Das »Spiel des Bezeichnens ins Unendliche« (Derrida 1972: 424) impliziert die Unabschließbarkeit und Instabilität von Bedeutung. Durch die Negation des Außen artikuliert sich in jeder Wiederholung ein Moment der Unentscheidbarkeit und damit ein kaum wahrnehmbarer Bruch. Wenn eine Wiederholung nie identisch mit sich selbst ist und immer schon das Potential der Verschiebung in sich trägt,
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dann wird Bedeutung fortlaufend transformiert. Geht man von einer »immanente[n] Unreinheit eines jeden Sinnprozesses« (Stäheli 2000a: 122) aus, erzeugen Medien immer beides: die Reproduktion und die Modifizierung von bestehenden Sinnstrukturen. Medien reproduzieren Semantiken und Weltbilder und schließen an bestehendes Wissen an, um soziale Ordnung und Orientierung herzustellen. Zugleich produzieren sie Bedeutungsüberschüsse und damit Möglichkeiten der Transformation – wenn auch minimal und schleichend. Damit eröffnen sich Möglichkeitsräume der Kritik. Verweist jede Bezeichnung auf bestehende Sinnstrukturen und auf Spuren des Anderen, dann wird nicht nur »jeder reine, ideale Sinn ausgeschlossen« (ebd.: 231), sondern auch »unerwartete Verknüpfungen, die nicht durch die Logik des Sinns geleitet sind« (Stäheli 2000b: 25) möglich. Diskurse sind weder naturgegeben noch von einer zugrunde liegenden Instanz abgeleitet, sondern kontingent und entstehen erst im Akt der Artikulation. Das bedeutet auch, dass sich Elemente auf unterschiedliche Weise in Beziehung setzen und kombinieren lassen; einmal etablierte Verbindungen können sich auflösen und neue Verknüpfungen eingehen. Abschließende oder eindeutige Interpretationen werden so unmöglich, wie alternative Perspektivierungen möglich werden – jeder Text ist letztlich »plural« (Barthes 1987: 7ff.). Mit Judith Butler bildet die semantische Kontingenz von Zeichen die Grundlage des Politischen, das heißt zeichenhafte Artikulationen können je nach Kontext ihre Bedeutung verändern und sind nicht universalistisch festgeschrieben (Butler 2006: 139ff.). Die konstitutive Offenheit von Bedeutung ermöglicht Definitions- und Benennungskonflikte als auch Formen der Irritation und Aufmerksamkeitssteigerung, wenn beispielsweise Provokationen mit dem Kontextbruch spielen und sedimentierte Wahrnehmungsstrukturen unterbrechen. In der Logik der diskursiven Artikulation werden sowohl die Kriterien der Beurteilung von ästhetischen Artefakten als auch Normen und kulturelle Codes fortlaufend ausgehandelt und neu bestimmt. In diesem Sinn gibt es kein Zentrum, das mit einer natürlichen Definitionsmacht ausgestattet ist und objektive Unterscheidungskriterien zwischen gültig und ungültig voraussetzt (vgl. Derrida 1972). Die moderne Kritik vollzieht sich nicht vor einem letztgültigen Horizont, der vorgibt, was legitim und was illegitim ist, sondern konstruiert die Grenzen immer wieder neu. Bei normativen Maßstäben handelt es sich um temporäre Projekte, die im Diskurs beständig aktualisiert werden, aber auch langfristig fortbestehen können. Der kritische Akt wird dann selbst zum Aushandlungsmedium der Maßstäbe und damit zu einem politischen Akt. Bereits Edward Said stellte fest, dass die »strittige« Natur des Wissens – welche die postmarxistische Ontologie impliziert – nur bedeuten kann, dass die »Kritik als Tätigkeit und Wissen umstritten sein« muss (Said 1997: 261). Folgt man dem Konzept der Hegemonie von Antonio Gramsci (1891-1937), auf das sich Laclau und Mouffe beziehen, sind Interventionen dann erfolgreich, wenn
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gesellschaftliche Kräfte einen breiten Konsens für ihre partikularen Interessen etablieren und diese allgemeingültig werden (1996: 1156-1573). In diesem Sinn müssen Diskurspositionen von anderen akzeptiert und anerkannt werden, um als legitim zu gelten. Das heißt, eine politische Kraft entsteht auch dadurch, dass alternative Perspektiven und hegemoniale Projekte etabliert werden, um soziale Verhältnisse zu transformieren. Davon ausgehend »mag eine bestimmte Position noch so wahr sein, sie ist es nicht, wenn sie sich nicht durchsetzt« (Laclau/Mouffe: 2012: 21). Die Ablösung des klassischen Wahrheitsbegriffs entbindet Intellektuelle folglich nicht von der Pflicht aktiv zu werden, es bedeutet vielmehr »konkret dazu beizutragen, das vorhergesehene Resultat zu schaffen. Die Voraussicht erweist sich folglich nicht als ein wissenschaftlicher Akt der Erkenntnis, sondern als ein abstrakter Ausdruck der Anstrengung, ein Kollektiv zu schaffen« (ebd). In Bezug auf das wissenschaftliche Feld spricht Bruno Latour (2002) auch von einem Aktionsbzw. Artikulationspotential: Wird Wissenschaft als offener Verhandlungsprozess verstanden, dann hängt ihre Entwicklung von den Einsätzen der Forscher:innen ab, die das Wissen zugänglich machen und kanonisieren. Auf diese Weise bildet sich eine ›Wahrheit‹ ab, die wiederum nur so lange allgemeingültig bleibt, bis sie erneut befragt wird. Die politische Intervention besteht dann vor allem darin, Perspektiven sichtbar zu machen und Stimmen zu versammeln, um sie zu legitimieren und durchzusetzen. Blickt man auf das 20. Jahrhundert, so sind es vor allem die Studentenbewegungen ab den späten 1960er Jahren und die »Neuen sozialen Bewegungen« Anfang der 1980er Jahre, die den politischen Raum neu ausrichten. Das hat nicht nur Konsequenzen für die Debatten im Feuilleton, sondern auch für die politische Theorie. Die Kämpfe im linksalternativen Spektrum und ihre Fragen zu Ökonomie, Ökologie, Geschlechterverhältnissen, Feminismus, Sexualität, Rassismus sowie zur eigenen Lebensform und Selbstbestimmung können nicht mehr umstandslos über das Weltbild sozialistischer Klassenparteien erklärt werden. Die Verschiedenartigkeit der Kämpfe überschreitet die Logik des Antagonismus zwischen den Kapitalist:innen und dem Proletariat bzw. den marxistischen Hauptwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit und lässt die Auffassung von essenzialistischen »Letztelementen« (Stäheli 2000b: 9) wie etwa das revolutionäre Subjekt der Arbeiterklasse oder das vernünftige autonome Subjekt in einem anderen Licht erscheinen. Vor dem historischen Hintergrund der sozialen Kämpfe entwickeln Laclau und Moffe ein postmarxistisches Konzept, das die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in den Blick nimmt und zugleich ohne die Vorstellung eines ökonomischen Determinismus oder vordiskursiv bestehender Klassensubjekten auskommt. Klassen werden nicht als stabile und geschlossene Identitäten mit feststehenden Artikulationsfunktionen verstanden, sondern als »articulated set of elements« (Laclau 1990: 32) und damit als beweglicher »Teil einer Kette, die eine Pluralität von Identitäten umfasst« (Laclau 2013b: 369). In diesem Verständnis sind Identitäten weder ho-
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mogene Einheiten noch sind sie durch einen Ort in der Gesellschaft vorgegeben, sondern heterogen strukturiert und durch soziale Beziehungen diskursiv konstituiert. Daraus lassen sich zwei Effekte für das Verständnis von Kritik ableiten: Werden Identitäten diskursiv hergestellt, dann müssen sie erstens beständig artikuliert und reproduziert werden, um sich zu stabilisieren und nachhaltig zu existieren. Das ausgeschlossene Andere stellt eine permanente Bedrohung für die eigene Identität dar und kann sich jederzeit im Inneren bemerkbar machen. Geht man von einer grundlegenden Konflikthaftigkeit aus und davon, dass Identitäten durch ihr antagonistisches Gegenüber daran gehindert werden, sich in Gänze zu verwirklichen, birgt dies erhebliches Potential für Dissens. Zweitens sind Identitäten heterogen strukturiert und in verschiedene Zusammenhänge eingebunden, das heißt, sie können sich unterschiedlich verknüpfen und in Bezug setzen, um politische Diskurse zu generieren. In dieser Hinsicht sind Grenzüberschreitungen zwischen verschiedenen Sphären und Partikularkulturen keine Ausnahme, sondern konstitutiver Bestandteil moderner Gesellschaften. Sie produzieren eine Vielzahl an Antagonismen, die im Alltag zwar verhüllt sind, die jedoch jederzeit Konflikte auslösen können. In dieser Perspektive ist kulturelle Identität weder endgültig fixiert noch homogen, sondern befindet sich im fortlaufenden Aushandlungsprozess und kann jederzeit befragt werden. Unter den Bedingungen der fortschreitenden Pluralisierung erkennt Laclau ein zunehmendes Bewusstsein für die Heterogenität und Instabilität moderner Gesellschaften. Diese werden immer weniger über große Universalisierungserzählungen und immer mehr über partikulare Begründungen wahrgenommen. »Die Moderne beginnt mit der Suche nach einem grenzenlosen historischen Akteur, der in der Lage ist, die Fülle einer perfekt instituierten sozialen Ordnung zu garantieren. Welcher Weg auch immer zu dieser Fülle führen sollte – eine ›unsichtbare Hand‹, die eine Vielzahl unterschiedlicher individueller Willen zusammenhalten sollte, oder eine universelle Klasse, die ein transparentes und rationales System von Sozialbeziehungen garantieren sollte –, er implizierte immer, dass die Akteure dieser historischen Transformation in der Lage sind, alle Partikularismen und Begrenzungen zu überkommen und eine mit sich selbst versöhnte Gesellschaft hervorzubringen. Das bedeutet wahre Universalität für die Moderne. Im Gegensatz dazu besteht der Ausgangspukt heutiger sozialer und politische Kämpfe in der starken Annahme ihrer eigenen Partikularität, in der Überzeugung, dass keiner dieser Kämpfe imstande ist, von alleine die Fülle der Gemeinschaft hervorzubringen.« (Laclau 2013a: 84) Das Bewusstsein für die Kontingenz und Konflikthaftigkeit moderner Gesellschaften wurde in den letzten Jahrzehnten geschärft, infolgedessen die liberale Fortschrittserzählung als »Projekt der Moderne« nicht nur in der Wissenschaft – Stichwort postfundamentalistischer Ansatz –, sondern auch in der Bevölkerung
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an Glaubwürdigkeit verliert. Ereignisse wie die Wiedervereinigung im November 1989 und das Ende des Kalten Krieges, die Terroranschläge auf das New Yorker World Trade Center im Jahr 2001 oder in Paris im Jahr 2015, der weltweite Aufstieg der populistischen Parteien seit den 2010er Jahren, der Einzug der AfD in den Bundestag im Jahr 2017 und die anti-demokratischen Inszenierungen während der Präsidentschaft von Donald Trump demonstrieren die Fragilität und plurale Umkämpftheit westlicher Gesellschaften. Koppetsch spricht in diesem Zusammenhang von »neuen deutschen Ängsten«, die durch den Aufstieg des Rechtspopulismus mit evoziert wurden (2019: 248). Reckwitz wiederum beschreibt diese Entwicklung als »Desillusionierung« (2019). Damit ist die Illusion von Erwartungen gemeint, die durch große Erzählungen wie die des gesellschaftlichen Fortschritts oder die einer konfliktfreien Gesellschaft nach dem Ost-West-Konflikt (Fukuyama 1992) lange Zeit die Einheit einer Gesellschaft bestimmt haben. Modernisierungstheoretische Gesellschaftserzählungen sind davon ausgegangen, »dass wir mit der Globalisierung in Bälde eine neue und letzte Stufe der Erweiterung gesellschaftlicher Großkörper auf eine höhere und inklusivere Einheit, das heißt auf die Ebene der Weltgesellschaft, erreichen würden,« so auch Koppetsch (2019: 11). Die Auflösung klassischer Ordnungen erzeugt Unsicherheiten und schafft einen Nährboden für politische Kämpfe um die Einrichtung der Gesellschaft, die im Feuilleton im Format der Debatte ausgehandelt werden. Die empirische Gegenwartsanalyse soll anhand von zwei Fallstudien exemplarisch erkunden, wie das deutsche Zeitungsfeuilleton unter diesen Bedingungen mit der Pluralität moderner Gesellschaften und ihren Antagonismen umgeht, letztlich wie es die konstitutive Offenheit des Sozialen ins Spiel bringt, durch die immer nur temporäre Fluchtpunkte gesetzt werden können, ohne sie je in Gänze zu erreichen. Welche Praktiken der Kritik und welche Formen von Konflikten können in den exemplarischen Gegenwartsanalysen identifiziert werden? »Wir werden folglich dann von demokratischen Kämpfen sprechen, wenn diese eine Pluralität politischer Räume implizieren, und von popularen Kämpfen, wo bestimmte Diskurse tendenziell die Spaltung eines einfachen politischen Raumes in zwei entgegengesetzte Felder konstruieren.« (Laclau/Mouffe 2012: 179) Die Zunahme von Partikularismen und die miteinander konkurrierenden hegemonialen Projekte werden in pluralistischen Gesellschaften zum bestimmenden Merkmal von Konflikten. Auf diese Weise ergeben sich differente Positionen und Identifikationsmöglichkeiten auf einem »kreuz und quer von Antagonismen durchzogenem Feld« (ebd.: 193). Politik wird in dieser Hinsicht weniger als Idee eines radikalen Umbruchs von Gesellschaft vorstellbar, sondern mehr als eine »Praxis des Erzeugens, der Reproduktion und Transformation sozialer Verhältnisse« (ebd.). Positiv gewendet erlaubt der prekäre Status der Gesellschaft eine Vermehrung von Orten des Antagonismus und damit die Vervielfachung demokratischer Kämpfe,
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in denen sich Subjekte nicht um einen zentralen Pol herum versammeln, sondern um eine Vielheit. »Je instabiler die gesellschaftlichen Verhältnisse, desto weniger erfolgreich wird ein bestimmtes System von Differenzen bleiben und desto mehr werden sich die Orte des Antagonismus vermehren. Diese Vermehrung erschwert die Konstruktion jeder Zentralität und infolgedessen die Errichtung einheitlicher Äquivalenzketten.« (Laclau/Mouffe 2012: 171) Mit dem Niedergang der klassischen totalisierenden Emanzipationsdiskurse und der Multiplikation von Identitäten und Lebensformen ist die Kritik am Bestehenden fragmentierter geworden. Die Vielzahl an Partikularismen zerstreuen sich, eindeutige soziale Zugehörigkeiten werden schwieriger, was einen gemeinsamen Streit um das Allgemeine erschweren kann. Zugleich werden die Möglichkeiten der Kritik aber auch reichhaltiger, wenn Ereignisse zunehmend zwischen unterschiedlichen Kulturen und hegemonialen Projekten ausgehandelt werden. Idealtypen von Ordnung und ihr Drang zur Universalisierung bestehen auch heute noch, sie rekrutieren sich jedoch weniger entlang eines allgemein relativ anerkannten Maßstabs und mehr im Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Wahrnehmungshorizonten. Insbesondere die Kämpfe im Spannungsfeld von modernistischen und neueren postmodernistischen Identitäten, wie sie in den nächsten Kapiteln empirisch untersucht werden, zeugen von diesen neuen Formen, die seit den 2010er Jahren in »Neue Kulturkämpfe« (Knobloch 2019) kumulieren. Davon ausgehend lässt sich die These aufstellen, dass aus der Politik der Verteidigung und Vereinheitlichung eine Politik der Artikulation geworden ist, die weniger reproduziert als vielmehr herausfordert und aushandelt. Besonders die Auflösung der kulturellen Differenz der als legitim anerkannten bürgerlichen Kultur und die als illegitim bestimmte Massenkultur fordert das Feuilleton heraus und modifizierte Praktiken der Kritik ein. Die Grenzüberschreitungen im kulturellen Raum rufen permanent zur Verhandlung auf. In diesem Sinn kann Kultur nicht auf die Leistung der Vermittlung und Integration von Gesellschaft reduziert, noch allein als »Ergebnis der von ihr selbst in die sozialen Verhältnisse hineinfingierten kulturellen Spielräume« (Baecker 2000: 161) definiert werden. Kultur ist vielmehr ein Ort der politischen Artikulation, an dem Identitäten mit unterschiedlichen Weltanschauungen ihre jeweiligen Vorstellungen von Kultur repräsentieren und konflikthaft miteinander aushandeln. Damit wird Kultur selbst zum Konflikt, das heißt sie wird zu einem Ort der politischen Auseinandersetzung und zum Gegenstand hegemonialer Interventionen. Das ganze Feld der Kultur erscheint dann »sowohl als Bühne wie auch als Gegenstand politischer Kämpfe« (Mouffe 1999: 50), oder wie John Fiske notiert: »Das Wort Kultur hat im Begriff Cultural Studies weder eine ästhetische noch eine humanistische Ausrichtung, sondern vielmehr eine politische.« (Fiske 2001: 17) In dieser Perspektive wäre das Feuilleton weniger das
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Deutungszentrum einer bürgerlichen Ordnung, das vorgibt, was sag- und denkbar ist, sondern mehr ein Ort, an dem unterschiedliche Perspektiven versammelt und gesellschaftliche Konflikte zum Ausdruck gebracht und ausgetragen werden. Für das 21. Jahrhundert bleibt zu prüfen, inwiefern sich die demokratischen Kämpfe in der Vorstellung einer »offenen« pluralistischen Gesellschaft aufrechterhalten lassen, und inwiefern Tendenzen der Vereinfachung bzw. der bipolaren Organisation des politischen Raums zu erkennen sind (vgl. Laclau 2005). Blickt man auf die unmittelbare Gegenwart, sind Entwicklungen zu beobachten, die entgegen der kulturellen Öffnungsprozesse einen politischen Extremismus in Form eines erstarkenden Nationalismus und Rechtspopulismus zeigen, die den popularen Kampf (Laclau/Mouffe 2012: 179) forcieren und im artikulierten Widerspruch von Volk und Elite die Gesellschaft in zwei entgegengesetzte Bereiche aufteilen. Begreift man die Institutionalisierung einer »offenen Gesellschaft« (vgl. Popper 2003) und den auf diese Weise hergestellten Pluralismus als Ergebnis von politischen Auseinandersetzungen, dann ist er temporär und muss immer wieder neu hergestellt werden, um zu existieren. Die Liberalisierungs- und Emanzipationsgewinne haben in den letzten Jahrzehnten zur Gleichberechtigung von sexuellen Minderheiten beigetragen und die Gleichstellung der Geschlechter sowie allgemein die Vielfalt an Lebensentwürfen befördert. Aktuell sind gegenläufige Tendenzen zu verzeichnen, die erneut einen Kulturessenzialismus an die soziale Oberfläche bringen, wie er gegenwärtig in den rechtspopulistischen Bewegungen weltweit zum Ausdruck kommt. Dies führt zu neuen Formen von Kulturkämpfen im Spannungsfeld von linken und rechten Deutungskulturen, die auch im Feuilleton zum Ausdruck kommen und in diesem Buch empirisch untersucht werden. Zwischen Öffnung und Schließung bleibt eine Gesellschaft ein ›leerer Ort‹, der von einer Vielzahl an demokratischen, anti-demokratischen, rassistischen oder andersartigen Diskursen besetzt werden kann.
Agonismus und demokratischer Streit Wenn sich die Antagonismen vervielfachen und die Pluralität an Partikularismen und Identitäten zunimmt, dann bedarf es öffentlicher Räume, an denen der Streit über allgemeingültige Werte und Prinzipien ausgetragen wird. Politische Verhandlungsräume entstehen prinzipiell überall dort, wo »das Allgemeine konflikthaft verhandelt wird« (Nonhoff 2006: 124). Mit Mouffe hat das Politische »keinen spezifischen, fixierten Ort innerhalb der Gesellschaft, sondern alle sozialen Beziehungen können zum Ort politischer Antagonismen werden« (2007b: 43). Das Feuilleton stellt ein öffentliches Forum für symbolische Deutungskämpfe bereit – eine Arena, in der sich Dissens manifestiert und Konflikte ausgetragen werden. Bezieht es sich in seiner Selbstbeschreibung traditionell auch auf liberal konzipierte Öffentlichkeiten im Ideal deliberativer Theorien, so wird für die Analyse das Konzept des
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Agonismus von Chantal Mouffe herangezogen, die den Konflikt und die Machtverhältnisse in den Vordergrund stellt. In ihren neueren Schriften fragt sie: »Was ist eine ›gute Gesellschaft‹? Ist sie befriedet und harmonisch, eine Gesellschaft, in der grundlegende Meinungsverschiedenheiten überwunden sind und wo sich mit Blick auf die Interpretation der gemeinsamen Werte ein überlappender Konsens gebildet hat? Oder ist es eine Gesellschaft mit einer vibrierenden öffentlichen Sphäre, in der viele konfligierende Ansichten zum Ausdruck gebracht werden können und wo es die Möglichkeit gibt, zwischen legitimen Alternativen zu wählen?« (Mouffe 2007b: 41) Mouffe vertritt die zweite Ansicht, weil es »ein Fehler ist zu glauben, dass es in einer ›guten Gesellschaft‹ keine Antagonismen mehr gibt und dass das konfliktorientierte Politikmodell dort obsolet geworden ist« (ebd.). Die Verneinung von Antagonismus und die Nicht-Anerkennung der Vielzahl an legitimen Positionen berge nicht zuletzt die »Gefahr, dass anstelle eines Kampfes zwischen Gegnern ein Krieg zwischen Feinden ausgetragen« (ebd.: 45f.) wird. Der Antagonismus droht sich dann gewaltsam etwa auf der Basis ethnisch, religiös oder nationalistisch begründeter Identitäten zu aktualisieren und forciert »populare Kämpfe«, wie sie sich angesichts eines erstarkenden Rechtspopulismus und Nationalismus gegenwärtig ereignen. Vor diesem Hintergrund entwirft Mouffe ein normatives Demokratiemodell, das die pluralistische und damit notwendig streitbare Instituierung von Gesellschaft in den Fokus rückt (vgl. Mouffe 2007a, 2008, 2014). Der »agonistische Pluralismus« betont den Konflikt zwischen gegensätzlichen hegemonialen Projekten (Mouffe 2007b: 41) und weniger den »Akt der politischen Institution« (Marchart 2010: 207), wie es für Laclau typisch bleibt, und wird damit anschlussfähig für eine Analyse von Debatten im Feuilleton. Mouffe fordert in ihrem stärker normativ ausgerichteten Ansatz eine Akzeptanz der »Pluralität legitimer Antworten auf die Frage, was gerechte Ordnung sei« (ebd.: 71), um die »Dynamiken des demokratischen Prozesses am Leben« (ebd.: 47) zu halten. Ihr geht es darum, Dissens durch die Aktualisierung von Antagonismen zu erzeugen und im agonalen Konflikt zwischen legitimen Gegner:innen auszuhandeln. Gegenüber rationalitäts- und konsensorientierten Demokratietheorien, die den konstitutiven Charakter des Antagonismus verbannen und damit zur Entpolitisierung von Konflikten neigen, plädiert Mouffe für die Errichtung von öffentlichen Arenen, die es den potentiellen Antagonismen ermöglichen, sich in agonistische Konflikte zu verwandeln (Mouffe 2008: 115). Dabei unterscheidet sie zwei Typen politischer Relationen: »Antagonismus im eigentlichen Sinn – stattfindend zwischen Feinden, also Personen, die keinen gemeinsamen symbolischen Raum teilen – und dem, was ich ›Agonismus‹ nenne. Dabei handelt es sich um einen anderen Erscheinungsmo-
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dus von Antagonismus, da Agonismus kein Verhältnis zwischen Feinden beinhaltet, sondern eines zwischen ›Gegnern‹, die auf paradoxe Weise ›freundschaftliche Feinde‹ definiert werden, als Personen also, die Freunde sind, weil sie einen gemeinsamen symbolischen Raum auf unterschiedliche Art und Weise organisieren wollen.« (2007a: 29f.) Die Unterscheidung von Antagonismus als politische Relation zwischen Feind:innen (in Anlehnung an Carl Schmitt) und Agonismus als politische Relation zwischen legitimen Gegner:innen bildet für Mouffe die Voraussetzung für demokratische Politik. Die Umwandlung von einer Feindschaft in eine Gegnerschaft geht mit einer wechselseitigen Akzeptanz der konfligierenden Parteien einher. Die Kategorie des »legitimen Feindes« (Mouffe 2007b: 45) beinhaltet, dass »kein sozialer Akteur den Anspruch erheben kann, das Fundament der Gesellschaft zu meistern. In diesem Verständnis wird das Verhältnis zwischen sozialen Akteuren nur dann demokratischer, wenn sie die Partikularität der Begrenztheit ihrer Forderungen akzeptieren« (Mouffe 2007a: 29). In diesem Sinn fokussiert der agonistische Konflikt die Konstruktion eines »Sie« auf eine Weise, in der das Andere nicht länger als zu vernichtender Feind wahrgenommen wird, »sondern als Gegner, d.h. jemand, dessen Ideen wir bekämpfen, dessen Recht, jene Ideen zu verteidigen, wir aber nicht in Frage stellen« (Mouffe 2007b: 45). Die Umwandlung von einem Kampf zwischen Feind:innen zu einem Kampf zwischen Gegner:innen setzt die Betonung eines »Wir« und die »verschiedenen Formen von Einheit zwischen den Elementen« (ebd.) voraus, um die starren Wir-Sie-Gegensätze in bewegliche Positionsdifferenzen zwischen politisch konkurrierenden Vorstellungen zu verwandeln. Neben der Differenz wird das Gemeinsame in den Fokus gerückt: Der Konsens über demokratische Grundwerte wie Freiheit und Gleichheit bildet die Voraussetzung für die Teilnahme an einem demokratischen Streit, auf den sich alle einigen, um von dort aus über die Art und Weise seiner Verwirklichung zu debattieren. In diesem Sinn wird davon ausgegangen, dass die Teilnehmenden einer Feuilletondebatte »einen gemeinsamen symbolischen Raum teilen« (ebd.), innerhalb dessen sie um die Einrichtung der Gesellschaft streiten. Dabei nehmen sie sich als legitime Gegner:innen wahr, das heißt sie konkurrieren um das Allgemeine und versuchen ihre jeweiligen Forderungen durchzusetzen – sprechen einander aber nicht das Recht ab, für ihre Position zu kämpfen und Hegemonie zu gewinnen.6
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Nonhoff unterscheidet zwischen einem »allgemeinen Allgemeinen« und einem »spezifischen Allgemeinen«: »Während ein ›allgemeines Allgemeines‹ in etwa als ›Gemeinwohl schlechthin‹ gelesen werden kann, zeichnet sich ein ›spezifisches Allgemeines‹ dadurch aus, dass es einen bestimmten Aspekt des Gemeinwohls einer bestimmten Bezugsgruppe ist.« (Nonhoff 2017: 91) Als Beispiele nennt er den Wohlstand aller Deutschen, die Sicherheit aller Fahrradfahrer, die Gesundheit aller Kinder oder die Erlösung aller Christen (ebd.).
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Mit Mouffe kann zwischen konventionellen und antagonistisch verfassten Konflikten unterschieden werden: Während es sich bei konventionellen Konflikten um Interessens- und Wertekonflikte zwischen konkurrierenden sozialen Gruppen handelt (vgl. Reckwitz 2006b: 345, Mouffe 2007a: 45, Auer 2008: 252), ringen antagonistisch verfasste Konflikte um die Erhaltung von Identitäten, die bedroht oder historisch bedingt in Frage gestellt werden. Dies wird beispielsweise in der Flüchtlingsdebatte deutlich, bei der die Grenzen des Sozialen zwischen Ein- und Ausschluss im Zuge globaler Dynamiken neu verhandelt werden. Auch in der Volksbühnendebatte wird die Tradition der bürgerlichen Kultur durch alternative postmodernistisch geprägte Theaterkulturen herausgefordert und kommt sprichwörtlich an ihre Grenzen. Die politische Theorie legt den Fokus auf die Frage, »wie sich Identitäten diskursiv konstituieren, welche Mechanismen die Identifikation von Individuen mit bestimmten Leitbildern, Vorstellungen, Programmen und Gemeinschaften steuern« (Glasze/Mattissek 2009: 153). Damit stellen sich Fragen nach der Modulation des Konflikts im und durch das Feuilleton selbst: Welche Identitäten bilden sich in den hier geführten Debatten aus? Welche Möglichkeiten der (Nicht-)Identifikation werden bereitgestellt, welche Wir-SieUnterscheidungen und welche Formen des Anderen und des Ausgeschlossenen werden artikuliert? »Denn leere Signifikanten, die auf die geheilte Gesellschaft verweisen sollen, werden nicht im eigenen Namen, sondern stets advokatorisch artikuliert, das heißt von einem bestimmten sozialen Ort aus für die ganze Gesellschaft. Das ist ja gerade der Kern des hegemonialen Denkens, dass man im Namen des Anderen spricht und dessen Forderungen in eine Kette äquivalenter Forderungen integriert, um so das Allgemeine zu konstituieren.« (Nonhoff 2017: 90) Können Gesellschaften nicht selbst als Sprecher:innen auftreten, um ihr Allgemeines genauer zu bestimmen, dann sind sie auf Advokaten angewiesen, die stellvertretend Vorstellungen von ihr auf den Begriff bringen. Advokaten sprechen in ihrem Namen. Auch das Feuilleton ist advokatorisch artikuliert: Es tritt als ›Sprecher der Gesellschaft‹ auf, indem Intellektuelle Ideen vom Allgemeinen repräsentieren und öffentlich zur Verhandlung stellen, um sie als die ›richtigen‹ darzustellen – oder mit Habermas gesprochen: Das Feuilleton verhandelt stellvertretend das »Räsonnement der Privatleute« und verwandelt sich in dieser Erzählung zum Sprecher der »Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute« (1990: 86). Im Feuilleton spricht in der Regel eine kulturelle Elite, ausgewählte Intellektuelle und Expert:innen, die ihre Reputation in speziellen Diskursfeldern wie der Wissenschaft oder im Literatur- und Kunstbetrieb erworben haben. Nach Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Jürgen Habermas und Martin Walser formen sich im dritten Jahrtausend neue Sprecher:innen wie Nora Bossong, Carolin Emcke, Navid Kermani, Juli Zeh und Slavoj Žižek. Nicht zuletzt die Soziologie – repräsentiert durch
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vorwiegend männliche Sprecher wie Heinz Bude, Didier Eribon, Armin Nassehi, Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa und Harald Welzer – gewinnt erneut an Relevanz im Feuilleton (vgl. Jantschek 2019). Besonders das Format der Zeitdiagnose als Möglichkeit der Gegenwartsbeobachtung erweist sich als anschlussfähig für ein allgemeines Publikum: »Zeitdiagnosen durchbrechen typischerweise diese Verständigungsschwellen zwischen Wissenschaft und öffentlicher Debatte. Sie sind auf der einen Seite für ein interessiertes Laienpublikum rezipierbar und werden auf der anderen Seite auch im wissenschaftlichen Feld ernst genommen. Dies ist eine einzigartige Konstellation, die in der Form vermutlich nur in den Sozial- und Geisteswissenschaften vorkommen dürfte.« (Osrecki 2011: 37) Damit wird ein Fokus auf die Teilnahmebedingungen gelegt, die als Resultate von politischen Auseinandersetzungen mit Ein- und Ausschlussverfahren einhergehen. Als Gatekeeper entscheidet das Feuilleton, wer Zugang zum Diskurs hat und wer nicht, und ist damit eine machtvolle Instanz, wenn es darum geht, wie Kunst und Kultur allgemein wahrgenommen und wie über Gesellschaft gesprochen wird. Das Ausmaß der Politisierung hängt auch vom Grad der Offenheit und der Möglichkeit der Teilhabe ab. »Werden bestimmte Bevölkerungsteile direkt oder indirekt von der Möglichkeit ausgeschlossen, sich gesellschaftliches Gehör zu verschaffen, so kann dies als Indikator für eine Entpolitisierung bzw. Postdemokratisierung gedeutet werden.« (Ritzi 2019: 69) Das Feuilleton bezieht sich traditionell auf das Ideal der bürgerlichen Öffentlichkeit und adressiert ein akademisch sozialisiertes Publikum, weshalb die Zugänge im Rahmen einer gemeinsamen Sprache und Bildung von vorne herein begrenzt sind. In der empirischen Analyse muss deshalb auch gefragt werden: Wer spricht im Feuilleton und hat die Autorität, seine Vorstellungen vom Allgemeinen zu repräsentieren, und wer nicht? Das Konzept zum Agonalen grenzt sich von der Idee der Geregeltheit als ein deliberativer Prozess bzw. der Anwendung von Diskursregeln ab, die Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns vorschlägt. Das normative Diskurskonzept der »idealen Kommunikation« (Habermas 1981) geht von einem rationalen Konsens und einer letztgründenden Lösung des Allgemeinen aus, die über einen vernünftigen Austausch von Argumenten und Gegenargumenten erlangt werden kann. Im Unterschied zu Habermas, der die Einigung über Unterschiede durch Verständigung in Orientierung an das bessere Argument fokussiert, also die Erlangung von Konsens durch Ausgleich, plädiert Mouffe für Dissens und die Akzeptanz eines grundlegenden Antagonismus. Das hat für die Untersuchung von politischen Diskursen verschiedene Effekte: Erstens wird nicht davon ausgegangen, dass in Konflikten primär Argumente eine Rolle spielen oder dass sich vernünftige Lösungen konstituieren – der konkrete Ablauf und seine Implikationen sind vielmehr Gegenstand der empirischen Fragestellung selbst (vgl. Keller 2011a: 229).
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Zweitens werden Argumente nicht als Voraussetzung eines »idealen Sprechakts« und als Annäherungsversuche an eine zu entdeckende Wahrheit begriffen, sondern als eine politische Strategie im Streben nach Hegemonie, weshalb auch die Legitimation von Interessen und Forderungen im Fokus steht. Drittens meint Politik die Konstitution des Eigenen durch Ausschluss von anderen Möglichkeiten, weshalb es sich bei Debatten um fortwährend niemals endende Aushandlungsprozesse handelt. Es ist stets ein antagonistisches Element in der Beziehung zum:zur Gegner:in vorhanden (Mouffe 2007a: 45), das ein Ende verunmöglicht. In der Vorstellung der »fortdauernden Konfrontation« (ebd.) werden Konsense als »vorübergehende Resultate einer vorläufigen Hegemonie« begriffen – »eine Stabilisierung von Macht, die immer auch eine Form von Exklusion mit sich bringt« (ebd.: 46). Demokratische Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit sind Ideale, die zwar angestrebt, jedoch niemals in Gänze erreicht werden – es existiert immer ein Ausgeschlossenes, das eine vollständige Schließung verhindert. Konsens als Ergebnis von Konflikten ist eine temporäre und partikulare Forderung, die sich so lange erfolgreich als universell zu behaupten vermag, bis sie unter bestimmten historischen Bedingungen erneut angefochten wird (Laclau 1990: 31). Mouffe kritisiert zwar die liberale Artikulation von Demokratie, letztlich geht es ihr aber um den Umgang mit der Pluralität moderner Gesellschaften und darum, ein »neues Verständnis liberaldemokratischer Politik zur Diskussion zu stellen« (Mouffe 2007a: 22). Die Überführung der Diskurs- und Hegemonietheorie in eine Demokratietheorie im Ideal einer lebendigen Streitkultur und eines »vibrierenden« (Mouffe 2007b: 41) pluralistischen Gemeinweisens wird häufig kritisiert. Mouffe stellt zwar ein alternatives Konzept vor, in dem nicht unterschiedliche Interessen um die Lösung von objektiven Problemen konkurrieren, sondern hegemoniale Projekte und alternative Programme im Widerstreit stehen. Die umfassende Anerkennung von radikaler Kontingenz und Antagonismus bei gleichzeitiger Annahme einer Einigkeit über die Relevanz von Freiheit und Gleichheit wird von Kritiker:innen jedoch als Widerspruch aufgefasst (vgl. Westphal 2013: 26). Im Sinn eines »normativen Postfundamentalismus« (Hildebrand/Séville 2015: 28) argumentiert das Konzept nicht mehr streng ontologisch, sondern zeichnet Pluralismus und Agonalität normativ aus (ebd.: 37) bzw. postuliert ethisch-politische
2. Das Feuilleton in der Theorie
Werte (konfligierender Konsens) und rückt damit in die Nähe zu den von Mouffe selbst kritisierten deliberativen Theorien.7
2.2
Das Hybride: Ästhetisierung und Literarisierung, Versammlung und Komposition, Popularisierung und Affizierung, Öffentlichkeit und Performanz
Geht man mit der Feuilletonforscherin Todorow davon aus, dass »Feuilletonarbeiten quellenkritisch aufbereitet« und »kontext- und medienbezogen erfasst werden« sollen, dann müssen die »tagespublizistischen Bedingungen« respektive »Schreibbedingungen des Mediums« (1988: 698) in der Analyse berücksichtigt werden. Sie beeinflussen »Themen, Formen und Sprache der Feuilletonarbeiten nachhaltig und historisch unterschiedlich« (ebd.: 699). Während Todorow die »wechselseitigen Abhängigkeiten von Medium und Leserschaft im öffentlichen Kommunikationsprozess« sowie die »organisatorischen und kommerziellen Dimensionen« (ebd.) in den Vordergrund stellt, soll hier nicht das Publikum noch die Organisation erforscht werden, sondern die Re-Konstruktion von politischen Diskursen und Machtkämpfen. In Orientierung an Laclau und Mouffe wird die politische Artikulation nicht als rein symbolische Repräsentation einer Institution aufgefasst, sondern als »Resultat komplizierter und mobiler Kräfteverhältnisse« (Marchart 2004: 24). Anders formuliert, die »Signifikationspolitik« (Hall 1982), das heißt »die Macht, ein bestimmtes Ereignis mit Bedeutung auszustatten«, geht aus »komplizierten Kräfteverhältnissen« hervor (Marchart 2008: 164), die sowohl die historischen Kontexte als auch die Wahrnehmungs- und Produktionsverhältnisse des Feuilletons betreffen.8 Davon ausgehend stellt sich die Frage: Unter welchen Bedingungen und mit welchen spezifischen Praktiken werden Deutungskämpfe im Feuilleton medial aufbereitet und gestaltet?
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Schwiertz (2019: 75) weist darauf hin, dass Mouffe trotz der Kritik an Ansätzen der deliberativen Demokratie diesen sehr nahe ist, wenn sie davon ausgeht, dass sich antagonistische Hegemonieprojekte auf einen fairen Rahmen der Auseinandersetzung einigen können. Er verweist kritisch auf die Nähe zur »Para-Politik« (Rancière 2016: 83) als eine andere Form liberaler Demokratie, die das Demokratische wiederum zu einem bloßen Teil ihrer Ordnung macht. Zur Normativität von Mouffe vgl. auch Demirović 2013: 211f. und Hildebrand/Séville 2015. Das Terrain, auf dem Bedeutung konstituiert wird, ist machtgestützt, das heißt in eine diskursive Konfiguration eingebunden, in der bestimmte Optionen realisiert und andere unterdrückt werden. »Damit ist Macht nicht nur als negative und repressive Instanz gedacht, sondern konstitutiv für jede Sinnproduktion, indem sie neue Artikulationen hervorbringt.« (Stäheli 2009: 266) Das Machtkonzept von Laclau und Mouffe orientiert sich an der produktiven Rolle von Macht im Sinn von Foucault (1981) und in Form von Hegemonien (Gramsci).
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In Anlehnung an Foucault schlägt Reckwitz eine geneaologisch-archäologische Analyse vor, um nachvollziehen zu können, »in welchem Kontext wann welche Wissenselemente aufgetaucht sind und wie unterschiedliche Elemente aufeinandergetroffen oder sich schleichend miteinander verzahnt haben« (2015b: 190). Die Genealogie wird so zur Analyse unreiner und heterogener Ursprünge, die sich einem sinnstiftenden Meta-Narrativ nicht beugt (vgl. Stäheli 2000b: 44f.), wie es vom Feuilleton in Orientierung an die Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit und der Rationalität bisweilen selbst produziert wird. So spricht der ehemalige Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung, Thomas Steinfeld, von einer »räsonierende[n] Öffentlichkeit« (Kluge 2004), der ehemalige Ressortleiter des Feuilletons der Zeit, Jens Jessen, von einem »prinzipielle[n] Feuilleton«, das die Funktion und Fähigkeit besitze, das Grundsätzliche im Sinne von »Welterklärung« (Jessen 2004: 52) auf der Basis allgemeiner Werte zu erörtern. Hier wird der Gestus des Räsonierens im Anschluss an deliberative Konzepte (vgl. Habermas 1981) als eine ökonomie-, interessen- und kommerzfreie Praxis inszeniert, um eine Öffentlichkeit zu imaginieren, die sich über den rationalen Austausch von Argumenten und einen gemeinsamen Willen zur Wahrheit formiert. Kriterien wie Affektivität und Emotionen, Inszenierung und Spektakel gelten in dieser Perspektive als unkultiviert und werden mit dem Kriterium der Unvernunft in Verbindung gebracht bzw. als Gegenbegriff zur Vernunft der bürgerlichen Öffentlichkeit postuliert. Hält man nach den hybriden Konstellationen Ausschau, »in denen sich hier Wissensordnungen und kulturelle Schemata, die zunächst weitgehend unabhängig voneinander entstanden sind, doch auf eine bestimmte und ex post unberechenbare Weise miteinander kombiniert haben« (Reckwitz 2015b: 189), dann können für das Feuilleton – entgegen der Selbstbeschreibung – zwei Entstehungsbedingungen bzw. Herkunftslinien geltend gemacht werden: der literarische Diskurs der bürgerlichen Kultur und der populäre Diskurs der Massenmedien. Historisch betrachtet zeigt sich das Zeitungsfeuilleton als ein hybrides Medium, das sich im 19. Jahrhundert im kulturellen Überlagerungsprozess von verschiedenen Diskursen, Praktiken und Technologien unterschiedlicher Herkunft herausbildet. Der Buchdruck ermöglicht eine Verbreitung von Schriftkulturen über die Gelehrtendiskurse hinaus und trägt so zur Ausbildung der bürgerlichen Kultur als eine Bedingung der Möglichkeit des Feuilletons bei.9 Die Schriftkulturen bilden 9
Auch wenn der Buchdruck eine Erfindung des 15. Jahrhunderts ist, erfolgt die Diversifikation der Bildungsgüter und die extensive Praxis des Lesens erst ab 1750 mit der Leserevolution und den Alphabetisierungskampagnen der Aufklärung. Bücher und Schriften zirkulieren nicht mehr ausschließlich in Gelehrten-, Verwaltungs- und Klerikaldiskursen, sondern werden für eine breitere Leserschaft bereitgestellt und finden Eingang in unterschiedliche Gesellschaftsschichten. Während der industrialisierte Buchdruck die Verbreitung und Zugänglichkeit von Schriftkultur über die gelehrten Spezialdiskurse hinaus ermöglicht, stellt die Humanwissenschaft ideengeschichtliche Bedeutungskonstruktionen im Kontext der Ver-
2. Das Feuilleton in der Theorie
im Horizont der Aufklärung und des Humanismus im 18. Jahrhundert spezifische Praktiken der Kritik und der kulturellen Selbstverständigung aus, auf die sich das Feuilleton bis heute bezieht: die Möglichkeit der Reflexion der eigenen Lebensform und die Bildung seiner selbst im Ideal der Autonomie und der Selbstverwirklichung, die Praktiken der ästhetischen Verständigung und das »Räsonnement als Prozess der Selbstaufklärung der Privatleute« (Habermas 1990: 116). Die anti-hegemoniale Kultur, wie sie sich im Kampf gegen den Feudalismus und die Klerikalkultur ausgebildet hat, transformiert sich im späten 19. Jahrhundert schließlich zu einer hegemonialen Kultur: der bürgerlichen Kultur. Reflektierte Distanznahme, praktisches Weltwissen, souveräne Verfügung über relevante Kenntnisse, moralische Kompetenz und ästhetischer Geschmack werden die Leitkategorien der Moderne (vgl. Reckwitz 2006a: 171). In diesem Zeitraum etabliert sich auch das professionelle Printsystem und mit ihm die Massenpresse und der Zeitungsmarkt seit 1848 (vgl. Wilke 2000: 252). Die technische Innovation der Schnell- und Rotationspresse sowie neue Verfahren der industriellen Papierherstellung leiten im 19. Jahrhundert als zweite konstitutive Bedingung den Institutionalisierungsprozess des Feuilletons von einem Teil ›unter dem Strich‹ zu einem eigenständigen Ressort in der bürgerlichen Zeitung neben Wirtschaft, Politik und Sport ein (vgl. Maier 2002: 110-198). Auf diese Weise wird die Kritik aus dem bürgerlichen Diskurs im literarischen Feld herausgelöst und in den populärkulturellen Zusammenhang eines tagesaktuellen Massenmediums überführt. In Verschränkung der beiden Diskurse konstituiert sich das Feuilleton als eine widersprüchliche Doppelstruktur, die als solche nicht nur unterschiedliche, sondern auch widerläufige Elemente in sich vereint: Der bürgerliche Diskurs orientiert sich traditionell an Elementen wie Innerlichkeit und Empfindsamkeit, Vertiefung und Ernsthaftigkeit, Authentizität und Transzendenz, Schöpfertum und Genie, Wahrheit und Moral, Geschichte und Tradition. Der populäre Diskurs hingegen umfasst Elemente wie Äußerlichkeit und Begehren, das Reizvolle und Serielle sowie eine Tendenz zum Künstlichen und Spektakulären, letztlich die Lust an der Oberfläche, dem Flüchtigen und Vergänglichen. In der Grenzüberschreitung traditionell getrennter Diskurse bringt das Feuilleton einen beweglichen und experimentellen Spielraum im Journalismus hervor, wie er auch in der Feuilletonfornunftphilosophie und der Aufklärung zur Verfügung und begründet alternative Wert- und Normvorstellungen. Die Ausbildung eines Lesepublikums (vgl. Giesecke 1991) ist hauptsächlich auf die Schicht des gehobenen Bürgertums in den Städten beschränkt (Kiesel/Münch 1977: 166). Dabei ist das nützliche, das zivile und das hermeneutische Lesen zu unterscheiden, die sich idealtypisch in das neue Wertesystem des bürgerlichen Selbstverständnisses einfügen. Das emphatische Lesen war hingegen Gegenstand scharfer Kulturkritik. Die Kritik an der Vermengung von arbeits-und freizeitspezifischer Aktivität richtet sich insbesondere an Frauen und verdichtet sich in der Debatte zur »Lesewut« um 1800 (vgl. Schön 1987: 46f., 243f.).
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schung vielfach beschrieben wird (Echte 1996, Oesterle 2000, Frank/Scherer 2012, Kernmayer 2012a): Es unterhält und affiziert, es polemisiert und polarisiert, es räsoniert und irritiert, es bildet und zerstreut, belehrt und moralisiert. Damit kann das Feuilleton als ein »kombinatorisches Arrangement verschiedener Sinnmuster« (Reckwitz 2006a: 15) verstanden werden, in dem sich Spuren vergangener Entitäten finden und konstitutiv miteinander zu einem neuen – hybriden – Medium verbinden. Als »eine Kopplung und Kombination unterschiedlicher Codes verschiedener kultureller Herkunft in einer Ordnung« (ebd.: 19) bezieht sich das Feuilleton auf die bürgerliche Praxis und die Vermittlung von Hochkultur und ist als Bestandteil der Massenpresse zugleich Produkt und Träger der Populärkultur im Zuge einer aufkommenden Kultur- und Medienindustrie. Die historischen Entstehungsweisen im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis von bürgerlicher Kultur und Kunst, Massenpresse und Zeitung in der Moderne eröffnen eine alternative Perspektive auf das Feuilleton und schließt an die Feuilletonforschung an, die gerade die Unbestimmtheit als bestimmendes Merkmal in den Vordergrund rückt: »Es ist die Eigenart des Feuilletons, dass es sich nicht eindeutig auf einen bestimmten Inhalt bzw. eine bestimmte Form festlegen lässt.« (Kauffmann 2000: 14) Die Hybridität verweist auf die Ambivalenz des Feuilletons und meint im Unterschied zum Verständnis »reiner Entitäten« (vgl. Latour 2008) eine Konstellation der Vermischung und (Re)Kombinierung10 , bei der nicht eine einzelne homogene und widerspruchsfreie kulturelle Logik herrscht, sondern »eine Überschneidung und Kombination von mehrdeutigen kulturellen Mustern unterschiedlicher Herkunft […], die teilweise miteinander konkurrieren und Friktionen hervorrufen, die teilweise synkretistisch miteinander verwoben werden und dabei unberechenbar neue Produkte hervorbringen« (Reckwitz 2006a: 632). In der feuilletonistischen Praxis verbinden sich verschiedene Kulturen, die sich nicht nur in ihrer Logik widersprechen, sondern traditionell auch antagonistisch ausgerichtet sind bzw. vom Feuilleton selbst als Gegenspieler postuliert werden. Als
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In den Kulturwissenschaften hat der Begriff des Hybrids im Kontext der »postcolonial studies« sowie im Diskurs um Interkulturalität an Bedeutung gewonnen (vgl. Bhabha 1994, Bronfen et al. 1997, Spivak 1993, Hutnyk 2005), um die Vorstellung von der Existenz homogener Kulturen mit klaren Außengrenzen zu problematisieren. Aus einer kulturtheoretischen Perspektive werden Identitäten dann als hybrid bezeichnet, wenn »die Bestandteile der Mischung aus verschiedenen kulturellen Kontexten stammen« (Nederveen 1999: 116) und wenn sich die kulturelle Form einer »Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikationsketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft« (Bronfen et al. 1997: 14). Auch innerhalb der Soziologie hat der Hybridbegriff Konjunktur, vor allem im Rahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie und den Arbeiten von Bruno Latour (2008, vgl. Kneer et al. 2008), in der die Unterscheidung von Natur und Kultur, Materie und Bedeutung, Menschlichem und Nicht-Menschlichem dekonstruiert wird.
2. Das Feuilleton in der Theorie
Teil der industriellen Populärkultur handelt es sich beim Feuilleton um eine marktabhängige Ware sowie eine serielle Produktion und Form der Vervielfältigung. Das erfordert ein gewisses Maß an Standardisierung und Vereinfachung, was dem bürgerlichen Ideal der Tiefsinnigkeit und Originalität ebenso widerspricht wie der Authentizität und ihrem Anspruch auf Unverwechselbarkeit und souveräne Selbstregulierung. So belehrt das Feuilleton nicht nur und führt kognitiv zur Selbstbildung, sondern es unterhält auch und zerstreut, überschreitet also die »routinisierte, mentale Gleichförmigkeit des bürgerlichen Subjekts, das sich seiner maßvollen Verfasstheit durch Verkörperung moralischer Maxime versichert« (Bublitz 2005: 67).11 Die feuilletonistische Praxis unterläuft das bürgerliche Ideal von Beginn an, wenn die Populärkultur die Ausbildung von Gefühlen, Empfindungen und Phantasien intensiviert und in Orientierung an die Aufmerksamkeitsökonomien das Spektakel und den Skandal fokussiert. Ausgehend von den soziohistorischen Entstehungsbedingungen, bewegt sich das Feuilleton bis heute in einem komplexen wie widersprüchlichen Wahrnehmungs- und Produktionsgefüge, in dem es seine Praktiken, Strategien, Programme und Sprecherpositionen generiert. Im Einzelnen können vier Elemente genannt werden: Ästhetik, Journalismus, Technik und Ökonomie. Die Ästhetik resultiert aus der Verbindung zum künstlerischen-intellektuellen Feld und bildet das zentrale Unterscheidungsmerkmal zum sonstigen (Zeitungs-)Journalismus wie zur politischen Berichterstattung. Im Unterschied zur klassischen philosophischen Ästhetik bezieht sich der verwendete Begriff der Ästhetik hier nicht allein auf den hochkulturellen Bereich des Schönen und Wahren, auf die Bildung und den guten Geschmack, noch auf die Kunst als autonome Sphäre oder Subsystem der Gesellschaft (vgl. Welsch 1993: 9, Hieber/Moebius 2011: 9). Im Sinn des altgriechischen Begriffs der aisthesis und seiner Bedeutung der sinnlich vermittelten Wahrnehmung verweist er auch auf die Teilhabe an einem kollektiven Wahrnehmungsraum, aus dem heraus das Feuilleton spricht und seine Positionen ausbildet. In Verbindung mit dem künstlerisch-intellektuellen Feld generiert es nicht nur einen spezifischen Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizont, vor dem Ereignisse selektiert und mit Sinn belegt werden, sondern bringt auch einen spezifischen Diskursraum hervor, in dem Stimmen aus Wissenschaft, Kunst und 11
Reckwitz hat auf die Bruchstelle hingewiesen, die darin besteht, »dass die reflexive, emotionale und imaginative Innenwelt, die sich in der Praxis des Lesens und Schreibens im Subjekt ausbildet, in ihrer Tendenz eine Form annehmen kann, welche die Kategorien der bürgerlichen Bildung, Kognitivität und Moralität überschreitet« (2006a: 172). Das bürgerliche Subjekt soll sich im Ideal der systematischen Selbstverbesserung und der Fortschrittsgeschichte kontrollieren, gleichzeitig bilden sich über die Schriftkulturen – etwa über die Verschriftlichung von Gefühlen in Briefen für den räumlich entfernten Leser – neue Affektmodulationen und Gefühlswelten aus (Schön 1987: 99, Habermas 1990, Koschorke 2003: 12, Reckwitz 2006a: 166f.).
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Politik Eingang erhalten.12 Der kulturelle Raum einer pluralistischen Gesellschaft setzt sich aus partikularen Projekten und einer Vielheit an Weltanschauungen zusammen, die teils unvereinbar sind und im Konflikt stehen. Diese können sich potenziell in den verschiedenen Zeitungsfeuilletons artikulieren und in Beziehung gesetzt eine Debatte generieren. Darüber hinaus ist das Feuilleton ein Teil des Journalismus und institutionell in das Medienunternehmen Zeitung eingebunden. Zeitungen sind periodisch erscheinende Druckwerke, die sich in Kernressorts als »Wahrnehmungsstruktur für die routinierte publizistische Bewältigung von Ereignissen« (Ulrich Saxer, zit.n. Meier 2002: 13) gliedern. Insofern ist das Feuilleton sowohl an ein Redaktionskollektiv als auch die politischen Leitlinien des Blattes gebunden und orientiert sich an den journalistischen Kriterien der Objektivität/Faktizität, Relevanz und Aktualität (Weischenberg/Kleinsteuber/Pörksen 2005: 346). Zudem folgt die Produktion redaktionellen Logiken, wenn etwa Texte redigiert, gekürzt und verändert oder zu einem bestimmten Zeitpunkt abgegeben werden. Die Technik ermöglicht zuallererst die serielle Produktion und Verbreitung des Feuilletons an ein disperses Publikum, zugleich bringt sie ein spezifisches Setting an Regeln und Vorgaben hervor. Die Druckerpresse stellt beispielsweise Routinen für die Distribution und die Produktion bereit und strukturiert die redaktionellen Abläufe durch zeitliche Vorgaben wie Druck- und Redaktionsschluss. Die Materialität des Papiers und der Umfang des Feuilletons in der Zeitung strukturiert wiederum die Textproduktion etwa durch das Layout oder die Artikel- und Zeilenanzahl. Als Unternehmen erfolgt zudem eine Orientierung an die Ökonomie und den Markt sowie die damit verbundenen Anforderungen der Gewinnerzielung und der leserbezogenen Attraktivität, die auch Strategien der Inszenierung im Kampf um Aufmerksamkeit erzeugt. Die hybride Form des Feuilletons bringt einen flexiblen Ermöglichungsraum hervor und bildet im Bedingungsgefüge von ästhetischen, journalistischen, ökonomischen und technischen Diskursen eine feuilletontypische Praxis aus, mit denen Konflikte aufbereitet und Debatten gestaltet werden. Geht man davon aus, dass Subjekte weder autonom noch unabhängig von Diskursen agieren, sondern sich über eine Vielzahl an Mikropraktiken in einem heterogenen Ensemble von Kontexten konstituieren (Foucault 1988), und davon, »dass Medien Inhalte nicht nur weitergeben, sondern grundsätzlich generativ sind« (Krämer 2008: 21), dann bilden sich im Feuilleton spezifische Praktiken der Debatten- und Textproduktion aus, die hier als mediale Praktiken verstanden werden: Sie sind an ihre Kontexte
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Das künstlerisch-intellektuelle Feld meint mit Bourdieu ein »Geflecht von Praktiken und Diskursen« und »Strukturen der Verdichtung, Ballungen von ›doing‹ und ›sayings‹, damit ganze Praxis/Diskursformationen, indem spezialisierte, der Sache nach aufeinander bezogene wissensabhängige Verhaltensformen sich in institutionellen Arrangements gruppieren und sich zu sozialen Feldern fügen« (Reckwitz 2006a: 51).
2. Das Feuilleton in der Theorie
und Medien – dem Feuilleton und der Schriftlichkeit – gebunden. Mit dem Begriff der Praktik ist eine routinierte und wiederkehrende Tätigkeit gemeint, »eine typisierte Form des Sich-Verhaltens« (Reckwitz 2010c: 181f.), die körperlich verankert ist sowie regelmäßig und zugleich immer wieder neu in spezifischen Situationen angewendet wird. In diesem Sinn kann die Tätigkeit der Praktiken der institutionellen Reglementierung und damit der Politik zugeordnet werden: Sie bearbeitet und gestaltet Diskurse, organisiert Macht und verteilt die Rollen in der Öffentlichkeit. Die kritische Praxis im Vollzug und die Demonstration von Konflikt ist hingegen Ausdruck des Politischen. Für das Feuilleton werden – im Unterschied zum klassischen (Politik)Journalismus – folgende Praktiken geltend gemacht: Ästhetisierung und Literarisierung, Versammlung und Komposition, Popularisierung und Affizierung.
Ästhetisierung und Literarisierung Die spezifische Form der ästhetischen Subjektivierung kann im Unterschied zum klassischen (Informations-)Journalismus als eine zentrale Praktik des Feuilletons bestimmt werden. Begreift man das Feuilleton als ein Ort der Reflexion und als »fortlaufenden Kommentar« (Reifenberg 1929: 4) der Politik, dann steht nicht allein die Koordination und das effiziente Erreichen von Zwecken im Vordergrund wie etwa die Information und die sachliche Wiedergabe von Ereignissen. Wenn die »Botschaft des feuilletonistischen Textes […] immer auch das darin entworfene ästhetische Subjekt« (Kernmayer 2012a: 514) ist, dann werden Ereignisse ästhetisch überformt und fiktionalisiert. »In ästhetischen Praktiken werden Zeichensequenzen […] nicht als Träger von Informationen, sondern von Interpretationen behandelt: Zeichen werden als Ort der offenen und mehrdeutigen, der nicht natürlichen, sondern künstlichen Bedeutungsproduktion verstanden, in denen sich eigene Welten auch imaginierter und fiktiver Art bilden.« (Reckwitz 2015a: 28) Beim Feuilleton handelt es sich zwar immer schon um ein Medium zwischen Literatur und Journalismus und damit um einen Ort der fiktionalen Produktion, wenn beispielsweise Zeitungsromane, Gedichte und Kurzgeschichten veröffentlicht werden; oder aber ästhetische Kritik im Rahmen von Rezensionen zu Kunst, Literatur, Musik etc. geübt wird. Zugleich hat das Politische im Feuilleton einen ästhetischen Anteil und beruht auf Interpretationen und Weltanschauungen (Rancière 2008a, Mouffe 2014: 140), die in debattenorientierten Darstellungsformen wie Essays, Glossen und Kolumnen einen Ausdruck finden. Versteht man das Feuilleton als einen Möglichkeitsraum der politischen Auseinandersetzung, werden Weltdeutungen imaginiert und in Bezug gesetzt, um das Soziale zu gestalten und konflikthaft zu verhandeln. Dabei gilt es auch die »interpretative Kontingenz zu öffnen,
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die Zeichenhaftigkeit und Mehrdeutigkeit der Dinge zu demonstrieren und auszuprobieren« (Reckwitz 2008a: 307). »Die experimentelle und grenzüberschreitende Struktur ästhetischer Praktiken bereiten den Hintergrund für eine kritisch-selbstreflexive Öffnung für andere Weisen der Weltwahrnehmung, eine Öffnung, die der ästhetischen Praxis einen politischen Charakter geben kann.« (Reckwitz 2015a: 29) Geht man mit Welsch (1991: 359) von einem »sensibilisierten Subjekt« aus, das per se »ästhetisch« ist, da es über die Fähigkeit verfügt, ästhetische Inhalte wahrzunehmen, so können ästhetische Wahrnehmungen bestimmte Funktionen erfüllen (etwa Unterhaltung, Identifikation, Erkenntnis).13 Gleichzeitig entsteht potentiell ein kreativer Umgang mit Ereignissen, in dessen Vollzug Möglichkeiten ausgetestet werden und alternative Sinndeutungen entstehen können. Dabei bilden sich affektive Strukturen von hoher Intensität aus, welche die Sinne und Gefühle anrufen, und nicht zuletzt den Empathie- und Erlebenscharakter stärken. »Die Wahrnehmung ist ästhetisch, indem sie sich nicht auf eine empiristische Abbildung von Gegenständen zur Vorbereitung des Handelns reduziert, sondern sich des Konstruktcharakters des Wahrnehmens bewusst ist und alle Möglichkeiten ausnutzt, um die subjektiven Wahrnehmungsmodi als Formen des Erlebens zu potenzieren und zu vervielfältigen.« (Reckwitz 2004a: 170) Über die logisch-sachliche Informationsvermittlung und politische Kommentierung im Journalismus hinaus kann die ästhetische Praxis alternative Möglichkeitsräume der Wirklichkeitsdarstellung und -verhandlung eröffnen. Kritik artikuliert sich dann nicht allein darin, »die eigentliche Wirklichkeit oder die wahren Interessen aufzudecken«, sondern auch »darin, eine gegebene Situation in neuer Gestalt zu reartikulieren« (Mouffe 2014: 125). Auf diese Weise können alternative Wirklichkeiten entwickelt und sedimentierte Strukturen befragt werden, um die Kontingenz des Sozialen »sichtbar [zu] machen, die der vorherrschende Konsens oft verschleiert und überdeckt« (ebd.: 143). Im Feuilleton artikuliert sich Kritik unterschiedlich: als pädagogisch-moralische Ansprache durch eine wissende Autorität, als Unterbrechung vom Gewohnten durch Irritation, als Aufforderung zum Streit durch Polemik, als plakative Symbolik der Grenzüberschreitung durch Provokation
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Reckwitz unterscheidet hier zwischen einer allgemeinen Wahrnehmung, die in der sozialen Praxis immer schon enthalten ist und den Zweck hat, »Informationen zu gewinnen, damit Handeln kompetent vollzogen werden kann« (2015a: 25), und einer ästhetischen Wahrnehmung. Diese vollzieht sich selbstreferentiell, das heißt ihr Zweck ist die sinnliche Wahrnehmung sui generis und nicht primär an Aufgaben, Funktionen und Ziele gebunden. Durch ihren zweckfreien Gestus mobilisiert sie die Sinne und lockt Wahrnehmungen um ihrer selbst willen hervor.
2. Das Feuilleton in der Theorie
oder als sinnlich-reflexive Ansprache, die zur Imagination anregt und Interpretationsspielräume eröffnet. Ob explizit oder implizit: Debattenbeiträge regen zum Widerspruch an und sind immer auch Angebote der Weltdeutung; sie verfügen über eine gesteigerte Offenheit und können so »politische Definitions- und Benennungskämpfe« (Stäheli 2000a: 188) auslösen. Literarische Mittel sind besonders geeignet, ästhetische Wahrnehmungen und reflexive Denkspiele in Sprache zu überführen und einem allgemeinen Publikum zu vermitteln. Erstens können sie Wirklichkeit darstellen und komplexe soziale Zusammenhänge mit Anschaulichkeit ausstatten, um allgemein verständlich und erfahrbar zu werden. Zweitens können literarische Mittel Räume der Interpretation und Imagination eröffnen, sie können Fragen entwerfen, »die noch nicht gestellt worden sind, aber gleichsam in der Luft – im epistemischen Raum des Denkbaren – liegen« (Horn 2013: 375). Literatur in diesem Sinn ist »nicht nur eine Analytik gegebenen Wissens, sondern vor allem auch ein Raum der Reflexion, gleichsam des Testens von möglichem Wissen«, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn (ebd.: 376). Das Feuilleton ist immer auch ein Ort, an dem Vorstellungen der Weltbeschaffenheit kreiert sowie alternative Gesellschafts- und Zukunftsbilder entworfen werden: Es spekuliert und gibt Prognosen ab, wie es einmal werden könnte, es zeichnet Utopien, wie es einmal werden sollte, warnt vor möglichen Bedrohungen und problematisiert bestehende Verhältnisse oder ruft in dramatischen Akten die Krise aus. Damit nimmt es Ereignisse vorweg oder wirft Probleme auf und trägt sie damit überhaupt erst in die Gesellschaft hinein.14 Als literarische Verfahren sind beispielhaft die Intertextualität zu nennen, wenn sich etwa der:die Essayist:in einrichtet »zwischen Texten, die er zitiert, kommentiert und tentativ auf die eigene Lage bezieht« (Bürger 1992: 10), ferner die Narrativisierung und Topisierung oder einzelne Stilmittel wie Metapher, Assoziation und Anekdoten, die in der Moderne von Schriftsteller:innen und Dichter:innen in den Zeitungsjournalismus getragen wurden und vor allem im Feuilleton Anwendung finden. Das »Bemühen, die Textdramaturgie, die Sprache, die Metaphern sorgsam (mitunter auch raffiniert) einzusetzen«, als auch der »Sinn für das Subjektive, das Anschauliche, das Exemplarische, das Atmosphärische, das Detail, das Nicht-Offensichtliche, das Charakteristische, das Persönliche, das Emotionale« zeichnen das Feuilleton bis heute aus, so der Kommunikationswissenschaftler Dieter Roß (2004: 90).
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Häufig werden literarische Mittel eingesetzt, weil allgemeine Sprachmuster zur Beschreibung des Erfahrbaren und Denkbaren nicht ausreichen. Bezeichnet das Außen beispielsweise »eine radikale Andersheit«, »etwas, das im Sinnhorizont einer Gesellschaft nicht gefasst werden kann und diesen trotzdem heimsucht und in ihm insistiert« (Stäheli 2000b: 37), dann kann es streng genommen nur literarisch vermittelt eingeholt werden.
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Besonders die Metapher stellt ein wirkmächtiges rhetorisches Mittel im Journalismus bereit, weil sie zur Vermittlung von komplexen Situationen für ein breites Publikum beiträgt. Grundsätzlich wird die Metapher als ein »verkürzter Vergleich, der auf außersprachliche Ähnlichkeit rekurriert« (Haverkamp 1996: 19) verstanden. »Die Herausarbeitung von Ähnlichkeiten zwischen Sachgebieten, die Verdeutlichung abstrakter Begriffe durch Anschauungen oder schlicht die Erbauung, Unterhaltung oder Verführung des Publikums durch fröhliche Wortspielerei« (Lüdemann 2004: 31) werden dabei als der eigentliche Zweck begriffen. In diesem Sinn ermöglicht die Übertragung einer Bedeutung auf etwas anderes Komplexes in einem Schlagwort zu bündeln und anschaulich zu vermitteln (vgl. Junge 2010). Auch in der Soziologie hat die »Analyse von Metaphern als Instrumente der Welterschließung und Wissensgenerierung« (Farzin 2016: 145) an Bedeutung gewonnen.15 Metaphern werden hier als Instanzen von »Wissensproduktion und praxis« (ebd.: 144) aufgefasst. Insofern finden sie nicht nur als Hilfsmittel zur Veranschaulichung oder als Ornament mit ästhetischem Zweck Betrachtung, sondern auch als Wirklichkeitskonstrukteure, über die Wissen vermittelt und erst hergestellt wird. Metaphern können als gestaltende Mittel von Lebenswelten begriffen werden, die aktiv in das soziale Geschehen eingreifen und Möglichkeitsräume des Politischen eröffnen. Wie Laclau und Mouffe schreiben, sind sie »keine Gedankenformen, die einer ursprüngliche konstitutiven Buchstäblichkeit sozialer Verhältnisse einen zweiten Sinn hinzufügen; vielmehr sind sie selbst Teil des ursprünglichen Terrains, auf dem das Soziale konstituiert wird« (2012: 147). Beispielhaft kann die Metapher »Latte-Macchiato-Mütter« (Maier 2011) in einem Artikel in der tageszeitung angeführt werden, die Veränderungen im Sozialen zum Ausdruck bringt und eine Debatte angestoßen hat. Die Metapher vermittelt die Beobachtung einer Journalistin, dass im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg nicht mehr die Künstler:innen und Kreativen in den Cafés sitzen, sondern die Mütter mit ihren Kindern. Die im Wandel befindliche Ordnung wird durch die Metapher literarisch erfasst, als Versuch, einen Ausschnitt des Sozialen zugänglich zu machen, der ansonsten im Verborgenen verbleibt. Die Zusammenführung von heterogenen Elementen, die im Allgemeinen nicht in Beziehung stehen, vermittelt das Wahrgenommene und Spekulative auf anschaulich-spielerische Weise und erregt in der Widersprüchlichkeit nicht nur Aufmerksamkeit; sie ruft auch die Dimension des Politischen an, wenn darin kulturelle Bestände befragt und soziale Zugehörigkeiten verhandelt werden.16
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In der Rhetorik der Aufklärung erfährt die Metapher traditionell eine Abwertung, weil sie durch ihre Literatizität an Logik und Rationalität verliert (vgl. Lüdemann 2004: 24). Zugleich kann die feuilletonistische Metaphorik auch eine Beschaulichkeit und Ausdruckslosigkeit transportieren. Todorow attestiert dem Feuilleton der Weimarer Republik beispielsweise eine »hohe metaphorische Rekurrenz« und eine »Vorliebe für tropische Wendungen«:
2. Das Feuilleton in der Theorie
Fiktionale Mittel im Feuilleton sind Verfahren, mit denen politische Diskurse hergestellt und vermittelt werden. Für die empirische Analyse stellen sich folgende Fragen: Wie setzt sich die Literatur in Verbindung zum Faktischen, wie wird mit ihr Wirklichkeit dargestellt und auch nähergebracht? Welche narrativen Muster und rhetorischen Mittel der Politisierung, der emotionalen Aufladung und der Legitimation werden eingesetzt und welche Effekte haben sie für den politischen Diskurs?
Versammlung und Komposition Hier möchte ich zunächst an die Sozialfigur des »Künstler-Kurators« als »Arrangeur ästhetischer Prozesse« (Reckwitz 2012: 115) anschließen. Mit Reckwitz übernimmt der »Künstler-Kurator« die Funktion, »gegebene Elemente aus der soziokulturellen Welt der Gegenwart und Vergangenheit auszuwählen, zu modifizieren, zu kombinieren und zu präsentieren« (ebd.). Als Kurator:in verstanden, ist das Feuilleton immer auch »Rechercheur und Selbstkommentator«, »Atmosphäreninitiator« und »Agent einer politisch-kulturellen Intervention« (ebd.: 116). Dies zeigt sich etwa in der kontinuierlichen Auswahl an relevanten Ereignissen und ästhetischen Artefakten oder aber in der Orchestrierung bzw. strategischen Besetzung von Stimmen in Debatten. Das Feuilleton fällt Entscheidungen darüber, welche Diskurse, Ereignisse und Stimmen Eingang in den öffentlichen Diskurs erhalten und welche nicht, welche Bezüge gesetzt werden und auf welche Weise sie sprechen. Damit stellt es einen räumlichen, atmosphärischen und intellektuellen Zusammenhang her, zu dem auch die Koordination und kommunikative Vernetzung von Sprecher:innen gehört. Im Zusammenhang mit den Künsten spricht Marchart von einer »kuratorischen Funktion« (2007) zur Herstellung einer Öffentlichkeit, in der Konflikte zum Ausdruck gebracht werden, anstatt sie stillzustellen. In eine ähnliche Richtung weist auch Rancière: »Wesentliche Arbeit der Politik ist die Konfiguration ihres eigenen Raumes. Sie besteht darin, die Welt ihrer Subjekte und ihrer Tätigkeiten zu Gesicht zu bringen. Das Wesentliche der Politik ist die Demonstration des Dissens als Vorhandensein zweier Welten in einer einzigen.« (Rancière 2008b: 33)
»Sie benutzen nicht nur eine offene, auf den mitdenkenden Leser angewiesene Sprache, sondern auch eine in ihrer Vieldeutigkeit häufig vage Sprache« – teils »inhaltlich ganz unbestimmt und ohne realpolitischen Bezug« (Todorow 1988: 739f.). Könne diese Entwicklung auch mit der »Rivalität mit der Hochliteratur-Sprache« begründet werden, so zeige sie zugleich, »dass manche Überlegung wenig klar, manche Idee vom ›hochgespannten‹ Zeitgeist mehr als von reflektierter Erfahrung geprägt war« (ebd: 740).
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In der Vorstellung von Rancière sollen durch die Formierung von öffentlichen Räumen politische Äußerungen und Interessen allgemein sichtbar werden und eine Gemeinschaftlichkeit entstehen, die sich über einen konfrontativen Austausch konstituiert. Auch Mouffe geht von einer zweifachen Bewegung im Streit aus, wenn sie die Gleichzeitigkeit von mit- und gegeneinander kämpfenden Gegner:innen betont, die im Konflikt hervorgebracht werden. In diesem Sinn stellt das Feuilleton idealtypischerweise einen öffentlichen Streitraum her, in dem widersprüchliche Stimmen an einen gemeinsamen Ort zusammengeführt werden, um öffentliche Angelegenheiten kontrovers zu diskutieren. Latour (2013) spricht in diesem Zusammenhang von einer »virtuellen Zusammenkunft«, bei der die Teilnehmenden singulär zusammenkommen und wieder auseinandergehen. So besehen sind politische Versammlungsräume im Feuilleton weder natürlich gegeben noch konstituieren sie sich rein in der Routine; vielmehr organisieren sie sich je nach historischer Situation immer wieder neu und sind daher eher selten. Versammlungsräume bilden sich häufig, wenn technische oder institutionalisierte Entscheidungskräfte an Problemlösungen scheitern und sich zerstreute Partikularkulturen notwendig neu zu Kollektiven versammeln, um in der Krise eine »gemeinsame Welt« zu komponieren (vgl. ebd.). Kollektive generieren sich also, wenn Konflikte im Spiel sind und die Artikulation von Dissens notwendig wird, um gefährdete Formen von Freiheit und Gleichheit im Kampf um die gute Ordnung zu erhalten oder neu zu bestimmen. Latour, der ›Politik‹ nicht auf einen klar abgegrenzten Bereich oder ein institutionalisiertes Verfahren beschränkt, sondern alle Elemente einbezieht, die oder das ›politisch‹ handeln und reden, führt den Begriff der »Komposition« (lat: zusammensetzen) ein. Dabei handelt es sich um eine bestimmte Bewegung des Zusammensetzens, die bezogen auf politische Versammlungen ein zukünftiges Kollektiv entstehen lässt, das sich im Streben nach Autonomie und auf der »Suche nach dem Gemeinsamen« selbst hervorbringt. Aus zerstreuten Individuen wird eine kulturelle Einheit, ein »Wir« bestehend aus verschiedenen Gruppen und Aggregaten, das mit Latour »langsam komponiert werden muss« (ebd.: 12). So besehen bilden sich für den Zeitraum einer Debatte temporäre Kollektive aus, die für diesen einen Konflikt einberufen werden und sich wieder auflösen, um sich in der nächsten Debatte wieder neu und anders zusammenzusetzen. Der Begriff der »Komposition« wird von Mouffe mit dem Begriff der »Artikulation« verbunden: Begreift man die auf diese Weise hergestellte Welt als Ergebnis einer »hegemonialen Konstruktion«, dann werden ergänzend die Machtverhältnisse und die im Widerspruch stehenden Forderungen einbezogen, die in der politischen Artikulation in Form von Wir-SieUnterscheidungen zum Ausdruck kommen (2014: 127). Aus dem Kurator, so könnte man formulieren, wird dann ein Komponist: Als Versammlungsraum selektiert das Feuilleton nicht nur fortlaufend ästhetische Objekte, Ereignisse und Sprecher:innen aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld, es
2. Das Feuilleton in der Theorie
setzt sie auch über einen längeren Zeitraum hinweg mit spezifischen Techniken in Beziehung, um Konfliktstrukturen herzustellen, die eine öffentliche Streitsache allgemein verhandelbar machen. Politische Versammlungsräume, wie sie im Feuilleton im Zeitraum einer Debatte medial zur Aufführung gebracht werden, ereignen sich im hybriden Zusammenspiel ästhetischer, journalistischer, technischer und ökonomischer Diskurse. Das Feuilleton stellt Öffentlichkeit für Ereignisse her und initiiert Debatten, um Aufmerksamkeit für sozial relevante Themen zu generieren und für eine gewisse Dauer im öffentlichen Diskurs präsent zu halten. Dabei setzt es nicht nur die Diskurse und Stimmen auf eine spezifische Weise in Bezug, sondern bestimmt auch den Ton, den Sound, heißt die Form des politischen Diskurses, seine Atmosphäre, Stilistik und Semantik. Damit stellt sich die Frage: Wie werden Versammlungen als temporäre Zusammenkünfte im Format der Debatte im Feuilleton hergestellt und gestaltet? Welche Diskursräume und Stimmen erhalten Eingang und wie werden sie miteinander verbunden, um Dissens zu formieren? Die Form der Versammlung wird im folgenden Abschnitt zur Popularisierung konzeptionell präzisiert, um sie für die empirische Analyse zugänglich zu machen. Erst anhand von konkreten Fallbeispielen zeigt sich die »langsame Komposition« von Öffentlichkeit im Feuilleton, die prozesshaft hergestellt und mit spezifischen Verfahren organisiert wird. Politische Sprechakte im Feuilleton unterscheiden sich von der »Versammlung der räsonierenden Privatleute« (Habermas) wesentlich durch die populäre Struktur, die spezifische Strategien und Effekte generiert, die auf die Wissensvermittlung im Feuilleton einwirken und sie temporär zu einer politischen Kommunikation werden lassen.
Popularisierung und Affizierung Die bürgerliche Praxis der literarischen Verständigung wird mit der Institutionalisierung des Feuilletons in den populären Diskurs überführt, insofern der populäre Modus selbst zu einer operativen Größe der Feuilletonkommunikation wird.17 Da-
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Neben der Popularisierung spielen noch zwei weitere Kategorien der Populärkultur eine Rolle, die in den folgenden Kapiteln zum Feuilleton in der Spätmoderne und in den Gegenwartsanalysen ausführlicher behandelt werden. Erstens die Populärkultur als Abgrenzungsfigur und Bewertungsstrategie: In dieser Perspektive fungiert das Populäre als konstitutives Anderes, von dem man sich abgrenzt, um die eigene (hoch-)kulturelle Identität zu sichern. Damit einher gehen Beurteilungs- und Bewertungsprozesse, die mit dem Begriff sowohl eine spezifische Qualität von kulturellen Produkten als auch besondere Weisen ihres Gebrauchs bezeichnen. Zweitens die Populärkultur als Gegenstand von Kritik und Konflikt: Vor allem in der Spätmoderne vollzieht sich das Feuilleton als ein Spannungsraum der kulturellen Heterogenität, das nicht nur Artefakte unterschiedlich kultureller Herkunft verhandelt, vom klassischen Kunstwerk über den Comic bis hin zur Jeans und zum Popstar, sondern auch im Widerspruch stehende Identitäten in Bezug setzt, um die kulturelle Gegenwart zu verhandeln.
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mit einher gehen bestimmte Formen der Popularisierung: »Es will auf die Massen wirken und versucht deshalb in einfachem Deutsch, in klaren Sätzen zu schreiben.« (Jessen/Meunier 1931: 76) Die Feuilletonforscher Jessen und Meunier begegnen der Popularisierung von Wissen im Feuilleton durch Einfachheit und Klarheit mit Skepsis, wenn von »Massenlektüre« und »Massendenken« (ebd.: 93) die Rede ist. Popularisierung deutet sich als ein Prozess an, der komplexes Wissen in manipulationsstrategischer Absicht (»will auf Massen wirken«, ebd.: 76) simplifiziert. Traditionell wird der Feuilletonismus mit einem kommerziell-routinierten Kulturjournalismus und einer Käuflichkeit der Theater- und Literaturkritik im Rahmen der aufkommenden Kulturmärkte in Verbindung gebracht und vor dem Hintergrund der bürgerlichen Ideale wie Authentizität und Originalität abgewertet (vgl. Streim 2000: 129, Payk 2008: 27). Damit einher geht eine tiefe Skepsis gegenüber den Massenmedien, die trotz eines Strukturwandels hin zu einer massendemokratischen Öffentlichkeit bis heute die Debatten prägt (vgl. Weingart 2001: 233). Insbesondere das Populäre wird unterschiedlich konnotiert und zeigt sich häufig als eine negativ besetzte und umstrittene Kategorie. Im Unterschied zu hierarchischen bzw. dualen Modellen und einem eher ›kulturpessimistischen‹ Blick verfolgt dieser Ansatz einen alternativen Zugang. Folgt man der Auffassung, dass Wissen an materielle Speicherung und Zirkulation, an konkrete Formen der Inszenierung, Darstellung und Vermittlung gebunden ist, tritt die Medialität des Feuilletons und damit die feuilletontypischen Mittel der Dramatisierung und Dynamisierung in den Fokus. In der Perspektive eines weiten Medienbegriffs und der Vorstellung der Konstruktion von Diskursen durch Artikulation erfolgt die Wissensproduktion nicht als Transport von Informationen aus einem Spezialdiskurs in die Öffentlichkeit, sondern rückt den Konstruktionscharakter und damit die Darstellungsform des Wissens in den Vordergrund. Im Feuilleton verknüpfen und überlagern sich unterschiedliche Wissensdiskurse, die in den Prozessen der Popularisierung gestaltet, neu formatiert und transformiert werden. Insofern geht es nicht darum, was mit welcher Funktion vermittelt wird, sondern wie Wissen medial inszeniert und aufbereitet wird, um für ein breites Publikum anschlussfähig zu werden. Das Publikum wird nicht in der Spezialsprache der verhandelten Diskurse adressiert, das Wissen wird vielmehr übersetzt und folgt der Logik des Popularisierungsmediums. In diesem Sinn werden notwendigerweise Kommunikationsformen entwickelt, die eine Inklusion überhaupt erst attraktiv machen. Damit wird der Blick auf die Mittel der Konstruktion fiktionaler Inklusionsfiguren und die medialen Strategien gelenkt, mit den Debatten aufbereitet und initiiert werden. Beim Feuilleton handelt es sich zunächst um ein Verbreitungsmedium, das über Ereignisse aus wissenschaftlichen, ästhetischen und politischen Spezialdiskursen berichtet und sie durch technische Reproduktion für ein breiteres Publikum zugänglich macht. Die Zusammenführung gesellschaftlicher Teilbereiche und ih-
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res »über ein großes Gebiet verstreuten« (Tarde 1989: 24) Publikums geht mit der Herstellung einer größeren Öffentlichkeit einher, die eine Entspezifizierung des zu vermittelnden Wissens erfordert, um allgemein verständlich zu werden. Das Feuilleton löst sich in der Moderne von den literarischen und politischen Zirkeln und adressiert als Kulturteil in der Zeitung verschiedene Adressatenkreise mit unterschiedlicher kultureller Bildung – produziert also weder für einen relativ homogenes Publikum aus Literaten-, Kritiker:innen- und Gelehrtenkreisen mit spezifischem Fachwissen noch für ein Bildungsbürgertum, das über ein relativ einheitliches historisches Wissen verfügt. Das Wissen wird also notwendigerweise popularisiert, das heißt die im Feuilleton verwendeten Semantiken und Zeichen müssen vieldeutig genug sein, um für eine »Vielzahl unterschiedlicher Kontexte anschlussfähig« (Stäheli 2005: 160) zu werden. Stäheli bezeichnet dies als Hyper-Konnektivität und bezieht sich dabei auf das Polysemie-Argument, das von John Fiske für populärkulturelle Texte entwickelt wurde. Populäre Texte sind so codiert, dass sie in verschiedenen Kontexten und für eine große Anzahl an sozialen Gruppen anschlussfähig sind und damit zur Allgemeinverständlichkeit beitragen. In dieser Perspektive erfordert die »strukturierte Heterogenität des Publikums« eine »entsprechend strukturierte Heterogenität von Bedeutungen im Text« (Fiske 2001: 63). Die Prozesse der Pluralisierung und die kulturelle Entgrenzung im späten 20. Jahrhundert stellt das Feuilleton vor neue Herausforderungen. Sowohl die Vielheit an Sub- und Spezialkulturen, Szenen und Lebensstilen als auch die kulturelle Differenz zwischen modernen und postmodernistischen Identitäten erschweren eine allgemeine Adressierung. In Anlehnung an Fiske kann man davon ausgehen, dass die Pluralisierung den Grad an »strukturierter Heterogenität des Publikums« und damit die »strukturierte Heterogenität von Bedeutung« erhöht, weshalb im Feuilleton selbst auch von einer Krise gesprochen wird (vgl. Steinfeld 2004). Zum einen sollen Deutungsangebote offen genug sein, um zugänglich zu werden und möglichst viele Identitäten zu kollektivieren. Zum anderen sollen sie so speziell sein, dass sie ein kulturinteressiertes und gebildetes Lesepublikum ansprechen, das sich in der Spätmoderne immer weniger über ein gemeinsames Wissen vereinheitlichen kann. Vor diesem Hintergrund stellt sich an die empirische Analyse zum einen die Frage, wie die speziellen Semantiken aus den unterschiedlichen Feldern und Identitätsdiskursen popularisiert werden und welche Effekte sie auf die Form der politischen Auseinandersetzung haben. Zum anderen stellt sich die Frage nach den Verfahren der Faszinations- und Aufmerksamkeitserzeugung, die Debatten initiieren und am Laufenden halten. Mit Stäheli bildet nicht allein die hergestellte Zugänglichkeit die Voraussetzung für das Populäre, es müssen auch »Mechanismen eingesetzt werden, die versuchen, diese Zugänglichkeit zu steigern« (2000c: 325f.). Nimmt man den Ansatz »nur was publik ist, kann populär werden« (Helmstetter 2007: 52) ernst, gilt umgekehrt: Nicht alles muss populär werden, was publik ist, sondern populär ist das, was bei vielen Beachtung findet (Hecken 2006: 58). Et-
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was muss also erst bekannt gemacht und In-Szene-gesetzt werden, um registriert zu werden und jene Relevanz zu erhalten, die es für das Populär-Werden braucht.18 Damit »gibt es keine per se populären kulturellen Gegenstände – kulturelle Gegenstände müssen im Rahmen des Managements der Publikumsunterscheidung erst zu populären gemacht werden« (Stäheli 2007a: 314). Dies gilt um so mehr, wenn sich die ökonomischen Bedingungen verschärfen, die Aufmerksamkeitsknappheit zu einem zentralen Merkmal wird und die Kämpfe um ein kulturinteressiertes Publikum im Kontext der Heterogenität der Kulturen aggressiver werden. Unter den hybriden Bedingungen erfolgt die Popularisierung von Spezialwissen nicht allein im aufklärerischen Interesse zur Verbreitung von Wissen und zur Verbesserung des Geschmacks, sondern auch ökonomisch bedingt und verlagert sich zunehmend in den Bereich des Performativen, in dem Strategien der Inszenierung und Skandalisierung Raum gewinnen. Wird die bürgerliche Praktik der Kritik als Performance in Szene gesetzt, um die Anschlussfähigkeit zu steigern, nimmt sie den Charakter von Erlebnis, Spektakel und Entertainment an. Ereignisse werden mit spezifischen Mitteln der Faszinations- und Aufmerksamkeitserzeugung derart aufbereitet, dass sie nicht nur allgemein verständlich werden, sondern auch das Interesse des Publikums erregen. Eingebunden in einen regulierenden Markt als auch integriert in die Alltagspraktiken der Rezipient:innen, wandelt sich das Feuilleton zu einem Konsumprodukt und ist damit Teil jener Populärkultur, von der es sich traditionell abgrenzt.19 Damit kann ein weiteres Merkmal für die politische Feuilletonkommunikation bestimmt werden: Neben der Allgemeinverständlichkeit und Zugänglichkeit – durch Hyper-Konnektivität und die Praxis des In-Szene-Setzens – ist die emotionale und affektive Verankerung entscheidend. Das Feuilleton unterhält und versetzt die Leserschaft in Stimmung, es affiziert und berührt. Der Feuilletonforscher Peter Utz beschrieb den Schriftsteller und Feuilletonisten Robert Walser einmal als einen »Redaktor aus Temperament«, der die »einlaufenden Telegramme« nicht bloß »mit den Augen und dem Verstand« liest, als vielmehr körperlich induziert, springe ihm doch »der elektrische Funke aus dem über die Länder gezogenen Drahte hinüber in sein Nervensystem und zuckt da weiter vom Wirbel bis zur Zehe« (Utz 1996: 166). In diesem Sinn arbeitet das Feuilleton auf verschiedenen Ebenen: Als 18
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Der Begriff der Inszenierung entstammt dem Feld des Theaters und bedeutet ursprünglich so viel wie »in Szene setzen«, das heißt, »ein dramatisches Werk vollständig zur Anschauung bringen, um durch äußere Mittel die Intention des Dichters zu ergänzen und die Wirkung des Dramas zu verstärken« (Lewald 1837: 307, zit.n. Fischer-Lichte 1998: 81f.). In diesem Sinn meint Inszenierung als »spezifische[r] Modus der Zeichenverwendung in der Produktion« den Prozess der Gestaltung, in dem etwas zur Erscheinung gebracht wird (ebd.: 86). Zum Journalismus als Populärkultur vgl. Lünenborg 2005, Renger 2000. Zur Ökonomie im Feuilleton vgl. Höhne/Ruß-Mohl 2005: 229-248, Streim 2000: 122-141, Stegert 1998: 163-165, Todorow 1996a: 16f.
2. Das Feuilleton in der Theorie
moralische Instanz trägt es zur Stabilisierung des Sozialen bei, indem es zweckvolles Weltwissen produziert und normativ einordnet. Zugleich affiziert es mittels Imagination und Fiktion und kann auf ästhetischer Ebene Irritationen auslösen. Zwischen »Zweck und Normorientierung« und »relativ eigengewichtigen sinnlichen Wahrnehmungsakten und Empfindungen« (Reckwitz 2015a: 29) bilden sich spezifische Verfahren im Feuilleton aus, die neben kognitiv-analytischen Elementen auch affektiv-sinnliche Potentiale produzieren. Gerade Medien im kulturellen Segment zeigen sich als sinnstiftende und identitätsstabilisierende Kräfte, über die sich Kulturinteressierte nicht nur informieren und bilden, sondern auch subjektivieren und ihrer selbst vergewissern. Ästhetische Praktiken zur Steigerung und Intensivierung von Emotionen und Affekten werden jedoch nicht nur zur Unterhaltung und zur kulturellen Selbstverständigung eingesetzt, sondern auch medial strategisch zur Herstellung von Aufmerksamkeit und zur Legitimierung von politischen Interessen. Debatten und öffentliche Stellungnahmen im Feuilleton aktualisieren sich im Affekt und werden leidenschaftlich geführt. Entgegen liberaler Politik- und Demokratiekonzepte hebt besonders Mouffe in ihrem Ansatz zum Agonismus hervor, dass Leidenschaften und Politik sich nicht ausschließen als vielmehr konstitutiver Bestandteil von politischem Handeln sind (vgl. Bargetz/Sauer 2010: 152). Mit ihr entsteht ein demokratischer Streit dann, wenn »legitime demokratische Positionen aufeinandertreffen«, »die stark genug sind, politische Leidenschaften zu mobilisieren«. »Daher kann die Veränderung politischer Identitäten niemals aus einem rationalistischen Appell an die wahren Interessen des Subjekts resultieren, sondern nur aus der Einbeziehung des gesellschaftlichen Akteurs in einer Reihe an Praktiken, die seine Affekte in einer Weise mobilisieren, die den Rahmen desartikulieren, innerhalb dessen der vorherrschende Prozess der Identifikation stattfindet.« (Mouffe 2014: 144) Geht man davon aus, dass Kritiker:innen erst zu Kritiker:innen werden, die ihre Stimme erheben und in den öffentlichen Diskurs eintreten, dann vollziehen sich Mobilisierungsprozesse im Anschluss an Mouffe durch »affektive Kräfte«, die am Ursprung der kollektiven Formen von Identifikation« stehen (2007a: 34). Affektive Kräfte in diesem Sinn beziehen sich auf die Befragung des Selbst im Rahmen von Subjektivierungsprozessen durch kollektive Identitäten, die politisch mobilisieren und sozial inkludieren. Davon ausgehend stellt sich für die empirische Analyse die Frage: Welche Formen der Affizierung und Mobilisierung können identifiziert werden, mit welchen Verfahren werden sie hergestellt, und welche Effekte haben affektive Kräfte auf die Herstellung von politischen Diskursen und ihre Verläufe?20 20
Stäheli unterscheidet in Orientierung an Laclau zwischen Emotionen und Affekten: »Gerade weil Affekte im Gegensatz zu Emotionen nicht narrativierbar und jenseits des Signifikations-
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Zwischen der Selbstbeschreibung und der medialen Infrastruktur entfaltet sich ein Widerspruch: Das Feuilleton repräsentiert sich als Teil einer liberalen Diskurskultur in der Idee der Aufklärung und ist als Teil einer modernen Medienöffentlichkeit zugleich Bestandteil der Populärkultur. Historisch betrachtet installiert die »Doppellegitimität« (Reckwitz 2010a: 741) eine Unvereinbarkeit, die sich weder zu der einen Seite, noch zu der anderen Seite auflösen lässt. Das Feuilleton bewegt sich im fortlaufenden Widerspruch zwischen ernsthafter Deutung von speziellen Wissensbeständen und ihrer Aufbereitung für ein heterogenes Publikum. Damit wird die eigene Differenzierungsmarkierung permanent unterlaufen bzw. das Feuilleton weicht in seiner Außendarstellung von den intern verwendeten Identifikationskonstruktionen und anspruchsvollen Idealen ab. Versteht man das Populäre als »Unterscheidung zwischen Publikum und seinem Außen« (Stäheli 2007b: 15), offenbart sich darin ein Paradox: Als konstituierendes Außen zeigt sich das Populäre als Abgrenzungsfolie im Sinn eines Bedrohungsszenarios zur Erhaltung des Eigenen. Als Potential hingegen inkludiert es ein imaginäres Publikum und stellt Möglichkeiten der Partizipation und Legitimierung bereit. Damit ist das Populäre im Feuilleton Problemlösung und Problem zugleich. Die »immanente Instabilität« (Reckwitz 2010a: 741) implantiert eine Bruchlinie in der feuilletonistischen Kommunikation und damit eine permanente Potentialität zum Scheitern. Das Feuilleton reguliert seine Kommunikationsprozesse zwischen dem Ideal der bürgerlichen Kultur und den Anforderungen des Populären, um sich von der Boulevardpresse einerseits und der Kultur- und Fachzeitschrift andererseits zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund stellen sich an die empirische Analyse folgende Fragen: In welchem Rahmen kann sich die Entspezialisierung von Wissensbeständen bewegen, um für verschiedene Diskurskontexte anschlussfähig zu werden, ohne dabei an Glaubwürdigkeit zu verlieren? Wie affekthaft können Debatten im Feuilleton geführt werden, um Anschlusskommunikation
geschehens anzuordnen sind, können sie nicht ohne Weiteres auf eine diskursive Logik der Hegemonie reduziert werden. […] Der Begriff des Affekts verfügt über den Vorteil, eine soziale Beziehung zu denken, die nicht ausschließlich auf signifikatorische Praktiken beruht, sondern ein Anziehungs- und Abstoßungsverhältnis meint.« (Stäheli 2007d: 132) Mit der Medientheoretikerin Moira Gatens (1995) wird darunter in Anlehnung an Deleuze die Eigenschaft verstanden, zu affizieren und affiziert zu werden, was »zu einer gesteigerten Anschlussfähigkeit diskursiver Ereignisse« führen kann (Stäheli 2007d: 135). »Eine Politik der Angst, des Zorns und auch der Gewalt kann erst dann in ihrer eigenständigen Funktionsweise erfasst werden, wenn diese affektiven Dimensionen nicht bloß auf eine den Hegemonialprozess (unter)stützende Funktion reduziert, sondern in ihrer ebenso unheimlichen wie eigenständigen Kraft der Anziehung und Abstoßung verstanden werden« (ebd.: 136). Für eine Übersicht in der kommunikations- und sozialwissenschaftlichen Forschung vgl. Lünenborg/Maier/Töpper 2018.
2. Das Feuilleton in der Theorie
sowohl beim allgemeinen Publikum als auch bei den Stimmen aus dem intellektuellen Feld zu erzeugen bzw. nicht zu gefährden? Welche Transformationsprozesse durchlaufen Wissenschaftler:innen, wenn sie als öffentliche Sprecher:innen die Rolle der (Medien-)Intellektuellen übernehmen?
Öffentlichkeit und Performanz Mit den Konzepten des Agonalen und Hybriden wird die Vorstellung einer (politischen) Öffentlichkeit kritisch in den Blick genommen, die sich am »liberalen Modell bürgerlicher Öffentlichkeit« (Habermas 1990: 52) des 19. Jahrhunderts orientiert (vgl. Calhoun 1992). Gemäß der deliberativen Demokratietheorie, auf die sich auch das klassische Feuilleton idealtypisch beruft, ist Öffentlichkeit auf Rationalität und damit auf einen Raum des Vernünftigen angewiesen. Aus Sicht des Populären bestimmt sich Öffentlichkeit demgegenüber nicht allein über den Austausch in der Logik der besseren Argumentation noch über eine rein technische Übermittlung und der damit verbundenen Zugänglichkeit, sondern auch über Formen der Hyperkonnektivität und der Affektivität zur Herstellung von Publikum. Die Mittel der Argumentation sind in dieser Perspektive nur eine Möglichkeit, Publikum zu adressieren, und werden mit spezifischen Verfahren der Theatralisierung angereichert. Zugleich geht mit der Ausbildung einer massenmedialen Öffentlichkeit die Vorstellung eines Publikums verloren, das auf die Vermittlung des Wissens wartet. Bereits John Hartley (1987: 125) hat darauf hingewiesen, dass es sich beim Publikum um ein imaginäres Konstrukt und eine Fiktion handelt, die zur Grundlage für mediale Regulierungstechniken werden. Mit Gabriel Tarde (1989) ließe sich diese Vorstellung erweitern: Wenn sich öffentliche Sprechakte vor einem imaginären Publikum abspielen, das sich räumlich und zeitlich an unterschiedlichen Orten befindet, dann muss es immer wieder neu erzeugt und temporär versammelt werden. In diesem Verständnis entscheidet über die Veröffentlichung hinaus erst die Resonanz darüber, ob ein Ereignis zu einem öffentlich wirksamen Ereignis wird. Der Einsatz von populären Kommunikationsmodi wie Hyper-Konnektivität, Theatralität und Affektivität erweist sich dann als notwendig: Erst mit den Mitteln der Inszenierung kann Öffentlichkeit für Ereignisse hergestellt werden. Damit wird ein Ansatz notwendig, der Öffentlichkeit und öffentliche Debatten als performative Akte und Diskurse begreift. Das heißt der öffentliche Sprechakt bzw. der politische Diskurs wird erst im Vollzug hervorgebracht und damit nicht als eine bloße Aktualisierung einer vorgängigen Ordnungsstruktur begriffen (Wirth 2002, Volbers 2014).21 »Was durch performative Akte hervorgebracht wird, entsteht erst, 21
Hier stehen die Sprechakttheorie von John L. Austin, die Ritualtheorie und performative Ethnologie von Victor Turner sowie die vom Theater entlehnte Rollentheorie von Erving Goffman am Anfang eines performativen turns in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Aktuelle
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indem dieser Akt vollzogen wird« (Fischer-Lichte 2012: 42). Davon ausgehend wird das Feuilleton als eine Bühne verstanden, auf der sich Sprecher:innen versammeln und vor einem imaginierten Publikum in Beziehung treten. Die Debatte kann als ein Prozess der Aushandlung der Beziehungen zwischen den Sprecher:innen und ihren Deutungsangeboten verstanden werden, die unter spezifischen Bedingungen stattfindet und mit bestimmten Praktiken und Verfahren hergestellt wird. Bei Debatten handelt es sich also um komplexe Relationsgefüge, die »im Akt des gemeinsamen Eintretens für geteilte Belange« (Lessenich 2019: 99) vollzogen werden. In der Perspektive eines performativen Ansatzes sind Debatten kontingent und ihre Verläufe nur bedingt kontrollierbar. Als Kurator und Gatekeeper entscheidet das Feuilleton zwar über die Auswahl der Sprecher:innen und kalkuliert beispielsweise den Affekt mit ein. Zugleich entstehen Debatten singulär und sind nicht bewusst geplant noch allein strategisch herbeigeführt, sondern ein unkontrolliertes Zusammenspiel vieler strategischen Absichten. Mit Latour sind politische Versammlungsräume stets flüchtig und temporär: Die Debattenteilnehmenden und ihr Publikum sind Mitglieder eines losen Kollektivs, das ereignishaft und relativ spontan zusammentrifft und sich wieder auflöst, wenn keine Anschlussfähigkeit erzeugt und keine Aktualität – mit Tarde: »was gegenwärtig allgemeines Interesse weckt« (2015: 12) – hergestellt werden kann.22 Davon ausgehend lässt sich Öffentlichkeit im Unterschied zu klassischen Modellen weniger als eine Idee, sondern als eine empirische Kategorie begreifen (vgl. Hohendahl 2000: 3, Negt/Kluge 2016: 108ff.), die erst im Prozess der diskursiven Artikulation entsteht und sich demnach immer wieder aufs Neue herstellt und damit immer auch anderes ist. Als »Effekt der Medien« (Bunz 2013: 63) und »empi-
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Perspektiven kommen zu dem Ergebnis, dass es sich bei Performance um kulturelle Erscheinungsformen handelt, die sich in Verbindung mit der modernen Medienöffentlichkeit herausgebildet haben und insbesondere seit den 1990er Jahren eine zunehmende Bedeutung in allen gesellschaftlichen Bereichen erhalten – Stichwort »Eventisierung« (vgl. Klein/Sting 2005). Meint Performance die öffentlich wahrnehmbare Aufführung vor Publikum (vgl. FischerLichte 1998: 86), dann sind sich die Sprecher:innen auf der Bühne des Feuilletons ihren Zuschauer:innen bewusst, vor denen sie ihre Sprechakte zur Aufführung bringen, und verändern unter diesen Bedingungen ihre Kommunikationsmodi. Dies führt zu einem Auftritt, bei dem die Bedeutung von Aussagen durch Mittel der Theatralisierung gesteigert werden, weil ein Ereignis die Aufmerksamkeit des Publikums erregen muss, um überhaupt zu einem Ereignis zu werden. Genaugenommen kann bei öffentlichen Debatten von einem zweifachen Publikum ausgegangen werden: Zum einen werden Laien adressiert, die als abwesendes Publikum imaginiert und über die Zeitung medial verschaltet und sozial inkludiert werden. Zum anderen gibt es die Beobachter:innen aus dem intellektuellen Feld, die in den Diskurs eintreten und potentiell zu öffentlichen Sprecher:innen werden. Gemeinsam bringen sie Ereignisse zum Erscheinen und erzeugen erst im performativen Akt der Aufführung Öffentlichkeit.
2. Das Feuilleton in der Theorie
rische Praxis der Verknüpfung von Kommunikationen« (Hahn/Langenohl 2017: 5) wird Öffentlichkeit weder normativ noch ontologisch vorausgesetzt, sondern konstruiert sich diskursiv über konflikthafte Auseinandersetzungsprozesse und medientechnisch induzierte Verfahren. Hier kann an die kultursoziologischen Ausführungen zum Begriff der Öffentlichkeit von Kornelia Hahn und Andreas Langenohl angeschlossen werden: »Wir gehen davon aus, dass Öffentlichkeit – auch in der Ausdeutung von Habermas' Öffentlichkeitsanalyse – ein flexibles Konzept und keine ontologische Größe ist, wie es oft die Rede von der Öffentlichkeit suggeriert. Öffentlichkeit ist prinzipiell variant oder pluralistisch. Darüber hinaus ist Öffentlichkeit konstruiert, insofern sie aktiv hergestellt und als solche verhandelt und reflektiert wird. Es ist eine spezifische Kommunikationsform, die in sozialstrukturelle und kulturelle Strukturen und Prozesse eingebettet ist. Gleichfalls ist davon auszugehen, dass wandelnde Öffentlichkeiten sozialstrukturelle und kulturelle Veränderungen evozieren.« (Hahn/Langenohl 2017: 1f.) In diesem Sinn wird Öffentlichkeit zu einem »Begriff für das Kulturelle«, der »auf grundlegende (Denk-)Kategorien der Moderne zurückzuführen ist, aber nicht unbedingt einer spezifischen sozialstrukturellen Form entspricht« (ebd.). Wenn man »Öffentlichkeit als komplexen Zusammenhang« (ebd.: 8) und »Beziehungskonfiguration« (Klinger 2018: 254) versteht, dann richtet sich »der Blick auf Verknüpfungslogiken« (ebd.) und auf die »Komposition« (Latour 2013: 27) sowie die »Kommunikationsbeziehungen, die Öffentlichkeit überhaupt erst konstituieren« (Klinger 2018: 262). Damit wird das Konzept anschlussfähig für eine relationale Soziologie, die auf die Verbindung von sozialen Einheiten und damit auf die Form zielt, die diese Verbindungen annehmen können. Öffentlichkeit kann als ein Geflecht aus sich wandelnden und immer wieder neu entstehenden Beziehungen von Elementen verstanden werden, die sich prozesshaft ausbilden und im Fall von politischer Öffentlichkeit den Dissens betont und agonal strukturiert sind. »Indem Beziehungen als konstitutiver Bestandteil von Öffentlichkeiten ins Zentrum rücken, kann analysiert werden, auf welche Weisen Beziehungen Öffentlichkeit entstehen lassen und welche Arten durch verschiedene Beziehungen entstehen.« (Klinger 2018: 254) Ob und in welchem Ausmaß Öffentlichkeit politisch wird und auf welche Weise sie strukturiert ist, kann in dieser Perspektive nicht von vorne herein festgelegt werden, sondern ist Ergebnis der diskursiven Artikulation bzw. der politischen Konstruktion und ihrer empirischen Analyse. Damit eröffnen sich neue Untersuchungsmöglichkeiten sowohl über mediale Strategien und materielle Infrastrukturen als auch über hegemoniale Herrschaft und Repräsentation, die im folgenden Kapitel methodisch vertiefend erörtert werden.
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Debattenkulturen im Wandel
2.3
Methodologie: Interdisziplinär-diskursanalytisches Verfahren, Vier-Dimensionen-Modell, Erhebungs- und Auswertungsstrategien
Die politische Theorie gibt eine »Logik politischer Diskursproduktion« (Marchart 2017b: 61) sowie »Instrumente zur Untersuchung sozialer Identitätsbildung und politischer Machtformation an die Hand« (Marchart 2017a: 6), anhand derer ein diskursanalytischer Ansatz zur Erforschung von Debatten im Feuilleton entwickelt werden kann. Die Theorie stellt ein Ensemble von Begriffen bereit und ermöglicht so die Erforschung der Strategien, mit denen politische Diskurse und Deutungskämpfe im Feuilleton organisiert werden. Neben grundlegenden Konzepten wie Artikulation und Diskurs, Antagonismus und Agonismus werden auch hegemonietheoretische Begriffe wie Äquivalenzkette und diskursiver Knotenpunkt in der empirischen Debattenanalyse eingesetzt. Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand wurde das diskurstheoretische Begriffsinstrumentarium mit medienund kultursoziologischen Konzepten angereichert, um die Lücke medienspezifischer Fragestellungen zu schließen und ein interdisziplinäres Forschungsdesign für die Untersuchung des Feuilletons zu entwerfen. Die politische Diskurstheorie bringt vor allem die diskursiv-konfliktorische Dimension zur Geltung und zielt auf konkurrierende Wert- und Weltvorstellungen ab. Signifikanten werden dabei spezifische Funktionen zugewiesen, die den politischen Diskurs strukturieren. Dabei offenbart sich ein Mangel an »induktiv gewonnene[n] Analysekategorien«, »die das genauer zu beschreiben vermögen, was Laclau und Mouffe unter der Einrichtung von Knotenpunkten als grundlegende Operation hegemonialer Sinnfixierungen verstehen« (Hildebrand 2017: 139). Entsprechend wurden die medialen Praktiken, mit denen heterogene Elemente verbunden und politische Diskurse im Feuilleton hergestellt werden, theoretisch informiert erschlossen und für eine Debattenanalyse zugänglich gemacht. Berücksichtigt eine textorientierte Analyse vor allem sprachliche Zeichen, so sind demgegenüber gleichwohl die Rahmenbedingungen und medialen Inszenierungsweisen zu beachten, die sie zuallererst ermöglichen und regulieren. Damit einher geht eine Verbindung von Diskursanalyse und praxeologischen Methoden: Praktiken und Diskurse werden nicht als zwei unabhängige Gegenstände separiert, sondern als zwei aneinander gekoppelte Aggregatzustände der materialen Existenz von kulturellen Wissensordnungen begriffen (vgl. Reckwitz 2008b: 201f.).
Interdisziplinär-diskursanalytisches Verfahren Das abstrakte Begriffsinstrumentarium soll im Folgenden zu einem eigenständigen Forschungsansatz für die konkrete Untersuchung von Debatten im Feuilleton ausgearbeitet werden. Die im ersten Abschnitt des Theoriekapitels (2.1) gewonnenen Dimensionen des Agonalen und Hybriden und die darin angelegten Kategori-
2. Das Feuilleton in der Theorie
en bilden das methodologische Grundgerüst dafür. Der Ansatz orientiert sich am Diskursbegriff von Laclau und Mouffe, der die Unterscheidung zwischen Ideenwelt und Materialität – zwischen »Denken und Wirklichkeit« (1991: 147) – aufhebt und Diskurse explizit nicht auf eine sprachlich vermittelte Ideen- und Wissenssphäre beschränkt. Im Unterschied zum sprachbasierten Diskursbegriff von Habermas haben Diskurse einen »materiellen Charakter« (Laclau/Mouffe 1991: 158) und umfassen nicht nur inhaltliche oder textuelle Phänomene, sondern auch materiale wie sinnhaft konstituierte Komplexe. Institutionen, Technologien, Verfahren und Praktiken sind Teil eines Diskurses, der erst in diesem sozialen Relationsgefüge einen Sinn erhält (ebd.: 145). Der weite Diskursbegriff öffnet den Blick sowohl für die Verfahren als auch für die Dimensionen der Körperlichkeit und der Performanz, der sinnlichen Wahrnehmung und des Affekts (vgl. Göbel/Prinz 2015), die konstitutiv für die feuilletonistische Praxis und die Herstellung von Debatten sind. Davon ausgehend können für den Begriff der Debatte und den Analyserahmen zur Untersuchung von Debatten im Feuilleton drei zentrale Kriterien geltend gemacht werden: 1.) Werden Diskurse als Artikulationsprozesse begriffen (Laclau/Mouffe 2012: 141), dann verstehe ich unter einer Debatte ein »bestimmtes Arrangement von Artikulationen« (Nonhoff 2010: 310). Die aus der artikulatorischen Praxis hervorgehende strukturierte Ganzheit bezeichnet die Debatte, die sich aus einem temporären Ensemble aufeinander bezogener Aussagen zusammensetzt, die wiederum durch ihre Beziehung zueinander bedeutsam werden. Bei Debatten handelt es sich also um Relations- und Differenzsysteme, in denen die Bedeutung von Elementen partiell fixiert wird und in Momente eines Diskurses (»differentielle Positionen«) verwandelt werden. Politisch sind sie dann, wenn unterschiedliche Vorstellungen von Ordnung aufeinandertreffen und sich Artikulationen bekämpfen und einander ausschließen (vgl. Stäheli 2000: 57). Die Ausbildung von »konfligierenden Alternativen« (Mouffe 2007: 17) erfolgt durch die Einbindung von Elementen in eine Äquivalenzkette mit einem Knotenpunkt, der in Abgrenzung zu einem:einer gemeinsamen Gegner:in die antagonistische Grenze des Diskurses präsentiert. 2.) Wird ein weiter Diskursbegriff verfolgt, dann haben Diskurse über die sprachliche Verfasstheit hinaus einen »materiellen Charakter« (Laclau/Mouffe 2012: 145) und können als »Räume der Diskursivität« (Nonhoff 2010: 303) verstanden werden. Der weite Diskursbegriff ermöglicht eine Analyse des Feuilletons, die sich nicht auf geschriebene Äußerungen beschränkt, sondern basierend auf theoretischen Konzepten auch die Verfahren der Debattenproduktion miteinbezieht. Beim Feuilleton handelt es sich traditionell »um die relativ geschlossene Welt der aufeinander reagierenden Kulturteile in der überregionalen Tages- und Wochenpresse« (Seibt 1998: 731). Davon ausgehend wird die Feuilletondebatte als ein agonales Be-
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zugssystem verstanden, das in wechselseitiger Beobachtung der Zeitungsteile Debatten anstößt – ein »monopolitischer Ort, an dem die Wissenschaften nicht nur mit der Öffentlichkeit, sondern auch untereinander zu kommunizieren begannen« (ebd.: 732). Die empirische Untersuchung fokussiert dann erstens die »Praxis des In-Beziehung-Setzens« (Nonhoff 2010: 303) von Ereignissen, Diskursen und Stimmen, die ein temporär-agonales Bezugsystem erzeugen. Zweitens werden die medialen Praktiken der Ästhetisierung und Literarisierung, der Versammlung und Komposition, der Popularisierung und Affizierung in die Untersuchung mit eingebunden, um die Praxis des In-Bezug-Setzens näher bestimmen zu können. Auch wenn es sich primär um eine Textanalyse handelt, die sich auf der Sprachebene bewegt, so können auf Basis von medien- und kultursoziologischen Perspektiven drittens die Verfahren ermittelt werden, mit denen heterogene Elemente verbunden und politische Diskurse hergestellt bzw. Sinn zeitweilig fixiert werden. 3.) Ist das Feuilleton eine »publizistische Institution«, »deren gesellschaftspraktischer Diskurs rhetorisch konstituiert« (Todorow 1996a: 6) und durch eine Vielzahl an Artikulationen und Verweisen charakterisiert ist, dann kann das Diskursmodell mit dem Konzept der Narration ergänzt werden.23 Narrationen strukturieren den Diskurs und bestimmen den Verlauf einer Debatte mit. Damit rückt die Form und des durch sie strukturierten und konfigurierten Inhaltes narrativer Aussagen in den Fokus (vgl. Viehöver 2004). Die narrative Konstitution von Diskursen betrifft in diesem weiten Verständnis sowohl feuilletontypische Formen der Literarisierung und der fiktionalen Darstellungsmittel als auch jene Artikulationen, in denen diskursübergreifende Sinnzusammenhänge und diskursive Knotenpunkte durch Äquivalenz disparater Forderungen, Traditionen und Identitäten hergestellt werden. Narrationen können dann als Artikulationen im Sinne der Diskurstheorie nach Laclau und Mouffe analysiert werden, die eine Beziehung zwischen Elementen herstellen, Grenzen etablieren, auf diese Weise eine temporäre Fixierung leisten, Bedeutung und damit die Identität eines Diskurses konstruieren (Glasze 2008: 205).
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Mit Hayden White konstituieren Narrationen soziale Wirklichkeit sowohl in fiktionalen als auch in nicht-fiktionalen Texten. In diesem Sinn sind auch Werke der Geschichtsschreibung keine »Repräsentationen von tatsächlichen historischen Ereignissen oder Prozessen, sondern kontingente, metaphorische und letztlich fiktionale Konstrukte« (Nünning 1999: 358). Seine Studie zur Rhetorik universalhistorischer Diskurse liest diese nicht so sehr auf ihre inhaltlichen Aspekte hin, sondern stellt deren rhetorische Figur und damit die Funktionsweise von Diskursen in den Vordergrund (White 1991, zit.n. Stäheli 2000: 13f.).
2. Das Feuilleton in der Theorie
Vier-Dimensionen-Modell Das Modell zur Untersuchung von Debatten im Feuilleton umfasst vier Dimensionen, die in Relation gesetzt politische Diskurse konstituieren: Aktualisierung, Medialisierung, Aushandlung und Repräsentation. Dabei handelt es sich um ein diskursanalytisches Verfahren, bei dem die Rekonstruktion von Bedeutung im Vordergrund steht. Eine explizit konstruktivistische Perspektive auf Debatten fokussiert darauf, wie politische Diskurse als Effekt komplexer Verweisstrukturen hergestellt und rhetorisch konstituiert werden. Das Vier-Dimensionen-Modell gibt einen Analyserahmen vor und stellt Analysebegriffe und Fragestellungen bereit, mit denen der Datenkorpus bearbeitet, das heißt die Auswahl der Artikulationen getroffen und die Formierung des politischen Diskurses im Feuilleton beobachtet wird. Werden Debatten als ein bestimmtes Arrangement von Artikulationen verstanden, können die einzelnen Dimensionen in der Diskursanalyse nicht getrennt voneinander betrachtet werden, sondern ergeben gemeinsam die politische Artikulation, die als Debatte im Feuilleton sichtbar wird bzw. einen temporären Versammlungsraum herstellt. Aktualisierung: Ereignis und Unterbrechung. Das hegemonial verfasste Terrain des Sozialen organisiert sich über Diskurse, die als »strukturierte Totalität« (Laclau/Mouffe 2012: 141) spezifische Normen bereitstellen, über die sich eine Gesellschaft verständigt. Laclau spricht in diesem Zusammenhang von »sedimentierte[n] soziale[n] Praktiken«, die dazu tendieren, »die Form reiner objektiver Präsenz anzunehmen« (Laclau 1999: 146). Mit dem »Moment der Sedimentierung« kommt »es zu einem tendenziellen Vergessen der Ursprünge, das System möglicher Alternativen beginnt zu verschwinden und die Spuren der originären Kontingenz verwischen« (ebd.). So gibt es herrschende Weltbeschreibungen und dominante Subjektivierungsmuster (Nonhoff 2010: 300), die als quasi-natürliche soziale Wirklichkeit erscheinen. Alternative Weltbeschreibungen werden dabei an den Rand gedrängt und verschwinden unter der ›hegemonialen Oberfläche‹, bleiben jedoch als potentielle Möglichkeiten anwesend (Objektivierung: Schließungsprozesse). Ausgehend von der Annahme der Unauslöschbarkeit von Macht und Antagonismus sind sedimentierte Ordnungen immer temporär, das heißt sie bleiben umkämpft und können jederzeit befragt werden. Die vom Konsens ausgeschlossenen Alternativen sind im Moment der Sedimentierung zwar ›vergessen‹ mithin unsichtbar, können aber jederzeit re-aktiviert werden und an die soziale Oberfläche gelangen. Debatten entstehen häufig dann, wenn Ereignisse nicht ohne Weiteres in den bestehenden Diskurs integriert werden können. Sogenannte »dislozierende Ereignisse sind destruktiv und konstruktiv zugleich, da die Krise der hegemonialen Formation gegenhegemonialen Diskursen die Möglichkeit bietet, die ehedem
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fixierten Momente anders zu artikulieren« (Hildebrand 2017: 96). Als »krisenhafte Ereignisse« (ebd.) können sie die Dimension des Politischen anrufen und soziale Transformationen einleiten.24 Dabei kann gezielt sowohl nach diskursiven Ereignissen gesucht werden, in und durch die Debatten angestoßen und generiert werden als auch nach den Beziehungen, die im Widerspruch zu hegemonial identifizierten Diskursen stehen (Glasze 2008: 205). (Subjektivierung: Öffnungsprozesse). Ausgehend von der Dimension der Aktualisierung stellen sich an die empirische Analyse folgende Fragen: Auf welche Weise wird das Terrain des Politischen re-aktiviert? In welchen historischen Kontexten entzünden sich Debatten im Feuilleton und welche diskursiven Ereignisse können als Auslöser identifiziert werden? Medialisierung: Inszenierung und Ästhetisierung. Mit Lorenz Engell ist davon auszugehen, »dass ein Zustand, in dem jedes Vorkommnis potentielles Ereignis ist, noch lange nicht impliziert, dass jedes Vorkommnis auch Ereignis wird« (1996: 138). Auch John Fiske notiert: »Ereignisse passieren, aber solche, die nicht medial vermittelt sind, zählen nicht, oder zumindest nur in ihren unmittelbaren lokalen Kontexten.« (Fiske 1994: 2) In diesem Verständnis sind Ereignisse auf ein Medium angewiesen, um überhaupt zu einem Ereignis zu werden. Als solche treten sie nie unvermittelt als vielmehr medial vermittelt auf, das heißt erst durch ihre Medialisierung erfahren Ereignisse soziale Wahrnehmung und werden allgemein verhandelbar. Im Feuilleton durchlaufen sie spezifische Transformationsprozesse, in denen sie re-interpretiert und kontextualisiert werden und in denen sich rational-kognitive und affektiv-sinnliche Elemente in Verbindung setzen. Ausgehend von der Dimension der Medialisierung stellen sich an die empirische Analyse folgende Fragen: Wie werden die Ereignisse im Feuilleton inszeniert und medial zur Aufführung gebracht? Welche Formen der Fiktionalisierung und welche inszenatorischen Strategien der Popularisierung werden eingesetzt? Welche theatralen Mittel der Aufmerksamkeitserzeugung, welche Formen der Skandalisierung und der affektiven Aufladung können identifiziert werden? Aushandlung: Versammlung und Transformation. Die Re-Aktivierung von Diskursen ermöglicht die »Dislozierung der Sedimente« und eine »Ausdehnung des Raums des Möglichen« (Marchart 2010: 210). Mit dem Sichtbarwerden der »originären Kontingenz« entfalten sich Möglichkeitsräume für politische Auseinandersetzungen, in denen Differenzen verhandelt und Alternativen artikuliert werden können. Als
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Mit »Dislokationen« sind Situationen und Ereignisse gemeint, »die nicht in einem bestehenden Diskurs dargestellt und integriert werden können, daher existierende Strukturen aufbrechen, die determinierende Wirkung von Diskursen unterminieren und damit die Ausbildung vollständiger, permanenter Identitäten unmöglich machen,« so Glasze (2007: 192f., vgl. auch Hildebrand 2017: 94f.).
2. Das Feuilleton in der Theorie
Gatekeeper und Kurator von Versammlungen entscheidet das Feuilleton, welche Ereignisse, Diskurse und Stimmen Eingang erhalten und wie sie in Beziehung gesetzt und orchestriert werden, um Dissens herzustellen und Konflikte auszutragen. Debatten sind durch eine Vielzahl an Beziehungen organisiert und zeichnen sich als »fragile Struktur« (Nonhoff 2010: 303) durch zwei widerläufige Logiken aus: zum einen durch die Anordnung diskursiver Elemente zu einer temporär politischen Ordnung, zum anderen durch die Unabschließbarkeit und Beweglichkeit. Die Dimension der Aushandlung betont den Prozess des andauernden Anordnens von Artikulationen und meint eine spezifische Form der Verhandlung von Bedeutung zwischen ausgewählten Diskursteilnehmer:innen in einem bestimmten Zeitraum. Die Dimension der Aushandlung fokussiert den Prozess und die Temporalität der Debatte und stellt an die empirische Analyse folgende Fragen: Welche Ereignisse, Diskurse und Stimmen erhalten Eingang und wie werden sie miteinander in Beziehung gesetzt? An welche Elemente wird in den Sprechpositionen angeschlossen und welche agonalen Bezugssysteme bilden sich aus? Welche Momente der Fixierung zu einer Ordnung und welche Formen der Transformation können in der Debatte festgestellt werden? Wie bilden sich affektive Kräfte in diesen Bezugsverhältnissen aus und welche Effekte haben sie auf die Herstellung von politischen Diskursen und ihre Verläufe? Repräsentation: Ein- und Ausschlüsse. Im Moment der Dislokation befindet sich der Diskurs im »Feld der Diskursivität« (Laclau/Mouffe 2012: 149) und ist einem Bedeutungsüberschuss ausgeliefert, der partiell begrenzt werden muss, um einen Diskurshorizont zu etablieren, innerhalb dessen er agieren kann. Mediale Repräsentationen zur Herstellung von kollektiv geteilten Ordnungen (vgl. Hall 1989) werden als soziale Praxis verstanden, in denen sich kulturelle Codes manifestieren, die regeln, was wie darstellbar ist (vgl. Reckwitz 2010b: 44). Als solche zeichnen sie sich durch einen Doppelcharakter aus: Zum einen findet eine Reproduktion von Sinn und damit eine gewisse ›Sedimentierung‹ statt, das heißt sie erfolgen im Rahmen von vorgängigem gesellschaftlichem Wissen und kollektiv geteilten Normen. Vor allem abweichende Ereignisse werden entlang von Schemata wie ›gut‹ und ›böse‹, ›rechts‹ und ›links‹ gedeutet, um eine gemeinsame Ordnung zu ermöglichen. Dabei werden Topoi eingesetzt, die kollektiv tradiert und allgemein verständlich sind (vgl. Drews/Gerhard/Link 1985: 265). Zugleich erfolgt an bestimmten Punkten ein Aufbrechen der Ordnung als Voraussetzung von Kritik und Transformation. Insbesondere dislozierte Diskurse erweisen sich als anfällig für gegenhegemoniale Interventionen. Ist der Diskurs offengelegt und damit weniger fixiert als vielmehr beweglich, dann können sich Elemente neu verbinden und ›echte Alternativen‹ zum Vorschein kommen. Im Bedeutungsüberschuss sind somit immer auch Artikulationen denkbar, die über den bestehenden Konsens hinausweisen. Zum ei-
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Debattenkulturen im Wandel
nen können Elemente integriert werden, die zuvor zwar nicht Bestandteil des Diskurses waren, aber auch nicht notwendig ausgeschlossen wurden. Diese können den Diskurs erweitern und hegemonisieren oder irritieren. Zum anderen können Elemente aus dem ausgeschlossenen Bereich inkludiert werden – Elemente also, von denen sich Diskurse abgrenzen, um ihre Identität zu erhalten. Geht man davon aus, dass die in das Außen verwiesene Elemente als potentielle Möglichkeiten präsent bleiben und jederzeit angerufen werden können, dann führt ihre Inklusion zu einer Destabilisierung des Diskurses. In der Regel erfolgt die Fixierung von Momenten im Diskurs durch die Ausbildung von Knotenpunkten, die eine Identität des Diskurses herstellen. So kann beobachtet werden, wie Knotenpunkte durch narrative Äquivalenzbeziehungen hergestellt werden, ob ein Außen definiert und auf diese Weise kollektive Akteure konstituiert werden (vgl. Glasze/Husseini/Mose 2009). Von Antagonismen kann gesprochen werden, wenn sich zwischen verschiedenen »Blöcken« (Nonhoff 2010: 306) Äquivalenzketten bilden, die als konfrontierende und sich gegenseitig ausschließende Lager bezeichnet werden. Ausgehend von der Dimension der Repräsentation stellen sich an die empirische Analyse folgende Fragen: Welche Vorstellungen, Leitbilder und Programme werden generiert, welche zentralen Narrative werden hergestellt? Welche Äquivalenzbeziehungen und diskursiven Knotenpunkte bilden sich über welche Einund Ausschlussprozesse aus? Welche Formen des Anderen, welche Wir-SieUnterscheidungen und welche Antagonismen generieren sich?
Erhebungs- und Auswertungsstrategien Eine diskurstheoretisch informierte und poststrukturalistisch orientierte Kulturund Medienforschung überprüft nicht allein deduktiv Hypothesen und Begriffsinstrumente noch beschränkt sie sich auf eine bloße Deskription oder statistische Regelmäßigkeiten. Sie möchte vielmehr ein Programm erschließen, das theoretische Konzepte, historische Perspektiven und empirische Analyse produktiv miteinander verschränkt, um dem komplexen Gegenstand Feuilleton zu erschließen. Mit Reckwitz pendeln besonders kultursoziologische Ansätze beständig zwischen diesen drei Polen: »Zwischen der Materialfülle der Kulturwissenschaften und der Abstraktion der Kulturtheorie; zwischen der Orientierung an der Gegenwart in ihrer Aktualität und an den Überraschungsmomenten der Geschichte in ihrer ›longue durée‹; schließlich zwischen dem Mikro-Interesse an den Details einzelner Praktiken und kultureller Objekte und dem Makro-Interesse an der Transformation der Moderne als kulturelle Formation.« (Reckwitz 2010b: 181f.) Wie aber können (gesellschafts-)theoretische Perspektiven und qualitative Sozialforschung produktiv zusammengebracht und methodologisch reflektiert werden?
2. Das Feuilleton in der Theorie
Während die Theorie abstrahiert und insbesondere gesellschaftstheoretische Ansätze einen allgemeinen Charakter haben, ist die qualitative Sozialforschung gegenstandsbezogen und möchte Erkenntnisse und Aussagen über einen Forschungsgegenstand auf Basis von methodischen Verfahren gewinnen. In der sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursforschung kommen unterschiedliche Methodologien zum Einsatz, die von standardisierten Erhebungs- und Auswertungstechniken bis hin zu offenen historischen Vorgehensweisen reichen (vgl. Wrana et al. 2014: 268), wie sie etwa durch Foucault repräsentiert werden. »Im Allgemeinen hat man entweder eine feste Methode für ein Objekt, das man nicht kennt, oder das Objekt existiert bereits und man weiß, dass es da ist, aber man meint, dass es noch nicht in angemessener Weise analysiert worden ist, und entwickelt darum eine Methode, um dieses bereits existierende und bekannte Objekt zu analysieren. Das sind die beiden einzig vernünftigen Vorgehensweisen.« (Foucault 2003: 512f.) Im Spannungsfeld einer allzu rigiden Methodisierung und der Offenheit gegenüber dem Forschungsgegenstand wurde ein Forschungsdesign entwickelt, das eine methodologisch reflektierte Datenerhebung und -auswertung anstrebt und zugleich für Entwicklungen während des Forschungsprozesses offenbleibt. Gerade der postfundamentalistische Ansatz zeichnet sich durch eine Sensibilität für die permanente Destabilisierung von Ordnungen und Begriffen durch Kontingenz und den Zweifel an der Gegebenheit fixer Grenzziehungen aus. Deshalb soll die vergleichsweise offene Herangehensweise einen Forschungsprozess ermöglichen, der Raum für Veränderung und Überraschungsmomente lässt (vgl. Hirschauer 2008: 187). Die Entwicklung des Vier-Dimensionen-Modells war zunächst eine theoretische Aufgabe, die auf Basis von Vorstudien zum Feuilleton und in Anlehnung an die Diskurstheorie von Laclau und Mouffe entwickelt und mit kultur- und mediensoziologischen Perspektiven erweitert wurde. Das Modell bildet einen Analyserahmen, der Kategorien und Leitfragen zur Erschließung von Text und Kontext bereitstellt, ohne allerdings darin aufzugehen. Es handelt sich dabei um »konzeptuelle tools« (Hirschauer 2008: 176), die in der forschungspraktischen Auseinandersetzung weiterentwickelt wurden. In diesem Sinn handelt es sich um eine »Diskursfunktionsanalyse« (Nonhoff 2010: 301), die mit Hilfe von theoretisch etablierten Konzepten und anhand von empirischem Material die Konstitution von Bedeutung und die Politisierung von Diskursen herausarbeitet. In Kombination mit einem vergleichsweise offenen Auswertungsverfahren wurden Ergänzungen im Rahmen der exemplarischen Gegenwartsanalysen eingearbeitet. Die Forschungsperspektive geht also »im Wesentlichen deduktiv vor, d.h. von der Diskurstheorie über die diskursive Empirie zurück zu einer ggf. angepassten Diskurstheorie« (ebd.: 301). Theorie und Empirie werden auf diese Weise produktiv miteinander verbunden
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Debattenkulturen im Wandel
und informieren sich gegenseitig. Ist Theorie eine Art »Vollzug von Empirie« (Kalkhoff 2008: 24), ist Empirie immer auch eine Art ›Vollzug von Theorie‹. So wird von einem »fließenden Übergang zwischen empirischer Forschung und Theorie« ausgegangen, insofern es einer poststrukturalistisch orientierten Sozialforschung »weniger um Beschreibung als um Momente der ›Einschreibung‹ geht, in denen Forschende eine situierte Version der untersuchten Welt schaffen« (Winter 2014: 124, zit.n. Schwiertz 2019: 39). Die wissenschaftliche Arbeit und Wissensproduktion ist eine Tätigkeit, die in einer bestimmten historischen Situation entsteht und in soziale Verhältnisse verortet ist. Poststrukturalistische Ansätze haben dazu beigetragen, dass sowohl das Forschungsobjekt als auch Forschende selbst stets Teil eines Diskurses bzw. durch Diskurse und Machtverhältnisse vermittelt sind. Die eigene Positioniertheit in der Forschungspraxis erfordert eine beständige Reflexion der Erhebungs- und Auswertungspraxis und kann paradigmatisch mit dem Konzept des situierten Wissens von Donna Haraway (1995) beschrieben werden. In dieser Hinsicht kann Wissen nicht universal bestimmt werden, sondern ist immer lokal und partial (ebd.: 82), das heißt, es ist an die Sprecherposition und die sozialen, kulturellen und technischen Verflechtungen gebunden. Auch die Forscherin verfügt über eine soziale Prägung und Herkunft, über ein spezifisches Geschlecht und eine bestimmte Hautfarbe sowie über Leben- und Berufserfahrungen, die sie aus einer spezifischen Position heraus zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die Ereignisse blicken lässt. Damit einher geht die Annahme, das wissenschaftliche Neutralität und Objektivität Ideale sind, die angestrebt, aber niemals vollständig erfüllt werden können. Sowohl die Auswahl der Theorie als auch die Datengewinnung und -analyse sind stets von der Forscherperspektive und den jeweiligen Fragen an das Material geprägt. Bereits Thomas Kuhn (1976) hat von einer relativen Wahrheit in Bezug auf Theorien gesprochen, da sie interessegeleitet benutzt werden und sowohl die Wahrnehmung als auch den Gegenstand selbst prägen. Auch Kalthoff schreibt im Anschluss an Simmel: »Das, was sichtbar gemacht und analysiert werden kann, ist von diesen Theoriebezügen, die ein Verständnis von Welt formulieren, gar nicht zu trennen.« (Kalthoff 2008: 19) Ähnlich wie es für die Gouvernementalitätsstudien festgestellt wird, verfügt auch die politische Diskurstheorie von Laclau und Mouffe nicht über ein eigenständiges Methodeninventar, sondern bezeichnet vielmehr eine Forschungsperspektive: »eine Art und Weise hinzuschauen, eine spezifische Blickrichtung« (Bröckling/Krassmann 2010: 32). Beispielsweise werden in der postfundamentalistischen Perspektive Kultur und Politik hegemonie- bzw. machttheoretisch gelesen, die Dimensionen der Pluralität und Agonalität sind positiv besetzt. Dies kann zu Irritationen im Forschungsprozess führen, wenn etwa in Debatten als Orte ideologischer Deutungskämpfe Vorstellungen von Kultur repräsentiert werden, die im Widerspruch zu einer explizit anti-essenzialistischen bzw. dualismuskritischen Theorie stehen, wie sie von Laclau und Mouffe vertreten werden; und auch ich als
2. Das Feuilleton in der Theorie
Forschende sollte mich soweit wie möglich von essenzialistischen Vorstellungen befreien. Diesen Problemen wird dadurch begegnet, dass sich das diskursanalytische Verfahren weniger an einer hermeneutisch-interpretativen und mehr an einer strukturalistisch-semiotischen Perspektive orientiert (vgl. Reckwitz 2010a) und damit »im wesentlichen Oberflächenanalyse« (Nonhoff 2006: 40) betreibt. Das heißt es wird weder danach gefragt, was Autor:innen wirklich sagen wollten, noch wird nach einem verborgenen Sinn oder einer tieferliegenden Bedeutung jenseits der diskursiven Oberfläche gesucht. Das Verfahren stellt sich vielmehr als eine »rekonstruktiv-verstehende Methode« (ebd.) dar, die jenseits von normativen Bestrebungen bzw. Erwartungen nach der »›Logik‹ politischer Diskursproduktion« (Marchart 2017a: 61) und damit nach der Art der Konstitution von Bedeutung fragt. Vorstellungen von Kultur in den Debatten sind als kulturelle Codes zu lesen, durch die Identitäten oder Nationen konstruiert werden. Gerade Debattenbeiträge artikulieren sich über scheinbar stabile Identitäten und sind häufig erfolgreich, wenn sie überzeugende Deutungen von Ereignissen anbieten, die den konstruktiven Charakter verschleiern. Das »Laclau’sche Minimalmodell politischer Artikulation« (Marchart 2017a: 62) ermöglicht die Erforschung von politischen Diskursen im Feuilleton, bei der die »Formierung einer Sinnformation« (Nonhoff 2010: 303) im Prozess der diskursiven Artikulation untersucht wird. Damit liegt der Fokus auf den Mikro-Praktiken, mit denen Debatten im Feuilleton hergestellt und organisiert werden, das heißt auf den Verknüpfungen und Relationen, auf deren Basis Aussagen über Makro-Phänomene möglich bzw. konstituiert werden (vgl. Bröckling/Krassmann 2010: 26). Dabei erfordert der Forschungsprozess auch interpretative Entscheidungen, die durch die diskurstheoretische Perspektive aufgefangen werden sollen. Wenn Bedeutung als Effekt von Relationen und Differenzbeziehungen konzipiert wird, dann zielt die Forschungspraxis darauf ab, zunächst relationale Muster und Differenzbeziehungen herauszuarbeiten und die Interpretation soweit wie möglich an die Ergebnisse dieser Analysen anzuschließen (vgl. Glasze 2008: 198). So wird beispielsweise die Qualität der Verknüpfungen herausgearbeitet und in Beziehung zu ihren Kontexten gesetzt (vgl. Glasze/Husseini/Mose 2009: 294), um ein Gesamtbild der Debatte zu erhalten und die diskursive Eingebundenheit des Feuilletons in historische und institutionelle Machtverhältnisse zu berücksichtigen. Das Politische im Feuilleton der Gegenwart wird anhand von ausgewählten Debatten exemplarisch rekonstruiert. Da der Konfliktcharakter zentral ist, orientiert sich die Auswahl der Debatten erstens an sogenannten »dislozierenden Ereignissen«, in und durch die sich Debatten im Feuilleton ausbilden, zweitens sollten die Debatten in einem bestimmten Zeitrahmen stattfinden und drittens eine antagonistische Dimension haben. Aufgrund des Struktur- und Mentalitätswandels im Kontext des Aufstiegs der Neuen Rechten seit den 2010er Jahren habe ich mich für
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Debattenkulturen im Wandel
diesen Untersuchungszeitraum entschieden. In den hier stattfindenden Debatten artikulieren sich »Neue Kulturkämpfe« (Knoblauch 2019, Koppetsch 2019, Reckwitz 2019), die auch im deutschen Zeitungsfeuilleton zum Ausdruck kommen. So habe ich mich zum einen für die Debatte um die deutsche Flüchtlingspolitik im Oktober 2015 bis März 2016 entschieden und zum anderen für die Debatte um die Berliner Volksbühne im Zeitraum vom April 2015 bis Juni 2016. Geht man davon aus, dass sich agonale Versammlungen im Feuilleton zwar regelmäßig ausbilden und dennoch selten sind, stehen beide Debatten in besonderem Maße exemplarisch für das Politische im Feuilleton: Sie zeichnen sich durch eine Vielzahl an Kommentaren und Essays sowie durch eine Bezogenheit zwischen den Debattenteilnehmenden aus und spielen sich im gleichen, präzise zu identifizierenden Zeitraum ab. Darüber hinaus steht in beiden Debatten eine politische Entscheidung im Zentrum, um die herum sich die Konflikte im Feuilleton entzünden, das einen außerparlamentarischen Ort für ihre Verhandlung bereitstellt. Während in der Volksbühnendebatte eine Personalentscheidung der Berliner Kulturpolitik im Fokus steht, wird in der Flüchtlingsdebatte die Entscheidung der deutschen Bundesregierung zum europäischen Grenzregime verhandelt. Unterschiede ergeben sich im Hinblick auf den zu verhandelnden Diskurs und die kontextuelle Eingebundenheit. Die Flüchtlingsdebatte ist ein sozialpolitischer Diskurs im Bereich von Migration und Integration und verhandelt einen gesamtgesellschaftlichen Konflikt, in den sich das Feuilleton auf eine spezifische Weise einschreibt. Bei der Volksbühnendebatte handelt es sich hingegen um einen kulturpolitischen Diskurs im hochkulturellen Raum, eine »öffentliche Debatte, die ohne Beispiel in der jüngeren deutschen Theatergeschichte ist« (Balme 2019: 49), und die vor allem im Feuilleton verhandelt und zu einem »matter of concern« (Latour 2007) ausgebaut wird. Damit wurden soziale relevante Debatten aus verschiedenen Diskursen gewählt, die zugleich über eine Gemeinsamkeit verfügen: Beide münden in eine politische Auseinandersetzung, bei der umkämpfte Konzepte von Nation, Identität und Kultur im Horizont der »globalen Moderne« (Koppetsch) verhandelt werden, weshalb sie für eine diskurstheoretisch orientierte Analyse nach Laclau und Mouffe anschlussfähig sind. Entsprechend habe ich mich sowohl gegen die Debatte zur europäischen Finanzkrise entschieden, die bereits inhaltsanalytisch untersucht wurde (Theobalt 2019), als auch gegen die Debatten zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus und zur Wiedervereinigung seit den 1990er Jahren. Dazu gehören unter anderem die Botho-Strauß-Debatte, die Debatten um die Wehrmachtsausstellung und das Holocaust Mahnmal, die Goldhagen-Debatte, die Walser-Bubis-Debatte, die Leitkultur-Debatte und die Debatten zur Berliner Republik. »Korpora werden eingesetzt, um aus einer begrenzten Anzahl sprachlicher Äußerungen Aufschluss über einen Gegenstand zu gewinnen, der sich nicht ohne weiteres überblicken lässt.« (Angermüller 2014: 604) Der untersuchte Textkorpus umfasst die einzelnen Beiträge, die den diskursiven Gegenstand – die Feuilleton-
2. Das Feuilleton in der Theorie
debatte – konstituieren. Dabei habe ich mich für den Bereich der Printmedien als klassische Leitmedien und Orte des politischen Feuilletons entschieden, das heißt es wurden mit ›Feuilleton‹ bzw. ›Kultur‹ überschriebene Ressorts der großen deutschen Qualitätszeitungen systematisch untersucht: die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und die Zeit als Trägerinnen des politischen Feuilletons.25 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (im Folgenden FAZ genannt) geht aus der Frankfurter Zeitung hervor (im Folgenden FZ genannt) und erschien erstmals am 1. November 1949. Die FAZ erscheint im zweiten Quartal im Jahr 2015 mit einer verkauften Auflage von 265.381 Exemplaren sechsmal die Woche (IVW 2015a). Ihre politische Linie gilt gemeinhin als liberal-konservativ bzw. »allgemein rechts von der Mitte« (Wilke 2000: 311) und adressiert ein eher »konservatives Leserpublikum« (Meyn 1999: 109). Das Feuilleton umfasst im untersuchten Zeitraum im Durchschnitt drei Seiten und ist neben der Politik und Wirtschaft einer von drei Hauptbereichen. Seit dem 30. September 2001 gibt die FAZ zudem die Sonntagsausgabe Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (im Folgenden FAS genannt) heraus (vgl. Siemes 2001). Die Süddeutsche Zeitung (im Folgenden SZ genannt) erschien erstmals am 6. Oktober 1945. Seit 1947 wird sie bei der »Süddeutschen Verlags GmbH« produziert und gehört der Südwestdeutschen Medienholding. Die SZ erscheint im zweiten Quartal mit einer verkauften Auflage von 382.803 Exemplaren sechsmal die Woche (IVW 2015b) und wird als links-liberal eingestuft. Das Feuilleton der SZ umfasst im untersuchten Zeitraum im Durchschnitt drei Seiten und folgt im Rahmen der fünf Bücher (Politik, Feuilleton, Wirtschaft und Sport) direkt auf den politischen Teil. Die Wochenzeitung Die Zeit ist erstmals am 21. Februar 1946 erschienen und gehört dem Zeitverlag, der 1996 von der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck übernommen wurde und seit 2009 zu jeweils 50 Prozent zur DvH Medien und zur Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck gehört. Die Wochenzeitung 25
Die überregionalen Zeitungen gelten als Leitmedien neben anderen wie die Neue Zürcher Zeitung, die Washington Post, die New York Times, Le Monde oder Figaro, The Guardian und Der Spiegel. »Mit Leitmedium ist die Dominanz eines spezifischen Einzelmediums in einer historischen Phase gemeint, dem nach Maßgabe der Entfaltung der journalistischen Kriterien Aktualität, Universalität, Periodizität und Publizität eine Hauptfunktion in der Konstitution gesellschaftlicher Kommunikation und von Öffentlichkeit zukommt.« (Göttlich 2002: 193f.) Charakteristisch sind Kriterien wie eine starke Verbreitung und Reichweite, starke Nutzung durch Entscheidungsträger:innen und Angehörige der Eliten, starke Nutzung durch Journalist:innen als Multiplikator:innen, häufiges Zitieren in anderen Medien und die Fähigkeit der Ausbildung eines Agenda-Settings (Wilke 1999: 302). Die Untersuchung beschränkt sich auf das Printmedium Zeitung als Untersuchungsgegenstand, da sonst der Rahmen der Arbeit gesprengt wird. Beiträge aus digitalen Medien erhalten nur Eingang, wenn sie zitiert und so Teil des feuilletonistischen Diskurses werden oder wenn sie zu einer Kontextualisierung des Geschehens beitragen. Die Forschung zur feuilletonistischen Praxis unter digitalen Bedingungen befindet sich noch in den Anfängen (vgl. Geer 2018, Wagner/Barth 2018, Winter 2019, Jung 2021, Ruf/Winter 2021).
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Debattenkulturen im Wandel
erscheint im zweiten Quartal 2015 mit einer Auflage von 503.814 Exemplaren (IVW 2015c) und wird als liberal eingestuft. Das Feuilleton der Zeit umfasst im untersuchten Zeitraum im Durchschnitt dreizehn Seiten und folgt der Wirtschaft im Rahmen der folgenden Rubriken: Politik, Recht und Unrecht, Dossier, Geschichte, Fußball, Wirtschaft, Wissen, Feuilleton, Glauben & Zweifeln, Entdecken, Chancen. Aufgrund der Aktualität der Debatten konnte sich auf keine entsprechenden Literaturverzeichnisse bezogen werden, weshalb die digitalen Archive und die Printarchive der FAZ, SZ und die Zeit genutzt wurden.26 Die digitalen Archive wurden mit einschlägigen Begriffen aus den Debatten durchsucht (z.B. ›Volksbühne‹, ›Dercon‹, ›Peymann‹, ›Sloterdijk‹, ›Strauß‹, ›Münkler‹). Ziel war es, ein möglichst vollständigen Korpus aller Beiträge aus den gewählten Debatten zu erhalten, das heißt die Untersuchung sollte sich auf ein relativ geschlossenes Ensemble von Texten in einem bestimmten Zeitraum im Rahmen eines bestimmten Ereignisses beziehen. In der Logik von Debatten als »strukturierte Ganzheit« und »temporäres Ensemble aufeinander bezogener Aussagen und Ideen« bzw. »Relations- und Differenzsystem« kann der Textkorpus aus dem Material heraus konstituiert und durch die hier angelegten Verweise und Zitate erweitert und zugleich begrenzt werden. So wurden im Forschungsprozess zusätzlich Beiträge aus den Kulturteilen der Welt, der tageszeitung, der Berliner Zeitung, dem Tagesspiegel sowie der Wochenzeitschrift Der Spiegel einbezogen. Auch Beiträge aus den Ressorts ›Politik‹ der überregionalen Zeitungen und Interviews mit Debattenteilnehmenden in Deutschlandradio Kultur wurden in den Korpus aufgenommen.27 Codierende Verfahren sind auch im Rahmen einer Diskursanalyse hilfreich, um die Konstitution von Bedeutung und damit die Herstellung von sozialer Wirklichkeit aufzuzeigen (Glasze/Husseini/Mose 2009: 294). Dafür wurde das Material – die einzelnen Texte der beiden Fallstudien – zunächst tabellarisch nach Autor:in, Medium, Datum und Genre sortiert und nach einzelnen diskursiven Ereignissen geordnet, um einen Überblick über die Debatte zu bekommen und zentrale Artikel zu sichten. Davon ausgehend wurden diese im Fokus der Analysekategorien und Fragestellungen des Vier-Dimensionen-Modells codiert und in einem mehrstufigen Prozess ausgewertet. Es wurde ein Verfahren gewählt, das abstrahierend vorgeht und sich daran orientiert, was im Diskurs zentral zum Ausdruck gebracht
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Für Recherchezwecke wurde zudem das Zeitungsarchiv der Staatsbibliothek zu Berlin sowie das Digitalisierungsprojekt ZEFYS unter https://zefys.staatsbibliothek-berlin.de (abgerufen am 15.5.2017) genutzt. Für die Flüchtlingsdebatte (Oktober 2015 bis März 2016) wurden insgesamt 57 Artikel untersucht: FAZ/FAS: 7, SZ: 8, Die Zeit/Zeit-Online: 16, Die Welt: 6, die tageszeitung: 2, Tagesspiegel: 2, Berliner Zeitung: 1, sonstige: 15. Bei der Volksbühnendebatte (April 2015 bis Juni 2016) waren es insgesamt 82 Artikel: FAZ/FAS: 9, SZ: 21, Die Zeit/Zeit-Online: 11, Die Welt: 10, die tageszeitung: 8, Tagesspiegel: 11, Berliner Zeitung: 4, sonstige: 8.
2. Das Feuilleton in der Theorie
wird. Dabei wurde auf zwei Ebenen gearbeitet: auf der Ebene des einzelnen Diskursfragments – dem einzelnen Text – und auf der Ebene des Zusammenhangs des Fragments, der Diskursebene im engeren Sinn (Nonhoff 2010: 318), das heißt der soziale Ort wie etwa die Ebene der Medien, der Kultur, der Politik. In einem ersten Schritt wurden zunächst die wesentlichen Aussagen ermittelt, um zentrale Deutungsangebote zu sichten und in Bezug auf ihre Konflikthaftigkeit zu prüfen. Welche Kategorien – z.B. Kultur, Nation – sind zentral und mit welchen Elementen und Kontexten werden sie in Beziehung gesetzt und repräsentiert? Davon ausgehend wurden in einem zweiten Schritt die Bezugnahmen und Verweise zwischen den Texten und Stimmen verstärkt in den Blick genommen und übergreifende Diskurszusammenhänge und Narrative identifiziert. An welche Aussagen und Diskurselemente wird angeschlossen und wie werden sie gedeutet und re-kontextualisiert? Auf dieser Basis konnten drittens die Praktiken, Verfahren und Strategien der Politisierung ausgearbeitet werden, mit denen politische Diskurse im Feuilleton hergestellt werden. In der Feinanalyse galt es, narrative Muster im Rahmen von intertextuellen Bezügen und Verknüpfungen herauszuarbeiten und zu analysieren, ob beispielsweise zwischen den Elementen Beziehungen der Temporalität, der Äquivalenz oder der Opposition hergestellt werden (Glasze 2008: 195f., Somers 1994: 616). Bei dem Textkorpus handelt es sich um ein relativ ›geschlossenes System‹, zugleich wurden die diskursiven Kontexte sowie das Wissen um die spezifischen Wahrnehmungs- und Produktionsbedingungen des Feuilletons partiell in die Analyse einbezogen und an die Ergebnisse der Feinanalyse rückgebunden (vgl. Flick 2014: 443, Keller 2011b: 97-112). Elemente der Kontexte, auf die in den Texten Bezug genommen wird, sind dabei selbst als diskursive Elemente zu verstehen (Nonhoff 2010: 304). Im Rahmen der Analyse der Anordnung durch diskursive Artikulation bildete sich ein »Relations- und Differenzsystem« heraus und wurde als Debatte sichtbar. Im Prozess der Verschriftlichung wurde das kodierte Material und die Ergebnisse in mehreren Durchläufen immer wieder mit den theoretischen Perspektiven in Verbindung gebracht und fortlaufend verwoben, um eine möglichst »dichte Beschreibung« (Geertz 1983) zu erhalten. Für die Darstellung der Debatten habe ich mich im Rahmen der vorgefundenen ›Dramaturgie‹ für eine chronologische Darstellung entschieden. So wurden im Forschungsprozess einzelne Phasen sichtbar, die sich über bestimmte Konfliktstrukturen, Praktiken und Verfahren herstellen und durch einzelne diskursive Ereignisse und mediale Strategien strukturiert sind. Die Darstellung der Debatten im vierten Kapitel erfolgt davon ausgehend in drei Phasen: die Aktualisierung (1), bei der affektive Reize gesetzt werden, die eine Debatte im Feuilleton entzünden; die Politisierung (2), bei der sich ein politischer Spielraum im Feuilleton eröffnet, in dem sich divergierende Positionen zu Allianzen versammeln; schließlich die Aushandlung (3), bei welcher der Dissens in eine neue Form überführt wird, die weniger von Abgrenzungs- und Ausschlussprozessen geprägt ist und mehr von Aushand-
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Debattenkulturen im Wandel
lungsprozessen zwischen den Positionen und hegemonialen Projekten. Vorab wird in den historisch-diskursiven Kontext eingeführt und die Sprecher:innen und Konfliktlinien der Debatte vorgestellt.28 Die Darstellung der Debatten enden mit einer Schlussfolgerung, bei der zunächst die Ergebnisse und Verläufe zusammengefasst werden, um diese mit den theoretischen Perspektiven in Bezug zu setzen und auf die medialen Strategien der Politisierung und die Form der Kulturkonflikte in der Gegenwart hin zu reflektieren.
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Der Begriff »Sprecherposition« wird von Laclau und Mouffe nicht verwendet und wird in Anlehnung an Foucault (1973: 106) als institutionell stabilisierte Positionen gefasst, die spezifische Zugangskriterien haben und bestimmte Möglichkeiten, Tabus und Erwartungen des Sprechens bzw. allgemein der Textproduktion mit sich bringen. Die Sprecherpositionen und ihre Repräsentationen sind dabei selbst diskursiv konstituiert.
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wandelt sich das deutsche Zeitungsfeuilleton zu einem Ort, an dem die kulturelle Heterogenität im Spannungsverhältnis von bürgerlichen und populären Kulturen verhandelt wird. Neben klassischen Hochkulturen erhalten massenmediale Populär- und Unterhaltungskulturen ebenso Eingang wie Popkulturen und alternative Protestkulturen. Auf diese Weise überlagern sich in den großen deutschsprachigen Feuilletons unterschiedliche Denk- und Lebensräume, Lebensstile und Sinnhorizonte. Nach Günter Grass, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger und Jürgen Habermas etablieren sich neue Sprecher:innen wie Navid Kermani, Slavoj Žižek und Carolin Emcke. Der ›Pop-Theoretiker‹ Diedrich Diederichsen schreibt heute in der SZ über Popmusik und Film. Dietmar Dath, der von der tageszeitung als »Lenin 2.0« (Bröckers 2008) beschrieben wird, schreibt über Heavy Metal, Marx und Science Fiction in der FAZ. Tatort, US-amerikanische Serien auf Netflix, Realityshows wie Dschungel-Camp oder Germany’s Next Topmodel sind genauso Thema wie popkulturelle Hybride, Lady Gaga und Beyoncé ebenso wie Bob Dylan oder David Bowie. Klassische Inszenierungen stehen neben postdramatischen Theaterstücken von René Pollesch, Frank Castorf und Christoph Schlingensief. Die Prozesse der Pluralisierung in der Spätmoderne brechen klassische Produktions- und Rezeptionsweisen im deutschen Zeitungsfeuilleton auf, die seit der Moderne bis in das späte 20. Jahrhundert hinein vorherrschend waren. Besonders die Auflösung der antagonistischen Differenz zwischen der bürgerlichen Hochkultur und der Massenkultur fordert das Feuilleton als traditionell bürgerliches Medium heraus. Die Prozesse der Massendemokratisierung und die Heterogenisierung der Lebensstile lösen Konflikte um die Ordnung der Kultur aus, die auch in den Kulturteilen der überregionalen Zeitungen zum Ausdruck kommen. Das Feuilleton tritt notwendig in die Verhandlung mit einer pluralistischen Gesellschaft ein und kann als ein Ort verstanden werden, »an dem Machtverhältnisse verhandelt werden, an dem um die Definition und Redefinition von Unterordnung und Unterdrückung gekämpft wird, an dem soziale Ausschlüsse produziert und legitimiert werden, an dem aber auch sozialer Einschluss reklamiert werden kann« (Marchart 2008: 252).
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Debattenkulturen im Wandel
Vor diesem Hintergrund möchte ich den politischen Auseinandersetzungen im Feuilleton des 20. Jahrhunderts nachspüren und die Transformationsprozesse im Übergang von der Moderne zur Spätmoderne darstellen. Beginnend mit der Weimarer Republik (3.1.1) über die Nachkriegszeit (3.1.2) bis hin zur Postmoderne (3.2.1) und dem späten 20. Jahrhundert (3.2.2) auf dem Weg ins neue Jahrtausend (3.2.3) wird danach gefragt, wie das Spannungsverhältnis von bürgerlichen und populären Kulturen im deutschen Zeitungsfeuilleton verhandelt wird. Eine historische Rekonstruktion kann immer nur eine ausschnitthafte Darstellung sein. Deshalb werden die Transformationsprozesse vor dem Hintergrund bestehender Forschungsliteratur exemplarisch am Feuilleton der Frankfurter (Allgemeinen) Zeitung dargestellt und auf Basis der theoretischen Ausführungen im zweiten Kapitel eingeordnet.
3.1
Bürgerliche (Hoch-)Kultur und Massenkünste
Leitkulturen – oder wie Reckwitz formuliert: »dominante Modernitätskulturen« (2006a: 15) – modulieren sich in symbolischen Deutungskämpfen und sind Ergebnis von politischen Auseinandersetzungen. Im fortlaufenden Aushandlungsprozess wird sowohl bestimmt, welche Diskurse und Artefakte bedeutsam sind und welche nicht, als auch welche Kriterien ihrer Beurteilung zugrunde gelegt werden. So weist Pierre Bourdieu darauf hin, dass die »Spiele der Künstler und Ästheten und deren Ringen um das Monopol künstlerischer Legitimität so unschuldig nicht sind, wie sie sich geben«: »Keine Auseinandersetzung um Kunst, bei der es nicht auch um die Durchsetzung eines Lebensstiles ginge, will heißen die Umwandlung einer willkürlichen Lebensform in eine legitime, die jede andere Form in die Sphäre der Willkürlichkeit verbannte.« (Bourdieu 1987: 106f.) Im 19. Jahrhundert bildet die Massenkultur eine alternative Lebensform in der westlichen Moderne aus, die auch das kulturelle Zentrum erreicht und die bürgerliche Kultur als die einzig wahre Kultur in Frage stellt (vgl. Maase 2001, 2007). Die damit einsetzenden Auseinandersetzungen um die richtige Form von Kultur im Kontext des Populären hält das Feuilleton bis heute in Spannung. »Die Konstruktion der Differenz zwischen E und U ist Schauplatz eines fortwährenden Ringes; Inhalt und Publikum eines jeden wechseln von einer historischen Periode zur nächsten, von einem geographischen Schauplatz zum anderen.« (Grossberg 2010: 166) Die historisch etablierte Differenz zwischen der wertvollen Hochkultur als ›echte Kunst‹ und der trivialen Massen- und Unterhaltungskultur zeigt sich als ein
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
Fluchtpunkt in der kritischen Praxis und bildet eine Hintergrundfolie für die Beobachtung der Kulturkonflikte im deutschen Feuilleton. Während die bürgerliche Hochkultur und die klassischen Künste traditionell als die wertvolle und ästhetisch anspruchsvolle, vor allem sozial anerkannte Kultur geltend gemacht wird, wird die Populärkultur traditionell als minderwertiges Produkt aufgefasst; als Konsumprodukt einer Massenindustrie, als Mainstream und reine Unterhaltung. »Massenkultur macht die Gefährdung des disziplinierten bürgerlichen Subjekts durch den technischen Fortschritt und den exzessiven, unberechenbaren Abenteuerkapitalismus, der die Domestizierung des Subjekts durch die bürgerliche Moral und die vermittelnde, sozialisierte Funktion der Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft durchkreuzt, augen- und sinnfällig.« (Bublitz 2005: 91) Die Kritik am Populären wurde in Deutschland im 18. Jahrhundert vorbereitet und im 19. Jahrhundert weitergeführt und verstärkt. So wurden bereits in der Aufklärung spezifische Kriterien kategorisch aus dem ästhetischen Raum ausgeschlossen, wie Thomas Hecken an Kant verdeutlicht: »Verlässt man Kants zumindest teilweise harmlos klingende Beispiele wirksamer Reize – die Wiesen und Gärten –, wird mit einer langen idealistischen Tradition daraus das Verbot oder zumindest die Abneigung, intime, sexuelle oder vergnügliche, leicht konsumierbare Gegenstände und Meinungen darzustellen.« (Hecken 2007: 13) Friedrich Schiller hält den populären Dichter in Auseinandersetzung mit den Begriffen »Volk« und »Popularität« an, sich als »aufgeklärter verfeinerter Wortführer der Volksgefühle« zum Herrn solcher »Affekte« zu machen, ihren »rohen gestaltlosen, oft tierischen Ausbruch« soll der Künstler »noch auf den Lippen des Volkes veredeln« (Schiller 1958: 249).1 Bereits hier wird zwischen »dem Kinderverstand des Volkes« – dem »großen Haufen« – und der »gebildeten Klasse« unterschieden. Eine Zusammenführung gelinge mit Schiller nur, wenn die Popularität nicht auf Kosten der »höhern Schönheit« geht, denn dann wäre es eine schlechte Form des Populären. Die pädagogische Leistung des Populären wird als eine Vermittlung von oben nach unten verstanden, die zwischen dem zur Autorität stilisierten Gebildeten und dem allgemeinen Volk, dass in die herrschenden Bildungsdiskurse vor
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Schillers Ausführungen erschienen anlässlich der Rezensionen zu Gottfried August Bürgers Gedichten in der Allgemeinen Literaturzeitung vom 15. und 17.1.1791 unter dem Titel »Schöne Künste. Über Bürgers Gedichte«. Der Beitrag entfachte in diesem Intelligenzblatt eine Debatte über die Rolle der Dichtung in der Moderne, bei der konfligierende politisch-ästhetische Programme aufeinandertreffen. Während Bürger einen kulturpolitisch engagierten und populären Literaturbegriff vertritt, bringt Schiller einen elitären Begriff im historischen Kontext einer fortschreitenden Dichotomisierung von Populär- und Hochliteratur in Anschlag.
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Debattenkulturen im Wandel
dem Horizont der Aufklärung eingegliedert werden soll, normativ unterscheidet. Folglich spielt die Popularität als Kategorie der Vermittlung zur Verbreitung von Wissen und zur Verbesserung des Geschmacks eine Rolle, beruht zugleich aber auf Distinktion und Privilegien. Die populäre Kultur ist in der Moderne signifikant mit einem großen ungebildeten Publikum verbunden und wird im bürgerlichen Geschmacks- und Bildungsdiskurs negativ aufgeladen und als Nicht-Kunst artikuliert. Ihre negative Semantik erhält sie somit erst im Identitätsdiskurs der bürgerlichen Kultur und seinen ästhetischen Kriterien des Guten, Erhabenen, Originellen, Wahren und Schönen. Wird die populäre Kultur mit Begriffen wie ›schlechter Geschmack‹, ›Verrohung‹, ›Standardisierung‹, ›Verführung‹ und ›Konzentrationsunfähigkeit‹ in Verbindung gebracht, erscheint sie als kulturell Anderes. Die alternativen Formen des unterhaltungsgeprägten Kulturgenusses sind in ökonomische Verwertungsprozesse sowie lebenspraktische Alltagszusammenhänge eingebunden und widersprechen den bürgerlichen Idealen. Entsprechend werden sie im Beurteilungsmodus der konservativen Kultureliten als Bedrohung der eigenen Identität wahrgenommen und delegitimiert bzw. vom herrschenden Diskurs ausgeschlossen.2 Vor diesem Hintergrund begreife ich die Leitdifferenz zwischen der angesehenen Hochkultur und der trivialen Populärkultur im Sinne einer legitimen und illegitimen Kultur als eine historisch produzierte Opposition und als Ergebnis von sozialen Kämpfen. Auch wenn in dieser Forschungsperspektive die Kategorien der bürgerlichen und der populären Kultur bestehen bleiben, werden sie aber nicht als gegeben aufgefasst, sondern als diskursiv konstruiertes Machtverhältnis. Hochkultur erscheint dann als eine historisch produzierte Dominanzkultur, die Ausschlüsse produziert und als solche kontingent und verhandelbar bleibt. Auch die Popund Populärkultur werden nicht als Marktplatz oder Konsumprodukte, sondern als zeithistorische Phänomene und kulturelle Grenzfiguren untersucht (vgl. Mrozek 2019: 742). Konstituieren sich kulturelle Identitäten über ein Außen, bleibt das
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Der amerikanische Kunstkritiker und Vertreter der etablierten modernistischen Kunstkritik Clemens Greenberg (1909-1994) schreibt zum Beispiel: »Die Bauern, die sich in den Städten als Proletarier und Kleinbürger niederließen, lernten zwar für den praktischen Gebrauch zu lesen und zu schreiben, doch die notwendige Muße und der Komfort für den Genuss der traditionellen urbanen Kultur blieb ihnen versagt. Da sie nichtsdestoweniger den Geschmack an der aus einem ländlichen Hintergrund stammenden Volkskultur verloren und zur gleichen Zeit eine neue Befähigung zur Langeweile entdeckten, setzten die neuen städtischen Massen die Gesellschaft unter Druck, ihnen eine für ihren Bedarf geeignete Art von Kultur zu bieten. Um die Nachfrage auf diesem neuen Markt zu befriedigen, wurde eine neue Ware erfunden: Ersatzkultur, Kitsch, für diejenigen bestimmt, die unempfänglich für die Werte der echten Kultur sind, aber dennoch nach der Zerstreuung hungern, welche nur Kultur gleicher Art verschaffen kann.« (Greenberg 1997: 39f.)
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
Ausgeschlossene als Projektionsfläche und imaginäre Reizfigur im Diskurs präsent. In dieser Lesart werden die beiden Pole nicht als zwei voneinander getrennte Sphären verstanden, die unabhängig voneinander agieren, vielmehr bilden sie ein relationales Gefüge und sind identitätsstiftend aneinandergebunden. In diesem Spannungsverhältnis liegt das politische Potential: Im Kampf um die ›richtige Kultur‹ stehen die Pole in fortlaufender Auseinandersetzung zueinander und produzieren in »wechselseitiger Subversion« (Laclau/Mouffe 2012: 169) eine Vielheit an Identitätsdiskursen, die jeweils für sich beanspruchen, der einzig wahre zu sein. Im Unterschied zum emanzipationsgeleiteten Ansatz der Cultural Studies und zu »kulturpopulistischen Theorien«, welche die populäre Kultur primär »als autonome, positive Größe, als Quelle von Unabhängigkeit, Stärke und Kreativität, als Freiraum außerhalb des hegemonialen Kraftfeldes und als Ort des Widerstandes« (Ang 1999: 327) begreifen, wird das Terrain analysiert, auf dem unterschiedliche, teils widersprüchliche Identitätsdiskurse in Beziehung zueinander treten. Damit wird weniger die eine oder andere Kultur verteidigt, als vielmehr das »strategische Spiel auf einem Terrain, das von Konflikten und Machtkämpfen durchfurcht ist« (Marchart 2010: 177) in den Blick genommen. Auf diese Weise können Veränderungen beobachtet und herrschende Leitkulturen als Ergebnisse von politischen Auseinandersetzungen erfasst werden. Für die Transformationsprozesse und ihre Darstellung im Feuilleton des 20. Jahrhunderts stellt sich dann die Frage, welche Identitätsdiskurse mit welchen Forderungen in Beziehung gesetzt und mit welchen Semantiken belegt werden. Wie wird der Konflikt zwischen bürgerlichen und populären Kulturen im spätmodernen Feuilleton verhandelt? Welche Effekte hat er auf das Feuilleton, das hier als ein Ort erscheint, an dem mit entschieden wird, was Kunst und was Nicht-Kunst ist?
Exkurs: Bürgerliche (Hoch-)Kulturen Für ein besseres Verständnis der Kulturkonflikte im Feuilleton der Spätmoderne, wird im Folgenden die besondere Entstehungsweise der bürgerlichen Kultur in Deutschland skizziert. Erst vor diesem Hintergrund werden sowohl die kulturellen Identitätskonflikte seit der Spätmoderne als auch die »Neuen Kulturkämpfe« (Knoblauch 2019) im Kontext eines erstarkenden Populismus seit den 2010er Jahren beobachtbar. Mit Reckwitz können kulturelle Phänomene erst durch eine Einbettung »in die langen Kontinuitäten, Diskontinuitäten und Intertextualitäten der Geschichte« erfasst werden, in denen »die Zeitpunkte und Kontexte der Entstehung des scheinbar Universalen und Alternativlosen deutlich werden« (Reckwitz 2010c: 181). Begreift man Gegenwartskulturen als »historisch intertextuelle Sinnkonstellationen« (Reckwitz 2006a: 19), ist die »Rekontextualisierung von kulturellen Phänomenen« immer mit »einer historische[n] Rekontextualisierung« (Reckwitz 2010c: 181) verbunden. Damit einher geht eine Perspektive, die das in der sozialen Welt Ge-
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Debattenkulturen im Wandel
gebene nicht einfach als ›vorhanden‹ wahrnimmt oder kausalen Kräften zuspricht, sondern seine Entstehung und Reproduktion in komplexe Zusammenhänge spezifischer Denk- und Wahrnehmungsweisen sowie kollektive Interpretations- und Wissensformen einbettet (vgl. ebd.: 180). »Die bürgerliche Moderne erreicht in der Gesellschaft des ›langen 19. Jahrhunderts‹ den Höhepunkt ihrer Institutionalisierung, welche das bürgerliche Subjekt als universalen Horizont der Moderne vorläufig verankert.« (Reckwitz 2006a: 242) Mit Reckwitz werden die Emanzipationsbestrebungen der bürgerlichen Kultur als erster »moderner Kulturkonflikt« (ebd.: 78) im westlichen Raum aufgefasst.3 Die bürgerliche Praxis zur Zeit der Aufklärung und des Liberalismus, die in Zeitschriften einen öffentlichen Resonanzraum findet, emanzipiert das neu entstehende Bürgertum zunehmend von der höfischen Gesellschaft. Im 19. Jahrhundert wandelt sich die ›anti-hegemoniale Kultur‹ im Kampf gegen Feudalismus und klerikale Kultur zur dominanten Ordnung – »aus einer anfänglich kulturellen Nische experimenteller Bürgerlichkeit« (ebd.: 242) wird ein herrschendes Modell. Mit ihrem Ideal der souveränen Selbstregulierung grenzt sich die bürgerliche Kultur gegenüber der religiös orientierten und als primitiv empfundenen Volkskultur wie auch den Aristokraten und der höfischen Gesellschaft ab. Dies geht mit einer Moralisierung des bürgerlichen Subjekts einher, das sich gegen die Amoral wendet, die in den ›anderen Kulturen‹ ›gewittert‹ wird. Die bürgerliche Kultur kämpft gegen das Barbarische, das unbewusste Triebleben und den Exzess, das Begehren und den Affekt, das Unechte und Künstliche, die Verschwendung und den Konsum, das Primitive und die Grobheit, das Spektakel und die Lust. Die »praktische Gebildetheit« wird neben der Arbeit und dem Beruf, der Familie und der Intimität zur notwendigen Voraussetzung für den »bürgerlichen Charakter« (ebd.: 205) und fungiert als Ideal-Ich für alle gesellschaftlichen Milieus. Bildung meint hier »notwendig Selbstbildung«, die »nicht in einer einfachen Übernahme das Wissens anderer bestehen« als »vielmehr subjektiv angeeignet« wird,
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»Die Kultur der Moderne ist durch Agonalitäten strukturiert«, schreibt Reckwitz und meint damit ein »Feld der Auseinandersetzung um kulturelle Differenzen bezüglich dessen, was das Subjekt ist und wie es sich formen kann«. Folgt man dem Soziologen, so besteht die Kultur der (westlichen) Moderne aus einer »Sequenz von Kulturkonflikten«, die bisher »drei dominante Modernitätskulturen« hervorgebracht hat: die bürgerliche Moderne des 18. und 19. Jahrhunderts und das moralisch-souveräne, respektable Subjekt, die organisierte Moderne der 1920er bis 1970er Jahre und das extravertierte Angestelltensubjekt sowie die Postmoderne von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart und das Modell einer kreativen-konsumtorischen Subjektvität. Als »heterogene Komplexe von sozialen Praktiken und Diskursen« produzieren dominante Kulturen »spezifische kulturelle Formen«, in denen sich der Einzelne, das Subjekt, einschreibt und nach denen es sich »zu modellieren hat und modellieren will« (Reckwitz 2006a: 14f., Hervorheb. i. O.).
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
»bis es zum eigenen Wissen wird« (ebd.: 172). Diese Form der Bildung vollzieht sich im 19. Jahrhundert wesentlich über die Künste. Der Durchgang durch die kanonisierte Welt von Büchern und Kunstwerken bildet die zentrale Voraussetzung zur subjektiven Vervollkommnung des bürgerlichen Subjekts, das über die Kunstrezeption zur souveränen Selbstbeherrschung gelangen soll. Fasst man das Kunstfeld mit Reckwitz (2012: 57f.) als eine »ästhetische Sozialität« auf, so wird die Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft zu einem kulturellen Zentrum mit spezifischen Relationen, Regeln und Limitierungen: »Der Rezipient hat eine nach innen gerichtete Rezeptionshaltung zu entwickeln und sich am bürgerlichen Geschmack und Schönheitsideal zu orientieren; die Kunstwerke werden in konventionellen Formaten […] fixiert, die Kunstkritik und die Kanonisierung bauen Aufmerksamkeitsfilter ein und versuchen den legitimen Geschmack zu lenken; schließlich wird der Künstler auf eine genialische Figur mit absolutem Schöpfungsanspruch festgelegt.« (Reckwitz 2012: 59) Mit der kulturellen Hegemonie geht die Universalisierung der Idee der bürgerlichen Kultur einher, das heißt die quantitative Verbreitung auf andere soziale Gruppierungen und Lebensformen (Reckwitz 2006a: 69f.). »Obwohl es kaum mehr als ein Prozent der Gesamtbevölkerung umfasste, wurde das Bildungsbürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum wichtigsten Träger der liberalen deutschen Nationalbewegung und rückte in der zweiten Hälfte zum Deutungszentrum der deutschen Gesellschaft auf, an dem sich die anderen Schichten orientierten.« (Giesen 2010: 241) Das Vereinheitlichungsstreben betont die Integrationsfunktion im Sinne der demokratischen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit und soll allen Gesellschaftsmitgliedern einen uneingeschränkten Zugang zur bürgerlichen Kultur ermöglichen. Zur Durchsetzung und Absicherung der bürgerlichen Kultur über ihre Ausgangsmilieus hinaus entstehen höhere Bildungsanstalten wie Akademien und staatliche Kunsthochschulen, Bildungsstätten wie Bibliotheken und Kunstvereine als auch öffentliche Kulturbetriebe wie Museen, Galerien, Konzert- und Literaturhäuser und das bürgerliche Theater. »Die bürgerliche Kunst (Literatur, Musik, Bildende Kunst, Theater) als eigenständiges soziales Feld geht erstmals mit einem künstlerischen Autonomieanspruch einher, der sich von moralischen Imperativen emanzipiert und auf die Verfertigung exklusiv ästhetischer Wahrnehmungen setzt.« (Reckwitz 2015a: 33) Zugleich verändert sich mit der Ausdifferenzierung der Künste in der Moderne die Praxis der kulturellen Bildung. Im 19. Jahrhundert erfolgt die Trennung von Ästhetik und Rationalität durch die Ausdifferenzierung der bürgerlichen Kunst (Literatur, Musik, bildende Kunst, Theater) zu einem eigenständigen sozialen Feld.
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Als autonome Sphäre des Ästhetischen wandelt sich das Feld der Kunst zu einem exklusiven und auch legitimen Ort für die Hervorbringung von sinnlichen Wahrnehmungen, Affekten und Emotionen (ebd.). Damit wird die Kunst aus dem reinen Bildungsanspruch herausgelöst und zu einem Sehnsuchtsort der bürgerlichen Klasse: »Inseln der Kultur, die einem relativ begrenzten Publikum eine temporäre Flucht aus beziehungsweise eine Alternative zu der ansonsten dominanten Logik der industriellen Zweckrationalität boten.« (Reckwitz 2019: 35) Das bedeutet auch: Die Kunst übernimmt die Funktion der Opposition gegenüber dem Staat und eine Kompensationsfunktion für das moderne Individuum in einer rationalen Welt (vgl. Reckwitz 2012: 57). Mit dem Kapitalismus und der Industrialisierung erfolgt eine Trennung zwischen der beruflichen und privaten Existenz und damit zwischen Arbeit und Freizeit. So wird der Theaterbesuch zu einem geselligen Vergnügen und »wirklichen Ereignis«, indem sich durch die leibhaftige Anwesenheit der Spieler:innen die »Ereignishaftigkeit und Künstlichkeit« zu einem sinnlich-spektakulären Erlebnis vermischt, um dem Bürgertum sowohl Momente der Selbstreflexion als auch »eine intensive emotionalere Teilnahme als das Alltagsleben« (Giesen 2010: 243) zu ermöglichen.4 Das ›Amüsement‹ und die ›gepflegte Unterhaltung‹ gehörten zum anerkannten Kulturprogramm der bürgerlichen Oberschicht. Mit Kaspar Maase unterscheidet die bürgerliche Öffentlichkeit zwei Varianten von Populärkultur: die legitime ›gute Unterhaltung‹, die harmlos ist und vom Bürgertum rezipiert wird (z.B. Operette, Revue), und die illegitime ›gefährliche Populärkultur‹, die mit Begriffen wie ›Kitsch‹ und ›Schund‹ eine Abwertung erfährt (2014: 136f.). Als Teil der hegemonialen Öffentlichkeit werden die Künste zu einer Legitimationskraft der gebildeten Oberschicht, die in Abgrenzung zum Kleinbürgertum und zur Arbeiterschaft besonderen Wert auf einen Kunstgeschmack legt, der nur mit einem spezifischen Kontextwissen genießbar und entsprechend der Bildungselite vorbehalten ist. Der kultivierte Kulturgenuss wird durch Bildung erworben (vgl. Bourdieu 1984: 108). In der Regel verfügt der gehobene Kulturdiskurs über einen bestimmten Kanon an klassischer Literatur mit anerkanntem Bildungswert, über die sich das Bildungsbürgertum durch die Lektüre von wissenschaftli4
Mit dem Aufkommen der Unterhaltungskultur in der bürgerlichen Gesellschaft durchdringen sich unterschiedliche Genres »zwischen Klassiker und Ausstattungsstück, Zirkus und Revue, Oper, Operette und Posse mit Musik«, um zu neuen ästhetischen Spielformen zu gelangen; die Theaterbühnen waren »repräsentative und ausstrahlende Orte, an denen unterschiedliche künstlerische Traditionen und Kompetenzen des Unterhaltungsgewerbes zusammenliefen und ständig unter dem Anspruch der Steigerung und Überbietung innovativ re-arrangiert wurden« (Maase 2014: 137). Neben der Errichtung von staatlichen Kultureinrichtungen ermöglicht bereits die Mitte des 19. Jahrhunderts durchgesetzte Gewerbefreiheit die Gründung von privaten Theatern und kommerziell ausgerichteten Vergnügungsstätten als Alternative zu den bürgerlichen Kulturinstitutionen, infolge dessen die Massenkultur sich erst entfalten konnte und den Zugang zur Kultur für eine breitere Schicht ermöglichte.
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
chen Standardwerken und Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften in Kenntnis setzt. »Das Bildungsbürgertum des fortgeschrittenen Jahrhunderts ist kein Augenpublikum, sondern ein literarisch verbildetes, das seine Unfähigkeit zur Beurteilung sinnlicher Phänomene verbirgt, indem es den vorformulierten Inhalt der Kunstzeitschriften […] sich zu eigen macht.« (Schlink 1992: 67f.) Wenn die Kunstbetrachtung im Modus der Bildung zu einer hegemonialen Praktik wird, erlangen die Bürger:innen nicht zuletzt durch die kulturelle Differenz ihre soziale Zugehörigkeit. Über die ästhetische Rezeption von bestimmten Kunstwerken bilden sie sowohl ihren Geschmack und ihre kulturelle Identität als auch ihren Status im Unterschied zu anderen Milieus aus. Zusammenkünfte in den bürgerlichen Salons oder im Foyer des Theaters als »Bildungstempel, Kulturstätten, Diskussionsforen und Unterhaltungsstätten« (Nipperdey 1988: 55) dienen der kulturellen Selbstverständigung und der sozialen Anerkennung. Mit der Institutionalisierung der Künste im höheren Bildungswesen und mit den Kunstinstitutionen verlagert sich die Logik der Bildung zunehmend zur Logik der Distinktion im Sinne der Akkumulation von kulturellem Kapital zur Fixierung von Grenzmarken gegenüber dem Adel und den nichtgebildeten Klassen (Bourdieu 1984: 355). Das gerahmte Bild im Wohnzimmer der bürgerlichen Intimität oder Bücher von Goethe und Schiller repräsentieren den eigenen Bildungsstand und lassen die Künste zum Medium der bürgerlichen Selbstdarstellung und der sozialen Distinktion werden (ebd.). Als selbstverständlicher Bestandteil des bürgerlichen Lebens verliert die Kunstrezeption nicht nur an emphatischem Zugang, die Logik der Distinktion verstärkt auch die Tendenz zur Tradition und zum Konservatismus. Kultur dient nicht mehr nur der Erlangung eines Zustands menschlicher Perfektion von universell gedachten Werten wie noch im 18. und frühen 19. Jahrhundert, sondern artikuliert sich als Korpus geistiger und imaginativer Werke mithin als hohe Kunst, die sich in Bauwerken, Gemälden und Schriften manifestiert und die es als bildende Hochkultur zu bewahren und zu schützen gilt. Nicht mehr die subjektive Aneignung von Wissen zur Selbstbildung und die Teilhabe an künstlerischen Artefakten als Möglichkeit des In-der-Welt-seins stehen dann im Vordergrund, sondern die Reproduktion und Kanonisierung von bestehenden Kulturen. Der mit dem bürgerlichen Allgemeinheitsanspruch einhergehende Geschmack, der sich über staatliche Kulturbetriebe, Bildungseinrichtungen und Erziehung vermittelt, neigt zu einem schematisierten Schönheitssinn in Beschränkung auf deutsche Klassiker, wie der Literaturwissenschaftler Erich Schön feststellt: »Abgehobene Kulturgüter, die der Teilhabe an der bürgerlichen und nationalen Identität versichern. Diese Verengung bedeutet zugleich eine Verdinglichung der Bildung: man kann sie erwerben und dann haben, besitzen (in Form von Pracht-
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ausgaben). Die Beschäftigung mit der aktuellen literarischen Produktion ist von diesem Bildungsbegriff nicht mit erfasst.« (Schön 1987: 55) In diesem Sinn ermöglicht die bürgerliche Kultur nicht nur die Steigerung des Selbst in einer zunehmend kapitalistischen Gesellschaft, sondern produziert auch die Tendenz zur strukturellen Schließung, die dem Code der Offenheit der Künste ebenso widerspricht wie dem bürgerlichen Ideal der Autonomie und Souveränität des Subjekts.
3.1.1
1920er und 30er Jahre: »Reklame! Reklame! Tempo! Tempo!«
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts generiert die Kulturindustrie alternative Praktiken der ästhetischen Produktion und Rezeption, die das bürgerliche Verständnis einer authentisch markierten Kunst in ihrem Streben nach Autonomie und Souveränität nachhaltig in Frage stellen. Die industrielle Produktion ermöglicht einen finanziell wie intellektuell leicht zugänglichen Kulturgenuss für eine weniger gebildete Schicht und formatiert einen neuen Kulturdiskurs, die Populärkultur. Auch wenn sich die Medien- und Kulturindustrie an den künstlerischen Strategien der herrschenden Hochkultur orientiert, emanzipiert sie die ›niederen‹ Klassen des Kleinbürgertums und die des Proletariats, später die neue Mittelschicht der Angestellten, zunehmend von der formellen Kunst der bildungsbürgerlichen Kultur einer privilegierten gebildeten Schicht. Identitätsstiftende Objekte und freiheitsversprechende Sehnsuchtsorte sind nicht mehr nur im Museum und im Theater, im Salon und dem Kaffeehaus zu finden, sondern auch auf dem kulturindustriellen Gütermarkt, in den Vergnügungsstätten und im Kaufhaus, im privaten Theater und in populären Schriften sowie im 20. Jahrhundert über die audiovisuellen Medien wie Radio, Film, Schallplatte und Kino. ›Freizeit‹ organisiert sich nicht mehr allein über die klassischen Orte der Bildung, sondern auch im kommerziellen, marktvermittelten Vergnügen. »Denn weiterhin ist die große Form abgestanden, altbürgerliche Kultur mit Hoftheater und geschlossener Bildung blüht nicht einmal epigonal. Von der Straße, dem Jahrmarkt, dem Zirkus, der Kolportage dringen andere Formen vor, neue oder nur aus verachteten Winkeln bekannte, und sie besetzen das Feld der Reife.« (Bloch 1928) Die Herausbildung von kulturellen Märkten wie auch die sozialen Unsicherheiten nach dem ersten Weltkrieg führen zu einer Befragung der bürgerlichen Kultur als universale Sinnstruktur und fordern eine Neuformation des Sozialen ein, die auch im Zeitungsfeuilleton zum Ausdruck kommt. Printmedien wie Zeitungen und Zeitschriften hatten in der Weimarer Republik Konjunktur und erreichten im Rahmen der technischen und ökonomischen Entwicklungen ein breiten Adressatenkreis.
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
In der »Zeitungsstadt Berlin« (Mendelssohn 2017) veröffentlichten Tageszeitungen bis zu drei Ausgaben täglich. Vor allem die großen liberalen Blätter wie Berliner Tageblatt, FZ und Vossische Zeitung bestimmten in Deutschland sowohl den Kulturbetrieb als auch den gesellschaftspolitischen Diskurs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Themen wie die Transformation der Geschlechterverhältnisse, die soziale Verelendung im Nachkriegsalltag oder die Neuorganisation der Arbeitswelt am Beispiel der Sozialfigur des Angestellten finden genauso Eingang in die Feuilletonpublizistik wie die fortschreitenden Urbanisierungs- und Modernisierungsprozesse. Besonders die Großstadt wurde zur sozialen Bühne einer sich rasant veränderten Erfahrungswelt. Die moderne Metropole mit ihren neuen Architekturen und Stadtbildern, geprägt von elektrischer Beleuchtung und Lichtreklame, den neuen Vergnügungsstätten der Angestellten und den beschleunigten Rhythmen des großständischen Verkehrs, lassen sinnlich wahrnehmbare Oberflächen entstehen, die im Feuilleton der großen europäischen Tageszeitungen einen Ort der Verhandlung finden (vgl. Todorow 1996a, Jäger/Schütz 1999, Rautenstrauch 2016) – vor allem in Berlin, Frankfurt, Wien und Prag. Die durch den raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke der modernen Großstadt hervorgerufene »Steigerung des Nervenlebens« (Simmel 2006: 9) fließt in die Schreibpraxis ein und mündet in eine flüchtige Art des Sehens, die den Rhythmus und die Poetik des feuilletonistischen Schreibens prägt: »Bewegung, Tempo, Buntheit. Effekt ist alles. […] Jahrmarkt der Weltstadt ist draußen am Kaiserdamm. Theater von übermorgen […]. Alles wirbt, schreit, blitzt: Hierher sehen! Grelle Farbe, wilder Rhythmus. Jazzbandstimmung. […] Reklame! Reklame! Tempo! Tempo! – Effekt! Effekt! – Stehenbleiben! Schauen! Kaufen! […] Berliner Tempo! Reklamentempo.« (G. W. 1925) Die »gesamtgesellschaftliche Ausbreitung ästhetischer Inszenierungsformen von Subjekten, Dingen und Ereignissen« (Reckwitz/Prinz/Schäfer 2015: 9) enthebt das künstlerische Feld im frühen 20. Jahrhundert von seinem Alleinanspruch »als die Sphäre intensivierter sinnlicher Wahrnehmung und der Affekte« (Reckwitz 2008a: 298). Ästhetisierung bezieht sich dann nicht mehr vorrangig auf den hochkulturellen Bereich des Schönen und der Künste im engen Sinn, sondern intensiviert die »Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art: sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen« (Welsch 1993: 9f.). War das Feuilleton immer schon ein Ort der ästhetischen Betrachtung – Kunst, Natur, Reise –, so erweitert sich sein Themenspektrum. Neben Artefakten der bürgerlichen Hochkultur erhalten auch Gegenstände, soziale Gruppierungen und alternative Lebensformen sowie politische Debatten Eingang in die Kulturrubrik. Robert Walser reflektiert in seinen Feuilletonartikeln beispielsweise auf Rüstungskredite und die Zukunft des europäischen Zusammenlebens (vgl. Gisi 2015) oder
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betreibt (Sprach)Analyse, wenn er in der Neuen Rundschau unter dem Titel »Fabelhaft« ein Berliner Modewort zeitdiagnostisch perspektiviert (vgl. Utz 2015). Auch die aufkommende Massenkultur und Werbung nimmt Walser mit seinem »Jetztzeitstil« (Utz 1998) in den Blick, wenn er im Jahr 1917 in seinem Beitrag »Na also« die Odol-Werbung satirisch beleuchtet (Utz 2002). Für die feuilletonistische Reflexion der Urbanisierungs- und Modernisierungsprozesse in der Berliner Großstadt möchte ich exemplarisch den Soziologen, Filmtheoretiker, Schriftsteller und Journalisten Siegfried Kracauer (1889-1966) anführen. Dieser hatte das Feuilleton der FZ vor allem in den 1920er Jahren zu einem öffentlichen Diskursraum für die neueren Kulturen mit ausgebaut. Das Feuilleton der FZ reagiert früh auf die neuen Verhältnisse und vollzieht schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen medienästhetischen und politischen Wandel. Räumlich vergrößert und mit besseren redaktionellen Mitteln ausgestattet, transformiert sich der Kulturteil von der literarisch gestimmten ›Plauderei‹ zu einem soziologisch-reflektierenden Medium, in dem neben Kunst und Wissenschaft zunehmend auch sozialpolitische Ereignisse und populäre Kulturen Eingang erhalten. Kracauer schreibt seinen ersten Beitrag für die FZ im Jahr 1906, ab 1921 wird er fester Mitarbeiter und ab 1922 festangestellter Redakteur im Feuilleton der FZ, in den Jahren 1930 bis 1933 übernimmt er schließlich die Leitung des kulturpolitischen Ressorts in Berlin. Mit Kracauer erhält nicht nur die Soziologie und Philosophie Eingang in den allgemeinen Diskurs, sondern auch die Alltagskultur durch Beiträge zu Werbung, Stars und Schlager oder die neuen Medien wie Kino, Film und Photographie. Prägend für das Feuilleton von Kracauer sind darüber hinaus die Auseinandersetzungen mit den populären Unterhaltungskulturen nach amerikanischem Vorbild wie neue Showformate, Bühnengenres und Sportveranstaltungen – »Produkte amerikanischer Zerstreuungsfabriken«, wie er (1977: 57) sie selbst nennt. In diesem Sinn besteht der zentrale Beitrag von Kracauer darin, dass »sein Blick auf die Randzonen der Hochkultur fiel und sich den Medien der populären Kultur zuwandte […]. Die Klammer vom frühen zum späten Werk ist die Intention, aus ephemeren Kulturphänomenen gleichzeitige gesellschaftliche Tendenzen zu dechiffrieren,« so beschreibt es der Filmwissenschaftler Karsten Witte (1977: 336f.). Weniger die hochkulturellen Einrichtungen der Künste und die akademischen Salons der gebildeten Oberschicht interessieren ihn, sondern die »Amüsierbetriebe« (Kracauer 1971: 285) und Unterhaltungsstätten der neuen Mittelschicht der Angestellten, denen er sich besonders ab Mitte der zwanziger Jahre zuwendet.5 Die neueren Unterhaltungs- und Freizeitkulturen werden von ihm als Gegenstand der 5
Kracauer verfasste essayistische Studien zur neuen Mittelschicht im Berlin der 1920er Jahre. »Die Angestellten« (Kracauer 1971) wurde 1929 als Serie in der Frankfurter Zeitung publiziert und 1930 als Buch veröffentlicht.
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
Gesellschaftsanalyse wahrgenommen und erhalten damit einen zeitdiagnostischen Erkenntnisgewinn. Kracauer entwickelt eine alternative Methode der Wirklichkeitsbeobachtung, die sich aus der »Empirie des Geistesleben in den Großstädten« und einer »Lust, intellektuelle Erfahrungen ›auf der Straße‹ zu machen« speist (Ahrens et al. 2017: 6). Dabei handelt es sich um ein Verfahren, das gewohnte Alltagsleben in der Beobachtung zu »befremden«, um die darin wirkenden Sozialstrukturen einsichtig zu machen (Prinz 2015: 105). Die »Exotik der Alltagswelt« (Ahrens et al. 2017: 7) meint weder Exotismus als Primitivismus noch wird sie von vornherein als ein kulturell Anderes wahrgenommen, sondern eröffnet neue Möglichkeitsräume der Vergesellschaftung. Der gelernte Architekt folgt der Kritischen Theorie im Umfeld der Frankfurter Schule und dem Institut für Sozialforschung, in dessen Milieu er sich als Linksintellektueller im frühen 20. Jahrhundert bewegt. Gilt Kracauer auch als Einzelgänger und Außenseiter, so ist er in theoretischer und biographischer Hinsicht freundschaftlich mit Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Georg Simmel, Walter Benjamin, Ernst Bloch und Leo Löwenthal verbunden und gehört der kritischen Intelligenz der 1920er und 30er Jahre an. In Verbindung mit den empirisch-ästhetischen Erfahrungen während seiner »quasi-ethnografischen Streifzüge« (Prinz 2015: 105) entwickelt er eine eigenständige Form der Kulturkritik, die auf die Reproduktion von Herrschaft und Ideologie im Sinn der Kritischen Theorie Bezug nimmt und doch darüber hinausweist. Mit aufklärerischen Impulsen ausgestattet, öffnet sich Kracauer für die ihn umgebenden Verhältnisse und massenkulturellen Erzeugnisse in der Großstadt, um sie soziologisch zu perspektiveren und im Fluchtpunkt gängiger Dichotomien wie etwa Kunst und Masse zu reflektieren. Im Weimarer Amüsierbetrieb sieht er den »Hunger der Weltstadtbevölkerung nach Glanz und Zerstreuung« gestillt, »um die innere Leere der Industrialisierung und Kapitalisierung zu kompensieren« (Kracauer 1971: 286f.). »In demselben Augenblick, in dem die Betriebe rationalisiert werden, rationalisieren jene Lokale das Vergnügen der Angestelltenheere« (ebd.). Kracauer artikuliert eine ästhetische Gesellschaftskritik, welche die formale Rationalisierung der Moderne und ihren Formen der Entsinnlichung und »Enthumanisierung« in den Blick nimmt (vgl. Reckwitz 2015a: 42f.).6 Zugleich erkennt er in den neuen Kulturen auch Möglichkeiten 6
Luc Boltanski und Eve Chiapello unterscheiden zwei Formen der Kritik: die Sozialkritik und die Künstlerkritik. Sozialkritik meint jene Kritik, welche die ungleiche Verteilung von materiellen Ressourcen und die soziale Ungleichheit anprangert. In der Künstlerkritik hingegen geht es weniger um existenzielle und materielle Nöte, als vielmehr um Entfremdung und Emanzipation, die sich auch bei Kracauer wiederfindet. So verweisen seine Analysen weniger auf das Fehlen materieller Ressourcen als vielmehr auf das Leiden und die alltäglichen Lebensformen in der nachbürgerlichen Gesellschaft, in der ein Mangel an Authentizität und »die Entzauberung der Welt unter dem Einfluss der Technisierung und Technokratisierung« (Boltanski/Chiapello 2003: 216) erkannt wird.
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der Kompensation und der Vergemeinschaftung, wenn er Orte entdeckt, an denen »die Masse bei sich selber zu Gast« (Kracauer 1971: 286) ist. Könne die eigene Massenhaftigkeit auch nicht reflektiert werden, so werde sie doch sinnlich erfahren: »Man wärmt sich aneinander, man tröstet sich gemeinsam darüber, dass man der Quantität nicht entrinnen kann.« (Ebd.) In seinen Feuilletons zeigt sich der Soziologe als Journalist (vgl. Schmidt-Lux/Thériault 2017): Vergnügungsstätten wie Bars und Nachtclubs bezeichnet er als »Gesellschaftsreisen für Angestellte ins Paradies«, wenn der Barkeeper die bunten Lichter ausschaltet, »scheint freilich der Achtstundentag gleich wieder herein« (ebd.: 98).7 Kracauer begreift die neuen Kulturen als Oberflächenphänomene und Orte der Zerstreuung und der Flüchtigkeit. Gerade dadurch gewinnen sie für ihn an Erkenntnismöglichkeit für die Prozesse der Vergesellschaftung in der Moderne. Auch in seinem Essay »Kult der Zerstreuung« aus dem Jahr 1926, in dem er sich mit den »Berliner Lichtspielhäusern« als neue Form der Unterhaltungskultur der »bürgerlichen Mittelschichten« auseinandersetzt (»Paläste der Zerstreuung«), zeigt sich Kracauer aufgeschlossen, wenn er einen Wandel gegenüber einer überkommenen Bildungskultur und ihren Werten wie »Persönlichkeit, Innerlichkeit, Tragik« feststellt und darin neue Möglichkeiten der Subjektivierung erkennt. Bestimme sich etwa die »Oberflächensphäre« der Amüsierbetriebe wesentlich über »äußere Reize«, so gefährde sie nicht »die Wahrheit«, sondern die »naive Behauptung irreal gewordener Kulturwerte« (Kracauer 1977: 314). Hält Kracauer die Reaktion des Berliner Publikums auch für angemessen, wenn es die alten Kunstereignisse mit ihrem hohen Anspruch meidet und stattdessen »dem Oberflächenglanz der Stars, der Filme, der Revuen, der Ausstattungsstücke den Vorzug erteilt«, so treffe sich das Publikum im »reinen Außen« selber an: »Die zerstückelte Folge der splendiden Sinneseindrücke bringt seine eigene Wirklichkeit an den Tag. Wäre sie ihm verborgen, es könnte sie nicht angreifen und wandeln; ihr Offenbarwerden in der Zerstreuung hat eine moralische Bedeutung.« (Ebd.) Erst in der Zerstreuung erkennt das Subjekt den Mangel und erfährt die Entfremdung durch die Rationalität der kapitalistischen Gesellschaft, so kann das Deutungsangebot von Kracauer interpretiert werden. Der Kulturjournalist zeigt alternative Möglichkeiten der ästhetischen Subjektivierung auf, die mit den
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Die ästhetische Erfahrung vollzieht sich hier weniger in der ernsthaften Vertiefung des Einzelnen (wie im Kunstwerk) als vielmehr in der kollektiven Erfahrung. Zygmunt Bauman spricht von »ästhetischen Gemeinschaften«, die sich weniger über kulturelle Identität und Normierung, über ethische Verantwortlichkeiten und langfristige Verpflichtungen bestimmen, sondern mehr über die temporär stattfindende Freude, den Affekt und das gemeinsame Erlebnis – »Bindungen ohne Konsequenz« (2009: 81ff.).
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
Produktions- und Rezeptionsweisen der Massenkultur generiert werden. Zwar befragt er die normative Dichotomie der anerkannten Hochkultur und der ›trivialen‹ Massen- und Populärkultur. Zugleich bleiben die klassischen Ideale der Aufklärung und des Humanismus als Beurteilungskriterien bestehen. Die Zerstreuung erfüllt einen moralischen Zweck und erfährt durch das aufklärerische Moment ihre Anerkennung als Kultur (vgl. Hecken 1997: 206f.). Damit repräsentiert Kracauer einen elitären Kulturdiskurs: Das normale alltägliche Leben wird hochkulturell perspektiviert und normativ eingeordnet und adressiert ein bürgerliches bzw. gebildetes Publikum. »Es macht den Schwellencharakter seiner Position aus, dass er letztlich den Motor der Überwindung der ›Zerstreuung‹, die im radikalen Umschlag das Neue, Bessere erwartende, theologisch unterfütterte fortschrittsorientierte Geschichtstheorie, aus einem Fundus bezog, den er selbst als spukhaftes Relikt einer untergehenden Zeit, nämlich der ›idealistischen Kultur‹, bezeichnet hatte.« (Gamper 2007: 492) Mit seiner »qualitativ verfahrende[n] Soziologie« (ebd.: 485) entwickelt Kracauer alternative Beschreibungsmöglichkeiten für das ›Profane‹ und für die ›Banalität‹ des Populären abseits von klassischen Werturteilen und erweitert damit den vom bildungsbürgerlichen Diskurs negativ konnotierten Raum des Sinnlichen und Affekthaften um eine neue Perspektive. Seine Feuilletons »erkunden die Metropole von ihrer modernsten Seite her« und leisten »soziologische Aufklärung über jüngste Verschiebungen im gesellschaftlichen Gefüge, wobei sie der Konsumkultur dieselbe Aufschlusskraft beimessen wie dem Einblick ins Berufsleben derjenigen, die den Typus des Großstadtmenschen mustergültig verklären« (Matala de Mazza 2018: 11). Schimmert in seinen Deutungsangeboten auch die bürgerliche Semantik durch und identifiziert er in den Vergnügungskulturen im Rückgriff auf die Kritische Theorie primär ökonomisch motivierte Zwänge der Ästhetisierung, so gehen die Reflexionen nicht in essenzialistischen Einordnungen auf, die das Populäre als das kulturell Andere vorbestimmen – wie es etwa im bildungsbürgerlichen Diskurs der Fall ist. »Die Masse – so die bildungsbürgerliche Kritik – entwickelt keine eigene Organisationsform, sie reagiert auf Attraktionen und Sensationen, die andere schaffen, sie ist passiv und außengeleitet. In ihr bleiben die Einzelnen einsam und ohne Gesicht, das gesehen, und ohne Stimme, die gehört würde. Die Passivität der Masse lässt sie auf Überraschungen, Neues und schockierende Erlebnisse angewiesen sein.« (Giesen 2010: 245) Kracauer beschreibt sich selbst als »Kulturphilosophen, oder auch Soziologen, und als einen Poet« (Belke/Renz 1988: 118) und nimmt die Massenkulturen als Offenbarung des Sozialen ernst, indem er neue Möglichkeiten der Vergesellschaftung
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erschließt. Im »Spannungsverhältnis zwischen instrumenteller Vernunft, Massenkultur und Ästhetik« (Prinz 2015: 105) nimmt er aktuelle Lesarten der modernen Populärkultur vorweg und erkennt darin nicht zuletzt eine neue Form von Kultur: die Kultur der Angestellten, die später von Reckwitz als »Kultur der organisierten Moderne« (2006a: 15) beschrieben wird. Die Ästhetisierung der Lebenswelt und die kulturellen Umbrüche der Massendemokratisierung jener Zeit führen zu einem erweiterten Kulturbegriff und einer veränderten Schreibpraxis im Feuilleton. Als genuin ästhetische Kritik dehnt der Kulturteil der Zeitung seinen kulturellen Spielraum auf das Populäre aus und öffnet den tradiert bürgerlichen Diskurs für randständige Phänomene und periphere Perspektiven. Die zunehmend allgemeine Betrachtungsweise des Kulturellen, die sich weder ausschließlich auf die Kunst im klassischen Sinn bezieht, noch rein normativ gegenüber der Zivilisation als höher zu bewertender Kultur vorgeht, sondern Kultur als eine Form begreift, die etwas über Gesellschaft und das Leben aussagt, nähert sich einer kultursoziologischen Perspektive, deren Ansätze im frühen 20. Jahrhundert wurzeln und im Zeitungsfeuilleton einen Ausdruck erfahren. Das Feuilleton zur Zeit der Weimarer Republik zeigt sich als ein Ort, der zwischen tradierten Wissensbeständen und einer Neuordnung des Kulturellen vermittelt. Es indiziert »seismographisch das Beben einer Kultur im rapiden Umbruch« und ist »idiosynkratischer Analytiker für die wahrnehmbar werdenden neuen Problemlagen der Moderne nach dem Ersten Weltkrieg« (Frank/Scherer 2012: 532). Dabei scheint es prädestiniert für die Verhandlung von Grenzfiguren wie die neueren Populärkulturen zu sein. Das mag auch damit zusammenhängen, dass es »auf eigentümliche Weise zwischen akademischen und populären Diskursen« (Payk 2005: 191) bzw. im Verhältnis »von Alltag und Wissenschaft« (Osterle 2000: 248f.) oszilliert und als bürgerliches Medium selbst Bestandteil des Populären ist. Die Feuilletons von Kracauer zeigen »am vermeintlich Beiläufigen, Kleinen, Unscheinbaren etwas Allgemeines« (Frank/Scherer 2012: 526) auf. Auch die Literaturwissenschaftlerin Ethel Matala de Mazza kommt zum Ergebnis: »Die journalistisch-literarischen Prosaformen, die schon im 19. Jahrhundert zum Markenzeichen der Sparte wurden, sind selbst ein Epiphänomen der Umbrüche, die Kracauer in seinen Beiträgen für die FZ kritisch reflektiert.« (2018: 12) Als hybrides Medium und Ort des Interdiskurses vermittelt das Feuilleton zwischen verschiedenen (Spezial-)Diskursen und folgt einem breiteren Wahrnehmungs- und Reflexionsspektrum, infolgedessen klassische Diskursgrenzen wie etwa die zwischen hoher Literatur und dem Populären unterlaufen werden. »Als öffentlicher Verhandlungsort und als Raum für heterogene Kleingenres, die nicht exklusiv auftreten, genießt das Feuilleton […] den Vorzug eines publizistischen ›Gemeinplatzes‹, dessen Vorteil darin besteht, sowohl von den Vielen zu sprechen als auch viele ansprechen zu können.« (Ebd.)
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
Das Feuilleton besitzt in der Weimarer Republik »über Jahre hin einen weit bedeutenderen Stellenwert in der öffentlichen Diskussion als das heutige« (Todorow 1988: 697) und ist »intellektuell und literarisch hochangesehen« (ebd.: 738), weshalb es die Feuilletonforschung auch als »kulturellen Leitstern« (Frank/Scherer 2012: 531) bezeichnet. Vom zeitgenössischen Publikum erhält es jedoch nicht die notwendige Legitimation (Todorow 1988: 738f.) und erscheint der bürgerlichen Leserschaft eher als exotisch (Matala de Mazza 2018: 28). Zugleich führt der »sozialaufklärerische Impetus« (Todorow 1988: 739) des Feuilletons in der FZ zu einem alternativen Verhandlungsraum im öffentlichen Diskurs, der widerläufig zu den kulturellen Schließungsprozessen verläuft, die mit zunehmender Nationalisierung im kulturkonservativen Milieu der deutschen Intelligenzblätter forciert werden (vgl. Payk 2008: 28-34). Hier wurde die USA bisweilen als eine kulturell wie ökonomisch expansive Macht gedeutet und abgewertet, da sie mit ihrem Materialismus und ›Kulturfeminismus‹ den Bildungsidealen der deutschen Kultur widersprach. Die Urbanisierung der deutschen Populärkultur der 1920er Jahre und die Revuegirls, wie sie Kracauer mit den amerikanischen Tanzgruppen der Tiller Girls in seinen Feuilletons beschrieb (vgl. Kracauer: 1931), waren für die Vertreter:innen einer traditionellen Kultur- und Geschlechterordnung ein Zeichen des kulturellen Verfalls und ein Symbol der Abkehr von den Werten der deutschen Kultur (vgl. Berghaus 1988). Die Behauptung der ›Amerikanisierung‹ der kulturellen Ordnung generiert in Verbindung mit dem technischen Fortschritt eine demokratieskeptische Haltung, die auch antiliberale Tendenzen enthält und zu einer ressentimentgeladenen Kulturpublizistik führt, die in der Entgegensetzung von deutsche ›Kultur‹ und amerikanischer ›Zivilisation‹ das Konstrukt der ›deutschen Kulturnation‹ stärkte (vgl. Payk 2005: 190ff.). Die Entgrenzungs- und Transformationsprozesse im Feuilleton, wie sie hier beispielhaft an der FZ skizziert wurden, werden durch den Nationalsozialismus und seinen Kampf gegen eine jüdische und ›liberalistische Intelligenz‹ unterbrochen. Insbesondere das Feuilleton der großen Tages- und Wochenzeitungen ist als Ort der Moderne und der Urbanität von den Maßnahmen der ›Gleichschaltung‹ betroffen, die durch das Reichspropagandaministerium und die Reichskulturkammer eingeleitet werden (vgl. Anz 2004). War die Abschaffung der ›undeutschen‹ Ressortbezeichnung – Feuilleton – auch nur schwer durchzusetzen, so bringen die nationalsozialistischen Kontrollinstitutionen das räsonierende Zeitungsfeuilleton ab 1933 sukzessive zum Verschwinden und ersetzen es durch den »kulturpolitischen Teil« (Jäger 1988: 56), der als Propagandamittel in den nationalen Aufbaudienst (Kernmayer/Reibnitz/Schütz 2012: 496) gestellt wird.
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Debattenkulturen im Wandel
3.1.2
1950er und 60er Jahre: »Hyperzivilisation und Barbarei«
Die Nachkriegszeit der Bundesrepublik seit 1945 ist vor dem historischen Hintergrund der NS-Zeit von einem ›Hunger nach Kultur‹ und dem Versuch einer Neubestimmung der kulturellen Ordnung geprägt. Erlebt man die »Auferstehung der Kultur in Deutschland« (Adorno 1950), so zeigt sich insbesondere das Feuilleton der Tageszeitungen als ein geeigneter Ort für die kulturelle Sinnstiftung einer noch jungen Bundesrepublik, in der »Kultur und Geist im Kalten Krieg als letzte Instanzen der nationalen Einheit« (Payk 2008: 216) gelten. Zwischen Kontinuität und Neubeginn und auf der Suche nach einer nationalen Identität schließt das westdeutsche Feuilleton der Nachkriegszeit zunächst an das bürgerlich-humanistische Kulturkonzept der Moderne an und orientiert sich damit an den Kriterien der spätbürgerlichen Aufklärung und der klassischen Bildung, um sie mit der Zeitdiagnostik des Weimarer Feuilletons der FZ und den liberalen Werten der westlichen Ordnung zu verbinden. »Karl Korn baute […] den Kulturteil der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ gezielt zu einem kulturkritischen Forum aus, wobei nicht nur die behandelten Themengebiete immer weiter ausgedehnt, sondern vor allem ein allgemeines Mandat für alle beobachtbaren Zeitphänomene der ›Massendemokratie‹ beansprucht wurde.« (Payk 2005: 201) Karl Korn (1908-1991) war Mitherausgeber der 1949 neugegründeten Tageszeitung, die neben der Welt zu den überregional bedeutsamen Zeitungen in Deutschland zählt. Er war für das Feuilleton und die Kulturpolitik zuständig und gehörte zu den »führenden Köpfen einer kulturkonservativen Zeitkritik in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre« (ebd.: 190). Der Journalist besitzt eine »humanistisch-abendländische Affinität« (ebd.: 194) und bringt bereits in den dreißiger Jahren seine Abneigung gegen die ›Trivialliteratur‹ zum Ausdruck, wenn es »billiger amerikanischer Sensationskitsch« (Korn 1937: 125) ist. Korn reproduziert die Zweiteilung innerhalb des Populären – legitime und illegitime Unterhaltung – im Feuilleton und steht dem Einfluss amerikanischer Konsumkultur auf Nachkriegsdeutschland kritisch gegenüber. Damit fördert er das Bild der Massenkultur als das Andere der Kultur, in der sich »nicht minder epidemische Bedrohungslagen zu manifestieren« (Payk 2005: 199) scheinen. In der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit lösen die konsumorientierten Praktiken und ihre ästhetischen Zeichensysteme im Kontext der Kulturgüterindustrie eine tiefe Verunsicherung über den Stellenwert von gesellschaftlichen Werten aus. Darüber hinaus fordern die Jugend- und Popkulturen einer gebildeten Mittelschicht sowohl die Geschmacksdiskurse als auch die moralischen Codes und Umgangsformen der herrschenden Ordnung seit Mitte der 1950er Jahre in Deutschland heraus (vgl. Maase 1992, Mrozek 2019). Der Rock ’n’ Roll von
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
halbstarken Arbeiterjugendlichen wird als rebellische Kraft gegen die spießig-autoritäre Welt der Alten erfahren und bildet mit der Beatlemania eine öffentliche Protestbewegung seit Mitte der 1960er Jahre aus. Im Feuilleton der FAZ werden besonders die kultur- und medienindustriellen Produkte als »unpolitische« Kultur eingeordnet und erfahren eine Abwertung. Korn schreibt von »einer Welt«, »deren oberstes Gesetz die Befriedigung von Konsumbedürfnissen« ist, was unvermeidlich auf »Hyperzivilisation und Barbarei« (Korn 1953: 110) hinauslaufe. Der »Zirkeltanz von Zivilisation, Konsumsteigerung und Triebentfesselung« in Westdeutschland erfasse immer weitere Teile der »Massen« (ebd.). Die kulturkonservative Praxis und der »vielfach artikulierte Affekt gegenüber einer Massendemokratie« (Payk 2005: 199) kann exemplarisch an den Filmrezensionen von Korn verdeutlicht werden. Von »fade[n], ekelhaft verlogene[n], lüsterne[n] Filme[n], Blätter[n]« ist im Jahr 1956 die Rede, »die selbst dann, wenn sie gegen die Sensation polemisieren, mit Sensation Geschäfte machen, Menschen, die vor lauter hysterischer Geschäftigkeit genau das sind, was man dem Osten vorwirft: Roboter« (Korn 1956: 1). Über den Spielfilm »Die Sünderin« von Willi Forst mit der Hauptdarstellerin Hildegard Knef, der im Frühjahr 1951 eine Debatte zu den Themen Prostitution und Selbstmord in Westdeutschland auslöste, schreibt der Feuilletonchef: Eine an Marktkriterien und Publikumsinteressen orientierte Filmwirtschaft wirke sich in der Kombination von technischem Fortschritt, wirtschaftlichen Absatzerfordernissen und »Massengesellschaft« nachgerade verheerend aus (Payk 2008: 237f.). »Ein Mann wie Forst«, so Korn, »zieht Millionen ahnungsloser Kinobesucher in die Entfremdung von aller Wirklichkeit, in das laue Bad törichter Illusionen« (1951b: 1). »Daß die Kehrseite solcher Kitschmoral die übelste Barbarei ist, wissen wir aus bösen Erfahrungen, die noch nicht lange hinter uns liegen.« (Ebd.) Über den Film im Grundsätzlichen schreibt er: »Wir wollen nicht Filme, wenn und weil und bei wie vielen sie ankommen, sondern, wir wollen wesenhafte, wahre Filme.« (Korn 1951a: 6) Mit der Semantik der »Entfremdung« und »Standardisierung« im Kontext der Massenproduktion stellt sich Korn in die Tradition einer Kulturkritik, die der Massenkultur kritisch gegenübersteht. Während die industriell hergestellte Massenkultur Publikumsinteressen und Marketingstrategien in die Produktion einbezieht und ein »unspezifisches, klassen- und schichtenübergeifendes Publikum« (Schrage 2007: 136) erreichen möchte, orientiert sich das bürgerliche Ideal an der Autonomie der Künste. In diesem Zusammenhang schreibt der Literaturwissenschaftler Thomas Hecken, dass Korn zwar kein »Reaktionär« sei, »der das Rad der Zeit heftig zurückdrehen möchte«, wenn er »die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung durch den kapitalistisch-instrumentierten technologischen Fortschritt« anerkennt. Doch halte Korn an dem »unerbittlichen Urteil« fest, »dass dadurch Kunst und Kultur auf ein kaum unterbietbares Niveau zurück-
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geworfen worden seien« (Hecken 2010: 29). Der Historiker Marcus Payk kommt zu einem ähnlichen Ereignis: »Erkennbar orientierten seine publizistischen Interventionen daher nicht auf Toleranz für die jeweiligen Interessen eines Mehrheiten- oder Minderheitenpublikums, sondern primär auf die Inszenierung einer öffentlichen Drohkulisse gegenüber der ›Kulturindustrie‹.« (Payk 2005: 205) Das tiefe Unbehagen am Populären und den neuen Konsummärkten im Feuilleton der FAZ entspricht der Konsenskultur einer noch jungen Bundesrepublik. »In einer düsteren Krisenzeit zu leben, war um 1950 wohl die vorherrschende Grundstimmung der öffentlichen Gegenwartsreflexion,« notiert der Historiker Axel Schildt (1995: 324). Auch der Kultursoziologe Lars Koch erkennt eine Öffentlichkeit, die »starke Tendenzen aufwies, die Nachwirkungen des Krieges, sich bezeichnende gesellschaftliche Veränderungen und im Entstehen begriffene Neukonstellationen der Macht vor der Folie von Bedrohlichkeit und Gefahr zu bewerten« (Koch 2011: 42). Und für Payk (2005: 200) bleibt es bis in die 1960er Jahre hinein oftmals »bei einer rein äußerlichen Akzeptanz der demokratischen Regularien der Bundesrepublik, […] in der Traditionen von Autoritätshörigkeit und Konsensorientierung weitgehend bruchlos fortgeführt wurden«. Korn selbst plädiert für den freien Meinungsaustausch und schreibt im Zusammenhang der Debatte über den Film »Die Sünderin« und in Orientierung an die Idee einer liberalen Öffentlichkeit: »Wir glauben an die reinigende Kraft der öffentlichen Diskussion.« (Korn 1951b: 1) Das Feuilleton der FAZ zeichnet sich traditionell durch einen starken Kontrast zur konservativen Linie der Herausgeber (vgl. Baier 1995: 227) und die Konterkarierung der Berichterstattung des Politikteils aus (vgl. Payk 2010: 57). Neben Kontakten zu Soziologen wie etwa Arnold Gehlen und Helmut Schelsky unterhielt Korn freundschaftliche Verbindungen zum Institut für Sozialforschung in Frankfurt (vgl. Payk 2005: 211f.). Unter seiner Leitung erhält in den 1950er Jahren insbesondere die Sozialwissenschaft und mit ihr Philosoph:innen und Soziolog:innen aus dem (lokalen) Umfeld der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und damit auch die Sozial- und Kapitalismuskritik Eingang in das Feuilleton (vgl. Winter 2007). Das Feuilleton der FAZ und der Frankfurter Rundschau »sorgten über Jahrzehnte für eine relativ gleichbleibende Beachtung der Frankfurter Schule, die dann in den 60er Jahren mit wachsender Berühmtheit von anderen überregionalen und von den regionalen Zeitungen mitgetragen wurde« (Albrecht 1999: 220). Das westdeutsche Feuilleton wird zu einer zentralen Diskurskraft in der akademischen Öffentlichkeit und wirkt durch die Teilhabe von Intellektuellen an der Institutionalisierung der politischen Öffentlichkeit in Deutschland mit.8 Beispiel8
Das Feuilleton etabliert sich in Deutschland als ein zentrales Forum für Intellektuelle: »Viele Autoren drängen sich geradezu, bei uns zu schreiben, weil sie sehen, dass sie hier Leser errei-
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
haft sei der Beitrag von Max Horkheimer (1961: 2) zu den Eichmann-Prozessen im Feuilleton der FAZ genannt. Auch Jürgen Habermas verfasst eine Reihe an Rezensionen zu Neuerscheinungen aus den Bereichen der Soziologie und der Philosophie und startete seine Karriere als öffentlicher Intellektueller mit einer Publikation in der FAZ. Dabei handelt es sich um einen unaufgefordert eingereichten Artikel, in dem er sich kritisch zur unveränderten Neuauflage von Heideggers »Einführung in die Metaphysik« aus den 1930er Jahren äußert (Habermas 1953). Die Rezension wird von Leserbriefen und Beiträgen der Wochenzeitung Die Zeit kommentiert und löst eine Diskussion im Feuilleton aus, die bereits die Spuren für den Historikerstreit dreißig Jahre später legt, bei dem Habermas ebenfalls eine zentrale Rolle spielen wird. Die linksalternativen Stimmen aus dem Kontext der Kritischen Theorie, ebenso Schriftsteller wie Heinrich Böll, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser von der Gruppe 47 als Teil der »politischen Deutungskultur« (Dörner/Vogt 2013: 220) erweitern den bürgerlichen Diskursraum des konservativen Feuilletons in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit (vgl. Gilcher-Holtey 2000). Sowohl die Stimmen aus dem wissenschaftlichen und literarischen Feld als auch die Wildheit der »jungen Leute« aus der Feuilletonredaktion (Payk 2008: 354) befördern in den 1960er Jahren eine Diskussions- und Debattenkultur in Deutschland, die sowohl die klassischen Denkfiguren der bürgerlichen Kultur als auch den »Konsensjournalismus« (von Hodenberg 2006) der frühen Nachkriegszeit unterlaufen. »Kritik, Diskussion, Meinungsaustausch und überhaupt intensive Kommunikation galten bald als zentrale regulative Ideen einer demokratischen Gesellschaft, und sie waren unverkennbar nach westlichem Vorbild modelliert.« (Payk 2008: 216) Für die Deutungsdiskurse zur Populärkultur und zur Massengesellschaft stellt Hecken allerdings ein »Versagen der Intellektuellen« fest und benennt dafür folgende Gründe: Zum einen, weil sie sich »den möglichen Genuss der aus ihrer Sicht gewöhnlichen Konsums versagen«, zum anderen, weil die Kontrollorgane, hierunter auch die Publizisten, »große Anstrengungen unternehmen, anderen die Möglichkeiten eines gesteigerten Konsums zu versagen«. Streben sie das »politische Ziel der gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums an«, so Hecken, versagen sie schließlich allein deshalb, weil sie die »aktuellen Vorliebe des großen Teils der Leute, die ein geringes oder mittleres Einkommen haben, geringschätzen« (Hecken 2010: 11). Die bürgerliche Konsumkritik und die Abneigung gegenüber der Massenkultur werden in der Semantik der ›Entfremdung des Menschen‹
chen, die sie sonst nirgendwo erreichen«, stellt Schirrmacher im Jahr 1993 in einem Interview mit Herlinde Koebl (Koebl 2000: 75) fest. Auch Gustav Seibt behauptet in der Kulturzeitschrift Merkur im Jahr 1998, »daß heute kein Wissenschaftler – und sei er noch so angesehen – mehr politische Wirksamkeit erzielen kann ohne die Mithilfe einer Redaktion« (Seibt 1998: 732).
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durch ›Vermassung‹ und ›Standardisierung‹ auch von der Linken unter neuen Vorzeichen weitergeführt (vgl. Habermas 1955). »Während die radikale Kulturkritik auf rechter Seite vom Affekt gegen die Masse, von der Abgrenzung gegen den niedrig gesinnten Pöbel beseelt ist, wird die linke Skepsis neben ihren Bildungsidealen von der Angst vor der durchdringenden manipulativen Kraft moderne Freizeit- und Medienindustrien bestimmt.« (Hecken 2010: 21) So kann festgehalten werden, dass die Neuausrichtung des FAZ-Feuilletons in der Nachkriegszeit zu kulturellen Öffnungs- und Schließungsbewegungen in Westdeutschland führt. Zum einen öffnet sich das Feuilleton unter der Leitung von Korn in Tradition des alten Flaggschiffs der FZ für die Prozesse der Massendemokratisierung und zeigt sich als ein Diskursraum, in dem Gegenwartsphänomene wie Filme und Konsumkultur über das Feld der klassischen Künste hinaus verhandelt werden. Das zeitdiagnostische Feuilleton bildet eine diskursive Arena für die Auseinandersetzungen in Kultur und Gesellschaft, die eine Grundlage für eine kritische Öffentlichkeit in der jungen Bundesrepublik schafft und die Basis für ein Feuilleton als Ort der Debatte in der Spätmoderne legt. Zugleich erfolgt die Debatte um die Massenkünste – im Vergleich zum Vorgängerblatt – in Abgrenzung zu einem kulturell Anderen: dem Populären und der Masse, was einer Erweiterung des Kulturbegriffs entgegensteht und zur Schließung des kulturellen Diskurses führt. Zwischen Kontinuität und Diskontinuität bleibt die Debattenkultur im Feuilleton, wie sie hier exemplarisch an der FAZ skizziert wurde, ambivalent: Zeitdiagnostik und Räsonnement auf der einen Seite, konservative Kulturkritik und kulturelle Verengung auf der anderen Seite.
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
3.2
Popkultur und Grenzüberschreitung
3.2.1
1970er und 80er Jahre: »Pop und nochmals Pop«
Die zunehmende Akademisierung und Rationalisierung der Kritik in der Logik des besseren Arguments sowie die kulturkritisch gestimmten Abwertungsprozesse der Populärkultur in der Nachkriegszeit erzeugen Bedürfnisse nach einer alternativen Diskussionskultur in Deutschland.9 »War es den liberal-konservativen Feuilletonisten zur Zeit von Rock ’n’ Roll und Beat ein Anliegen, die neuen Jugendbewegungen und ihre Stile als weiteren Beweis moderner Kulturlosigkeit anzuführen, verwenden die von der Kritischen Theorie und von Underground-Ideen inspirierten Feuilletonisten kulturkritische Topoi, wenn sie in den Popobjekten bloß ›oberflächliche‹, ›kommerzielle‹ Produkte der ›entfremdeten‹ Zivilisation zu erkennen meinen, die das Publikum bedauerlicherweise zu ›passiven‹ Zuschauern und ›narzisstischen‹, ›egoistischen‹ Hedonisten machten, nicht aber zu einer ›empathischen‹, ›aufrichtigen‹, ›solidarischen‹, ›übergreifenden‹, ›engagierten‹, ›visionären‹, ›kreativen‹, ›nonkonformistischen‹, ›gesellschaftskritischen‹ Bewegung.« (Hecken 2017: 190) Mit den Massenkünsten und der Möglichkeit der Vervielfältigung durch die Medien- und Kulturindustrie formiert sich Ende der 1960er Jahre eine neue ästhetische Gegenbewegung: die »Counter Culture«, die ein »ästhetisch ausgerichtetes Alternativmodell« (Reckwitz 2006a: 442) bereitstellt, und die von Fredric Jameson »in einer empirischen, chaotischen Aufzählung heterogener Phänomene« (Jameson 2015: 335) wie folgt skizziert wird: »Andy Warhol und ›pop art‹, aber auch der Fotorealismus bis hin zum ›Neoexpressionismus‹, in der Musik John Cages, aber auch die Synthese von klassischen und populären Elementen durch Kompositionen wie Phil Glass und Terry Riley, außerdem Punk und New Wave (die Beatles und die Rolling Stones werden in dieser jüngsten und sich rapide entwickelnden Musiktradition bereits zur ›Hochmoderne‹ gerechnet); im Film gibt es Godard, Post-Godard, das experimentelle Kino und Video, gleichzeitig aber auch einen völlig neuen Typ des kommerziellen Films […]; in der Literatur einerseits Burroughs, Pynchon und Ishmael Reed, andererseits den französischen ›nouveau roman‹ und dessen Nachfolger, verknüpft 9
»Der normative Kulturbegriff nimmt Kultur, verstanden als menschliche Lebensweise, somit zwar als kontingent, als der Gestaltung und Veränderung zugänglich an. Aber diese Kontingenzsetzung der Kultur wird durch die normative Fassung des Begriffs von vorneherein domestiziert: Da ein allgemeiner – in Wahrheit bürgerlicher Kultur entsprechender – Maßstab des Kultivierten und Nicht-Kultivierten vorausgesetzt wird, liegt die Richtung der wünschenswerten Gestaltung der Lebensweise von vorneherein fest.« (Reckwitz 2010b: 22)
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mit irritierend neuen Formen der Literaturkritik, die auf einer neuen Ästhetik von Textualität und ›écriture‹ beruhen … Die Liste ließe sich endlos fortführen.« (Ebd.) Die kulturelle Bewegung setzt im Anschluss an die Avantgarde der 1960er Jahre auf Entgrenzung und kreative Individualisierung mit dem Anspruch der Neubestimmung traditioneller Kulturbestände in Tradition der klassischen Aufklärung und ihren Idealen der Vernunft und Moral.10 Die ästhetische Gegenbewegung erreicht Ende der 1970er Jahre Deutschland und richtet den kulturellen Raum neu aus. Der damalige Chefredakteur der Zeitschriften Wiener (1982-1985) und Tempo (1985-1990), Markus Peichl, berichtet in einem Gespräch mit Sigrid Brauer über diese Zeit: »Anfang der achtziger Jahre hat es ein Bedürfnis in der gesamten kulturellen Breite gegeben – in der Musik, in der Malerei, in der Schriftstellerei, beim Film – sich neu zu definieren, sich neu zu orientieren. Am Ende der 70er Jahre hatte sich die Alternativ- und 68er-Kultur einfach totgelaufen, hatte sich in seine vollkommene Versteinerung und Pseudo-Moral begeben, die durch neue Formen ersetzt werden musste. Man kann gewisse Schlagworte nennen wie Punk, New Wave, den neuen Hedonismus, Betonung des Ästhetischen, Betonung der Individualitäten, die Hinwendung zum Schönen, die Betonung der Form vor dem Inhalt. All diese Elemente haben den WIENER und später auch TEMPO mitgeprägt. Diese Zeitschriften sollen als Sprachrohr der sich an Neuem orientierenden verstanden werden, ohne dass da irgendwelche verlegerischen oder kommerziellen Gedanken dahinterstehen. Das entstand damals sehr stark aus dem Bauch heraus und nicht aus verlegerischem Kalkül.« (Brauer 1990: 12) In Verbindung mit den postmodernen Künsten und der Rezeption der britischen Cultural Studies und den französischen Theorien des Poststrukturalismus fand das Interesse von jungen Intellektuellen an der sogenannten low culture ein Vehikel, die eine kritische Alternativkultur begründet: die ›Poplinke‹, die sich weder mit der bürgerlichen Kultur noch mit der Neuen Linken im Umfeld der 68er identifizieren kann und einen alternativen Identitätsdiskurs im kulturellen Raum ausbildet (vgl. Gebhardt 2001). Damit einher geht eine alternative Form der »Berichterstattung über Popmusik, Popkultur oder einfach nur Pop« (Büscher 2005: 7), der sogenannte Popjournalismus, der »hier als Journalismus über Pop(-kultur/-musik) aufgefasst
10
Mit Reckwitz entwickelt die Counter Culture eine Subjektkultur, die »einer kreativen Entfaltung des Lustprinzips, einer Suche nach Authentizität und Selbsterweiterung in befriedigenden Erlebnissen« (Reckwitz 2006a: 443) folgt. »Das Subjekt der Counter Culture bleibt nicht auf eine intellektuelle und künstlerische Codekonstruktion beschränkt, sondern baut entsprechende Praktikenformate auf: das efferveszente Erleben von Rock/Pop-Musik, Wahrnehmungserweiterung über psychedelische Drogen, der Rückgriff auf asiatische Mediation, eine Entgrenzung der Praktiken der Sexualität, die alltägliche ästhetische Stilisierung der eigenen Person und die Gründung von Kreativitätsgemeinschaften.« (Ebd.)
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
werden [soll]. Denn so lässt sich ein Beobachtungsfeld und nicht nur eine Schreibweise bestimmen« (Jacke 2005: 49f.).11 Mit Hecken zeichnet sich Popjournalismus »dadurch aus, dass er ausschließlich Trends und Phänomene für seine Zeitgeistdiagnosen aufgreift, die der Popsphäre entstammen« (Hecken et al. 2015: 28). »Popjournalismus ist ein umfassender sowie diffuser Kosmos von Sinn- und Bedeutungsproduktion, der sein Hauptaugenmerk zwar auf die Musik legt, die Berichterstattung hierbei aber potentiell auf alle gesellschaftlichen, kulturellen und individuellen Bereiche ausdehnt.« (Ebd.: 38) Die alternativen Positionen erscheinen in Musik- und Kulturzeitschriften wie Sounds, Spex und Konkret, in der Satirezeitschrift Titanic, dem österreichischen Magazin Wiener und der später in Deutschland erscheinenden Tempo sowie in Stadtmagazinen wie Prinz, Tip-Berlin, Hamburger Szene oder der Kölner Stadtrevue.12 Hier werden neben Popmusik im engeren Sinn, auch Alltags-, Populärund Subkulturen aufgegriffen, um den Zeitgeist und seine Lebensformen wiederzugeben. Dabei können zwei Strömungen beobachtet werden: Zum einen der diskurs- und kulturtheoretisch informierte Popjournalismus im Kontext von Sounds und Spex, der einen weiten Kulturbegriff verfolgt und insofern politisch wirkt, als dass er Kultur als gesellschaftliche Aushandlungsprozesse begreift und sozialpolitische Themen wie Rassismus und Feminismus verhandelt. Zum anderen der Zeitgeist-Magazinjournalismus in Tempo (1986-1996) und Wiener (1986-1994), der sich noch stärker am amerikanischen Vorbild des New Journalism orientiert und weniger intellektualisiert-theoretisch als vielmehr literarisch-affektiv bis unterhaltsam auftritt. Beiden gemeinsam ist die Vorstellung, dass Popmusik und Populärkultur wichtige Impulse setzen, was das soziale Zusammenleben und die Form der Identitätsstiftung, aber auch die Möglichkeit der politischen Subversion betrifft. Der popjournalistische Diskurs in Deutschland grenzt sich sowohl von einer wiederbelebten Kulturkritik im Zeichen der bürgerlichen Aufklärung ab wie auch von einer dezidiert linken Kulturkritik in Tradition der Frankfurter Schule, die vor allem von Adorno und Horkheimer angeführt und von den Studentenbewegungen der 1968er politisch ausformuliert wird. Aus der Sicht der sogenannten Poplinken führt die Konsumkritik der kapitalismuskritischen Szene, die von der zweiten 11 12
Für eine soziologische Studie zum Popmusikjournalismus und Musikzeitschriften vgl. Doehring 2011. Das Jugendmagazin TWEN (1959-1971) bildet ebenfalls ein alternatives Medium gegenüber der Kulturberichterstattung etablierter Blätter. Hier wurden neben Mode, Musik und Reise auch Sexualität und die 1968er-Bewegung in einem aufwändigen Layout von Willy Fleckhaus verhandelt. Das Magazin gilt als eine der ersten Zeitschriften für Lifestyle und Jugendkultur in Deutschland, wird jedoch nicht der Poplinken zugeordnet und ist damit nicht Bestandteil der hiesigen Untersuchung.
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Hälfte der 1960er Jahre bis in die 1980er Jahre im geisteswissenschaftlichen und künstlerischen Bereich die kulturelle Hegemonie innehat, die bürgerliche Kritik an der Konsumkultur unter neuen Vorzeichen weiter. Die in Tradition einer Theorie des Warenfetischismus formulierte Systemkritik, die Artefakte der Kulturindustrie als Produkte der ›Entfremdung der Menschen‹ behandelt, erscheint der Poplinken ebenso überholt wie die Vorstellung von Pop als natürlicher Ausdruck von Protest. So schreibt der ›Pop-Theoretiker‹ Diedrich Diederichsen: »Nicht der Verblendungszusammenhang der Pop- und Massenkultur ist zu kritisieren, vielmehr ist ihr Angebot an Künstlichkeiten und Fiktionen der Ideologie des Natürlichen, bei der sich Hippies und Grüne und Nazis mit älteren Mitbürgern treffen, vorzuziehen.« (Diederichsen 2010: II) Diederichsen, der die Musik- und Kulturzeitschriften Sounds in den späten 1970er Jahren und die Spex im Laufe der 1980er zu öffentlichen Foren für eine postmaterialistische Bewegung machte, setzte über Strömungen wie Post-Punk und New Wave neue Stile der bunten Oberfläche und Atmosphäre. Damit unterzieht er die vom Feuilleton abgewertete amerikanische Unterhaltungskultur – »Deutschlands langweiliger Filmkritiker« (Diederichsen 1979: 47) – und die kritisierte »künstliche Popmusik« neuen Beurteilungskriterien (vgl. Hinz 1998: 167ff.). Im Prozess der Umgestaltung tradierter linker Ideen und in Abgrenzung zu den klassisch bürgerlichen Kulturen werden Elemente wie ›Künstlichkeit‹ und das ›Nicht-authentische‹ die neuen Leitmotive der Gegenbewegung. »Entfremdung gilt es als Chance zu erkennen, das eigene Seelen- und ästhetische Leben zu objektivieren und zu programmieren«, schreibt Diederichsen (2010: II) und erinnert dabei an Kracauer. Als »aufrechte Bolschewiken, bzw. Salonmenschewiken, je nachdem, nur in modernisierter Form« deklariert, positioniert sich die neue Gegenbewegung als eine Linke, die »auf die Kämpfe im Kleinen, auf Erschütterungen der immer gleichen Leitideen« setzt, die »von allen Vertretern der Herrschaft vorgeleiert werden«, und die ihre »kleinen Teenie-Obsessionen« nicht von einer »rigide[n] alternative[n] Moral zerstören lassen wollen« (Sounds 1982: 4). Damit wird eine politische und ästhetische Position erkennbar, die eine Neuordnung der Verhältnisse der linken Kritik einfordert. Auch wenn man sich »vor allem von der Dumpfheit des altmarxistischen Ableitungsgedankens« (Jurt 2013) abgrenzte, so verabschiedete man sich nicht gänzlich von der marxistischen Kritik der kapitalistischen Gesellschaft, wie Diederichsen in Bezug auf die 1968er notiert: »Der Feind steht links, man selber steht noch weiter links.« (1993: 227) Auch wenn der »linke Kulturkampf« (Diederichsen 2010: VIII) weniger gegen die herrschende Klasse ausgefochten wurde als vielmehr gegen die Hippies einerseits und gegen die Kulturpublizistik und das als etabliert empfundene Feuilleton andererseits (vgl. Hecken 2010: 129f.), so bricht die Poplinke den kulturkritischen Diskurs auf, wie er sich in der Nachkriegszeit allgemein durchgesetzt hat. In Ab-
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
grenzung zur bürgerlichen Kultur sowie der dominanten Rockkultur einerseits und der 1968er-Linken andererseits bildet der Popdiskurs in den 1980er Jahren einen alternativen Identitätsdiskurs im kulturellen Feld aus, der wesentlich durch »die Intensität des gelebten Augenblicks, um Musik, um ein empathisches Daseinsgefühl« (Böttinger 2004) bestimmt war.13 »Inmitten prall zufälliger Wirklichkeiten, inmitten der Sinn abgewandtesten, und darum abenteuerlichsten und schönsten Seiten von Wirklichkeit, im Maximum von Kontingenz. Genau da Geschichte lokalisieren und in ihren Fluss springen – das war die Idee von Pop in den frühen 80er Jahren.« (Diederichsen 2010: II) Das Verständnis von Kultur der Popjournalist:innen ist geprägt durch die Cultural Studies aus Großbritannien und orientiert sich an »Culture as a whole way of life« (Raymond Williams). Damit wird ein Kulturbegriff zugrunde gelegt, der Kultur nicht als eine spezifische Leistung einer gesellschaftlich privilegierten Gruppe (›Hochkultur‹) oder als in sich geschlossenes gesellschaftliches Subsystem betrachtet, sondern als Ausdruck von Lebensweisen und gesellschaftlichen Macht- und Beziehungsverhältnissen.14 In diesem Sinn bemüht sich die Popkritik, »Popmusik auf historische Situationen und ihre Kräfteverhältnisse zu beziehen« (Hinz 1998: 197) und erweitert den kulturellen Spielraum auf die Verhandlung von populärund subkulturellen sowie politischen Phänomenen. Damit können prinzipiell alle Gegenwartskulturen zum Gegenstand der ästhetischen Verhandlung werden, weshalb Hecken auch von einer »akademischen Herablassung gegenüber solchen Phänomenen« seitens »de[r] älteren Zirkeln der akademisch-feuilletonistischen Welt« (2011: 251) spricht. Die Neuausrichtung hat nicht zuletzt eine politisierende Wirkung: »Sichtbar wird, dass sich hier insgesamt eine neue Welt auftut, die mit dem modern-asketischen oder bildungsbürgerlichen Geschmacks- und Kastenprinzip bricht.« (Ebd.) Die Kulturzeitschriften als Medien dieser neuen Welt stellen ein alternatives Bildungs- und Deutungsangebot zwischen hedonistischer Unterhaltung und kritischer Reflexion bereit, um eine künstlerische Szene und ihr Publikum zusammen13
14
Die postmodernistische Praktik zielt »auf eine Sensibilisierung des Empfindens für den Körper sowie für die Variationsmöglichkeiten der sinnlichen Wahrnehmung und der affektiven Akte ab, sie trainiert das Subjekt in der Momenthaftigkeit intensiven Erlebnis und liminaler Erfahrungen, prämiert die Kreativität der Selbstexpression und weist dem Kollektiv die Funktion eines Produzenten efferveszenten Erlebens zu« (Reckwitz 2006a: 460). »Das Wort ›Kultur‹ hat im Begriff ›Cultural Studies‹ weder eine ästhetische noch eine humanistische Ausrichtung, sondern vielmehr eine politische. […] Kultur meint also nicht die ästhetischen Produkte des menschlichen Geistes, die als Bollwerk gegen die Flut des niedrigen industriellen Materialismus und der Vulgarität dienen, sondern vielmehr eine Lebensweise in einer industriellen Gesellschaft, die sämtliche Bedeutungen dieser sozialen Erfahrung umfasst.« (Fiske 2001: 17)
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zuführen und eine diskursive Plattform zu begründen. Poprezipient:innen sind dann nicht mehr nur Konsument:innen wie noch in den 1960er Jahren, sondern werden Teil eines reflexiven Diskurses, mit dem sie sich identifizieren und über den sie sich ihrer selbst vergewissern – Musik wurde »nicht als isolierte Entität, sondern als Teil eines größeren Kräftefelds« begriffen (Dax 2013: 6). Mit dem Öffentlich-Werden der Popkultur und den neu entstehenden Versammlungsorten in den Städten, von der Galerie über den Club bis hin zur Kneipe – »Dispositiv der Nacht« (Felsch 2016: 215-237) –, bildet sich eine kulturelle Öffentlichkeit innerhalb einer intellektuellen und akademisch geprägten Szene aus. »Es gab eine Öffentlichkeit, Austausch, Debatten und Diskursivität, die nichts mit der offiziellen zu tun hatte, obwohl dort doch angeblich jeder zu Wort kam«, so Diederichsen (2010: XXIV). In diesem Sinn kann von einem ›literarischen Diskurs‹ mit anderen Mitteln gesprochen werden: Vom Kaffeehaus zum Club tritt das Lesen von Theorie an die Stelle von Literatur, die nicht akademisch »durchgearbeitet«, sondern nach den Maßstäben von Pop »osmotisch aufgenommen« und »mit der eigenen Praxis, mit Stimmungen und deren Widerhall in der Pop- und Underground-Musik« (Diederichsen 1993: 163) abgeglichen wird. Die Popdiskurse bilden ein modernisiertes Kulturverständnis aus, das zwar mit überkommenen Bildungsmodellen bricht, sie aber nicht verwirft als vielmehr unter den Bedingungen der Kultur- und Medienindustrie neu aushandelt und mit subkulturellen und avantgardistischen Elementen kombiniert und zugänglich macht. Mit der »Qualitätspoppresse« (Diederichsen 2005: 181) und dem »SubkulturJournalismus« (Geer 1995: 66) bildet sich ein selbstbewusster Diskurs über Popkultur mit eigenen Grenzziehungen und Geschmacksurteilen im hochkulturellen Raum aus. Dabei handelt es sich um eine ernstzunehmende Alternative in der Kulturpublizistik, die ähnlich wie die bürgerliche Öffentlichkeit den »Geschmacksund Meinungsstreit über die ästhetisch-politischen Gehalte der Musik« (Hinz 2003: 303) im Fokus hat. Besondere die Spex habe »eine neue Sprache erfunden, eine Sprache innerhalb der Sprache, die nicht nur den Journalismus, sondern die Art und Weise, wie heute über Pop und Kultur diskutiert wird, erst möglich machte«, schreibt der Popjournalist Max Dax (2013: 7) in einer Würdigung der Musikzeitschrift. »Wir wollen Popmusik so verhandelt wissen wie die anderen kulturellen und politischen Gegenstände, mit denen wir uns beschäftigen. Voraussetzungsreich, komplex, ja und geradezu verbissen ernst.« (Diederichsen 2005: 12) Der Popdiskurs ermöglicht die »Legitimierung einer anspruchsvollen Verhandlung der populären Kultur durch Betonung ihres bislang verkannten künstlerischen Stellenwerts und/oder ihrer sozialen Relevanz als Massenphänomen« (Hinz 2003: 297f.). Zugleich werden mit dem durchaus bürgerlichen Anspruch auch kulturelle Differenzen und Ein- und Ausschlüsse produziert, die an die traditionelle Hoch-
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
kultur erinnern, wenn etwa »die größte Leidenschaft von Spex« darin bestand, »auf Verständlichkeit geschissen zu haben«, wie es Diederichsen (Jurt 2013) in einem Interview mit der Jungle World formuliert. Zeigt sich hier auch eine Attitüde des Punks, so verstärken sowohl die Form des Sprechens und Urteilens (vgl. Geer 2012) als auch die ästhetischen Grenzziehungen zwischen einem anerkannten Populären und einer schlechten illegitimen Unterhaltung – dem Mainstream – klassische Dichotomien. Pop, so beschreiben es Alexa Geisthövel und Bodo Mrozek, wird bisweilen »als eine Art Prädikat für besonders avantgardistische oder politisch korrekte Gegenwartskunst verwendet und gewissermaßen als Programm verstanden« (Geisthövel/Mrozek 2014: 19). Als neue Form der Hochkultur mit einem »alternativen Bildungskanon« (Geer 2012: 11) weist der deutsche Popdiskurs elitäre Kulturmuster auf. »Es gab nur zwei Lager: Wir selbst und die Doofen«, wie es Clara Drechsler (Dax 2013: 5), einer der wenigen Frauen im Popdiskurs der 1990er Jahre, einmal in der Spex formuliert hat.
3.2.2
1990er Jahre: »Wer hat Angst vorm Feuilleton?«
Die partikularen Identitätsdiskurse der Poplinken führen seit den 1980er Jahren sukzessive zu einer allgemeinen Aufwertung der populären (Pop)Kulturen und fordern mit zunehmender Legitimation auch die kulturelle Hegemonie des Feuilletons heraus. Dies zeigt sich exemplarisch, wenn der Schriftsteller Rainald Götz im Kulturteil der Wochenschrift Der Spiegel schreibt: »Und prompt zeigt die Reaktion der Arschlochwelt (Zentralorgan: Die Zeit), dass im verbeamteten Feuilleton zu den grundlegenden Fragen der Ästhetik tatsächlich seit Jahren kein einziger neuer normaler Gedanke gedacht worden ist. Gegenüber dem Schwachsinn der neuen Idioten und alten Säcke, denen schon Haare aus den Ohren wachsen, haben ›die Tempojahre‹, also die achtziger Jahre, Diedrich Diederichsen, Markus Peichls Tempo und Maxim Biller einen neuen Begriff von Kultur und Politik etabliert. Auf diesem Terrain werden die Debatten ausgetragen, die ihrerseits uralt sind, werden Konsequenzen erwogen und wird getestet, wie die traditionellen großen Formen (Der Roman, Der Fünfakter, Der Zwölfzylinder) heute ausschauen müssten, um in Funktionskonkurrenz treten zu können zu den Leistungen der versunkenen Welten einstiger Gegenwarten.« (Götz 1992: 143) Die Zeilen erscheinen im Rahmen einer Rezension des beim Deutschen Verlag publizierten Buches »Die Tempojahre« von Maxim Biller, eine Sammlung von »Polemiken, Porträts, Reportagen, Feuilletons und Szene-Short-Stories« (ebd.) aus dem Zeitgeistmagazin, für das der Schriftsteller Biller als freier Autor tätig ist. Götz, der in seiner Anfangsphase auch für die Magazine Spex und Tempo schreibt, nimmt den Beitrag im wirkmächtigsten Magazin Deutschlands zum Anlass, Stellung zum Status Quo der Machtverhältnisse zu beziehen. So besehen ist seine Diskursposition
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nicht nur als reine Provokation zu deuten. Sie repräsentiert vielmehr einen kritischen Identitätsdiskurs mit Machtanspruch im Kampf um kulturelle Hegemonie im künstlerisch-intellektuellen Feld. Der damalige Feuilletonchef der kritisierten Wochenzeitung Die Zeit, Ulrich Greiner, beobachtet neben Götz weitere kritische Einlassungen von Schriftsteller:innen gegen das Feuilleton aus unterschiedlichen Feldern in verschiedenen Medien, die ihn zu einer Stellungnahme veranlassen.15 In Versammlung der Stimmen sieht er das Feuilleton »in Verruf geraten«, mache sich doch »neuerdings […] ein Sprachgebrauch breit, der den Begriff in verächtlicher Absicht verwendet« (Greiner 1992: 59). Beim Feuilleton handele es sich um eine »höchst verdächtige Institution«, gelte es doch nicht mehr als Zeitungsressort, das kulturelle Dinge zum Gegenstand habe, sondern als »eine festgefügte Institution, die den wahren Künstlern und Intellektuellen als kulturelle Gegenmacht feindlich ins Gesichtsfeld tritt«. Während die Linke in den sechziger Jahren noch eine »Kritik an der Kritik«, »der institutionalisierten intellektuellem Macht« und der »bürgerlichen Literatur« produziert habe, die Linie mithin zwischen »progressiven Kritikern und Künstlern und dem Establishment« verlaufen sei, generiere sich nun eine neue »Redeweise«, die weniger von einem »politischen Kalkül« als vielmehr von einem »diffusen Missmut« geleitet sei. Die Kritik selbst werde hier zum »Feind«: Was den »neuen Kritikern des Feuilletons« Verdruss bereite, sei schlussendlich das Urteil des Kritikers, das sich »von Fall zu Fall gegen sie selber und ihre Professionalität richtet« und das sie deshalb fürchten. Nicht das Feuilleton an sich sei also gemeint, sondern die Kritik selbst. Denn im Feuilleton stünde nur das, »was sie im Grunde selber denken und selber sagen müssten« (ebd.).
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Neben Götz werden Heiner Müller, Walter Jens, Christoph Hein, Adolf Muschg, Jürgen Habermas, Wolf Biermann, Günter Gaus und Wolfgang Wondratschek genannt. Von Wondratschek erscheint ein Interview in derselben Ausgabe der Zeit (von Bernuth 1992), das aufgrund seines Provokationspotentials zitiert werden soll: »Die bürgerliche Welt der Feuilletons ist so feige, so abgesichert. Hier wird niemand zur Verantwortung gezogen für das, was er sagt.« Wondratschek, der sich »zehn Jahre lang in St. Pauli die Nächte um die Ohren geschlagen« hat, weil er »kein Intellektueller à la Enzensberger« werden und »den Geschmack der Erde verlieren« wollte (ebd.), schrieb als Boxliebhaber über Boxkämpfe, als Szenen-Kundiger über das Rotlichtmilieu und gilt gemeinhin »als Rock ’n’ Roller der Literatur« (Schmidt 2013). Das Feuilleton ist selbst immer wieder Gegenstand zahlreicher Beiträge in den Medien. Ähnlich wie Greiner nimmt auch Jessen fast zehn Jahre später ein Unbehagen am Begriff des Feuilletons wahr: Er »ist offenbar belastet, aber womit?« (Jessen 2011a: 21) Ihm hafte »etwas volksfremdes« und der »Besserwisserei« an: »Der Feuilletonist findet das Falsche schön; sein Geschmack ist elitär.« (Ebd.)
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
Die wenigen Ausschnitte, die Teil einer Debatte um eine »Neue Deutsche Literatur«16 im Kontext der sogenannten Popliteratur17 sind, zeigen Kämpfe um Hegemonie und Deutungshoheit im künstlerischen Feld auf, die prägend für die 1990er Jahre sind. Als Teil eines postmodernistischen Diskurses beansprucht Götz die Debattenführung im kulturellen Terrain und stellt die Nachfolge des klassischen Zeitungsfeuilletons als Zentrum der Kritik in Frage. Greiner hingegen erkennt zwar neue Differenzen neben dem alten Konflikt zwischen den bürgerlichen und den linksalternativen Deutungskulturen der 1968er-Bewegung. In Verteidigung der bürgerlichen Hegemonie repräsentiert er gegenüber der zunehmend hegemonial werdenden Poplinken als dritten partikularen Identitätsdiskurs seit den 1980er Jahren aber das Feuilleton als wahren Ort der Kritik. Dabei wird die Form der Kritik vor dem Hintergrund der Aufklärung unterschiedlich definiert: Während Götz (1992: 144) von der »Übung am Argument« spricht, vom Denken an sich und der Schwierigkeit, »Argumente vernünftig zu erzählen«, »das meisterlich nur beherrscht, wer es dauernd praktiziert« (»stete Praxis ist immer noch der beste Ausweg aus den lähmenden Fängen der Selbsterkenntnis«), spricht Greiner (1992: 59) von einem »Urteil über ein Werk, das Urteil über literarische Entwicklungen, ästhetische Prinzipien«, wonach Kritik »immer auch eine Diskussion moralischer Fragen« sei. Während also Greiner den bürgerlichen Kritikbegriff verteidigt, nimmt die postmodernistische Kritik, wie 16 17
Für eine Übersicht der Debatte vgl. Köhler/Moritz 1998. Über die Popliteratur als ernstzunehmende Kultur öffnet sich das deutsche Feuilleton für den Pop. Die sogenannte Popliteratur, die sich in den 1960er Jahren etwa unter Rolf Brinkmann und in den 1980er etwa durch Rainald Götz als tragende Figuren etabliert und in den späten 1990er mit Autoren wie Benjamin Stuckrad-Barre medienstrategisch fortgeführt wurde, findet zunehmend Eingang in die hegemoniale Öffentlichkeit. Die Popliteratur zeichnet sich durch Pop-Verfahren wie die ästhetische Favorisierung von Oberflächen und die gezielte Zitation und Aneignung von Waren und Produkten der Alltagskultur aus. Das neue Genre nimmt Alltagsgegenstände- und Situationen sowie Alltagsbilder und -texte zum Ausgangspunkt und verfremdet diese durch eine ästhetische Zweitbearbeitung; seit den 1980er Jahren wird sie um zeitgenössische Theorieparadigmen ergänzt. Damit unterläuft sie tradierte Wertedichotomien zwischen der höhen und niederen Literatur sowie der Literatur und den Massenmedien, und löst Konflikte im Feuilleton aus, die in der Wissenschaft bereits Ende der 1960er Jahre geführt werden (vgl. Hecken et al. 2015). »Eine bloße Mode-Erscheinung im Bereich der Unterhaltungsliteratur hätte kaum eine solch kontroverse Debatte in den Feuilletons entfachen können: entscheidender scheint zu sein, dass in den häufig scharf kritisierten, teilweise regelrecht diffamierten Texten die Auseinandersetzung mit den Medienangeboten des Fernsehens, des Films und der Popmusik breiten Raum einnimmt – und dies ohne kulturkritische Skrupel. Dagegen sind in den Literaturdebatten der letzten Jahre in erstaunlichem Umfang altbekannte Besitzstandswahrungsdiskurse und Ausschließungsprozeduren mobilisiert worden. Die tradierten Wertdichotomien zwischen hoher und niederer Literatur sowie zwischen Literatur und den Medien – ganz so, als fände Literatur nicht immer in Medien statt – haben sich als erstaunlich langlebig erwiesen.« (Schäfer 2003: 9)
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sie von Götz vertreten wird, Abstand von einer Kritik, in der das moralische Urteil im Zentrum steht, und verfolgt die präzise Beschreibung von subjektiv wahrgenommener Wirklichkeit, die, wenn sie eine Kritik ist, argumentativ objektiviert wird. Der Deutungskampf gewährt Einblicke in das unterschiedliche Verständnis von Kultur und Kritik in den 1990er Jahren und lässt einen weiteren Diskursstrang sichtbar werden, der von zentraler Bedeutung für die fortschreitende Hybridisierung der bürgerlichen Kultur im Feuilleton ist: Die Verhandlung des Literaturbegriffs im dichotomen Spannungsfeld von Hoch- und Populärkultur, letztlich das Verständnis von Journalismus und publizistischer bzw. literarischer Wirklichkeitsverhandlung zwischen Faktizität und Fiktionalität. Dabei handelt es sich um ein Thema, das so alt ist, wie das Feuilleton selbst. Biller schrieb ein Jahr zuvor für die Schweizer Weltwoche eine Art Grundsatzprogramm, auf das sich Götz in seinem Artikel ebenfalls bezieht, in dem er das Ende der Literatur ausruft und für mehr »Spannung«, »Lust« und »Unterhaltung« plädiert, um die Literatur aus ihrer minoritären Stellung herauszuholen. Biller fordert den klassischen Literaturbetrieb in seinem Fortbestand heraus: »Es gibt keine Literatur mehr. Das, was heute in Deutschland so heißt, wird von niemandem gekauft und gelesen, außer von Lektoren und Rezensenten, den Autoren selbst und einigen letzten, versprengten Bildungsbürgern. […] Es ist eine Literatur, […] die nur mehr auf den Seiten der Feuilletons und Kulturspalten stattfindet.« (Biller 1991: 34) Biller fordert die Literatur auf, »mit seinem Publikum zu kommunizieren«: »Jedes Leben, jedes Stück Wirklichkeit und der Wille zur Außenkommunikation« sei der deutschen Literatur ausgetrieben worden, »der derzeitige literarische Kanon hat so viel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel« (ebd.). Hilfreich sei dabei die Verbindung von Journalismus und Literatur, lerne man doch »vom Journalismus nicht nur das Gespür fürs vergebene Material, für den Menschen an sich, für die Wirklichkeit. Man kapiert darüber hinaus, dass es einen Sinn hat, so zu schreiben, dass der Leser einen begreift« (ebd.). Götz greift die Polemik in seinem Beitrag für den Spiegel auf und fasst zusammen: »gegen Li-te-ra-tur, für Wirklichkeit und Kommunikation« (1992: 144). Im Sinne des Popverständnisses von Diederichsen (»Maximum von Kontingenz«, 2010: II) notiert er: »Und ganz egal, was Literatur in ihrem Innersten zu sein hat, nach außen hin ist Literatur: alles, was knallt.« (Götz 1992: 143) Klassische Vorstellungen von Kunst und Literatur erfahren im poplinken Diskurs eine Umdeutung und fordern Sprecherpositionen wie die von Greiner als Vertreter des etablierten Kulturbetriebs heraus. Biller und Götz wenden sich gegen einen klassischen Kunstbegriff, der die Autonomie und das Schöpfertum, letztlich die Ernsthaftigkeit und Anstrengung der literarischen Rezeption zum Ideal
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
hat, und damit gegen die bildungsbürgerliche Funktion von Kunst, wie sie in den Bildungsdiskursen des 19. Jahrhunderts vorherrschend war und bisweilen im 20. Jahrhundert fortgeführt wird. »Kunst ist Kunst ist Transzendenz ist Religion. Und Realität ist Dreck ist Boulevard ist Fernsehen ist Journalismus.« (Biller 1991: 34) Für Greiner hingegen ist ein literarisches Kunstwerk Ausdruck einer tieferliegenden Wahrheit und ein gesellschaftlich-moralisches Konstrukt, das »aus der Erfahrung eines Mangels, eines Zwiespalts zwischen dem Autor und der Welt« entstehe. So sei Kunst doch immer »Ausdruck eines Nicht-Einverständnisses« und »Ensemble ästhetischer und gesellschaftlicher Verhältnisse« (Greiner 1992: 59). Davon ausgehend kritisiert er die neuen Verhältnisse zwischen Schriftsteller:innen und dem Markt (›New Economy‹) und stellt das klassische Feuilleton als Ort der Kritik dar. »Dieser Aufgabe widmen sich neuartige Agenturen, nämlich parasitäre Medien wie etwa die privaten Fernsehanstalten, die lifestyle-Magazine oder die SzeneBlätter, die alle vom Boom der Kultur und der Ausdehnung des Kulturbetriebs profitieren. Sie haben kein klassisches Feuilleton und auch keine Kritik. Aber sie steuern die Marktfähigkeit eines Autors durch den Auftritt in einer Talk-Show, das Kurz-Interview in einer Illustrierten oder den Buchtipp in einer Modezeitschrift, und sie tun das ungleich effizienter als ›das Feuilleton‹.« (Ebd.) Wie an der Position von Greiner exemplarisch deutlich wird, konstituiert sich die Kritik an den Poplinken im Feuilleton weniger über die Opposition von Ästhetik und gesellschaftlichem Rationalismus, sondern über eine Kritik an den massenmedialen Kulturen. Damit richtet sie sich auch »gegen die Kulturindustrie, den Unterhaltungseskapismus, das bloße Repräsentationsstreben oder die Kommerzialisierung der Kulturen« (Reckwitz 2015a: 15). Verlässt »das Ästhetische die Höhen des Kunstwerks«, so Reckwitz, und begibt es sich »in die Niederungen des Sozialen, scheint es seinen Nimbus einzubüßen: Es droht eine Verunreinigung ästhetischer Praktiken durch Gesellschaft« (ebd.). »Während die ästhetischen Praktiken seit den historischen Bewegungen der Romantik und des Idealismus regelmäßig als Orte einer nichtentfremdeten Existenz – des Spiels, des interesselosen Wohlgefallens, der Lüste und Affekte etc. – oder als Speerspitze einer Kritik an der gesellschaftlichen Hegemonie der Moderne – am Kapitalismus, an der Arbeitsteilung, der Industrialisierung oder Versachlichung – galten, geraten sie in dem Moment, in dem sie kollektive Lebensstile oder institutionelle Komplexe eingegangen sind und sich dabei transformiert haben, häufig ihrerseits ins Visier einer nicht selten ausgesprochen heftigen Kulturkritik.« (Ebd.) Die Ausdrucksweisen der Zeitgeistmagazine modifizieren sich im Vollzug der ästhetischen Subjektivierung von Gegenständen aus der Populär- und Alltagskultur, dem urbanen Lebensstil und dem Konsum und greifen damit bestehende Kultur-
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verständnisse an. Der ›neue Journalismus‹, der in den Magazinen gepflegt wird, bildet alternative Möglichkeiten der Selbst- und Weltbezüge aus, die sich durch eine starke Subjektivität und Gegenwartsbezogenheit auszeichnen und ins Literarische transformiert ein ästhetisches Ich präsentieren. Besonders »popjournalistische Texte sind vom Zweifel am Informationsjournalismus und dessen Anspruch, objektiv und neutral Wirklichkeit wiedergeben zu können, geprägt« (Frank 2004: 274). Oder wie Diederichsen (1988: 34) in der Spex notiert: »Halbwissen, paranoische Interpretation und Begehren.« Hier zeigen sich erneut die Einflüsse des New Journalism, der in den 1960er und 70er Jahren in Amerika entwickelt wurde und vor allem im Zeitgeistjournalismus zum Tragen kommt (vgl. Brauck 2008). Dabei handelt es sich um »eine Symbiose aus klassischer journalistischer Recherche und literarischen Schreibtechniken in Kombination mit einem spezifischen Themen- und Autorenprofil« (Pörksen 2004a: 19). In Überlagerung von erzählerischen Momenten und objektiven Fakten löst sich die symbolische Bedeutungsstruktur als rein kognitiv verstehbare Textstruktur zugunsten einer Dynamik und Lebendigkeit auf und erzeugt Affekte, die das Unterhaltsame in der Kulturpublizistik rezeptiv verstärken. Die Verlagerung vom ernsthaften Argumentieren und der tiefgehenden Analyse hin zum Affekt durch radikale Subjektivität und Körperlichkeit verflüssigt traditionell gesetzte Grenzen wie jene zwischen Ernsthaftigkeit und Unterhaltung. »Dafür steht dieses Blatt: für die intelligente Betrachtung der Alltagskultur. Unterhaltung für den Kopf«, heißt es im Editorial einer Tempo-Ausgabe aus dem Jahr 1991 (Horx 1991: 3). Mit so unterschiedlichen und vom klassischen Medienalltag abweichenden Themen wie Rave, Club, Party, Subkultur, Mode, Szene, Surfen, Dandy, Drogen, Nazi, Pop, Ökologie und Politik versuchte man, den »Spaß am Trivialen« (ebd.) zu kultivieren und eine Beobachtung der Alltagskultur zu leisten, die es erlauben sollte, »Zeitstimmungen zu entschlüsseln, zur klärenden Beschreibung der Gegenwart vorzudringen« (Pörksen 2004b: 314). Das Verständnis von Pop verweist hier auf die Vorstellung einer alltäglichen ästhetischen Erfahrung (vgl. Maase 2008, 2015), infolgedessen sowohl Ereignisse aus dem Sport wie auch aus der Popkultur Eingang erhalten. Der Pop- und Zeitgeistjournalismus unterläuft die kulturelle Differenz zwischen Hoch- und Populärkultur als auch die darin angelegten Grenzziehungen zwischen rationaler Kommunikation und Affekt. Die Form der ästhetischen Subjektivierung, die sich primär über das Visuelle und die sinnliche Wahrnehmung vollzieht und auf den unmittelbaren Augenblick fokussiert, bringt affektgeladene Schreibweisen hervor, die sich vom Format der klassischen Rezension abwenden und subjektorientierte Formate wie Glosse, Feature, erzählerische Berichte und Reportagen re-aktualisieren. Damit widersprechen die popjournalistischen Schreibweisen der feuilletonistischen Rhetorik der Spätmoderne, die sich wesentlich über ein Rezensions- und Debattenfeuilleton im Ideal der rationalen Kommunikation
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
artikuliert, weshalb sie im etablierten Feuilleton mit Unterhaltung verbunden werden und eine Abwertung erfahren (›Agenturen‹, ›Markt‹, ›Konsum‹).18 Die Vermischung traditionell getrennter Kulturen wie High und Low, Unterhaltung und Kulturintelligenz, Bildung und Alltag, Oberfläche und Ernsthaftigkeit, Vernunft und Körperlichkeit, Affekt und Rationalität irritiert das bis dahin Debatten und -rezensionsgeführte Feuilleton und fordert es in seinem Bestand heraus. Im Kampf um die richtige Form von Wirklichkeitsdarstellung und -konstruktion stehen sich zwei Vorstellungen unversöhnlich gegenüber: Während die eine um die Ernsthaftigkeit der kritisch-argumentativen Auseinandersetzung fürchtet, forciert die andere das sinnliche Spektakel durch ästhetische Erfahrung, um die Wirklichkeit ein Stück näher zu bringen. Oder wie der Schriftsteller und Publizist Roger Willemsen im Spiegel mit Blick auf den Kulturmarkt schreibt: »Was hier ›Literatur‹ genannt wird, ist eigentlich ein winziges Marktsegment, auf dem zwei Fähnchen aufrichtig verfeindet gegeneinander laufen: die sogenannten Konstruktivisten, Innerlichkeitsanwälte, sensiblen Kulturpessimisten auf der einen und die Realisten, story teller, Neuamerikaner und Pop-Reporter auf der anderen Seite.« (Willemsen 1992) Besonders die Zeitgeist-Autor:innen entfernen sich von einer akademischen Auseinandersetzung, wie sie traditionell im Feuilleton aber auch im neuen Popjournalismus im alternativen Gewand der Cultural Studies von Sounds und Spex gepflegt wird. Sie orientieren sich noch stärker an einer erlebnisorientierten Praxis, die sich über die eigene Wahrnehmung und Erfahrung vollzieht. Damit beziehen sie sich nicht zuletzt auf die Anfänge des modernen Zeitungsfeuilletons ›unter dem Strich‹, in dem das Ästhetische und Spielerische dominierte. Elemente des Subjektiven und Flüchtigen aktualisieren sich unter den postmodernistischen Bedingungen, so könnte man interpretieren, popkulturell vermittelt, indem erneut emphatisch
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Greiner differenziert in seiner Argumentation nicht zwischen Spex, Tempo und Illustrierten im Allgemeinen, was sowohl auf die Strategie der Verteidigung seiner Machtposition als auch auf die Notwendigkeit der Popularisierung zurückgeführt werden kann. Auch Götz vereint den Popjournalismus (Diederichsen: Spex) und den Zeitgeistjournalismus (Peichl: Tempo), um eine Front gegen den »bürgerlichen« Kulturjournalismus herzustellen. Der »neue Journalismus« der Pop- und Zeitgeistmagazine ist jedoch selbst ein umkämpftes Terrain, wie Peichl feststellt: »[…] ein großer Teil einer Journalistenszene […], die uns natürlich gehasst hat wie die Pest und nur darauf gewartet hat, dass es uns auch auf die Fresse haut. Dann war natürlich die gesamte ›Spex‹-Riege – von Herrn Diederichsen angefangen, bis hinunter zu Jutta Köther. Erstens waren wir die Verräter des Pop, weil wir den Pop nicht intellektuell verklärt und so intellektualisiert haben, bis nichts mehr von Pop übrigblieb – so wie die das gemacht haben –, sondern mit derselben Haltung, aber für eine breite Basis, auf einer verständlichen Basis publiziert haben und ein publizistisches Forum oder eine Fläche geboten haben.« (Peichl 2000: 5)
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das »Moment der Kontingenz« (Diederichsen) und die Oberfläche stilisiert werden. Nicht zuletzt verweisen die ›neuen‹ Schreibweisen im Umgang mit Urbanität und Stadtkultur auf die Auseinandersetzungen mit der Waren- und Konsumkultur, den Vergnügungszentren, der Werbung und Mode, dem Kino und Film, wie sie bereits im Feuilleton der FZ zur Zeit der Weimarer Republik wesentlich unter Reifenberg und Kracauer eingesetzt haben und durch den Nationalsozialismus unterbrochen wurden. Bereits im frühen 20. Jahrhundert war das Feuilleton ein Möglichkeitsort, das scheinbar Banale des Alltäglichen mit den komplexen Mitteln der soziologischen Beobachtung literarisch zu verarbeiten.19
3.2.3
2000er Jahre: »Klassisches populäres und wissenschaftliches Feuilleton«
»Die Auflösung der links-alternativen Hegemonie im kulturellen Bereich, die im Laufe der 80er Jahre stattfindet« und zu Teilen auch das Feuilleton bis in die 90er Jahre ästhetisch mitbestimmt, »öffnet den Raum für eine allmähliche feuilletonistische Hochwertung des Pop-Konsums« (Hecken 2010: 151). »Die Diskurse der Fanzines, Orte esoterischer Verständigung, wurden parallelisiert und gebündelt, in Deutschland vor allem durch Spex, gelangten dann in die Zeitgeist-Magazine, wurden dort schon zu trends illustrativ umgesetzt und über In/Out-Schemata handhabbar gemacht, um sich, häufig via taz, in die Organe der Seriositätspresse – FAZ, Spiegel, Zeit u.ä. zu übersetzen.« (Schütz 1998: 103, Hervorheb. i. O.) Die alternativen Sprech- und Schreibweisen wandern in das klassische Feuilleton der überregionalen Tageszeitungen ein und verstärken dort die historisch bestehenden Tendenzen des Literarischen und Populären. »Züge der Pop-Affirmation, der Bejahung von Oberflächlichkeit, Reiz, Künstlichkeit sind deshalb seitdem in Rezensionen und Artikeln zu Musikgruppen, Popartisten, Hollywood-Filmen, Zeitgeistfragen und Lifestylephänomenen in Blättern wie der FAZ, der SZ, der Zeit, der Welt und dem Spiegel regelmäßig anzutreffen.« (Hecken 2010: 198, Hervorheb. i. O.)
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Die feuilletonhistorischen Bezüge des literarischen Journalismus reichen noch weiter zurück, wenn etwa Heinrich Heine in den 1830er Jahren Kritiken »aus dem Gebiete der Kunst und der Wissenschaft« ebenso wie Erzählungen »aus den Tanzsälen der guten und der schlechten Sozialität« oder Erlebnisbilder aus Politik und Wirtschaft schildert (Stockinger 2008: 76). Heines erlebnisgeprägtes Schreiben verweist auf eine Vorstellung von Populärkultur als Möglichkeit zur Subversion: Im Geist der Aufklärung und des Humanismus wird im Populären ein Gegenpol zur zunehmenden Rationalisierung der Moderne geschaffen (vgl. Dembeck 2009).
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
Mit einem erweiterten Kulturbegriff erlangen auch Partikulardiskurse und Identitätspolitiken wie Urbanität, Design, Medien, Feminismus, Gender, Sexismus, Familie, Ökologie und Migration zunehmend an Bedeutung im feuilletonistischen Diskurs. In diesem Sinn lässt sich das Ästhetische weder auf die Künste oder Subkulturen und Avantgarden, noch das Politische auf das traditionelle Verständnis von Politik als gesellschaftliches Teilsystem reduzieren. Beide Modi der kulturellen Selbstverständigung erfahren eine Entgrenzung und soziale Diffusion im späten 20. Jahrhundert, insofern sich der thematische Spielraum des Feuilletons erweitert. Damit einhergehend tritt auch die Frage nach einem gelungenen Leben wieder an die Oberfläche des Diskurses, die mit der Pluralisierung der Lebensformen in der Spätmoderne erneut zur Debatte gestellt wird, und nicht zuletzt mit den Pop- und Zeitgeistmagazinen in den Vordergrund gedrängt wird, in denen alternative Lebensstile repräsentiert und legitimiert werden. Darüber hinaus stehen Verlage, Zeitschriften und Zeitungen gerade um die Jahrtausendwende im produktiven Austausch und »stetigen Wechselspiel«, infolgedessen »sehr viele junge Schriftsteller zu ständigen Mitarbeitern des Feuilletons werden, und zwar vor allem in der literarischen Reportage« (Steinfeld 2004: 20), was letztlich eine Verstärkung der Ich-Stilisierung im Feuilleton zur Folge hat, wie der ehemalige Spex-Chefredakteur und heutige Feuilletonredakteur der FAZ, Dietmar Dath, im Gespräch mit Martin Hatzius kritisch feststellt: »Ich glaube, in siebzig Prozent der Artikel zu Spex-Zeiten kommt das Wort ›ich‹ vor. Bei der FAZ war das zwar dann irgendwann auch erlaubt – ein Effekt dieser Popliteratur-Scheiße --, aber zunächst mal gab es den Standard, nicht in der ersten Person zu schreiben.« (Hatzius 2011: 99, Hervorheb. i. O.) Die Pop-Autor:innen spüren das »scheinbar Triviale mit feuilletonistischen Methoden« auf, experimentieren mit »literarischen Formen« (Horx 1991: 3) und stehen von Beginn an in Beziehung zum Feuilleton, zum einen durch Abgrenzung – Feuilleton als der produktive Feind – und zum anderen durch Beobachtung und Zitation. Als alternative Form der (hochkulturellen) Gegenwartsbeobachtung werden sie anschlussfähig für das Feuilleton. Die Wanderung der jungen Autor:innen aus dem Verlag in die Beilagen der überregionalen Feuilletons (nicht zuletzt eine wirtschaftliche Strategie zur Erschließung neuer Zielgruppen), ihre Überführung in die Feuilletons der Hauptblätter, schließlich der Wechsel innerhalb der überregionalen Redaktionen sind vielfältig und bis heute unabgeschlossen: Beispielhaft produziert die SZ mit dem SZ-Magazin, in dem Journalist:innen wie Rebecca Casati, Tobias Kniebe, Andrian Kreye, Moritz von Uslar und Willi Winkler schreiben, einen »prononcierten Autorenjournalismus« (Hohlfeld 2004: 350). Kreye etwa war Redakteur bei der Zeitschrift Tempo, die er mitbegründet hatte, bevor er ins Feuilleton der SZ wechselte, das er von 2007 bis 2020 leitete. Besonders das Feuilleton der SZ wurde von Autor:innen gemacht, »die viel näher am Pop waren als Joachim
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Kaiser,« so Sebastian Hammelehle, der seit 2018 als Spiegel-Kulturressortleiter tätig ist und ebenfalls für Tempo schrieb (zit.n. Hohlfeld 2004: 355). Im überregionalen Feuilleton schreiben Zeitgeistjournalist:innen wie Christoph Dallach, Niklas Maak, Claudius Seidl oder Helge Timmerberg. Seidl leitete das Feuilleton der FAS und der »literarische Popjournalist« (Hohlfeld 2004: 343) Ulf Poschardt die Tageszeitung Welt. Zudem bestehen (oder bestanden) Magazine als spielerisch-unterhaltende Supplements der großen Zeitungen, die Schriftsteller:innen aus dem Tempo-Umfeld rekrutieren: das 1980 begründete FAZ-Magazin, das 1990 begründete SZ-Magazin und das SZ-Jugendmagazin Jetzt (1993-2002, 2011-2017), das 1970 begründete Zeit-Magazin, das 1999 unter dem Titel ›Leben‹ in das Hauptblatt Die Zeit überführt wird und seit 2007 wieder als Zeitungsbeilage erscheint. Hier schrieb etwa Adam Soboczynski, bevor er im Jahr 2013 gemeinsam mit Iris Radisch Ressortleiter des Feuilletons der Zeit wird. Während Radisch für Literaturkritik zuständig ist, zeigt sich Soboczynski einem allgemeinen Feuilleton zugewandt, das auch zeitdiagnostische Elemente enthält.20 Die Möglichkeit der thematischen Ausweitung und kulturellen Entgrenzung des Feuilletons erfolgt nicht zuletzt unter den ökonomischen Bedingungen um die Jahrhundertwende, die eine quantitative Erweiterung der Kulturrubriken in den überregionalen Feuilletons ermöglicht (vgl. Heinrich 2001: 268, Steinfeld 2004: 20). »Das Jahr 2000 stand noch ganz im Zeichen der New Economy, des Aktien- und Börsenhypes. In den Zeitungen wurden die Feuilletons zu Lifestyle-Organen, und die hungrigen jungen Journalisten interessierten sich nicht länger für Literaturund Theaterkritiken, sondern für die Personality-Geschichte im Hochglanzmagazin. In der Literaturszene wurden zuerst das Fräuleinwunder und dann das Bürschleinwunder ausgerufen. Alles boomte, alles strebte nach oben und schäumte wie der Champagner durch den engen Flaschenhals.« (Böttinger 2007: 7) Insbesondere das Feuilleton der FAZ erweitert unter den günstigen Bedingungen den Umfang der Feuilletonseiten und vergrößert die Redaktion. Frank Schirrmacher, der im Jahr 1994 als Nachfolger von Joachim Fest einer der fünf Herausgeber und Leiter des Feuilletons wird, konstatiert bereits als Literaturchef und Nachfolger von Marcel Reich-Ranicki im Jahr 1989 eine »Erfahrungsleere«: Gegenwärtige Schriftsteller:innen reflektieren bloß über das Erzählen, statt zu erzählen. Davon ausgehend fordert er eine »neue deutsche Literatur« (Schirrmacher 1989: 1), die sich weniger über eine akademische Gebildetheit als über das Leben an sich definiert. Auch für die Literaturkritik sieht er den Wandel gekommen und stellt im gleichen
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In Soboczynskis Autorenprofil werden die Schlagworte ›Politisches Feuilleton‹, ›Literatur‹ und ›Kino‹ angegeben, vgl. www.zeit.de/autoren/S/Adam_Soboczynski/index.xml, Zugriff am 20.05.2018. Im Oktober 2021 übernehmen der Literaturkritiker Volker Weidermann und die Musikkritikerin Christine Lemke-Matwey die Leitung des Zeit-Feuilletons.
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
Jahr fest: »Die Zeit der Kritikerpäpste ist einfach vorbei.« (Milz 2014: 7) Ähnlich wie Biller sieht er – aus unterschiedlichen Gründen – eine zunehmende Wirkungslosigkeit der Kritik in einer elektronisch ausgerichteten Mediengesellschaft, in der das Interesse des Lesepublikums durch Strategien der Aufmerksamkeitsproduktion gesteigert werden müsse.21 In seiner Vorstellung von Literaturkritik wendet er sich von einer Kritik der rein objektiven Bewertung ab und fordert die Hinwendung zur Subjektivität. Nicht die akademische Interpretation des gerechten Abwägens sei weiterzuführen, die Literaturkritik solle vielmehr in die Lebenswelt integriert werden, darin »liege die wahre Leistung der Kritik« (Schirrmacher 1992: 407ff.). Zeigt sich sein Verständnis von Kritik auch weiterhin von Denkfiguren der humanistischen Aufklärung und ihren Kriterien der Vernunft und Moral beeinflusst, so öffnet Schirrmacher das Feuilleton für alternative Formen der Kritik und ihren Gegenständen im Spannungsfeld von bürgerlicher und populärer Kultur, von literarisch-ästhetischen und rational-akademischen Schreibweisen, wie auch dem Pop und dem Populären im Allgemeinen. Das geht mit einer Abkehr des politischen Feuilletons einher, wie es Joachim Fest vorangetrieben hat, und das von Schirrmacher in einem Interview mit der Zeitschrift Medium Magazin polemisch als Durchmischung von traditioneller Kulturberichterstattung und politischen Besinnungsaufsätzen beschrieben wird. Im Unterschied zu Fest müsse man sich neben Goethe und Shakespeare auch »auf die Suche nach neuen Rollenbildern aus der populären Kultur« machen, »die womöglich unsere Gesellschaft antreiben« (Milz 2001: 25). Neben belletristischen Neuerscheinungen sollen auch wissenschaftliche Werke aus den Geistes- und Naturwissenschaften in die Literaturkritik einbezogen werden. Von einem »klassischen, populären und wissenschaftlichen Feuilleton« (ebd.) ausgehend, begann Schirrmacher »[g]leich nach seiner Inthronisierung, das Feuilleton umzustricken und für neue Bereiche zu öffnen« (Hachmeister 2007: 195). »In Abgrenzung von Übervater Fest verkündet er forsch die Kehre des bisherigen politischen Feuilletons. Die Zeit der großen ideologischen Debatten sei vorbei. Auf der Suche nach neuen Themen verleibte sich das Feuilleton vor allem die Naturwissenschaften ein – ähnlich wie etwa zehn Jahre zuvor Politik zum Thema der Kulturseiten geworden war.« (Ebd.)
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Biller beschreibt Schirrmacher in seiner Tempo-Kolumne »Hundert Zeilen Hass« im Oktober 1992 beispielsweise als »einer der wenigen prägnant argumentierenden Publizisten dieser Republik«, für den »fast jeden seiner geschwätzig-unpräzisen Feuilletongegner in moralischpolitischen Fragen ein übermächtiger Feind« sei. Gleichzeitig erkennt er in seinen Texten keine »Revolution«, sondern eine »Restauration« (Biller 2017: 153), insofern Schirrmacher ein »Vertreter eines längst abgestandenen, akademisierten Literaturbegriffs« sei – der »fanatischste Hüter des heiligen intellektuellen Hermeneutik-Grals«, der »in Wahrheit nur eine modern verbrämte Bildungshuberei« betreibt (ebd.: 154).
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Betrachtet man zunächst einmal die Ausprägungen der Popkultur im Feuilleton der FAZ um die Jahrtausendwende, so werden unter der Leitung von Florian Illies (»Generation Golf«) von 1999 bis 2002 die Berliner Seiten produziert – »ein Regionalfeuilleton für 20.000 Leser« (Hohlfeld 2004: 354). Das Projekt ist Ausdruck eines historischen Wandels: Das wiedervereinigte Berlin wird 1990 wieder deutsche Hauptstadt und wandelt sich zu einer Metropole, in der Diskurse aus Wissenschaft, Literatur, Kunst, Medien und Politik emphatisch zusammenlaufen. Die sechsseitige Beilage präsentiert sich »unter dem Diktat des Amüsablen« (Widmann 2000) als »ästhetizistisch-mondäne Form eines literarischen Feuilletonismus für die Hauptstadt im Gestus des literarischen Salons aus dem 19. Jahrhundert« (Tommek 2006: 410). Gefüllt mit Reportagen, Glossen, Kolumnen, kleinen Formen, erzählerischen Anekdoten und Erfahrungsberichten sollte sie ein experimenteller Spielraum der neuen Verhältnisse sein, der »frei vom Zwang zur Vollständigkeit und zum Auflagenzuwachs« war (Meyer-Lucht 2002), schlussendlich aber nur knapp 2.000 neue Leser für die FAZ hinzugewinnen konnte – zu viel »L’art pour l’art« (Widmann 2000) und »zu viele Popstars in einer Redaktion«, so der Kulturjournalist Sebastian Hammelehle (zit.n. Hohlfeld 2004: 354). Als die Beilage aus ökonomischen Gründen mit dem Ende der euphorischen New Economy-Zeit eingestellt wurde, verlagert sich das zeitgeistige Schreiben in die 2001 gegründete Wochenendzeitung FAS. Hier wird sowohl das literarische Schreiben als auch die aktuelle Berichterstattung über Pop- und Populärkultur sowie das Erkennen von Gesellschaftsentwicklungen und neuen kulturellen Strömungen forciert. Schirrmacher holte »die popjournalistischen Edelfedern« bzw. das »Pop erprobte Personal« (Hohlfeld 2004: 355) in den Kulturteil der in Berlin ansässigen Sonntagsausgabe der FAZ. Der ehemalige Tempo-Autor Claudius Seidl leitet das Feuilleton bis zum Jahr 2020, Maxim Biller unterhält bis 2019 die Kolumne »Moralische Geschichten« und Johanna Adorján war als Redakteurin tätig, bevor sie 2016 in das Feuilleton der SZ wechselt. Seit 2016 positioniert sich das Zeitgeistmagazin Quarterly auf dem Markt, das eine neue Zielgruppe (»die kreative Elite«) erschließen möchte und als »progressive[s], bildstarke[s] Magazin für ein anspruchsvolles Publikum« wirbt (Quarterly Frankfurter Allgemeine 2018). Als verantwortlich zeigen sich wiederum Claudius Seidl von der FAS und Rainer Schmidt, der ehemalige Chefredakteur von Max, Vanity Fair und Rolling Stone. Gilt auch weiterhin für die FAZ: »Populärkultur in der Sonntagszeitung und Hochkultur, politisches sowie naturwissenschaftliches Feuilleton in der Hauptausgabe« (Hohlfeld 2004: 354) bzw. klassischeres Feuilleton im Printmedium der Zeit und Pop-Feuilleton auf Zeit-Online, so lassen sich dennoch Veränderungen für die intellektuelle Zeitdiagnostik im Tagesfeuilleton nachweisen, die auf eine Entgrenzung und Popularisierung schließen lassen. Neben den popliterarischen Elementen, die Schirrmacher in den feuilletonistischen Diskurs einführt, geht der Feuilletonleiter davon aus, dass die vorherrschende vom bürgerlichen Kunstbegriff ausge-
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
hende Kulturkritik unter den Bedingungen der Pluralisierung den gegenwärtigen Verhältnissen nicht gerecht wird. Die Anerkennung und Ausbildung von alternativen Themenfeldern und Deutungskulturen im Feuilleton lässt sich exemplarisch an Dietmar Dath nachzeichnen, der seit 2001 mit Unterbrechung von 2007 bis 2011 bis heute für das Feuilleton der FAZ tätig ist, und deshalb exemplarisch für die Heterogenisierung der Kulturen im Feuilleton vorgestellt werden kann. Als ›Hybrid‹ durchkreuzt er bestehende Traditionen, ist er als Produzent der Gegenkultur doch Teil der Auflösungsprozesse der bildungsbürgerlichen Kultur wie auch Teil einer postmodernen Kultur, in der sich traditionell hochkulturelle mit pop(ulär)kulturellen Elementen zu neuen Formationen vermischen, weshalb er wiederum anschlussfähig für das bürgerliche Feuilleton wird. Dath war ehemaliger Chefredakteur der Musikzeitschrift Spex und Autor von Zeitschriften wie Konkret, Heaven Sent und Titanic und veröffentlicht als Schriftsteller zahlreiche Science Fiction Romane bei dem Verlag Suhrkamp und hat damit auch Zugang zur hochkulturellen Sphäre, um schließlich als Marxist und »Lenin 2.0« (Bröckers 2008) für eine radikal linke Position zu kämpfen. Zunächst von Schirrmacher »als potenzieller Wissenschaftsredakteur der Sonntagszeitung rekrutiert«, »um über Schnittstellen zwischen technisch-naturwissenschaftlicher und feuilletonistisch relevanter Kulturwelt zu berichten«, führt ihn die Auseinandersetzung zur Science Fiction, ein Genre, das Naturwissenschaft, Technik und Zukunft fiktional verbindet und »bis dato niemand so richtig beackert hatte« (Hatzius 2011: 100): »Die im FAZ-Feuilleton zugelassene Science-Fiction war im Grunde eine unglückliche Mischung aus dem, was durch Suhrkamp kanonisiert ist, plus individuelle Vorlieben einzelner Redakteure, die sich irgendwas in der Flughafen- oder Bahnhofsbuchhandlung gekauft hatten. In dieser rührenden Unbedarftheit, die den Umgang mit Popkultur überhaupt sehr lange gekennzeichnet hat, war das reine Geschmacksurteil dann eben doch erlaubt. So ein Geschmacksurteil hätte sich die FAZ nie erlaubt bei irgendeiner Theatergeschichte oder irgendeiner Kunstaustellung.« (Ebd.: 101, Hervorheb. i. O.) Mit Dath offenbart sich eine redaktionelle Leerstelle in der ästhetischen Auseinandersetzung im Feuilleton der FAZ, die aufgrund der Anerkennung seiner Kompetenz und der zunehmenden Bedeutung von Science Fiction als Genre im ästhetischen und allgemeinen Diskurs von ihm gefüllt wird. Die Integration eines technikaffinen Genres, das im allgemeinen Verständnis noch weitgehend als Trivialliteratur markiert ist und lediglich in Nischenzeitschriften wie De:Bug (»Magazin für elektronische Lebensaspekte«, 1997-2014) oder Wired (2011-2018) Eingang findet, lässt auf eine Öffnung des feuilletonistischen Diskurses schließen: »Und ich hatte das Glück, dass die FAZ-Feuilletonisten sofort verstanden, dass ich an diese Dinge mit demselben Ernst herangehe, mit dem der Ballettmensch an sein Ballett
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herangeht.« (Ebd.: 101, Hervorheb. i. O.) Schirrmacher polemisiert: »Über Feuilletons, die sich dazu zu schade sind, kann ich nur lachen.« (Milz 2001: 25) Dath wird 2001 Redakteur im Feuilleton der FAZ mit den Schwerpunkten »Wissenschaftskultur, elektronische Lebensaspekte, Science-Fiction und Verwandtes«22 , das er im Jahr 2007 verlässt, um im Jahr 2011 zurückzukehren und die Nachfolge des plötzlich verstorbenen Filmkritikers Michael Althen anzutreten. Dath schreibt über so unterschiedliche Themen wie »Philologie, Philosophie und Physik, Marx und Metallica« (Hatzius 2011: 102). Schirrmacher wurde jedoch nicht über die Verhandlung von Pop oder Science Fiction auf Dath aufmerksam, wie man vermuten könnte, war Dath nach eigener Aussage doch »schon zu Spex-Zeiten der feuilletonistischste aus der UndergroundWelt« (ebd.: 82, Hervorheb. i. O.), sondern aufgrund einer Replik auf den Artikel »Wollt ihr das totale Engineering?« von Botho Strauß (2000: 59) in der Zeit bei der linken Wochenzeitung Jungle World, der wiederum von Florian Illies, derzeit leitender Redakteur bei den Berliner Seiten der FAZ, an Schirrmacher weitergeleitet wurde. Der Beitrag von Strauß löste mit seiner Polemik im Jahr 2000 eine Feuilletondebatte aus. In seinem kulturkritischen Essay zeichnet der Dichter das Szenario eines »totalen Gesellschafts-Engineerings« und warnt vor dem Verlust von Kultur und Gedächtnis durch den Terror der technisch-ökonomischen Intelligenz (ebd). Die ursprünglich als Absage des Textauftrags gekennzeichnete E-Mail von Dath an die Redaktion der Jungle World wird schließlich ebendort als offener Brief gedruckt. Ursprünglich als E-Mail verfasst und an die Redaktion adressiert, ist die Sprache von einer Direktheit und Dringlichkeit gekennzeichnet, die durchsetzt von literarischen Elementen neben einer sinnlich-scharfen Intellektualität auch eine sachliche Kompetenz offenbart, was Physik, Biotechnologie und Genetik anbelangt, zu dessen Leidenschaft er sich auch im Text bekennt, um schlussendlich eine publizistische Auseinandersetzung mit dem Artikel von Strauß abzulehnen, sei der Propheten-Gestus doch nicht mehr zeitgemäß und bediene letztlich nur einen kleinen Ausschnitt einer kulturellen Elite: »Was wäre bewiesen, wenn ich Strauß vorhielte, dass seine dumme Phrase ›Zum Erfassen der intimsten Zusammenhänge haben wir einzig diese vage Sammelvokabel: Komplexität‹ von einem ›wir‹ ausgeht, in dem vielleicht Botho und ein paar GeisteswissenschaftlerInnen mit unterspezifiziertem Komplexitätsverständnis Platz haben, sicher jedoch nicht die neuere, immer stärker mathematisierte Komplexititätsforschung von der Synergetik über die Bio-Informatik bis zu den Störungstheorien?« (Dath 2001)
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Vgl. das Profil von Dietmar Dath auf der Homepage der FAZ: www.faz.net/redaktion/dietmar-dath-12931511.html (abgerufen am 20.05.2018).
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
Nimmt Dath den Dichter Strauß auch ernst (»wäre zwar als Autor von allerlei deskriptiver Prosa und zahlreichen Theaterstücken eine differenziertere Auseinandersetzung wert«), so sei er als »Warner« »keinen einzigen Seufzer mehr wert«, denn »nur wer als Intellektueller das totale sacrificium intellectus an eine mythisch unausweichliche Gegenwartsdynamik bereits erbracht hat, klagt noch wie der Kulturötzi Schwanitz oder sein Zwillingsyeti Strauß ›Bildung‹ ein«. Damit gebe er »im selben Moment endgültig verloren, was er vermisst, indem er jene sozialen Konstellationen begriffslos affirmiert, die das Verschwinden seiner heiligen Güter bedingen« (ebd.). Der kurze Meinungsbeitrag erregt die Aufmerksamkeit und das Interesse des Feuilletons der FAZ nicht nur wegen der literarisch-analytischen Form in Kombination mit Sachkompetenz, was die Naturwissenschaften betrifft, sondern vor allem aufgrund seiner Sprecherposition. Dath spricht aus einem alternativen Diskurs einer popkulturell sozialisierten Linken heraus und bewegt sich in Abgrenzung zu den klassisch-bürgerlichen Kulturen und damit in relativer Unabhängigkeit vom allgemeinen Diskurs. Auf diese Weise bildet er eine eigenständige Perspektive im Umgang mit Gen- und Reproduktionstechnologien, Naturwissenschaft, Massenund Populärkultur aus, die den tradiert kulturkritischen Diskurs unterläuft, und mit Schirrmachers Entscheidung für Dath aus den Spezialdiskursen der Zeitschriften in den allgemeinen (Feuilleton)Diskurs einwandert, um ihn zu erweitern und nachhaltig zu irritieren. Insbesondere in der Naturwissenschaft erkennt Schirrmacher (in Konkurrenz zu den Geisteswissenschaften) ein neues Feuilletonthema, das er im Jahr 2000 mit dem Abdruck eines Quellcodes der DNA über sechs Seiten öffentlich wirksam in den Diskurs einführt, um nicht nur die Deutungshoheit für das Thema zu signalisieren, sondern auch ein neues Marktsegment zu erschließen (in Konkurrenz zum Wissenschaftsteil der eigenen aber auch anderen Zeitungen wie die SZ und Die Zeit, deren Anteil der Wissenschaftsberichterstattung ebenfalls steigt). Der performative Akt zeigt die Neuausrichtung des Feuilletons der FAZ in zweifacher Form an. Zum einen inhaltlich, so verweist die Eröffnung der Gentechnologie-Debatte machtvoll auf einen neuen Diskurs im Feuilleton. Zum anderen formalästhetisch, wenn sich das Spiel mit den Zeichen zwischen Fakt und Fiktion vollzieht und die Verfahren nicht zuletzt an die Pop- und Populärkultur erinnern. Der DNA-Code wird hier als Metapher für das komplexe und empirisch schwer darstellbare Thema der »Entzifferung« des menschlichen Genoms durch den Wissenschaftler J. Craig Venter eingesetzt – »ein dramatischer und anarchischer Akt, der die Grenzen der Zeitung sprengte«, kommentiert der Publizist und Verleger Jakob Augstein (2007: 325). Die Darstellung erfolgt in einer aufsehenerregenden Form, wie sie auch in der unterhaltenden Populärkultur im Rahmen von Special-Effects Verwendung finden, um Ereignisse zu dramatisieren und die Aufmerksamkeit der Rezipient:innen zu binden (vgl. Metzger 2001).
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Das Potential in der Verbindung von Wissenschaft und Fiktion, von faktualer und fiktionaler Kommunikation im ästhetischen Spielraum und Spannungsverhältnis von bürgerlicher und populärer Kultur, wie es sich hier andeutet, stellt ein weiteres Motiv für die Aufwertung der Populärkulturen im Feuilleton dar. Insbesondere am Genre der Science Fiction, wie sie in Blockbuster-Filmen und Romanen zum Ausdruck kommt, und wie sie nicht zuletzt von Dath als Schriftsteller produziert und als Journalist öffentlich wirksam in den Diskurs eingeführt wird, werden alternative Verhandlungsformen von Naturwissenschaft und Technik erkennbar, die anschlussfähig für den feuilletonistischen Diskurs sind. Über die ästhetische Verarbeitung von wissenschaftlichen Spezialthemen in fiktionalen Medienartefakten können komplexe soziale und kulturelle Transformationen plausibel gemacht und spekulativ verhandelt werden. Auf diese Weise werden sozial relevante Themen für eine breite Öffentlichkeit aufbereitet und in den öffentlichen Diskursraum eingespeist. »Der Begriff der populären Kultur« sei darum »nichts anderes als der Schlüssel zu unserer Gesellschaft, zu unserer Zukunft« (Milz 2001: 25). »Das zu hinterfragen«, so Schirrmacher, sei »die Aufgabe« des Feuilletons (ebd.). Insbesondere das Verfahren der Versammlung von internationalen Stimmen zu den Themen Digitalisierung, Wissenschaftsgeschichte und Naturwissenschaften trägt zur allgemeinen Verständigung dieser Spezialdiskurse bei und ermöglicht das ›gemeinsame Gespräch‹ (vgl. Schirrmacher 2001, 2015). Eint Dath und Schirrmacher die Ablehnung von traditionell kulturkritischen Gesellschaftsdeutungen, wie sie in Diskurspositionen wie jene von Strauß und in den konservativen wie auch linken Deutungskulturen der »Alt-68er«23 erkannt werden, letztlich die Hinwendung zur Pop- und Populärkultur als Verhandlungsmöglichkeit von sozialen Entwicklungen (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen), so trennt sie zugleich die politische Position. Während Dath als Kommunist und Marxist linke Ideen unter neuen Bedingungen im 21. Jahrhundert weiterführt, repräsentiert Schirrmacher das kulturkonservative Spektrum im Modell der bürgerlichen Gesellschaft. Von der These der Einverleibung der Gegenkulturen durch das Feuilleton zur Entschärfung des Antagonismus und zur Bewahrung der kulturellen Hegemonie in Erschließung neuer Zielgruppen sieht Dath, selbst Teil des hegemonialen Diskurses geworden, jedoch ab und betont vielmehr die »organische 23
»Wir haben in Frage gestellt, dass das Feuilleton ein linker Club zu sein hat, Hort des Utopismus, Reservat der 68er und der Gruppe 47«, meint Schirrmacher im Jahr 1991 (zit.n. Hachmeister 2007: 187f.). »Durch die 68er wurde die Kritik phasenweise hyperreflexiv und hochabstrakt. Manche derjenigen, die damals bereit waren, für die Sprachphilosophie die Poesie zu opfern, sind heute Schwärmer. Ich kann mit Anhimmeln und In-die-Knie-Sinken mancher der älteren Kollegen, besonders wenn es um Handke und den hohen Ton geht, gar nichts anfangen. Literatur als Religionsersatz taugt nicht. Und hier geht es um mehr. Es geht um Literatur als Libretto für reale Existenzen,« so Schirrmacher im Gespräch mit Herlinde Koelbl (Koelbl 2000: 71f.).
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
Arbeitsteilung« im Tagesfeuilleton der FAZ mit Sitz in Frankfurt, die eine »relativ liberale« Situation ermöglicht, in der man »mit anderen […] Interessensausgleiche betreiben« (Hatzius 2011: 96) und »Fertigkeiten« im kulturjournalistischen Tagesgeschäft im Umgang mit »brillanten Gegenspieler[n]« (ebd.: 103) erlernen kann, die über eine »großartige Allgemeinbildung« (ebd.: 94) verfügen. Entschärfen sich auch die politischen Gegensätze im kulturellen Raum und in den Redaktionen der überregionalen Feuilletons im 21. Jahrhundert, so gibt nicht zuletzt die Aussage: »Frank Schirrmacher und die Leute, die mich zur FAZ geholt haben […], haben nicht die geringste Ahnung, dass ich irgendwas mit Spex zu tun habe« (ebd.: 82, Hervorheb. i. O.), einen wichtigen Hinweis darauf, dass Autor:innen der Poplinken bereits Teil des hochkulturellen Diskurses sein sollten, um erkannt und rekrutiert zu werden. Das heißt weiterhin, dass es sich beim feuilletonistischen Diskurs um einen relativ geschlossenen Raum handelt, zu dem nur Zugang erhält, wer im hochkulturellen Umfeld des Feuilletons publizistisch aktiv ist. Ferner verweist die Aussage darauf, dass ein ›Schauen über den Tellerrand‹ sich auf den eigenen relativ homogenen Diskurs bezieht, was wiederum mit dem Vorwurf einer kulturellen Elite einhergeht (vgl. Glotz/Langenbucher 1993: 95). Zugleich entgrenzen sich die feuilletonistischen Netzwerke in der Spätmoderne, wie es im Fall Dath exemplarisch beobachtet wurde, wenn etwa Florian Illies die Berliner Seiten als Beilage der FAZ betreibt und auf alternative Stimmen aufmerksam macht, die in den ›Zentraldiskurs‹ einwandern. Die Hybridisierungsprozesse der Redaktionsstrukturen können nicht zuletzt den Streit beleben, wenn agonale Spannungsverhältnisse innerhalb der Redaktionen entstehen. »Das ist eben das Interessante, wie diese Situation nicht nur ausgehalten wird, sondern im Streit produktiv wird«, stellt der Leiter des Zeit-Feuilletons, Adam Soboczynski, fest.24 Die Integration alternativer Identitätsdiskurse erweitert den politischen Spielraum, wenn Sprecher:innen unterschiedlicher Wahrnehmungskulturen Eingang in die Redaktionen erhalten und in Diskussion treten. Die Transformations- und Pluralisierungsprozesse in den Feuilletonredaktionen reichen bis in die Gegenwart hinein. Im Feuilleton der FAZ spricht Dath als ausgewiesener Linker und Kommunist neben Jürgen Kaube, der im Jahr 2014 die Nachfolge von Schirrmacher angetreten hat und als »Mann des klassisch-konservativen Feuilletons« (Der Spiegel 2014) gilt. Die SZ zeigt sich neben einem klassischen Rezensionsfeuilleton von einem zeitgeistigen Magazinjournalismus beeinflusst und das Feuilleton der FAS gilt als popkulturelle Ergänzung des Hauptblattes. In der einst konservativen Welt (›Springer-Presse‹) artikuliert sich ein neues Feuilleton rund um die ›jungen Wilden‹ wie Ronja von Rönne, Hannah Lühmann und Mara Delius. Und im Feuilleton der Zeit schreiben junge Journalist:innen wie Caspar Shaller aus einem linksorientierten Milieu eines Berliner Diskurses zwischen 24
Ich danke Adam Soboczynski (Die Zeit) für das Gespräch am 7. Mai 2018 in Hamburg.
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Kunst, Theorie und Pop heraus oder Marie Schmidt über Gender, Feminismus und Identitätspolitik. Beide standen Kollegen wie Jens Jessen und Ulrich Greiner gegenüber, die wiederum einen bürgerlich-konservativen Diskurs vertreten und deutlich abweichende Positionen haben. Nicht zuletzt verweisen redaktionelle Übernahmen wie die von Dath auf ein Ankommen der Popkultur im deutschen Feuilleton. Als spezifisch spätmodernes Phänomen wird sie spätestens im 21. Jahrhundert selbstverständlicher Bestandteil im Kulturressort der überregionalen Zeitungen. Wurde die vorwiegend aus den USA und England kommende populäre Musik, die eingebunden in ökonomische Prozesse, auch Teil des Marktes ist, zunächst als Kommerz und ›Ware‹ und damit als kulturkritisch zu bewertende Zeittendenz wahrgenommen (z.B. Elvis Presley, Beatles), so findet sie seit den 1960er Jahren als ästhetisches Werk und eigenständiger Rezensionsgegenstand unter Begriffen wie ›Folk‹ und ›Beat‹, später ›Singer/Songwriter‹, ›Underground‹, ›Rock‹, ›Reggae‹, oder ›Latin‹ Eingang in das Feuilleton (vgl. Stegert 1998: 130). Besonders Künstler:innen wie Bob Dylan sind aufgrund ihrer Verbindung zur Literatur (»Liebling der amerikanischen Literaturkritik«) und zum politischen Protest anschlussfähig an hochkulturelle Diskurse, erfahren aber auch Abwertung: »Bob Dylan, der ehemalige ›Troubadour von Amerika‹, singt noch weit hässlicher und unmusikalischer als die Beatles« (B.F. 1966: 2). Der Begriff ›Pop‹ bleibt im bürgerlichen Raum vorerst negativ konnotiert und firmiert im Kontext der Pop-Art primär unter dem Vorzeichen des »gewollt Banalen« (Wedewer 1964: 16) oder wird mit Attributen wie »Subjektivität, Krawall, Ironie, Oberflächlichkeit, Geschichtsvergessenheit, Seriositätsdefizit« (Diez 2002) belegt.25 Erst Ende der 1960er Jahre erfolgt unter dem Einfluss des Popjournalismus ein Umwertungsprozess, im Zuge dessen sich ein positiver Begriff von Pop auf breiter Basis herausbildet (vgl. Mrozek 2019: 35) und auch Anerkennung als legitime Kultur im Feuilleton der 1990er Jahre erfährt.26 Hat sich die intellektuelle Elite der Popkultur mit Vertretern wie Diedrich Diederichsen und Dietmar Dath mittlerweile im feuilletonistischen und auch akademischen Diskurs etabliert, bleibt empirisch zu prüfen, inwieweit die populären 25
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Der Begriff ›Pop‹ wird in Deutschland zunächst von der Pop-Art aus der bildenden Kunst abgeleitet (vgl. Wedewer 1964, Huelsenbeck 1963) und etwas später mit zeitgenössischer Popkultur verbunden, wenn Pop im kulturkritischen Modus etwa »als Mode, als Lebensstil, als Elixier der Unterhaltungsindustrie« beschrieben wird, wie etwa Sabina Lietzmann im Feuilleton der FAZ im Dezember 1967 (zit.n. Hecken 2010: 132). Hecken verwendet hier den Begriff des »Avant-Pop« und beschreibt damit den »veränderten Zuschnitt« der im 21. Jahrhundert als »wertvoll oder hoch eingestuften Kultur« (Hecken 2012a: 40). Ästhetische Verfahrensweisen und Produkte, die als kommerziell-populär und sinnlich banal galten, wurden seit den 1960er Jahren theoretisch-argumentativ und kunstpraktisch aufgewertet und stellen damit »erneuerte Formen« der von Gebildeten anerkannten »Hochkunst« dar (ebd.: 48).
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
Gegenstände aus Alltag, Fernsehen, Film und Pop eine eigene Bewertungsstruktur im Feuilleton generieren, die sich jenseits der traditionellen bildungsbürgerlichen Werte und Maßstäbe befindet.27 Diesen Aspekt nimmt Dath in seinem Grundsatztext »Der Pop und die Pest« im Feuilleton der FAZ (2003: 33) auf. Der Beitrag problematisiert die zunehmende Popularisierung von Pop durch eine breite zu Teilen nicht pop-sozialisierte Deutungselite und richtet sich dabei sowohl gegen die eigenen Reihen im Feuilleton wie auch gegen die akademischen Annäherungen, wenn er ihnen mangelnde Kompetenz vorwirft und fragt: »Woher aber kommt dieses Grauen?« Und antwortet: »Von der Unbildung.« In seinem Begriffsverständnis setzt Pop ähnlich wie in der klassischen Hochkultur ebenfalls Bildung und spezielles Kontextwissen voraus. So werde hier nicht »voraussetzungsloser gearbeitet« »als bei Wagner, Kleist und Caspar David Friedrich« (ebd.). »Es ist nämlich folgendermaßen: Pop und Massengeschmack oder gar das, was sich Exekutivorgane der Quasi-Monopolisten aus der Platten-, Film-, Fernsehund Meinungsbranche unter Massengeschmack vorstellen, sind seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr umstandslos in eins zu setzen. Pop nämlich meint, seit Intellektuelle an ihm mitwirken, was ungefähr von der ›Gegenkultur‹ der späten Sechziger/frühen Siebziger an der Fall ist, etwas Inhaltliches und nichts Demographisches – jede Art von Kultur, die anders als das bürgerliche Kunsterlebnis des ›interessenlosen Wohlgefallens‹, nicht auf Kanon und Partitur, sondern auf Involviertheit, Emphase, Fan-Riten und Identifikation setzt.« (Ebd.) Wie bereits im Diskurs zur Poplinken deutlich wurde, wirkt der deutsche Popdiskurs sowohl integrierend als auch exkludierend, indem er in seiner Form des Sprechens und Bewertens an hochkulturelle Diskurse anschließt (vgl. Geer 2012). Sowohl die Intellektualisierung als auch die spätere Akademisierung von Pop orientiert sich am hegemonialen Denkstil der bürgerlichen Kultur und grenzt sich durch eine spezifische Form der Kultiviertheit inhaltlich als auch formal vom Mainstream ab. Findet der Begriff ›Pop‹ bis heute als ein dehnbarer wie schillernder Begriff im semantischen Spannungsfeld von Subversion und Rebellion bis hin zu Konsum und Mainstream Verwendung (vgl. Diederichsen 1999: 274, Kleiner 2013b: 17f.), erhält er als ästhetischer Reflexions- und Verhandlungsgegenstand nicht nur Eingang ins Feuilleton. Er institutionalisiert sich auch in den Universitäten, in Bibliotheken und im Schulunterricht, in staatlich geförderten Kulturbetrieben, im Museum und im Konzertsaal, im Theater und in der Oper, letztlich in der Kulturpolitik, wenn etwa der ›Pop-Manager‹ Tim Renner im Jahr 2014 Kulturstaatsekretär von Berlin wird. War der Popdiskurs bis in die 1990er Jahre noch Bestandteil von Kämpfen, die zum Teil auch im Feuilleton ausgetragen wurden, so hat er sich als 27
Für eine empirische Analyse von Populärkultur im Feuilleton der FAZ und SZ vgl. exemplarisch Goldbeck 2004.
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Debattenkulturen im Wandel
Bildungs- und Identitätsdiskurs im 21. Jahrhundert allgemein durchgesetzt (vgl. Hecken 2012a: 7f., Jurt 2013, Geisthövel/Mrozek 2014, Maase 2015). Die fortwährende Suche nach neuen Ausdrucksformen und Schreibweisen im feuilletonistischen Diskurs ist Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung, die allgemeinhin als Postmoderne beschrieben wird und die eine zunehmende Auflösung traditions- oder klassenbezogener Lebensformen und Wertesysteme provoziert (vgl. Jameson 2015). Die Pluralisierung der Lebensstile und die Fragmentierung der kulturellen Identitäten fordern herrschende Bewertungs- und Deutungskulturen heraus. Die politischen Auseinandersetzungen im künstlerisch-intellektuellen Feld, wie sie hier exemplarisch im Rahmen der Pop- und Zeitgeistmagazine der Poplinken aufgezeigt wurden, sind Teil eines postmodernistischen Diskurses, der als Gegenbewegung die Befragung der klassischen Aufklärungsdiskurse zum Gegenstand hat. Der kulturelle und soziale Wandel in der Spätmoderne kommt auch im Feuilleton zum Ausdruck. War die bürgerliche Kultur in der Moderne noch hegemonial, im Zuge dessen sich das Zeitungsfeuilleton institutionalisiert und als kulturelle Deutungsinstanz soziale Relevanz erhält, so ist sie in der Spätmoderne marginal. Nicht mehr das bürgerliche Subjekt ist das dominierende, das sich seiner selbst im Medium der Künste reflektiert und bildet, sondern das postmoderne Subjekt, »das offenbar durchaus ohne den kompletten Lebensstil des alten europäischen Bürgers und soziostrukturell wie politisch ohne eine bürgerliche Klasse auskommt« (Reckwitz 2010e: 214f.).28 »Im Sinne der kulturellen Logik des Spätkapitalismus beginnen sich Kultur und Ökonomie gegenseitig zu durchdringen, was mit der Dezentrierung des schöpferischen Subjekts, des Verlusts eines objektiven Referenten und mit einer Schwächung des Gegensatzes von Hochkultur und Massenkultur einhergeht«, schreibt Angermüller (2008: 251) in Anlehnung an Jameson.29 28
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Mit Reckwitz entfernt sich das postmoderne Subjekt als »kreativ-ökonomisches Subjekt« von den Idealen der bürgerlichen Kultur, ohne sie jedoch gänzlich aus den Augen zu verlieren: Es »revitalisiert die Selbstregierungskompetenzen des bürgerlichen Subjekts und lässt den alten bürgerlichen Ordnungssinn, dem jede ökonomische, ästhetische oder libidinöse Beschleunigung zuwider ist, beiseite« (Reckwitz 2010a: 745). »Kennzeichnend für diese postmoderne Subjektivierungsweise ist eine hybride Kombination von zwei Elementen: einer generalisierten ästhetischen Orientierung des Subjekts am Expressiven, an der kreativen Selbstgestaltung und an ästhetischen Erfahrungen, ein ›expressiver Individualismus‹ einerseits, und einer generalisierten ökonomischen Orientierung an der Konstellation des Marktes […] andererseits.« (Reckwitz 2010e: 212) Mit Jameson hat bereits in den 1970er Jahren eine Kulturalisierung des Konsums stattgefunden, die eine fortlaufende ästhetische und symbolische Neuerung von Produkten zur Folge hat (Jameson 2015: 339). Industrielle Produkte werden nicht mehr nur zum Zweck der Standardisierung und der allgemeinen Erschwinglichkeit hergestellt, sondern auch zur Individualisierung und Identitätsstiftung. Materielle Güter sind dann keine reinen Nutzgegenstände, die utilitäre Bedürfnisse befriedigen, sondern dienen der Ausbildung und Darstel-
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
Auch Kulturkonsument:innen beziehen sich nicht mehr auf eine – die bürgerliche oder die popkulturelle – Kultur, sondern zielen darauf ab, sich aus Versatzstücken von Dingen und Erlebnissen ihre individuellen Lebensstile zusammenzustellen. Neben der klassischen Hochkultur integrieren sie Elemente der populären (Pop)Kultur, wie es im Konzept des kulturellen »Allesfressers« (»cultural omnivore«) beschrieben wird (Peterson/Kern 1996). Die Folge ist eine neue Geschmacksvielfalt und »eine status-gleichberechtigte Nutzung einer Vielzahl von Angeboten aus Hoch- und Popkultur« (Parzer 2011: 18f.). »Allesfresser« gehen in das Theater und das Literaturhaus, hören klassische und elektronische Musik, besuchen Happenings und interessieren sich für performative und klassische Kunst. Kulturelle Legitimation generiert sich nicht mehr über die Kompetenz in der kanonisierten Hochkultur, sondern auch über Pop- und Lifestylekompetenz, insofern das »multikulturelle Kapital« (Bryson 1996: 884) eine »Rendite der Grenzüberschreitung« (Gebesmair 2001, 2004) produziert. Mit der zunehmenden Ästhetisierung der Lebenswelt und der Anerkennung der populären (Pop)Kultur artikuliert sich auch im Feuilleton des 21. Jahrhunderts eine neue Vielfalt an Kulturen. In Anlehnung an Peterson und Kern kann es als »Allesfresser-Feuilleton« bezeichnet werden. Die Integration der Pop- und Populärkulturen als eigenständige Reflexionsartefakte und Identitätsdiskurse erweitern den traditionell hochkulturell geprägten Kulturbegriff und verändern nicht zuletzt die Praktiken der Kritik. Die bürgerliche Praxis der Selbstreflexion vollzieht sich nicht mehr allein über künstlerische Werke im klassischen Sinn, sondern auch über die vielfältigen ästhetischen Eindrücke im Alltag. Der Wandel zeigt sich nicht nur in den Gegenständen, wenn neben Popmusik auch Mode, Körper, Alltag und Design im Feuilleton verhandelt werden, sondern auch in den feuilletonistischen Schreibweisen und Formaten, die sich von der Logik der Argumentation und der Sachlichkeit entfernen und verstärkt Kriterien der Empfindung sowie der Affektivität einbinden. Wurde in der Einleitung ein historisches Spannungsfeld von literarischästhetischen und rational-kognitiven Sprechweisen eröffnet, so verschiebt sich die feuilletonistische Praxis um die Jahrtausendwende mit der Erweiterung der Wahrnehmungsmöglichkeiten und in Ausrichtung an das Populäre erneut in Richtung Ästhetisierung und Literarisierung.30
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lung einer kulturellen Identität. In Orientierung an die Zeitdiagnose der Grenzüberschreitung des Ästhetischen in das scheinbar Nicht-Ästhetische – die Materialität der Alltagswelt – kann von einer Befragung klassischer Ordnungen und einem Bedeutungsverlust der bürgerlichen Künste ausgegangen werden. Im »ästhetischen Kapitalismus« (Reckwitz 2012: 23) dringt nicht nur der Kapitalismus in die Ästhetik ein (Boltanski/Chiapello 2003), auch die Ökonomie hat sich in weiten Teil ästhetisiert und folgt dem Regime des Neuen (Reckwitz 2012: 28f.). Die Öffnung der überregionalen Kulturteile für die Pop- und Populärkultur wird im Feuilleton unterschiedlich bewertet. So bezeichnet der Musikkritiker Joachim Kaiser die Abkehr
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Debattenkulturen im Wandel
Wenn man von einer Ästhetisierung fast aller lebensweltlichen Bereiche und einer steigenden Bedeutung von Kriterien wie Innovation, Kreativität und Experiment im »Regime des Neuen« (Reckwitz 2012: 28f.) ausgeht, so kann auch im Feuilleton eine Steigerung der Inszenierung und Theatralisierung beobachtet werden, wie sie insbesondere von Schirrmacher in der FAZ im Kampf um Aufmerksamkeit und Deutungsmacht vorangetrieben wird. War die bürgerliche Kritik immer schon doppelcodiert – der Umgang mit fiktionaler Schriftkultur trainiert das bürgerliche Subjekt »in einer sowohl kognitiv-reflexiven als auch moralischen und emotionalen Innenorientierung« (Reckwitz 2006a: 205) –, so verstärkt sich das Empathievermögen und die ästhetische Performance im späten 20. Jahrhundert erneut. Entgegen klassischer Konzepte meint mediale Inszenierung nicht die Manipulation von Information und Emotion als vielmehr die Möglichkeit, sich zu präsentieren, um einer Idee und Wirkungsabsicht performativ Ausdruck zu verleihen. Ereignisse im Feuilleton werden gestaltet und entworfen, bisweilen selbst initiiert, um öffentlich wirksam in Erscheinung zu treten (vgl. Fischer-Lichte 2004: 325). Besonders im spätmodernen Format der Debatte werden Ereignisse mit stilistischen Mitteln und Verfahren angereichert, um sie theatralisiert in Szene zu setzen. Ereignisse werden mit einer bestimmten Wirkungsabsicht ausgewählt, positioniert und erlebnisreich gestaltet, um sie einem breiteren Publikum zu präsentieren. Die mediale Inszenierung von Ereignissen wird zum tragenden Element der feuilletonistischen Produktion, die sich in der Spätmoderne von der »Inszenierung des Subjekts« (Kernmayer 2012a) in der bürgerlichen Moderne dadurch unterscheidet, dass sie nicht die Innerlichkeit und das Ich im Sinn der Selbstreflexion stilisiert, sondern das mediale Ereignis selbst.
von der Hochkultur als »wertblind«, »amusisch« und »banausenhaft« (Höbel 2001: 212) und Jens Jessen bewertet den Popjournalismus als »abartig primitiv« (zit.n. Hohlfeld 2004: 357): »Das Publikum findet die Kunst nicht mehr schön und würde sie gerne mit Dreck beworfen sehen, muss aber erleben, wie der Feuilletonist sie in den Himmel hebt und namentlich der anstrengenden Hochkultur eine unverständliche Treue hält, anstatt sich auf die Seite der Massenkultur zu werfen.« (Jessen 2011a: 21) Unter Kultur im Feuilleton versteht er primär Hochkultur: Wer Hochkultur verachte, verachte auch das Feuilleton und dürfe »gerne umblättern« (ebd.). Popkultur erhält wiederum die Zuschreibung der Eventkultur: »Wie anders ist die Popkultur! Sie wird nicht nur von jedem verstanden, sie entfaltet auch den ersehnten Glanz. Darum gibt es die Museumsleute und Regisseure, die um jeden Preis dem gusseisern Seriösen, dem Bürgerlichen der Hochkultur entkommen wollen. Das Ergebnis ist jene Eventkultur, die auch einer Ausstellung, einer Theaterinszenierung den Klatschfaktor und das Gepräge einer Party geben möchte. Die Kunst selbst genügt ihnen nicht mehr, es müssen auch eine exotische Location für die Ausstellungen und Fernsehprominenz für die Inszenierung gefunden werden.« (Jessen 2011b: 45) Grundsätzlich wird das popjournalistische Schreiben mit Begriffen wie Boulevard und Spektakel in Verbindung gebracht (vgl. Steinfeld 2004) und als Nicht-Kritik (Greiner 1992: 59) bzw. Nicht-Kunst (Jessen 2011b: 45) wahrgenommen.
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
3.3
Zusammenfassung: Kultur- und medienhistorische Einordnung des Feuilletons
Die historischen Diskurse im Beziehungszusammenhang von Kultur und Medien und die daraus hervorgehenden Praktiken der Kritik stellen die Hintergrundfolie dar, vor der sich das Feuilleton historisch konstituiert und als Gegenwartsphänomen rekonstruierbar wird. Der historische Rückblick der »spezifischen kulturellen Formen« von der Moderne zur Spätmoderne bringt eine Vielfalt an kulturellen Differenzen zum Vorschein, von der bürgerlichen Kultur/Volkskultur über die Hochkultur/Massenkultur bis hin zur Hochkultur/Populärkultur, entlang derer nicht nur die Auflösungsprozesse der bürgerlichen Kultur sichtbar werden, wie sie sich im 18. Jahrhundert konstituiert und im 19. Jahrhundert hegemonisiert hat, sondern auch die Konstitutions- und Transformationsprozesse des Feuilletons. Mit den medientechnologischen Umbrüchen weitet sich der Kulturbegriff von einem normativ-essenzialistischen zu einem pluralen Verständnis und provoziert eine zunehmende Öffnung der feuilletonistischen Sinnstrukturen. Damit einher gehen die Ausdifferenzierung des Feuilletons und die Heterogenisierung der hier artikulierten Kulturen und Antagonismen. Die neue Vielfalt der Partikularkulturen führt nicht nur zu einer Entdifferenzierung in thematischer Hinsicht (so werden neben Film, Pop oder Comic auch Mode, Technik, Konsum und Lifestyle verhandelt), sondern auch zu Antagonismen, die in den lancierten Debatten zum Ausdruck gebracht und ausgehandelt werden. Mit der Auflösung der bürgerlichen Kultur als Hegemonie zeigt sich das Feuilleton der Gegenwart immer weniger von der Leitdifferenz Hochkultur versus Populärkultur bestimmt und immer mehr von einer Pluralität an Kulturen, wie sie sich im Spannungsfeld der bürgerlichen und den neueren Populärkulturen bis heute ausbilden. Die peripheren Populärkulturen hybridisieren die hegemonialen Kulturen und lösen die traditionelle Grenze zwischen den hohen Künsten und den trivialen Populärkulturen zunehmend auf. Spätmoderne Kulturen lassen sich demnach als hybride Kulturen bestimmen, sie beinhalten immer unterschiedliche Elemente aus verschiedenen Kulturen im Spannungsfeld von Hochkultur und Populärkultur. War das Feuilleton bis in die 1970er Jahre noch weitgehend von einem bürgerlichen Kulturbegriff bzw. einer Kulturkritik in Tradition der Kritischen Theorie bestimmt, insofern die neueren Pop- und Populärkulturen als kulturell Anderen wahrgenommen und medial konstruiert werden, um traditionelle Wertesysteme und Normen zu erhalten, werden seit den 1980er und verstärkt mit dem Mauerfall und dem Ende des Kalten Krieges kulturelle Kämpfe zwischen den Kulturen im Feuilleton ausgefochten. Nicht zuletzt die Kulturkritik der Nachkriegszeit hat zur Folge, dass Pop-Phänomene in Musik, Kunst und Literatur erst spät salonfähig werden und im deutschsprachigen Feuilleton Anerkennung finden. War die Pop- und Populärkultur bis in die 1980er Jahre noch marginal, setzt sie sich in den 1990er Jah-
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Debattenkulturen im Wandel
ren allgemein durch und erscheint spätestens im neuen Jahrtausend als selbstverständlicher Bestandteil im überregionalen Kulturteil der Zeitungen. Das Feuilleton repräsentiert sich im 21. Jahrhundert als Spannungs- und Versammlungsraum, in dem bürgerliche Hochkulturen, Populär- und Unterhaltungskulturen, Popkulturen und soziale Bewegungen aufeinandertreffen, sich fortlaufend vermischen, überlagern, kombinieren und neu formatieren. Gleichwohl bleiben klassisch etablierte Trennungen und Kulturbegriffe bestehen, wenn beispielsweise die FAZ die Bewertung von »Literatur, Theater und Oper« (Frankfurter Allgemeine Zeitung 2015: 9) bis heute in den Fokus stellt und die Popkultur primär in der Sonntagsausgabe – FAS – verhandelt wird. Der kulturelle Wandel betrifft nicht nur den politischen Diskurs im Feuilleton, seine Themen und Gegenstände, sondern auch seine Praktiken der Kritik und medialen Formen. Das Feuilleton ist ein Medium, das im historischen Transformationsprozess fortwährend neue Spielräume der Kritik entwirft. Dominiert gegenwärtig auch der rational-akademische Diskurs, so kann es dennoch als eine Sammelstelle Betrachtung finden, an der unterschiedliche Formen von Kritik zusammenlaufen, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert im Schnittfeld von Literatur, Journalismus und Wissenschaft ausgebildet haben und im Spannungsverhältnis zwischen bürgerlichen und populären Kulturen bis heute in Bewegung gehalten werden. Ausgehend von den Ausführungen zur Entwicklung des spätmodernen Feuilletons handelt es sich dabei wesentlich um drei Deutungspraktiken, die konflikthaft gegenüberstehen und deshalb analytisch zu trennen sind, sich im medienkulturellen Transformationsprozess aber überlagern und wechselseitig hybridisieren bzw. immer wieder neu kombinieren. Die Spannweite reicht von einer sachlichen, an akademischen Kriterien orientierten Kritik, wie sie das Feuilleton der Nachkriegszeit im Ideal der humanistischen Aufklärung und des klassischen Räsonnements in Orientierung an deliberative Theorien etabliert, über die Forderung der theoretisch ambitionierten Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Wirklichkeit im Erfahrungs- und Lebensraum, wie sie von Kracauer eingeleitet und im Popdiskurs unter neuen Vorzeichen reartikuliert wird, bis hin zur ästhetischenliterarischen Subjektivierungsform, wie sie in den erzählerischen Momenten des Feuilletonismus historisch konstituiert und durch die (Pop-)Literat:innen der Spätmoderne erneut aktualisiert wird. Begreift man Kultur nicht als eine von der Gesellschaft unterscheidbare Sphäre, sondern als Aushandlungsfeld des Sozialen, dann sind insbesondere Medientechnologien konstitutiv für gesellschaftlichen Wandel. Sie ermöglichen und prägen das Soziale und sind »in immer stärkerem Maße in Prozesse der Vergesellschaftung eingebunden« (Schrage/Hieber 2008: 8). Als solche sind sie Innovationstreiber und Motoren von sozialen Transformationsprozessen: Sie öffnen sedimentierte Diskurse und stellen kulturelle (Kombinations-)Möglichkeiten zur Verfügung, die zur Hybridisierung und Umformatierung bestehender Ordnungen beitragen. »Als Agen-
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
turen der Bedeutungsproduktion« stellen Medien »neue Sinnressourcen für eine Selbstveränderung der modernen Kultur« (Reckwitz 2006a: 18) bereit und entfalten Spielräume, in denen strikte Grenzziehungen überschritten und alternative Praktiken ausgebildet werden. Der Buchdruck ermöglicht Medien der Schriftlichkeit im bürgerlichen Zeitalter, die mit der Ausbildung der Massenpresse in den populären Raum überführt werden und im Zeitungsfeuilleton einen Ort auf Dauer erhalten. Medientechnologien prägen nicht nur die Art, wie wir wahrnehmen und miteinander kommunizieren, sondern organisieren die Kommunikations- und Informationsströme einer Gesellschaft neu (Innis 1950, McLuhan 1994, Baecker 2007).31 Mit der Institutionalisierung des Feuilletons als Ressort in der Zeitung verändern sich sowohl die Form der Aushandlung von sozialen Konflikten als auch das öffentliche Sprechen und die feuilletonistischen Schreibweisen. Von einem Beziehungszusammenhang von Kultur und Medien ausgehend können fünf Transformationsstufen unterschieden werden, die sowohl den Institutionalisierungsprozess des Feuilletons als auch die Entwicklung zu einem Ort der politischen Auseinandersetzung verdeutlichen: die vorbereitende Phase im 18. Jahrhundert im Kontext der bürgerlichen Kultur (1), die verdichtende Phase im 19. Jahrhundert und die Institutionalisierung (2), die politisierende Phase im frühen 20. Jahrhundert, (3) die re-politisierende Phase im späten 20. Jahrhundert (4) sowie die Phase der Neuverhandlung des Sozialen im 21. Jahrhundert, die im folgenden Kapitel anhand von exemplarischen Fallanalysen empirisch erforscht wird (5). Geht man mit Reckwitz davon aus, dass kulturelle Phänomene erst durch eine historische Einbettung nachvollzogen werden können, in denen »die Zeitpunkte und Kontexte der Entstehung des scheinbar Universalen und Alternativlosen deutlich werden« (2010c: 181), dann stellt sich für die Gegenwartsanalyse die Frage: Auf welche Weise werden Konflikte im Feuilleton der 2010er Jahre verhandelt, das als Spannungsraum heterogener Kulturen eine Vielzahl an Kulturen und partikularen Hegemonien zusammenführt und im Streit miteinander verbindet? (1)
Die vorbereitende Phase im 18. Jahrhundert: Bürgerliche Kultur als Ermöglichungsdiskurs Die Ausbildung der bürgerlichen Kultur im 18. Jahrhundert gilt als erster »moderner Kulturkonflikt« und »Urszene dieser modernen Öffnung von Kontingenz« (Reckwitz 2006a: 78). Mit ihrem Ideal der souveränen Selbstregulierung grenzt
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Medientechnologien in diesem Sinn sind weder als determinierende Phänomene noch »isoliert als technologische Prozesse zu begreifen«, sondern »ins Verhältnis mit gesellschaftlichen Strukturen, kollektiven Problemen und kulturellen Praxen zu setzen« (Ziemann 2011: 26). Begreift man sie als Bestandteil der sinnhaften Komplexe sozialer Praktiken, in deren Kontext sie erst ihre Bedeutung erlangen und Verwendung finden, so rücken die Wechselwirkungen und Verflechtungsprozesse zwischen Technologien und Kultur in den Vordergrund.
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Debattenkulturen im Wandel
sie sich gegenüber der Volkskultur wie auch den Aristokraten und der höfischen Gesellschaft ab. Mit den bürgerlichen (Schrift)Kulturen bilden sich spezifische Praktiken der Kritik aus, die das bürgerliche Subjekt hervorbringen, das sich in Verbindung mit der Zeitschrift zu einem bildungsbereiten Publikum formiert, das beansprucht, kritisch und kompetent mit den Künsten umzugehen. Auf diese Weise entsteht eine literarische Öffentlichkeit, die nicht nur die Figur der Autor:innen als freie Schriftsteller:innen etabliert, sondern auch die Figur der professionellen Kritiker:innen als vermittelnde Deutungsinstanz zwischen Kunst und Publikum, die sich separiert von Kunst und Wissenschaft sukzessive zu einem eigenen Beruf ausdifferenziert und mit dem beginnenden Literatur- und Buchmarkt einen institutionellen Komplex der Aufmerksamkeitsregulierung bildet. Der bürgerliche Diskurs und seine Praktiken der Kritik stellen einen Voraussetzungsdiskurs für die Institutionalisierung des Feuilletons im 19. Jahrhundert dar, auf den es sich bis heute bezieht. Kontingenzöffnung: Öffnung der herrschenden Struktur durch die bürgerliche Kultur Kulturkonflikt: Bürgertum/Adel (Urszene des modernen Kulturkonflikts) Kulturbegriff: bürgerliche Kultur/Volkskultur Feuilleton: Kunst- und Literaturzeitschriften, Moralische Wochenschriften (Vorläufer)
(2)
Die verdichtende Phase im 19. Jahrhundert: Institutionalisierung des Feuilletons Die bürgerliche Kultur setzt sich im 19. Jahrhundert durch und wird hegemonial. Mit der Institutionalisierung der Hochkultur und der Ausdifferenzierung der Künste zu einer eigenständigen Sphäre des Ästhetischen etabliert sich das Feuilleton zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst als eine Rubrik ›unter dem Strich‹ in der Zeitung, die mit der Massenpresse seit 1848 eine zunehmende Expansion erfährt, infolgedessen sich nicht nur der Journalismus ausbildet, sondern im Laufe des 19. Jahrhunderts auch das Feuilleton als eigenständiges Kulturressort. Als Teil der liberalen Tagespresse verortet es sich im Repräsentationsdiskurs der bürgerlichen Moderne und trägt als kulturelle Vermittlungs- und Deutungsinstanz unter Einbezug eines heterogenen Publikums zur Legitimation der bürgerlichen Identität und zur Ausbildung der deutschen Nation bei. Kontingenzschließung: bürgerliche Hegemonie mit Universalisierungsanspruch Kulturkonflikt: Bürgertum/(Industrie-)Proletariat Kulturbegriff : Hochkultur/Massenkultur Feuilleton: Feuilletonismus ›unter dem Strich‹ und eigenes Ressort
3. Das Feuilleton in der Spätmoderne
(3)
Die Phase der Politisierung im frühen 20. Jahrhundert: Zeitdiagnostisch-soziologisches Feuilleton Im Zuge der Ausbildung der visuellen Medien und der Massenkünste im 19. Jahrhundert erfolgt eine Neueinrichtung des kulturellen Raums, die das Feuilleton als Teil der Massenpresse nicht nur hervorbringt, sondern auch politisiert. Die Kulturund Medienindustrie sowie die technischen Vervielfältigungs- und Reproduktionsmechanismen produzieren Populär- und Unterhaltungskulturen, welche die bürgerliche Kultur und ihre Hegemonie herausfordern. Während die Massenkünste im bildungsbürgerlichen Diskurs als Bedrohung wahrgenommen und als das Andere repräsentiert werden, verlagern sich die neueren Kulturen zunehmend in das kulturelle Zentrum. Das Feuilleton wandelt sich im frühen 20. Jahrhundert zu einem Ort der politischen Auseinandersetzung, an dem die Transformationsprozesse und Kämpfe zwischen bürgerlichen und populären Kulturen verhandelt werden. Kontingenzöffnung: Bruch mit der bürgerlichen Hegemonie durch Massenkultur Kulturkonflikt: Bürgertum/Massenkünste Kulturbegriff: Hochkultur/Populärkultur Feuilleton: Diskursraum und »fortlaufender politischer Kommentar« (Reifenberg) (4)
Die Phase der Repolitisierung im späten 20. Jahrhundert: Auflösung der bürgerlichen Hegemonie Die Befragung der kulturellen Differenz zwischen den bürgerlichen und den populären Kulturen löst die traditionelle Identitätsstruktur des Feuilletons zunehmend auf und verändert auch die Form der Konflikte. Während die Debatten im Feuilleton in den 1950er und 1960er Jahren primär von Abgrenzungs- und Ausschlussprozessen der Populär- und Unterhaltungskultur geprägt ist, bilden sich in den 1970er und 1980er Jahren im Rahmen der Counter Culture alternative Popdiskurse aus, welche die kulturelle Hegemonie des Feuilletons im hochkulturellen Raum herausfordern. Die Aushandlungskämpfe im Feuilleton ereignen sich vor allem in den 1990er Jahre im Spannungsfeld von traditionell-modernistischen und postmodernistischen (Pop-)Kulturen. Zwischen Kontingenzöffnung und -schließung: Auflösung der bürgerlichen Hegemonie durch die postmodernistischen Bewegungen Kulturkonflikt: Hochkultur/Pop- und Populärkultur Kulturbegriff: in Aushandlung befindlich Feuilleton: Diskursraum im Spannungsfeld der kulturellen Heterogenität (5)
Die Phase der Neuverhandlung im 21. Jahrhundert: Versammlungsraum der kulturellen Heterogenität Die Pluralisierung in der Spätmoderne fordert die Identität und die klassischen Produktions- und Rezeptionsstrategien des Feuilletons heraus, das sich notwen-
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Debattenkulturen im Wandel
dig neu formiert. Spätestens um die Jahrhundertwende erfolgt die Integration der Popkulturen in das Feuilleton, das sich zu einem Versammlungsraum der Heterogenität der Kulturen wandelt. Die Pop- und Populärkulturen setzen sich als Ergebnis von politischen Auseinandersetzungsprozessen sukzessive durch und werden im 21. Jahrhundert selbstverständlicher Bestandteil des Zeitungsfeuilletons. Damit erfolgt ein Strukturwandel der Praktik der Kritik: Die Konfliktstruktur des Feuilletons präsentiert sich als Auseinandersetzungsprozess zwischen partikularen bzw. konkurrierenden Hegemonien im hochkulturellen Feld. Ereignen sich Konflikte immer weniger über Vereinheitlichungsstrategien und immer mehr über Differenzlogiken, stehen anerkannte Identitätskonstruktionen selbst auf dem Spiel, insofern sich Debatten im Feuilleton der Gegenwart als fortlaufende Aushandlung der Identitäten im Modus der kulturellen Selbstverständigung vollziehen. Zwischen Kontingenzöffnung und -schließung: permanent Kulturkonflikt: Essenzialismus/Pluralismus Kulturbegriff: Aushandlung/hybride Kulturen Feuilleton: Diskurs- und Versammlungsraum der kulturellen Heterogenität
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert: Exemplarische Gegenwartsanalysen
4.1
Die Volksbühnendebatte: Der Streit um das Berliner Theater
Im Feuilleton entstehen Debatten in der Regel dann, wenn kulturelle Bestände und tradierte Gewissheiten aufgebrochen und in Frage gestellt werden. Auch die Debatte um die Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, eines der wichtigsten Theater der Gegenwart im deutschsprachigen Raum, verhandelt einen Konflikt, der die Ordnung der Kulturen befragt. Die Debatte entzündet sich im Rahmen einer Personalentscheidung durch die Berliner Kulturpolitik und wird vor allem im Zeitungsfeuilleton ausgetragen. Im April 2015 verkündeten der Regierende Bürgermeister von Berlin Michael Müller und der zu diesem Zeitpunkt amtierende Kulturstaatssekretär Tim Renner einen Intendantenwechsel an der Volksbühne. Seit dem Jahr 1992 hatte sich das Theater unter der Leitung von Frank Castorf zu einem sozialen und symbolischen Ort des ästhetisch-politischen Widerstands mit postdramatischen Mitteln entwickelt.1 Die Volksbühne ist kein »Theater im klassischen Sinn, sondern immer schon ein Diskursraum, an dem Kultur und Gesellschaft in unterschiedlichen künstlerischen Formaten und sozialen Zusammenhängen verhandelt wurde« (Bogusz 2007: 248). In linker Tradition stehend öffnete Castorf das deutsche Theater für performative Praktiken aus der bildenden Kunst, bezog sich in multimedialen Inszenierungen reflexiv auf zeitgenössische Populärkulturen und übernahm Verfahren aus der Popkultur. Der Dramatiker und Regisseur René Pollesch etwa kombinierte französischen Poststrukturalismus mit brasilianischen Telenovelas; der Künstler und Filmemacher Christoph Schlingensief entwarf Politabende, die sich aus trashigen TV-Formaten speisten und in denen er als Moderator auftrat. Als »Neuerfindung
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Das sogenannte ›postdramatische Theater‹ etabliert sich in den 1990er Jahren als Gegenkultur zum klassisch-bürgerlichen Theater. »In postdramatischen Theaterformen wird der Text, der (und wenn er) in Szene gesetzt wird, nurmehr als gleichberechtigter Bestandteil eines gestischen, musikalischen, visuellen usw. Gesamtzusammenhangs begriffen.« (Lehmann 2005: 73)
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Debattenkulturen im Wandel
des Stadttheaters« (Dietze 2014: 45) stand nicht die »Pflege des kulturellen Erbes« oder das »Theater als moralische Anstalt«, in »der die aktuellen Probleme dargestellt und auf der Grundlage gemeinsamer Wertvorstellungen Lösungsvorschläge formuliert oder dem Zuschauer nahegelegt werden« (Fischer-Lichte 1999: 7) im Vordergrund, wie es für das klassisch Theater als »Ort bürgerlicher Repräsentation« (Klein/Sting 2005: 13) charakteristisch ist. Die »Ästhetik des Performativen« zielte vielmehr auf die Kunst der Grenzüberschreitung: »Sie arbeitet unablässig daran, Grenzen, die, historisch gesehen, im ausgehenden 18. Jahrhundert errichtet wurden und seitdem als ebenso unverrückbar wie unüberwindbar und in diesem Sinne als quasi natürliche, das heißt von der Natur gesetzte Grenzen galten – wie die Grenzen zwischen Kunst und Leben, zwischen Hochkultur und populärer Kultur, zwischen der Kunst der westlichen und derjenigen anderer Kulturen, denen das Konzept der Autonomie von Kunst fremd ist –, zu überschreiten und so den Begriff der Grenze zu re-definieren.« (Fischer-Lichte 2004: 356) Nach fast zwanzig Jahren sollte Castorf als Intendant durch den belgischen Kurator Chris Dercon, dem ehemaligen Direktor des Hauses der Kunst in München (2003-2011) und der Tate Gallery of Modern Art in London (2011-2016) abgelöst werden. Dercon kommt aus dem Kunstfeld und postulierte in seinem Konzept für die Volksbühne eine weitere Entgrenzung des bürgerlichen Theaters, das er mit einem interdisziplinären Ansatz zwischen Tanz, Kunst und Schauspiel zu einem »Modell für das internationale Theater des 21. Jahrhunderts« (Presse- und Informationsamt des Landes Berlin 2015) entwickeln wollte. Der global agierende Kunstkurator und Kosmopolit (vgl. Kreye 2915a) ist für Strategien bekannt, die für eine Erneuerung der Hochkultur stehen: das Erreichen eines jungen und breiten Publikums, die Verschränkung von künstlerischen Disziplinen sowie die Weiterentwicklung der Internationalisierung und der Digitalisierung. Nach Bekanntgabe der Personalentscheidung durch die Berliner Kulturpolitik bildeten sich im künstlerisch-intellektuellen Feld unterschiedliche Positionen aus, die im Feuilleton einen gemeinsamen Ort für ihre Repräsentation erhielten. Die Personalie offenbart exemplarisch sowohl die Auflösungserscheinungen der bürgerlichen Kultur in Deutschland als auch die Transformationsprozesse im hochkulturellen Feld und entfacht einen Streit, bei dem sich eine Vielzahl an Stimmen zu Wort melden, um die Entscheidung der Berliner Kulturpolitik zur Verhandlung zu bringen. Der Streit um das Theater mündete schließlich in einen Konflikt, der nicht nur die Berliner Institution und das deutsche Theater betrifft, sondern auch die Ordnung der Kultur: Was ist Hochkultur im 21. Jahrhundert? Über welche Werte und Normen bestimmt sich Hochkultur? Was ist heute ›bedeutsame‹ und ›relevante‹ Kultur, ›ernsthafte‹ und ›gute Kunst‹?
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
Die empirische Analyse der Debatte ist ausgehend von der theoretischen Rahmung von folgenden Fragestellungen geleitet: Wie wird aus einer Personalentscheidung ein Politikum? Welche medialen Praktiken werden auf welche Weise eingesetzt und welche Verfahren können identifiziert werden, die den Diskurs politisieren und einen Dissens im Feuilleton ausbilden, der die Entscheidung der Berliner Kulturpolitik herausfordert? Aufschlussreich ist die Debatte nicht allein deshalb, weil sie zentrale Mechanismen der medialen Inszenierung aufzeigt, sondern auch, weil sie eine spezifische Form von kulturellen Konflikten im 21. Jahrhundert sichtbar werden lässt, die an die Auseinandersetzungen im Feuilleton seit den 1990er Jahren anschließen, wie sie im Kapitel zuvor aufgearbeitet wurden. In der historischen Rekonstruktion wurden die politischen Auseinandersetzungen zwischen den bürgerlichen Hochkulturen und den populären (Pop)Kulturen nachgezeichnet und festgestellt, dass sich einst marginale Kulturen spätestens im 21. Jahrhundert im überregionalen Zeitungsfeuilleton etabliert haben. Das Feuilleton öffnet sich unter den Bedingungen der Pluralisierung in der Spätmoderne und wird zu einem Spannungsraum der kulturellen Heterogenität. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, auf welche Weise die kulturelle Heterogenität im Spannungsverhältnis zwischen bürgerlichen und populären Künsten im traditionell bürgerlichen Feuilleton verhandelt wird und welche Vorstellungen von Kunst und Kultur sich ausbilden und konflikthaft gegenüberstehen. Wie verhandelt das Feuilleton die neue Vielfalt der (Hoch-)Kulturen in der ›globalen Moderne‹? Welche Antagonismen aus dem kulturellen Raum werden repräsentiert und miteinander verknüpft? Welche Formen des Anderen artikulieren sich und wie werden sie im Feuilleton aufbereitet und in Beziehung gesetzt, um Dissens zu generieren? Welche kulturellen Kämpfe kommen zum Vorschein und welche Effekte haben sie für die Debattenkultur im Feuilleton? Damit einher geht die Frage: Wie bestimmt sich Hochkultur heute? Es wird geprüft, ob die traditionelle antagonistische Differenz trotz ihrer propagierten Auflösungserscheinungen auch heute noch Bestand hat und – falls ja – unter welchen Bedingungen sie mit welcher Diskursfunktion in der Volksbühnendebatte aktualisiert wird. Im Forschungsprozess haben sich drei Phasen herausgebildet, die durch einzelne diskursive Ereignisse strukturiert sind und in denen sich sowohl spezifische Konfliktstrukturen als auch mediale Strategien und Praktiken generieren, die für die Inszenierung von Dissens und die Austragung von Konflikten notwendig sind: (1) Die Phase der Aktualisierung (19. März bis 1. April 2015): Mit den Mitteln der Provokation werden affektive Reize gesetzt, die soziale Wahrnehmungsstrukturen unterbrechen und den antagonistischen Charakter der Gesellschaft reaktivieren (»EventSchuppen«). Die Ankündigung eines Intendantenwechsels an der Volksbühne am 19. März 2015 durch den Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner sowie der offene Brief des Intendanten des Berliner Ensembles Claus Peymann vom 1. April 2015 können als diskursive Ereignisse identifiziert werden, die das Feuilleton mobili-
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Debattenkulturen im Wandel
sieren und die Debatte auslösen. (2) Die Phase der Politisierung (1. bis 22. April 2015): Die Re-Artikulation im Feuilleton eröffnet einen politischen Streitraum, in dem sich prozesshaft divergierende Deutungsweisen ausbilden und zu Allianzen versammeln. Die feuilletonistische Artikulation der Dichotomie ›Ensemble- und Repertoiretheater/Event- und Projekttheater‹ und die öffentliche Stellungnahme von Renner am 16. April 2015 im Feuilleton der Zeit politisieren den Diskurs und bilden einen Dissens aus. (3) Die Phase der Aushandlung (23. bis 30. April 2015, Juni 2016): Die politische Beziehung wird in eine Auseinandersetzung überführt, die weniger von Abgrenzungs- und mehr von Aushandlungsprozessen in Anerkennung der Pluralität der Partikularkulturen im hochkulturellen Raum zwischen den Gegner:innen geprägt ist. Das Feuilleton verwandelt sich in einen agonalen Versammlungsraum, in dem sich nach der offiziellen Pressemitteilung durch die Berliner Kulturpolitik am 23./24. April 2015 zahlreiche Positionen ausbilden, die den Diskurs hybridisieren und den Konflikt aushandeln. Als Sprecher:innen aus dem künstlerischen Feld sind die Intendant:innen Chris Dercon, Amelie Deuflhard und Thomas Oberender zu nennen.
4.1.1
Phase 1: Aktualisierung: »Event-Schuppen«
Am 19. März 2015 titelt ein Beitrag im Feuilleton der Wochenzeitung Die Zeit: »Frank Castorf: Soll nach 25 Jahren schon Schluss sein?« (Kümmel 2015a: 47). Dabei handelt es sich um ein Interview, in dem Castorf seinen künftigen Abschied als Intendant an der Volksbühne ankündigt: »Die Kirche wird geschlossen werden.« Zur gleichen Zeit verkündet der seit dem Jahr 2014 amtierende Kulturstaatssekretär von Berlin, Tim Renner, in der Sendung Kulturzeit auf 3sat: »Frank Castorf wird im Jahr 2017 fünfundzwanzig Jahre an der Volksbühne Intendant gewesen sein. Wir waren der Meinung, es ist an der Zeit, auch die Volksbühne weiterzuentwickeln und auch weiterzudenken. Es bleibt dabei unbenommen, dass Frank Castorf ein wunderbarer und großartiger Regisseur ist. Als solcher wird er der Stadt auch erhalten bleiben. Nur was die Führung des Hauses angeht, da muss man irgendwann auch wieder nach vorne kucken und weiterentwickeln.« (Renner 2015a) Die Nachricht löst eine Reihe an Kommentaren vor allem im regionalen Berliner Feuilleton aus. Rüdiger Schaper nimmt am 26. März im Berliner Tagesspiegel (Schaper 2015a) Bezug auf das Interview in der Zeit (»in seiner muffig nonchalanten Art hat es Frank Castorf selbst ausgeplaudert«) und konkretisiert: »Die Verhandlungen beim Berliner Senat pendeln sich, wie man hört, auf eine kurze Zugabe ein, noch mal ein oder zwei Jahre drauf, maximal bis 2018, und dann ist Schluss.« Der Theaterkritiker bringt den Nachfolger ins Spiel – »Dafür ist Chris Dercon als
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
Nachfolger von Frank Castorf im Gespräch« – und legt bereits die Spuren für die Debatte, wenn er von einer »spektakulären Anti-Theater-Besetzung« (ebd.) spricht: »Chris Dercon ist kein Intendant, sondern ein Kurator. Aber so läuft es ohnehin in der Theaterszene. Festivals werden kuratiert, bei Stadt- und Staatstheatern lässt sich das ebenso beobachten. Weniger Ensemblepflege, mehr Event- und Biennalecharakter. Schneller Konsum. Formate statt Form.« (Ebd.) Auch Dirk Pilz bezieht sich am 26. März in der Berliner Zeitung (2015a) auf die Interviews von Castorf in der Zeit und von Renner in 3Sat und verkündet: »Frank Castorf hört auf«. Der Theaterkritiker spricht von einer »kulturpolitischen Spekulation«, ist doch »sehr schnell auch von Chris Dercon die Rede« und bringt zusätzlich Sasha Waltz, Armin Petras und René Pollesch als Nachfolger:innen ins Spiel. Manuel Brug, Musikkritiker im Bereich Klassik, bezieht sich am 29. März im Kulturteil der Welt (2015: 23) auf Schaper (»hoffen wir mal, dass es nicht stimmt, was da eben im Tagesspiegel zu lesen war«) und bezeichnet Renner als »Berufspopper« und »profilierungswütig[en] […] Staatssekretärsdarsteller«. In Bezug auf Dercon fragt er: »Aber was soll der mit einem Theater?« Die Information des Personalwechsels an der Volksbühne erreicht das überregionale Feuilleton. Am 31. März spricht Peter Laudenbach (2015a: 11) in der SZ von einer »Berliner Gerüchteküche« und verkündet: »Nun melden verschiedene Quellen, auch exklusiv der SZ zugängliche, dass der Museumsmann Dercon Nachfolger des Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf wird.« Laudenbach spricht von einem »wagemutigen Coup« und einer gewissen Radikalität, was die Umsetzung des von Renner geäußerten Ziels betrifft, die Volksbühne »neu denken« zu müssen (ebd.). Der Theaterkritiker prüft die Personalie und bewertet die »Entscheidung für Dercon« als »nicht ungeschickt«: Erhöhe sich auch »das Risiko des Scheiterns« – Theater ist »ein anderer Beruf als Ausstellungen zu kuratieren« –, so handele es sich bei der Entscheidung um ein »Neubeginn an der Volksbühne«. Auch der Begriff Event erhält Eingang: »Das Profil einer Bühne entsteht nicht durch eine Aneinanderreihung von Events.« (Ebd.) Am 31. März verkündet Pilz (2015b): »Es ist amtlich: Frank Castorf hört 2017 als Intendant der Volksbühne auf.« Ausgehend von der Annahme, dass Dercon »offenbar Renners Vorzeigekandidat« ist, entwirft Pilz ein Zukunftsszenario, in dem der »Künstler« dem »Kurator« normativ gegenübergestellt wird. Die Volksbühne gilt es »dringend [zu] verteidigen«, so Pilz, weil es Castorf »nach wie vor um den Geist des Grenzgängertums« geht, »in dem Martklogiken nicht greifen«. Unter der Intendanz von Dercon würde sich die Volksbühne hingegen in »ein Installations- und Performance-Labor« verwandeln. Dabei gehe es darum, »nicht einfach Ensembleund Repertoirebetrieb abzubauen und durch einen Projekt- und Gastspielbetrieb zu ersetzen – das wäre ein fatales, vorschnelles und marktdummes Ansinnen«.
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Debattenkulturen im Wandel
In der kuratorischen Praxis als »vorherrschende Kulturtechnik« erkennt Pilz eine Form »neoliberaler Kulturbewirtschaftung«. Lediglich der Londoner Kulturkorrespondent Alexander Menden kommentiert am 1. April im Feuilleton der SZ: »Eine interessantere, mutigere Wahl als ein beliebiger Name vom deutschen Intendantenkarussell wäre Chris Dercon allemal.« (2015: 9) Mit Menden dürfte man sich weniger darum »sorgen«, dass »da jemand ohne Theatererfahrung« die Leitung übernimmt als vielmehr, »dass sich ein Theater mit langem programmatischem Atem in den Schauplatz glamouröser Performance- und Einzelevents verwandeln könnte« (ebd.). Die wenigen Feuilletonartikel stellen ein Deutungsangebot bereit: Gegenüberstellungen wie die von Künstler:in und Kurator:in, von Ensembletheater und Performance werden durch Begriffe wie ›Event‹ mit neoliberalen Strategien verbunden und normativ vor dem Hintergrund der klassischen Dichotomie von Kunst und Ökonomie eingeordnet. Damit sind die semantischen Spuren gelegt, die den weiteren Verlauf der Debatte prägen. Zugleich bedarf es weiterer Mittel, das Ereignis zum ›Erscheinen‹ zu bringen und Öffentlichkeit für die Personalentscheidung herzustellen – das Ereignis muss zu einem Ereignis gemacht werden. Bei klassischen Medienskandalen hat der Normverstoß bereits stattgefunden und wird von den Medien qualifiziert und skandalisiert, um Sanktionen durch Aufklärung für die geleistete Verfehlung einzuleiten (vgl. Neckel 1986, Hondrich 2002, Burkhardt 2006, Ziemann 2011: 253-265, Pörksen/Detel 2012), das heißt der/die Skandalträger:in hat eine rechtliche oder ethische Grenze überschritten und damit einen Regelverstoß verursacht, das eigentlich Skandalöse – die Verfehlung – wurde durch die Figur des Skandalisierten also selbst erzeugt. Bei dem Ereignis der Personalentscheidung durch die Berliner Kulturpolitik bedarf es hingegen besonderer Verfahren der Skandalisierung. Der Normverstoß bezieht sich nicht auf eine in der Vergangenheit liegende Grenzüberschreitung, sondern verweist spekulativ auf eine kommende. Das heißt der Skandal wird weniger ›enthüllt‹ als vielmehr konstruiert, die Abweichung erst hergestellt. Vor diesem Hintergrund fragt der folgende Abschnitt nach den Verfahren, mit denen die Personalie in Szene gesetzt wird, um einen Dissens auszulösen. Wie wird aus einer solchen Personalentscheidung ein mediales Ereignis und ein Politikum? Die politische Entscheidung wird durch den Theaterregisseur Claus Peymann öffentlichkeitswirksam zur Verhandlung gebracht. Der Intendant des Berliner Ensemble adressiert am 1. April 2015 einen offenen Brief an Michael Müller, den seit 2014 amtierenden Kultursenator und Regierenden Bürgermeister von Berlin. In diesem Brief bewertet er die Personalentscheidung als einen »Super-GAU wie damals die Schließung des Schiller-Theaters« und zeichnet ein bedrohliches Bild, was die Zukunft der Volksbühne betrifft. »Die einst so ruhmreiche Volksbühne« soll »zum soundsovielten Event-Schuppen der Stadt« gemacht werden; der »Nimbus Berlins als Theaterhauptstadt Europas, neben Paris und London, wird so
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
leichtfertig verspielt«. Repräsentiert sich »die Kulturpolitik in Berlin« auch »globaluniversal«, so Peymann, ist sie in Ermangelung an »Geschichtsbewusstsein und Sachkenntnis« »doch nur tiefprovinziell« (2015). Der Verweis auf die Schließung des Schiller-Theaters im Jahr 1993 ruft kulturpolitische Konflikte im Rahmen von Einsparungs- und Schließungspolitiken in Erinnerung und verbreitet zusätzlich Unsicherheit und Sorge, wenn sie mit einem zukunftsorientierten Szenario verbunden wird: »die einst so ruhmreiche Volksbühne« als »Event-Schuppen«. Der an die Berliner Kulturpolitik adressierte Brief wird an die regionalen und überregionalen Feuilletons weitergeleitet: »Sie haben sicher nichts dagegen, wenn ich diesen Brief zugleich der Presse übergebe.« (Peymann 2015) Bei der publizistischen Form des offenen Briefs handelt es sich um einen populären Kommunikationsmodus, sofern der Sprechakt von Peymann performativ vollzogen und mit spezifischen Verfahren der Dramatisierung und Theatralisierung aufbereitet wird. Davon ausgehend wird noch einmal genauer gefragt: Welche Reize werden gesetzt, die eine Debatte im Feuilleton auslösen? Dabei wird zum einen die Metapher »Event-Schuppen« vertiefend in den Blick genommen, die auf einen alten Kulturbegriff verweist und zur Dichotomisierung des kulturellen Raums beiträgt. Zum anderen werden mit der Personalentscheidung Machtverhältnisse im künstlerischen Feld befragt, die von Peymann spektakulär in Szene gesetzt werden, um Aufmerksamkeit zu generieren und Deutungshoheit zu gewinnen.
Metapher »Event-Schuppen« In der Polemik von Peymann artikulieren sich nicht nur Wertvorstellungen vor dem Wahrnehmungshorizont einer bürgerlichen Identität, wenn etwa das Geschichtsbewusstsein und die Sachkenntnis der Provinzialität gegenübergestellt werden. Sie werden auch als Kampfmittel eingesetzt, um kulturelle Hegemonie zu erlangen und politische Interessen zu legitimieren. Die Metapher »Event-Schuppen« fungiert dabei als Reizbegriff und wird als Auslöser und diskursiver Knotenpunkt der Debatte identifiziert. Die Metapher vermittelt Nicht-Sagbares, vereinfacht komplexe Sachverhalte und bindet als »fröhliche Wortspielerei« (Armstrong 1996: 32) und »ästhetischer Genuss an sprachlicher Artistik« (Lüdemann 2004: 40) Aufmerksamkeit. Darüber hinaus wird sie als Kampfmittel eingesetzt, um Öffentlichkeit zu mobilisieren. Normativ aufgeladene Begriffe wie »Event« und »Schuppen« affizieren und regen in ihrer Mehrdeutigkeit zum Widerspruch an. Werden sie miteinander verbunden, erfahren sie eine dramatische Steigerung und tragen zur Emotionalisierung des Diskurses bei: Das Element ›Event‹ wird mit dem Element ›Schuppen‹ kontextualisiert und erfährt dadurch eine negative Konnotierung. Assoziationen wie ›Jahrmarkt‹, ›Hütte‹, ›sozialer Klub‹ oder ›Kiosk‹ stellen das Event in einen
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alltäglichen und ökonomischen Rahmen und rufen das Bild einer bedrohlichen Zukunft hervor, in der die Volksbühne als ›Nicht-Theater‹ erscheint.2 Peymann stellt die künftige Volksbühne unter der Leitung von Dercon als ›Eventkultur‹ dar, welche die bestehende ›gute‹ Kultur in ihrem Bestand bedroht. Die Metapher verweist auf die antagonistische Beziehung zwischen den bürgerlichen und populären Kulturen, die sich in der Moderne ausgebildet hat und das künstlerisch-intellektuelle Feld bis heute in Spannung hält. Hochkultur wird in dieser Vorstellung als die wertvolle Kultur begriffen, die als solche erhalten und gegen Vereinnahmungs- und Vermischungsprozesse durch Ökonomie, Politik und Massenmedien verteidigt werden soll. Das Kommerzielle und das Flüchtige, das Management und der Markt werden als kulturell Anderes platziert, das sich außerhalb der Ordnung bewegt und deshalb notwendig vom Diskurs ausgeschlossen werden soll. Damit entfacht nicht allein die Kulturkritik einen politischen Sprechraum – die Klage der Auflösung der Hochkultur durch die Event- und Unterhaltungskultur –, sondern die Anrufung eines kulturell Anderen. Die Personalentscheidung wird als Angriff für die eigene – gute Kultur – stilisiert und erzeugt so einen kollektivierenden und identitätsstiftenden Moment. Geht man mit Mouffe davon aus, dass sich politische Gruppen bilden, wenn eine Unterscheidung zwischen einem ›Wir‹ und einem ›Sie‹ durch Ein- und Ausschlüsse erfolgt (2007a: 24f.), dann setzt die Position von Peymann Identifikationspotential frei: Normativ strukturiert unterscheidet sie zwischen dem, was zur Kultur gehört und als legitim anerkannt wird (die bestehende Volksbühne unter der Leitung von Castorf), und dem, was nicht
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Der Begriff Event ist vieldeutig und wird je nach Kontext unterschiedlich ausgelegt. Im deutschen Sprachraum meint er »Erlebnis« und »inszeniertes Ereignis«, das mit Unterhaltungselementen angereichert ist und sich durch eine emotionale Bindung und eine schnelle Abfolge von Kultur- und Freizeitevents auszeichnen. Spezifisch marktstrategisch inszenierte Events nehmen den Charakter von Show und Entertainment an und sind auf finanziellen Erfolg ausgerichtet. Der Soziologe Gerhard Schulz definiert Event als »spielerische Kulisse« des inszenierten Erlebens und als Projektionsflächen für Gefühle, Wünsche und Phantasien (Schulze 1999: 7). Kritischer formuliert es Winfried Gebhardt, der für spätmoderne Gesellschaften eine »akzelerierende Eventisierung der Festlandschaft« feststellt. Die Festkultur unterliege hier Prozessen der Deinstitutionalisierung, Entstrukturierung, Profanisierung und Kommerzialisierung (Gebhardt 2000: 20). Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte sieht den Begriff umfassender: Einzelne und gesellschaftliche Gruppen wetteifern darum, »sich selbst und ihre Lebenswelt wirkungsvoll in Szene zu setzen. Stadtplanung, Architektur und Design inszenieren unsere Umwelt als kulissenartige Environments, in denen mit wechselnden Outfits kostümierte Individuen und Gruppen sich selbst und ihren eigenen Lifestyle mit Effekt zur Schau stellen. […] Eine schier endlose Abfolge von inszenierten Ereignissen weist darauf hin, dass sich eine ›Erlebnis- und Spektakelkultur‹ gebildet hat, die sich mit der Inszenierung von Ereignissen selbst hervorbringt und reproduziert. In ihr wird Wirklichkeit mehr und mehr als Darstellung und Inszenierung erlebt« (Fischer-Lichte 1998: 88f.).
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
zur Kultur gehört und als illegitim bewertet wird (die künftige Volksbühne unter der Leitung von Dercon). Für die Identifizierung eines eindeutigen Gegners wird das für die Polemik typische Verfahren der Personalisierung eingesetzt (vgl. Bentele 2010: 54-56), das eine Personifizierung des ›Anderen‹ durch die Benennung eines Gegners ermöglicht. Spricht Peymann dem für die Entscheidung mitverantwortlichen Kulturstaatssekretär die Kompetenz ab und bezeichnet ihn als »größte Fehlbesetzung des Jahrzehnts«; ein »unerfahrene[r] und in dieser Position völlig überforderte[r] Mann«, »der bisher noch kein Fettnäpfchen ausgelassen« hat – »Geschichtsbewusstsein und Sachkenntnis: Fehlanzeige« (Peymann 2015) –, dann wird Renner zur Identifikations- und Projektionsfläche im Kampf gegen Dercon, der zu diesem Zeitpunkt in Deutschland wenig bekannt ist. Bei Renner hingegen handelt es sich um eine prominentere Figur in Deutschland. Er geriet bereits im Jahr 2014 in die Schlagzeilen, als er in Berlin das Amt des Kulturstaatssekretärs übernahm und sich für die freie Szene und für »Freiräume für Kreativität und Kultur« (vgl. Balzer 2014) einsetzte. Damit steht er im Widerspruch zu seinen Vorgänger:innen, die den Erhalt der etablierten Einrichtungen im hochkulturellen Bereich fördern (vgl. Binas-Preisendörfer 2015, 2016: 321).3
Exkurs: Die Berliner Volksbühne und performative Kulturen Die Debatte um die Volksbühne legt verschiedene kulturelle Phänomene offen: Erstens wird Kultur selbst zum Gegenstand eines Konflikts und zu einem Austragungsort, an dem Machtverhältnisse verhandelt sowie Ein- und Ausschlüsse produziert werden. Zweitens offenbart das Ereignis ein hochkulturelles Feld, das nicht homogen als vielmehr plural strukturiert und von Antagonismen durchzogen ist, die um Hegemonie kämpfen. Drittens wird ein alter Kulturbegriff aktualisiert, der auf die antagonistische Leitdifferenz zwischen einer ›guten Hochkultur‹ und einer ›trivialen Populärkultur‹ verweist, die sich im späten 19. Jahrhundert ausbildet und seither in Auflösung befindet. Wie im dritten Kapitel dargelegt, agieren die beiden Sphären nicht unabhängig voneinander – historisch betrachtet installiert die Populärkultur als Grenzphänomen vielmehr ein Spannungsverhältnis zwischen den beiden Polen, das in wechselseitiger Subversion immer neue Partikularkulturen und künstlerische Stile hervorbringt – beispielsweise die Pop-Art und die Counter Culture oder die Popkultur. Spätmoderne Kulturen integrieren unterschiedli-
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Renner schrieb für Stadtmagazine über Popmusik, arbeitete beim Radio des Norddeutschen Rundfunks und veröffentlichte Bücher über die Zukunft der Musikindustrie sowie die Folgen der Digitalisierung (Renner 2004, Renner/Renner 2011). Als Musikmanager fungierte er als Präsident/CEO von Universal Deutschland und wurde später Geschäftsführer der Motor Entertainment GmbH. Im Jahr 2009 wird er zum Professor im Studiengang Musikbusiness an der Popakademie Baden-Württemberg berufen.
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che Diskurse im Spannungsfeld von Hoch- und Populärkultur und können deshalb als Hybridkulturen aufgefasst werden, die historisch gesetzte Grenzen unterlaufen und traditionelle Differenzen zunehmend auflösen. Auch das ›postdramatische Theater‹ profitiert von den postmodernen Künsten und generiert im Spannungsraum der Kulturen eine alternative Theaterpraxis. In Auseinandersetzung mit dem als etabliert empfundenen Theater und auf der Suche nach neuen Darstellungsformen im Kontext der performativen Kunst bilden sich ästhetische Theaterpraktiken aus, die bestehende Kulturbestände in Frage stellen. Performance als »performative Praxis der Aufführung« (Klein/Sting 2005: 9) meint »nicht nur eine spezifische theatrale Praxis«, sondern »eine ästhetische Praxis, die sich intermedial zwischen Theater und Tanz, Musik, Film und bildender Kunst konstituiert und sich hier als eine sehr wandelbare und innovative künstlerische Form zeigt« (ebd.: 13). Die Volksbühne öffnet sich in der Nachwendezeit der 1990er Jahre für gattungsfremde Ausdrucksmittel und entfernt sich sowohl von der mimetischen Darstellung als auch vom Werk der Darbietung konventioneller Klassiker-Inszenierungen, wie sie an den Stadttheatern re-inszeniert werden. Das Theater unter der Leitung von Frank Castorf bezieht sich in seinen multimedialen Inszenierungen reflexiv auf zeitgenössische Populärkulturen wie Fernsehshows, Werbetexte, Popsongs und Alltagsmythen, übernimmt Verfahren aus der Popkultur wie Sampling, Covern und Zitation sowie Methoden der Wissenschaft, die auf spektakuläre Weise kombiniert werden. »Zum Profil der Volksbühne gehörten aufsehenerregende Regietheaterinszenierungen, kritische Zeitstücke, Experimente mit Zuschauerpartizipation, der lockere Eventcharakter der Spektakel und der Internationalismus.« (Dietze 2014: 125)4
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Der »ästhetische Empirismus« (Bogusz 2007: 250-267) der Volksbühne ähnelt dem Produktionsprinzip der Montage, die sich durch eine Kombination verschiedener Medien wie Literatur, Video, Spielfilm, Fernsehen, Kunstwerke und Musik auszeichnet. Castorf initiierte mediale und textuelle Verschaltungen grundverschiedener Stoffe wie etwa in der Inszenierung von Fjodor Dostjewskis Roman Erniedrigte und Beleidigte, bei der russische Dramatik mit dem Hit von Bruce Springsteens Born in the USA kombiniert werden (vgl. Ertel 2008: 389-401). Der Dramatiker und Regisseur René Pollesch verbindet französischen Poststrukturalismus mit brasilianischen Telenovelas oder Arthouse-Kino mit Hollywood-Unterhaltungsfilmen und inszeniert die Diskursoper Von einem der auszog, weil er sich die Miete nicht mehr leisten konnte, bei der Dirk von Lotzow, Sänger der Indie-Band »Tocotronic«, als Komponist engagiert wird. Der Filmemacher Christoph Schlingensief entwirft Politabende wie Talk 2000, die sich aus trashigen TV-Formaten speisen und in denen er als Moderator auftritt. Der Chefszenograph Bert Neumann »überschreitet das Theaterfeld durch den Aufbau von kleinen, temporären Satellitenstationen«, indem er »sich zusammen mit dem Intendanten darauf spezialisiert, Menschen und Elemente des Urbanen: Baucontainer, Obdachlose, Groschenromane, Rockkonzerte, politische Foren, Monoblockstühle und Hochkultur skrupellos aneinander zu montieren« (Bogusz 2008: 184).
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
Dabei werden auch die klassischen Produktions- und Rezeptionsverhältnisse zwischen Werk und Ereignis, Akteur und Zuschauer:in neu ausgerichtet. Der theatrale Text basiert beispielsweise nicht allein auf einer Literaturvorlage (Werktreue), sondern vollzieht sich häufig erst »im Prozess des Spielens« (Klein/Sting 2005: 12). Das performative Theater versteht sich als eine Praxis, »die Räume erst herstellt, indem sie diese im und durch die Aufführung erst als theatrale Räume definiert« (ebd.). Damit einher geht eine Veränderung des Verhältnisses zwischen den Sprecher:innen auf der Bühne und den Zuschauer:innen, die nicht »als passiv konsumierendes und die Aufführung deutendes Publikum« (ebd.: 13) begriffen, sondern aktiv in das Schauspiel eingebunden werden, das heißt sie stellen gemeinsam die Performance her. Die Intensivierung der Face-to-Face Kommunikation führt zu einer Transformation der geltenden Ordnung der Sinne: Nicht die sprachliche Vermitteltheit und das Sehen ist die vorherrschende Rezeptionspraktik, sondern die Wahrnehmung und der Körper, das leibliche Spüren und der Affekt.5 Die Neuausrichtung der Volksbühne entfaltet experimentelle Spielräume, die sowohl subversiv wirken als auch für verschiedene Adressatenkreise anschlussfähig sind. Das Berliner Theater zeichnet sich durch »niedrige Zutrittsschwellen und eine enorme Diversifizierung der Angebote aus« (Dietze 2014: 45) und stellt ein alternatives Kulturpublikum her.6 Als »Diskursraum« (Bogusz 2007: 238) knüpft es »an die Programmatik der Popularisierung der Hochkultur an, die nun jedoch nicht mehr vorwiegend auf Arbeiter und untere Mittelschichten, sondern vor allem auf junges Publikum sowie alternative und postmoderne Milieus ausgerichtet war« (Dietze 2014: 45). »Die sich am Rosa-Luxemburg-Platz etablierende Montage aus Konzerten, Performances, Lesungen, Theateraufführungen, Tanzabenden und politischen Veranstaltungen wurde rasch zu einem Markenzeichen, das ein Publikum aus Ost und West anzog.« (Bogusz 2008: 194) 5
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Mit Fischer-Lichte handelt es sich bei der performativen Praxis um »die Möglichkeit, sich mit Unsicherheit und Destabilisierung, mit Entgrenzung und Grenzüberschreitung, mit Irritation und Verstörung spielerisch auseinanderzusetzen« (1999: 11f.). Schlingensief lässt in Chance 2002 beispielsweise »Theateraufführung, Zirkusvorstellung Freakshow, Wahlkampfveranstaltung ineinander übergehen, um in der permanenten Transformation ›Frei- und Spielräume‹ entstehen zu lassen, in denen der Zuschauer erproben kann, mit der Erfahrung instabiler, wechselnder Identitäten lustvoll und produktiv umzugehen« (ebd.: 8). Die Volksbühne erweitert nicht nur das Programm der Theaterinszenierungen und integriert Diskurse aus Theorie, Kunst, Pop- und Populärkultur, sondern sie entwickelt auch Formate außerhalb der Theaterpraxis, den sogenannten Popdiskurs mit Diskussionen und Konferenzen, um neue Zielgruppen zu erschließen: »In der Zuschauerstatistik für die Spielzeit 2013/14 hatte die Volksbühne insgesamt 180.000 Zuschauer. Aber davon haben nur 66.000, also ein Drittel, im Schauspiel gesessen. Alles andere sind Konzerte, Filmnächte, Programme in den Salons und Nebenbühnen – die sogenannten Events.« (Behrendt et al. 2016)
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Während Bogusz beim Publikum von einem »multipolare[n] Kräfteverhältnis« (2007: 236) ausgeht, spricht Diedrich Diederichsen in Bezug auf Jean-François Lyotard von einem »Patchwork der Minderheiten« (2003: 37), das »kein Zentrum« und »keine bürgerliche Mitte« hat, »um die sich die Randgruppen herumgruppieren.« »Das soziologische Wunder dieses Volksbühnenpublikums«, so der ›Pop-Theoretiker‹, ist eine verblüffende »Konstellation aus jungen Aggressiven, studentenhaft Interessierten, Exzentrikern und Hipstern, an die man sich an diesem Ort nun gewöhnen konnte«. »Sie hat das hier alltägliche Miteinander von Theaterhochkultur und digitalem Dancefloor, von Deterritorialisierungsphilosophie und Repolitisierungskultur zusammengehalten, ohne sich von reterritorialisierenden Überschriften wie ›Pluralismus‹ die Schau stehlen zu lassen.« (Ebd.) Die Berliner Volksbühne bildet unter den Bedingungen der pluralisierten Lebensverhältnisse einen alternativen Diskursraum in der Spätmoderne aus, der die kulturelle Hegemonie des etablierten Theaterfelds zunehmend in Frage stellt. Die alternativen Theaterkulturen finden Eingang in die deutschen Produktionshäuser als feste Ankerpunkte für die freie Theaterszene – etwa das Hebbel am Ufer und die Sophiensäle in Berlin, der Mousonturm in Frankfurt a.M., Kampnagel in Hamburg oder die Münchner Kammerspiele; sie wandern in die tradierten Spielformen der klassischen Theaterhäuser ein und hybridisieren sie. Damit stellen die performativen Theaterkulturen nicht nur »die Festschreibung der Künste nach Gattungen in Frage« und »destabilisieren die Grenzen zwischen populärer Kultur und Kunst« (Klein/Sting 2005: 10); sie sind auch eine ernstzunehmende Konkurrenz auf einem umkämpften Kulturmarkt geworden. Mit der Berufung von Dercon an die Volksbühne kündigt sich eine weitere Entgrenzung des bürgerlichen (Stadt-)Theaters in Richtung der performativen bzw. postmodernistischen Kulturen an. Insofern hat der Intendantenwechsel an der Volksbühne auch deshalb eine politische Dimension, weil er durch die staatliche Förderung zur Institutionalisierung der performativen Kulturen beiträgt und ihnen einen hochkulturellen Rahmen gibt bzw. sie als Hochkultur anerkennt. Das durch Renner im Interview auf 3sat geäußerte Vorhaben, die »Volksbühne weiterzuentwickeln und auch weiterzudenken« (Renner 2015a) bzw. »den nächsten Schritt« (Kreye 2015c: 11) zu gehen, provoziert Teile des herrschenden Theaterfelds und löst eine Debatte um das Theater in Deutschland aus, in dem es um Macht und kulturelle Identität geht.
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Machtverhältnisse im künstlerischen Feld
»Mir bricht buchstäblich der Angstschweiß aus, wenn ich mir vorstelle, was dieser unerfahrene und in dieser Position völlig überforderte Mann bereits angerichtet hat – und was uns noch erwartet.« (Peymann 2015) Formulierungen wie »Angstschweiß« (ebd.) im offenen Brief von Peymann verweisen auf Emotionen und damit auf Identitätskonstruktionen, die mit der Personalie Dercon angerufen werden und zur öffentlichen Intervention mobilisieren. Vor diesem Hintergrund kann die Position von Peymann, dessen Engagement am Berliner Ensemble nach 18 Jahren ebenfalls endet, auch als Ausdruck einer Furcht vor Verlust und Verdrängung gelesen werden. Die peripheren Gegenkulturen des Performancetheaters, die in Berlin, Hamburg, Frankfurt und München marginal produziert werden, setzen sich zunehmend durch und werden hegemonial. Damit steht nicht nur die Tradition einer Theaterkultur zur Disposition, über die sich Peymann sozialisiert und die er über 40 Jahre lang mitbestimmt hat, sondern auch die eigene Position im künstlerischen Feld. Die alternativen Theaterpraktiken stellen eine kulturelle Bedrohung dar und sind eine ernstzunehmende Konkurrenz im Wettbewerb um Kulturförderung und Publikum geworden. Angesichts eines drohenden Machtverlusts verlagert sich die Sprechweise von einer sachlich geführten Auseinandersetzung hin zu einem affekthaft stimulierten Dissens, in dem nicht die Logik der Argumentation im Vordergrund steht, sondern der Kampf um Hegemonie und kulturelle Identität. Die aggressive Polemik »als gröbste Form des Kommentars« (Schneider/Raue 1999: 141), die auf die Wirkung des populären Schlagworts (»Event-Schuppen«) setzt, kann auch auf die Kommunikation mit der Politik zurückgeführt werden, in der sich ebenfalls ein Machtverlust ankündigt. Peymann schreibt im offenen Brief an die Berliner Kulturpolitik: »Am 18. Dezember des vergangenen Jahres schrieb ich Ihnen einen Brief. Darin nahm ich den Vorschlag von Jürgen Flimm auf, dass Sie alle hiesigen Theaterdirektorinnen und -direktoren ins Rote Rathaus einladen, um gemeinsam mit Ihnen über die Situation der Berliner Bühnen nachzudenken. Darüber hinaus bat ich Sie um ein persönliches Gespräch, um Ihnen nach 15 Jahren Theaterarbeit in der Hauptstadt von meiner Sorge über das Fehlen jeglicher Perspektive und Vision der Berliner Kulturpolitik zu berichten.« (Peymann 2015) Im nächsten Absatz heißt es: »Einem solchen Gesprächswunsch hat Ihr Vorgänger Klaus Wowereit in der Regel innerhalb von 14 Tagen entsprochen, bei Diepgen dauerte es eine Woche, beim Bundespräsidenten Köhler maximal drei Wochen – und beim Kulturstaatssekre-
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tär Schmitz wäre es eine Frage von wenigen Stunden gewesen. Bei Ihnen war es so: Vier Wochen nach meinem Brief rief ihr Referent an und stellte Ihren Besuch im BE anlässlich einer Peymann-Inszenierung in Aussicht. Seither: Funkstille.« (Ebd.) Beschreibt Peymann sich und Castorf in einem Interview mit der Zeit als »Platzhirsche« im Berliner Theaterfeld (Kümmel 2015b: 45), weist die »Funkstille« (Peymann 2015) auf einen Bedeutungsverlust hin. Peymann wird von der neuen Berliner Kulturpolitik weder gehört noch in die Entscheidungsprozesse der Berliner Kulturpolitik eingebunden. Die Entscheidung des Personalwechsels an der Volksbühne erfährt er aus den Medien – »Mein Gesprächswunsch hat sich im Übrigen erledigt, denn inzwischen pfeifen es die Spatzen ohnehin von allen Berliner Dächern« (ebd.). Als Berater der Berliner Kulturpolitik treten zudem nicht mehr er als Intendant des Berliner Ensembles (1999-2017) und Jürgen Flimm als Intendant der Berliner Staatsoper Unter den Linden (2010-2018) auf, sondern Matthias Lilienthal (vgl. Burkhardt 2015), ehemaliger Chefdramaturg der Volksbühne (1991-1998) und künstlerischer Leiter des Hebbel-Theaters (2003-2012), zu diesem Zeitpunkt neuer Leiter der Münchner Kammerspiele (2015-2016). Die Entwicklungen machen deutlich, dass traditionelle Allianzen und Netzwerke nicht mehr greifen, wie sie sich unter dem ehemaligen Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit und seinem Kultursenator André Schmitz etabliert haben. Das ist auch deshalb von Bedeutung, weil in die Amtszeit von Renner die Personalentscheidungen über die Intendantenwechsel am Berliner Ensemble und an der Berliner Staatsoper fallen (vgl. Balzer 2014). Im Unterschied zu anderen künstlerischen Bereichen nimmt der Staat eine machtvolle Position im deutschen Theaterbetrieb ein: Er entscheidet über die Intendanzen am Stadttheater, das als öffentlich finanzierter Sektor auf staatliche Träger als maßgebende Subventionsinstanz angewiesen ist. Bogusz spricht in diesem Zusammenhang von einem »monopolistische[n] Prinzip« (Bogusz 2007: 139), das in Berlin mit seiner Vielzahl an Theatern besonders ausgeprägt ist und den Profilierungsdruck im Kampf um Anerkennung und Förderung erhöht.7 7
Vor diesem Hintergrund kann die Allianz von Peymann mit seinem »alten Intimfeind« (Schaper 2015a) und »großem Antipoden« (Kümmel 2015a: 47) Castorf verstanden werden; Kümmel spricht von »ungeahnten Allianzen« (2015d: 45). Hegemonietheoretisch betrachtet, löst sich die traditionelle Feindschaft zwischen den beiden »Platzhirschen« (Kümmel 2015b: 45) angesichts eines gemeinsamen Gegners unter den Bedingungen des Wandels im künstlerischen Feld temporär auf. »Künstlerisch sind Peymann und Castorf Antithesen. Einigkeit herrscht zwischen den beiden allenfalls über ihre jeweilige Außergewöhnlichkeit.« (Balme 2016: 9) Zugleich verbindet sie neben der Kapitalismuskritik die baldige Absetzung als Intendanten wichtiger Theaterhäuser in Berlin: Castorf war 25 Jahre als Intendant an der Volksbühne beschäftigt und Peymann 18 Jahre am Berliner Ensemble. Theaterhistorisch betrachtet, dominierten in den siebziger Jahren Kämpfe zwischen dem bürgerlichen Bildungstheater und der Avantgarde des klassischen Theaters, zu der Claus Peymann, Peter Zadek und Peter Stein gehörten, die das Theater der Nachkriegszeit modernisierten. In den 1980er Jahren be-
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Ist das »gemeinsame Gespräch« (Peymann 2015) mit der Berliner Politik nicht zu haben, setzt Peymann andere Mittel ein, um Einfluss auf die kulturpolitischen Entscheidungsprozesse zu nehmen. Beim offenen Brief handelt es sich um ein traditionelles Mittel der politischen Intervention im künstlerisch-intellektuellen Feld. Der Schriftsteller Émile Zola setzte das Format prototypisch in der Dreyfus-Affäre im Jahr 1898 ein und publizierte Briefe an den Präsidenten in der Zeitung (»J’accuse!«), um Öffentlichkeit im Namen der Gerechtigkeit herzustellen (vgl. Essig 2000: 173f.). Damit verlagert sich die Kommunikation in den Bereich des Populären, in dem spezifische Mittel der Theatralisierung wirksam werden. Peymann überführt die theatralen Mittel aus dem künstlerischen Feld in den populären Diskurs, so könnte man formulieren, um seinem Anliegen Gehör zu verschaffen. Spielt »das Theater als Kunst des Sehens und Hörens seit jeher mit den Grenzen des Sinnlichen und Sinnhaften«, so wissen auch die Teilnehmenden einer öffentlichen Debatte, »dass die Aufmerksamkeit leichter durch ein sinnliches Ereignis als durch eine sinnvolle Aussage geweckt wird« (Stegemann 2013: 24). Nicht allein die (Nicht-)Identifikation mit der Eventkritik trägt zur Mobilisierung des Feuilletons bei, sondern auch die Kraft des Auftritts, die Peymann von der Theaterbühne auf die mediale Bühne bringt. »Ein lauter Schrei, eine große Bewegung, ein buntes Kleid lassen die Blicke zu diesem Punkt wandern, ohne dass man genau sagen könnte, was einen hier erwartet.« (Ebd.) Peymann generiert Anschlusskommunikation weder über eine Neuigkeit noch über eine argumentative Auslegung des Sachverhalts, sondern über einen ›konzentrierten Schrei‹, der jenen Dissens auslöst, den das Feuilleton in seiner abwägenden Kommentierung nicht zu entfachen vermochte. Weniger die Information ist relevant als vielmehr die Aufforderung zum Streit, die mit großer Geste performativ zur Aufführung gebracht wird. Das »Aufmerksam machen« (Franck 1998: 153) im Feuilleton erfolgt in der Regel durch eine Person aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld, die bereits Autorität erworben hat und als öffentliche:r Sprecher:in anerkannt ist. Peymann verfügt über Routine im Umgang mit Medien und über das nötige »Aufmerksamkeitskapital« (ebd.), Ereignisse zum Erscheinen zu bringen bzw. den Schrei allgemein hörbar
stimmten die Konflikte um das ›postdramatische Theater‹ den Diskurs, das von Castorf an der Volksbühne im Kampf gegen den westlichen Kapitalismus und die nationale Identitätskonstruktion des bürgerlichen Theaters (›Klassikerzertrümmerung‹) praktiziert wurde (vgl. Detje 2002). »Was den einen als substanzieller Verrat an moralischen oder auch gesellschaftlichen Legitimationen eines Theaters der Aufklärung und der Menschenbildung galt, erschien den anderen als einzig adäquate Art, Theater in einer entfesselten Welt zu betreiben.« (Hiß 2013: 14)
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werden zu lassen. Als »größter Entertainer des deutschsprachigen Theaters« (Höbel 2016) zählt Peymann zu jenen, »von denen allgemein bekannt ist, wer sie sind« (Franck 1998: 118). Nach eigener Aussage will er »der Reißzahn im Hintern der Politik« und »der Stachel im Arsch der Mächtigen« (Wilton/Thissen 2007) sein und trat bereits in der Vergangenheit mehrfach durch öffentliche Interventionen in Erscheinung. Den »Reichtum an Beachtung« (Franck 1998: 153) hat er nicht allein im Theater gewonnen – als Intendant an renommierten Häusern wie dem Schauspiel Stuttgart, dem Wiener Burgtheater oder dem Berliner Ensemble –, sondern auch als »Mann des Engagements, der in den wichtigen politischen Angelegenheiten der Zeit mitmischen will« (Höbel 2016). Ist man erstmal prominent, dann wirkt die »Aufmerksamkeitsaufmerksamkeit«, so »gilt hier wie sonst, dass nichts bekannter macht, als bekannt zu sein« (Hahn 2010: 95). Dabei wird Aufmerksamkeit »nicht nur direkt durch Aufregendes entzündet«, es gilt vielmehr, »dass unsere Aufmerksamkeit durch die Aufmerksamkeit anderer, auf die wir bereits aufmerksam sind, ausgelöst wird«, so beschreibt es der Soziologe Alois Hahn. Allein dass Peymann spricht, macht also ›Eindruck‹ im Feuilleton und stellt eine Verbindung her, die den Dissens entzündet. Soll die »Prominentenäußerung« auch in den »aktuellen Medienverbund« passen und »kollektive Werte und Interessen« (Ziemann 2011: 86) bedienen, so wird die Anschlussfähigkeit nicht allein durch die Semantik oder das geschriebene Wort als vielmehr durch die Kraft der Performanz und den spektakulären Effekt seines Auftritts erzeugt. Sogenannte »Special Effects« (Stäheli 2002: 76) wie die Metapher (»EventSchuppen«) und die Strategie der Personalisierung (Renner »als größte Fehlbesetzung des Jahrhunderts«) tragen dazu bei, dass die politische Entscheidung zum Erscheinen gebracht wird. Die Position von Peymann stellt sich dabei als widersprüchlich heraus: Zum einen lehnt er das Event und das Spektakel als künstlerische Form ab, zum anderen setzt er sie im Kampf um Hegemonie ein, um die Entscheidung der Berliner Kulturpolitik öffentlichkeitswirksam zur Verhandlung zu bringen.
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Phase 2: Politisierung: »Kollaborative Kulturlandschaft«
Der offene Brief wird am 1. April 2015 über Pressemitteilungen vermittelt, in der auch die Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) (vermittelt durch den Sprecher Hagen Philipp Wolf) und Sabine Bangert, kulturpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, zu Wort kommen (vgl. Lautenschläger 2015a). Während Bangert von einer »nahezu 100-prozentige[n] Übereinstimmung« mit Peymann spricht und dem Berliner Bürgermeister Müller rät, das »Gesprächsangebot« anzunehmen (ebd.), kommt Kümmel in der Zeit zum Ergebnis, dass die Aussage von Grütters kein »Rat einer Bundespolitikerin an ihre hauptstädtischen Kollegen«
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ist, sondern eine »Drohung« (Kümmel 2015c: 45). Er zitiert aus einer Erklärung ihres Ministeriums: »Das Land Berlin sollte sich sehr genau überlegen, ob es Doppelstrukturen zu kulturellen Angeboten schafft, die der Bund aufgrund der Hauptstadtklausel im GG (Grundgesetz, Anm. d. Red.) in der Stadt schon finanziert. Außerhalb von Berlin könnte dann die berechtigte Frage entstehen, ob das hohe Engagement des Bundes noch vertretbar sei? Die Volksbühne ist ein traditionsreiches und wichtiges Theater, mit dessen Zukunft die Berliner Kulturpolitik verantwortlich umgehen sollte.« (Ebd.) Der offene Brief von Peymann und die Reaktionen aus dem Feld der Politik erreichen die Aufmerksamkeit des Zeitungsfeuilletons und entfalten einen politischen Sprechraum, in dem sich divergierende Positionen ausbilden und Allianzen zwischen Positionen hergestellt werden. Die Personalie, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht durch die Berliner Kulturpolitik offiziell bestätigt wurde, aber bereits in den Medien zirkuliert und von Peymann öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt wird, mobilisiert zunächst Stimmen vornehmlich aus dem konservativen Feuilleton. Damit stellt sich die Frage nach der Darstellung des Geschehens in den Kulturteilen der Zeitung: Wie wird der Intendantenwechsel aufgenommen und re-interpretiert? Welche Narrative bilden sich aus und welche Ein- und Ausschlüsse werden produziert? Welche politischen Strategien können festgestellt werden und welche Effekte haben sie für die Konfiguration des politischen Diskurses? Der offene Brief wird in Auschnitten publiziert wie etwa in der Rubrik »Gehört, gelesen, zitiert« im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung (2015: 13). Auch Renner reagiert in einer Pressemitteilung und weist die Vorwürfe unter anderem damit zurück, dass Peymann nur noch bedingt für Neuerungen offen zu sein scheint; zudem wolle er weder aus der Volkbühne eine »Event-Bude« machen noch das Ensemble abschaffen (vgl. Lautenschläger 2015a, 2015b). Im Feuilleton der FAZ bezieht Chris Dercon am 4. April in einem kurzen Beitrag Stellung und nennt Berlin eine »Zukunftsoption«, »aber erst einmal hat die Tate Vorrang!« (Platthaus 2015: 13); im Tagesspiegel ist am 2. April von der »Volksbühne« als »Berliner Diskussionsthema Nummer eins« die Rede – »[d]ie Lage muss schlimm sein, wenn Claus Peymann öffentlich um die Zukunft der Volksbühne bangt, den alten Intimfeind« (Schaper 2015b). Matthias Heine schreibt am 1. April in der Welt (2015a): »Wir sind mit ihm einer Meinung. Zumindest was die Beurteilung der Kompetenz des Berliner Kulturstaatssekretärs Tim Renner betrifft.« Für die Politisierung des Diskurses um die Volksbühne ist ein Narrativ zentral: Die von Peymann angerufene kulturelle Differenz wird von Theaterkritiker:innen aufgenommen und in eine Dichotomie überführt, die normativ zwischen einem traditionellen Repertoire- und Ensembletheater und einem neoliberal geführten Projekttheater unterscheidet. Das Deutungsangebot ist von einer kulturellen Logik
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flankiert, in der die Kunst der Ökonomie und dem Markt moralisch überlegen ist. Christine Dössel schreibt am 4./5. April in der SZ: »Viele denken ähnlich wie Peymann; sie befürchten, unter einem Kunstkurator, der mit Schauspiel nichts am Hut hat, könnte der Charakter der Volksbühne als eigenständiges, stilbildendes Repertoire- und Ensembletheater verloren gehen. Und läutet der Trend weg von der Schauspielbühne hin zum kuratierten, spartenübergreifenden, international festivaltauglichen Spielplan nicht den Niedergang des Theaters ein?« (Dössel 2015a: 4) In einem weiteren Beitrag für die SZ vom 18. April spricht Dössel von einer »einzigartige[n] Struktur des deutschen Theaters«, einem »Ensemble- und Repertoiretheater«, das »Identität« ermöglicht, und das durch »den internationalen Festivalund Eventzirkus« »fahrlässig aufs Spiel« (2015b: 15) gesetzt wird. Sie spitzt ihre Position weiter zu: »Die Berufung Dercons jedoch wäre mehr als nur ein Intendanten-, sie wäre ein Paradigmenwechsel. Eine Weichenstellung in Richtung jenes neoliberalen, von Outsourcing-Strategien und Marktgängigkeit beherrschten Denkens, das allmählich auch in der Kunst obsiegt.« (Ebd.) Auch der Kollege Peter Laudenbach verschärft in derselben Zeitung seine Bedenken gegenüber der Personalie. Sprach er Ende März noch von einem »Neubeginn«, der sich »mit etwas Glück« »die DNA des Castorf-Theaters zunutze machen« (Laudenbach 2015a: 11) kann, prophezeit er am 16. April einen »Paradigmenwechsel« im deutschen Theater: »Ein experimentierfreudiges Sprechtheater zu einem Ort für alles Mögliche zu machen und ein Repertoire-Theater durch das neoliberale Modell eines von einem Kurator mit Einzelprojekten bespielten Angebots zu ersetzen, käme einem Paradigmenwechsel im deutschen Theaterbetrieb gleich.« (Laudenbach 2015b: 11) Begründend führt Laudenbach den Intendanten Matthias Lilienthal an, der das Berliner Hebbel am Ufer »höchst erfolgreich zu einem nach außen hippen, in seinen inneren Strukturen und deregulierten Arbeitsverhältnissen konsequent neoliberalen Theater mit angeschlossener Agentur für diverse Stadt-Exkursionen« gemacht habe. Das sei zwar »aufregend«, »aber um den Preis einer kurzatmigen Event-Kultur«. »[D]ie prekären Arbeitsverhältnisse in der Freien Szene«, so Laudenbach, etablieren eine »nicht besonders faire Struktur«, in denen »der Kurator weit mächtiger als die meisten Künstler« sei, die er »für einzelnen Projekte engagiert und bei Nichtgefallen oder ausbleibendem Erfolg problemlos und schnell wieder fallen lassen kann«. In eine ähnliche Richtung geht Christine Wahl am 15. April 2015 im Berliner Tagesspiegel:
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»So konservativ Begrifflichkeiten wie Ensemble- und Stadttheater in globalisierten Projektkulturohren auch klingen mögen: Mit einer Aneinanderreihung eingekaufter und fremd produzierter einzelner Events ist eine nachhaltige Profilierung schwerlich zu erreichen.« (Wahl 2015) Die Theaterkritikerin betont die Subversivität der Volksbühne, die »trotz aller Krisen und Durchhänger« »widerständig gegenüber Moden und Marktförmigkeit geblieben« ist, und verbindet sie mit der Tradition des Stadttheaters, das »in Zeiten eines unbestreitbaren Gegenwartswahns, in denen das Geschichtsbewusstsein schwindet« »wieder an Wichtigkeit gewinnen« kann. Es geht zwar nicht darum, »Ensembletheater Gastspielbühnen und Häuser der Freien Szene gegeneinander auszuspielen«, dennoch »dürfe man nicht vorschnell Perspektiven und Blickwinkel auslassen und im schlimmsten Fall einem Haus den Geist austreiben« (ebd.). Bezugnehmend auf den offenen Brief von Peymann greift auch Kümmel im Feuilleton der Zeit vom 9. April den »Begriff Ensemble« auf und setzt ihn ähnlich wie Wahl im Tagesspiegel mit dem »Reichtum des deutschen Theaters« in Bezug: Er klingt zwar »tatsächlich wie etwas Traniges und Belastendes«, gleichzeitig handele es sich dabei um »ein großartig-größenwahnsinniges Langzeitexperiment, um den Aufbau eines Kollektivs, das ausschließlich von Möglichkeiten lebt, von Menschenmöglichkeiten« (Kümmel 2015c: 45). Zudem sei die von Peymann geäußerte »Ahnung wohl nicht ganz falsch, dass Tim Renner, der einst ein bedeutender Musikmanager war, auch als Kulturpolitiker ein Manager sein wird – und nicht der Kenner jener Zusammenhänge, um die es in der Politik auch geht« (ebd., Hervorheb. i.O.). Blickt man auf die Semantiken im Feuilleton, ergibt sich ein relativ eindeutiges Szenario: Die Positionen sprechen sich für das Ensemble- und Repertoiretheater als das richtige und gute Theater aus und verbinden die performativen Kulturen über Elemente wie ›Kreativität‹, ›Kurator‹, ›Festival‹, ›Projekt‹, ›Globalisierung‹, ›Neoliberalismus‹, ›Marktgängigkeit‹ und ›prekäre Arbeitsverhältnisse‹ zu einem kulturell Anderem, das durch Dercon repräsentiert und von Renner personifiziert wird. Die Volksbühne werde unter der Leitung von Dercon – dem »Museumsmann mit einem Faible für Performing arts« – zu einem »Ort für alles Mögliche«, ein Theater mit »deregulierten Arbeitsverhältnissen« (Laudenbach 2015b: 11), an dem keine »nachhaltige Profilierung« möglich sei als vielmehr »kurzatmige EventKultur« (Wahl 2015). Weiterhin bedroht das »neoliberale Modell« »das »Repertoireund Ensembletheater« in seinem Bestand und leitet einen »Paradigmenwechsel im Theaterbetrieb« (Laudenbach 2015b: 11) bzw. »Niedergang des Theaters« ein (Dössel 2015a: 4). Lediglich Felix Stephan erzeugt am 13. April auf Zeit-Online eine Differenz im Diskurs, wenn er von einer Internationalisierung der Gegenwartskunst durch Kuratoren spricht, die »das Nebeneinander der Weltanschauungen […] sehr viel klüger« verhandeln »als das Gros des anti-bürgerlich-bürgerlichen Theaters in
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Deutschland« (Stephan 2015). Im Unterschied zu Laudenbach stellt er dem »klassischen Intendanz-Hegemon« den Kurator entgegen und entwirft ein alternatives Bild, wenn er Matthias Lilienthal als jemanden beschreibt, der »das Haus Künstlern aus der ganzen Welt überließ« und ihnen »den notwendigen Raum« gab, um »ihre eigenen Ansätze und Formsprachen zu entwickeln« (ebd.). Der Diskurs wird durch ein Interview mit Peymann (Kümmel 2015b: 45) vom 9. April im Feuilleton der Zeit zusätzlich erhitzt. Der Theaterintendant wiederholt seine Aussagen aus dem offenen Brief und spricht Renner erneut die Kompetenz ab: einer, »der vom Theater nix weiß«, »keinerlei Geschichtsbewusstsein, kein Hintergrund« hat, »da können sie genauso gut mit dem Pförtner sprechen«. Peymann bezeichnet den Kulturstaatssekretär als »Umweltzerstörer« und »Lebenszwerg«, als »Nichtkenner, Nichtkönner, Nichtwisser«, als »Niete«, »leeres, nettes Hemd« und »Katastrophe«, als »jung, frisch, ein bisserl dumm, immer nett lächelnd und auf Rhythmus aus« – und fordert schließlich seine Absetzung: »Der Renner muss weg. Und der Bürgermeister muss die Kulturagenda abgeben«. Auch die Bedenken gegenüber dem performativen Theater werden intensiviert: »Leute, die vollständig auf Reizhunger und Sensationslust getrimmt wurden, stellen nun die Weichen: In dieser Stadt, die im Geist des Hau-Gründers Matthias Lilienthal schon so viel Eventschuppen besitzt, soll nun möglicherweise auch aus der Volksbühne ein Eventschuppen werden, an dem ein internationales, völlig austauschbares Gastspiel das andere ablöst.« (Ebd.) Das Ereignis des Intendantenwechsels an der Volksbühne aktualisiert eine Debatte, die seit Jahrzehnten im Schnittfeld von Wissenschaft, Politik und Theater geführt wird (vgl. Vollmer 2004): die Gegenüberstellung von klassischem Stadttheater und freien Spiel- und Produktionsstätten. Mit dem Aufkommen des »Freien Theaters« seit Mitte der 1970er Jahren hat sich eine »Parallelstruktur« (Fülle 2014: 27) in Deutschland herausgebildet, die das Theaterfeld in zwei Bereiche aufteilt: Während sich das klassische Stadttheater als »Kind der Aufklärung« (Roselt 2013: 217) im deutschsprachigen Raum traditionell über die Trias Ensemble, Repertoire und öffentliche Finanzierung bestimmt und »erheblich zur sozialen Sicherung des Schauspielberufes beigetragen« (Roselt/Weiler 2017: 226) hat, entwickelt die freie Theaterszene alternative Arbeits- und Produktionsstrukturen. »So ist die deutsche Theaterlandschaft geteilt: in das Traditionssystem der Repertoire- und Ensemble-Betriebe und das System der freien Produktionsweisen, in den die künstlerischen Modernisierungs-, Innovations- und Erneuerungsimpulse der Theaterkunst und die Anstrengungen, Publikum jenseits der bildungsbürgerlichen Schichten zu erreichen, eingehegt sind.« (Fülle 2014: 30) Ein »freier Theatermarkt« wie im Feld der bildenden Künste (vgl. Graw 2008), das mit der Ausdifferenzierung des Kunstmarktes eine Gleichzeitigkeit polyvalenter
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Distributionssysteme hervorgebracht hat, konnte sich nicht ausbilden (vgl. Bogusz 2007: 139). Zugleich etabliert sich das zeitgenössische Theater zunehmend im städtischen Raum und erreicht mit wachsender Anerkennung die freien Produktionsund Theaterhäuser als temporäre Spielstätten: »Mit der Eroberung von regelmäßiger Förderung (West-Berlin, Hamburg, Frankfurt a.M., München), der Etablierung erster Produktionshäuser (Kampnagel, Mousonturm, Pumpenhaus Münster, Theatermanufaktur/Theater am Halleschen Ufer West-Berlin, das neue TaT in Frankfurt a.M.) und ersten regelmäßigen Festivals – seit 1985 auf Kampnagel und seit 1990 auch Impulse – wurde es zum kulturpolitischen Fakt.« (Fülle 2014: 28) Die frei produzierenden Künstlergruppen sind eine Konkurrenz im Wettbewerb um Finanzierung und Kulturförderung und wandern in die klassischen Theaterhäuser ein, um sie betrieblich umzustrukturieren und ästhetisch neu zu gestalten (vgl. Fülle 2011, Schneider 2013). In diesem Sinn handelt es sich bei der Berliner Volksbühne um eine hybride Institution, die als staatlich gefördertes Stadttheater mit Ensemble- und Repertoirebetrieb performative Praktiken und Elemente aus der Pop- und Populärkultur miteinander verbindet. Unter der künftigen Intendanz von Dercon wird eine Verlagerung in den Bereich des performativen Theaters angenommen, das der freien Szene entspringt und Festivalcharakter annimmt. Der Theaterwissenschaftler Fülle stellt fest, dass »nach wie vor […] die Form des literarischen Bildungstheaters mit festem Ensemble und Repertoire-Spielplan (und den entsprechenden Produktionsweisen) in Deutschland als das Theater schlechthin« gilt (Fülle 2014: 30). In der Feuilletondebatte um die Volksbühne reproduziert sich dieses Bild, wenn die Besonderheit des Ensemble- und Repertoirebetriebs von Theaterkritiker:innen im Vergleich zu anderen Theatersystemen in Europa herausgestellt wird.8 In der normativen Gegenüberstellung von Kunst und Ökonomie einerseits und von Repertoiretheater und postdramatischem (Projekt-)Theater andererseits erfolgt eine Abwertung der neueren Theaterkulturen, die mit einer Aufwertung des klassischen Theaters einhergeht. Die Einordnung des performativen Theaters in den neoliberalen Diskurs, in der die Logik des Marktes und des Kommerzes regiert, lässt Dercon weniger als Künstler und Theatermacher und mehr als Verwalter und Manager im verschärften Wettbewerb um Aufmerksamkeit und 8
»Die Merkmale des öffentlichen deutschen Theatersystems, bestehend aus Landes-, Stadtund Staatstheatern, definieren dessen Besonderheit und weitgehende Alleinstellung, auch im Vergleich zu anderen Theatersystemen in Europa und in der Welt. Diese sind im Besonderen: Der Ensemblebetrieb; der Repertoirebetrieb und der damit eng zusammenhängende Spielplan; die wirtschaftliche Abhängigkeit von einer anteilmäßig hohen finanziellen Subvention, d.h. einem Zuschuss der öffentlichen Hand für den Theaterbetrieb; die feste Spielstätte; der Manufakturbetrieb (alle Funktionen und Gewerke unter einem Dach); der Spartenbetrieb.« (Schmidt 2017: 28)
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Profit erscheinen. Das Narrativ verfestigt sich im Diskurs durch Wiederholung und gewinnt an Deutungsmacht, um »das Feld der Diskursivität zu beherrschen, das Fließen der Differenz aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren« (Laclau/Mouffe 2012: 150). Unter dem Druck der Öffentlichkeit betritt Tim Renner die Bühne, der bisher lediglich in Presseerklärungen in Erscheinung getreten ist (vgl. Lautenschläger 2015a, 2015b), nun aber »unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck« (Kümmel 2015a: 47) steht. In seiner Stellungnahme im Feuilleton der Zeit am 16. April strebt er zunächst den sachlichen Diskurs an, um den Konflikt zu schlichten, wenn er sich mit den Behauptungen von Peymann auseinandersetzt und fragt: »Was genau ist eigentlich eine Eventbude?« (Renner 2015b: 54) Dabei dementiert er die im Feuilleton gefürchtete Reduzierung des Ensembles an der Volksbühne – »Niemand […] ist jemals auf die Idee gekommen, diese noch weiter reduzieren zu wollen« – und konkretisiert seine Vorstellungen: Die Volksbühne soll ein »Labor Europas« mit »einer klar unterscheidbaren Identität« und »zukunftsweisenden Positionierung in Berlin« werden, an dem »spartenübergreifend gearbeitet wird und die zentralen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Fragen verhandelt werden«. Dem Vorwurf der Inkompetenz entgegnet er: »Den Job als Kultursenator oder als Kulturstaatssekretär bestreitet […] niemand allein: Ein ganzes Team gestandener Kulturfachleute begleitet uns Politiker im Amt«. Neben der Differenz führt er das Gemeinsame ins Feld: »Das Theater muss Brücken in die Lebenswirklichkeit der Stadt schlagen, um relevant zu sein. Nur so kann es der ›Stachel im Fleisch der Mächtigen‹ sein, von dem Peymann zu Recht träumt.« »Entscheidend ist doch, da wähne ich mich mit dem Intendanten des Berliner Ensembles einig, dass die Kunstform Theater weiterlebt.« Zugleich lässt seine Position den Konflikt weiter anschwellen. Entscheidend für die Politisierung des Diskurses ist die von Peymann implizit ins Spiel gebrachte Dichotomie zwischen den bürgerlichen und populären Kulturen, an die Renner anschließt und die er unter anderen Vorzeichen ausbaut und als Mittel der Delegitimierung einsetzt: »Relevanz erzielt das Theater aber nicht, indem man alte Gräben zwischen sogenannten Bildungsbürgern und mit Popkultur sozialisierten Menschen aufmacht, wie es Claus Peymann zwischen sich und mir zu tun versucht. Es geht nicht mehr darum, dass die eine Kulturform E wie ernsthaft ist und die andere U wie unterhaltend. Beides diskriminiert, denn natürlich macht E-Kultur auch Spaß, genauso wie U-Kultur sehr ernsthaft sein kann.« (Ebd.) An anderer Stelle schreibt er: »Es geht schon lange nicht mehr um Wagner versus Rammstein oder Brecht versus Element of Crime. Man kann das eine gut oder den anderen schlecht finden,
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das hat aber nicht mehr mit Hoch- und Subkultur zu tun, mit Kulturgut und Gebrauchskunst, sondern lediglich mit den individuellen Wahrnehmungsperspektiven der Zuschauer und Zuhörer.« (Ebd.) Renners Gastbeitrag in der Zeit ist ambivalent: Während die sachliche Auseinandersetzung eine Kooperation anstrebt, trägt die hier artikulierte kulturelle Differenz wiederum zur Verschärfung des Konflikts bei. Renner stellt die Popkultur als alternativen Identifikationsdiskurs der bürgerlichen Kultur entgegen. Popkultur wird als kulturelle Entität wahrgenommen, die nicht nur alternative Möglichkeiten der Identitätsproduktion und Praktiken der Sinnstiftung bereitstellt, sondern auch Entgrenzungs- und Hybridisierungsprozesse im hochkulturellen Raum einleitet. »Die ständige Erneuerung durch den Underground«, so Renner in einem Interview mit der SZ, sei »in der Tat ein zutiefst popkulturelles Phänomen. Aber auf der anderen Seite ist es wiederum die Popkultur, die seit über einem halben Jahrhundert für die Erneuerung der Hochkultur sorgt« (Kreye 2015c: 11). Insbesondere an der Volksbühne habe die »von Peymann gefürchtete Verschränkung der Künste bereits seit langem stattgefunden« – von »Yoko-Ono oder Patti Smith« bis hin zur »Oper von René Pollesch mit Tocotronic« (Renner 2015b: 54). Renner verstärkt durch seine Anrufung der kulturellen Differenz die kulturelle Differenz zwischen den bürgerlichen und den populären Kulturen, die von Peymann in der Semantik der Eventkultur angelegt ist und vom Feuilleton ausgebaut wurde. Entgegen eines modernistischen Identitätsdiskurses wertet der Berliner Kulturstaatssekretär die freie Szene und die Popkultur von Tocotronic über Rammstein bis hin zum ›Pop-Theater‹9 als wertvolle Kultur auf, und sieht die Berliner Kultur nicht von »einigen kämpfenden Platzhirschen auf der Bühne der Stadt« bestimmt, als »vielmehr von einer vielfältigen, aber kollaborativen Berliner Kulturlandschaft« (ebd.). Werden Elemente wie »Popkultur«, »Freiraum«, »Freie Szene«, »Experiment«, »Labor«, »Improvisation«, »Kolloberation«, »Neues«, »Zwischennutzung«, »Underground« und die »Kunst in einem Spektrum von Gedenkkultur bis Digitalisierung« (Seidl/Siemons 2015: 36) miteinander verbunden, eröffnet sich eine alternative Perspektive in der Debatte. Die Artikulation von Popkultur als wertvolle Kultur stellt einen Gegenentwurf zum klassischeren Verständnis von Kultur dar.
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Für die Erneuerung des Theaters nennt Renner beispielhaft Kulturproduktionen aus dem sogenannten ›Pop Theater‹ wie das Künstlerkollektiv Rimini Protokoll am HAU, die Performance-Künstlerin Laurie Anderson und ihr Projekt »Oh, Supermann« oder Lars Eidinger und die »Autistic Disco« mit dem Motto »Pop is pop and art is art« an der Schaubühne. Dabei handelt es sich um eine Theaterform, die in Orientierung an das postdramatische Theater auf Polemik, Ironie, Desorientierung und Popkultur setzt (vgl. Matzke 2013, Diederichsen 2012: 114, Rakow 2017).
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Geht Renner in dem Interview mit der FAS auch davon aus, dass es das »Feindbild des Bildungsbürgers« (ebd.) im 21. Jahrhundert nicht mehr braucht, ruft er zugleich jene kulturelle Differenz an, die er selbst kritisiert: die Entgegensetzung von bürgerlicher Hochkultur und Popkultur.10 Damit verschärft er den Konflikt trotz des Verständigungsangebots, das er final abgibt: »Kaufen Sie sich mal wieder eine Hose, lieber Claus Peymann, und lassen Sie uns anschließend Essen gehen.« (Ebd.)11 Auf diese Weise verlagert sich die Debatte weg von Fragen zur künstlerischen Praxis und zur Struktur des Theaterbetriebs hin zu Fragen der kulturellen Identität. Die Dichotomisierung des (hoch-)kulturellen Feldes trägt zur Polarisierung des Diskurses bei und erzeugt eindeutig zu identifizierende Gegnerschaften durch eine Wir-Sie-Unterscheidung. Die Frontenstellung kommt auch in der Polemik von Ulf Poschardt zum Ausdruck, der den Begriff des Bildungsbürgers bereits am 9. April in der Welt aufgegriffen hat und eine Allianz mit Renner eingeht. Der Journalist und stellvertretende Chefredakteur der Welt am Sonntag setzt den Begriff des Bildungsbürgers als Mittel der Delegitimierung ein und stellt Peymann in die Tradition der bürgerlichen Moderne: »Peymann hat eine Idee vom Bildungsbürger aus dem 19. Jahrhundert und kann nicht verstehen, dass sich dieses Konzept weiterentwickelt hat. Das ist sein gutes Recht. Doch er belässt es nicht dabei. Er denunziert alle, die seiner restaurativen Milieupflege nicht entsprechen.« (Poschardt 2015: 21) Dabei bezieht er sich auf die Aussagen von Peymann im Interview in der Zeit – »Wowereit hat sich den Renner in diese Hip-Hop-Hauptstadt geholt« – und repräsentiert ebenfalls eine alternative Perspektive auf Kunst, die sich nicht über die klassische Hochkultur als vielmehr über popkulturelle Phänomene aus der freien Szene und dem Underground bestimmt:
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Die Strategie der Verteidigung der popkulturellen Identität unter Bezugnahme des Begriffs des »Bildungsbürgertums« als Abgrenzungsfolie kann zum einen auf den Angriff von Peymann und den hochkulturellen Diskurs zurückgeführt werden. Zugleich stellte bereits Jens Bisky ein Jahr zuvor in der SZ fest: »Bislang hat Tim Renner die Freunde der Hochkultur umarmt, er trenne nicht zwischen E und U. Zugleich stieß er sie mit Plattitüden über die angeblich verschlafene Buchbranche vor den Kopf, als sei der E-Book-Markt der Weltgeist, dessen Kommandowort man gehorchen müsse. Ob er gern in die Oper geht oder nicht, ist beinahe gleichgültig. Zu erwarten ist von einem Kulturstaatsekretär Respekt auch für die traditionelleren Einrichtungen und ein Bewusstsein dafür, wenn man sich besser beraten lässt.« (Bisky 2014: 11) Renner bezieht sich »auf ein Dramolett von Thomas Bernhard (›Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen‹), das in der Version von Benjamin von Stuckrad-Barre (›Claus Peymann kauft sich keine Hose, geht aber mit mir essen‹) zusätzlich Popularität gefunden hat« (Schaper 2015c).
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
»Hip-Hop als Musikgattung weiß so viel von der Gegenwart, ihren Rissen, sozialer Verwerfungen und Dramen, weil sie nicht zu Tode subventioniert und öffentlich beschmeichelt worden ist. Jede LP von Kanye West, Frank Ocean oder Tyler, the Creator hat mehr Pointen, mehr Schönheit, mehr Geist als die abgegrasten Avantgardismen einer Kunstform, die sich in den vergangenen 50 Jahren (bis auf Bob Wilson und René Pollesch) kaum weiterentwickelt hat.« (Ebd.) Weiterhin wird die Rhetorik von Peymann mit dem rechtspopulistischen Raum verbunden – »Peymanns Verachtung für Berlin als ›Hip-Hop-Hauptstadt‹ erinnert an den Gegenwartsekel der AfDler« –, was zu einer weiteren Polarisierung des Diskurses beiträgt. Die Verknüpfung verstärkt das Bild eines reaktionären Bildungsbürgers, wenn Peymann in den Kontext einer Kultur gerückt wird, die durch Exklusion in Orientierung an Tradition und Homogenität geprägt ist. Abschließend bezieht Poschardt eindeutig Stellung: »Tim Renner tut das Richtige, wenn er den feisten Revolutionsopa rausschmeißt. Es ist genug.« (Ebd.) Auch im Kulturteil der tageszeitung bilden sich Stimmen aus, welche die Dichotomie von traditionellem Ensembletheater und neoliberalem Projekttheater in der Feuilletondebatte kritisch in den Blick nehmen. Der Leiter des Kulturteils, Andreas Fanizadeh, beobachtet die Debatte und fragt am 19. April: »Nicht wenige interpretieren dies als Angriff auf ein Ensembletheater, das nach 1989 auch wegen seines Gespürs für Anderssein, Subkultur und linken Populismus so erfolgreich war: Nun also die Erneuerung des Theaters aus dem Kunstbetrieb?« (Fanizadeh 2015) Eva Behrendt fordert am 22. April in der gleichen Zeitung: »Mehr Differenz in der Theaterlandschaft wäre gut.« (Behrendt 2015) Abseits der »Hysterie« fragt sie: »Was ist dran an der Erzählung vom ›neoliberalen‹ Ausverkauf der Volksbühne – und am gefürchteten Umbau der deutschen Theaterlandschaft?« Sie stellt fest, »dass die Volksbühne […] selbst maßgeblichen Anteil an der in Deutschland bislang nur in kleinsten Dosen stattfindenden Entwicklung vom Ensembletheater zum Produktionshaus hat«. »Kurator und Ensemble« schließen sich »keineswegs aus«, so die Theaterkritikerin, weshalb es »völlig absurd« sei, »die Volksbühne postum zum Ensembleparadies zu verklären« (ebd.). Auch Jörg Häntzschel (2015a: 11) zeigt sich am 21. April in der SZ irritiert, »wie gerade die Volksbühne nun zur ›Kirche‹ (Castorf), zum Tempel einer Hochkultur stilisiert wird, die zu Asche zerfällt, sobald Unbefugte die Tore öffnen. Und wie die deutschen Intendanten für ihr Theater reklamieren, es habe sich bislang allein auf die hehre Kunst konzentriert. Dabei veranstalten sie seit Jahrzehnten selbst ›Events‹ und ›Projekte‹, interdisziplinäre Kongresse, Mitmachaktionen und ›Interventionen im Stadtraum‹. Erfunden haben diese zwischen Anspruch und Spektakel changierenden Nebensparte im deutschen Theaterbetrieb die Achtundsechziger, also Peymanns Generation. Und nirgendwo blühte sie wie an Castorfs Volksbühne«.
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Debattenkulturen im Wandel
Im Feuilleton bildet sich ein Dissens zwischen modernistischen und postmodernistischen Identitätsdiskursen aus, der weitere Sprecher aus dem Theaterfeld mobilisiert. Die »Sprechtheater-Repräsentanten der drei größten deutschen Städte« (Dössel 2015c: 11) – Joachim Lux (Thalia Theater Hamburg), Ulrich Khuon (Deutsches Theater Berlin) und Martin Kušej (Bayerisches Staatsschauspiel München) – adressieren am 19. April einen offenen Brief an den Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner, der auch die Feuilletons erreicht und zahlreich kommentiert wird (vgl. Seidler 2015, Heine 2015b, Krupp 2015, Dössel 2015c). Im Anschluss an Peymann fordern sie, dass Entscheidungen »auf der Basis einer breiten öffentlichen Debatte fallen« »und nicht handstreichartig in den Hinterzimmern der Politik« (Lux/Khuon/Kušej 2015) getroffen werden sollen. Der Vorgang sei »erschütternd, weil die Volksbühne kein maroder Sauhaufen« sei und »kein Handlungsbedarf« bestehe: »Berlin braucht keinen Aufbruch in die Zukunft, der mit der Abrissbirne daherkommt. Berlin braucht Frank Castorf und sein Künstlerkollektiv.« Am 22. April bezieht Jürgen Flimm im Kulturteil des Tagesspiegels unter dem Titel »Der Ruf Berlins steht auf dem Spiel« öffentlich Stellung. Der Intendant der Berliner Staatsoper, der bereits im offenen Brief von Peymann erwähnt wurde und dessen Amtszeit ebenfalls 2018 endet, schließt an die Eventkritik an und fragt: »Wie steht es um unseren in den letzten Jahren vielfältig aufgefächerten Kulturbegriff, und wie ist das mit dem sogenannten Event?«12 Die Mehrheit im Feuilleton spricht sich für die Bewahrung des Stadttheaters als Ensemble- und Repertoirebetrieb in Abgrenzung zum performativen Theater aus, das über Elemente wie ›Kurator‹, ›Festival‹, ›Projekt‹, ›Globalisierung‹, ›Neoliberalismus‹, ›Event‹, ›Unterhaltungsindustrie‹ und ›prekäre Arbeitsverhältnisse‹ zu einem kulturell Anderen artikuliert wird. Die Gegenseite – repräsentiert durch den Kulturpolitiker Renner – stellt wiederum die Popkultur der klassischen Hochkultur gegenüber, die mit Elementen wie ›Kreativität‹, ›Kollaboration‹, ›Freie Szene‹, ›Labor‹, ›Experiment‹, ›Internationalisierung‹ und ›Neues‹ verbunden wird. Damit
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Die performativen Theaterkulturen werden von Flimm als »eine Sorte von Inszenierungen einzelner, punktueller Ereignisse« beschrieben, als »Pilze aus sattem Kulturboden«, »gut gefördert und nachdrücklich gesponsert«; »ein Angebot wie aus dem Warenhauskatalog« mit »kurzer Halbwertzeit«, verziert mit »modischen Ornamenten«. Es ist von der »Anrufung des großen Zeitgeistes« und von »eine[r] kurze[n] Halbwertszeit« die Rede; von »Moden« einer »immer schneller drehenden Unterhaltungsindustrie«; von »Bass tönenden Humtata angesagter Tanzschuppen und Videogeflacker«; »beliebte Spektakel aller Art«, »Ödnis und Langeweile in diesen Factories und komplexe Mischformationen und ihre Agenturbetriebe«. Die Volksbühne unter Dercon als »einer, der das bunte Allerlei der Eventkultur auf seine Fahnen geschrieben« hat, wird auf dem »Schlappseil tanzen«, »wo schon das HAU akquiriert, die Berliner Festwochen, viele große und kleine Festivals«. Vor diesem Hintergrund warnt Flimm: »Die Berliner Kulturverwaltung soll gut beraten sein, sich zu besinnen. Es steht doch einiges auf dem Spiel – das kulturelle Renommee unserer Stadt, also Obacht.« (Flimm 2015)
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
stehen sich zwei politische Gruppierungen relativ unversöhnlich gegenüber: Zum einen das Lager der ›Hochkultur‹, dass die kulturellen Bestände in der Idee der europäischen Aufklärung und in Abgrenzung zu den neueren Performance-Kulturen in Stellung bringt und auf Geschichtsbewusstsein und Tradition setzt. Hierzu gehören Manuel Brug (Die Welt), Christine Dössel (SZ), Peter Laudenbach (SZ), Christine Wahl (Tagesspiegel) und Peter Kümmel (Die Zeit). Für den Theaterdiskurs sind Claus Peymann (Berliner Ensemble), Joachim Lux (Thalia Theater Hamburg), Ulrich Khuon (Deutsches Theater Berlin), Martin Kušej (Bayerisches Staatsschauspiel München) und Jürgen Flimm (Staatsoper Berlin) zu nennen. Zum anderen das Lager der ›Popkultur‹, das eine alternative Theaterkultur in der Tradition der postmodernen Künste und in globaler Perspektive im ›Regime des Neuen‹ (Reckwitz 2012: 28f.) repräsentiert. Hier ist neben Chris Dercon aus dem künstlerischen Feld und Tim Renner aus dem politischen Feld der Journalist Ulf Poschardt von der Welt zu nennen. Positionen wie die von Eva Behrendt (tageszeitung), Andreas Fanizadeh (tageszeitung), Jörg Häntzschel (SZ), Alexander Menden (SZ), Rüdiger Schaper (Tagesspiegel) und Felix Stephan (Zeit-Online) nehmen eine kommentierende Position ein und können nicht eindeutig einem Lager zugeordnet werden.
4.1.3
Phase 3: Aushandlung: »Vielheit an Hochkulturen«
Die Debatte um den Intendantenwechsel an der Volksbühne im Feuilleton wandelt sich zu einem Streit um das Theater in der globalen Moderne. Dabei wird weniger die Verständigung mit den neueren Kulturen angestrebt als vielmehr die Herstellung eines Dissenses, wenn das Ensemble- und Repertoiretheater dem performativen Theater der freien Szene dichotom gegenübergestellt wird. Die politische Strategie vollzieht sich zu diesem Zeitpunkt weniger durch ein Räsonnement über die politische Entscheidung im Ideal einer liberalen Diskursethik und mehr über die Rhetorik der Abgrenzung und neue Formen der Kollektivierung im gemeinsamen Kampf gegen die performativen Kulturen. Hat die Theaterkritik in der Vergangenheit eine zentrale Stellung in kulturpolitischen Entscheidungsprozessen eingenommen, wenn etwa Intendant:innen »hoch- oder runtergeschrieben werden« (Bogusz 2007: 114-147), bleibt sie in der Personalie Dercon wirkungslos. Das Presse- und Informationsamt des Landes Berlin teilt am 23./24. April mit: »Chris Dercon wird ab dem Sommer 2017 die Intendanz der Volksbühne Berlin von Frank Castorf übernehmen. […] Dercon wird sein künstlerisches Konzept mit internationalen Künstlerpersönlichkeiten aus Theater, Tanz, Performance und Film umsetzen. […] Chris Dercon hat die Dramaturgin Marietta Piekenbrock als Programmdirektorin berufen, um gemeinsam ein Modell für ein internationales
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Theater des 21. Jahrhunderts zu entwickeln.« (Presse- und Informationsamt des Landes Berlin 2015) Nach der offiziellen Verkündung durch die Berliner Kulturpolitik verändert sich die Debatte im Feuilleton. Während sich der Konflikt in der ersten und zweiten Phase wesentlich über eine Wir-Sie-Unterscheidung und eine relativ geschlossene Allianz gegen die postmodernistischen Theaterkulturen organisiert, erfolgt in der dritten Phase ein Aufweichen der verhärteten Fronten. Die vom Feuilleton gesetzte Dichotomie wird ausgehandelt und mit neuen Kontexten angereichert; alternative Stimmen aus dem künstlerischen Feld mobilisieren sich und brechen die emotional aufgeladene Debatte auf. Dabei steht weniger die Abwertung des Anderen und mehr die Aushandlung zwischen legitimen Gegner:innen in Anerkennung der Pluralität der hegemonialen Projekte im hochkulturellen Feld im Vordergrund. Die performativen Kulturen werden in dieser Phase weniger als Bedrohung wahrgenommen und mehr als Bestandteil einer »vielgestaltigen Form von Hochkultur«, wie es Thomas Oberender in seinem Beitrag für den Tagesspiegel am 26. April geltend macht. Der seit dem Jahr 2012 amtierende Intendant der Berliner Festspiele eröffnet eine alternative Perspektive und entschärft den Konflikt, wenn er die Vielfalt an Hochkulturen im 21. Jahrhundert in den Vordergrund stellt. »Zum neuen Spektrum unserer Hochkultur« zählt er die modernen Inszenierungen der Klassiker an Opernhäusern genauso wie das experimentelle Musiktheater und Theaterorte wie das HAU oder Festivals. »Dass diese Kultur, für die wir stehen, nun als Event- und Marktkultur vom Tisch gewischt wird, ist unfair gegenüber den Künstlern und blind gegenüber den schönen Abenteuern und Problemen der zeitgenössischen Kunst.« (Oberender 2015) Oberender bricht die vorherrschende Dichotomie zwischen dem klassischen Repertoiretheater und dem Projekttheater im Feuilleton auf: »Wieder werden klassische und exklusiv für ihr Haus produzierende Stadttheater sogenannte Eventschuppen wie dem HAU oder uns, den Berliner Festspielen, gegenübergestellt, die in nationalen und internationalen Netzwerken vor allem kooperativ arbeiten. Plötzlich erscheinen Stadttheater wieder als Bollwerke einer hehren Kunst und Arbeitswelt und wirken irgendwie auch wieder konservativ. Plötzlich wird die vermeintlich progressive Szene der freien Produzenten zu Agenten des Events und Marktliberalismus deklariert.« (Ebd.) Davon ausgehend prüft er die in der Feuilletondebatte eingesetzten Begriffe auf ihre Gegenwärtigkeit und hält einen »nostalgischen Ensemblebegriff« für »falsch«. Auch die Kritik an der Festivalisierung der Hochkultur deutet er alternativ und weist ähnlich wie Renner auf die zunehmenden Vermischungs- und Hybridisierungsprozesse im Theaterfeld hin:
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
»Aber stimmen Begriffe wie Stadttheater und konservativ oder freie Szene und Festivalisierung noch? Die ›Autorentheatertage‹, das ›FIND‹-Festival, das ›WienFestival‹, das ›Infektion‹- oder das ›Augenblickmal‹-Festival: Veranstaltet das die freie Szene? Nein, das machen (als Förderfonds- und stiftungsfinanzierte Extras) die Stadttheaterintendanten Ulrich Khuon, Thomas Ostermeier, Claus Peymann, Jürgen Flimm und Kai Wuschek, und das ist völlig in Ordnung. Die Robert-Wilsonund Peter-Stein-Events am Berliner Ensemble oder die Luigi-Nono-Millionen der Staatsoper im Kraftwerk Mitte sind Lotto- und Hauptstadtkulturfonds-Geschenke an Berlin, die auch die Touristen belohnen. Wer beklagt sich da eigentlich über was?« (Ebd.) Auch Andrian Kreye, in den Jahren von 2007 bis 2020 mitverantwortlich für das Feuilleton der SZ, erkennt in seinem Beitrag vom 25./26. April eine Polarisierung, die längst überwunden schien: »Folgt man dem Schlagabtausch, tat sich da plötzlich ein Graben auf, den beide Seiten ja eigentlich mit ihrer eigenen Arbeit längst geschlossen hatten – hier die Hochkultur, da der Pop, dazwischen das Minenfeld der beiderseitigen Ressentiments.« (Kreye 2015b: 4) Nach der Verkündung durch die Berliner Kulturpolitik am 23./24. April bilden sich im Feuilleton zahlreiche Kommentare aus, die an den bestehenden Diskurs zum Intendantenwechsel an der Volksbühne anschließen und ihn zugleich hybridisieren. Dabei mehren sich die Stimmen, die Dercon als Intendanten anerkennen. Kathrin Bettina Müller (2015) spricht in der tageszeitung vom 27. April beispielsweise von einem »interessanten Ansatz« und Svantje Karich (2015) schreibt in der Welt vom 24. April: »Wer Chris Dercon aus seiner Münchner Zeit am Haus der Kunst oder aus London kennt, weiß, dass das keine schlechte Entscheidung sein kann«. Die Kunstkritikerin wundert sich über die Angst vor dem Neuen und bewertet die Entscheidung nicht als Zerstörung, sondern als ein Merkmal von Kunst, begreift man sie als »ein hohes, aber nicht unantastbares heiliges Gut«. In eine ähnliche Richtung geht Jan Küveler in der Welt (2015) vom 24. April, der den Mythos um den Intendanten Castorf dekonstruiert und von einem »größenwahnsinnigen Kraftmeier und Frauenverschleißer« spricht: »ein egomanischer Irrer, der die Zuschauer durch acht Stunden Dostojewski-Fetzen hetzt, bis nur noch Samowar-Injektionen helfen«. Dercon findet er als »ziemlich cool« und fragt mit feuilletonistischer Leichtigkeit: »Wie wärs zur Abwechslung mit ein bisschen Krawumm?« Der Belgier wird als »Naturnetzwerker« dargestellt; »Typus Gentlemen-Seefahrer, weltläufig, mit besten Manieren und unpreußischer Gelassenheit« (Kümmel 2015d: 46). Lediglich Gerhard Stadelmaier (2015: 9), früher für das Theaterressort der FAZ verantwortlich, spricht in seiner Polemik vom 24. April von einem »neuen Dogmatiker« und »neuen Eventmanager«, der vom »Theater keine«, vom »Managen aber viel Ahnung« hat.
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Die Entscheidung selbst bezeichnet er als »gröbsten Unfug«, die zum »Misthaufen Volksbühne« passe »wie ein parfümiertes Taschentuch«. Jens Bisky erkennt in der SZ (2015: 11) vom 24. April wiederum weniger in Dercon ein Problem als vielmehr darin, »wie diese Entscheidung getroffen wurde, als Verwaltungscoup nämlich«. So seien »dramatische Rückschritte in der Kulturpolitik zu verzeichnen«; »der viel beschriebene Gegensatz Event-Schuppen oder Ensembletheater« treffe dabei »bestenfalls ein Teil des Problems« (ebd.). In der FAS nimmt Mark Siemons (2015a: 39) am 26. April die Debatte zum Anlass, das Bild Berlins als Ort der Rebellion mit der Volksbühne als »Hüterin des widerständigen Status quo der Stadt« zu korrigieren. Dabei handele es sich um ein »gewaltiges Missverständnis«: »Beide fungieren allenfalls als unaufdringliche Hintergrundkulisse für den gemütlichen Hedonismus einer internationalen Leisure-Class oder die Reaktivitätsbemühungen ehrgeiziger Start-up Unternehmen, die immer neue pfiffige Service-Ideen entwickeln.« Beschreibt Siemons die Debatte als »ein Drama der kollektiven Distinktion« (ebd.), spricht Schaper im Tagesspiegel (2015d) vom 24. April von »einer Phantomdebatte«, in der Peymann als »Clown« und »Narr« auftritt und ein »Ensembletheater verteidigt«, das »gar nicht mehr« existiere. Der Berliner Rechtsanwalt Peter Raue13 notiert im gleichen Blatt: »Dieser Renner ist neu. Er kommt nicht aus der Hochkulturbranche. Er kann also nichts verstehen von dem, was er tut. Wie einfach und undifferenziert!« (Raue 2015) Während Raue eine »Angst vor dem Neuen« erkennt, spricht Frederik Hanssen (2015) am 23. April im Tagesspiegel von einem »Graben zwischen Castorf-Apologeten und Erneuerungsbefürwortern«. Auch Amelie Deuflhard erhält Eingang in den feuilletonistischen Diskurs. Die Intendantin des Hamburger Kampnagel positionierte sich bereits in einer Pressemeldung (»Eine Entscheidung für das Stadttheater der Zukunft«, »Glückwünsch zu dieser spektakulären Entscheidung«, dpa 2015) und plädiert ähnlich wie Renner für ein »Theater als Labor« und »Ort der Erfindung, Entwicklung und Innovation« (Deuflhard 2015: 8). In ihrem Gastbeitrag in der Zeit am 29. April bezeichnet sie die Wahl erneut als ein »Coup« und kritisiert die »Untergangsrhetorik« einer »überwiegend von Männern geführten« Debatte, in der es vorrangig um »Besitzstandswahrung und Reformunwillen« durch Ausschluss (»Ensemble oder Event«) geht. Davon ausgehend fragt sie: »Woher kommt die Angst vor Internationalisierung, Interdisziplinarität, Neujustierung, wo sich doch die Welt um uns herum radikal verändert?« Deuflhard weist ebenfalls auf die Hybridisierungsprozesse zwischen dem performativen Theater der freien Szene und dem städtischen Theater
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Raue verteidigte bedeutende Künstler:innen wie Heiner Müller und Christoph Schlingensief, erstritt 2016 das sogenannte ›Berghain Urteil‹, das den Berliner Techno-Club Berghain der Hochkultur zuschreibt, und hat Chris Dercon während seiner Zeit als Intendant an der Volksbühne beraten.
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
hin und repräsentiert die Figur der:des Kurator:in als ernstzunehmende Alternative im künstlerischen Feld, wenn sie das im Feuilleton konstruierte Bild des »Kurators« als »Inbegriff des Theaterzerstörers« dekonstruiert: »Kuratieren kommt von curare und heißt ›hegen und pflegen‹. Früher hießen Kuratoren Ausstellungs- oder Festivalmacher, heute ist der Begriff aus der bildenden Kunst längst in der Theaterlandschaft angekommen. Kuratoren sind Forscher, Möglichmacher, Anreger von Projekten, Produzenten, Dramaturgen, Gesprächspartner für Künstler. Sie sind Vermittler, die das Nebeneinander von Weltanschauungen, Haltungen, Ästhetiken in einer unübersichtlicher werdenden Welt verhandeln.« (Ebd.) Schließlich kommt Dercon selbst zu Wort und vermittelt in Interviews einem breiteren Publikum seine Vorstellung von Kunst und Theater. »Das Theater ist ein Begegnungsort, wo Menschen etwas für Menschen tun können,« so der Belgier am 25./26. April im Gespräch mit Jörg Häntzschel in der SZ (Häntzschel 2015b: 17). Dabei werden seine kulturellen Bezüge deutlich: Dercon hat ein Interesse an Popmusik und findet das Berghain »wegen des ritualisierten Charakters der Zeremonie« (Kümmel 2015d: 46) interessant. Wenn er »Event« hört, denkt er an Jacques Derrida; »dass der Kurator jetzt ein Schimpfwort geworden ist«, wusste er nicht (ebd.). Ähnlich wie Deuflhard begreift er sich nicht als »Revolutionär«, sondern als »Moderator der Veränderung« (Schaper 2015e); ein »Produzent und Chefredakteur« (Häntzschel 2015b: 17) und »Freund der Kollaboration« (Kümmel 2015e: 46), der nicht an »die Genialität« der Künstler:innen glaubt als vielmehr »Leute zusammenbringt« und »gerne im Kollektiv arbeitet«. »Mein Credo ist nicht Abgrenzung, sondern Kooperation, Austausch.« (Schaper 2015e) Darauf bezugnehmend stellt Kümmel im Feuilleton der Zeit einen »Mentalitätswechsel« fest, »eine neue Tonlage, die darin besteht, Konflikte nicht persönlich zu nehmen, sondern als kollektives Projekt zu bearbeiten« (Kümmel 2015d: 46). Auch Dirk Knipphals (2015) erkennt in der tageszeitung alternative Praktiken der Kritik, die nicht von »klaren Identitäten« geleitet sind und weniger Ablehnung mobilisieren als vielmehr zur Reflexion der Öffentlichkeit anregen: »Während man am Pol Peymann […] Entlastung durch ein allgemeines Dagegensein sucht, wird ein guter Moderator der Veränderung versuchen, […] Ambivalenzen im Sinn von Selbstreflexion allgemein bewusst zu machen.« Die Debatte öffnet sich für alternative Stimmen aus dem künstlerischen Feld und lässt das Feuilleton zu einem agonalen Versammlungsraum werden, in dem Sprecher:innen aus verschiedenen Feldern – Medien, Kunst und Politik – an einen gemeinsamen Ort zusammenkommen, um die Entscheidung des Intendantenwechsels an der Berliner Volksbühne auszuhandeln. Im Unterschied zu Peymann (»Waterloo des europäischen Theaters«, Peymann 2015b: 45), zum Feuilleton (»Niedergang des deutschen Theaters«, Dössel 2015a: 4) und zu Renner (»Ist das nicht ganz stark popkultureller Kulturbegriff?«, Kreye 2015c: 11) verteidigen Stim-
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men wie Oberender und Deuflhard zwar ihre Interessen im Kampf um Hegemonie. Zugleich berufen sie sich nicht auf den einen oder anderen Pol in der Tradition der bürgerlichen Kultur und der Popkultur, sondern erkennen die Vielheit an hegemonialen Projekten im hochkulturellen Feld an. Der:die Gegner:in wird weniger als Bedrohung für die eigene Identität wahrgenommen, sondern noch stärker als Teil eines »gemeinsamen symbolischen Raums, in dem der Konflikt stattfindet« (Mouffe 2007a: 29) – das hochkulturelle Feld. Damit einher geht eine Rhetorik, die nicht von der Abwertung der:des Gegner:in bestimmt ist, sondern von der Aushandlung zwischen den Kulturen. Damit wandelt sich das Feuilleton in der dritten Phase zu einem Versammlungsraum für die neue Vielheit an Hochkulturen, die sich im Spannungsfeld zwischen den bürgerlichen Hochkulturen und den neueren Pop- und Populärkulturen historisch ausgebildet hat. Es wird zu einer öffentlichen Bühne, auf der Stimmen aus verschiedenen Wahrnehmungshorizonten im hochkulturellen Raum zusammengeführt und miteinander verbunden werden, um ihre Vorstellungen von Kunst und Kultur zu repräsentieren und miteinander auszuhandeln.14 Ein Jahr später, nachdem Dercon als designierter Intendant sein künstlerisches Konzept vorgestellt hat, entfachen erneut Konflikte um die Volksbühne im kulturellen Raum, die auch das Feuilleton erreichen (vgl. Küveler 2016, Meiborg 2016). Am 20. Juni 2016 richten 180 künstlerische und gewerbliche Mitarbeiter:innen des Theaters einen offenen Brief an die Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters: »Wir bitten das Abgeordnetenhaus und den Senat von Berlin, das Konzept des neuen Leitungsteams der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz hinsichtlich der von uns formulierten Sorge zu überprüfen.« (Volksbühne 2016)
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Exemplarisch kann auch der Beitrag »Nichts überstürzen« von Dössel in der SZ (2015d: 17) genannt werden. Im Rahmen ihres Besuchs beim Festival für internationale neue Dramatik (F.I.N.D.) lässt sie eine Vielzahl an Berliner Theaterstimmen zu Wort kommen: Der Dramaturg Bernd Stegemann spricht von »Rüpelhaftigkeit« und »Beliebigkeit«; aus der Volksbühne wird ein »Abspielort« mit »Ad-hoc-Produktionen« und »einer ganz bestimmten Form von postmoderner Abstraktion«. Auch der lettische Regisseur Alvis Hermanis spricht von einer austauschbaren »Festival-Ästhetik« zwischen Berlin, London und Wien. Die künftige Programmdirektorin der Volksbühne, Marietta Piekenbrock, erkennt wiederum eine »galoppierende Hysterie« in der deutschen Feuilletondebatte; eine »German Angst« als »Angst vor dem Unbekannten, vor Kontrollverlust«. Thomas Ostermeier von der Berliner Schaubühne kommentiert: »Unser Haus kann davon nur profitieren«; »dann werden wir eben noch mehr Zuschauer haben«, während sich die performativen Theater »im Endeffekt um dieselben Künstler streiten«. Nicolas Stemann, der bald an den Münchner Kammerspielen unter der Leitung von Matthias Lilienthal inszenieren wird, bleibt gelassen: »Mal abwarten, vielleicht wird alles nicht so schlimm.«
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
Die Mitarbeiter:innen fürchten um ihre Arbeitsplätze und fordern ein »spezifisches Theaterkonzept, ein Repertoire- und Ensemblebetrieb« sowie eine »politisch eingreifende Kunst«. Es ist von »Abwicklung« und »Ausverkauf«, von einer »irreversiblen Zäsur« und einer »globale[n] Konsenskultur« die Rede; die Berliner Kulturpolitik arbeite »im Namen einer vermeintlichen Internationalisierung und Vielfalt« »intensiv an der Zerstörung von Originalität und Eigensinn« mit. Daraufhin meldet sich Claus Peymann (2016) erneut zu Wort und fordert in einem weiteren offenen Brief vom 21. Juni an den Berliner Bürgermeister: »Einigen Sie sich mit dem Museumsdirektor Dercon […] und zahlen Sie ihn aus«, damit er nicht als »Killer der Volksbühne in die Geschichte« eingeht. Und polemisiert erneut: »Verhindern Sie, dass Ihr Schickimicki-Staatssekretär Renner sich weiterhin von Matthias Lilienthal beraten lässt«, der in kürzester Zeit die Münchner Kammerspiele »heruntergewirtschaftet« habe. Er fordert ihn auf, einzuschreiten »gegen die Zerstörung des Theaters« und die Verwandlung in eine »Eventbude«. Am 4. Juli senden Okwui Enwezor, Leiter des Münchner Hauses der Kunst, und Ulrich Wilmes, Hauptkurator am Haus, einen offenen Brief an Müller, in dem die bisherige Diskurs- und Debattenkultur kritisiert und Dercon als Kulturschaffender verteidigt wird (vgl. Kümmel 2016: 40). Zu den Unterzeichner:innen gehören namenhafte Vertreter:innen aus der Bildenden Kunst (u.a. Hans Ulrich Obrist (Serpentine Gallery London), Hortensia Völckers (Kulturstiftung des Bundes Halle), David Chapperfield (Architekt), Bernd Scherer (Haus der Kulturen der Welt, Berlin), Richard Sennett (Universität London), Alexander Kluge (Filmemacher und Autor), Adam Szymczyk (Documenta 14), Kasper König (Museum Ludwig, Köln)). Die Ereignisse entfachen den Streit um die Volksbühne neu und lösen zahlreiche Beiträge im Feuilleton aus. Die Mitarbeiter:innen der Volksbühne deuten das von Dercon vorgestellte Konzept als »globale Konsenskultur« und erkennen darin eine Bedrohung für die Künste, weshalb das Feuilleton grundsätzlicher fragt: Was ist der Konflikt? Was ist Kultur? Was ist Kunst? Blickt man exemplarisch auf das Feuilleton der FAZ, stellt Marc Siemons (2016: 49) am 27. Juni in der Sonntagsausgabe fest: »Man sollte sich nicht so sehr auf die Etiketten verlassen, wenn man herausfinden will, worum es beim jetzt heftig wieder aufgeflammten Streit um die Volksbühne in Berlin überhaupt geht. Eventkultur? Neoliberalismus?« »Für Berlin und die Berliner aber stellt sich die Frage, was sie an ihrer Volksbühne künftig gespiegelt sehen wollen: kulturelle Neupositionierungen inmitten der Globalisierung? Oder mit sich selbst kämpfende, gefährdete Gegenwartsmenschen, in denen sie sich womöglich selbst erkennen können?« Während Dercon von einer »andere[n] Form der Ökonomie« spreche und davon »Stadtentwicklung, Tourismus, Kultur und die Volksbühne« miteinander zu verbinden, sei der Volksbühne die »Wirkung auf bestimmte Zielgruppen oder gesellschaftspolitische Ziele« »völlig gleichgültig«. In Anlehnung an den Chefdramaturgen der Volksbühne, Carl Hegemann, kommt er zum Ergebnis, dass Kunst nur funktioniert, »wenn die Zone der Kunst
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autonom« bleibt. Hubertus Spiegel (2016: 9) weist in seinem Beitrag für die FAZ vom 30. Juni wiederum auf den Widerspruch hin, dass die Hochkultur »sich gerne antibürgerlich« gibt und dennoch »an dem Tropf einer öffentlichen Finanzierung« hängt, »die in einer zutiefst bürgerlichen Tradition wurzelt«.15 Angesichts feuilletonistischer Zuschreibungen wie »Hochstapler«, »Auftragskiller«, »HedgefondsManager« oder »Heuschrecke des Kulturbetriebs« – hier bezieht sich Spiegel auf die Kollegin Irene Bazinger (2016: 13) von der FAZ – fragt er: »Wie wird man in zehn Jahren über die Dercon-Debatte denken, was wird man an ihr erkennen können? Wird man staunen über die Weitsicht, mit der die CastorfFraktion Dercon auf Anhieb als Totengräber der deutschen Theaterlandschaft entlarvt hat.« (Ebd.) Die global-kosmopolitische Identität und das ›Sich-Aufeinander-Zu-Bewegen‹ von Kunst (traditionell bestimmt als rein interessenslose Tätigkeit) und Ökonomie (traditionell bestimmt als rein zweckorientierte Tätigkeit) löst Konflikte um die Ordnung der Kultur aus (vgl. Mouffe 2007a: 126-140, Paoli 2017), die im Streit um die Volkbühne zum Ausdruck kommen. Im Unterschied zur ›alten Volksbühne‹, die einem autonomen Kulturbegriff in Tradition der französischen Bohème folgt, spricht Dercon von Kultur als »Wirtschaftsfaktor«, von »Change Management«, »Sponsoring« und »Start-Ups« (Schaper 2015e) und repräsentiert ein postmodernistisches Künstlersubjekt, in dem sich zuvor getrennte Diskurse vermischen und das über kein klar zu definierendes Außen mehr verfügt.16 Die Entgrenzung der postmodernistischen Künste, die von der Figur Dercon repräsentiert werden, sind Anlass
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Das Stadttheater ist ein staatlich subventionierter Kulturbetrieb und an Profitorientierung gebunden. »Gleichzeitigkeit künstlerischen Erfolgs und klingender Theaterkasse ist unabdingliche Grundlage für die staatliche Förderung – ohne diese gibt es keine Theater« (Bogusz 2007: 126). Der »alte Kulturbegriff« (Raddatz 2016: 227) der Volksbühne steht in Tradition der französischen Bohème des 19. Jahrhunderts, die sich in Abgrenzung zur Bourgeoisie an der künstlerischen Autonomie und der Zweckfreiheit abseits staatlicher und marktwirtschaftlicher Instanzen orientiert. Die französische Bohème konstituierte sich im Bruch zwischen der höfisch-universalistischen und der bürgerlich-zweckorientierten Lebensführung und knüpft an ein Ethos an, das eine Neudefinition der Künstler:innenfigur ermöglichen soll. In dieser Perspektive generiert sich das professionelle Ethos von Künstler:innen durch eine systematische Abweichung von utilitaristischen Produktions- und Lebensverhältnissen, die eine gesellschaftliche Ausnahmestellung kennzeichnet und ihn von anderen Bereichen unterscheidet. »Es fußt auf der festen Überzeugung, dass die künstlerische Anerkennung nur dann Berechtigung findet, wenn sie sich deutlich von den staatlichen und marktwirtschaftlichen Instanzen und Wertvorstellungen abgrenzt.« (Bogusz 2008: 188) Castorf spricht im Interview mit der Zeit von einem »Theater als freie, nicht an Zwecke gebundene, mit viel Spaß betriebene Arbeit« (Kümmel 2015a: 47). Diese Position wurde durch den Slogan »No Service« des Chefbühnenbildners Bert Neumann der Volksbühne versinnbildlicht.
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
zahlreicher Kulturanalysen. Hatten Frank und Felix Raddatz (2015: 48) in der FAS ein Jahr zuvor die Internationalisierung des Theaters problematisiert – »Der beabsichtige Sprung vom Lokalen zum Globalen ist ein Moment der allgegenwärtigen Standardisierung und Homogenisierung« –, stellt Diedrich Diederichsen in einem Interview mit dem Tagesspiegel einen Kulturkampf innerhalb der Linken fest: »Symptomatisch war, welche Fraktionen in diesem Kulturkampf aufeinandertrafen: deutschsprachige, sozialistisch-provinzialistische Gentrifizierungsgegner gegen die global und postkolonial orientierten Queerfeministen, denen vorgeworfen wird, das Geschäft des Neoliberalismus zu betreiben.« (Wildermann 2017)17 Dercon selbst spricht von einer deutschen Theaterszene, die er als »regressiv« empfindet und einer Kunst, die »nicht innovativ« als vielmehr »provinziell« ist (Karich 2016: 21). »Jetzt weiß ich, dass es gewisse Theaterkritiker und Theatermacher gibt, die in Deutschland nur deutsches Theater machen wollen für deutsche Städte und deutsche Kultur,« so Dercon, der sich als »nicht identitätssüchtig« begreift »wie so viele Theatermacher in Deutschland«. Wunderte sich die Autorin, die hier für das Feuilleton der Welt zitiert, im April 2015 in der gleichen Zeitung noch über die Angst vor dem Neuen im Feuilleton, so wird ihr nun »ganz mulmig zumute, wenn man ihn, den Belgier reden hört, wie er die Deutschtümelei der Volksbühne kritisiert. Seine globale Perspektive feiert«. Der Konflikt um den Intendantenwechsel an der Volksbühne bleibt dauerhaft in den Medien präsent. Es sind einzelne Ereignisse wie offene Briefe, Manifeste oder Online-Petitionen aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld, die immer wieder Reaktionen im Feuilleton generieren, ohne jedoch einen Dissens auszulösen. Wie Moritz von Uslar im Feuilleton der Zeit schreibt: »Die großen Feuille17
Das Interview erscheint anlässlich eines Beitrags von Diederichsen in der Kunstzeitschrift Texte zur Kunst, in dem er von einem »Kulturkampf« spricht, der »zugleich Verfeinerung und Schwundstufe einer Spaltung der Nachwende-Linken« zum Ausdruck bringt. Während der eine Flügel traditionell »in eine zuvörderst antirassistische, anti-antisemitische, feministischpostkoloniale Richtung« geht, bestimme sich die andere als »eine eher zuvörderst gentrifizierungskritische, zuweilen antiimperialistische, sozial und lokal argumentierende Linke, die mit den Traditionen eines Arbeiterklasse-Marxismus nicht vollständig brechen wollte und von Touristen genervt ist« (Diederichsen 2017). »Wenn die Berliner Linke sich in diesen Jahren artikulierte, hat sie stets für (auch kulturell) offene Grenzen, aber gegen deregulierten globalen Kapitalfluss argumentiert, sie war antinationalistisch, aber gegen Globalisierung,« so der Kulturwissenschaftler. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Deutung von Oberender (2015) im Tagesspiegel: »Die Kategorien des gegenwärtigen Konflikts sind nicht mehr die des alten Kulturkampfs zwischen progressiv und konservativ. Sondern im Spannungsfeld zwischen territorialen Institutionen und einer neuen Netzwerkwelt […].« In eine ähnliche Richtung geht Aram Lintzel (2015a) in der tageszeitung, der auf das Interview von Dercon in der Zeit (»horizontal leadership«, Kümmel 2015e: 46) Bezug nimmt und einen »finalen Kulturkampf zwischen dem Totalitären und dem Vernetzten« erkennt.
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tons sind geschrieben, die Wortschlachten geschlagen.« (2016: 37) Während »große Teile des Volksbühnen-Ensembles Front machen gegen Dercon« (Müller 2016: 4) und »mittlerweile eine handfeste anti-Chris-Dercon-Stimmung auszumachen« ist (»Anti-Dercon-Hysterie«, von Uslar 2016: 37), zeigt sich das Feuilleton primär als Reflexionsinstanz. Es entstehen Grundsatztexte und Kommentare, in denen neben den Feuilletonist:innen auch Wissenschaftler:innen, Künstler:innnen und Intendant:innen zu Wort kommen, letztlich die Beteiligten selbst: Castorf und Dercon. Dabei entspinnen sich Mikrodebatten, in denen Stimmen aus der Wissenschaft im gemeinsamen Raum des Feuilletons aufeinander Bezug nehmen und marginale Themen Sichtbarkeit gewinnen. Beispielsweise reagiert der Philosoph Christoph Menke auf einen Beitrag von Hannah Lühmann in der Welt »Warum die Berliner Volksbühne sterben muss« (2016a) und verteidigt die Volksbühne in der FAZ als einen Ort, an dem die Grundfrage der ästhetischen Moderne gestellt wird und die, »wenn es konsequent durchgeführt wird, die Kraft hat, für den Moment seines Vollzugs die Welt zu verändern« (Menke 2016: 13). In der SZ werden prekäre Arbeitsbedingungen und Machtstrukturen am Theater befragt wie etwa im Beitrag »Unter Übermenschen« von Christopher Balme (2016: 9), Theaterwissenschaftler an der Ludwig-Maximilian-Universität München, der von einer »Herrschaftsform des Intendanten« und von »Machtbefugnisse[n]« spricht, »die an Theatern weltweit ohne Vergleich sind«. Darauf reagiert Amelie Deuflhard und legitimiert erneut die Figur des »Kurators« als »Forscher, Komplizen der Künstler, Möglichmacher, Anreger oder Berater von Projekten«. Ähnlich wie Balme (»Die Berliner Debatte vermittelte den Eindruck, als stünde das ganze System auf dem Spiel«) stellt die Intendantin vom Hamburger Kampnagel fest: »Es geht um das System, es geht um das deutsche Stadttheater.« (Deuflhard 2016: 10) Daran knüpft sowohl das Interview mit Rolf Bolwin vom Deutschen Bühnenverein (»Ein Theater ist keine Schraubenfabrik«, Stallknecht 2016: 12) als auch der Beitrag »Scheitern dürfen« des Chefdramaturgen und stellvertretenden Intendanten des Münchner Residenztheaters, Sebastian Huber (2016: 20), im Feuilleton der SZ an. Eine Debatte, wie sie im Frühjahr 2015 über einen Zeitraum von fast zwei Monaten geführt wurde, wiederholt sich jedoch nicht. Weder die internen Angriffe der Mitarbeiter:innen der Volksbühne im April 2016 noch die Pressekonferenz im Mai 2017, bei der Dercon und sein Team das neue Programm für die kommende Spielzeit an der Volksbühne vorstellen, oder die Ablöse von Renner als Berliner Kulturstaatssekretär durch Klaus Lederer (Die Linke) im November 2016, der die Diskussion um Dercon neu entfacht, lösen eine Debatte im Feuilleton im Sinne eines ›agonalen Bezugsystems‹ aus. Unter dem neuen Kultursenator erfolgt im April 2018 schließlich die Absetzung von Dercon als Intendant an der Volksbühne.
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
4.1.4
Mediale Strategien und Kulturkonflikt
Die globalen Dynamiken fordern ein neues Kulturverständnis im 21. Jahrhundert heraus, das in der Volksbühnendebatte zur Verhandlung kommt. Werden in den Kulturteilen der überregionalen Zeitungen – etwa der SZ, der FAZ und der Zeit – unterschiedliche Vorstellungen von Kunst und Kultur repräsentiert bzw. Ein- und Ausschlüsse produziert, wandeln sie sich zu politischen Möglichkeitsräumen, in denen kulturelle Grenzen ausgelotet werden. Die Analyse der Volksbühnendebatte identifiziert die verschiedenen Verweisketten aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld, die im Feuilleton einen temporären politischen Raum ausbilden, um den Signifikanten ›Hochkultur‹ exemplarisch am Theaterdiskurs und am Ereignis der Personalentscheidung der Berliner Kulturpolitik zu verhandeln. Waren es zu Beginn der Debatte im April 2015 vornehmlich kulturkonservative Stimmen aus dem Feuilleton, die Dissens im Anschluss an die Eventkritik von Peymann generieren und die Dichotomie zwischen dem ›Repertoire- und Ensembletheater‹ und dem ›Performance- und Projekttheater‹ als zentrales Narrativ im Diskurs fixieren, um sich gegen die kulturpolitische Entscheidung in Stellung zu bringen, so verschärft Renner den Konflikt, wenn er in seiner öffentlichen Stellungnahme die kulturelle Differenz zwischen der Popkultur und der bürgerlichen Kultur anruft. Dabei handelt es sich um eine Zuspitzung, die wiederum neue Sprecher:innen aus dem ›traditionellen Sprechtheater‹ in den Diskurs eintreten lässt, wie etwa Jürgen Flimm von der Berliner Staatsoper oder die Theaterintendanten der großen Spielhäuser in Hamburg, Berlin und München, die einen offenen Brief an den Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner verfassen und die Weiterbeschäftigung von Castorf fordern. Damit bildet sich eine legitime Gegnerschaft im Spannungsfeld von modernistischen und postmodernistischen Identitätsdiskursen im Feuilleton aus, die in der dritten Phase eine Aufweichung erfährt, als alternative Stimmen aus dem künstlerischen Feld wie Oberender und Deuflhard in den Diskursraum eintreten und ihn heterogenisieren. Die Auseinandersetzung ist in dieser Phase weniger von Prozessen der Abwertung und Abgrenzung und mehr von einer Anerkennung der Pluralität an Partikularkulturen im hochkulturellen Feld geprägt. Die ›neue Vielheit an Stimmen‹ überführt den Dissens im Feuilleton in eine gemäßigtere Form und löst ihn dadurch letztlich auf.18
Mediale Strategien der Politisierung Ausgehend von der empirischen Analyse und vor dem Hintergrund der theoretischen Rahmung können für die Volksbühnendebatte resümierend verschiedene 18
Die Debatte wurde später in einem aufwendigen Rechercheprojekt und einem Team von NDR, rbb und SZ mit dem Titel »Die 255 Tage von Chris Dercon. Chronologie eines Desasters« aufbereitet (Goetz/Lautenbach 2018).
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mediale Strategien der Politisierung festgehalten werden, die eine politische Öffentlichkeit herstellen und im Folgenden näher erläutert werden: In-BeziehungSetzen und Versammlung, Provokation und diskursiver Knotenpunkt, Dissens und Iteration sowie Affizierung und Mobilisierung. In-Beziehung-Setzen und Versammlung. Die diskursive Praktik des In-BeziehungSetzen unterscheidet das Feuilleton vom klassischen Journalismus und kann als zentrale politische Strategie von Debatten geltend gemacht werden. Zum einen reagieren die Feuilletons aufeinander, korrigieren sich wechselseitig und lassen so ein ›agonales Bezugssystem‹ im öffentlichen Diskurs entstehen, das im Format der Debatte sichtbar wird. Zum anderen werden Stimmen aus unterschiedlichen Wahrnehmungskulturen und Feldern miteinander verbunden – Medien, Kunst und Politik –, was einen demokratischen Streit möglich macht. Neben Monika Grütters und Tim Renner aus dem politischen Feld, sind es Frank Castorf, Chris Dercon, Amelie Deuflhard, Jürgen Flimm, Ulrich Khuon, Martin Kušej, Joachim Lux, Thomas Oberender und Claus Peymann aus dem künstlerischen Feld, die in den Diskurs eintreten und öffentlich Stellung beziehen. Im feuilletonistischen Diskurs bildet sich ein agonaler Versammlungsraum aus, in dem sich Sprecher:innen aus verschiedenen Wahrnehmungskulturen miteinander in Bezug setzen und die Vielfalt der Hochkulturen ausgehandelt wird. Als Debattenraum bildet es Pluralität nicht bloß als Vielheit ab, als harmonisches Nebeneinander unterschiedlicher Weltanschauungen, sondern initiiert eine konflikthafte Aushandlung zwischen alternativen Programmen, in der kulturelle Grenzen befragt und ausgehandelt werden. Zugleich ist der Debattenraum begrenzt: Es erhalten ausschließlich Vertreter:innen der institutionalisierten Hochkultur Eingang, aus dem performativen Theaterbereich sind es lediglich Amelie Deuflhard im überregionalen Feuilleton der Zeit und Thomas Oberender im Tagesspiegel. Provokation und diskursiver Knotenpunkt. Provokationen wie die Metapher »EventSchuppen« im offenen Brief von Peymann erweisen sich dabei als Katalysatoren von Dissens: Sie entzünden Debatten und fungieren als diskursive Knotenpunkte, das heißt Fixpunkte, um die herum sich die Sprecher:innen versammeln und in Beziehung setzen, um eine politische Ordnung zu etablieren, die über Ausschlussmechanismen fungiert. Mit Mouffe generieren sie »affektive Kräfte, die am Ursprung der kollektiven Formen von Identifikation« stehen (2007a: 34f.). »Mobilisierung erfordert Politisierung, aber Politisierung kann nicht ohne konfliktvolle Darstellung der Welt mit gegnerischen Lagern geben, mit denen die Menschen sich identifizieren können; einer Darstellung der Welt, die die politische Mobilisierung von Leidenschaften innerhalb des Spektrums des demokratischen Prozesses zulässt.« (Ebd.: 35)
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
Die Aufmerksamkeit erregende Metapher »Event-Schuppen« trägt nicht nur zur Popularisierung von komplexen Verhältnissen und zur Unterhaltung bei, sondern ruft auch ein kulturell Anderes an und teilt den Diskurs in zwei Lager auf: Wir und die Anderen. Die Verbindung der Elemente ›Event‹ und ›Schuppen‹ verweist auf den historisch konstituierten Antagonismus zwischen der bürgerlichen und der populären Kultur und lässt die künftige Volksbühne als ›Nicht-Theater‹ erscheinen. Damit gibt sie dem Ereignis des Intendantenwechsels eine politische Kontur und stellt Identifikationsflächen bereit, an die angeschlossen werden kann – ein normativ strukturierter Bedeutungshorizont, der vorgibt, was denk- und sagbar ist, mit dem man sich identifizieren kann oder nicht. Fehlt ein gemeinsamer Bezugspunkt, verlieren sich die einzelnen Positionen im Diskurs, hinterlassen ihre Spuren, ohne als zusammenhängendes Geflecht und Differenzsystem sichtbar und damit verhandelbar zu werden. Anders formuliert, ohne einen Fixpunkt stellen die Deutungsangebote ein loses und zerstreutes Nebeneinander im Diskurs dar und erzeugen weder Kollektive noch eine Konfliktstruktur, die als Debatte sichtbar wird und die politische Entscheidung zur Verhandlung bringt. Zudem wird der Konflikt personifiziert: Das ›kulturell Andere‹ wird der Figur von Tim Renner zugeschrieben, der – eindeutig als Gegner identifiziert – zur Projektionsfläche im Kampf gegen die performativen (Pop-)Kulturen wird. Dissens und Iteration. Die Provokation entfaltet einen antagonistischen Spannungsraum zwischen den traditionellen Hochkulturen und den neueren Pop(ulär)kulturen, innerhalb dessen sich divergierende Positionen ausbilden und zu Allianzen versammeln. Die Mehrheit im Feuilleton spricht sich für das klassische Stadttheater in Abgrenzung zum performativen Theater aus, das über Elemente wie ›Kurator‹, ›Festival‹, ›Projekt‹, ›Globalisierung‹, ›Neoliberalismus‹, ›Event‹, ›Unterhaltungsindustrie‹ und ›prekäre Arbeitsverhältnisse‹ zu einem ›kulturell Anderen‹ artikuliert wird. Die Wir-Sie-Unterscheidung mobilisiert die Gegenseite – repräsentiert durch den Kulturpolitiker Renner –, der die Popkultur der klassischen Hochkultur gegenüberstellt, die mit Elementen wie ›Kreativität‹, ›Kollaboration‹, ›Freie Szene‹, ›Labor‹, ›Experiment‹, ›Internationalisierung‹ und ›Neues‹ verbunden wird. Damit stehen sich zwei Lager gegenüber: Die modernistischen Identitätsdiskurse mit der Forderung der Bewahrung von kulturellen Beständen in der Idee der europäischen Aufklärung und die postmodernistischen Identitätskulturen im ›Regime des Neuen‹ in globaler Perspektive. Im Prozess der Artikulation kommt eine spezifische Form der Iteration zum Vorschein, die als produktive und sich selbstverstärkende Kraft von Dissens geltend gemacht werden kann. Die widersprüchliche Logik der Stabilisierung und Destabilisierung, die im Begriff der Iteration angelegt ist, erweist sich als konstruktiv für die Herstellung von Debatten. Zum einen fixiert sich das Narrativ »Sprech- und Ensembletheater/performatives Projekttheater« in der Wiederholung im Diskurs
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und gewinnt an Deutungsmacht, um »das Feld der Differenzen zu zähmen« (Laclau/Mouffe 2012: 130). Zum anderen wird der Diskurs durch immer neue Kontexte modifiziert, an die angeschlossen und um die gestritten wird, infolgedessen der Diskurs in Bewegung gehalten und transformiert wird. So erfolgt in der zweiten Phase zunächst eine Lagerbildung im Rahmen der narrativen Äquivalenzbeziehungen, die schließlich durch Stimmen wie die von Thomas Oberender in der dritten Phase aufgebrochen und hybridisiert wird, wenn die »Vielfalt der Hochkulturen« geltend gemacht wird. Erst die Doppelbewegung der Sedimentierung und Transformation hält das Ereignis dauerhaft im Diskurs präsent und ermöglicht sowohl die Verschärfung als auch die Entschärfung von Konflikten. Affizierung und Mobilisierung. Bleibt die Reflexion in einer kommentierenden und abwägenden Vermittlung, entzündet sich in der Regel kein Dissens. Ohne Identität keinen Widerspruch, ohne Affekt keine Verbindung, so könnte man für den populären Raum formulieren, der erst dann zu einem Ort des Streits wird, wenn in ihm nicht nur rational geurteilt, sondern auch berührt und affiziert wird. Mit Mouffe kann von einer politischen Leidenschaft ausgegangen werden, die durch (Nicht-)Identifikation im Rahmen von Wir-Sie-Unterscheidungen entsteht und zur Ausbildung von politischen Gruppen führt (2007a: 24f.). Öffentliche Stellungnahmen im Feuilleton begründen sich nicht allein rational in der Logik des besseren Arguments, sondern sind identitätspolitisch besetzt und affektiv aufgeladen. Peymann wird beispielsweise dann zu einem öffentlichen Sprecher, als ihm »der Kragen platzt« (Kümmel 2015b: 45) und er emotional erregt in den Diskurs hineingezogen wird. Renner wiederum wird durch das Spektakel von Peymann affiziert und stellt in seiner öffentlichen Stellungnahme fest: »Einschreiten muss man dort, wo Gerüchte zu Fakten umgemünzt werden und die Wahrheit für die von Claus Peymann gewünschte Aussage gebeugt wird« (Renner 2015b: 54).19 Affekte potenzieren sich in den Ereignisketten und Beziehungen zwischen den Debattenteilnehmenden, verändern die Sprechakte und greifen aktiv in die Inhalte und Verläufe von Debatten ein. Provokationen wie »Event-Schuppen« und Spekulationen wie »ein Super-GAU wie die Schließung des Schiller-Theaters« im offenen Brief von Peymann (2015) lösen Gefühle der Verunsicherung und der Angst vor Verlust von kulturellen Beständen aus, die vom Feuilleton aufgenommen und politisiert werden. Ist in der Debatte von »Abbau-Ängsten« (Dössel 2015c: 11) und vom »Niedergang des Theaters« (Dössel 2015a: 4) die Rede, entsteht ein bedrohliches Zukunftsbild, das zu leidenschaftlichen (Gegen-)Reaktionen führt und immer neue Sprecher:innen in den Diskurs hineinzieht. Affektivität in diesem Sinn unterstützt Inklusi-
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Renner bezieht sich auf die Aussage von Peymann, der Berliner Bürgermeister Müller sei »neulich erstmals in seinem Leben in der Oper« (Kümmel 2015b: 45) gewesen.
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
onsprozesse durch die Möglichkeit der Beteiligung und Betroffenheit oder durch die Aktivierung körperlicher Ressourcen (vgl. Grossberg 2000: 241). In der politischen Kommunikation des Feuilletons verbinden sich kognitiv-rationale und affizierend-sinnliche Elemente, die den Streit auslösen und lebendig halten. Auf die Frage, warum Peymann sich nicht als Intellektueller sieht, antwortet der Theaterregisseur in einem Interview: »Ich bin mehr ein Gefühlsmensch. Ich funktioniere über Empörung und darin bin ich gut. Wenn ich lange nachdenke, wird das immer problematisch.« (Wilton/Thissen 2017) Peymann zeigt eine Möglichkeit auf, alternative Sichtweisen entstehen zu lassen, die über das Bestehende hinausweisen, bevor die Zähmung der Gedanken durch die Vernunft erfolgt. In der Spontanität liegt eine Kraft, Dinge auszusprechen, die sonst nicht ausgesprochen werden. Sieht sich Peymann weniger als »großer Nachdenker« und mehr als jemand, der über »Intuition und Instinkt« (ebd.) agiert, kommt das Unfertige und Lebendige zum Vollzug, das in der Begegnung mit Dingen und Menschen temporär aufscheint; das Moment im Dazwischen, das sich einer letzten Prüfung entzieht, um das Wahrgenommene nicht in vorgegebene Denkstrukturen und Normen einzuordnen. So entstehen ästhetische Spielräume, in denen sich alternative Narrative entfalten, die medial vermittelt Debatten anstoßen und eine Richtung vorgeben.
Kulturkonflikt In der Spätmoderne hat sich eine Heterogenität an Hoch(Kulturen) zwischen den bürgerlichen und populären Kulturen ausgebildet, die auch die Form der Konflikte im Feuilleton verändert: Kulturelle Konflikte artikulieren sich spätestens im 21. Jahrhundert über eine neue Vielheit an konkurrierenden Hegemonien. Dies kommt in der Volksbühnendebatte zum Ausdruck, in der klassische und performativ-postdramatische Theaterkulturen relativ unversöhnlich gegenüberstehen stehen. Fordern die einen die Erhaltung des Sprech- und Ensembletheaters in Tradition der humanistisch-europäischen Aufklärung, formulieren die anderen ein Konzept in global-kosmopolitischer Perspektive. Während Peymann das Theater »immer im Dienst der Literatur, der Botschaft« sieht und sich als ein Teil »einer aussterbenden Gattung« (»Waterloo des europäischen Theaters«, Kümmel 2015b: 45) begreift, tritt Dercon als ein globaler Spieler auf, der Begriffe wie Globalisierung, Nation, Macht, Bildung und Identität in Orientierung an eine kosmopolitische Ordnung alternativ bestimmt. Der Belgier löst sich vom Verständnis der bürgerlichen Kultur samt humanistischem Bildungskonzept als Orientierungs- und Bezugspunkt und setzt neue Akzente, die aus einem global orientierten Spektrum schöpfen, in der sich Internationalisierung, Digitalisierung und Interdisziplinarität zu einer neu-
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en (kosmopolitischen) Vorstellung von Theater verbinden.20 In seinem Programm »volksbühne berlin: kollaboration als modell« heißt es beispielsweise: »Das gemeinsame Zelebrieren von Kunst und Inspiration wird immer wichtiger als Besitz. An die Stelle des pädagogischen Imperativs ›mehr kulturelle Bildung und Vermittlung!‹ treten Begegnung, Erfahrung, Austausch, Forschung und Ermittlung.« (Dercon/Piekenbrock 2015) Davon ausgehend wird die Auflösung nationaler Grenzen und ihrer Identitäten eingefordert: »Der Bezugspunkt ist nicht mehr eine gemeinsame Herkunftssprache (Deutsch) oder der Nationalstaat (Deutschland), sondern eine Vielfalt an Sprachen und eine kosmopolitische Gesellschaft. Mit dem Abbau von Grenzen und Gesten der Exklusion öffnen sich neue mentale Räume für indirekte Effekte wie Nachhaltigkeit, Erfahrung und Solidarität.« (Ebd.) Damit greift Dercon bestehende Kulturverständnisse an und wird von Teilen des konservativen Feuilletons als Bedrohung aufgefasst, das sich vor allem zu Beginn weniger räsonierend als vielmehr politisierend im Aufbau einer Gegnerschaft zeigt. Der Kampf um kulturelle Hegemonie offenbart ein Dilemma: Zum einen werden alternative Positionen überhaupt sichtbar, erst im Konflikt offenbart sich die Heterogenität an hegemonialen Partikularkulturen im künstlerischen Feld, die unvereinbar sind und nicht einem identischen Diskurs zugeordnet oder rational gelöst werden können. Zum anderen erschwert der Kampf um Macht und kulturelle Identität eine differenzierte Auseinandersetzung und produziert essenzialistische Kommunikationsmodi, wenn erst einmal das jeweilige Kulturverständnis repräsentiert und verteidigt wird. Normativ aufgeladene Begriffe wie »Ensemble«, »Event«, »Popkultur« und »Hochkultur« mutieren zu diskursiven Kampfbegriffen, um kulturelle Bestände zu bewahren und die eigene Position zu stärken. Fragen zur Kunstproduktion im globalen Zeitalter oder zu den komplizierten Verhältnisse zwischen Kunst und Ökonomie werden dabei an den Rand gedrängt. Zudem werden Behauptungen wie Dercon sei »neoliberal« kaum sachlich begründet, es 20
Vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Theorien – Dercon sagt: »[m]eine geistige Schule war Paris: Derrida, Deleuze, Lacan kenne ich besser als Schiller und Goethe« (Schmidt/Soboczynski 2017) – sprechen Dercon und Piekenbrock (2015) von einem Theater »als soziales Labor«, einem »Theater des Widerspruchs« und »der Weltentwürfe«. Mit der »Metapher des Konflikts« stellen sie ein Konzept bereit, das unterschiedliche Disziplinen wie »Film, Performance, Kino, Konzert, Bildende Kunst und Kulturen des Digitalen« miteinander verbindet. Wird der zeitgenössische Tanz als Aufbrechen von »Körper aus seinen Schemata, Grammatiken und Routinen« und »als Frage, als Dissens, als Revolte, als Protestode, als Philosophie« begriffen, erfolgt eine weitere Entgrenzung des klassischen Theaterbegriffs durch die performativen Künste.
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
wird nicht darüber nachgedacht, was ein ›Kurator‹ oder ein ›Event‹ in diesem Kontext bedeutet.21 Der Verlust eines gemeinsamen Bodens verschiebt die Logik der Debatte ins Grundsätzliche und wirft das Feuilleton immer auch auf sich selbst zurück: Welche Normen und Werte können für die kulturelle Ordnung der Gegenwart geltend gemacht werden? Was ist Kultur? Was Hochkultur? Fasst man demokratischen Streit als »das Ringen um die Einrichtung von Gesellschaft« (Flügel-Martinsen 2017: 14), ist er weder Gefahr noch Ausnahme, sondern selbstverständlicher Teil des Sozialen, in dem sich die Ordnung der Gesellschaft immer wieder neu herstellt und fortlaufend modifiziert (vgl. Simmel 1908: 186f.). In diesem Sinn werden in der Debatte um die Volksbühne zwar klassische Kulturverständnisse reproduziert und im Diskurs fixiert. Gleichzeitig erhalten alternative Theaterpraktiken und anti-bürgerliche Vorstellungen wie die des ›Künstler-Kurators‹ Eingang, die ansonsten nur marginal in den bürgerlichen Leitmedien repräsentiert sind. Klassische Vorstellungen von Hochkultur werden aufgebrochen; die Idee des:der Künstler:in als »genialische Figur mit absolutem Schöpfungsanspruch« (Reckwitz 2012: 59) wird kritisch befragt.22 Auch die Popund Populärkulturen erscheinen in einem alternativen Licht, wenn sie in den Sprechakten des damaligen Kultursenators Tim Renner Anerkennung als legitime (Hoch-)Kultur finden. Damit sind Konflikte immer auch Katalysatoren der sozialen Transformation: Im Bruch mit dem Konsens stabilisiert das Feuilleton als moralische Instanz bestehende Vorstellungen, um widerläufige Entwicklungen in die ›richtigen‹ Bahnen zu lenken und die Kontingenz zu überwinden. Zugleich sickern periphere Positionen in den allgemeinen Diskurs, hybridisieren ihn und verändern auf diese Weise soziale Wahrnehmungsstrukturen.
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Das Event findet im performativen Theater nicht als punktuelles Ereignis der Unterhaltung im herkömmlichen Sinn Verwendung, sondern als alternative Form ästhetischer Reflexion und Mittel der Subversion (vgl. Bogusz 2007, Dietze 2015: 27f.). Der im Feuilleton gerühmte Schlingensief stellt in seinen »Kritik-Events« beispielsweise ein postmodernes Künstlersubjekt dar, das sein ästhetisches Material in der »Rolle des Agenten von Interventionen« (Reckwitz 2012: 115) in Ausrichtung an Publikum, Medien und Kritik strategisch bearbeitet, um Aufmerksamkeit zu generieren und die ästhetische Reflexion anzuregen. Das postmoderne Künstlersubjekt löst sich von der exklusiven Figur des Künstler-Originals, die das Kunstfeld lange Zeit beherrscht hat. Vermischen sich in der postmodernen Kunstproduktion traditionell getrennte Diskurse, wenn etwa Verfahren aus der Pop- und Populärkultur, aus Design und Technik aufgegriffen und künstlerisch angeeignet werden, dann erfolgt eine Dekonstruktion des klassischen Künstlermythos (Zahner 2006). Mit Reckwitz handelt es sich dabei um einen »Atmosphärenmanager«, »Künstler-Kurator« und »intellektuelle[n] Kommentator« (2012: 117): »Der Künstler (oder das Künstlerkollektiv) ist nun in erster Linie ein an Vermittlung orientierter Arrangeur ästhetischer Prozesse« (ebd.: 115, Hervorheb. i. O.), in dem sich »semiotische, affektorientierte, intellektuelle und mediale Kompetenzen vereinen« (ebd.: 117).
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4.2
Die Flüchtlingsdebatte: Die (Re-)Konstitution der Rechtsintellektuellen
Flucht, Migration und Einwanderung sind in der globalen Moderne keine singulären Phänomene, sondern zum selbstverständlichen Teil des Sozialen geworden (vgl. Benhabib 2017: 7). In den 2010er Jahren erreichen die globalen Migrationsbewegungen eine neue Dimension. Hunderttausende Menschen vor allem aus Syrien überqueren das Mittelmeer und erreichen Europa auf der Suche nach Schutz und Asyl. Die große Anzahl der Geflüchteten kann nicht mit den herkömmlichen Ordnungsstrukturen und nationalstaatlichen Verfahren bewältigt werden und stellt Europa vor Herausforderungen. Jürgen Link spricht angesichts der Entwicklungen auch von einer »Mega-Denormalisierung« (Link 2016: 7) der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Ankunft der Geflüchteten im Jahr 2015 hat eine gesamtgesellschaftliche Debatte angestoßen, die in allen sozialen Sphären Verhandlung findet: Politik und Recht, Kunst und Wissenschaft, Religion und Wirtschaft.23 Dabei werden nicht nur sachpolitische Fragen im Kontext von Migration und Integration verhandelt, sondern auch Fragen zum sozialen Zusammenleben: Wer sind wir, wie wollen wir leben? Wer gehört dazu und wer nicht? Wie gestaltet sich unsere Gesellschaft im 21. Jahrhundert? In der kulturellen Differenzerfahrung befragt sich die Nation letztlich selbst: »Denn wenn wir über Migration sprechen, dann sprechen wir nicht nur über die, die von woanders dazukommen […]. Wir sprechen in erster Linie über uns. Wir sprechen über die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen unseres Zusammenlebens und letztlich darüber, wie demokratisch wir sein wollen.« (Bojadžijev 2016: 15) Die Ereignisse im »langen Sommer der Migration« (Hess et al. 2016) dislozieren die Repräsentationsdiskurse westlicher Gesellschaften und befragen geltende Wertesysteme, über die sich eine Nation lange Zeit verständigt hat und die sich durch 23
Der Kommunikationswissenschaftler Michael Haller setzt den Tod eines Geflüchteten in Dresden am 16. Januar 2015 als Beginn der Flüchtlingsdebatte in den Massenmedien an, da er eine »emotionale Polarisierung in der Bevölkerung« zur Folge habe und Proteste auf der Straße erfolgen, infolgedessen im Februar die Landespolitik reagiert und ein modifiziertes Bleiberecht einfordert. Als im April desselben Jahres ein geplantes Flüchtlingsheim in Tröglitz in Brand gesetzt wird und im Mai Berichte über im Mittelmeer ertrunkene Geflüchtete erfolgen (›Lampedusa‹), setzt der politische Verhandlungsprozess auf europäischer Ebene ein. Im Rahmen der Asylpolitik werden die ›Dublin-Vereinbarung‹ und das ›Schengen-Abkommen‹ neu verhandelt. Mit einer zunehmenden Anzahl an Todesfällen im August 2015 beginnt eine Wertedebatte um Menschenrechte einerseits und Lösungskapazitäten andererseits (Haller 2017: 20f.).
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
fortschreitende Globalisierungsprozesse in Auflösung befinden. Sind diese Veränderungen auch durch wirtschaftliche, kulturelle und technologische Umwälzungen verursacht worden, so offenbart sich in der Krise der »konstitutive Charakter gesellschaftlicher Gegensätze« (Mouffe 2014: 42) und die Kontingenz von Ordnungen, die sonst als »soziale Objektivität« wahrgenommen werden. »Das Auftauchen größerer Gruppen von Einwanderern ist ein allgemein sichtbarer Hinweis darauf, dass sich Gesellschaften durch Grenzöffnungen verändert und bisher geltende Werte- und Normorientierungen ihre unhinterfragte Geltung verloren haben.« (Koppetsch 2019: 41) Kultur wird dann nicht nur als Möglichkeitsraum erfahren, der Normen und Rituale bereitstellt, über die sich eine Gesellschaft organisiert. Kultur wird vielmehr selbst zum Gegenstand des Konflikts und zum Ort der politischen Auseinandersetzung, das heißt die Ordnung der Kultur steht zur Disposition. Damit einher geht eine Kulturalisierung des Sozialen: Die Debatte um Migration und Integration verlagert sich von sozialpolitischen Fragestellungen hin zu Themen, welche die Identitätsdiskurse westlicher Gesellschaften betreffen. Die Auseinandersetzung um kulturelle Identitäten, das heißt die Form des Selbstverstehens, in der sich der Einzelne als Teil einer nationalen, europäischen oder globalen Identität identifiziert, tritt dann in den Vordergrund der Debatte. Die Frage nach der Repräsentation betrifft sowohl Lebensstil, Nation, Ethnie, Religion, Geschlecht und Sexualität als auch die Frage nach einer gelungenen Existenz und dem guten Leben (vgl. Reckwitz 2010d: 59-69). Damit steht die Bedeutung der Ereignisse für den:die Bürger:in zur Debatte. Identitätskrisen und durch Migration ausgelöste Unsicherheitssituationen eröffnen nicht nur liberalen Stimmen die Möglichkeit, ihre Vorstellungen zu legitimieren, auch die Neue Rechte organisiert sich und normalisiert nationale Sprechweisen. Die Auseinandersetzungen werden von einem erstarkenden Rechtspopulismus und Nationalismus flankiert, die den »polaren Kampf« (Laclau/Mouffe 2012: 179) forcieren und alternative Identifikationen für eine Nationalkultur bereitstellen (vgl. Arnold/Bischoff 2016). Politische Bewegungen wie Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) und Parteien wie AfD (Alternative für Deutschland) befördern eine Spaltung der Gesellschaft durch die populistische Semantik der Angst und Sorge vor ›Überfremdung‹ und Islamisierung. Die »Gegenbewegung gegen die globale Moderne« (Koppetsch 2019: 39) fordert Errungenschaften in der Idee einer offenen Gesellschaft heraus und zeichnet sich durch drei Kernvorhaben aus: Re-Nationalisierung, Re-Souveränisierung und ReVergemeinschaftung (ebd.: 24f.). Das Feuilleton zeigt sich in dieser Zeit als ein Ort, an dem die gesellschaftlichen Entwicklungen auf unterschiedliche Weise verhandelt und konflikthaft ausgetragen werden. In zahlreichen Essays, Interviews und Kommentaren werden Ereig-
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nisse re-interpretiert und Stimmen aus gesellschaftlichen Verhandlungsräumen – Politik, Recht, Kunst, Wissenschaft, Religion – zusammengeführt. Beispielsweise entstehen Serien wie »Was ist deutsch?« im Jahr 2015 oder »Bewegte Mitte« im Jahr 2016 im Feuilleton der SZ, in denen Expert:innen aus verschiedenen Fachdisziplinen und Feldern – Staatsrechtler:innen, Sozialpädagog:innen, Historiker:innen, Soziolog:innen, Polizist:innen, Aktivist:innen – die »Mittelschicht« als »Garant für Stabilität und »Gradmesser für die demokratische Verfasstheit eines Landes« aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten (vgl. Rühle 2016: 9). Neue Formate wie »Das Wörterbuch der Neuesten Rechten« (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 2016: 43) dekonstruieren Diskursbegriffe aus dem rechten Spektrum: »Das Bedürfnis nach klaren Abgrenzungen führt zu verstärkten Einsätzen in den semantischen Kampfzonen«. Auch das Engagement der Bürger:innen wird reflektiert (Seibt 2015b: 11): »Ohne sie wäre die Flüchtlingskrise nicht zu bewältigen« – und schließlich kommen die Geflüchteten selbst zu Wort (Shaller/von Thaden 2015: 55). Als die Bundeskanzlerin Angela Merkel Anfang September 2015 verkündet, die Grenzen temporär für Geflüchtete zu öffnen und etwa eine Million größtenteils muslimischer Flüchtlinge ins Land zu lassen, verschärfen sich die Konflikte um soziale Zugehörigkeit und kulturelle Identität in Deutschland. Auch im intellektuellen Feld bilden sich unterschiedliche Positionen im Spannungsverhältnis von linken und rechten Deutungskulturen aus, die im Zeitungsfeuilleton einen gemeinsamen Ort für ihr Verhandlung erhalten. Der Dissens um die (Re-)Konstitution der Rechtsintellektuellen im Herbst 2015 mündet im Frühjahr 2016 schließlich in einen Intellektuellenstreit über die Entscheidung der Bundesregierung zum europäischen Grenzregime in der Flüchtlingspolitik. Für die Analyse der Feuilletondebatte im Zeitraum zwischen Oktober 2015 und März 2016 stellen sich ausgehend von dem 4-Dimensionen-Modell folgende Fragen: 1. Aktualisierung: Wie wird das Terrain des Politischen re-aktiviert und welches Ereignis kann als Auslöser der Debatte identifiziert werden? 2. Medialisierung: Wie wird die Debatte medial inszeniert und mit welchen Praktiken und Verfahren aufbereitet? 3. Aushandlung: Welche agonalen Bezugssysteme bilden sich aus und welche Stimmen werden auf welche Weise miteinander in Beziehung gesetzt? 4. Repräsentation: Welche Vorstellungen, Programme und Narrative generieren sich? Welche kulturellen Differenzen, welche Formen des Anderen und welche Ein- und Ausschlüsse werden artikuliert? Welche Wir-Sie-Unterscheidungen, welche Äquivalenzketten und diskursiven Knotenpunkte bilden sich aus? Von diesen Fragestellungen ausgehend haben sich im Forschungsprozess drei Phasen herausgebildet, die durch einzelne diskursive Ereignisse strukturiert sind und in denen sich sowohl spezifische Konfliktstrukturen als auch politische Strategien und mediale Praktiken generieren, die für die Debattenproduktion notwendig sind: (1) Die Phase der Aktualisierung (1. bis 12. Oktober 2015): Mit den Mitteln der
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Provokation werden affektive Reize gesetzt, die den antagonistischen Charakter des Politischen aktualisieren und vom Feuilleton aufgenommen und re-interpretiert werden. Der Beitrag »Der letzte Deutsche« des Schriftstellers und Dramatikers Botho Strauß in der Wochenzeitschrift Der Spiegel im Oktober 2015 kann als Auslöser der Debatte zur deutschen Flüchtlingspolitik bestimmt werden. (2) Die Phase der Politisierung (6. Oktober bis 8. Februar 2016): Die Re-Artikulation im Feuilleton entfaltet einen politischen Sprechraum, in dem sich prozesshaft divergierende Positionen im Spannungsfeld von linken und rechten Deutungskulturen ausbilden. Das Feuilleton politisiert den Diskurs und stellt im Prozess der Versammlung von rechtskonservativen Stimmen eine Allianz zwischen einzelnen Positionen her. Der politische Diskurs im Feuilleton wird zusätzlich durch ein im Februar 2016 erschienenes Interview mit Peter Sloterdijk im Monatsmagazin Cicero – Magazin für politische Kultur dynamisiert. (3) Die Phase der Aushandlung (20. Februar bis 12. März 2016): Die Debatte wird in eine Form der Auseinandersetzung überführt, die weniger von Abgrenzungs-, als vielmehr von Aushandlungsprozessen zwischen den Gegner:innen geprägt ist und mündet in einen Intellektuellenstreit zur deutschen Flüchtlingspolitik zwischen dem Medienintellektuellen Peter Sloterdijk und dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler in der Zeit.
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Phase 1: Aktualisierung: »Der letzte Deutsche«
Wie entzündet sich die Debatte um die deutsche Flüchtlingspolitik im Feuilleton? Ähnlich wie bei Peymann in der Volksbühnendebatte handelt es sich um eine prominente Person aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld, welche die Debatte entfacht. Am 2. Oktober eröffnet der Schriftsteller und Dramatiker Botho Strauß mit seinem Beitrag »Der letzte Deutsche« (2015: 122-124) im Magazin Der Spiegel einen politischen Sprechraum im Feuilleton.24 Der Artikel referiert auf seinen eigenen Artikel aus dem Jahr 1993 mit dem Titel »Anschwellender Bocksgesang« im selben Magazin, der eine öffentliche Debatte über die kulturelle Identität der Nation nach der Wiedervereinigung auslöste.25 Die damals fast zweijährige Debatte wird als »Höhepunkt des Plädoyers für eine Enttabuisierung und Revitalisierung des Denkens in nationalen Kategorien« und des damit aufkommenden »Widerstands 24 25
Ich danke Tobias Rapp, Spiegelredakteur im Kulturressort, für das Gespräch am 5. Feburar 2016 und die Impulse im Rahmen des Beitrags von Strauß und der Flüchtlingsdebatte. Dieser Essay wurde später u.a. im Sammelband »Die selbstbewusste Nation. Anschwellender Bocksgesang und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte« (Schwilk/Schacht 1994) veröffentlicht, der sich mit dem Nationalstaat nach der Wiedervereinigung von 1990 auseinandersetzt und laut Klappentext als »Standortbestimmung der demokratischen Rechten« und als »Manifest der konservativen Intelligenz« konzipiert ist. Zu den achtundzwanzig Autor:innen gehören neben Brigitte Seebacher-Brandt als einzige Frau u.a. Rüdiger Safranski, Hans Jürgen-Syberberg, Ernst Nolte, Michael Wolffsohn.
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gegen sie gelesen« (Piwoni 2012: 143).26 Im redaktionell verfassten Informationskasten des aktuellen Beitrags im Oktober 2015 heißt es: »Kaum ein Text in der Publizistik des wiedervereinigten Deutschlands sorgte für mehr Empörung und Diskussionen, von seinen Gegnern wurde Strauß zum Vordenker eines neuen rechten Deutschlands erklärt.« (Strauß 2015: 122) Exemplarisch präsentiert Der Spiegel einige Zitate von Strauß aus dem Essay von 1993: »Wir werden nicht zum Kampf herausgefordert durch feindliche Eroberer. Wir werden herausgefordert, uns Heerscharen von Vertriebenen und heimatlos Gewordenen gegenüber mitleidvoll und hilfsbereit zu verhalten, wir sind per Gesetz zur Güte verpflichtet.« (Ebd.) An anderer Stelle heißt es: »Zuweilen sollte man prüfen, was an der eigenen Toleranz echt und selbstständig ist und was sich davon dem verklemmten deutschen Selbsthass verdankt, der die Fremden willkommen heißt, damit hier, in seinem verhassten Vaterland, sich die Verhältnisse endlich zu jener berühmten (›faschistoiden‹) Kenntlichkeit entpuppen, wie es einst (und heimlich wohl bleibend) in der Verbrecher-Dialektik des linken Terrors hieß.« (Ebd.) Unter den Bedingungen eines erstarkenden Rechtspopulismus und einer verschärften Einwanderungs- und Asylpolitik nimmt Strauß 20 Jahre später erneut die Rolle des Provokateurs ein, wenn er zu aktuellen Fragen von Flucht und Migration Stellung bezieht. Er schließt an das Stimmungsbild aus dem Jahr 1993 an
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Der Artikel kann als Reaktion auf die Reportage von Cordt Schnibben (2015: 104) mit dem Titel »Abschwellender Bocksgesang« vom 19. September im Gesellschaftsressort des Spiegels aufgefasst werden. Im Beitrag von Strauß am 2. Oktober heißt es in einer redaktionellen Notiz: »Vor zwei Wochen noch setzte sich der SPIEGEL-Redakteur Cordt Schnibben in einem Text über seine Erlebnisse als Helfer in den Hamburger Messehallen, wo mehr als 1000 Flüchtlinge untergebracht waren, kritisch mit den umstrittenen Thesen des Schriftstellers auseinander. Nun beschäftigt sich Strauß, der zurückgezogen in der Uckermark lebt, aus Anlass der Flüchtlingskrise ein zweites Mal mit dem Thema.« (Strauß 2015: 122-124) Schnibben identifiziert in seinem Beitrag drei soziale Gruppierungen und ordnet Strauß dem »rechten Mainstream« zu: erstens die Rechten als das »dunkle Deutschland der Brandstifter und Hetzer«, »die Heime anzünden und die Fremden als Dreck beschimpfen« und als »ewig Gestrige« einen nationalsozialistischen Bezug haben, zweitens die Gutmenschen als das »helle Deutschland der Luftballons und Kuscheltiere«, die sich durch ein zivilgesellschaftliches Engagement im Zeichen der »Willkommenskultur« auszeichnen, sowie drittens die »konservativen« Traditionalisten als das »graue Deutschland«, die als »Ängstliche« und »Besorgnisträger« dem »rechten Mainstream« angehören.
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und stilisiert sich zum »letzten Deutschen« – »ich glaube, ich bin der letzte Deutsche« (ebd.) – in einer Gesellschaft, in der die Künste vom Niedergang bedroht sind.27 Als »deutsche[r] Schriftsteller« repräsentiert er sich als ein »Fortsetzer von Empfindungs- und Sinnierweisen, die seit der Romantik eine spezifisch deutsche Literatur hervorbrachten« (ebd.: 122) und als ein »Subjekt der Überlieferung«, das »außerhalb ihrer nicht existieren« kann (ebd.: 123), und dem nichts anderes übrig bliebe als die »Zuflucht in die ästhetische Überlieferung« oder das »Erdulden ihrer Auslöschung« (ebd.: 124).28 Von einem nationalen Kulturbegriff ausgehend verkündet er das Ende der Kritik: »Uns wird geraubt die Souveränität, dagegen zu sein.« (Ebd.: 123) Wer »Hüter und Pfleger der Nation in ihrer ideellen Gestalt« ist, so Strauß, der werde zur »komischen Figur« (ebd.: 124). In der für Strauß typischen »Ästhetik der Verweigerung« (Kaussen 1991) zeigen sich wiederkehrende Muster klassischer Kulturkritik. Die »Verfallsdiagnose« bezieht sich auf »die Ungleichheit zwischen den Menschen, den Zustand der Wissenschaften und der Künste, das Zeitalter der Maschine, der Mechanisierung oder der Rationalisierung« (Bollenbeck 2007: 20). Strauß prophezeit nicht nur die Auflösung der klassischen Nationalkultur und den Verlust von geistesgeschichtlichen Traditionen, sondern kritisiert auch die Massenmedien (»Wie soll ich das verkraften?«, 2015: 124) und die »kulturelle Globalität« (ebd.: 123) sowie die Dominanz der Ökonomie und den Verfall der kritischen Linken: »Noch vor nicht allzu langer Zeit fand sich eine linkskritische Intellektualität, die sich gegen die Hegemonie des Ökonomen über unsere Lebenswelt auflehnte. Mittlerweile sind deren Geistesverwandte selbst die führenden Ökonomen der Gegenwart – Piketty, Stiglitz, Krugman – und betreiben unter linkem Vorzeichen eine nächste Hegemonie der Ökonomie.« (Ebd.) Von einem essenzialistischen Kulturverständnis ausgehend stellt Strauß in seiner Gesellschaftsanalyse fest: »Ich möchte lieber in einem aussterbenden Volk leben als in einem, das aus vorwiegend ökonomisch-demografischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird, einem vitalen.« (Ebd.) Strauß repräsentiert eine kulturelle Identität, die sich über eine deutsche Nationalkultur in Abgrenzung zur spätmodernen Kultur definiert, die als Bedrohung für die
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Bei dem Titel »Der letzte Deutsche« handelt es sich um ein »Selbstzitat« (Strauß 2015: 122) aus seinem 2007 bei Carl Hanser Verlag erschienenen Buch »Die Unbeholfenen«. Strauß nennt exemplarisch Franz Blei, Hugo Ball, Leopold Ziegler, Rudolf Kassner, Konrad Weiß, Johann Georg Hamann, Ernst Jünger, Jakob Böhme, Friedrich Nietzsche, Friedrich Gottlieb Klopstock und Paul Celan. »Etwas davon wieder aufleben zu lassen war mein Leben«, so der Dichter (2015: 123).
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eigene Existenz erfahren wird. So werde »[m]an verdrängt nicht mehr von avantgardistischen Nachfolgern, sondern von grundsätzlich amusischen Andersgearteten, Islamisten, Mediasten, Netzwerkern, Begeisterten des Selbst« (ebd.: 123f.). Dabei handelt es sich um »die meisten ansässigen Deutschen, die Sozial-Deutschen, die nicht weniger entwurzelt sind als die Millionen Entwurzelten, die sich nun zu ihnen gesellen« (ebd.: 123). Der Migrant wird zur Projektionsfläche für die Untergangsphantasien von Strauß, der sich als Opfer (»kultureller Schmerz«) einer verlorenen Kultur (»aussterbendes Volk«) inszeniert und Erlösung durch die Wiederbelebung der Idee einer Kulturnation einfordert (»geheimes Deutschland«). »Dank der Einwanderung der Entwurzelten wird endlich Schluss sein mit der Nation und einschließlich einer Nationalliteratur. Der sie liebt und ohne sie nicht leben kann, wird folglich seine Hoffnung allein auf ein wiedererstarktes, neu entstehendes geheimes Deutschland richten.« (Ebd.: 124) Der Beitrag von Strauß unterbricht die Routinen des gängigen Tagesgeschäfts im Journalismus und wird vom Feuilleton zahlreich kommentiert. Ausgehend von der Idee eines liberalen Diskurses im Ideal der bürgerlichen Öffentlichkeit, der um Verständigung durch rationale Logik bemüht ist, wird die Intervention zunächst als nicht zulässig gedeutet. Richard Kämmerlings (2015: 21), damals Feuilletonchef der Welt, spricht am 6. Oktober von einem »Text, der gar kein geschlossener, stringent argumentierender Text ist, sondern mehr Glossa continua, Notizensammlung, eine tägliche Tagesverachtung ohne Datumszeilen«. Mark Siemons (2015b: 52) beschreibt die Einlassungen von Strauß am 4. Oktober im Feuilleton der FAS als »aphorismenartige Notate« und spricht von einem »Herauspicken von Meinungen zu Migranten«, von denen keine »weiter begründet oder ausgeführt [wird], so dass sie völlig unverbunden nebeneinanderstehen«. Erhellen »[v]iele echte Botho-Strauß-Texte« »tatsächlich etwas außerhalb der üblichen Diskurskorridore«, so versäume dieser zu erklären, »was dieses Deutsche […] außerhalb der oberflächlichsten sozialen Bestimmungen […] kategorial überhaupt so sehr von anderen Geisteswelten unterscheidet«. Christian Schröder (2015) spricht im Tagesspiegel vom 6. Oktober von »wirren Essays« und Hans Hütt (2015) am 8. Oktober auf ZeitOnline von einem »Dokument des Wahns« und einem »erratische[n] Strickmuster«. Strauß sei ein »Fall für das forensische Besteck, ein Vorbote für das Abhandenkommen des Geistes«; von einer »beginnenden Demenz«, einem »davonschleichenden Geist« und der »Selbstvernichtung des Autors« ist die Rede. Strauß wird als eine unvernünftige und nicht ernstzunehmende Stimme dargestellt und vom Platz des öffentlichen Räsonnements verwiesen, um ihn symbolisch vom Diskurs über die Flüchtlingspolitik auszuschließen. Kriterien wie Alter und Gesundheitszustand spielen dabei genauso eine Rolle wie die Weltfremdheit eines Künstlers, der auf dem Land lebt und sich dem gesellschaftlichen Leben entzieht. So wird neben einem ermüdeten Geist das Bild eines zurückgezogenen, ein-
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samen Dichters einer vergangenen Kultur gezeichnet, der sich gegen das abgrenzt, was sich außerhalb seines partikularen Diskurses ereignet. »Es ist ein heroisches Land, geschaffen aus einem luftdicht geschlossenen Weltbild, dem alles, was da draußen geschieht, zur wohlfeilen Selbstbestätigung gereicht,« schreibt Dirk Pilz (2015c) in der Berliner Zeitung.29 Dietmar Dath (2015: 9) spricht im Feuilleton der FAZ vom 6. Oktober von einer »Anthologie traditionell deutscher Schreibattitüden« und stellt fest, dass es sich bei Strauß um jemanden handelt, »der sich egal was seine Nachrichtenmagazine gerade melden, noch in jeder Lage seine ›Ideale bewahrt hat und den Humor und sonstigen Mottenfraß‹« – hier zitiert er den Publizisten Karl Kraus. Auch Siemons (2015b: 52) spricht in der FAS von »Betrachtungen, die aus dem Abseits kommen« und stellt Strauß als einen Künstler dar, »der in der Dichtung und der Mystik lebt und im oberflächlichen Getriebe ringsum nicht heimisch wird«.30 Darüber hinaus ist vom Ressentiment die Rede – »Es sind die alten Ressentiments. Nichts Neues« (Hütt 2015, vgl. auch Pilz 2015c). Von der Semantik der ›Weltfremdheit‹ eines Außenseiters ausgehend – »das Flüchtlingsdrama kennt er wohl nur aus dem Fernsehen« (Schröder 2015) – wird die Position mit dem rechten Raum verbunden und für nicht legitim erklärt. Kämmerlings (2015: 21) greift in der Welt beispielsweise Aussagenelemente wie »Aufmischen« und »fremde Völker« auf, um sie als rechts zu entlarven, wenn er sie mit Begriffen wie »Durchmischung« und »Durchrassung« kombiniert und mit der »brutalen Sprachgewalt von Schlägerbanden« vergleicht: »Wir mischen euch auf!« Das Wort »Rasse« falle zwar nicht, so der Feuilletonredakteur, aber der Volksbegriff von Strauß sei »allem Elitismus und aller Massenverachtung zum Trotz ethnisch gedacht« und führe zu einem gewaltsamen Kampf um »ethnische und sprachliche Homogenität«. In eine ähnliche Richtung geht auch Siemons (2015a: 52) in der FAS, 29
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Verbunden mit dem Phantasma des individuellen Genius referiert Strauß auf den Dichter als Antipode des bürgerlichen Erwerbsmenschen, der sich einer rationalisierten Arbeits- und Lebenswelt und dem Profitstreben kapitalistischer Arbeit entzieht. In der Idee des ›Heroischen Realismus‹ (vgl. Jünger 1930) wird die Poesie als die einzig verbleibende Alternative gegen den als permanent empfundenen Krisenzustand verstanden, infolgedessen sie sich als Opfer- und Verlustgeschichte vollzieht. Im Informationskasten des Artikels von Strauß (2015) wird darauf verwiesen, dass der Dichter »zurückgezogen in der Uckermark« in Brandenburg lebt. Die Zurückgezogenheit wird durch die Bebilderung des Textes vermittelt, die an die romantische Malerei erinnert und im oberen Drittel über zwei Seiten hinweg eine Naturlandschaft zwischen tiefgrünen Bäumen im Vordergrund und eine helle Felderlandschaft im Hintergrund zeigt. Auf der linken Seite des Bildes werden zwei Bäume erkennbar, deren Äste nicht nur in die Mitte des Bildes hineinragen, sondern auch den oberen und rechten Rand markieren, innerhalb derer Botho Strauß mit schwarzem Anorak und brauner Hose auf einer Holzbank im Vordergrund des Bildes sitzt. Im Seitenprofil am äußeren (rechten) Rand der Bank positionierend, das eine Bein ausgestellt, auf dem anderen die Hand abgestützt, blickt er den Leser an. Die Bildunterschrift lautet: »Schriftsteller Strauß in der Uckermark« (Strauß 2015: 123).
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der zwar darauf verweist, dass Strauß es nicht unterlässt, »sich von Rechten abzusetzen«, gleichzeitig mache er sich »zum Sprachrohr von Auffassungen«, »wie sie alle Zeitungen und Onlineforen ohnehin schon hinausposaunen«. Die Provokation von Strauß löst eine Reihe an Kommentaren im überregionalen Feuilleton aus und findet kaum Anerkennung als legitime Sprecherposition. Der Beitrag von Thomas Steinfeld (2015: 11) im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vom 5. Oktober bildet eine Ausnahme, der den Essay von Strauß unter anderem für »lesenswert« hält und in Bezug auf Aussagen wie »ich möchte lieber in einem aussterbenden Volk leben« von einer Kritik an der Ökonomie und der Spekulation spricht; und der darauf verweist, dass der Begriff des Volks nicht politisch gemeint sei, als vielmehr »aus Wissen, Dichtung und Gelehrsamkeit bestehen soll«. Dabei erfährt gerade der »Ästhetizismus« des Dichters im Gewand der »Neo-Romantik« (Thomas 2004: 21) eine Abwertung und wird mit dem rechten Raum verbunden. Bereits hier bahnt sich ein Konflikt zwischen linken und rechten Diskursen im Kampf um Deutungshoheit an, der in dieser Phase eine Kulturalisierung erfährt. In Abgrenzung zur Idee eines »geheimen Deutschlands«, das »rein von jeder Schuld« ist, plädiert Kämmerlings (2015: 21) in der Welt für einen weiten Kulturbegriff, der sich nicht allein auf die »deutsche Romantik oder Wagner-Opern« bezieht noch den zweiten Weltkrieg und den Holocaust ausblendet. Beide Ereignisse seien »ein entscheidender Teil der deutschen Überlieferung«, die »unsere Identität als Deutsche« definieren und »die Politik Deutschlands« bestimmen. Das »geheime Deutschland« hingegen obliege obskuren Dichtern und Denkern, denen »eine maximale Mehrheit immer fremd« bleibt – »von Einheimischen und Zuwanderern gleichermaßen«. In eine ähnliche Richtung geht Schröder (2015) im Tagesspiegel, wenn er die »Kulturkritik« von Strauß in die »Tradition von Spengler und Jünger« stellt und schreibt: »Der Zorn richtet sich gegen die Fremden, mehr noch gegen die Einheimischen, die ihre Kultur verraten, weil sie sie nicht einmal kennen.« Der Verweis auf den Dichter Ernst Jünger und den Philosophen Oswald Spengler verstärkt das Bild von Strauß als antiliberale Stimme. Sowohl Jünger als auch Spengler gehören als wortmächtige Rechtsintellektuelle zu den Anhängern der politischen und geistigen Strömung der ›konservativen Revolution‹, deren Blütezeit in die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg fiel. Die Bewegung behauptet den Verlust der eigenen Identität durch ›Vermassung‹ und ›Dekadenz‹ und fordert die Stärkung der Nation durch die Herausbildung einer nationalen Elite mit dem Ziel der Disziplinierung der Masse (vgl. Mohler/Weissmann 2005). Dath fragt in seinem Beitrag »Offene Schamgrenzen« für die FAZ: »Aber rechtfertigt der Text den Entschluss, seinen Verfasser als größten lebenden Deutschen anzusprechen?« (2015: 9) und klärt darüber auf, dass Deutschland sein »Nationalgefühl« im Vergleich zu anderen europäischen Nationen nicht über die Gleichheit der Staatsbürgerschaft hergestellt hat, sondern über eine »Idee«:
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»Ein Deutscher ist jemand, der zur deutschen Nation gerechnet werden kann. Die deutsche Nation hat freilich strenggenommen keine stetige oder wenigstens intermittierende historische Realität, die sich mit der französischen, italienischen oder englischen vergleichen kann, wo unter Führung des Bürgertums unternommene Angriffe auf Standesvorrechte von Adel und Klerus mehr oder weniger erfolgreich das Mittelalter beendeten. Man sollte, so wollten das die Schöpfer jener Nationen, juristisch nicht mehr primär ›Adliger‹, ›Leibeigener‹ oder ›Handwerker‹ sein, sondern Franzose, Engländer und dergleichen.« (Ebd.) Im Unterschied zu Strauß repräsentiert Dath eine Vorstellung von Sozialkritik, die nicht den Kulturverlust, sondern die ungleiche Verteilung von materiellen Ressourcen sowie die soziale Ungleichheit in den Blick nimmt und damit weniger eine kulturelle Elite als vielmehr die ›unteren‹ Klassen adressiert. »Er selbst (der Deutsche) schert sich, glauben jedenfalls seine Nachrichtendichter und Essaymagazine, mehr um eine tiefsinnige Debatte darüber, was die ›Einwanderung der Entwurzelten‹ für unsere Ideale, unseren Humor und sonstigen Mottenfraß bedeutet, als für geringfügige Beschäftigte, Arbeitslose, Alte, Kranke, Kriegsversehrte und was sonst so alles in der Realität vorkommt, die er nur zulässt, um sie zu ignorieren.« (Ebd.) Im Feuilleton bilden sich zwar unterschiedliche Vorstellungen darüber aus, was nationale Identität oder – noch elementarer – was Kultur idealtypisch ist bzw. sein kann. Zugleich besteht eine Einigkeit darüber, dass die kulturnationale Position von Strauß nicht zeitgemäß ist und eine Bedrohung für den liberalen Diskurs darstellt. Das Links-Rechts-Schemata bildet im Anschluss an die Erfahrungen der Debatte um den »Anschwellenden Bocksgesang« im Jahr 1993 das zentrale Deutungsmuster. Deutungsschemata tragen im Journalismus zur Komplexitätsreduzierung von Wirklichkeit bei, sie helfen Ereignisse einzuordnen und ermöglichen eine »dauerhafte Orientierung […] aller an identischen Zielen« (Ziemann 2011: 243). Zugleich entspringt die Form der Vereinfachung im Feuilleton einem genuin politischen Interesse: Sie dient der Stabilisierung eines in Zweifel gezogenen und damit gefährdeten Deutungsdiskurses einer offenen Gesellschaft, wie er sich seit der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik herausgebildet hat. Rechtspopulistische Strömungen brechen den liberalen Konsens auf, im Zuge dessen auch ausgeschlossene Alternativen aus dem rechten Spektrum im künstlerisch-intellektuellen Feld an die soziale Oberfläche gelangen. Im Versuch, »das Feld der Diskursivität zu beherrschen, das Fließen der Differenz aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren« (Laclau/Mouffe 2012: 150), fixiert das Feuilleton den Diskurs, um die Kontingenz zu schließen. Werden Grenzen zwischen dem, was legitim, und dem, was illegitim ist, gezogen, repräsentiert sich das Feuilleton nicht zuletzt selbst als eine vernünf-
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tige und liberale Instanz – erst in der Beziehung zu etwas Anderem können die eigenen Werte als die Richtigen dargestellt und legitimiert werden. Vor diesem Hintergrund spricht Adam Soboczynski (2015: 47) in der Zeit vom 8. Oktober von einer »routinierten Ablehnung« und warnt mit Blick auf die »Tradition der deutschen Debattenkultur«31 vor einer Polarisierung des politischen Diskurses: »Im Schatten der großen Koalition, die seit einer Ewigkeit dauert, entfalten sich die Gegensätze. Es scheint, als müssen man sich entscheiden, der Willkommenskultur oder Pediga anzugehören, dem hellen, oder dunklen Deutschland, der naiven Mitmenschlichkeit oder der Kälte.« (Ebd.) An anderer Stelle heißt es: »Fast scheint es, als gebe es derzeit nur die Wahl zwischen den Geborgenheitsfantasien von Strauß oder der rückhaltlosen Begrüßung des Fremden. In der Mitte zwischen diesen Extremen lagen einst der Liberalismus und die bürgerliche Gesellschaft.« (Ebd.) Mit Blick auf das Provokationspotential bei Strauß stellt Siemons im Feuilleton der FAS fest: »Journalisten, die schon auf solche Vokabeln allergisch reagieren, überführt ein echter Botho Strauß-Text ihrer eigenen Befangenheit, die sich gegen Erfahrungen und Einsichten außerhalb ihrer Mainstream-Sprache abschotten. Und beweist damit noch durch den Reiz-Reaktions-Mechanismus, den er in Gang bringt, wie recht er hat mit dem Vorwurf der Verengung des Denk- und Sagbaren. Viele Botho Strauß-Texte erhellen tatsächlich etwas außerhalb der üblichen Diskurskorridore, das sich einer raschen Zensurierung entzieht.« (Siemons 2015b: 52) Kämmerlings fast den Beitrag von Strauß angesichts seiner medialen Vergangenheit wiederum als kalkulierte Provokation im Spiel um Aufmerksamkeit auf: »Nicht zuletzt die durchschaubare mediale Strategie des Magazins selbst, das, wissend um den maximalen Provokationsfaktor, die ›Bocksgesang‹-Debatte von 31
In Anlehnung an den Soziologen Helmuth Plessner spricht Soboczynski von einer »gemütlichen Gemeinschaft«, »die sich ein ›Geheimes Deutschland‹ erträumt oder den ankommenden Flüchtlingen applaudiert, als seien es Popstars, um die Distanz fast schon gewaltsam niederzureißen«. Patrick Bahners (2015: 9) reagiert im Feuilleton der FAZ auf den Beitrag und spricht von einem »nicht gedeckten ästhetischen Vorteil«, was das »Plessner-Zitat« betrifft. Er weist die Aussage zurück – »Es stimmt nicht, dass Plessner die Gemeinschaft als Träumerei von Intellektuellen abtut« – und fragt: »Wird die Tradition deutscher Debattenkultur zulassen, dass Migranten neue Gedanken ins Land bringen?« Auch Aram Lintzel (2015b) bezieht sich auf den Beitrag von Soboczynski und kommentiert im Kulturteil der tageszeitung: »Doch auch in den Feuilletons ›kippt die Stimmung‹ wie die Formel des Augenblicks lautet, und die ›Willkommenskultur‹ gerät immer mehr unter Druck.«
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
1993 wiederholen möchte, also schamlos auf die finstere Ära von Mölln, Lichtenhagen, Solingen referiert.« (Kämmerlings 2015: 21) In dieser Hinsicht handelt es sich um »einen absichtlich herbeigeführten überraschenden Normbruch, der den anderen in einen offenen Konflikt hineinziehen und zu einer Reaktion veranlassen soll« (Paris 1998: 58). Eine Provokation ist nur dann erfolgreich, wenn sie eine (Gegen-)Reaktion auslöst. Geht man mit Martin Saar davon aus, dass sich Kritik grundsätzlich in einer »bestimmten, narrativ-rhetorischen, drastischen Form« (2009: 251) präsentiert und ihre Wirksamkeit aus einer »Kunst der Übertreibung« (ebd.: 261) speist, die den Adressaten wachrütteln und Selbst- und Weltbilder anrufen soll, so müssen Reize gesetzt werden, die so stark sind, dass sie zu einer Reaktion führen. Davon ausgehend wird im folgenden Abschnitt noch einmal die Form der Provokation vertiefend in den Blick genommen: Auf welche Aussagen beziehen sich die Kritiker und welche Mechanismen im Beitrag von Strauß können identifiziert werden, die zu einer Reaktion im Feuilleton führen? Dabei werden drei Kriterien betrachtet: Kulturessenzialismus, Reizbegriffe und Ästhetizismus. »Krude, und auch perfide, ja, aber wirklich skandalös ist der rein ästhetische Begriff der Überlieferung selbst«, schreibt Kämmerlings (2015: 21) im Feuilleton der Welt und kritisiert einen normativen Kulturbegriff, der Kultur nur jenem Gebildeten zugesteht, der im Durchgang durch eine kanonisierte Welt von Büchern die Reife seiner eigenen Persönlichkeit aus sich heraus erlangt hat (vgl. Reckwitz 2006a: 172). Folgt man dem Kulturwissenschaftler Georg Bollenbeck (2007: 15), so lässt dieser Kulturbegriff – entgegen pluralistischen Perspektiven, wie sie von Kritikern im Feuilleton vertreten werden –, »nur das als Medium der Bildung gelten, was die Steigerung der Individualität zur Idealität, zur harmonischen Selbstentfaltung befördert, geistige Objektivationen, vornehmlich die Künste und Wissenschaften«. Damit trägt Strauß das neuhumanistische Bildungsideal aus der bürgerlichen Moderne in die Gegenwart, um die aktuelle Lage der Nation zu reflektieren, und schreibt eine Elitentheorie fort, die zwischen den Gebildeten und der Masse normativ unterscheidet.32 Die Kulturkritik eines Konservativen und die »normativ aufgeladene Kritik am Zustand der eigenen Zeit, die diesen Zustand in eine Verlustgeschichte einordnet« (Bollenbeck 2007: 12f.), erzeugt jedoch nicht allein den Dissens im Feuilleton. Das
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Dies wird auch in der folgenden Aussage von Strauß deutlich: »In islamisch theokratischen Ländern wie Iran sind es wenige Gelehrte, die den meisten, den Massen, Weisung geben. Bei uns bestimmen Masse und Medien das Niveau der politischen Repräsentierten, die allesamt Ungelehrte in jeder Richtung sind, nicht zuletzt weil Parteienzugehörigkeit zwangsläufig Wissen reguliert und im Wesentlichen kein außerdemokratisches aus der Tiefe der Zeit zulässt.« (Strauß 2015: 124)
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Konfliktpotential liegt vielmehr in der Anrufung einer alten Kultur unter den Bedingungen einer global ausgerichteten Gesellschaft, die als Bedrohung aufgefasst wird. Im Beitrag von Strauß artikuliert sich ein Kulturessenzialismus, der mit Ausschlüssen einhergeht, die im Kontext weltweiter Migrationsbewegungen als problematisch wahrgenommen werden. Sowohl Massenkulturen als auch die Kulturen der Geflüchteten werden als Bedrohung für die eigene Lebensform aufgefasst; in Konsequenz mutieren sie gar zu Feinden, die eine symbolische Vernichtung erfahren, um die eigene Identität zu erhalten (vgl. Mouffe 2017) – oder wie Kämmerlings (2015: 21) schreibt: in einen gewaltsamen Kampf um »ethnische und sprachliche Homogenität«. Verweist Strauß auf die Idee des »geheimen Deutschlands« (2015: 123), fordert er die Wiederbelebung der deutschen Kultur- und Sprachnation auch ein und verstärkt damit den Eindruck eines ›Kulturkampfes‹.33 So erkennt er in der Migration eine Möglichkeit für die Re-Identifizierung der nationalen Idee und der geistigen Gemeinschaft: Werden die »Deutschen […] eine kräftige Minderheit« und bringt »erst eine intolerante Fremdherrschaft ein Volk zur Selbstbesinnung«, wird »Identität wirklich gebraucht«. Wer die Nationalliteratur »liebt und ohne sie nicht leben kann«, so der Dichter, wird »seine Hoffnung allein auf ein wiedererstarktes, neu entstehendes geheimes Deutschland richten«.34 Die Vermittlung eines ›WirGefühls‹ (»uns«) suggeriert einen Anspruch auf Universalisierung eines partikularen Diskurses im Kampf um kulturelle Hegemonie.
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Das »geheime Deutschland« orientiert sich an der Idee der ›Konservativen Revolution‹, die als »Bewusstseinszustand, dem das Alte nicht Gegenstand ruhigen Besitzes, sondern ein gegen das Bestehende wieder zu Erkämpfendes ist« (Kurzke 1983: 12), verstanden wird. Das Konzept geht aus der Tradition des George-Kreis hervor. Dabei handelt es sich um einen Geheimbund, der um 1900 durch einen religiös anmutenden Kult um den Dichter Stefan George entsteht. Als »männerbündlerische, wissenschaftsfeindliche Brutstätte des ästhetischen Fundamentalismus« strebt er nach der »hohen Kultur« und richtet sich gegen eine »barbarische Zivilisation« und den Liberalismus (Breuer 1993, 1995). Die Dichtung wird dabei zu einem utopischen und wirklichkeitsstiftenden Ideal erhoben im Wunsch nach einer geistigen Erneuerung, die die Auflösungserscheinungen des Subjekts durch die moderne aufgeklärte Welt zu überwinden sucht, und in der das »Deutsch sein« und die »Macht der Überlieferung« zu einem erlösenden Prinzip wird. Romantik versteht Hermann Kurzke daran anschließend als eine »von ihrem Bewusstseinszustand her moderne und revolutionäre, intentional aber auf das ›wahre Alte‹ zielende Bewegung« (1983: 13, vgl. auch Herzinger 1999). Strauß bezieht sich in seinem Werk u.a. auf den Schriftsteller und Lyriker Rudolf Borchardt, der in der Weimarer Republik als scharfer Kritiker der liberalen Presse und des (Massen-)Publikums gilt und im Umkreis der ›konservativen Revolution‹ unter dem Stichwort »stilisierende Dichter« firmiert (Mohler/Weissmann 2005). Der moderne Literaturmarkt (»gedruckte Unterhaltungsware«, »entartete Literatur«, »verkommen«) und die moderne Großstadt (»bestialisiert«) werden als eigentliche Ursache für den Niedergang der Literatur wahrgenommen (Borchardt 1973: 304). Die Dichotomie zwischen hoher Literatur und Unterhaltungskultur für die Masse wird von Strauß in die Gegenwart überführt.
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Strauß ruft die Dimension des Politischen in Form eines Antagonismus an, der »die unentscheidbare Natur der Alternativen und ihre Entscheidung durch Machtverhältnisse« (Laclau 1990: 35) zum Vorschein bringt. Im Versuch, »die bestehende Ordnung zu disartikulieren, um eine andere Form von Hegemonie zu installieren«, stellt die Intervention eine »kontrahegemoniale Verfahrensweise« (Mouffe 2007a: 27) dar. Antagonistisch verfasste Gesellschaften produzieren Ausschlüsse und beherbergen unterdrückte Möglichkeiten unter der sedimentierten Oberfläche, die von Strauß re-artikuliert werden. In diesem Sinn stellt der Konflikt weniger einen Interessens- oder Meinungskonflikt dar, der auf einen Ausgleich zwischen den Positionen angelegt ist, er befragt vielmehr die Einteilung der Ordnung der Kulturen. Die Auseinandersetzung ist zu diesem Zeitpunkt weniger von einem Konsens und mehr von einem Kampf um die ›richtige‹ Kultur geleitet und stellt eine Grundlage her, auf der jene Positionen entstehen können, die einen Streit darüber ermöglichen. Damit stehen die Grenzen selbst zur Verhandlung, »zwischen dem, was legitimerweise ›innerhalb‹ der intelligiblen Sphäre der Gesellschaft verläuft, und dem, was als bedrohliches, inakzeptables und kaum begreifbares Anderes außerhalb der Grenzen der Gesellschaft […] situiert ist« (Reckwitz 2006b: 345). Vor diesem Hintergrund kann der Beitrag von Strauß im Spiegel als Auslöser und Initialzündung der Feuilletondebatte um die deutsche Flüchtlingspolitik geltend gemacht: Er eröffnet einen politischen Streitraum im Spannungsverhältnis von linken und rechten Deutungskulturen, in dem Grenzen zwischen dem, was legitim, und dem, was nicht legitim ist, verhandelt werden. Das Feuilleton übernimmt hier eine Schließungsund Öffnungsfunktion: Zum einen schließt es den durch Grenzüberschreitung entstandenen Riss im Diskurs, um die kulturelle Ordnung wiederherzustellen und bestehende Werte zu stabilisieren. Zugleich macht es abweichende Positionen sichtbar und stellt sie zur Verhandlung, öffnet den Diskurs also für alternative Programme. Wenn Kämmerlings in der Welt schreibt: »Es gibt so vieles daran, was mich schlicht anwidert, was mir zunächst keiner Mühe der differenzierten Gegenrede wert schien« (2015: 21), um dann durch Begriffe wie »Aufmischung«, »mit fremden Völkern« oder »geheimes Deutschland« derart gereizt zu werden, eine öffentliche Stellungnahme abzugeben, dann sind auch Affekte und Emotionen an der Produktion von Dissens beteiligt. Der diffuse Ekel, der sich bei Kämmerlings in eine konkrete Wut verwandelt, stellt als körperliche Erregung eine weitere Voraussetzung für die Ausbildung von Debatten im Feuilleton dar. »Die Kulturkritik ist ein affektiver Reflexionsmodus«, schreibt Bollenbeck (2007: 19) und meint damit die normative Aufladung von kulturkritischen Einlassungen, die neben kognitiven Prozessen auch affizierende Elemente beinhalten (vgl. ebd.: 19f.). Öffentliche Stellungnahmen entstehen im Affekt, der Kritik erst hervorbringt, oder umgekehrt, in der Kritik, die den Affekt hervorbringt.
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Betrachtet man exemplarisch die Reaktion von Kämmerlings, weisen Affekte wie Ekel und Abscheu auf ein diffuses Anderes hin. Strauß ist im Hinblick auf seine publizistische Vergangenheit (»Anschwellender Bocksgesang«) bereits ein Reizthema, insofern allein die Veröffentlichung seines Essays mit dem Titel »Der letzte Deutsche« im Spiegel ein Unbehagen hervorruft. Kämmerlings selbst empfindet ihn als »schamlos« und fragt: »was aber ist das eigentlich Obszöne, das Provokative an diesem Text«. Können weniger eindeutige Positionen oder sachlich-logische Argumente identifiziert werden, gewinnen Reizbegriffe wie ›Aufmischung‹, ›fremde Völker‹ und ›geheimes Deutschland‹ an Bedeutung. Je diffuser die Oberfläche, so könnte man formulieren, desto stärker treten Reizbegriffe in ihrer Klarheit in den Fokus der Wahrnehmung und intensivieren Affekte, die Aufmerksamkeit binden und die Anschlüsse steigern. Im diffus gezeichneten Stimmungsbild von Strauß erhalten Reizbegriffe im nationalkonservativen Gewand ein besonderes Gewicht: Sie sind mit bestimmten Assoziationen aufgeladen und ›triggern‹, das heißt, sie setzen einen Impuls, der den Kritiker innehalten lässt, um zugleich noch einmal genauer über das Gelesene nachzudenken. Was löste die Empfindung aus? Sind die Empfindungen begründet? Gegen wen oder was richtet sich der Affekt? Das heißt der Affekt beginnt reflexiv zu werden, verliert also seine Richt- und Bedeutungslosigkeit und verwandelt sich in eine Emotion, infolgedessen er als etwas greifbar wird, mit dem man sich identifiziert oder von dem man sich abgrenzt. Die Emotion ermöglicht eine Zuschreibung, indem der empfundene Affekt an Erfahrung rückgebunden und als Identität wahrnehmbar wird. Aus der körperlichen Erregung wird dann eine Repräsentation: Der Affekt wird ›erkannt‹ und kulturell codiert bzw. subjektiviert.35 Werden Affekte als unbestimmte Gefühle verstanden und in den Bereich der Emotion verortet, werden sie kognitiv verarbeitet und mit Deutungen versehen. Der »Begriff der Überlieferung« wird als das Andere sichtbar, das Kämmerlings (2015: 21) anfangs »anwidert« und innehalten lässt. Nach Prüfung kommt er zum Ergebnis, dass der Kulturbegriff von Strauß zum Ausschluss »einer maximalen Mehrheit« führt und damit in »einen gewaltsamen Kampf« mündet; Reizbegriffe wie »Aufmischung« und »fremde Völker« werden durch eine ethnisch-völkische Kontextualisierung zu einer rechten Position artikuliert. Auf diese Weise wird der Affekt mit subjektivem Wissen ausgestattet und sachlich begründet in den Diskurs eingeführt, um als glaubwürdige Sprecherposition aufzutreten und Anerkennung zu finden. So gesehen können Affekte als sozial konstitutiv betrachtet werden: Mit
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Affekte werden hier nicht als vor-sozial angesehen (vgl. Massumi 2015), sondern sie sind subjektiv geformt und können nicht gänzlich jenseits von Sozialität verortet werden (vgl. Laclau 2005: 111, Slaby 2018: 68). Damit ermöglichen sie »eine soziale Beziehung zu denken, die nicht ausschließlich auf signifikatorischen Praktiken beruht, sondern ein Anziehung- und Abstoßungsverhältnis meint« (Stäheli 2007d: 132).
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Bedeutung angereichert, erzeugen sie öffentliche Stellungnahmen und gestalten das Soziale medial vermittelt mit. Um die Unbestimmtheit und das Diffuse der Gesellschaftsanalyse und seine Effekte für den politischen Diskurs besser erfassen zu können, soll noch einmal der Ästhetizismus in den Blick genommen werden, zu dem sich Strauß in einem Interview auch bekennt (Greiner 2003). Die Gesellschaftsanalyse folgt weniger einem kausalen Prinzip, als sie sich vielmehr durch eine sprunghafte Aneinanderreihung von Ideen- und Diskursfragmenten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären auszeichnet, die kulturkritisch überformt ist. Grundsätzlich oszillieren essayistische Schreibweisen »zwischen freien Gedankenassoziationen und dialektischen Ordnungsmustern« und entspinnen »ein Gewebe von unsystematisch verästelten Gedankengängen«, die »konventionelle Argumentationsstränge« negieren (Rautenstrauch 2016: 30f.).36 Zugleich kommt bei Strauß ein neoromantisches Künstlersubjekt zum Vorschein, das nicht nur auf Selbstkontrolle verzichtet, sondern auch in der Funktion einer höheren Kunst steht, die sich durch eine »hermetische Poesie« (Kaussen 1991: 346) und »eine kritische oder ablehnende Haltung zur ›instrumentellen Rationalität‹« sowie einen »emphatische[n] Glaube[n] an die Legitimität und die Wahrheit der unmittelbaren Gefühle« (Weiß 2014: 347) auszeichnet.37 Strauß entzieht sich einer stringenten Argumentations- und Diskurs36
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Das romantische Künstlersubjekt verzichtet »im Zulassen von assoziativen Verkettungen, unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen und Zufällen […] auf Selbstkontrolle« (Reckwitz 2006a: 230). Dies zeigt sich beispielsweise in der Verwendung von stilistischen Mitteln der Interpunktion wie Auslassungspunkte, Frage- und Ausrufezeichen. So werden Gedanken nur vage angedeutet und nicht zu Ende geführt, einzelne Argumente verbinden sich mit Fragmenten, ohne sie in Gänze zu systematisieren. »Ich meine Roman in dem alt-amourösen Sinn: Er hatte nämlich einen Roman mit ihr… Denn ich hatte mit der einen oder anderen Stimme wohl einen Roman… Man bedenke die tiefen Lieben und Anhänglichkeiten, die unter diesen Geistern wirksam sind…« (Strauß 2015). »Literaturwissenschaftlich wird diese Literatur eines hohen Tons und einer quasi religiös aufgeladenen Ästhetik als Neoromantik beschrieben und im Kontext des deutschen Kulturpessimismus und der Zivilisationskritik interpretiert. Hier spricht man auch von Ästhetizismus.« (Thomas 2004: 21) Für die ästhetische Programmatik von Strauß nennt die Literaturwissenschaftlerin Nadja Thomas folgende Merkmale: das Spannungsverhältnis von Bild und Begriff, den »Heroischen Realismus« im Kontext eines spezifischen Tragikverständnisses, den Topos des »Aushaltens auf verlorenem Posten«, das Konzept der »Schöpferischen Restauration«, das für die »Konservative Revolution zentrale zyklische Zeitverständnis, das sich am Motiv von Linie und Kugel« zeigt und die romantische Forderung nach einer neuen Mythologie poetisch umzusetzen versucht (ebd.). Für den Soziologen Johannes Weiß gelten als »romantisch« oder »neoromantisch« vor allem folgende Kriterien: eine kritische oder ablehnende Haltung zur ›instrumentellen Rationalität‹, zur neuzeitlichen Naturwissenschaft und Technik; die Ablehnung funktional ausdifferenzierter, entpersönlichter und bürokratisch geregelter sozialer Handlungszusammenhänge und das Streben nach ganzheitlichen, von starken Gefühlen getragenen sozialen Beziehungen; ein emphatischer Glaube an die Legitimität und
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logik und tritt nicht als klassischer Intellektueller auf, der politische Entscheidungen sachlich prüft und sozialpolitische Angelegenheiten im Ideal einer engagierten Literatur anklagt, sondern als Dichter. Ausgehend von der Idee des Ästhetischen Fundamentalismus adressiert Strauß nicht die Sphäre der Politik, sondern strebt die Revolte der geistigen und künstlerischen Elite an. Folgt man Alwin W. Gouldner, so stellt die Romantik die »Substitution der Politik durch die Ästhetik, der Sozialkritik durch die Kulturkritik dar; sie verkörpert die Forderung nach künstlerischer anstelle politischer Freiheit« (Gouldner 1984: 165f.). Reizbegriffe wie »Aufmischung«, »Auslöschung«, »aussterbende Völker« und »geheimes Deutschland« verweisen auf einen rechten Diskurs, zugleich bleibt die Position von Strauß ambivalent und unterläuft herkömmliche politische Kategorien, wenn er schreibt: »Der Irrtum der Rechten: als gäbe es noch Deutsche und Deutsches außerhalb der oberflächlichsten sozialen Bestimmungen. Jenen Raum der Überlieferung von Herder bis Musil wollte noch niemand retten.« (Strauß 2015: 123) Auch der Geflüchtete wird nicht eindeutig als Feind benannt, sondern zur Projektionsfläche für die Subjektivierung der eigenen Identität. Strauß lobt das Traditionsbewusstsein und die Gebildetheit der Ankommenden – Tugenden, die »dem gebildeten Deutschen« abhanden gekommen seien: »Die Sorge ist, dass die Flutung des Landes mit Fremden eine Mehrzahl solcher bringt, die ihr Fremdsein auf Dauer bewahren und beschützen. Dem entgegen: Eher wird ein Syrer sich im Deutschen so gut bilden, um eines Tages Achim von Arnims ›Die Kronenwächter‹ für sich zu entdecken, als dass ein gebildeter Deutscher noch wüsste, wer Ephraim der Syrer war. Zuletzt ist es eine Frage der persönlichen Wissbegierde, denn die üblichen Ausbildungsprogramme reichen nicht bis dorthin. Man darf annehmen, dass in puncto Wissbegierde der Syrer sich im Vorteil befindet.« (Ebd.: 124)
die Wahrheit der unmittelbaren Gefühle des Einzelnen; eine neue Offenheit gegenüber religiösen und insbesondere gegenüber mystischen und magischen Erfahrungen; die Wiederentdeckung des Sinnlichen und Malerischen in der Kunst bzw. die Poetisierung des Alltagslebens sowie eine Wiederkehr des geschichtlichen Bewusstsein, bei der sich die Absage an Fortschrittsmodelle nicht selten zu einer Verklärung vormoderner Zustände steigert (Weiß 2014: 347).
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An anderer Stelle heißt es: »Was aber Überlieferung ist, wird eine Lektion, vielleicht die wichtigste, die uns die Gehorsamen des Islam erteilen.« (Ebd.) Die Position von Strauß in Orientierung an den ästhetischen Fundamentalismus bleibt ambivalent und wird gerade dadurch nicht nur anschlussfähig für verschiedene Deutungskulturen, sondern auch zugänglich für die klassischen Medien. Die Unbestimmheit erleichtert die Verbreitung von gegenhegemonialen Positionen in liberalen Medien wie dem Spiegel und ermöglicht einen bestimmten Typus von politischen Kategorien in der Öffentlichkeit. Wäre die Position nackt, das heißt rein faktisch, wäre sie in ihrer Eindeutigkeit »hässlich« (Nassehi 2016b: 9) und würde kaum Eingang finden. Auffällig in diesem Zusammenhang ist die Kennzeichnung des dreiseitigen ›Essays‹ als Glosse durch den Spiegel. Als »Kurzkommentar spöttischen, ironischen, grotesk-makabren, sarkastischen Inhalts« (Schalkowski 2011: 80) soll die Glosse mit teils verletzend-verstörender Absicht alternative Perspektiven eröffnen. Mit dieser Gattung wird Strauß die »Rolle des Spaßmachers und Hofnarren, des schillernden Luftikus, des widerborstigen Querulanten und schwarzbösen Kritikers« (ebd.) zugewiesen. Damit installiert der Spiegel eine Distanz zu den Aussagen des Dichters und entzieht sich der Verantwortung für den Inhalt, die er als Medium zugleich hat. War das Feuilleton immer schon ein Ort, an dem abweichende Positionen mit vermeintlich unpolitischen Topoi literarisch vermittelt wurden (Hömberg 1975) – etwa unter den Bedingungen der Zensur zur Zeit des Vormärzes (1819-1848) –, so übernimmt es hier die Funktion des Dekonstrukteurs: Es entlarvt die Position von Strauß als rechts und schlägt Alarm.
4.2.2
Phase 2: Politisierung: »Nationalkonservative Bewegungen«
Die kulturnationale Position von Strauß reaktiviert das Terrain des Politischen und eröffnet einen politischen Sprechraum im Feuilleton, der in der zweiten Phase ausgebaut wird. Zentral dabei ist die Praxis der Versammlung von weiteren Intellektuellen aus dem rechten politischen Spektrum, die einen Dissens im Feuilleton generiert. Neben Strauß kommentieren beispielsweise Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk die deutsche Flüchtlingspolitik und äußern sich kritisch zur ›Willkommenskultur‹ und zur Entscheidung der temporären Grenzöffnung durch die Bundesregierung. Die beiden Intellektuellen sprechen sich in verschiedenen Medien für eine Stärkung der europäischen Nationalgrenzen aus und stellen eine marginale Position im herrschenden Diskurs dar, der zu diesem Zeitpunkt noch stark vom politischen Slogan »Wir schaffen das!« geprägt ist. Das Feuilleton führt die verstreut im Diskurs vorliegenden Stimmen zu einem Ensemble zusammen und politisiert den Diskurs im Aufbau einer Gegnerschaft zwischen linken und rechten
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Diskursen.38 Sowohl die Verfahren des Sammelns und Ordnens als auch die feuilletontypische Praxis des In-Bezug-Setzens von Stimmen bilden die zentrale Strategien in dieser Phase: Die Äußerungen der Philosophen sind zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung noch relativ bedeutungslos und erhalten ihre Wirkmächtigkeit erst durch die Zusammenführung im Feuilleton zu einem diskursiven Moment. Die Aufnahme der Positionen vollzieht sich nicht allein vor dem Hintergrund der abweichenden Meinung und der Forderung der Grenzschließung. Die Semantiken von Safranski und Sloterdijk werden vielmehr als kongruent zu denen von Botho Strauß wahrgenommen. Spricht Strauß (2015: 123f.) etwa von einer »Flutung des Landes mit Fremden«, vom »Verlust der Souveränität« und der »Selbstaufgabe« Deutschlands, zeigen sich bei Sloterdijk und Safranski ähnlich gelagerte Sprechweisen, die vom Feuilleton aufgenommen werden. Sloterdijk spricht in einem Interview vom 30. Juli auf Deutschlandfunk von einer »wohltemperierten Grausamkeit« und einer »Publizistik, die erste Ansätze zu einer defensiveren oder grausameren Grundhaltung sofort als Zivilisationsschande höchster Größenordnung denunziert« (Burchardt 2015).39 In einem Gespräch mit Matthias Matussek (2015: 7) in der Welt vom 28. September stellt Safranski fest: »›Die Politik hat die Entscheidung getroffen, Deutschland zu fluten« und fordert mit Blick auf das Asylrecht, »›das Thema Asyl neu [zu] durchdenken‹«.40 Am 8. November spricht Safranski in einem Interview mit der Neuen Zürcher Sonntagszeitung von »Flüchtlingsströmen«, 38
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Einen größeren Bekanntheitsgrad haben Sloterdijk und Safranski durch ihre ZDF-Sendung Philosophisches Quartett erhalten, seitdem sie als einflussreiche Mediatoren im öffentlichen Diskurs gelten. Die Aussagen zur deutschen Flüchtlingspolitik sind Ausschnitte aus Interviews, welche die beiden Philosophen anlässlich ihrer neu erschienen Bücher führen. Im März 2017 ist das Buch »Was geschah im 20. Jahrhundert?« von Sloterdijk beim Suhrkamp Verlag erschienen, Safranskis Buch »Die Zeit« wurde im Herbst 2016 beim Carl Hanser Verlag veröffentlicht. Die Aussagen stehen im Kontext der europäischen Flüchtlingspolitik, in dessen Rahmen Sloterdijk politische Szenarien entwickelt: »Die Europäer müssen sich über ihre eigene Attraktivität für Flüchtlinge neue Gedanken machen, und da gibt es verschiedene Modelle. Man kann es machen, wie die Kanadier es tun oder die Australier es tun oder wie die Schweizer es tun, und dabei geht es jedes Mal darum, dass eine Nation, eine allzu attraktive Nation ein Abwehrsystem aufrichtet, zu dessen Konstruktion so etwas wie eine wohltemperierte Grausamkeit vonnöten ist. Und das ist nun das Hauptproblem: Die Europäer definieren sich selber als gutartig und nicht grausam, und es gibt aber auch eine entsprechende Publizistik, die erste Ansätze zu einer defensiveren oder grausameren Grundhaltung sofort als Zivilisationsschande höchster Größenordnung denunzieren.« (Burchardt 2015) Sloterdijk kommentiert in weiteren Medien die deutsche Flüchtlingspolitik wie etwa in der BZ Berlin (Bauer 2015), im Handelsblatt (Sloterdijk 2015a) oder in der Neuen Zürcher Zeitung (Sloterdijk 2015b), die jedoch nicht vom Feuilleton rezitiert werden. »›All unsere Gesetze sind Schönwettergesetze‹ und die sind ja jetzt ausgehebelt. Die Asylanten fliehen ja nicht mehr, sondern kommen aus Flüchtlingslagern, wo sie zunächst einmal in Sicherheit waren. Wenn sie zu uns kommen, sind sie genau genommen Einwanderer, die
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von »Gesinnungsethik statt Verantwortungsethik« und einer »Infantilisierung der deutschen Gesellschaft« mit der »Folge des Souveränitätsverlusts«. Am 23. Dezember wird ein Interview mit ihm in der Schweizer Wochenzeitung Die Weltwoche (Bandle 2015: 56-59) veröffentlicht. Hier ist von »moralistischer Infantilisierung«, »infantile[r] Weltfremdheit«, »Gesinnungsethik«, »weltfremden Humanitarismus« und »Unreife der deutschen Politik« sowie von »nationalem Selbsthass« und »realitätsfremden moralischen Universalismus« bei deutschen Intellektuellen die Rede; von »Abermillionen islamische[n] Einwanderer[n] im Land« und einer »islamische[n] Parallelgesellschaft«, von der politischen Verpflichtung, »Schaden vom deutschen Volk abzuwehren« und einer »Freiheit«, »die Selbstzerstörung als Möglichkeit« mit einschließe. Sloterdijk und Safranski entwerfen bedrohliche Szenarien im Kontext der globalen Migrationsbewegungen, die einen Kontrollverlust des Staates und damit einhergehend die Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung suggerieren. Das Bild einer überlasteten Gesellschaft schürt diffuse Ängste in der Bevölkerung, mit denen die Forderung nach verstärkten Grenzkontrollen legitimiert werden. Auch von den Medien verwendete Metaphern wie ›Flut‹, ›Welle, ›Ströme‹ oder ›Überrollung‹, die die Geflüchteten als gesichtslose und entmenschlichte Masse erscheinen lassen, werden von den Intellektuellen aufgenommen. Die Motive verweisen auf Naturkatastrophen im Modus der Zerstörung durch ein hereinbrechendes Unglück, denen ein Land hilflos ausgesetzt ist. Die Aussagen zur deutschen Flüchtlingspolitik von Safranski und Sloterdijk in den verschiedenen Medien werden vom Feuilleton aufgegriffen und in den allgemeinen Diskurs getragen. Im Tagesspiegel vom 6. Oktober bezieht sich Christian Schröder (2015) auf den Spiegel-Essay von Strauß und »das sorgenvolle Altmännergespräch« zwischen Safranski und Mattusek41 im Feuilleton der Welt und spricht von »Intellektuellen«, »die nun Alarm schlagen«. Als »Mitglieder der Bordkappelle auf der Titanic« neigen sie zur faktischen Übertreibung, so werden weder »Mehrheitsverhältnisse in Deutschland umgewälzt« noch »stoßen Reiterkrieger unter der schwarzen Flagge des Islamismus vor«. Auch die Rede von Millionen Flüchtlingen korrigiert Schröder: »Laut Schätzungen sollen zwischen 800 000 und 1 000 000 Menschen bis Jahresende kommen.« Damit sei die »apokalyptische Formel von einer ›Flüchtlings‹- oder ›Ausländerflut‹ im Feuilleton« angekommen:
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in Korridoren durch die freien Länder Europas nach Deutschland geleitet worden sind. Wir merken: Für all das haben wir noch keine Gesetze, Regeln.« (Ebd.) Matussek, ehemaliger Kulturressortleiter des Spiegels und Kulturredakteur der Welt, äußerte mehrfach rechtskonservative Aussagen in sozialen Netzwerken. Anlässlich der TerrorEreignisse in Paris im September 2015 schrieb er am 13. November 2015 auf Facebook: »Ich schätze mal, der Terror von Paris wird auch unsere Debatten über offene Grenzen […] in eine ganz neue frische Richtung bewegen«. Der Post führte zur Kündigung bei der Welt. Vgl. auch »Überwerfung« von Malte Henk in der Zeit (2018).
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»Erfunden wurde sie rechtsaußen. Bevor Safranski und Strauß sie aufgriffen, wurde sie zum Beispiel vom Kreisverband der NPD in Leipzig, von Demonstranten gegen ein Erstaufnahmelager in Regensburg und von einer Facebook-Seite namens ›Deutsche zurück nach Deutschland‹ verwendet.« (Ebd.) Ein wichtiger Beitrag für die Debatte ist der Artikel »Von Kindern und Männern« von Thomas Steinfeld (2016: 11) im Feuilleton der SZ. Der damalige Kulturkorrespondent mit Sitz in Venedig greift am 15. Januar das Interview mit Safranski in der Weltwoche auf und setzt sich mit seinen Aussagen zur deutschen Flüchtlingspolitik (»Unreife«, »moralischen Infantilisierung«) auseinander, wenn er fragt: »Aber ist das wirklich so?« Den Philosophen Safranski bezeichnet er als »erfolgreichste[n] Verwalter deutscher Geistesgeschichte«, in Bezug auf seine Einschätzungen zur Entscheidung der Bundesregierung spricht er ihm in der Rolle des Intellektuellen jedoch die Kompetenz ab. Steinfeld bezeichnet die Einlassungen als »Verschwörung«, »Anmaßung«, »Schmähung« und »Ressentiment«; »schon das Wort ›Abermillionen‹ hat einen demagogischen Ton«. Sie seien »weltfremd« und bauen mehr auf »Indizien« als auf »Gründen« auf – »wer andere Menschen für ›infantil‹, ›unreif‹ und ›naiv‹ erklärt, will nicht argumentieren«. Safranski »räsoniert« nicht über den »Gegenstand und Zweck der deutschen Politik«, so der Feuilletonist, sondern benutzt die »Rolle in der Öffentlichkeit«, »um sich zum Wortführer eines Ressentiments aufzuschwingen«. Im Unterschied zu Sloterdijk, dessen Interview vom Juli 2015 er ebenfalls zitiert – »wohltemperierte Grausamkeit« –, verfolgen die Äußerungen von Safranski »erkennbare politische Absichten«: »Sie sollen einem Gegner schaden, und sie sollen eine Änderung der Politik herbeiführen.« Ähnlich wie bei Strauß wird Kritik an der rationalen Kommunikation im Ideal der klassischen Intellektuellen und der bürgerlichen Öffentlichkeit geübt. Darüber hinaus wird die Position mit dem rechtspopulistischen Diskurs verbunden und mit weiteren neokonservativen Stimmen angereichert: »Zugleich sehen andere Publizisten, die schon länger auf den Wegen denken, die Rüdiger Safranski jetzt beschreitet, die Gelegenheit zu einem großen Auftritt gekommen.« Steinfeld setzt die Einlassungen des Philosophen mit dem publizistischen Diskurs der Zeitschrift Tumult – Vierteljahresschrift für Konsensstörung in Beziehung. Die aktuelle Ausgabe (2015/2016) befasst sich mit der deutschen Flüchtlingspolitik und enthält Beiträge von Autor:innen aus Literatur und Wissenschaft. Steinfeld bezieht sich auf die Texte von Hans Magnus Enzensberger (Schriftsteller), Reinhard Jirgl (Schriftsteller), Rudolf Burger (Philosoph), Wolfang Hetzer (Jurist) sowie Frank Böckelmann (Kommunikationswissenschaftler) und kommentiert: »Das Magazin hatte einmal, in den Achtzigern, für die Avantgarde der französischen Theorie in Deutschland gestanden. Im neuen Heft soll hingegen das ›Deutsche Volk‹ geschützt werden. Die Ausgabe ist der ›großen Einwanderung‹ gewid-
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met, dem angeblichen ›Kurzschluss von Ökonomie und Hypermoral‹ in der Selbstfeier ›humanitärer Hingabe‹.« (Ebd.)42 Die Integration ausgewählter Tumult-Autoren in den Diskurs zu den neuen Rechtsintellektuellen erfolgt nicht allein aufgrund der Kritik an der deutschen Flüchtlingspolitik noch wegen der nationalkonservativen Semantik. Steinfeld interessieren die Diskursverschiebungen im intellektuellen Feld, wenn ›Weggefährt:innen‹ sowie traditionell linke Stimmen öffentlich einsehbar in den rechten Sprechraum abwandern und die ›Seiten wechseln‹. Böckelmann, »einst führendes Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS)« spreche von »einem angeblichen ›Kurzschluss von Ökonomie und Hypermoral‹ in der Selbstfeier humanitärer Hingabe‹«. Rainhard Jirgl, »Träger des Büchner-Preises, der höchsten Auszeichnung für einen deutschen Literaten, liefert einen Essay mit dem Titel ›Die Arglosen im Inland‹« und sieht »hinter Finanzkrise und Flüchtlingselend dunkle ›Kreise in der global operierenden Wirtschaft und Politik‹ wirken«. Mit dem Philosophen Rudolf Burger »gebe es ›Hunderttausende kräftige junge Männer, die man in Europa als ›wehrfähig‹ einstufen würde […]: Warum laufen sie davon und wehren sich nicht, warum organisieren sie sich nicht und kämpfen? Es geht schließlich um ihr Land, und die Bewaffnung dürfte in dieser Gegend kein Problem sein.‹« Steinfeld verbindet diese Formulierung mit der Position von Safranski, der ähnlich argumentiere und zitiert ihn: »›Ein Großteil der Flüchtlinge sind junge Männer im besten Alter, bei denen man sich wundert, weshalb sie ihre virile Energie nicht gebrauchen, um ihr Land wieder in Ordnung zu bringen‹.« (Ebd.) Die Abwanderung linker Stimmen in den rechten Diskursraum fordert herrschende Machtverhältnisse heraus und betrifft nicht zuletzt das Feuilleton selbst als Sprecher im intellektuellen Feld. Der Kulturwissenschaftler Georg Seeßlen spricht in diesem Zusammenhang von »Konvertiten«: Sprecher:innen lösen sich
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Ursprünglich vom Berliner Merve Verlag publiziert, fungierte die Zeitschrift in den 1980er Jahren als Sprachrohr für Intellektuelle und Künstler:innen im Kontext der neueren französischen Theorie im Umfeld von Michel Foucault. Zu den Mitgliedern der Gründungsredaktion gehören u.a. Frank Böckelmann, Walter Seitter, Hans-Peter Gente, Herbert Nagel, Ulrich Raulff und Hanns Zischler. Seit Frühjahr 2013 wird die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift mit Sitz in Dresden von Frank Böckelmann verlegt. Auf der Homepage heißt es: »Für die Entscheidung, TUMULT als Organ aktueller Auseinandersetzung neu zu gründen, gibt es vor allem zwei Motive: die auffällige Zurückhaltung der Intellektuellen angesichts der Konvulsion globaler Mächte und Märkte und der wachsende Konsensdruck in der öffentlichen Meinung online und offline.« Zu den zentralen Themen gehören: »Massenzuwanderung, multipolare Globalordnung, nachrichtendienstliche Weltnetzüberwachung, Affinität zwischen der Eigendynamik der Finanzmärkte und dem humanitären Universalismus, Profiteure und Opfer der europäischen Einheitswährung, Abwanderung der Lebenszeit ins Internet, Energiequellen-Dilemma, ›Sex‹ und ›Sexismus‹.« Vgl. www.tumult-magazine.net/uebertumult (abgerufen am 20.5.2018).
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von ihrem ursprünglichen Kontext und bespielen alternative Bühnen, die sich auf der ›anderen‹ Seite befinden.43 Vor diesem Hintergrund konstatiert Steinfeld eine Öffnung des Diskurses für rechte Stimmen: »Den neuen nationalkonservativen Bewegungen wachsen nun offenbar Wortführer zu, die den Umgang mit Medien gewohnt sind und das öffentliche Formulieren lange geübt haben.« (Ebd.) Hier zeigt sich ein feuilletontypisches Verfahren: Steinfeld greift verstreute Elemente aus unterschiedlichen Diskursen auf, die eine gewisse Ähnlichkeit in ihrer Struktur aufweisen, verbindet sie miteinander und generiert einen neuen Diskurszusammenhang, der sprachlich vermittelt in den Diskurs eingeführt wird: die »nationalkonservativen Bewegungen« und ihre »Wortführer« aus dem intellektuellen Feld. Der Begriff der sozialen Gruppe dient als rhetorisches Mittel, um ein noch unbekanntes Phänomen in Sprache zu fassen und das Neue und Beunruhigende in die Welt zu bringen. Das Feuilleton verbleibt hier nicht in der Rolle eines Seismographen, der seine Umwelt beobachtet und bei Abweichung Alarm schlägt. Als ordnende Instanz konstruiert es aktiv Wirklichkeit und bildet eigenständig Konfliktstrukturen aus. Erst in der Verbindung der Stimmen zu einem sozialen Kollektiv werden die abstrakten Verhältnisse und Grenzüberschreitungen nicht nur sichtbar und politisch relevant, sondern auch anschlussfähig und verhandelbar. Aus den losen Elementen im Diskurs ist ein medial inszeniertes Ereignis geworden, aus der Diskursstruktur eine Konfliktstruktur. Zur Verschärfung der Debatte trägt das im Februar 2016 im Cicero – Magazin für politische Kultur erschienene Interview mit Sloterdijk bei, in dem er seine Thesen zur Flüchtlingspolitik von Merkel wiederholt und mit neuen Kontexten anreichert (Kissler/Schwennicke 2016).44 Das Interview wird von Alexander Kissler, dem 43
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»Aus der Geschichte der Religionen und Konfessionen kennen wir die Figur des ›Konvertiten‹, der mitsamt seinem Glauben auch seine Lebenseinstellung und sein Weltbild ändert und versucht, die neuen Gebote und Dogmen besonders glühend und besonders militant zu vertreten, und der sich durch besonderen Hass auf die Ungläubigen hervorzutun bemüht.« (Seeßlen 2017) Das Magazin mit liberal-konservativer Ausrichtung nimmt zur Zeit der Flüchtlingsdebatte laut Selbstbeschreibung die »Position der politischen Vernunft« ein und weist sich als »radikal-bürgerlich« aus (Tieschky 2016). Zur politischen Ausrichtung des Magazins zur Flüchtlingspolitik vgl. Schwennicke 2015 sowie den Artikel »Rechtsruck beim Magazin Cicero. Ein neuer Ton« von Anne Fromm (2016) in der tageszeitung. Bereits im November 2009 veröffentlicht Sloterdijk ein »bürgerliches Manifest« im Cicero, das im Kontext zur Feuilletondebatte um die Steuerabgaben im Sommer 2009 steht. Dort bezog er sich auf ein Interview mit dem damaligen Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin im Kulturmagazin Lettre International, wo sich Sarrazin zur desolaten wirtschaftlichen Verfassung der Hauptstadt Berlin äußerte, die vorwiegend eine türkisch- und arabischstämmige Minderheit zu verantworten habe. Die Aussagen von Sarrazin riefen Kritiker:innen u.a. im Feuilleton hervor, die wiederum von Slo-
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Leiter des Kulturressorts (›Salon‹), und dem Chefredakteur Christoph Schwennicke geführt und verhandelt neben »Merkels Flüchtlingspolitik« die Ereignisse in der Silvesternacht in Köln und die Rolle der Medien zur Zeit des Terrors. Dabei gewinnen Reizbegriffe und Formulierungen an Bedeutung, die später im Feuilleton re-interpretiert werden: »Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben«, »Wir haben das Lob der Grenze nicht gelernt«, »auf die Dauer setzt der territoriale Imperativ sich durch«, »es gibt schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung« (ebd.). Ähnlich wie Safranski übt Sloterdijk Kritik am Asyl- und Einwanderungsrecht: »Wo früher starkwandige Grenzen waren, sind schmale Membrane entstanden. Die werden jetzt massiv überlaufen.« Darüber hinaus ist von »Grenzvergessenheit« und einer »postmodernisierten Gesellschaft« »jenseits von Grenzschutz« die Rede. Auch die auf Deutschlandfunk geäußerten Thesen zu Massenmedien werden verschärft: »Der Lügenäther ist so dicht wie seit den Tagen des kalten Kriegs nicht mehr«, Sloterdijk spricht von einer »Verwahrlosung des Journalismus«; »das Wort ›Lügenpresse‹ setzt mehr Harmlosigkeit voraus, als es in diesem Metier gibt«.45 Die Interviews von Safranski und Sloterdijk wurden bisher in regionalen Tageszeitungen wie dem Tagesspiegel, der Berliner Zeitung, im Radio wie Deutschlandfunk oder in Schweizer Medien wie der Weltwoche und der Neuen Zürcher Zeitung im Rahmen ihrer Buchpublikationen geführt, in der die Flüchtlingspolitik einen Nebenaspekt darstellt. Prominent platziert erhält Sloterdijk nun eine größere Bühne für seine Kritik an der deutschen Flüchtlingspolitik und tritt als Intellektueller im monatlich erscheinenden Politmagazin Cicero auf. Das Interview wird auf der Titelseite mit den Worten »Peter Sloterdijk: ›Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung‹« angekündigt. Der Titel der Ausgabe lautet: »…nicht mehr mein Land.
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terdijk im Cicero als »deutsche Meinungs-Besitzer-Szene« bezeichnet wurden: Ein »Käfig voller Feiglinge, die gegen jede Abweichung von den Käfigstandards keifen und hetzen«. »Unter dem Deckmantel der Redefreiheit und der unbehinderten Meinungsäußerung« habe man sich »in einem System der Unterwürfigkeit, besser gesagt: der organisierten sprachlichen und gedanklichen Feigheit eingerichtet, das praktisch das ganze soziale Feld von oben bis unten paralysiert«. (Sloterdijk 2009) Die Aussagen von Sloterdijk lösten eine Debatte aus und lenkte die ein Jahr später geführte Debatte um das Buch »Deutschland schafft sich selbst ab« von Sarrazin aus dem Jahr 2010 bereits in bestimmte Bahnen (vgl. Weiß 2011). Die Zuspitzung des politischen Diskurses kann auch auf die Interviewführung zurückgeführt werden. Einzelne Aussagen des Philosophen werden gezielt aufgegriffen und auf eine Weise kontextualisiert, das Ideologien verstärkt und Diskurse in eine bestimmte Richtung getrieben werden. Fragen wie »Heute sind es keine Anarchisten, sondern Islamisten, die die Welt in Angst und Schrecken versetzen. Wie sollen wir uns da verhalten?« (Kissler/Schwennicke 2016) sind ideologisch vorgeprägt und lenken das Gespräch in vorbestimmte Bahnen bzw. verstärken bestimmte Ideologien. Zum Interview als imaginiertes Gespräch vgl. Hoffmann/Kaiser 2014.
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Deutschland zwischen Kontrollverlust und Staatsversagen«. Wiederholen »bedeutende Intellektuelle unseres Landes« (Schröder 2016) nationalkonservative Begriffe in Leitmedien, gewinnen sie an Deutungsmacht und tragen zur Etablierung eines rechtskonservativen Diskurses bei. Das Interview steht im Kontext einer zunehmenden Aufspaltung des politischen Diskurses in Deutschland: Die Ereignisse der Entscheidung der Grenzöffnung im September 2015, der Terroranschläge am 13. November 2015 in Paris und der »brutalen Übergriffe in der Silvesternacht« (Haller 2017: 12) zwischen den Jahren 2015 und 2016 in Köln verschärfen die Konflikte, infolgedessen sich das Bild eines ›hellen‹ (›Refugees Welcome‹) und eines ›dunklen‹ Deutschlands (populistische Rechte) in den Medien zunehmend durchsetzt (vgl. Herrman 2016, Jäger/Wamper/Aigner 2016, Kreft/Uske 2016). Das Cicero-Interview mit Sloterdijk wird in Pressemitteilungen verbreitet und löst eine Reihe an Kommentaren im Feuilleton aus. Der Begriff der »nationalkonservativen Bewegung« von Steinfeld nimmt dabei eine »Platzhalterrolle« ein und erzeugt eine »Diskurs organisierende Perspektive«, indem er die »Fixierung der Bedeutung von anderen Signifikanten ermöglicht« und einen Horizont absteckt, der vorgibt, was gesagt werden kann und was ausgeschlossen wird (Stäheli 2009: 262). Die metaphorische Zuschreibung polarisiert den Diskurs und teilt das intellektuelle Feld in zwei Lager auf: ›Wir‹ und die ›Anderen‹ – die Neokonservativen. Normativ aufgeladen, erweist sich der Begriff als hochgradig anschlussfähig und lässt immer neue Sprecher in den feuilletonistischen Diskurs eintreten, die das Narrativ der neuen Rechtsintellektuellen verstärken und den Dissens schüren. Am 30. Januar schreibt Ulf Poschardt (2016: 25) in der Welt: Der »liberale Block [bricht] nun auseinander. Und zwar in einen nationalliberalen Kader und jene, die es mit der Freiheit auch im Terriotorialen ernst meinen«. Mit Bezug auf das Interview von Sloterdijk spricht er von einem »Chor der Nationalliberalen«, einem »Chor der Apokalyptiker« und einem »Gassenhauer aus dem neopopulären Konservativendiskurs«. Der »Freigeist Sloterdijk« singe das »hohe Lied auf den Nationalstaat – inklusive Abgesang auf die ungeliebte Kanzlerin«. War er in der Steuerdebatte im Jahr 2009 noch »der ultimative Outlaw«, sei er nun »mehrheitsfähig geworden« und mache sich »gerade in einer Nische breit, die bereits durch Großmeister wie Rüdiger Safranski und Gertrud Höhler belegt« sei.46 Dabei stellt Poschardt eine mangelnde »Fantasie« fest, das »Momentum zur Neudefinition des Landes« zu erkennen: »Vielleicht kommt Sloterdijk wie jeder Revolutionär in ein Alter, wo er sich
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Die Literaturwissenschaftlerin und Publizistin Gertrud Höhler hatte ebenfalls einen Beitrag für die Cicero-Ausgabe (2/2016) unter dem Titel »Merkels Masterplan: Von wegen planlos – die Kanzlerin folgt in der Flüchtlingspolitik einer radikalen Position« geschrieben. Hier kritisiert sie die Bundeskanzlerin Merkel für ihre Flüchtlingspolitik und spricht unter anderem von einem »fatalistischen Kalkül«.
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
im Bestehenden und Beständigen ausruhen will. Die Revolution müssen jetzt andere weiterführen.« Auch Christian Schröder (2016) bezieht sich am 1. Februar im Tagesspiegel auf die Beiträge von Strauß (»Veteran des neorechten Menetekelns«), Sloterdijk (»Großmeister der politischen Metaphorik«) und Safranski (»Dauergast von Sloterdijks ›Philosophischem Quartett‹«) und re-zitiert die Tumult-Autoren Reinhard Jirgl und Frank Böckelmann als »deutsche Denker gegen Angela Merkel«. Mit Verweis auf Steinfeld spricht er von »ideologischen Renegaten unter den neuen nationalkonservativen Wortführern« und von einer »Phalanx von prominenten Kritikern«: »Unter ihnen sind einige der bekanntesten Intellektuellen des Landes«. Das kriegerische Bild der »Phalanx« (griechisch: Schlachtenaufstellung) wird durch Formulierungen wie »militant«, »Stacheldraht ersetzt die Argumentation« und »Metaphern werden entsichert« intensiviert. Die Literarisierung des Diskurses trägt ebenfalls zur Polarisierung bei. Die kriegerische Semantik schließt die ›Nationalkonservativen‹ vom rationalen Diskurs aus und verstärkt den Eindruck einer Gegnerschaft: Werden die »nationalkonservativen Wortführer« als Kriegsführer einer Armee gezeichnet, die um ihr Land kämpfen, werden sie in den Kontext der Gewalt gestellt. Die militärische Kategorisierung unterstellt dem:der Gegner:in symbolisch einen Angriff auf Freiheit und Frieden und lässt die eigene Diskursführung als eine friedliche und diplomatische erscheinen.47 Auch die erneute Verbindung zum Rechtspopulismus trägt zur Verschärfung des Konflikts bei: »Sloterdijks Wunsch nach einem ›Lob der Grenze‹« im Cicero-Interview verknüpft Schröder »zynisch zugespitzt« mit der Äußerung der AfD-Vorsitzenden Frauke Petry zwei Tage später, »dass ›illegale Grenzübertritte notfalls auch mit der Schusswaffe‹ verhindert werden müssten«. Mit kriegerischen Metaphern spitzt auch Hans Hütt (2016) das Narrativ der neuen Rechtsintellektuellen weiter zu. Der freie Autor und Publizist schreibt am
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Die Rhetorik des Streits als Kriegshandlung verweist auf die traditionelle Technik der Polemik, die sich im Gelehrtendiskurs im 18. Jahrhundert herausgebildet hat und deren Bedeutung auf den griechischen Begriff polemos zurückgeführt wird (Krieg, Schlacht, Kampf) bzw. auf das von diesem Wort abgeleitete polemikos (kriegerisch, feindlich gesinnt, den Krieg betreffend) (vgl. Dieckmann 2012: 10-22). Der öffentliche Streit tritt weniger als Gelehrtenstreit im sachbezogenen Argument auf und mehr als Kampf und überspitzter Schlagabtausch zwischen Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und Schriftsteller:innen. »Allgemein charakterisiert man als Polemik eine zwischen Personen gegensätzlicher Auffassung stattfindende Kommunikationsform, bei der ein (Meinungs-)Streit oder eine intellektuelle Auseinandersetzung um politische, wissenschaftliche, literarischen u.ä. Fragen meist mit publizistischen Mitteln sowie mit scharfen (persönlichen) Angriffen und oft unsachlichen Argumenten auf aggressive Weise ausgetragen wird.« (Strauß/Haß/Harras 1989: 295) Zum Argumentieren als verbalem Kampf mit den Waffen des besseren Arguments als Leitvorstellung einer westlichen Streitkultur vgl. Pielenz 1993: 70.
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Debattenkulturen im Wandel
3. Februar im Kulturteil von Zeit-Online: »Die Debatten der letzten sechs Monate erscheinen wie eine Landnahme, eine Grenzverschiebung in bisher ungangbar und vermint scheinendes Gelände. Die Diskurse bewaffnen sich.« An anderer Stelle heißt es: »Es formiert sich ein intellektuelles Freikorps. Auf offener Bühne schwingen sie schwere rhetorische Säbel«, »sie delegitimieren die Politik und munitionieren die neuen Rechtsradikalen«, ein »Sturm braue sich zusammen«, »in den Wortmeldungen dieser Denker erklingen Vorboten einer Landnahme«. Auch hier werden die Kritiker der Grenzöffnung als Bedrohung dargestellt sowie metaphorisch in den Kontext von Krieg und Gewalt gesetzt und als ›Andere‹ artikuliert. Hütt zitiert neben Strauß, Safranski und Sloterdijk die Tumult-Autoren Reinhard Jirgl, Wolfgang Hetzer und Rolf Peter Sieferle, die als »Autoren der nächsten konservativen Revolution«, »als Denker auf Abwegen« und »Heimatvertriebene« bezeichnet werden. Im Teaser heißt es ähnlich wie bei Siemons, Schröder und Steinfeld: »Die deutschen Rechtsradikalen wurden nie wirklich stark, weil die Sympathisanten ihrer Ideen intellektuell kaum zurechnungsfähig waren. Das ändert sich gerade.« (Ebd.) Die Dramatisierung im Beitrag von Hütt wird durch die redaktionelle Bearbeitung durch Zeit-Online verstärkt. Passagen, die Sloterdijks Thesen unterstützen und lobend erwähnen wie jene zu Massenmedien im Umgang mit dem Terror – Sloterdijk spricht hier von einer Komplizenschaft, die den Terror erst möglich mache –, wurden redaktionell gekürzt und entfernt.48 Die redaktionelle Bearbeitung von journalistischen Beiträgen dient in der Regel der besseren Verständlichkeit und der Vereinfachung von komplexen Sachverhalten wie auch der Steigerung der Leserzahlen durch attraktive Schlagwörter, die im Online-Journalismus mittels Messkategorien wie Klicks und Verweildauer als Grundlage für Werbeträger:innen geltend gemacht werden (Matzen 2011: 13). Die Entfernung von Elementen der abwägenden Kommentierung und Kooperation durch die Redaktion trägt zur Verschärfung des Konflikts bzw. zur Polarisierung der politischen Kommunikation bei. Der Soziologe Armin Nassehi (2016a: 2) führt in seiner Polemik vom 8. Februar im Meinungsteil der Welt ebenfalls Stimmen aus dem intellektuellen Feld zusammen, die sich weniger durch liberale Kategorien und vernünftige Redeweisen als vielmehr durch eine Rhetorik des Schwadronierens in »sarrazinesker Manier« auszeichnen. Auch er spricht mit Verweis auf Strauß, Sloterdijk und Safranski von einer »neue[n] soziale[n] Gruppe« und beobachtet eine »Maskulinisierung der öffentlichen Debatte durch ältere Männer, denen es eine unbändige Lust zu bereiten scheint, auf Ressentiments zurückgreifen, die sie als wenigstens ansatzweise liberale Intellektuelle kaum je vorher gebraucht hätten.«49 Als »Hüter des Kollektiven« 48 49
Ich danke Hans Hütt für das Gespräch am 9. Dezember 2016 in Berlin. Nassehis Polemik bezieht sich auf einen Text, den er im Oktober 2015 im Kontext der Ankunft der Flüchtlinge für die Welt in der Rubrik »Meinung« geschrieben hat. Hier verwendet er den
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
weisen sie »eine ganz spezifische Form des Beleidigten« auf: »Leute, die ihren Einfluss auf die Zeitläufe hinter sich wähnen, also auch irgendwie Abgehängte« und die sich »bereitwillig in die unselige Ökumene der Vereinfacher und der Gegner der liberalen Idee einer Gesellschaft machen«.50 Von Nassehi in die Gruppe der Rechtsintellektuellen neu aufgenommen werden Wolfgang Herles, Journalist und Kolumnist des seit 2014 erscheinenden liberal-konservativen Monatsmagazins Tichys Einblick, und dessen Herausgeber Roland Tichy, ebenfalls Journalist, sowie der Schriftsteller Peter Schneider, der in den 1960er Jahren Wortführer einer linken Berliner Studentenbewegung und Mitglied einer proletarischen Linkspartei war.51 Das Narrativ der (Re-)Konstruktion der Rechtsintellektuellen wird mit immer neuen Stimmen und Kontexten angereichert und fixiert sich in der Wiederholung im Diskurs. In der kontinuierlichen Versammlung der Stimmen zu einem Diskurs der Anderen bildet sich in einem Zeitraum von über vier Monaten ein Dissens aus, in dem Sloterdijk und Safranski als die »neuen Wortführer« der Nationalkonservativen durch die Verbindung von Elementen wie ›Irrationalität‹, ›Rechtspopulismus‹, ›Weltfremdheit‹, ›Anti-Pluralismus‹ und ›Maskulinisierung‹ bzw. der Rede von ›alten Männern‹ zu einem bedrohlichen ›Anderen‹ artikuliert werden. Das Feuilleton stellt sich als eine Einheit im Kampf gegen den neuen Rechtsintellektualismus dar und weist zu diesem Zeitpunkt ein relativ homogenes Erscheinungsbild auf. Lediglich der Feuilletonredakteur Christian Geyer (2016: 11) kritisiert das konstruierte Bild im Feuilleton und spricht in der FAZ von »Reflexionsketten« »bestimmter Signalwörter«, demzufolge man »gespannt sein« dürfe, welche Reflexe der Begriff des »territorialen Imperativs« von Sloterdijk im Cicero-Interview auslösen wird. Geyer entschärft den Reiz, wenn er fragt: »Ist Sloterdijks Debattenbeitrag damit eine No-Go-Area für Kultivierte?« und feststellt: »Antireflexhaft reflektiert, darf man Territorialprinzip und Nationalstaat offenbar hochhalten, ohne seine linksliberale Denkschule zu verraten.« Das Feuilleton treibt den Konflikt in eine Form, in der sich zwei gegnerische Gruppierungen relativ unversöhnlich gegenüberstehen: Zum einen das rechte La-
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Begriff der »Maskulinisierung öffentlicher Räume« und weist auf eine mögliche männlich geprägte Gruppendynamik im öffentlichen Raum hin (2015b: 2). Bei dem Begriff des »Abgehängten« handelt es sich um eine Bestimmung einer sozialen Gruppierung, der den medialen Diskurs um den »neuen Rechtspopulismus« mitbestimmt (vgl. Nachtwey 2017). Das Deutungsangebot greift Nassehi auch in seinem Essay über »Die Stunde der Konservativen« vom 19. Februar 2016 in der FAZ auf: »Die eigentlich problematischen Gruppen scheinen […] diejenigen [zu sein], die sich in einer umfassenden Ökumene von Vereinfachern wiederfinden: hier die islamischen Vereinfachter […], dort eine blühende rechtsintellektuelle Szene, die der AfD und Pediga die semantischen Chiffren zur Verfügung stellt, auf die dann Großdenker wie Rüdiger Safranski oder ehemalige Linke wie Peter Schneider mit einer Wortwahl bereitwillig aufspringen.« (Ebd.)
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Debattenkulturen im Wandel
ger, das über Elemente wie Souveränität, Nation, Volk und Gemeinschaft artikuliert wird und die Verschärfung des europäischen Grenzregimes bzw. Stärkung des Staates und der nationalen Identität einfordert. Dazu gehören der Dichter Botho Strauß und die Philosophen Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk sowie der Publizist Frank Böckelmann, der Politiker und Jurist Wolfgang Hetzer, der Philosoph Rudolf Burger, der Historiker Rolf Peter Sieferle, die Schriftsteller Reinhard Jirgl und Peter Schneider, die Literaturwissenschaftlerin Gertrud Höhler und die Journalisten Wolfgang Herles und Roland Tichy. Zum anderen das linke Lager, das sich über Kategorien wie Solidarität, Menschenrechte und Vielfalt bestimmt und für Pluralität und eine offene Gesellschaft plädiert. Hierzu zählen der Soziologe Armin Nassehi und der Publizist Hans Hütt sowie die Feuilletonisten Thomas Steinfeld (SZ), Christan Schröder (Der Tagesspiegel), Dietmar Dath (FAZ), Richard Kämmerlings (Die Welt) und Ulf Poschardt (Die Welt). Christian Geyer (FAZ) nimmt in der Debatte eine kommentierende und abwägende Position ein und kann nicht einem Lager zugeordnet werden.
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Phase 3: Aushandlung: »Unbedarftes Dahergerede«
In der Feuilletondebatte greifen zwei Diskursstränge ineinander: Zum einen die (Re-)Konstitution der neuen Rechtsintellektuellen, die den liberalen Konsens im intellektuellen Feld bedrohen. Zum anderen die Auseinandersetzung zur deutschen Flüchtlingspolitik im Rahmen der Entscheidung der temporären Grenzöffnung durch die Bundesregierung. Der Dissens im Spannungsverhältnis von linken und rechten Deutungskulturen wird leidenschaftlich geführt und erfährt vor allem in der zweiten Phase eine Zuspitzung. Ende Februar 2015 reagiert Die Zeit und lässt Herfried Münkler als neuen Sprecher in den politischen Streitraum eintreten. Der Politikwissenschaftler tritt zunächst im Politikressort (2015a) und später im Feuilleton (2015b) auf, um die Entscheidung der Bundesregierung zu prüfen. Das Feuilleton der Zeit stellt eine politische Bühne bereit, auf der die Gegner in einem gemeinsamen Raum gegeneinander antreten, um den Konflikt auszutragen. Die »Auseinandersetzung zwischen Kontrahenten« (Mouffe 2014: 28) ist weniger von Abwertungs- und Ausschlusspraktiken und mehr von einer Aushandlung zwischen den konfligierenden Positionen geprägt. Während Sloterdijk als universal gelehrter Philosoph auftritt, der bestehende Verhältnisse auf Abweichung prüft und moralische Werturteile fällt, nähert sich Münkler der Sozialfigur der Experten an, der die Entscheidung von Merkel mit politikwissenschaftlicher Expertise auf ihre Gültigkeit prüft. Insofern kann er als »Dritter« bezeichnet werden, der »konsultiert« wird, um Ordnung ohne »unmittelbare Verwendungs- bzw. Nützlichkeitsgarantien« (Pfadenhauer 2010: 106) zu schaffen. Expert:innen zeichnen sich idealtypisch nicht durch ein politisches Engagement oder eine persönliche Ansprache als vielmehr durch Sachverstand und eine nüchterne Analyse aus.
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
»Nicht wer spricht oder wie gesprochen wird als vielmehr, was gesprochen wird, erscheint als relevant« (Hitzler 1994: 15).52 Die Transformation der Debatte von einem Kampf um kulturelle Identität hin zur Auseinandersetzung um die Entscheidung der Bundesregierung geht mit einem Wandel der Problemstellung einher: Nicht die Ordnung der Kultur steht im Vordergrund, sondern die liberale Ordnung einer modernen Gesellschaft, die zwischen den Polen der individuellen Freiheit und dem staatlichen Ordnungsanspruch ausgehandelt wird. Die Gegenposition zu Sloterdijk erschließt sich weder im Medium der Kultur (Phase 1) noch wird sie moralisch begründet (Phase 2), sondern primär aus der Sache heraus, die mit wissenschaftlicher Sachkenntnis reflektiert wird (Phase 3). Dabei kündigen sich weitere Bruchstellen an, welche die Debatte selbst betreffen: Die Sozialfigur der Intellektuellen und die Debattenkultur. Der Intellektuellenstreit umfasst insgesamt drei Zeit-Artikel, die im Folgenden analysiert sowie auf agonal-konfligierende und kooperativ-verständige Momente hin geprüft werden.
Text 1: Münkler In seinem Beitrag mit dem Titel »Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können« vom 20. Februar im Politikressort der Zeit sieht Münkler die »Entscheidung für durchlässige Grenzen« darin begründet, »Zeit zu kaufen, um die Ursachen der Krise und deren weitere Entwicklung zu erfassen und europäische Lösungen für ein Problem zu erarbeiten, das eine Herausforderung Europas für die nächsten Jahrzehnte darstellt« (Münkler 2016a: 7). Ausgehend von der Annahme, dass Politik von einem »strategischen Denken und Handeln«53 geleitet ist, erklärt er, dass 52
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Für Intellektuelle werden traditionell zwei Formen der Autorisierung geltend gemacht: Zum einen sollen Intellektuelle eine wissenschaftliche Kompetenz erworben haben, die sie in der Regel über eine gründliche Ausbildung oder eine Position an einer staatlichen Bildungseinrichtung erhalten haben. Zum anderen verfügen sie über ein bestimmtes Renommee bzw. Prominenz, die mit einer vorausgehenden Anerkennung der öffentlichen Rede einhergeht. Sloterdijk war bis 2015 als Rektor und Professor für Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe tätig und moderierte zwölf Jahre gemeinsam mit Rüdiger Safranski die Gesprächsrunde Das philosophische Quartett im ZDF, zudem stieß er zahlreiche Debatten im Feuilleton an. Münkler ist Ideenhistoriker und hat seit 1992 den Lehrstuhl für Theorie der Politik am Fachbereich Sozialwissenschaft der Humboldt Universität Berlin inne, unterhält eine Kolumne in der Frankfurter Rundschau und tritt regelmäßig als Sprecher in unterschiedlichen (Print)Medien auf. Münkler benennt eingangs drei Perspektiven, von denen ausgehend »die Flüchtlingskrise« analysiert werden könne: erstens als »humanitäre Herausforderung«, hier gehe es um »Solidarität, Mitgefühl«, »Barmherzigkeit« und die »völkerrechtliche Selbstbindung des Staates«; zweitens als »logistisches Problem«, hier gehe es um »Unterbringungsprobleme«, »Ressourcen und Kosten«, »Wohnungsbauprogramme und Sprachkurse«; und drittens als »eine politisch-strategische Herausforderung«, hier »gehe »es um die Frage, ob es jenseits humanitärer
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Debattenkulturen im Wandel
der »Tausch Raum gegen Zeit« »ein Grundelement strategischen Denkens« sei. Entgegen der Auffassung von Sloterdijk und Safranski kommt Münkler zum Ergebnis, dass die politische Entscheidung der Grenzöffnung »wenig mit Romantik oder Gefühlsduselei zu tun« hat. »Die demonstrative Ausrufung der »Willkommenskultur« sei »eine zivilgesellschaftliche Reaktion auf die Brandanschläge gegen Asylantenwohnheime« und gehöre »zum Kampf um das Selbstverständnis und Erscheinungsbild Deutschlands«.54 Auch »(unberechtigte) Vorwürfe« von europäischen Regierungen gegen die Bundesregierung weist er zurück: »Es ist nicht auszuschließen, dass die EU unter dem Druck der Flüchtlingskrise zerbrechen wird, aber es ist ein Essential der deutschen Politik, dass dies erst eintritt, nachdem man in Berlin alles versucht hat, das zu verhindern.« (Ebd.) Wurden bisher bessere Gründe für die politische Entscheidung in politikwissenschaftlicher Perspektive präsentiert, in der Zeitmanagement und das europäische Projekt eine zentrale Rolle spielen, um die politische Entscheidung zu legitimieren, so geht es im zweiten Argumentationsstrang darum, zu debattieren, worin die »Kosten der Schließung der Grenzen bestanden hätten und bestehen würden« (ebd.). Von dieser Problemstellung ausgehend prüft Münkler die alternative Entscheidungsmöglichkeit der Grenzschließung, wie sie von Kritiker:innen eingefordert wird, und benennt die damit verbundenen Risiken. Der Politikwissenschaftler verweist unter anderem auf das Leid der anderen Nationen und spricht im »Rückblick auf die Gewaltexzesse beim Zerfall Jugoslawiens« von einer Überforderung der schwachen Staaten in Europa im Fall eines »deutschen Einreisestopps« und einer »massiven Veränderung« des ohnehin schon »labilen ethnischen und konfessionellen Gleichgewichts« dieser Länder. In Bezug auf die Interventionen von Sloterdijk und Safranski nimmt Münkler die Rhetorik der Intellektuellen in den Blick. Ausgehend von einer Kritik an
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Gesichtspunkte und rechtlicher Selbstbindungen Gründe dafür gab, die deutschen Grenzen für den Flüchtlingsstrom auf der Balkanroute zu öffnen« (2016a: 7). Von letzterer Fragestellung ausgehend beginnt Münkler seine politikwissenschaftlich informierte Expertise, um die politische Entscheidung der Grenzöffnung im September 2015 auf Grundlage von politikstrategischen Maßstäben auf seine Richtigkeit zu prüfen. Münkler begründet seine These der Richtigkeit der Entscheidung der Bundesregierung in Abwägung von Nutzen und Kosten. Den Faktor »Nutzen« konkretisiert er anhand von drei Aspekten: erstens, die Verhinderung einer Politik der nationalen Grenzregime, die das »Ende des Schengenraums und damit die EU als Ganzes« zur Folge hätte; zweitens die Verhinderung eines Flüchtlingsstaus auf der Balkanroute und damit verbunden des Zusammenbruchs der dortigen Staaten; drittens die Verhinderung eines Alleinganges Deutschlands und das Image eines nationalen Egoismus. Den Faktor »Kosten« konkretisiert er wie folgt: Erstens die Verringerung der Beteiligung an einer gemeinsamen Lösung durch die an der Balkanroute liegenden Länder; zweitens die Ablehnung und der Widerstand bei Teilen der deutschen Wahlbevölkerung (Münkler 2016a: 7).
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der herrschenden »Alternativlosigkeit« der Flüchtlingspolitik stellt Münkler einen »gravierenden Mangel an strategischer Reflexivität in der politischen Kultur dieses Landes« fest, die sich auch in den öffentlichen Einlassungen jener Intellektuellen zeige, »die sich über Jahre als Gralshüter realer Komplexität und Repräsentanten komplexen Denkens in Szene gesetzt haben« (ebd.). Münkler spielt hier explizit auf Sloterdijk und Safranski als »philosophische Lehrmeister der Republik« (ebd.) an und verweist mit Aussagen wie »unterkomplexe Antworten haben ihre eigene Suggestion« auf antirationale Logiken, um davon ausgehend ihre Kompetenz in Frage zu stellen: »Ihre jüngsten Einlassungen zeigen, dass diese Vor-Denker viel über das 20. Jahrhundert geredet haben, dass ihre Neigung zu einem Denken in Metaphern sie aber daran gehindert hat, analytisch zu durchdringen, worüber sie redeten.« (Ebd.) Der Politikwissenschaftler stellt die Kriterien der Sachlichkeit und Plausibilität dem polemischen Spiel und der sprachlichen Stilistik entgegen und eröffnet eine weitere politische Dimension in der Debatte: die Dichotomie zwischen den klassischen (Medien-)Intellektuellen und den Expert:innen. Ist bereits im Titel von »Ahnungslosigkeit« die Rede, so werden die Interventionen der Philosophen als »Geschwätz« bezeichnet: »Dass die Grenzschließer unter den Intellektuellen diese Probleme nicht in Betracht ziehen, zeigt die strategische Unbedarftheit ihres Dahergeredes.« Münkler befragt die analytische Schlagkraft von Sloterdijk und Safranski und kritisiert die Folgen für den politischen Diskurs: »Das wäre zu verkraften, wenn diese Art des Denkens nicht auf das Kommunizieren der Politik und ihrer Entscheidungen übergegriffen hätte.« In diese Richtung weisen auch Sätze wie: »Sonst nämlich wäre über die Dilemmata solcher Entscheidungen und die mit ihnen je verbundenen Kosten diskutiert worden.« Hier äußert sich der Machtanspruch des Experten im intellektuellen Resonanzraum. Das Ideal der rationalen Kommunikation wird nicht allein für die Analyse der Entscheidung der Bundesregierung eingesetzt, sondern auch als Verfahren der (De)Legitimation. Die Befragung des:der allgemeinen Intellektuellen, der:die von Sloterdijk seit Jahrzehnten repräsentiert und zunehmend vom Typus der Expert:innen abgelöst wird (vgl. Pfadenhauer 2010), kann als politische Strategie im Kampf um Deutungshoheit verstanden werden. Mit den Ereignissen der Ankunft der Geflüchteten aus aller Welt droht ein erneuter Bedeutungsverlust der europäisch geprägten Intellektuellen. Münkler nutzt den Moment der Kontingenz und stärkt die Rolle der Expert:innen als Träger:innen »besonderen Wissens« und »besonderer Kompetenzen« (ebd.: 98f.), politische Entscheidungen beurteilen und Problemlösungen anbieten zu können.
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Text 2: Sloterdijk Die Gegenüberstellung von Expert:innen und Intellektuellen befragt die Machtverhältnisse im intellektuellen Raum und wird von Sloterdijk aufgegriffen. In einer groß angelegten Replik im Feuilleton der Zeit schließt er zunächst nicht an die sachlichen Aussagen zur Flüchtlingspolitik an, sondern an die polemischen Äußerungen, die auf ihn in der Rolle des Intellektuellen Bezug nehmen. Der Philosoph repräsentiert sich als Intellektueller und Vertreter der »Volksmeinung« (Sloterdijk 2016: 39) und baut die von Münkler angelegte Dichotomie zwischen den Intellektuellen und den Expert:innen aus, wenn er zwischen einem ›normativen Wissen‹ und einem ›deskriptiven Wissen‹ unterscheidet. Sloterdijk stellt dem »Experten für politische Dinge« das Modell des Nicht-Wissens und den Möglichkeitssinn der gelehrten Philosoph:innen gegenüber, die alternative Welten entwerfen und Fragen stellen. Mit dem »strategischen Denken« gehe sowohl ein Mangel an Experimentbereitschaft als auch eine Unmöglichkeit einher, das Zufällige und Kontingente zu erkennen. Im Unterschied zur »Strategie-Versteherei auf der Basis von forscher Imperiophilie« zeichne sich die Philosophie durch das »Lesen in Zwischenräumen« und den »Zweifel« aus. Die »Beobachtung von Originalgeschehnissen aufgrund wirklichkeitsbildender Entscheidungen« führe bei »Historikern wie bei Politologen und Sozialwissenschaftlern« zu einer »Neigung zum Einknicken vor der Faktizität« (ebd.). Der Deutungskampf um das bessere Wissen im intellektuellen Feld findet hier in Gegenüberstellungen wie Ästhetik und Rationalität, Normativität und Sachlichkeit, Fiktionalität und Faktizität einen Ausdruck. Darüber hinaus verbindet Sloterdijk den Diskurs mit »Deutschlands aktuelle[r] Debattenkultur« – ein Thema, auf das Münkler bereits verwiesen hat. Während der Politikwissenschaftler von einer »Alternativlosigkeit« ausgeht (»Die Debatte darüber wird selten geführt« bzw. »diese Debatte ist in Deutschland so gut wie nicht geführt worden«, Münkler 2016a: 7), legt Sloterdijk die Kritik grundsätzlicher an. Der Philosoph stellt einen »heftigen Temperaturanstieg im nationalen Debattenklima« und eine »neue Aufgeregtheit« fest und spricht von einem »Drama des Kulturverlusts«, »dass sich in den sozialen Medien wie in den Qualitätsmedien täglich abrollt« (Sloterdijk 2016: 39). Damit einher gehe eine »Tendenz der Entkulturalisierung« und eine »Enthemmung des Primitiven«, wenn »dressierte Kulturteilnehmer«, gemäß einer »Pawloscher Logik« auf »semantische Stimuli wie ›Grenze‹, ›Zuwanderung‹ und ›Integration‹« reagieren. Auch von »Beißwut«, »Abweichungshass« und »Denunziationsbereitschaft« ist die Rede. »Das bewundernswerte Hemmsystem ›Hochkultur‹« überlebe mit Sloterdijk »nur, indem es Einbrüche aus dem Barbarischen, das heißt aus der Sphäre der Primär-Reflexe, früh genug in Schach« hält. Erst spät geht Sloterdijk auf die Flüchtlingspolitik ein. Zum einen bezieht er sich auf die Vorwürfe aus dem Feuilleton: Zuschreibungen wie »nationalkonserva-
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tiv«, »neu-rechts« oder Unterstützer von »irrwitzigen AfD-Positionen« weist er als »törichte Verzerrung seiner Ansichten« zurück und beschreibt sich als »Linkskonservativer« mit der Aufforderung, den »bewahrenden ›partikularen‹ Interessen ihr Recht zu lassen«. Der »Reflex-Polemik im Gewächshaus der diskutierenden Klasse« begegnet er mit »seinen Überlegungen zur Differenz zwischen modernen starkwandigen Container-Gesellschaften und postmodernen dünnwandigen MembranGesellschaften« und verteidigt Safranski als »großherzige[n], menschenfreundliche[n], und integrative[n] Geist«, der sich »mit seinem gesamten Werk« »um die Versöhnung einer geschichtskranken Kultur« bemüht habe. Zum anderen gibt er zu, dass er und Safranski »Bedenken gegen die ›Flutung‹ Deutschlands mit unkontrollierbaren Flüchtlingswellen« gehabt haben. Er begründet die Einlassungen mit einer »linkskonservative[n] Sorge um den gefährdeten sozialen Zusammenhalt« und vertrete damit die »Volksmeinung«, die dem Eindruck zustimme, »es habe sich bei der Merkelschen Willkommens-Propaganda um eine Improvisation in letzter Minute gehandelt«. Ordnet Sloterdijk die Entscheidung der Bundesregierung auch erneut als »hilflose Reaktion auf Unerwartbares« ein, so relativiert er zugleich seine Position, wenn er die Entscheidung in Auseinandersetzung mit Münklers Urteil als »situativ richtig« bewertet: »Es mag sogar sein, dass Angela Merkels erste Reaktion situativ richtig war, weil sie die plötzliche Wiederverhässlichung Deutschlands aufhielt.« (Ebd.) Im Prozess der Anerkennung der politischen Entscheidung durch Rechtfertigung nähern sich die gegnerischen Positionen einander an und bilden ein Moment des Konsenses aus, der eine Schlichtung und damit eine Überwindung des Konflikts anstrebt. Dies wird auch dann deutlich, als Sloterdijk dem Politikwissenschaftler abschließend das Gespräch anbietet: »Ich würde es begrüßen, wenn die ZEIT Rüdiger Safranski, Herfried Münkler und mich selbst in fünf Jahren […] zu einem Austausch unserer Perspektiven auf ein Podium einladen wollte«. Die Geste der Versöhnung wird zugleich vom Gestus der Geltungsmacht im intellektuellen Feld überlagert: »Ich würde Herrn Münkler dann erneut die Frage stellen, wie er seine erstaunliche Wandlung vom gelehrten Imperium-Versteher […] zum Kavaliers-Politologen rechtfertigt, als welcher er jetzt Frau Merkels unbeirrbar konfusem Handeln ein grand design unterstellt.« (Ebd.) Sloterdijk referiert auf die idealtypische Trennung von politischer Entscheidungsund intellektueller Deutungsmacht und setzt den Politikwissenschaftler als Experten in Szene, der Verbindungen zur Politik hat (»Kavaliers-Politologe«) und seine relative Autonomie aufgibt – »denn faktisch berät der Intellektuelle die Politik, ohne selbst politisch tätig zu sein« (Ziemann 2011: 294). Bezeichnet Sloterdijk den Debattenbeitrag von Münkler als »Polemik«, »Fehllektüre-Leistung« und »okkasio-
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nelle Ungezogenheit im Streben nach Deutungshoheit« (Sloterdijk 2016: 39), spricht er ihm seinerseits die Legitimität ab: Der:die Expert:in hört auf, Expert:in zu sein, wenn er:sie die sachliche Kompetenz für Eigeninteressen einsetzt und parteipolitisch tätig wird (vgl. Pfadenhauer 2010: 104f.).
Text 3: Münkler Die Antwort von Münkler (2016b: 42) am 12. März im Feuilleton der Zeit beginnt mit dem Satz: »Peter Sloterdijk hat einen ausgeprägten Affekt gegen strategisches Denken.« Der Politikwissenschaftler stellt in seinem zweiten Beitrag mit dem Titel »Weiß er, was er will?« ein weiteres Mal das »strategische Denken« dem »Tanz der Metapher« entgegen und verdeutlicht nach erneuter Prüfung der Entscheidung der Bundesregierung, warum er »Sloterdijks politische Ratschläge als ein von strategischer Unbedarftheit geprägtes Dahergerede bezeichnet habe«. »Sloterdijk scheint das gespürt zu haben, weswegen er neben seinem trotzigen Beharren auf dem antistrategischen Affekt einen ungeordneten Rückzug von den im Cicero-Interview vertretenen Positionen angetreten hat: Fast schon verschämt spricht er nun von ›Anmerkungen zum Souveränitätsdefizit in der Berliner Asyl- und Einwanderungspolitik‹ und einem ›Hinweis auf die Verletzbarkeit und Schutzwürdigkeit von Grenzen‹.« (Ebd.) Während bei Sloterdijk eine Annäherung in der Sachfrage erfolgt, verstärkt Münkler den Dissens, wenn er beispielsweise auf die »in dem jüngsten Essay wieder aufgenommene Entgegensetzung von ›starkwandigen Container-Gesellschaften‹ […] und ›postmodernen dünnwandigen Membran-Gesellschaften‹« eingeht. Dabei kommen divergierende Vorstellungen von ›Nation‹ zum Vorschein. Während Sloterdijk »eine entschiedene Rückkehr zum Nationalstaat« fordere und einen ›alten‹ »Souveränitätsbegriff« verfolge, spricht Münkler von einer »Zersplitterung von Souveränität« und weist erneut darauf hin, »dass es die im Begriff der Souveränität annoncierte Handlungsmächtigkeit des klassischen Territorialstaates nicht mehr gibt«. Auch seine Einschätzung zur Entscheidung von Merkel bekräftigt der Politikwissenschaftler. Während er im Februar noch dementiert, dass »retrospektiv die damalige Entscheidung falsch gewesen wäre« (2016a: 7), bezeichnet er sie nun als »einigermaßen gelungen« (2016b: 42): »Das Ziel der deutschen Regierung ist es, den offenen Binnenraum der Europäischen Union durch eine bessere Sicherung der EU-Außengrenzen zu erhalten und dies durch die Bearbeitung einer der wichtigsten Ursachen des Flüchtlingsstroms, des syrischen Bürgerkriegs, zu begleiten.« (Ebd.) In Bezug auf die These des »konfusen Handelns« von Merkel erklärt er dem Intellektuellen vor einem imaginierten Publikum, wie eine »richtige« politische Ana-
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lyse geht.55 Wenn Sloterdijk »wirklich« ein »politischer Kopf« sei, dann müsse er »fragen«, ob »er im Agieren der Regierung ein nachvollziehbares Konzept, einen strategischen Plan erkennen kann, um diesen dann mit alternativen Plänen und Reaktionen zu vergleichen« (Münkler 2016b: 42).56 »Dieser methodischen Vorgabe« sei Sloterdijk nicht gefolgt, notiert Münkler, und fordert den Kontrahenten heraus: Sloterdijk müsse sich »entscheiden«, entweder »die im Cicero bezogene Position verteidigen« oder »die Stellung räumen und klein beigeben«. Mit Bezug auf die Verteidigung von Sloterdijk als Vertreter der »Volksmeinung« verweist Münkler den Philosophen schließlich selbst vom Platz: »Selten hat ein Intellektueller so schnöde den Streitraum der politischen Meinungen verlassen«. Die Debatte verlagert sich von der deutschen Flüchtlingspolitik hin zu einem Kampf um Deutungsmacht im intellektuellen Feld und gestaltet sich zunehmend als »Selbstbespiegelung«, wie der Literaturwissenschaftler Matthias Schöning auf dem Blog der Kulturzeitschrift Merkur feststellt: »Nach Positionierung und Reaktion wird der Dissens sofort verdünnt: Anstatt Argumente auszutauschen, die sich weiterhin auf die Flüchtlingspolitik beziehen, wird sehr schnell nur noch über das Reden geredet. Was mit politischen Fragen begann, wird zur Selbstbespiegelung.« (Schöning 2016) Der emotionale Rückbezug der Sprecher auf jene Partikulardiskurse, denen die Debattenteilnehmer selbst angehören, hemmt eine Auseinandersetzung über das Allgemeine in politischen Kategorien. Politik und Emotion schließen sich zwar nicht
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»Dazu muss man gerade nicht wissen, wie die Entscheidungen im Kanzleramt und am Kabinettstisch tatsächlich zustande gekommen sind und wer darauf welchen Einfluss genommen hat. Dafür genügt eine Analyse der Politik nach den Vorgaben rationalen Handelns. Wenn eine solche Rekonstruktion zu dem Ergebnis kommt, dass die Regierung agiert hat, als ob dieser oder jener Plan ihrem Handeln zugrunde gelegen hat, dann ist das für eine strategische Analyse des Regierungshandelns hinreichend. Man unterstellt den Akteuren probehalber eine zweckrationale Interessenverfolgung und rekonstruiert gemäß dieser Vorgabe das beobachtbare Handeln. Erst wenn man auf diesem Weg nicht weiterkommt und statt einer strategischen Leitidee nur hektisches Taktieren beobachtet, kann man von ›konfusem Handeln‹ und ›Autohypnose‹ sprechen.« (Münkler 2016b: 42) Die am 21. August entschiedene und am fünften September 2015 von Bundeskanzlerin Angela Merkel öffentlich verkündete Entscheidung der temporären Grenzöffnung löst einen innerparteilichen Konflikt aus. Während Merkel die Idee einer wirtschaftlich starken und sozial reifen Gesellschaft repräsentiert, die eine hohe Anzahl an Flüchtlingen aufnehmen und organisatorisch bewältigen kann (»Wir schaffen das«), bildet Horst Seehofer von der CSU die Opposition. Im Narrativ eines nicht enden wollenden Stroms plädiert Seehofer für eine Grenzschließung und führt im Oktober den Begriff der Obergrenze ein. Kurz darauf verkündet Bundesinnenminister Thomas de Maizière die Entscheidung der Grenzschließung bzw. der Grenzkontrollen auf unabsehbare Zeit angesichts einer Zunahme der Anzahl der Geflüchteten, was zu einer Verschärfung des Konflikts führt.
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aus und sind konstitutive Bestandteile von Debatten. Die Leidenschaft zwischen den Kontrahenten entzündet sich jedoch weniger im Kampf um das Allgemeine als vielmehr im Prozess der Aufwertung der eigenen Position durch die Abwertung des Gegners. Während Münkler seinen Auftritt machtstrategisch einsetzt und seine Stellung als Experte stärkt, deutet die Polemik von Sloterdijk auf eine Furcht vor dem Verlust der eigenen Position im intellektuellen Feld hin. Verkündet Sloterdijk den Niedergang der Debattenkultur durch eine »Enthemmung des Primitiven«, die »sich nur schwer zurückdrängen lässt« (2016: 39), beschreibt er nicht zuletzt seinen eigenen Machtverlust. Münkler ruft in seiner Replik schließlich den berühmten Tod der Intellektuellen aus: »Man muss Sloterdijks Essay aber nicht unbedingt als Dokument eines verkorksten Denkens lesen, sondern kann darin auch die Abdankungserklärung eines Typus öffentlicher Intellektualität sehen, der die Debattenkultur dieses Landes lange Zeit beherrscht hat.« (Münkler 2016b: 42) Dabei sind die Aufgaben in der politischen Öffentlichkeit unterschiedlich verteilt: Medienintellektuelle stellen Moralfragen und erzeugen Aufmerksamkeit für Themen mit rhetorischen Mitteln, damit Expert:innen einen öffentlichen Raum erhalten, um Entscheidungen der Politik durch eine sachliche Expertise zu prüfen. Nicht die Differenz gegenüber dem zu klärenden Sachverhalt oder die Heterogenität der Vorstellungen von öffentlicher Kritik bringen die Debatte zum Erliegen, sondern die »Kultur der erfolgreichen Kompetenzdarstellung« (Gouldner 1980: 113). Das Spektakel auf der Bühne handelt zunehmend davon, wer »zu klein geraten« (Münkler 2016b: 42) ist und mutiert zu einem Streit zwischen Intellektuellen, die ihre Kompetenz im Kampf um Geltungsmacht vorführen. Bezichtigt Sloterdijk den Gegner »als Mitwisser« »einer an der Spitze des deutschen Staatswesens waltenden strategischen Vernunft« (Sloterdijk 2016: 39), entlarvt der sie als »Gedankenoperation« (Münkler 2016b: 42). Beklagt sich Sloterdijk über »schlechtes Lesen« in der »Debattenkultur« (2016: 39), bezichtigt Münkler ihn als »das gröbste Beispiel dafür« (2016b: 42). Spricht Sloterdijk von »Pawlowschen Stichwort-Mechanismen« und »Reflex-Polemik« (2016: 39), schreibt Münkler: »Peter Sloterdijk hat einen ausgeprägten Affekt gegen strategisches Denken« (2016b: 42); klagt der eine über die »politische Strategie« (Sloterdijk 2016: 39) des anderen, spricht der vom »Tanz der Metaphern« (Münkler 2016b: 42). Davon ausgehend kann festgestellt werden, dass Affekte und Emotionen eine widersprüchliche Funktion in der Debatte übernehmen: Sie mobilisieren zu politischen Sprechakten und ermöglichen den demokratischen Streit. Gleichzeitig erschweren sie eine sachliche Auseinandersetzung und bringen die Debatte schließlich zum Erliegen. Münkler plädiert für einen rationalen Diskurs im Ideal der liberalen Öffentlichkeit und geht von einem »Streitraum der politischen Meinungen« (2016b: 42) aus. Zugleich sind auch seine öffentlichen Sprechakte von affekti-
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ven Kräften geprägt sind, die sich im Beziehungsverhältnis der beiden Kontrahenten potenzieren und den Verlauf der Debatte mitbestimmen. Sloterdijk reagiert in seiner Replik beispielsweise nicht mit einer philosophisch informierten Gegenrede zur Flüchtlingspolitik im Ideal eines vernünftigen Diskurses, sondern nimmt »Deutschlands aktuelle Debattenkultur« (Sloterdijk 2016: 39) in den Blick. Der Philosoph bezieht sich primär auf die wenigen Äußerungen zu seiner Rolle als Intellektueller und stellt weniger die Entscheidung der Bundesregierung in den Mittelpunkt als vielmehr das Räsonnement selbst. Dabei sind es nicht allein die Aussagen von Münkler zu seiner Person, die Sloterdijk zu einem 20.000 Zeichen-Essay veranlasst haben, sondern auch die affektive Aufladung der gesamten Debatte. Dies wird vor allem dann deutlich, als er auf den Beitrag von Schröder (2016) Bezug nimmt, und ihn als »einen Fall von Reflex-Polemik im Gewächshaus der diskutierenden Klasse« beschreibt – ein »Schnellschuss im Berliner Tagesspiegel« in dem ein »Übererregter« es für klug halte, »über Stahlhelme auf den Köpfen von vorgeblich nationalkonservativen Intellektuellen zu fabulieren« (2016: 39). Der über ein halbes Jahr im Feuilleton erzeugte Dissens gegen einen neuen Rechtsintellektualismus, in der Intellektuelle wie Safranski und Sloterdijk zu deren »Wortführern« stilisiert werden, lädt die Debatte emotional auf und erzeugt eine affektive Diskursstruktur. Aussagen wie die des Medienintellektuellen Richard David Precht schüren zusätzlich den Affekt. Dieser hatte Sloterdijk »in einem lockeren WeinGespräch« (Schöning 2016) im Kölner Tagesanzeiger »Nazi-Jargon« (Stallknecht 2016: 17) vorgeworfen – das »klingt für mich nach Rudolf Höß« (Precht 2016: 9) –, eine Anspielung, »mit denen man jemanden eigentlich mundtot macht« (Schöning 2016). Im Unterschied zu Precht erkennt Sloterdijk Münkler als legitimen Gegner an: »Der Fall hat eine aparte Seite, da Münkler kein kleiner Kläffer ist, wie ein Philosophie-Journalist aus der Narren-Hochburg Köln, der offensichtlich immer noch nicht weiß, wer und wie viele er ist.« (2016: 39) Tragen Verfahren der Verschlagwortung und Zuspitzung, der Personalisierung und Vereinfachung auch zur einer Entsachlichung der Auseinandersetzung bei, so schafft der Streit zwischen Münkler und Sloterdijk zugleich Aufmerksamkeit für das Thema und belebt die öffentliche Debatte zur deutschen Flüchtlingspolitik. Armin Nassehi (2016c) mischt sich beispielsweise erneut ein und nimmt »Sloterdijks Hauptvorwurf«, seine »Kritiker übten intentionale Falschlektüre‹« zum Anlass, sein Cicero-Interview ohne »pawlowschen Reflex« zu prüfen. Am 11. März kommt er auf Zeit-Online zum Ergebnis: »Meine Relektüre bestätigt meinen vorherigen Eindruck […].« Ähnlich wie Münkler kritisiert der Soziologe einen Mangel an Kompetenz: Die Einlassungen seien eine »Behauptung« und keine »gelungene Volte eines belesenen Autors«, in Bezug auf Integrationsfragen gar »uninformiert und kenntnisfrei«. Zudem wird der Philosoph mit dem Rechtspopulismus verbunden: Sloterdijk beschreibe die »Flüchtlinge als einen Fremdkörper« und laufe Gefahr, der »pluralistischen Gesellschaft« eine »klare Absage« zu erteilen, wenn er zwischen
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einem »identitären Wir« und einem »differenten Ihr« unterscheide. »Es erinnert stark an Alain de Benoist, den Nestor des französischen neurechten Denkens«, so der Soziologe. Möchte Nassehi auch »nicht behaupten, dass Sloterdijk selbst zum Rechtspopulisten oder völkisch nationalen Denker« werde, so müsse er sich den »Vorwurf« gefallen lassen, »mit diesen Assoziationen kunstvoll zu spielen«: »Das ganze Interview bedient genau jene Semantik, von der rechte und rechtsintellektuelle Invektiven derzeit leben. Sie betreibt eine Kulturkritik, die die Flüchtlingskrise geradezu genüsslich als eine Gelegenheit begrüßt, Sätze zu sagen, die in aller Deutlichkeit zu hässlich wären.« (Ebd.) Auch die Feuilletonredakteurin Hannah Lühmann (2016b: 21) beobachtet die Debatte und fragt am 4. März im Feuilleton der Welt: »Was genau ist an Sloterdijk eigentlich rechts?« Die Feuilletonredakteurin und ausgebildete Philosophin verweist auf »die Gang« zwischen Sloterdijk und Safranski und kommt zum Ergebnis: »Das was man als rechts verstehen kann an dieser Ausdrucksweise, ist ja aber gerade nicht eine so-und-so-stark-ausgeprägte Fremdenfeindlichkeit, sondern der grummelige Claim, die Welt so zu beschreiben, wie sie angeblich ist, die testosteronwallende Totalanstrengung, Wortgetüme zu finden, die sich der ontologischen Struktur des Gesamtseienden anschmiegen. ›Flutung‹ ist nämlich keine Metapher. Es ist eine performative Realsetzung.« (Ebd.) Das überregionale Zeitungsfeuilleton nimmt eine exponierte Stellung in der öffentlichen Debatte zur deutschen Flüchtlingspolitik ein. Die von der Politik als alternativlos präsentierte Entscheidung der temporären Grenzöffnung im September 2015 hinterlässt ein Vakuum an Identifikationsmöglichkeiten, die durch die Feuilletondebatte gefüllt werden. Geht man mit Münkler (2016a: 7) davon aus, dass »diese Debatte in Deutschland so gut wie nicht geführt« wird, stellt es einen Ort bereit, an dem die Entscheidung der Bundesregierung außerparlamentarisch debattiert wird. Auch Jürgen Habermas kritisiert in einem Interview in der Zeit die Anpassungsbereitschaft vieler Journalist:innen gegenüber Merkel und ihrer Politik »der Einschläferung«: »Der gedankliche Horizont schrumpft, wenn nicht mehr in Alternativen gedacht wird.« (Habermas 2016: 37) Mit Mouffe kann von einer Zähmung des potenziellen Antagonismus gesprochen werden: Das Feuilleton stellt einen Ort bereit, an dem der Konflikt um die deutsche Flüchtlingspolitik agonal zwischen legitimen Gegner:innen ausgetragen wird. Der Dissens mündet schließlich in einen Intellektuellenstreit, in dem die Entscheidung der Bundesregierung von zwei Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen – Politikwissenschaft und Soziologie – geprüft und legitimiert wird.
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
4.2.4
Mediale Strategien und Kulturkonflikt
Im ›langen Sommer der Migration‹ brechen soziale Ordnungen und kulturelle Identitäten auf und lösen Kämpfe um die Einrichtung der Gesellschaft aus. Im Kontext eines erstarkenden Rechtspopulismus und Nationalismus erhalten nicht nur liberale Stimmen Eingang in den öffentlichen Diskurs, auch rechte Stimmen organisieren sich und normalisieren nationale Sprechweisen. Im Klima affektiver Unsicherheit stellen sie alternative Identifikationen für eine nationale Kultur bereit, die den liberalen Konsens der Gesellschaft herausfordern. Kultur stellt dann nicht nur einen Möglichkeitsraum von Werten und Überzeugungen bereit, sondern wird vielmehr selbst zum Gegenstand von Konflikt und hegemonialen Interventionen. Blickt man resümierend auf die Flüchtlingsdebatte zwischen den Monaten Oktober 2015 und März 2016, bildet sich in der »relativ geschlossene[n] Welt der aufeinander reagierenden Kulturteile in der überregionalen Tages- und Wochenpresse« (Seibt 1998: 731) ein agonales Bezugssystem aus. Das Feuilleton zeichnet sich durch die Praktik des Sammelns und Beobachtens aus und wandelt sich zu einem politischen Sprechraum, in dem Dissens produziert und der Konflikt um die deutsche Flüchtlingspolitik ausgetragen wird. Besonders in der zweiten Phase zeigt sich das Verfahren der ›langsamen Komposition‹ von Öffentlichkeit im Feuilleton, bei dem sich temporäre Kollektive ausbilden und ein temporäres »Wir« im Kampf gegen einen neuen Rechtsintellektualismus generiert wird. Dabei können zwei sich überlagernde Diskursstränge identifiziert werden: Zum einen die (Re-)Konstitution der neuen Rechtsintellektuellen, die als Bedrohung der pluralen Kultur dargestellt und als kulturell Anderes imaginiert werden, zum anderen die politische Entscheidung der Bundesregierung. Wurde der politische Sprechraum durch die ReArtikulation der kulturnationalen Position von Strauß im Spiegel eröffnet, erfolgt eine Transformation des Konflikts von einem Kampf um die kulturelle Identität der Nation hin zu einer Auseinandersetzung um die politische Entscheidung der temporären Grenzöffnung von Merkel, der in einen Streit zwischen dem Politikwissenschaftler Münkler und dem Medienintellektuellen Sloterdijk im Feuilleton der Zeit mündet. Dabei stehen weniger die gesellschaftlichen Werte im Fokus als vielmehr die liberale Ordnung einer modernen Gesellschaft, die zwischen den Polen der individuellen Freiheit und dem staatlichen Ordnungsanspruch ausgehandelt wird. Das Zeitungsfeuilleton stellt sich als Versammlungsraum dar, an dem widerstreitende Stimmen aus dem intellektuellen Feld miteinander in Beziehung gesetzt werden, um ihre Vorstellungen von Kultur und Nation zu repräsentieren.
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Mediale Strategien der Politisierung Ausgehend von der empirischen Analyse und vor dem Hintergrund der theoretischen Rahmung können für die Flüchtlingsdebatte resümierend verschiedene mediale Strategien der Politisierung festgehalten werden, die eine politische Öffentlichkeit herstellen und im Folgenden näher erläutert werden: Provokation und Unterbrechung, Versammlung und diskursiver Knotenpunkt, Polarisierung und Moralisierung, Affizierung und Dynamisierung. Provokation und Unterbrechung. Die kulturnationale Position von Strauß im Spiegel (»Der letzte Deutsche«, 2015) bildet in Anrufung eines kulturell Anderen den Auslöser für die Feuilletondebatte. Die Verknüpfung eines nationalen Begriffs von Kultur in Verbindung mit der Idee der ›Konservativen Revolution‹ (»geheimes Deutschland«) unterbricht die routinierten Wahrnehmungsprozesse im journalistischen Tagesgeschäft und eröffnet einen politischen Sprechraum im Feuilleton. Die Auseinandersetzung ist weniger von einem Konsens und mehr von einem Kampf um die ›richtige‹ Kultur geleitet und stellt eine Grundlage her, auf der Positionen entstehen können, die einen demokratischen Streit ermöglichen. Neben dem ästhetischen Fundamentalismus sind es vor allem normativ aufgeladene Reizbegriffe aus dem rechten Diskursraum wie ›Aufmischung‹, ›fremde Völker‹ und ›geheimes Deutschland‹, die affektive Kräfte generieren und zahlreiche Reaktionen auslösen. Die Position wird im Feuilleton primär mit Elementen wie ›Irrationalität‹, ›Weltfremdheit‹ und ›Rechtspopulismus‹ verbunden und findet kaum Anerkennung als legitime Sprecherposition bzw. wird vom Diskurs zur »Lage der Nation« im Kontext der weltweiten Migrationsbewegungen symbolisch ausgeschlossen. Versammlung und diskursiver Knotenpunkt. In den Kulturteilen der Zeitungen werden Stimmen aus dem kulturpublizistischen Raum wie Strauß, Sloterdijk und Safranski über einen längeren Zeitraum miteinander verbunden und als »Wortführer« von »neuen nationalkonservativen Bewegungen« (Steinfeld 2016: 11) markiert. Der Begriff der »nationalkonservativen Bewegung« fungiert als diskursiver Knotenpunkt in der Debatte: Die Sprecher:innen teilen einen gemeinsamen Bezugspunkt miteinander, mit dem sie sich identifizieren und in Bezug setzen können. Nach Schröder und Steinfeld treten weitere Sprecher in den feuilletonistischen Diskurs ein und reichern das Narrativ mit immer neuen Stimmen und Kontexten an. Poschardt (2016) verbindet Sloterdijk, Safranski und Höhler zu einem »Chor der Nationalliberalen«; Schröder (2016) führt neben Sloterdijk, Safranski, Strauß auch Jirgl und Böckelmann »als neue nationalkonservative Wortführer« an; Hütt (2016) zitiert neben Strauß, Safranski und Sloterdijk die Tumult-Autoren Jirgl, Hetzer und Sieferle als »Autoren der nächsten konservativen Revolution«; und Nassehi (2016a) nimmt die Journalisten Herles und Tichy sowie den Schriftsteller Schnei-
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der in die »neue soziale Gruppe« auf. Im Prozess der Versammlung der Stimmen bildet sich ein politischer Diskurs aus, der über Ausschlussmechanismen strukturiert ist und dichotom zwischen einem ›Wir‹ und einem ›Sie‹ unterscheidet. Das bedrohliche und illegitime ›Andere‹ wird mit immer neuen Elementen wie ›Irrationalität‹, ›Rechtspopulismus‹, ›Weltfremdheit‹, ›Anti-Pluralismus‹ und ›Maskulinisierung‹ verbunden und mit dem Begriff der »nationalkonservativen Bewegung« markiert. Dadurch entsteht ein Netz an Bedeutung, das den Dissens wuchern lässt und eine Allianz zwischen Positionen ausbildet. Ähnlich wie bei der Volksbühnendebatte zeigt sich in der Wiederholung eine wechselseitig verstärkende Kraft: Zum einen fixiert sich das Narrativ der neuen Rechtsintellektuellen im Diskurs und bildet eine temporäre Ordnung aus, um »das Feld der Differenzen zu zähmen« (Laclau/Mouffe 2012: 130). Zugleich wird der Diskurs mit immer neuen Kontexten angereichert und dadurch fortwährend modifiziert, infolgedessen die Anschlussfähigkeit erhöht und der Diskurs in Bewegung gehalten wird. Die Doppelbewegung der Sedimentierung und Transformation hält das Ereignis dauerhaft im Diskurs präsent. Polarisierung und Moralisierung. Darüber hinaus tragen rhetorische Mittel wie »Apokalypse« (Poschardt 2016, Schröder 2015) und die Kriegsmetaphorik (»Phalanx von prominenten Kritikern«, Schröder 2015; »intellektuelle Freikorps«, Hütt 2016) sowie redaktionelle Bearbeitungen zur Polarisierung des Diskurses bei. Im Verlauf der Debatte verschärfen sich die Zuschreibungen auf beiden Seiten und münden in eine moralisch überformte Wir-Sie-Konstellation, die zwischen einem ›guten‹ und einem ›bösen‹ Diskurs unterscheidet. Diese Form der Spaltung durch polemische Sprechweisen fördert eine plurale Öffentlichkeit, in der die Heterogenität intellektueller Diskurse zur Sprache kommt. Im Unterschied zu einer rationalen Diskursethik, die den sachlichen Ausgleich sucht, schält sich eine Gegnerschaft heraus, die dem Antagonismus zwischen links und rechts Ausdruck verleiht und in einen agonalen Konflikt überführt. Die Moral wird in der medialen Inszenierung zwar »zweckentfremdet« (Ziemann 2011: 239) und trägt zum Spektakel und zur Entsachlichung der Auseinandersetzung bei. Zugleich ruft sie den antagonistischen Charakter des Politischen an und wird identitätspolitisch gewendet zu einer Strategie der Politisierung. Affizierung und Dynamisierung. Nassehi stellt fest: »Peter Sloterdijk ist offensichtlich getroffen.« (2016c) Sloterdijk erkennt in der Debatte sowohl »Beißwut« als auch »Abweichungshass« und schreibt über Münkler: »Er war erregt genug, meine und Safranskis Sorgen-Thesen als unbedarftes ›Dahergerede‹ zu bezeichnen.« (2016: 39) Münkler notiert: »Peter Sloterdijk hat einen ausgeprägten Affekt gegen strategisches Denken.« (2016b: 42) Der über ein halbes Jahr im Feuilleton generierte Dissens gegen einen neuen Rechtsintellektualismus, in dem Intellektuelle wie Safran-
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ski und Sloterdijk zu deren »Wortführern« stilisiert werden, lädt die Debatte emotional auf und erzeugt eine affektive Diskursstruktur. Begriffe wie »neokonservative Bewegungen«, »konservative Revolution«, »antiliberal«, »ethnisch«, »apokalyptisch«, »national« und »populistisch« zirkulieren dauerhaft im Diskurs und stellen eine bedrohliche Atmosphäre her. Im Kontext von Migration und Rassismus spricht Sara Ahmed von »sticky signs« (2004: 92). Damit sind Signifikationen gemeint, die durch ihren wiederholten diffamierenden Gebrauch in einen Assoziationsraum des Bedrohlichen gerückt werden. Personen werden durch kollektivierende Bezeichnungen diskursiv fixiert und mit bestimmten Bildern aufgeladen. Auf diese Weise werden Emotionen wie Zorn, Ekel, Abscheu oder Furcht mittels »sticky signs« performativ hervorgebracht und der Diskurs mit einer »affektiven Valenz« aufgeladen. Je häufiger die Begriffe artikuliert werden, desto selbstverständlicher erscheinen sie und gewinnen an Deutungsmacht. Kündigt sich darin auch eine Form der Entpolitisierung an, wenn sich die Bedeutung entleert und keine Neuigkeit mehr darstellt, steigert die affektiv markierte Diskursstruktur zugleich die Aufmerksamkeit und erzeugt nachhaltig Anschlüsse. Greift man das Verständnis von Affekten als »Ansteckung« (Opitz 2009: 127) auf, das weniger auf Identifikation setzt und mehr auf den »relationalen Charakter« im Sinne eines »Anziehungs- und Abstoßungsverhältnis« (Stäheli 2007d: 132), so kommt auch hier eine spezifische Form der Iteration zum Vorschein. Verbindet sich die »Logik der Wiederholbarkeit mit einer Logik der spektakulären Ansteckung« (Stäheli 2002: 81), verfestigen sich Narrative wie die neuen Rechtsintellektuellen und werden zugleich durch die »affektive Strata« in Bewegung gehalten, die immer neue Sprecher:innen in den Diskurs hineinzieht und für den Moment der Debatte zusammenhält. In dieser Hinsicht können Affekte als »ein dynamisches Feldphänomen« (Slaby/Mühlhoff/Wüschner 2016: 14) verstanden werden, in dem sich Gefühlszustände erst nach und nach und in wechselseitiger Bezogenheit herausbilden und im prozessualen Kräftespiel verstärken. Hier zeigt sich die Hybridität der feuilletonistischen Kommunikation: Zum einen bilden sich im Beziehungsgefüge zwischen den Debattenteilnehmenden affektivdynamische Kräfte aus, die mobilisieren und politische Spielräume überhaupt erst entfalten. Zugleich erschweren Affekte die sachliche Auseinandersetzung, wenn sie überhandnehmen und den Diskurs entpolitisieren – wie im Intellektuellenstreit zwischen Münkler und Sloterdijk in der dritten Phase.
Kulturkonflikt Unter dem »Eindruck der beharrlichen Migrationsbewegungen« (Hess et al. 2016) offenbaren sich im Feuilleton Kämpfe, die in Orientierung an Reckwitz als »Widerstreit zweier Kulturalisierungsregimes« (2016) bezeichnet werden können: der Kampf zwischen verschiedenen Ordnungen von Kultur im Spannungsfeld zwischen einem kulturellen Essenzialismus und einem liberalen Pluralismus. Davon
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
ausgehend werden im Folgenden die Form des Konflikts und seine Effekte für den politischen Diskurs ausblickhaft in den Blick genommen: Wie gestaltet sich der Konflikt in der Flüchtlingsdebatte und welche Auswirkungen hat er auf die Themen und Diskurse im Feuilleton? In der Debatte um Migration und die deutsche Flüchtlingspolitik in den Jahren 2015 und 2016 stehen sich zwei Lager gegenüber: Während Strauß, Sloterdijk und Safranski das Fremde primär als Bedrohung für die soziale Ordnung einer Gesellschaft darstellen und darin die Gefährdung der eigenen Kultur erkennen, treten ihre Kritiker für eine ›offene Gesellschaft‹ auf und begreifen das Fremde als eine empirische Tatsache, die modifizierte Praktiken einfordert. Der Kulturkonflikt im Feuilleton verweist auf einen Kampf zwischen den Optionen der Öffnung und der Schließung: Fordern die einen eine stärkere Nationalisierung zur Legitimierung staatlicher Territorien und ihre Gemeinschaften, was mit einer Grenzziehung nach außen und einer Homogenisierung nach innen einhergeht, plädieren die anderen für eine Pluralität von Lebensformen im Zuge postnationaler Identitäten. Beziehen sich die Traditionalisten in der Verteidigung des Bestehenden primär auf die eigene Vergangenheit, drehen also die »Uhr zurück«, um sich »defensiv auf die ›verlorene Zeit‹ zurückzuziehen, als die Nation ›groß‹ war« (Hall 1999: 417), blicken die anderen auf die Zukunft als Neuentwurf. Historisch betrachtet hängt das Verständnis von Kultur in Deutschland eng mit dem Verständnis von Nation zusammen, wie es Dath in seinem Beitrag zur Spiegel-Glosse von Strauß in der FAZ kenntlich gemacht hat.57 Ein Kulturkonzept, das sich über nationalstaatliche Zugehörigkeit bestimmt, wird im Kontext der globalen Transformation und der transnationalen Vergesellschaftung als problematisch wahrgenommen. Es trägt zur Stärkung des nationalen Denkens bei und befördert eine Wir-Sie-Unterscheidung, wenn Migrant:innen zu kulturellen Anderen stilisiert werden. Étienne Balibar spricht in diesem Zusammenhang von einem »AntiImmigranten-Rassismus«, der in fast allen westeuropäischen Ländern in Form einer Ethnisierung sozialer Probleme zum Ausdruck komme. Der islamische Orient oder die Figur des Geflüchteten erscheinen in dieser Erzählperspektive als das radikal Andere, um eine »Nationalgesellschaft« in der Narration der europäischwestlichen Welt zu etablieren (Balibar 1992: 10).58 57
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In Deutschland hatte sich eine Vorstellung von Kulturnation im Rahmen eines holistischen Kulturkonzepts durchgesetzt. Johann Gottfried Herder (1744-1803) nimmt eine Gleichsetzung von Volk (kulturell bestimmt) und Nation (politisch bestimmt) vor. Dabei sind die Grenzen von Kultur und Nation als kongruent gedacht: Die (politischen) Außengrenzen einer Nation sind auch die Außengrenzen der zugehörigen Kultur. Das heißt die Menschen, die einer Nation angehören, haben nicht nur ein gemeinsames politisches System – den Staat –, sondern teilen auch eine Kultur (vgl. Sökefeld 2001: 128). Im Anschluss an die »Dialektik von Identitäten« (Hall 1999: 432) ließe sich auch von »Abwehrreaktionen« sprechen: Das als bedrohlich wahrgenommene Fremde löst Widerstand in
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Die Idee der Nation gilt als einer der »Hauptquellen kultureller Identität« (Hall 1999: 414) und ermöglicht traditionell die Identifikation einer modernen Gesellschaft mit sich selbst. Das Konzept der Nation negiert in der Regel die Pluralität der Lebensformen und Identitäten und imaginiert eine symbolische Gemeinschaft, die über eine gemeinsame Sprache und Geschichte entworfen und reproduziert wird (vgl. Anderson 1996).59 Mit Hall ist Nation nicht bloß »ein Ort der Unterordnung, Bindung und symbolischen Identifikation« (1999: 421) und etwas »Einheitliches«, sondern »ein diskursiver Entwurf«, »der Differenzen als Einheit oder Identität darstellt«, die »von tiefen inneren Spaltungen und Differenzen durchzogen und nur durch die Ausübung kultureller Macht ›vereinigt‹« (ebd.: 422) werden. Mögen nationale Identitäten aufgrund langer Phasen der historischen Sedimentation als naturgegeben erscheinen, bringen »krisenhafte Ereignisse« (Hildebrand 2017: 96) wie die Ankunft der Geflüchteten »die Spuren originärer Kontingenz« (Laclau 1999: 146) zum Vorschein und ermöglichen ein Nachdenken über bestehende Verhältnisse. Dies wird beispielsweise im Debattenbeitrag von Steinfeld zu den neuen Rechtsintellektuellen deutlich, wenn er feststellt, dass »die Fremden, die ins Land drängen, die Grundlage allen Volksglaubens zu gefährden scheinen: dass es eine nationale Gemeinschaft gäbe, die aller Politik vorausgeht«. »Ein Ideenhistoriker – und ein solcher ist Rüdiger Safranski – sollte zwar wissen, dass ein derartiges Kollektiv, das gemeinsam über die eigene Geschichte entscheiden soll, eine Vorstellung ist, die zwar in Ausweispapieren und Steuerbescheiden feste Gestalt anzunehmen scheint, zugleich aber immer eine Beschwörung bleibt. Er sollte wissen, dass es ein Recht, sein Leben in vertrauten Verhältnissen zu verbringen, nicht gibt und nicht geben kann. Rüdiger Safranski indessen will an die-
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bestimmten sozialen Gruppierungen aus, die sich durch »die Präsenz anderer Kulturen angegriffen fühlen«, was eine »Verteidigungsreaktion« zur Stärkung der eigenen Identität hervorruft. Die Bildung von »kulturellen Lagern« verschärft den politischen Konflikt zwischen den Traditionalisten und den »Neuen« und führt in Konsequenz zu »abgeschotteten Kulturcontainern«. Hall beschreibt diesen Vorgang als »kulturellen Rassismus«, der zwar seine biologischen Implikationen abstreift, gleichzeitig aber von einer »Unvereinbarkeit der Kulturen« ausgeht, was zum Ausschluss des Fremden führt (ebd.: 433f.). »Nationale Kulturen konstruieren Identitäten, indem sie Bedeutungen der Nation herstellen, mit denen wir uns identifizieren können, sie sind in den Geschichten enthalten, die über die Nation erzählt werden, in den Erinnerungen, die ihre Gegenwart mit ihrer Vergangenheit verbinden, und in den Vorstellungen, die über sie konstruiert werden.« (Hall 1999: 414) Benedict Anderson weist der Zeitungsproduktion eine Schlüsselrolle für die Entstehung der Nation als imaginierte Gemeinschaft zu. Aufgrund der Verbreitung von Druckerzeugnissen in Nationalsprachen wurden viele einzelne Leserinnen einander als Angehörende eines »eigenen Sprachbereich« gewahr. »Vorgestellt« sind Nationen, weil die vielen Angehörenden einer Nation sich gegenseitig nicht kennen, »aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert!« (Anderson 1996: 15).
4. Das Feuilleton im 21. Jahrhundert
se Gemeinschaft glauben, denn er hat sich darin gemütlich eingerichtet: mit dem Bedürfnis, es möge alles so bleiben, wie es ist.« (Steinfeld 2016: 11) Während einige Intellektuelle die Vergangenheit anrufen und vom linken in den rechten Sprechraum wandern, kommt Steinfeld ins Zaudern: »Aber stimmt es denn, dass die Offenheit der Grenzen für Flüchtlinge […] nur ein großer, moralisch begründeter ›Denkfehler‹ ist? Womöglich ist sie nicht nur ein humanitäres, sondern tatsächlich auch ein politisches Projekt – und eines in großem Maßstab: Deutschland, der mächtigste Staat in Europa, definiert sich gegenwärtig neu, jenseits des Glaubens an das besondere, ursprüngliche Volk, nämlich als globalisierte Nation, die eine Verantwortung auch für ferne Länder und fern Völkerschaft zu tragen hat.« (Ebd.) Im Streit um die Einrichtung der Gesellschaft werden die Grenzen des öffentlich Sagbaren und Vorstellbaren neu ausgehandelt. Dabei können Diskursverschiebungen nach rechts beobachtet werden, wenn sich zum Beispiel Ulrich Greiner (2016: 44) am 10. März im Feuilleton der Zeit in seinem Beitrag »Vom Recht rechts zu sein« zum Konservatismus bekennt und ähnlich wie Strauß als Vertriebenen stilisiert – »der konservative Gedanke ist heimatlos geworden«. Der Feuilletonist versammelt Stimmen aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld, denen er sich zugehörig fühlt, und beklagt den Verlust der »geistigen Tradition des Abendlandes« sowie den »Mangel an Kenntnis und Überlieferungsverlust«.60 »Trotz alledem fühle ich mich mit meinen Ansichten keineswegs allein, und ich sehe, dass Schriftsteller wie Botho Strauß, Martin Mosebach, Sibylle Lewitscharoff oder Ulrich Schacht, Intellektuelle wie Rüdiger Safranski, Peter Sloterdijk oder Udo Di Fabio einen seriösen Konservatismus vertreten, der zum geistigen Spektrum eines kultivierten Landes selbstverständlich dazugehört. Dieser Konservatismus könnte jenen Akt der Auflehnung leisten, von dem Botho Strauß einmal gesprochen hat, die Auflehnung gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will.« (Ebd., Hervorheb. i. O.) Der Beitrag von Greiner kann als Antwort auf den Soziologen Nassehi gelesen werden, der im Feuilleton der FAZ fragt: »Aber was kann es heute heißen, konservativ zu sein?« (2016b: 9) Während Greiner (2016: 44) für das »Institut Ehe und Familie« und das Modell »heterosexueller Eltern und ihrer auf natürliche Weise gezeugten und geborenen Kinder« plädiert, stellt Nassehi (2016b: 9) einen »multikulturelle[n],
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Aus dem Zeit-Artikel ist ein Buch mit dem Titel »Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen« hervorgegangen, das 2017 bei dem Hamburger Verlag Rowohlt erschienen ist.
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multireligiöse[n] Konservatismus« in Aussicht und fragt: »Ist ein moderner Konservatismus möglich, der diese Institutionen nicht allein in den alten Chiffren nationaler Einheit, traditioneller Lebensformen und imaginierter Leitkulturen findet, sondern sie neu erfinden kann?« Daraufhin reagiert der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg im Feuilleton der FAZ und schlägt einen »vernünftigen Konservatismus« (2016) vor. Die Debatte zur Lage der Nation re-aktiviert kulturkonservative Diskurse und entfacht Benennungs- und Definitionskämpfe um politische Kategorien, die den Diskurs im Feuilleton nachhaltig prägen: Was ist links? Was ist rechts? Was ist konservativ? Der Historiker Volker Weiß (2016) fragt beispielsweise am 19. Februar auf Zeit-Online: »Ab wann ist konservativ zu rechts?«, am 4. Juni erscheint ein Essay von Ijoma Mangold (2016: 37) im Feuilleton der Zeit mit dem Titel »Wem gehört das Konservative?« und zwei Jahre später wird in derselben Zeitung ein Dossier mit dem Titel »Was ist heute konservativ? Und was ist rechts oder gar rechtsradikal?« (Die Zeit 2018) produziert. Die Debatte wurde bereits in den 1990er Jahren im Rahmen der Serie »What’s right« im Feuilleton der FAZ geführt – Auslöser war der Essay »Anschwellender Bocksgesang« von Strauß im Jahr 1993. Darüber hinaus scheint die im Feuilleton angemahnte Transformation im intellektuellen Feld mit dem Verweis, die Neue Rechte habe nun ein »paar Intellektuelle als Wortführer« (Steinfeld 2016: 11), um sich als soziale Bewegung nachhaltig zu etablieren, Wirklichkeit geworden zu sein. Sind nationale Semantiken dann erfolgreich, wenn sie sich mit dem konservativen Diskurs der sogenannten Mitte verknüpfen und sich als politische Ideologie in der Gesellschaft normalisieren, dann sind es die Bewegungen der Neuen Rechten, welche die Artikulationen der Intellektuellen aufgreifen und für sich vereinnahmen. Exemplarisch schreibt Götz Kubitschek, Verleger des Antaios Verlags und Aktivist der Neuen Rechten, auf der Onlineseite seiner Zeitschrift Sezession, deren Herausgeber er zugleich ist und die sich selbst als »rechtsintellektuell«61 bezeichnet: »Peter Sloterdijk war im Februar eine Kippfigur, und was für eine! Er ist einer der wichtigsten und inspirierenden Köpfe, die unser Land aufzubieten hat, und er hat stets in unsere Richtung gewirkt. […] Seine Werke Zorn und Zeit (2006), Du mußt dein Leben ändern (2009), Die schrecklichen Kinder der Neuzeit (2015) oder auch der Sammelband Was geschah im 20. Jahrhundert? (2016) gehören zum Kernbestand unseres Bücherschranks, seine Essays und Interviews werden mit derselben Aufmerksamkeit registriert und bedacht wie die von Botho Strauß, Martin Mosebach, Rüdiger Safranski und anderen.« (Kubitschek 2016) Schließlich ist es die bürgerliche Mitte selbst, die sich auf kulturnationale Ideen aus alten Zeiten rückbezieht und eindeutig zu identifizierende Feindbilder produziert, wie sie von Botho Strauß im Spiegel Anfang Oktober 2015 reartikuliert wur61
Sezession (o. A.).
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den. So rief der CSU-Politiker Alexander Dobrindt in einem Gastbeitrag für die Welt (2018) mit dem Titel »Wir brauchen eine bürgerlich-konservative Wende« zur »konservativen Revolution der Bürger« als Gegenkultur »zur linken Revolution der Eliten« auf.62 Die Narrative der Rechtsintellektuellen zur Flüchtlingspolitik sickern in allgemeine Wahrnehmungshorizonte ein, lösen sich also vom originär kulturpublizistischen Diskurs und wandern in andere Diskurse, um sich zu normalisieren oder machtstrategisch eingesetzt zu werden. Im künstlerisch-intellektuellen Feld schließen sich wiederum Stimmen aus dem politischen rechten Spektrum im Kampf um Hegemonie zusammen wie beispielsweise im Rahmen der sogenannten »Erklärung 2018«, die vor einer »illegalen Masseneinwanderung« warnt und für die Wiederherstellung der »rechtsstaatliche[n] Ordnung an den Grenzen unseres Landes« steht. Zu den Unterzeichner:innen gehören unter anderem der Kommunikationswissenschaftler und Tumult-Herausgeber Frank Böckelmann, die Journalisten Henryk M. Broder und Matthias Matussek, die Publizistin und Politikerin Vera Lengsfeld, der Autor und Politiker Thilo Sarrazin, die Publizistin Cora Stephan und der Schriftsteller Uwe Tellkamp (vgl. Hensel 2018, Machowecz 2018: 45). Das Feuilleton zeigt sich in der Flüchtlingsdebatte in den Jahren 2015 und 2016 als Seismograph, das Ereignisse vorwegnimmt und sie damit überhaupt erst in die Gesellschaft hineinträgt. Dabei kommt ein Dilemma zum Vorschein: In der Debatte werden politische Forderungen und abweichende Ansichten sichtbar gemacht und zur Verhandlung gestellt. Damit übernimmt das Feuilleton eine integrative Funktion und trägt zum gesamtgesellschaftlichen Austausch bei.63 Gleichzeitig produziert es Aufmerksamkeit für rechtspopulistische Diskurse und trägt zu einer Verstärkung der von ihnen bekämpften Diskurse der Nationalisierung und Homogenisierung bei, wenn diese dadurch an Bedeutung gewinnen und vom ›Feind‹ angeeignet werden. Insofern fördert die Popularisierung von rechten Diskursen sowohl Prozesse der Demokratisierung als auch der Entdemokratisierung. Insbesondere neurechte Diskurse sind von Strategien der Abschottung und des Ausschlusses geprägt und stehen mit ihren Forderungen nach Homogenität und Tradition im Widerspruch zu einer offenen pluralen Streitkultur. Der Bruch mit dem liberalen Konsens befragt die Grenzen des öffentlichen Sprechakts und löst eine Debatte zum Umgang mit der Neuen Rechten aus, die auch im Feuilleton geführt wird: Bewegen sich die Positionen im Rahmen 62
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Auch der AfD-Politiker Björn Höcke spricht in seinem Buch »Nie zweimal in denselben Fluss« (2018) von einem »großangelegten Remigrationsprojekt« und fürchtet um eine Politik der »wohltemperierten Grausamkeit« nicht herumzukommen – hier setzt er die Rhetorik von Sloterdijk aus dem Jahr 2015 strategisch ein, »stellt aber einen ganz falschen Bezug her« (am Orde 2019). Ein prominentes Beispiel hierfür ist die »Homestory« von Tobias Rapp im Spiegel im Jahr 2016, die den Rechtsaktivisten Götz Kubitschek porträtiert und eine Debatte zu diesem Thema auslöste.
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der ethisch-politischen Prinzipen liberaler Demokratien und können deshalb als legitim bewertet werden? Oder sind sie mit dem Anspruch der Realisierung von Freiheit und Gleichheit unvereinbar und stellen keine legitimen Positionen im Streit um die Gestaltung der Einrichtung der Gesellschaft dar? Damit stellt sich die Frage: Wer darf öffentlich sprechen und wer nicht? In der normativen Perspektive des Agonismus von Mouffe kommt der Pluralismus an seine Grenzen, wenn Positionen antagonistisch bleiben und nicht in eine agonale Beziehung transformiert werden können, die eine Entschärfung und Regulierung von gesellschaftlichen Konflikten ermöglichen (vgl. Mouffe 2014: 37). Illegitime Positionen stellen eine Gefahr für den Zusammenhalt einer pluralistisch demokratischen Gemeinschaft dar und sind deshalb vom Diskurs auszuschließen. In diesem Zusammenhang schreibt der Kulturwissenschaftler Hannes Bajohr in Bezug auf die Philosophin Judith Shklar in seinem Beitrag »Rechte reden lassen« im Kulturteil auf Zeit-Online: »Nach Shklar muss man sich der ständigen Gegenwart des Politischen auch dort bewusst sein, wo vermeintlich nur die Logik des Arguments vorherrscht. Das heißt nicht, dass man nie mit Rechten reden sollte, aber man muss sich sehr genau überlegen, wo man es tut, unter welchen Umständen und mit welchen symbolischen Konsequenzen.« (Bajohr 2017)64
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Vgl. auch die Debatten im Rahmen der Publikation »Mit Rechten reden« (Leo/Steinbeis/Zorn 2017) sowie exemplarisch den Beitrag von Ijoma Mangold im Feuilleton der Zeit (2017) mit dem Titel »Besuch von anderen Planeten: Der Kampf zwischen linkem und rechtem Denken bestimmte die diesjährige Buchmesse«.
5. Schlussfolgerungen
In der globalen Moderne durchlaufen Gesellschaften einen tiefgreifenden Wandel: Traditionelle Ordnungsstrukturen brechen auf und werden zur Neuverhandlung gestellt. Die Entgrenzung von kulturellen und sozialen Identitäten entfachen Kulturkonflikte um die Einrichtung der Gesellschaft, die im Zeitungsfeuilleton auf eine spezifische Weise zum Ausdruck kommen. Als traditionell bürgerliches Medium der kulturellen Selbstverständigung ist es prädestiniert für die Austragung von Kulturkonflikten im Ringen um das Allgemeine: Wie möchten wir leben? Wer gehört dazu und wer nicht? Über welche Werte und Normen bestimmt sich eine Gesellschaft? Was ist Kultur und was ist Hochkultur? War der Kulturteil überregionaler Zeitungen in der bürgerlichen Moderne noch stark vom Feuilletonismus – der Literarisierung des Journalismus – geprägt, rationalisiert er sich in der Spätmoderne und wird zu einem Ort der Debatte. Das Feuilleton stellt einen gemeinsamen Streitraum bereit, in dem Stimmen aus gesellschaftlichen Teilbereichen wie Kunst, Wissenschaft und Politik in Beziehung zueinander treten, um ihre Ideen und Vorstellungen von Kultur und Gesellschaft zu repräsentieren und miteinander auszuhandeln. Für das 21. Jahrhundert stellt sich im Kontext eines erstarkenden Rechtspopulismus die Frage, wie das Feuilleton mit der Pluralität moderner Gesellschaften umgeht und welche Praktiken der Kritik dabei zum Ausdruck kommen. Die untersuchten Debatten im Kontext von Migration und Theater in den 2010er Jahren zeigen Deutungskämpfe auf, die im Spannungsfeld zwischen dem kulturellen Essenzialismus im Streben nach Tradition und Homogenität und dem Pluralismus im Ideal einer ›offenen Gesellschaft‹ die Ordnung der Kultur selbst befragen. Die politische Theorie von Laclau und Mouffe und das normative Konzept des Agonismus von Mouffe stellten in Verbindung mit medien- und kultursoziologischen Perspektiven den theoretischen Rahmen bereit, mit dem die exemplarischen Fallstudien – die Volksbühnendebatte und die Flüchtlingsdebatte in den Jahren zwischen 2015 und 2016 – untersucht wurden. Im Unterschied zu deliberativen Konzepten, die auf einen herrschaftsfreien Austausch und Konsens abzielen (vgl. Habermas 1981), betont der postfundamentalistische Ansatz die Kontingenz des Sozialen sowie den Konflikt und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Vor diesem Hintergrund werden die Ergebnisse der empirischen Ge-
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Debattenkulturen im Wandel
genwartsanalyse in den Blick genommen und im Fokus der Forschungsfrage diskutiert: Unter welchen Bedingungen und auf welche Weise wird das Politische im Feuilleton überregionaler Zeitungen diskursiv konstruiert und verhandelt? Dabei stehen drei Kategorien im Vordergrund, die konstitutiv für das Feuilleton sind und zugleich in den Feuilletondebatten verhandelt werden: die hybriden Hochkulturen, die Sozialfigur der Medienintellektuellen und die Debattenkultur. Die drei Kernelemente geben einen Einblick in die Gegenwart des Feuilletons und haben damit auch einen zeitdiagnostischen Charakter.
5.1
Hybride Hochkulturen
Kulturelle Identität und soziale Zugehörigkeit konstituieren sich in der Spätmoderne nicht mehr allein über die bürgerliche Hochkultur im Medium der Bildung und der hohen Künste, sondern auch über Konsum- und Freizeitpraktiken im mediatisierten und ästhetisierten Alltag: im Radio und im Fernsehen, in der Werbung und dem Sport, dem Rock und dem Pop, der Serie und dem Film, dem Computer und dem Handy. Das hat Folgen für das Feuilleton, das sich spätestens im 21. Jahrhundert zu einem Spannungsraum heterogener Kulturen wandelt. Die neue Vielfalt an identitätsstiftenden Praktiken und ästhetischen Erfahrungen erweitert das thematische Spielfeld und bricht die klassischen Produktions- und Rezeptionsweisen der Kulturteile überregionaler Zeitungen auf. Ob Lindenstraße (Seibt 1992), Skinny Hose (Beregow 2016), Hipster-Bart (Adorján 2014), Facebook (Mangold 2015), Helene Fischer (Balzer 2017) oder Bushido (Haas 2011): Mit der »gesamtgesellschaftlichen Ausbreitung ästhetischer Inszenierungsformen von Subjekten, Dingen und Ereignissen« (Reckwitz/Prinz/Schäfer 2015: 9) finden neben »ZeitgeistPhänomenen« (Hecken 2011) und Themen aus der Alltags-, Populär- und Popkultur auch Urbanität, Feminismus, Ökologie, Mode, Design und Technik Eingang in das Feuilleton. Die Entwicklungen wurden mit dem Begriff des »cultural omnivore« erfasst (Peterson/Kern 1996), wonach vor allem jüngere Menschen mit höherer Bildung einen immer breiteren kulturellen Geschmack entwickeln. »Kulturelle Allesfresser« sind sowohl mit den historischen Beständen der klassischen Hochkultur als auch mit den globalisierten Populär- und Popkulturen vertraut. Darüber hinaus können Gegenwartskulturen als hybride Kulturen aufgefasst werden: Sie bilden sich im historischen Spannungsverhältnis zwischen den bürgerlichen und den neu aufkommenden Populärkulturen aus und tragen sowohl Elemente der einen als auch der anderen Seite in sich. Als Beispiel für eine hybride Gegenwartskultur wurde das Phänomen der Popkultur im Kontext der Counter Culture seit den 1960er Jahren in den Blick genommen. Die einstige (Gegen-)Kultur ist massenmedial vermittelt und kombiniert hochkulturelle und kommerzielle, ästhetische und ökonomische,
5. Schlussfolgerungen
bildende und zerstreuende Elemente miteinander und bringt eine Bildungskultur hervor, die alternative Praktiken der Selbstvergewisserung und Identifikation bereitstellt. Insofern erfolgt keine radikale Absage an das humanistische Bildungskonzept, vielmehr wird die auf Selbstentfaltung und Autonomie setzende Struktur unter den Bedingungen der Kultur- und Medienindustrie neu ausgehandelt: »Diese Gegenkultur konnte nun etwas, das vorher nur die Klassik vermochte: in einer entfremdeten Welt Wahres, Gutes und Schönes zum Gegenstand überwältigender sinnlicher Erfahrung zu machen.« (Maase 2015) Oder wie der Pop-Theoretiker Roger Behrens notiert: »Die bildende Kunst bildet nicht mehr, dafür bringt die Popkultur verbindliche und funktionale Sinn- und Deutungsmuster hervor.« (Behrens 2004: 29) Die Entgrenzung des Kunstfeldes und die Hybridisierung der kulturellen Bestände lösen Kämpfe um die Ordnung der Kultur aus, die bereits in der Weimarer Republik mit den Prozessen der Massendemokratisierung einsetzen und in der deutschen Nachkriegszeit fortgeführt wurden, um im 21. Jahrhundert in neue Formen von Kulturkonflikten zu kulminieren. Blickt man auf das Feuilleton in der Bundesrepublik, so werden die Pop- und Populärkulturen zunächst als Bedrohung wahrgenommen und bis in die 1960er Jahre weitgehend vom herrschenden Diskurs ausgeschlossen bzw. als Konsum oder ›nicht-künstlerische Praktiken‹ dargestellt, um die kulturelle Hegemonie zu bewahren. Als das ›Andere‹ der Ordnung bleibt die populäre Kultur zugleich im Diskurs präsent bzw. trägt als Feindbild und imaginäre Reizfigur nicht nur zur Stabilisierung der bürgerlichen Identität bei, sondern fordert sie auch permanent heraus. Hier wurden exemplarisch die Popdiskurse im Rahmen von Musik- und Kulturzeitschriften wie Spex und Tempo seit den 1980er Jahren angeführt, die ein öffentliches Forum für die neueren Pop- und Populärkulturen schaffen und alternative Praktiken der legitimen Kritik im hochkulturellen Raum ausbilden. Auch gesellschafts- und identitätspolitische Themen wie Sexismus und Rassismus sowie Feminismus und Gender wurden hier kultiviert und erhalten Eingang in den allgemeinen Diskurs.1 Die Legitimationsbestrebungen erreichen das überregionale Feuilleton und entfachen vor allem in den 1990er Jahren Konflikte um die Ordnung der (Hoch-)Kulturen im Spannungsverhältnis von traditionell-modernistischen und postmodernistischen Identitäten.
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Der identitätspolitische Diskurs der neuen Rechten vor allem seit den 2010er Jahren ist von der linken Identitätspolitik zu unterscheiden, die den moralisch legitimierten Kampf um Anerkennung und Zugehörigkeit mit der Identität des Subjekts verbindet. Während linke Identitätspolitik die Pluralisierung im Streben nach mehr Gleichheit fordert und sich der Gewordenheit und politischen Performativität von Identität bewusst ist, zeichnet sich rechte Identitätspolitik durch einen essentialistischen Kulturbegriff aus, der primär zur Definition kollektiver Gemeinschaft eingesetzt wird (vgl. Knobloch 2019: 10).
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Debattenkulturen im Wandel
Die Pop- und Populärkulturen haben spätestens im 21. Jahrhundert allgemein Anerkennung als ernstzunehmende Kultur erfahren und den Bildungskanon modifiziert. Zu einem selbstverständlichen Bestandteil des überregionalen Feuilletons geworden, ist das weit verbreitete Denkmuster zwischen der ›guten Hochkultur‹ und der ›trivialen Populärkultur‹ aufgeweicht. Zugleich prägt der alte Antagonismus die Kulturkonflikte im Feuilleton der Gegenwart und bleibt als ein Bezugspunkt der kritischen Praxis bestehen. Das hat vor allem die Untersuchung der Feuilletondebatte um die Volksbühne am Rosa-Luxembourg-Platz ergeben. Das Berliner Theater hatte in den 1990er Jahren das klassische Theater »als moralische Anstalt« (Fischer-Lichte 1999: 7) und »Ort bürgerlicher Repräsentation« (Klein/Sting 2005: 13) unter der Leitung von Frank Castorf modifiziert und die Dichotomie zwischen der legitimen Hochkultur und der illegitimen Populärkultur mit aufgelöst. Die Personalentscheidung des Intendantenwechsels im März 2015 durch die Berliner Kulturpolitik fordert das bürgerliche Theater erneut heraus. Als Kunst-Kurator steht Chris Dercon als Nachfolger von Castorf und neuer Intendant der Volksbühne für eine weitere Entgrenzung des bürgerlichen Theaters, wenn er die Internationalisierung und die grenzüberschreitende Praxis zwischen den Disziplinen Tanz, Kunst und Schauspiel in den Vordergrund stellt. Im Konflikt um den Intendantenwechsel erfährt die einst subversive Volksbühne – das »bedeutendste Sprechtheater der Welt« (Seidler 2016: 25) – Anerkennung als legitime Hochkultur. In diesem Sinn konstituiert sich Hochkultur nicht mehr allein über den bürgerlichen Bildungskanon, sondern integriert Teile der Pop- und Populärkulturen, die nun selbst zur ›hohen Kultur‹ geworden sind. Mit der Aufwertung der ehemals marginalisierten Kulturen geht eine Hybridisierung und Pluralisierung der bürgerlichen Hochkultur einher. Gleichzeitig werden neue Kämpfe mit alten Mittel ausgefochten, wenn die kulturelle Differenz der Hoch- und Populärkultur als politische Strategie im Kampf gegen die performativen Kulturen eingesetzt wird. Claus Peymann löste mit seinem offenen Brief an die Berliner Kulturpolitik eine Debatte im Feuilleton aus. Der damalige Theaterintendant des Berliner Ensembles stellt das künftige Theater unter der Intendanz von Dercon als »Event-Schuppen« dar und aktualisiert einen normativen Kulturbegriff, der zwischen einer legitimen und einer illegitimen Kultur unterscheidet. Die Eventkritik wird vom Feuilleton aufgenommen und normativ zu einer Dichotomie ausgebaut. Während das deutsche Stadt- und Ensembletheater (und die alte Volksbühne) als wertvolle Kultur geltend gemacht werden, erfährt das performative Projekttheater in der Verbindung zum Neoliberalismus eine Abwertung. In diesem Sinn wiederholen sich die Diskurse um die Popkultur der 1990er Jahre für das performative Theater in den 2010er Jahren: Das Feuilleton stellt sich als eine moralische Instanz dar, wenn alternative Theaterkulturen im Kontext der postmodernistischen Identitäten delegitimiert und als Bedrohung wahrgenommen werden.
5. Schlussfolgerungen
Zugleich trägt es als Versammlungsraum für die neue Vielheit an Hochkulturen zur Hybridisierung der öffentlichen Debatte und zur Entschärfung antagonistischer Verhältnisse bei. Folgt das Narrativ auch einem traditionellen Kulturbegriff, der zwischen einer legitimen Hochkultur und einer illegitimen populären Kultur unterscheidet, so erweist sich die Anrufung der kulturellen Differenz als äußerst wirksam für die Debattenproduktion. Die Metapher »Event-Schuppen« avanciert in der Debatte zu einem diskursiven Knotenpunkt und bringt die Entscheidung der Berliner Kulturpolitik öffentlichkeitswirksam zur Verhandlung: Sie erzeugt Aufmerksamkeit für die Personalie und stellt ein Angebot zur (Nicht)Identifikation bereit, an das leidenschaftlich angeschlossen wird und das immer mehr Stimmen aus dem künstlerischen und politischen Feld in den Diskurs hineinzieht. Neben Claus Peymann und dem damals mitverantwortlichen Kulturstaatssekretär Tim Renner kommen beispielsweise Thomas Oberender von den Berliner Festspielen und Amelie Deuflhard vom Hamburger Kampnagel als Sprecher:innen aus dem performativen Theaterdiskurs zu Wort. Auf diese Weise wandelt sich das Feuilleton zu einem agonalen Versammlungsraum, in dem Stimmen im Spannungsfeld von modernistischen und postmodernistischen respektive kulturkonservativen und kosmopolitischen Identitätsdiskursen an einen gemeinsamen Ort zusammengeführt und miteinander konfrontiert werden. Die Debatte befragt nicht nur das Theater, sondern auch die Ordnung der Kultur in der globalen Moderne: Was ist Kultur? Was ist Hochkultur? Über welche Werte bestimmt sich bedeutsame Kultur heute? Ähnlich wie in den Kämpfen um die Popkultur in den 1990er Jahren stehen sich zwei Auffassungen gegenüber, von dem was Kultur ist oder sein soll: Während die stärker modernistisch orientierten Identitäten um die Wertschätzung von kulturellen Entwicklungen und Beständen wie das deutsche Stadttheater kämpfen, streben die postmodernistisch orientierten Identitäten die Erneuerung in globaler Perspektive »im Regime des Neuen« (Reckwitz 2012: 28f.) an. Die verschiedenen Standpunkte bekämpfen sich mit den Mitteln der Polemik, um ihre Vorstellung von Kultur zur repräsentieren und ihre jeweiligen Interessen im Kampf um Hegemonie durchzusetzen. Zugleich teilen sie »einen gemeinsamen symbolischen Raum, in dem der Konflikt stattfindet« (Mouffe 2007a: 30) – das hochkulturelle Feld – und erkennen sich als legitime Gegner:innen an. Im Konflikt um die Berliner Volksbühne offenbart sich die »Pluralität des Sozialen« (Laclau/Mouffe 2012: 225): Das hochkulturelle Terrain ist nicht homogen strukturiert als vielmehr plural umkämpft und von einer Vielfalt an Antagonismen durchzogen; kulturelle Identität ist nicht endgültig fixiert und wird angesichts globaler Dynamiken neu befragt. War die Volksbühne in den 1990er Jahren der produktive Feind des bürgerlichen Theaters und die Popkultur immer schon eine der »augenfälligsten Manifestationen« der Globalisierung (Mrozek 2019: 28), so betreten im 21. Jahrhundert global agierende Kulturschaffende wie Dercon und Deuflhard die Bühne und fordern das bürgerliche Stadttheater erneut heraus. Vor
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Debattenkulturen im Wandel
allem Dercon löst sich in Orientierung an kosmopolitische Ideen von einem humanistischen Bildungskonzept westlicher Kulturen als Bezugspunkt und strebt die radikale Entgrenzung von nationalen Traditionen durch Internationalisierung an. Die Konflikte um die globalen Kulturen im hochkulturellen Raum werden besonders seit den 2010er Jahren von einem politischen Extremismus und neuen Formen der »Re-Nationalisierung« (Koppetsch 2019: 24) flankiert, die alternative Identifikationsangebote für eine Nationalkultur bereitstellen. Mit Bezugnahme auf Signifikanten wie Volk, Nation und Religion sowie einer aggressiven Bewertung der kosmopolitischen Eliten und Migrant:innen soll die »künstliche Homogenisierung der ›eigenen Kultur‹« (Reckwitz 2019: 54) erreicht werden. Rechtspopulistische Bewegungen haben im Kampf um Hegemonie auch die Hochkultur und ihre Bildungs- und Kultureinrichtungen für sich entdeckt. Ereignisse wie die Störungen von Theatervorstellungen durch Mitglieder der Identitären Bewegung lösten in der jüngsten Vergangenheit Debatten über den Umgang mit der Neuen Rechten aus und zeigen nicht zuletzt die Unabgeschlossenheit moderner Gesellschaften auf: Errungenschaften wie die Pluralisierung der Lebensformen und die Vielfalt an hegemonialen Hochkulturen sind als Ergebnisse von politischen Kämpfen immer ein temporärer Zustand, der jederzeit von Schließungsprozessen heimgesucht werden kann und immer wieder neu erkämpft werden muss.
5.2
Die Sozialfigur der (Medien-)Intellektuellen
In der Idee der bürgerlichen Öffentlichkeit haben sich spezifische Sprechrollen ausgebildet, die traditionell im Zeitungsfeuilleton auftreten: Journalist:innen, Gelehrte, Hochschullehrer:innen, Intellektuelle, Berufspolitiker:innen. Besonders Intellektuelle finden im Feuilleton einen Ort, um ihre Weltdeutungen und Ideen vor Publikum öffentlich zu repräsentieren. »Als Intellektuelle sind Menschen zu bezeichnen, die wissenschaftlich, künstlerisch, religiös, literarisch oder journalistisch tätig sind, dort Kompetenz erworben haben und mit Qualität ausgewiesen sind und die in die öffentlichen Auseinandersetzungen und Diskurse kritisch oder affirmativ intervenieren und Position beziehen; sie sind dabei nicht notwendig an einen bestimmten politischen, ideologischen oder moralischen Standpunkt gebunden; folglich kann es sie in unterschiedlichen politischen Lagern und Strömungen sowie innerhalb und außerhalb institutioneller Bindungen geben.« (Moebius 2010: 278) Betrachtet man exemplarisch die Flüchtlingsdebatte im Feuilleton, bei der die Figur der Intellektuellen auch explizit verhandelt wird, dann können die Philosophen Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski zunächst als klassische Intellektuelle verstanden werden. Als solche sind sie mit »spezifischer Autorität« (Bourdieu
5. Schlussfolgerungen
1984: 524f.) ausgestattet, die Entscheidung der temporären Grenzöffnung durch die Bundeskanzlerin Merkel im Jahr 2015 zu befragen und die Schließung der nationalen Grenzen unter Berufung auf die allgemeine Sicherheit zu fordern. »Der ›klassische Intellektuelle‹ war eine moralische Instanz, der sensibel soziokulturelle Werte und gesellschaftliche Grenzüberschreitungen beobachtete, politische Entscheidungen kritisch beurteilte und zur Legitimierung wie (Re-)Stabilisierung des gesellschaftlichen Wertehaushalts beitrug.« (Ziemann 2018: 312) Zugleich werden die beiden Philosophen mit dem Typus des:der klassischen Intellektuellen nicht hinreichend erfasst. Bei Sloterdijk und Safranski handelt es sich um Medienintellektuelle, das heißt um »public intellectuals« (Collini 2006: 52), die ein breites Publikum adressieren und »auf ein Medium der Öffentlichkeit sowie entsprechende Kommunikationsmittel und Institutionen angewiesen« (Moebius 2010: 278) sind. Im Grunde genommen waren Intellektuelle schon immer Medienintellektuelle – ob Zeitschrift, Zeitung, Radio, Fernsehen oder Internet: ohne Medium keine Intellektuellen (Ziemann 2018: 311). Gleichzeitig modifizieren die medialen Umbrüche die moderne Figur der Intellektuellen (vgl. Suntrup 2010: 23-33). Politisch engagierte Schriftsteller wie Heinrich Heine und Ludwig Börne sowie später Émile Zola, Albert Camus und Jean-Paul Sartre als »allgemeine Intellektuelle« vom französischen Typus klagten politische Missstände im Kampf um soziale Gerechtigkeit an und kümmerten sich um Dinge, »die sie nichts angehen« (Sartre 1972: 322). Ihre Kompetenz erwarben sie im künstlerischen und wissenschaftlichen Feld und zeichneten sich idealtypisch durch eine relative Autonomie ihres Standpunktes aus. Medienintellektuelle speisen ihre Autorität hingegen aus den Medien selbst, weshalb die »medientechnologischen Bedingungen und medialen Kulturtechniken im Vordergrund« stehen, »denen der Intellektuelle untersteht« (Moebius 2010: 282).2 Auch Sloterdijk und Safranski erwerben ihre Reputation weniger durch ihre wissenschaftliche Kompetenz als vielmehr durch eine dauerhafte Präsenz in der Öffentlichkeit (vgl. Moebius 2010: 282). »Mediengenerierte Prominenz« (Bock 2009: 85) erlangen sie insbesondere in den 2000er Jahren im Zuge der von ihnen moderierten Kultur-Talkshow »Philosophisches Quartett« im öffentlich-rechtlichen Fernsehen (ZDF). Die mediale Präsenz steigert nicht nur die Autorität, sich
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Die Figur der Medienintellektuellen und mit ihr die Kritik am Verschwinden von kritischen und engagierten Intellektuellen erhält einen Bedeutungsaufschwung durch die nouveaux philosophes in Frankreich, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre mit einer großangelegten Marketingkampagne und einer antimarxistischen Totalitarismuskritik intervenieren (vgl. Aubral/Delcourt 1977). Zu den bekanntesten Protagonisten gehören u.a. Alain Finkelkraut, André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy. Vgl. auch die nach Abschluss des Manuskripts erschienene Studie: Schildt 2000.
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Debattenkulturen im Wandel
zu allgemeinen Angelegenheiten zu äußern; die beiden Philosophen erlangen auch erst jene Sichtbarkeit, die sie wiederum für andere Medien attraktiv macht (vgl. Bourdieu 1998: 16). »Ein Austauschsystem hat diese Professionalisierung zwischen Intellektuellen und Medien zugelassen. Alle Radiosender und alle Fernsehsender, auch einige großen nationalen Zeitungen greifen häufig auf die begrenzte Liste dieser patentierten Intellektuellen zu: Sie brauchen sie, um ihre Sendungen oder ihre grauen Seiten zu illustrieren, zu animieren und ihnen Farbe zu verleihen. Im Gegenzug bekommen die Eingeladenen eine Tribüne geboten, um ihr Anliegen zu verteidigen, und sie steigern ihren Bekanntheitsgrad, der wiederum ihr Publikum vergrößert.« (Winock 2000: 40) Die Intervention von Sprecher:innen aus dem intellektuellen Feld hat sich als feste serielle Form in den Medien etabliert, weshalb sie nur partiell mit dem Aktivismus eines Émile Zola verglichen werden kann. Das Feuilleton gewinnt dabei auf zweierlei Weise an Bedeutung: Es stellt einen Raum für Intellektuelle bereit und bringt sie auch erst hervor – Intellektuelle wenden sich an Medien oder werden »angerufen« (Ziemann 2011: 312). Einmal etabliert, treten Medienintellektuelle im Unterschied zu ›temporären Intellektuellen‹ bzw. ›Intellektuellen im Nebenberuf‹ regelmäßig in Erscheinung. Während sich politisch engagierte Stimmen punktuell zu ausgewählten Ereignissen äußern, hier sei Jürgen Habermas oder Günter Grass beispielhaft genannt, sind Medienintellektuelle »intellectuel professionnels« (Winock 2000: 40), die regelmäßig ihre Stimme erheben und zu vielen unterschiedlichen Fragen Stellung nehmen. Entgegen der relativen Autonomie der kritischen Intellektuellen agieren Medienintellektuelle als Hybride zwischen Medien und dem intellektuellen Feld. Das heißt sie popularisieren ihr Spezialwissen nicht nur und bereiten es mit spezifischen Verfahren auf, um allgemein verständlich und attraktiv zu werden, sondern stellen ihr Wissen auch erst in diesem Schnittfeld her. Sloterdijk beispielsweise ist »bestens mit den Mechanismen der zeitgenössischen Medienwelt vertraut« und »mit dem richtigen Gespür für erfolgreiche Provokation einer jenen Medienintellektuellen, die selbst nach Belieben alle Register einer solchen Erregungsproduktion ziehen können«, so der Historiker Jan Christoph Suntrup (2013: 183). Der Kulturwissenschaftler Georg Seeßlen spricht in Bezug auf Sloterdijk von einem Intellektuellen, der »immer auch PR-Agent in eigener Sache« ist (Moldenhauer 2016).3
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Richard David Precht tritt ebenfalls als »öffentlicher Philosoph« auf und kann als ein neuer Typus des Medienintellektuellen betrachtet werden, der sich zu vielen gesellschaftlichen Fragen in verschiedenen Medien äußert (vgl. Suntrup 2013: 179-181). Der promovierte Germanist war als Essayist und Kolumnist tätig und hat 2012 mit seiner Sendung »Precht« (ZDF) die Nachfolge des »Philosophischen Quartetts« (2002-2012) von Safranski und Sloterdijk an-
5. Schlussfolgerungen
Die Grenzüberschreitungen werden nicht nur in der öffentlichen Debatte kritisch wahrgenommen, wie es Münkler in der Flüchtlingsdebatte in Bezug auf Sloterdijk getan hat, sondern auch in der soziologischen Forschung.4 Die zunehmende Hybridisierung der intellektuellen Praxis in Massenmedien und damit einhergehend die Vermischung traditionell normativ getrennter Diskurse wie Ästhetik und (Medien-)Ökonomie werden als Bedrohung für die relative Autonomie eingeordnet. Nicht mehr die wissenschaftliche respektive künstlerische Reputation sowie der Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit sei für die öffentliche Rede ausschlaggebend, sondern die besondere Fähigkeit im Umgang mit den Medien sowie die eigene Position und Selbstinszenierung. »Wo und wenn deshalb statt ad rem und tiefenscharfer, kluger Beobachtungen nur noch ad personam und instantanes Reden zählt, dort und dann verwundert es nicht, wenn narzisstische Eitelkeiten verletzt werden, persönliche Missachtung und Missverstehen beklagt werden und nicht um der Argumente willen, sondern um mediale Anerkennung, Prominenz, Rankings und Reichweiten gerungen wird.« (Ziemann 2018: 6) Auch Moebius spricht von einem »belanglosen Gedankenspiel« (2010: 289) und schreibt über den Umgang der Medienintellektuellen mit Kritiker:innen: »Statt analytisch in die Tiefe zu gehen oder sich argumentativ mit Kritikern auseinanderzusetzen, windet sich der Medienintellektuelle aus der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Hinweis, man neide ihm doch nur seinen medialen Erfolg.« (Ebd.: 284) Darüber hinaus gehe mit den technischen und ökonomischen Entwicklungen ein Qualitätsverlust der intellektuellen Interventionen einher, so die Kritik. Während Ziemann die Bedingung der Ökonomie als Widerspruch begreift – kritisieren Intellektuelle doch im kulturkritischen Modus gerade jene Bedingungen, denen sie selbst unterstellt sind –, zielt Moebius mehr auf die Vorstellung einer Determination der:des Intellektuellen durch die Ökonomie: »Als Rädchen im Getriebe des Medienapparats« sei der:die Medienintellektuelle »völlig von der Ökonomie der Aufmerksamkeit absorbiert« (Moebius 2010: 282). Das wissenschaftliche oder künstlerische Werk sei »nicht wie ehemals konstitutiv, ja nicht einmal mehr von Bedeutung«, es werde vielmehr »zum bloßen Beiwerk und Ornament« (ebd.).
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getreten. Außerdem ist er Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität in Lüneburg und Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Zur Vieldeutigkeit des Begriffs der Intellektuellen vgl. Schlich 2000 und Bering 2010 sowie zur Geschichte eines Schimpfwortes in Deutschland als Abwehrgeschichte französischer Traditionen vgl. Bering 1978.
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Debattenkulturen im Wandel
Die Erzählung der »End- und Verfallsstufe des Intellektuellenstammbaums« (Suntrup 2013: 164) trägt zur Verklärung und Idealisierung der:des klassischen Intellektuellen bei (vgl. ebd.: 167, Bering 2011: 578f.). Suntrup weist jedoch darauf hin, dass kalkulierte Provokationen im Ringen um Aufmerksamkeit weder ausschließlich ein Phänomen der Massenmedien noch gänzlich als geringschätzig zu beurteilen sind (ebd.: 186). Strategien der Skandalisierung und Selbstinszenierung werden in Massenmedien zwar professionalisiert, sind aber kein neues Phänomen, das erst mit dem Aufkommen des Fernsehens oder der sozialen Medien entstanden ist. Suntrup spricht von einem »Kulminationspunkt« (ebd.: 174), der mit dem Medium des Fernsehens erreicht wurde, aber bereits in der Dreyfus-Affäre im späten 19. Jahrhundert eingeleitet wurde. Auch damals wurden Strategien der Personalisierung, der Skandalisierung und der Simplifizierung eingesetzt, um im Namen der Gerechtigkeit Missstände an die Öffentlichkeit zu bringen. Von einer »generellen Entwicklung der Öffentlichkeit vom ›Logos‹ zum ›Pathos‹« (ebd.: 168) oder einer »Unterwerfung der Intellektuellen unter die Massenmedien« könne deshalb keine Rede sein. Zudem sei »ein strategischer Umgang mit den Massenmedien für jeden Intellektuellen unerlässlich, der Gehör finden möchte, ohne dass er zwangsläufig seine Autonomie dadurch aufgeben müsste« (ebd.: 174). So besehen kann Skandalisierung eine »Investition« sein, die in der massenmedialen »Aufmerksamkeitsökonomie eine lohnende Rendite verspricht« (ebd.: 175). Das ›sich Zeigen‹, das von Bourdieu (1998) als narzisstisches Merkmal von Intellektuellen im Sinn der kalkulierten Selbstdarstellung kritisiert wurde, verliert in dieser Perspektive seine Negativität und wird zum konstitutiven Bestandteil der politischen Intervention. Provokationen wie »der letzte Deutsche« von Strauß oder »Event-Schuppen« von Peymann gewinnen in einem komplexer werdenden Kommunikationsraum an Bedeutung und sind als Möglichkeit der Aufmerksamkeitsgenerierung zentral, um Gehör zu finden und Debatten zu allgemeinen Fragen auszulösen. Zugleich bestätigt sich die von Moebius und Ziemann geäußerte Kritik, wenn Sloterdijk in der Flüchtlingsdebatte weniger auf die Argumente seines Kontrahenten Münkler eingeht als vielmehr den Niedergang jener Debattenkultur anklagt, der er selbst angehört. Zudem platzieren Sloterdijk und Safranski geschickt Kommentare in den Massenmedien im Rahmen ihrer Buchveröffentlichungen, in denen sie die deutsche Flüchtlingspolitik kommentieren und mit Semantiken provozieren, »welche den Medienintellektuellen zwar blendend in Szene setzen, dafür aber eher desinformieren, skandalisieren und vereinfachen, als die Öffentlichkeit kritisch aufzuklären«, wie es Moebius beschreibt (2010: 283). Interventionen im Feuilleton vollziehen sich im widersprüchlichen Spannungsfeld zwischen dem normativen Anspruch »vernunftbegründeter Argumentation« (Bock 2009: 84) und der Notwendigkeit der Erzeugung von Aufmerksamkeit, in dem Formen der Skandalisierung wirksam werden. Ob Medienintellektuelle zu rein ›dekorativen Intellektuellen‹ werden und vordergründig ihren Narzissmus be-
5. Schlussfolgerungen
dienen (Bourdieu), ob sie den mangelnden Sachverstand durch Prominenz kompensieren und die Selbstvermarktung in den Vordergrund stellen (Moebius), ob die Debatte zum Boulevard neigt (»Journalismus wie auf Droge«, Lucke 2014: 8), ob Gemeinplätze, Phrasen und Schwarz-Weiß-Dichotomien dominieren, zeigt sich erst singulär im situativen Kontext. Im Unterschied zur Idee der »freischwebenden Intelligenz« (Karl Mannheim 1929: 123) sollen neben den medienökonomischen auch die historischen, sozialen und kulturellen Konstellationen Betrachtung finden, in der die Intervention eingebunden sind (vgl. Moebius 2010: 280). Sprecherpositionen sind durch Machtverhältnisse vermittelt und an soziale, kulturelle und technische Verflechtungen gebunden. Blickt man davon ausgehend auf die Einlassungen von Sloterdijk und Safranski in der Flüchtlingsdebatte, so kann die metaphorische Rhetorik zunächst auf das Selbstbewusstsein des Großintellektuellen im Recht auf Mitsprache und Repräsentation zurückgeführt werden. Darüber hinaus sollen sie vor dem Hintergrund eines Kulturwandels beobachtet werden, der mit einem Wandel des öffentlichen Sprechakts einhergeht. Safranski fordert im Feuilleton der Welt in einem Gespräch mit Matthias Mattusek: »Wenn die Kanzlerin sagt, Deutschland wird sich verändern, da möchte ich doch bitte gefragt werden.« (Matussek 2015: 7) Hier äußert sich der klassische Intellektuelle, der seine erworbene Autorität für politische Sachfragen einsetzt und von der Politik wahrgenommen werden möchte. Die Aussage verweist auf einen »gesellschaftliche[n] Stellvertretungsanspruch« (Bock 2009: 84) und die Idee der:des Intellektuellen als »Repräsentanten des Universellen« (Foucault 2010: 273), der im Namen der Bürger:innen für die Wahrung genereller Werte wie Wahrheit und Gerechtigkeit eintritt, und zwar dort, wo sie im politischen Betrieb missachtet werden. Die Idee der Stellvertretung durch universale Intellektuelle wurde in der Vergangenheit bereits problematisiert. Zum einen geraten »große LegitimationsErzählungen« (Jean-François Lyotard 1979) und politische Ideen wie Sozialismus, Republikanismus und Kommunismus mit der Auflösung des Ost-West-Konflikts ins Wanken, die dem intellektuellen Engagement bis in die siebziger Jahre hinein einen Wertekanon bereitstellten, für den es sich gemeinsam zu kämpfen lohnte. Zum anderen ist »der Intellektuelle nicht der ›Träger universaler Werte‹«, sondern »schlicht jemand, der eine spezifische Position innehat« (Foucault 2010: 277), das heißt jemand, der seine jeweilige »Sichtweise des Gemeinwohls als die ›wahre‹ Inkarnation des Universellen« (Mouffe 2014: 125) darstellen möchte. Die Problematik wird besonders in der Debatte zur deutschen Flüchtlingspolitik deutlich. Hier stellt sich die Frage neu: Für wen und mit wem sprechen Intellektuelle in global ausgerichteten und transnational entgrenzten Gesellschaften? Der Übergang zu einer multipolar und multiethnisch ausgerichteten globalen Moderne stellt ein Bündel an heterogenen Identitäten, Bildungsverläufen und Lebensformen bereit, die eine Bewertung von Ereignissen wie die Ankunft der Ge-
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flüchteten im Sommer 2015 in eurozentrischer Perspektive überschreiten. Wird der:die Intellektuelle als »Enkel der philosophischen Aufklärer« und »Produkt einer demokratischen Staatsform wie auch einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung wie auch eines technisch hoch entwickelten Mediensystems« (Ziemann 2011: 281) begriffen, dann bilden sich Medienintellektuelle wie Sloterdijk und Safranski in diesem historischen Diskurszusammenhang aus. Spezifisch Sloterdijk stilisiert sich in der Debatte als ein »nachdenklicher Staatsbürger der BRD«, »ausgestattet mit kritischen Impulsen klassisch europäischer Prägung« (Sloterdijk 2016: 39), und verweist damit auf das Selbstverständnis eines humanistisch geprägten europäischen Bürgertums. Damit tritt er als gesellschaftlicher Stellvertreter auf, der politische Entscheidungen im Namen der Zivilgesellschaft prüft und in Orientierung an ein westlich geprägtes Denken in Tradition der europäischen Aufklärung befragt. Der Macht- und Geltungsanspruch beschränkt sich dann nicht auf das Einklagen von allgemeinen Werten adressiert an die Politik, der ein Versagen unterstellt wird, sondern betrifft die Verteidigung von Privilegien und partikularen Identitätsdiskursen, denen die Philosophen selbst angehören, und die durch die globalen Dynamiken herausgefordert werden. Anders formuliert, es erfolgt eine universale Zuschreibung aus einem partikularen Diskurs, um die eigenen Interessen zu legitimieren und kulturelle Bestände zu bewahren. Die Positionen sind partikular und identitätspolitisch eingebunden, das kommt auch in den Kommentaren zur deutschen Debattenkultur zum Ausdruck. Sloterdijk (2016: 39) spricht von einer »Tendenz der Entkulturalisierung« und einem »Drama des Kulturverlusts«, »dass sich in den ›sozialen Medien‹ wie in den vermeintlichen Qualitätsmedien täglich abrollt« und bezieht sich dabei auf eine Idee von Öffentlichkeit im bürgerlichen Ideal der rationalen Distanz. Ausgehend von einem normativen Kulturbegriff kommt er ähnlich wie Strauß für die nationale Kultur notwendig zum Ergebnis des Verlustes. In einem nichtessenzialistischen Verständnis geht Öffentlichkeit jedoch nicht verloren, sondern konstituiert, transformiert und modifiziert sich angesichts der Digitalisierung und Transnationalisierung sozialer Prozesse notwendig neu (vgl. Fraser 2005, Nash 2007). Mit der Erneuerung geht die Befragung einer (alten) Öffentlichkeit einher, wie sie von Sloterdijk und Safranski geprägt und mitgestaltet wurde, weshalb die Klage auch als Ausdruck eines drohenden Machtverlusts im intellektuellen Feld gelesen werden kann. Globale Ereignisse im Kontext der weltweiten Migrationsbewegungen offenbaren die Problematik eines Verständnisses von Öffentlichkeit, das national verankert ist und den medialen Wandel als Verlustgeschichte darstellt. Die Debatte um die Flüchtlingspolitik bestätigt die gesetzte These der Pluralisierung der Kulturen im Zuge der Auflösung der bürgerlichen (Hoch-)Kultur seit dem 20. Jahrhundert. Strauß, Sloterdijk und Safranski artikulieren nicht nur eine Position einer alten kulturellen Elite (westlich geprägte Kulturteilnehmer als Herrschende über das Fremde, dem ein Mitspracherecht verweigert wird), sondern
5. Schlussfolgerungen
auch eine Form der symbolischen Gewalt (Darstellung eines Bedrohungsszenarios verbunden mit der Forderung nach Exklusion von Geflüchteten zur Stabilisierung der nationalen Identität).5 Unter dem Deckmantel von Moral und Universalismus transformieren sie zu ›partiellen Intellektuellen‹, die das eigene Kulturfeld gegen den (medien-)kulturellen Wandel in Stellung bringen. Unter den Bedingungen einer transnationalen Gesellschaft erscheint sowohl die Idee der gesellschaftlichen Stellvertretung mit Universalitätsanspruch, wie er traditionell durch den Typus des:der allgemeinen Intellektuellen vertreten wird, als auch die Vorstellung eines universalen Begriffs von Wahrheit als nicht plausibel. Die Debatte um die deutsche Flüchtlingspolitik zeigt die Auflösungserscheinungen klassischer Intellektuellen auf (vgl. Bering 2010). Intellektuelle als autoritäre Instanzen und Sprecher:innen allgemeinverbindlicher Werte, die in der alten Bundesrepublik durch Jürgen Habermas, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger oder Martin Walser repräsentiert wurden, scheinen im 21. Jahrhundert als veraltet. Ziemann kommt im Hinblick auf die Flüchtlingsdebatte im Jahr 2015 zu dem Ergebnis, das »die Zeit des allgemeinen Intellektuellen abgelaufen« ist, da »man sich höchstens noch situativ, ausgestattet mit speziellem Hintergrundwissen und entsprechender Fachexpertise zu Wort melden« solle (2018: 314). Für den Spiegel-Autor Nils Minkmar sind es ebenfalls nicht mehr die großen ideologischen Debatten der Intellektuellen, die in der Flüchtlingsdebatte Schlagkraft haben, sondern das lösungsorientierte und pragmatisch-vernünftige Verhalten der Bürger:innen selbst. In seiner Replik »Deutsche Zuversicht« auf die Spiegel-Glosse von Strauß schreibt er: »Große Männer sind weder gefragt noch nötig. Die Bürger selbst übernahmen die Initiativen in zahllosen Akten der Weisheit.« (Minkmar 2015: 133) Münkler – der »Ein-Mann-Think-Tank« (Stephan 2007) – erkennt in Sloterdijks Interventionen schließlich »die Abdankungserklärung eines Typus öffentlicher Intellektualität«, der »die Debattenkultur lange Zeit beherrscht hat« (Münkler 2016a: 7). Der Kampf »um universalistische Werte wie Menschenrechte, Aufklärung, Autonomie und Emanzipation« (Moebius 2010: 278) ist nicht hinfällig, wird aber unter den veränderten Bedingungen neu ausgehandelt. Während die einen den Niedergang des Politischen und die Krise der Medien ausrufen, erkennen die anderen Möglichkeiten der Neugestaltung. Georg Seeßlen stellt in einem Interview mit Spiegel Online fest: »Die Intellektuellen leiden im Grunde unter derselben Veränderungsangst wie Angehörige anderer sozialer Schichten. Eventuell müsste man Definitionsmacht 5
Symbolische Gewalt bezeichnet mit Bourdieu eine Situation, in der die durch soziale Ungleichheit benachteiligten Akteure die soziale Welt durch die Augen derjenigen betrachten, die die symbolische Definitionsmacht innehaben und ihre Kompetenzen und Fähigkeiten als gesellschaftlichen Standard definieren (Bourdieu 1987).
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abgeben, und das ist nicht gewollt. Dabei könnten die Intellektuellen in einer Gesellschaft, die sich neu erfinden muss, eine neue Position finden. Das kann etwas Wunderbares sein. Stattdessen greifen Sloterdijk und Safranski auf den antimodernen Diskurs zurück, der in Deutschland immer mitgeschleppt wird.« (Moldenhauer 2016) Die Kulturklage vom Zerfall der kritischen Öffentlichkeit wird in dieser Sichtweise genauso unterlaufen wie das Unbehagen an der Entthronung der Intellektuellen in den Printmedien durch die digitalen Medien. Die Debatte zeigt, so könnte man formulieren, ein letztes Aufbäumen der Großintellektuellen, die mit ihrer Klage zugleich darauf hinweisen, dass sich sowohl die Gesellschaft als auch das Nachdenken über sie verändert hat. Während Intellektuelle »Geschöpfe der Industriegesellschaft« (Stehr 1994: 379f.) sind, die moralische Kategorien und sprachliche Mittel im Kontext eines allgemeinen Wissens einsetzen, steigt die Bedeutung von Expert:innen seit den 1970er Jahren an. Konzepte zur »Wissensgesellschaft« gehen davon aus, dass nicht mehr die traditionellen Wissensbestände und das überzeitliche Kulturerbe einer klassisch bildungsorientierten Kulturelite relevant sind, sondern das anwendungsorientierte »neue« Wissen im Rahmen technischer Entwicklungen und die Fachexpertise von Spezialisten (vgl. Bittlingmayer 2004: 48f.). Münkler, dem »öffentlichen Intellektuellen« und »Wissenschaftler als Experten« (Foucault 2010: 275), nimmt hier eine Zwischenposition ein: Der Politikwissenschaftler hat seine Kompetenz im wissenschaftlichen Feld erworben, prüft politische Entscheidungen mit sachlicher Expertise und stellt sie in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang ohne jedoch als moralische Instanz aufzutreten oder Position zu beziehen, weshalb er auch als ›intellektueller Experte‹ bezeichnet werden kann.6 Mit der Expertenkultur verbunden ist ein Wandel der Themen: Weniger abstrakte Ideen, Moralvorstellungen und Weltanschauungen, sondern konkrete Sachfragen und Problemlösungen stehen im Fokus (vgl. Pfadenhauer 2010), wie sie Münkler in der Debatte um die deutsche Flüchtlingspolitik auch eingefordert hat. Mit der Versachlichung geht ein Verlust einer demokratischen Streitkultur einher, 6
Der Politikwissenschaftler nähert sich dem Typus des »spezifischen Intellektuellen« (Foucault 2010), »der vor dem Hintergrund seiner spezifischen Sachkenntnisse, als Experte eines Wissensgebiets, gezielt in konkrete gesellschaftliche Debatten eingreift. Weniger die universelle Wahrheit steht im Mittelpunkt seines Engagements, auch nicht die Orientierung an eine bestimmte Klasse oder Partei, als vielmehr die aus einem lokalen Wissen gespeiste Kritik« (Moebius 2010: 280). Zugleich überschreitet Münkler das für Intellektuelle gesetzte Ideal der Unabhängigkeit, wenn er als Berater für die Bundesregierung mit der herrschenden Elite verbunden ist und »über Bande« (Stephan 2007) spielt. Das heißt, er platziert Artikel in Zeitungen, um von Politiker:innen um Rat gefragt zu werden. Damit kann er nicht der Gruppe der »Expertenintellektuellen« (Korom 2012: 73) zugeordnet werden, die zwischen einem Laienpublikum und speziellen Diskursen vermitteln und in Kämpfe um Werte und Leitideen eingreifen, ohne beratend für die Politik tätig zu sein.
5. Schlussfolgerungen
die auf Identifikation und Leidenschaft im Kampf um das Allgemeine setzt, weshalb im Feuilleton bis heute der Typus des:der Intellektuellen dominiert. Neben Sloterdijk betreten im 21. Jahrhundert neue Sprecher:innen aus dem geistes- und sozialwissenschaftlichen Raum die öffentliche Bühne, die an die alte Kulturtechnik der gelehrten und ästhetischen Welterfassung der traditionellen Bildungselite anknüpfen: Neben Publizist:innen wie Carolin Emcke und Schriftsteller:innen wie Julia Zeh, Eva Menasse, Nora Bossong und Navid Kermani, gewinnen Wissenschaftler:innen wie Alain Badiou, Eva Illouz, Armin Nassehi, Andreas Reckwitz, Joseph Vogl und Slavoj Žižek an symbolischer Deutungsmacht. Für radikale Demokratietheorien wie die von Mouffe ist die Vielheit der Sprecher:innen ein Indiz für das Ausmaß der Politisierung von Diskursen. Kritik äußert sich demnach auch darin, »all jenen eine Stimme zu verleihen, die im Rahmen der bestehenden Hegemonie mundtot gemacht werden« (Mouffe 2014: 143). Deshalb soll abschließend die Möglichkeit der Teilhabe an den Feuilletondebatten im 21. Jahrhundert geprüft werden. Welche Sprecher:innen können sich in den untersuchten Feuilletondebatten gesellschaftliches Gehör verschaffen, wer wird in den Diskurs integriert und wer wird ausgeschlossen? Als bürgerliche Institution richtet sich das Feuilleton primär an ein akademisch gebildetes Publikum in Tradition einer bürgerlichen Öffentlichkeit und weist spezifische Zugangsschranken auf, die den Deutungsspielraum von vornherein begrenzen. Im Feuilleton sprechen in der Regel weder »organische Intellektuelle« (Gramsci 2012), noch »Subalterne« (Spivak 2008) oder »Anteilslose« (Rancière 2016), sondern ausgewählte Sprecher:innen der hegemonialen Ordnungen aus dem bürgerlichen Raum – Wissenschaft, Kunst, Politik.7 In diesem Sinn kann nicht von einem herrschaftsfreien Diskurs gesprochen werden, die in der Gesellschaft etablierten Machtstrukturen und Redeanteile werden vielmehr aufrechterhalten und reproduziert. Soziale und geschlechtliche Ungleichheit prägen die Weise des Sprechens über allgemeine Angelegenheiten und bestimmen die Inhalte und Verläufe von Debatten. Bereits Nancy Fraser (2001) hat
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Beim »organischen Intellektuellen« (Gramsci 2012) geht es nicht so sehr um die bürgerliche Praxis des Schreibens, Denkens und Argumentierens wie bei klassischen/spezifischen Intellektuellen, sondern vor allem um eine organisierende Arbeit im Kampf um Hegemonie, und damit um die Art und Weise, wie sich bestimmte gesellschaftliche Gruppen und Klassen formieren und zu politischen Kräften (und Kollektiven) zusammenschließen. Bei »Subalternen« – ein Begriff, den Spivak (2008) von Gramsci übernimmt und weiterentwickelt –, handelt es sich wiederum um soziale Gruppen, die außerhalb des herrschenden Diskurses stehen und nicht für sich sprechen können bzw. nicht gehört werden. Ranciére (2016) versteht unter den »Anteilslosen« diejenigen, die nicht zur Gesellschaft zählen und denen jede Form der Kommunikation über diese Grenzziehung verweigert wird. Der Konflikt um die Teilhabe an Gesellschaft bezeichnet er als die eigentliche Politik (im Unterschied zur ›Polizei‹ als herrschende Ordnung).
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darauf hingewiesen, dass das Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit eine idealisierte Utopie einer singulären Sphäre der Öffentlichkeit hervorgebracht hat, die durch die Exklusion von Klassen, Geschlechtern und alternativen Öffentlichkeiten geprägt ist. »Ein Diskurs der Publizität, der sich für Zugänglichkeit, Rationalität und die zeitweise Aufhebung von Statushierarchien stark macht, wird selbst als Distinktionsmittel eingesetzt.« (Ebd.: 115) Zugleich können alternative Perspektiven aus dem wissenschaftlichen und künstlerischen Feld in den allgemeineren Diskurs eingeführt und herrschende Diskursgrenzen irritiert bzw. unüberbrückbare Konflikte zum Vorschein gebracht werden. In Bezug auf die Struktur der Sprecher:innen im Feuilleton ergibt sich ein relativ einheitliches Bild: Zwar haben sich die Kulturredaktionen der großen Zeitungen pluralisiert, wie es im dritten Kapitel zur historischen Rekonstruktion des Feuilletons von der Moderne zur Spätmoderne herausgearbeitet wurde – neben klassisch hochkulturell-bürgerlichen Sprecher:innen erhalten auch Stimmen aus den Bereichen Pop, Feminismus und Gender Einzug –, und es werden immer neue Stimmen aus dem intellektuellen Feld etabliert. Gleichzeitig ist in den großen Debatten nur eine kleine Anzahl an Sprecher:innen autorisiert, auf die öffentliche Bühne zu treten. Dabei handelt es sich primär um prominente Personen, die bereits im öffentlichen Diskurs legitimiert sind. Die Entscheidung wird in der Regel nicht nach Ereignis und Thema singulär ausgehandelt, die Stimmen werden vielmehr im historischen Kräfteverhältnis aus einem bereits etablierten Setting abgerufen. Hier handelt es sich um einen begrenzten Möglichkeitspool an festen Redakteur:innen, Pauschalist:innen, freien Mitarbeiter:innen und bereits etablierten Intellektuellen. »Man müsste sie erst auftreiben, wo man doch die Medienhirsche bei der Hand hat, die stets disponibel und bereit sind, ihre schriftliche Stellungnahme abzusondern oder ihre Interviews zu geben.« (Bourdieu 1998: 40) Betrachtet man die Debatte zur Flüchtlingspolitik, so ist die männliche Hegemonie im Feuilleton ungebrochen: Von insgesamt 22 Sprecher:innen waren 21 männlich und meist über 50 Jahre. Die aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld stammenden Intellektuellen waren alle männlich und weiß besetzt: Herfried Münkler, Armin Nassehi, Peter Sloterdijk und Botho Strauß. In der Volksbühnendebatte sprechen wiederum sechs Frauen und 34 Männer. Als zentrale Sprecher:innen aus dem künstlerischen Feld können Amelie Deuflhard, Jürgen Flimm, Thomas Oberender, Claus Peymann und aus der Kulturpolitik Tim Renner genannt werden. Das Zeitungsfeuilleton zeigt sich hier nicht nur als integrierende Kraft und Identitätsstifter für ein akademisch gebildetes Publikum in einer pluralistischen Gesellschaft, sondern auch als ein Machtforum für eine klassische Kulturelite mit hohem Exklusionsfaktor. Besonders das Machtungleichgewicht und die homogene Sprecherposition und Geschlechterstruktur zeigt eine politische Öffentlichkeit, die Gleichheit
5. Schlussfolgerungen
und Teilhabe kaum einlöst. Kann eine partizipatorische Inklusion in radikaldemokratischer Perspektive auch nie erreicht werden (Demirović 1997), so repräsentiert das »Soziogramm des deutschen Männerfeuilletons« (Scholz 2018) in den untersuchten Debatten eine vorwiegend maskuline Ordnung (vgl. Klaus 2004, Schluchter 2019). Das erinnert an die Debattenkultur im langen 19. Jahrhundert, die vor allem männlich geprägt war (vgl. Verheyer 2010: 45) und bis heute das deutsche Printfeuilleton bestimmt.
5.3
Debattenkulturen der Gegenwart
Die untersuchten Debatten im Feuilleton sind von Machtstrukturen, aber auch von ganz unterschiedlichen sozialen und kulturellen Bindungen geprägt: Die Sprecher:innen verteidigen ihre Identität unter den Bedingungen des kulturellen Wandels, um traditionelle Positionen zu erhalten oder alternative Ideen zu legitimieren. Das Feuilleton wird deshalb als ein Ort der politischen Auseinandersetzung verstanden, »an dem Machtverhältnisse verhandelt werden, an dem um die Definition und Redefinition von Unterordnung und Unterdrückung gekämpft wird, an dem soziale Ausschlüsse produziert und legitimiert werden, an dem aber auch sozialer Einschluss reklamiert werden kann« (Marchart 2008: 252). Die Feuilletonforschung ist auf theoretische Konzepte angewiesen, die sowohl der medialen Inszenierung als auch den Dimensionen der Macht und des Konflikts Raum geben. Die politische Diskurstheorie von Laclau und Mouffe hat sich als gewinnbringend erwiesen, die Strategien der Herstellung von politischen Diskursen im Feuilleton zu beobachten. In dieser Perspektive zeigt sich das Feuilleton weniger als Informationsträger oder als »Schauplatz kommunikativer Rationalität« (Habermas 1981: 114) und herrschaftsfreier Meinungsaustausch, sondern als ein diskursiver Raum der konflikthaften Aushandlung. Davon ausgehend wurden Debatten als agonale Verhandlungsforen von Konflikten einerseits und als »Arrangement von Artikulationen« bzw. als Effekt von komplexen Verweisstrukturen andererseits bestimmt, in denen politische Diskurse konstruiert und allgemeine Angelegenheiten konflikthaft verhandelt werden. Damit bezog sich die Analyse nicht auf die sprachlichen Aussagen über Realität, sondern auf die Weise, wie Realität durch diskursive Artikulation hergestellt wird. Entsprechend habe ich mich für einen performativen Ansatz von Öffentlichkeit entschieden, das heißt Öffentlichkeit wird im Vollzug immer wieder neu hervorgebracht und konstituiert. Im Unterschied zu klassischen Modellen wird Öffentlichkeit weder normativ noch ontologisch vorausgesetzt, sondern als eine empirische Kategorie begriffen, die im Konflikt bzw. im Prozess der
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Debattenkulturen im Wandel
diskursiven Artikulation immer wieder neu entsteht und mit bestimmten medialen Verfahren aufbereitet wird. Vor diesem Hintergrund wurde ein interdisziplinäres Verfahren entworfen, das in Verbindung von politischer Theorie und medien- und kultursoziologischen Perspektiven den theoretischen Rahmen für die Erforschung des Feuilletons als Ort der Debatte bereitstellt. Anhand der theoretischen Konzepte zum Agonalen und Hybriden wurde das Vier-Dimensionen-Modell entwickelt, das den Analyserahmen für die Untersuchung der medialen Inszenierung von Konflikten im Feuilleton bildet. Mit Blick auf die Forschungsfrage – Auf welche Weise und unter welchen Bedingungen konstituieren sich Debatten im Feuilleton? – stellten sich davon ausgehend folgende Fragen an die Fallanalysen: 1. Aktualisierung: Wie wird das Terrain des Politischen re-aktiviert und welches Ereignis kann als Auslöser der Debatte identifiziert werden? 2. Medialisierung: Wie werden die medialen Praktiken eingesetzt, um diskursive Ereignisse in Szene zu setzen, und welche Verfahren der Debattenproduktion können identifiziert werden? 3. Aushandlung: Welche agonalen Bezugs-und Verweissysteme bilden sich aus und auf welche Weise werden Stimmen aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld miteinander in Bezug gesetzt? 4. Repräsentation: Welche kulturellen Differenzen, welche Formen des Anderen und welche Vorstellungen von Kunst und Kultur werden konflikthaft verhandelt? Im Prozess der Durchführung der empirischen Analysen konnten drei Phasen identifiziert werden, die über einzelne diskursive Ereignisse strukturiert sind, und jeweils nicht nur spezifische Wissenskulturen und Konfliktstrukturen generieren, sondern auch mediale Strategien, die für die Debattenproduktion im Feuilleton charakteristisch sind: Aktualisierung, Politisierung und Aushandlung. Die Praktiken der Ästhetisierung und Literarisierung, der Versammlung und Komposition sowie der Popularisierung und Affizierung bilden dabei die Grundlage, von der aus die Strategien der medialen Inszenierung von Konflikten im Feuilleton bestimmt werden. Die Phase der Aktualisierung: Provokation und Bruch mit dem Konsens. In der ersten Phase werden mit den Mitteln der Provokation affektive Reize gesetzt, die auf den antagonistischen Charakter der Gesellschaft verweisen und das Terrain des Politischen aktualisieren. Der Beitrag von Botho Strauß im Spiegel (»Der letzte Deutsche«) in der Flüchtlingsdebatte und der offene Brief von Claus Peymann an die Berliner Kulturpolitik (»Event-Bude«) in der Volksbühnendebatte können als diskursive Ereignisse identifiziert werden, die politische Sprechräume eröffnen. In den Sprecherpositionen artikuliert sich ein kulturell Anderes, das die routinierten Wahrnehmungsstrukturen im journalistischen Alltag unterbricht und zahlreiche Reaktionen im Feuilleton auslöst. Die Metapher »Event-Schuppen« verweist auf den historisch konstituierten Antagonismus zwischen der bürgerlichen und populären Kultur und zeichnet ein bedrohliches Zukunftsbild, in dem die künftige
5. Schlussfolgerungen
Volksbühne unter der Leitung von Dercon als ›Nicht-Theater‹ erscheint. Strauß wiederum verknüpft einen nationalen Kulturbegriff mit der Idee der ›konservativen Revolution‹ (»geheimes Deutschland«) und eröffnet einen Spannungsraum zwischen kulturessenzialistischen und pluralistischen Identitätsdiskursen. Die Artikulation heterogener Elemente löst Irritationen im hegemonialen Diskurs aus und stellt Projektionsflächen für Formen der (Nicht-)Identifikation bereit. Beide Positionen produzieren Ausschlüsse und teilen den kulturellen Raum symbolisch in zwei Lager auf: Wir und die Anderen. Für die Aufmerksamkeitserzeugung und Anschlussfähigkeit spielt neben der politischen Dimension der Sprechakte auch die Prominenz der Provokateure und ihre Autorität als öffentliche Sprecher:innen eine Rolle. Sowohl der Theatermacher Peymann als auch der Schriftsteller Strauß kommen aus dem künstlerischen Feld und besitzen aufgrund ihrer Popularität einen Zugang zum öffentlichen Diskurs. Vor dem Hintergrund der theoretischen Rahmung können für die Phase der Aktualisierung zusammenfassend folgende politische Strategien festgehalten werden: Provokation durch literarische Mittel und Ästhetisierung, Anrufung eines kulturell Anderen und Produktion von Ausschlüssen sowie Prominenz aus dem künstlerischen Feld und Autorität als öffentliche Sprecher:innen. Die Phase der Politisierung: Re-Artikulation und Aufbau einer Gegnerschaft. Die diskursiven Ereignisse in der ersten Phase entfalten einen politischen Streitraum im Feuilleton, in dem sich prozesshaft divergierende Deutungsweisen ausbilden und zu Allianzen versammeln. Die Metapher »Event-Schuppen« im offenen Brief von Peymann in der Volksbühnendebatte und die Zuschreibung ausgewählter Intellektueller als »Wortführer« von »neuen nationalkonservativen Bewegungen« (Steinfeld 2016) im Feuilleton der SZ erweisen sich als Katalysatoren von Dissens und können als diskursive Knotenpunkte in den Debatten identifiziert werden. Als ordnungsstiftende Instanzen bilden sie gemeinsame Bezugspunkte aus, um die herum sich eine Vielzahl an Sprecher:innen aus dem intellektuellen Feld versammelt und miteinander in Beziehung setzt, um eine politische Ordnung zu etablieren, die über Ausschlussmechanismen fungiert. Dabei bilden sich narrative Äquivalenzbeziehungen in Abgrenzung zu einem gemeinsamen Anderen aus, die eine legitime Gegnerschaft durch eine Wir-Sie-Unterscheidung ermöglichen. In der Flüchtlingsdebatte artikuliert sich ein bedrohliches und illegitimes ›Andere‹, das über Intellektuelle wie Strauß, Sloterdijk und Safranski als »Wortführer« der »nationalkonservativen Bewegung« personifiziert und über Elemente wie ›Irrationalität‹, ›Rechtspopulismus‹, ›Weltfremdheit‹, ›Anti-Pluralismus‹ und ›Maskulinisierung‹ verbunden wird. In der Volksbühnendebatte bildet sich eine Dichotomie zwischen dem klassischen Stadt- und Ensembletheater und dem performativen Projekttheater aus, das über Elemente wie ›Kurator‹, ›Festival‹, ›Projekt‹, ›Globalisierung‹, ›Neoli-
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Debattenkulturen im Wandel
beralismus‹, ›Event‹ und ›prekäre Arbeitsverhältnisse‹ zu einem kulturell Anderen artikuliert wird. Vor dem Hintergrund der theoretischen Rahmung können für die Phase der Politisierung zusammenfassend folgende politische Strategien festgehalten werden: Versammlung von Stimmen aus dem künstlerisch-intellektuellen und dem politischen Feld, Herstellung von diskursiven Knotenpunkten und Äquivalenzbeziehungen sowie Ausbildung von kollektiven Akteuren und Konstruktion einer WirSie-Unterscheidung. Die Phase der Aushandlung: Versammlung und Hybridisierung. Die Debatte wird in eine Form der Auseinandersetzung überführt, die weniger von Abgrenzungs- und Abwertungsprozessen und mehr von Aushandlungsprozessen in Anerkennung der Vielfalt der Partikularkulturen geprägt ist. Das Feuilleton zeigt sich in der Volksbühnendebatte als ein agonaler Versammlungsraum, in dem eine größere Vielfalt an Stimmen und eine Heterogenität an partikularen Hochkulturen an einem gemeinsamen Ort zusammengeführt werden. Alternative Positionen aus dem künstlerischen Feld erhalten Eingang und brechen den polarisierten Diskurs im Feuilleton auf, indem sie auf die kulturelle Differenz einwirken und sie hybridisieren. Die Auseinandersetzung um die ›neuen Rechtsintellektuellen‹ mündet wiederum in einen Streit um die deutsche Flüchtlingspolitik zwischen dem Philosophen Sloterdijk und dem Politikwissenschaftler Münkler. Neben der Anrufung neuer Dichotomien wie die zwischen den Intellektuellen und den Expert:innen generiert der Streit auch konsensuelle Momente, wenn etwa Sloterdijk im deliberativen Verfahren der Rechtfertigung die Entscheidung der Bundesregierung in Teilen anerkennt. Die Konflikte sind in dieser Phase weniger von einer Tendenz der Polarisierung und Ausgrenzung und mehr von einer Form des Streits geprägt, in dem der jeweils andere Standpunkt reflektiert wird. Im Konflikt bilden sich neue Diskurs- und Themenstränge aus, die zwar nicht mehr Bestandteil des agonalen Bezugssystems – der Debatte – im engeren Sinn sind, die aber die angestoßenen Verhandlungen weiterführen und den politischen Diskurs im Feuilleton nachhaltig mitbestimmen. Während im Streit um das Theater ästhetische Praktiken und prekäre Arbeitsweisen sowie Hierarchien im Theaterbetrieb befragt werden, brechen in der Flüchtlingsdebatte Definitions- und Begriffskämpfe um politische Kategorien aus – was ist links, was ist rechts, was ist konservativ? Vor dem Hintergrund der theoretischen Rahmung können für die Phase der Aushandlung zusammenfassend folgende politische Strategien festgehalten werden: Zusammenführung widerstreitender Stimmen an einen gemeinsamen Ort sowie Versammlung von Sprecher:innen aus dem künstlerisch-intellektuellen Feld, konfligierende und kooperierende Momente sowie Heterogenisierung und Hybridisierung des politischen Diskurses.
5. Schlussfolgerungen
Werden linke, liberale, nationale, rechtskonservative und kosmopolitische Identi tätsentwürfe an einen gemeinsamen Ort zusammengeführt und miteinander in Bezug gesetzt, kann das Feuilleton als eine Institution geltend gemacht werden, »durch die eine Ordnung geschaffen wird, die das Miteinander der Menschen im Kontext seiner ihm vom Politischen auferlegten Konflikthaftigkeit organisiert« (Mouffe 2007: 16). Das Feuilleton stellt Debattenräume her, in denen »konfligierende Alternativen« (ebd.: 17) miteinander konfrontiert werden und bildet so eine »legitime Ausdrucksform« (ebd.: 10) für Konflikte. Dabei übernimmt es zwei Diskursfunktionen: Zum einen baut es eine Gegnerschaft auf und tritt als Produzent von Dissens in Erscheinung, wenn es zu einer Dichotomisierung des kulturellen Feldes beiträgt, alternative Positionen sichtbar macht und politische Entscheidungen zur Verhandlung bringt. Zum anderen stellt es eine öffentliche Bühne bereit, auf der die widerstreitenden Stimmen aus verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen wie Wissenschaft, Kunst und Politik zusammengeführt werden. Im demokratischen Streit um allgemeingültige Werte treffen gegensätzliche Projekte aufeinander, die ihre Ideen im Kampf um Hegemonie zwar verteidigen und sich dennoch als legitime Gegner:innen wahrnehmen. In der Differenz artikuliert sich das Gemeinsame: Die Debattenteilnehmenden teilen einen Konsens über die demokratischen Grundwerte wie Freiheit und Gleichheit, bewegen sich also in einem gemeinsamen symbolischen Raum, den sie auf unterschiedliche Weise organisieren wollen (Mouffe 2007a: 29f.). Damit übernimmt das Feuilleton eine integrative Funktion und trägt zur Zähmung von antagonistischen Verhältnissen bei, wenn bestehende Antagonismen in Agonismen umgewandelt und im agonalen Konflikt zwischen alternativen Positionen ausgehandelt werden. In den Debatten zeigt sich das Feuilleton nicht nur als Seismograph (vgl. Todorow 2008) und »Frühwarnsystem« (Hickethier 2002), das bei Grenzüberschreitung Alarm schlägt und »zur besseren Steuerung und zur zukunftsorientierten Problembewältigung« (Bonfadelli 2008: 17) beiträgt. Als Kurator von politischen Versammlungsräumen stellt es Probleme selbst her, bildet eigenständige Konfliktstrukturen im Diskurs aus und produziert Ereignisse, indem es aus losen Elementen ein Politikum, eine strittige Angelegenheit und ein »matter of concern« (Latour 2007) macht. Damit übernimmt es eine aktive Rolle im Prozess der sozialen Wirklichkeitskonstruktion und besetzt eine machtvolle Position im Diskurs. Im Kampf um das Allgemeine werden soziale Grenzen zwischen einem ›Wir‹ und einem ›Sie‹ gezogen, um bestimmte Vorstellungen von Kultur und Gesellschaft zu legitimieren. Damit richtet sich der Blick »auf jene diskursiven Prozesse, in denen mit bestimmten semantisch-rhetorischen Mitteln Universalisierungen durchgesetzt werden, auf die Prozesse, in denen Grenzziehungen zwischen sozialen Sphären produziert und möglicherweise doch wieder unterlaufen werden« (Bonacker/Reckwitz 2007: 9). Debatten können dann nicht nur darauf hin beobachtet werden, welche wider-
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streitenden Vorstellungen sich im Konflikt gegenüberstehen, sondern auch darauf welche Entitäten im Prozess erst hergestellt werden, in dem sie sich voneinander abgrenzen. Das Feuilleton vermittelt nicht nur Ereignisse, sondern produziert auch selbst welche – sogenannte »media-events« (Vogl 2001: 117), in die sich das Feuilleton einschreibt und die es prägt. Als Effekte komplexer Verweisstrukturen bilden sich Debatten prozesshaft über einen längeren Zeitraum und in wechselseitiger Beobachtung zwischen den verschiedenen Zeitungen und ihren Sprecher:innen aus. Dabei handelt es sich um einen Prozess der Bedeutungsproduktion, bei dem mediale Strategien der Politisierung wirksam werden. Drei mediale Verfahren für die Herstellung von agonalen Versammlungsräumen im Feuilleton möchte ich herausgreifen, die in der empirischen Analyse identifiziert wurden und im Folgenden mit Blick auf die Debattenkulturen der Gegenwart diskutiert werden: Metapher und diskursiver Knotenpunkt, Iteration und Affizierung sowie Provokation und Essenzialismus. Als zentral für die Konstruktion von Debatten wurde im Unterschied zum klassischen Journalismus die diskursive Praktik des In-Beziehung-Setzens von Ereignissen, Stimmen und Diskursen genannt, die temporäre politische Versammlungsräume im Feuilleton ausbildet. Dabei bilden Metaphern wie »Event-Schuppen« und Zuschreibungen wie »Wortführer« von »nationalkonservativen Bewegungen« diskursive Knotenpunkte, ohne die sich die Vielzahl an Stimmen im Diskurs verlieren würden und eine Debatte in Massenmedien kaum zustande käme; anders formuliert, die im Diskurs verstreuten Deutungsangebote würden nicht als ein zusammenhängendes Geflecht und Differenzsystem sichtbar und auch verhandelbar werden. Erst mit einem zentralen Bezugspunkt, auf den sich alle Debattenteilnehmenden in gemeinsamer Abgrenzung zu ihrem:ihrer jeweiligen Gegner:in beziehen, werden politische Versammlungen möglich. Metaphern übernehmen verschiedene Funktionen in Debatten: Sie übersetzen nicht nur abstrakte Verhältnisse und erzeugen Aufmerksamkeit, sondern werden auch als Kampfmittel eingesetzt, um kulturelle Hegemonie zu erlangen und politische Interessen zu legitimieren. Damit erzeugen sie nicht nur »eine Struktur der Orientierung in den Raum möglicher Handlungen« (Junge 2010: 269), sondern stellen Dissens her und konstruieren aktiv Wirklichkeit. Im Prozess der Artikulation kommt eine spezifische Form der Iteration zum Vorschein, die als produktive und sich selbstverstärkende Kraft von Dissens geltend gemacht wird. Die widersprüchliche Logik der Stabilisierung und Destablisierung, die im Begriff der Iteration angelegt ist, erweist sich als konstitutiv für die Herstellung von öffentlichen Debatten. Zum einen fixieren sich die Narrative der neuen Rechtsintellektuellen und der Eventkritik im Diskurs und bilden temporäre Ordnungen aus, um »das Feld der Differenzen zu zähmen« (Laclau/Mouffe 2012: 130) und Deutungsmacht zu gewinnen. Zum anderen werden die Diskurse durch immer neue Elemente angereichert und dadurch modifiziert, infolgedessen der
5. Schlussfolgerungen
Diskurs permanent in Bewegung gehalten wird. Erst die Doppelbewegung der Sedimentierung und Transformation hält das Ereignis dauerhaft im Diskurs präsent und ermöglicht Formen der Verschärfung und Entschärfung des Konflikts. Dabei spielt die Form der Affizierung eine zentrale Rolle und das auf zweifache Weise: Zum einen kann mit Mouffe von einer politischen Leidenschaft ausgegangen werden, die durch Identifikation im Rahmen von Wir-Sie-Unterscheidungen entsteht und zur Ausbildung von politischen Gruppen führt. »Eine kollektive Identität, ein ›Wir‹, ist das Ereignis einer leidenschaftlichen affektiven Investition, die zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft ein starkes Identifikationsgefühl entstehen lässt.« (Mouffe 2014: 80) Zum anderen haben Affekte einen relationalen Charakter und können als Momente begriffen werden, in denen Verbindungen hergestellt und politische Sprechakte mobilisiert bzw. sedimentierte Strukturen aufgebrochen werden (vgl. Grossberg 2000: 241). Normativ aufgeladene Zuschreibungen wie »nationalkonservative Bewegung«, »konservative Revolution«, »apokalyptisch«, »Nationalismus«, »Event«, »Kurator«, »Neoliberalismus«, »Popkultur« und »Hochkultur« bilden affektive Kräfte aus, die eine politische Involviertheit herstellen und eine Vielzahl an Sprecher:innen aus unterschiedlichen Feldern in den Diskurs hineinziehen und für den Moment der Debatte zusammenhalten. Emotionen und Affekte sind nicht von der politischen Kommunikation zu trennen und konstitutiver Bestandteil von Debatten. Provokationen zeigen sich dabei als ›opener‹: Normativ aufgeladen erzeugen sie Anschlusskommunikation und entfalten politische Spielräume im Feuilleton. Die Mehrdeutigkeit der Positionen produziert eine Offenheit, die eine klare Bedeutungszuschreibung erschwert und eine Vielzahl an Interpretationen ermöglicht, um die gestritten werden kann. Dabei erfährt vor allem der normative Kulturbegriff eine Re-Aktualisierung. Sowohl Claus Peymann (»Event-Schuppen«) als auch Botho Strauß (»Der letzte Deutsche«) eröffnen die Debatte mit einer kulturessenzialistischen Position. Während die Eventkritik von Peymann an den alten Kulturbegriff anschließt, stellt Strauß die deutsche Kultur im Namen einer höheren Kunst als die einzig wahre dar und ruft zur konservativen Revolution (»geheimes Deutschland«) auf. Provokationen im nationalen Gewand erweisen sich als erfolgsversprechende Mittel im Kampf um Aufmerksamkeit, wie auch der Kulturwissenschaftler Georg Seeßlen feststellt: »Der Typ der Stunde ist der nach rechts gewendete Krawallfeuilletonist. Grob gesagt: Rechtes verkauft sich besser als linkes, aber am besten verkauft sich Ex-Linkes auf dem Weg nach rechts.« (Seeßlen 2017) Liegt die Besonderheit demokratischer Politik mit Mouffe »nicht in der Überwindung des Wir-Sie-Gegensatzes, sondern in der spezifischen Art und Weise seiner Etablierung« (2007: 22), dann wirkt die Anrufung des antagonistischen Charakters durch Strauß und Peymann diskursfördernd. Ihre Positionen stellen
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relativ eindeutige Identifikationsflächen bereit und mobilisieren das Feuilleton zum politischen Handeln. Das Feuilleton zeigt sich als »gesellschaftlicher Taktgeber für Moral« (Ziemann 2011: 239), das Ereignisse entlang von Deutungsrahmen wie Links-Rechts und High-Low normativ einordnet und Grenzen zwischen dem Eigenen/Richtigen und dem Anderen/Falschen zieht. Auf diese Weise werden Verhältnisse problematisiert und die Grenzen des Sozialen zwischen Ein- und Ausschluss befragt. Im Unterschied zu klassischen Medienskandalen hat der Normverstoß nicht bereits stattgefunden – etwa durch Überschreitung einer rechtlichen oder ethischen Grenze –, das Ereignis muss erst politisiert und medial inszeniert werden. Wie Suntrup in Bezug auf Medienintellektuelle schreibt: Die Skandalisierung kann hier als eine »Investition« verstanden werden, die in der massenmedialen »Aufmerksamkeitsökonomie eine lohnende Rendite verspricht« (2013: 175). Kulturalisierung, Moralisierung und Politisierung können dann als drei Dimensionen der feuilletonistischen Debattenkommunikation geltend gemacht werden. Zugleich bleibt diese Form der politischen Kommunikation ambivalent: Je konfliktreicher und abweichender die Provokation ist, desto größer ist in der Regel die Anschlussmöglichkeit und der Handlungsbedarf. In dieser Hinsicht stärken provokante Positionen den demokratischen Prozess und fördern den pluralen Charakter der politischen Auseinandersetzung. Die Andersartigkeit löst Prozesse der (Nicht-)Identifikation aus und ruft Gegenpositionen hervor, wenn erst einmal die eigene Position verteidigt wird, die in Abgrenzung zu jenem:jener Gegner:in steht, der sie herausfordert. Auf diese Weise entsteht ein demokratischer Streit zwischen alternativen Programmen. Die Form der Skandalisierung geht mit einer Polarisierung des Diskurses einher, bei der die Positionen in Richtung der antagonistischen Pole abwandern und sich konfrontativ gegenüberstehen. Wenn Debatten jedoch in der Gegenüberstellung von ›gut‹ und ›böse‹ verharren, wie er von den Provokateuren (opener) eingeleitet und vom Feuilleton (moralischer Taktgeber) fixiert wird, dann etabliert sich ein moralischer Diskurs, der sich auf die Festschreibung eines bestehenden Konsenses bezieht. Moralisierte Diskurse laufen Gefahr, in eine Totalisierung zu münden, wenn sie auf Unterscheidungen wie ›gut‹ und ›böse‹ aufbauen, die zwangsläufig zu einem Stillstand bzw. zu einer Entweder-OderRhetorik führen, in der zwischen Achtung und Missachtung unterschieden wird (vgl. Luhmann 1990: 18f.). Konflikte münden dann in eine Konfrontation zwischen »essentialistischen Formen von Identifikation oder nicht-verhandelbaren moralischen Werten« (Mouffe 2007a: 43) und führen zum Ausschluss. Es ist der Preis, so ließe sich in Bezug auf Feuilletondebatten formulieren, den Provokationen und Polemiken im populären Diskursraum zahlen: Regen sie primär zum Widerspruch an, adressieren sie häufig diejenigen, die um ihre Position bangen und den kulturellen Besitz wahren möchten, weshalb eine sachliche Auseinandersetzung zwischen partikularen Kulturen in Massenmedien nicht selten fehlschlägt. Essenzia-
5. Schlussfolgerungen
listische Kommunikationsstrategien stärken zwar die eigene Position im Kampf um Hegemonie, zugleich verschleiern sie den politischen Charakter einer jeden Ordnung und Identität und tragen zur Entpolitisierung von Debatten bei. Zwischen den Prozessen der Politisierung und der Entdifferenzierung zeigt sich ein unauflösbarer Widerspruch, der im zweiten Kapitel zur theoretischen Rahmung angesprochen wurde. Als hybrides Medium zwischen bürgerlichen und populären Diskursen orientiert sich das Feuilleton als schriftliches Medium idealtypisch an der Idee einer bürgerlichen Öffentlichkeit und einer rationalen Diskursethik, wie sie sich im 18. Jahrhundert ausgebildet und im 19. Jahrhundert in den publizistischen Raum überführt wurde. Zugleich ist es als Teil der Massenmedien ein populärer Ort und rückt notwendigerweise in die Nähe des Unterhaltsamen und Spektakulären, um allgemeinverständlich und attraktiv für eine breitere Leserschaft zu werden. Gerade der Konflikt und der Streit sowie Verfahren der Empörung und Erregung erzeugen Anschlusskommunikation und sind konstitutiv für Debatten in Massenmedien (vgl. Dietrich/Mey/Seeliger 2020). Formen der Skandalisierung generieren Emotionen und Affekte, die gegnerische Positionen in den Diskursraum eintreten lassen und »konfligierenden Alternativen« (Mouffe 2007a: 17) erst sichtbar machen bzw. agonale Versammlungen ermöglichen. In den untersuchten Debatten sind es weniger rational-deliberative Elemente als vielmehr Momente des Konflikts und der Identifikation, an die leidenschaftlich angeschlossen und um die gestritten wird, die also Anschlusskommunikation erzeugen und Debatten am Laufenden halten. Zugleich wird eine Auseinandersetzung in politischen Kategorien erschwert, wenn die »Erregungskultur« (Pörksen 2019) und die populistische Inszenierung überhandnimmt bzw. Leidenschaften nicht mehr kanalisiert werden können. Sind Affekte immer schon konstitutiver Teil der populären Kommunikation (vgl. Lünenborg/Maier/Töpper 2018) und bewegt sich die bürgerliche Kritik traditionell »in einer sowohl kognitiv-reflexiven als auch moralischen und emotionalen Innenorientierung« (Reckwitz 2006a: 205), so gewinnen sie im Rahmen der Kulturalisierung des Sozialen an Bedeutung. Konflikte werden nicht nur über soziale Ungleichheit, sondern zunehmend über Werte, Einstellungen und Glaubensüberzeugungen reguliert, in denen das Soziale affektiv aufgeladen ist. Sind Debatten stärker durch Fragen der Kultur geprägt, geht es vor allem um uns selbst: Wie gestaltet sich das soziale Zusammenleben in unserer Gesellschaft? Wer gehört dazu und wer nicht? Welche Werte und Normen sollen gelten? Stehen sich dabei zwei kulturelle Ordnungen gegenüber, wie es in den Feuilletondebatten exemplarisch der Fall ist, dann liegt die Engführung des politischen Raums in eine Entweder-Oder-Rhetorik nahe. Hier stehen sich Positionen im Spannungsfeld zwischen einem kulturellen Essenzialismus und einem liberalen Pluralismus gegenüber – die Ordnung der Kultur steht also selbst zur Disposition und wird zum Ort der Aushandlung des Sozialen.
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Debattenkulturen im Wandel
In diesem Zusammenhang möchte ich die im theoretischen Kapitel aufgeworfene Frage nach der Transformation in den Blick nehmen und vor dem Hintergrund der empirisch gewonnenen Ergebnisse beantworten: Wie können Momente der Transformation und der Hybridisierung innerhalb von Debatten beobachtet werden und welche Effekte haben sie auf den politischen Diskurs? Diese Frage stellt sich auch deshalb, weil zum einen die politische Dimension mit Verweis auf den antagonistischen und offenen Charakter der Gesellschaft präsent gehalten werden soll, zugleich aber moralisch konstruierte Diskurse aufgebrochen und Veränderungen erfasst werden sollen. Damit folgt auf normativer Ebene der Verweis, dass Hybridisierungen in der wechselseitigen Bezogenheit der widerstreitenden Standpunkte möglich werden, die radikale Positionen vorbeugen und entschärfen. Häufig werden in einer Debatte bestehende Positionen gesetzt und reproduziert, im Zwischen der Gegnerschaft können – in Anerkennung von Pluralität – aber auch neue Sinnzusammenhänge generiert und die Grenzen der Repräsentation befragt werden. Der Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach stellt fest: »Sehen Sie, ein Problem des Journalismus ist, dass Texte kaum je zu einem Gespräch führen. Es wird zwar in den Zeitungen immer von ›Debatten‹ gesprochen, aber tatsächlich sind es nur drei, vier Journalisten, die etwas über ein Thema schreiben. […] Das ist kein Gespräch. Es verändert nichts. Demokratie aber braucht die Diskussion, es ist ihr Wesen.« (von Schirach 2016) Versteht man die Feuilletondebatte in Orientierung an Mouffe als ›agonales Bezugssystem‹, so verfügt diese traditionell über die Besonderheit, sowohl Sprecher:innen aus unterschiedlichen Feldern eine öffentliche Stimme zu geben, um sie sichtbar zu machen und zu legitimieren, als auch Stimmen in einem gemeinsamen Raum direkt in Beziehung zu setzen, um über allgemeine Fragestellungen zu streiten. In Erweiterung zum Agonismus, der die »konfliktvolle Darstellung der Welt mit gegnerischen Lagern« (Mouffe 2007a: 35) fokussiert, knüpfe ich deshalb an das Konzept der kulturellen Interferenz an, um nicht nur das Sichtbarmachen von Alternativen, sondern auch die Beobachtung von Überlagerungsund Hybridisierungsprozessen innerhalb von Debatten und Diskursen in den Blick zu bekommen. Von »kultureller Interferenz« (vgl. Reckwitz 2001) kann gesprochen werden, wenn identische Situationen, Kategorien und Ereignisse von Sprecher:innen mit verschiedenen interpretativen Mustern belegt werden, von Hybridisierung, wenn Diskurse »durch eine ursprünglich fremde und potentiell widersprechende Logik angereichert« (Betz et al. 2017: 15) werden. Geht man davon aus, dass Identitäten durch diskursive Artikulationsprozesse hergestellt werden, und davon, dass Hybridisierung eine Form der Politisierung ist und Subjekte nie unverändert aus einem Streit hervorgehen (Laclau 2013a: 83f.), dann geraten die Prozesse der Transformation in und durch Debatten in den Blick.
5. Schlussfolgerungen
Im Feuilleton treffen konfligierende Wahrnehmungshorizonte und Wertevorstellungen aufeinander, die sich im Prozess der wechselseitigen Bezugnahme modifizieren und verschieben. Treffen in den Debatten modernistische und postmodernistische, kulturessenzialistische und kosmopolitische Identitäten aufeinander, die Begriffe wie Nation, Kultur, Identität unterschiedlich auslegen, trägt das Feuilleton zu einer grenzüberschreitenden Aushandlung von Konflikten und einer Hybridisierung des öffentlichen Diskurses bei. Hybridisierende Momente entstehen auch dadurch, dass Positionen in Reflexion des ›Anderen‹ korrigiert oder Stimmen aus dem ›anderen Lager‹ in den Diskurs hineingeholt werden. Wie Mouffe schreibt: »Wenn man die Auffassung des Gegners übernimmt, ist das eine radikale Änderung der politischen Identität, die eher einer Konversion als einem rationalen Überzeugungswandel gleicht.« (Mouffe 2007b: 45) »Die Gegner schreiben ihre Konfrontation nämlich in den demokratischen Rahmen ein, ohne diesen Rahmen als unveränderlich aufzufassen: Er kann durch hegemonialen Streit neu definiert werden.« (Mouffe 2007a: 45f.) Wird von Ereignissen gesprochen, wenn sie »eine Veränderung des Rahmens, durch den wir die Welt wahrnehmen und uns in ihr bewegen« (Žižek 2014: 16), einleiten, sind Debatten immer auch Katalysatoren von Transformationen. Im Konflikt werden Verhältnisse neu ausgehandelt und soziale Wahrnehmungsstrukturen transformiert; alte Vorstellungen werden reproduziert und stabilisiert, zugleich sickern alternative Positionen in den allgemeinen Diskurs ein, um ihn zu verändern. Als Ort der Debatte produziert das Feuilleton immer beides: Reproduktion und Transformation. Als moralische Instanz hält es bestehende Sinnverhältnisse aufrecht und lenkt widerläufige Tendenzen in die ›richtigen‹ Bahnen (Restabilisierung), zugleich öffnet es den Diskurs für neue Diskurszusammenhänge und trägt damit zur Hybridisierung und Infragestellung symbolischer Ordnungen bei (Destabilisierung). In der Volksbühnendebatte wird die normative Grenzziehung zwischen dem Ensemble- und Repertoiretheater und den neueren performativen Kulturen stabilisiert; zugleich mobilisieren sich marginale Stimmen aus dem gegnerischen Bereich, die Eingang in den Diskurs erhalten und nachhaltig präsent bleiben. Vorstellungen von Künstler:innen als genialische Figuren mit absolutem Schöpfungsanspruch werden als partikulare Ideen offenbart und mit der anti-bürgerlichen Idee des ›Künstler-Kurators‹ konfrontiert. Auch in der Flüchtlingsdebatte kommt es zur Restabilisierung herrschender Verhältnisse, wenn der liberale Konsens im Kampf gegen einen neuen Rechtsintellektualismus in Stellung gebracht wird. Zugleich werden rechte Begriffe wie ›konservative Revolution‹ popularisiert und gewinnen auch dadurch an Relevanz, dass sie von der politischen Sphäre (Alexander Dobrindt) aufgenommen oder von rechten Netzwerken (Götz Kubitschek) angeeignet werden. Im Rahmen der Grenzverschiebungen werden nicht zuletzt die Möglichkeitsräume der öffentlichen Debatte neu befragt: Wer darf im bürgerlichen Resonanzraum sprechen und wer nicht?
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6. Ausblick
Das deutsche Feuilleton hat im 21. Jahrhundert über die ökonomische Krise des Zeitungswesens hinaus ein Problem. Zum einen erweist sich die klassische Form der Kulturkritik durch Vertreter wie Claus Peymann und Botho Strauß oder Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski als moralisierende Intellektuelle als ungenügend, soziale Verhältnisse im Kontext globaler Dynamiken zu deuten. Zum anderen ist die Debattenkultur angesichts der Vielzahl an partikularistischen Forderungen im Spannungsfeld von modernistischen und postmodernistischen Identitäten mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Wurden die Kämpfe um die Einrichtung der Gesellschaft bis ins frühe 20. Jahrhundert noch stärker über eine bürgerliche Ordnung reguliert, stellt sich der Kampf um Hegemonie in der Spätmoderne als ein Konflikt zwischen einer Vielzahl an hegemonialen Partikularkulturen dar. Während die Konflikte in der nationalstaatlich verfassten Industriemoderne bis in die 1970er Jahre noch sozialpolitisch ausgehandelt werden konnten, stellt die Differenz der als legitim anerkannten bürgerlichen Kultur und der bisweilen als illegitim bestimmten Pop(ulär)kultur relativ eindeutige Abgrenzungsmöglichkeiten bereit. Gegenwärtig stehen sich Identitäten unversöhnlich gegenüber und bilden ›neue Kulturkämpfe‹ aus, die in den 2010er Jahren im Kontext eines erstarkenden Rechtspopulismus einen Kulminationspunkt erfahren. Als Folge der permanenten Unentschiedenheit sind Schließungsprozesse und eine Rückwärtsgewandtheit im Feuilleton zu beobachten, wenn es in den Debatten immer wieder auf jenen Partikulardiskurs zurückgeworfen wird, aus dem heraus es entstanden ist und dem es selbst angehört: den bürgerlichen Diskurs und seinen Elementen wie etwa die Sozialfigur der Intellektuellen, die Debattenkultur und die Hochkultur. Damit stellt sich die Frage, auf welche Weise gesellschaftliche Probleme im Feuilleton verhandelt werden können, wenn Debatten immer wieder ins Grundsätzliche abgleiten: Wie sprechen und debattieren wir miteinander? Welche Werte und Maßstäbe können für die Bewertung von Ereignissen geltend gemacht werden? Was ist Kultur, was ist Hochkultur? Das Feuilleton steht im 21. Jahrhundert vor einem Dilemma: Integriert es die neue Vielfalt an hegemonialen Projekten, gibt es die alte Vorstellung von Öffentlichkeit auf, die sich auf das traditionell bürgerliche Lesepublikum bezieht. Zieht
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es sich umgekehrt auf den traditionell hochkulturellen Diskurs zurück, verliert es den Anschluss an die Gegenwart. Insofern stellt sich die Frage: ›Kulturkampf‹ oder integrativer Spannungsraum heterogener Kulturen? Während beim Kulturkampf primär die Verteidigung der tradiert bürgerlichen (Hoch-)Kultur in Abgrenzung zu neueren Kulturen die Debatte bestimmt, fokussiert die Idee eines integrativen Spannungsraums die Aushandlung zwischen einer Vielfalt an (Hoch-)Kulturen. Das Feuilleton wäre dann weniger das Deutungszentrum einer herrschenden Ordnung, das vorgibt, was sag- und denkbar ist, sondern mehr ein Ort der Ermöglichung, an dem gesellschaftliche Konflikte organisiert und zwischen verschiedenen Identitätsdiskursen ausgetragen werden. Idealtypen von Ordnung und ihr Drang zur Universalisierung bestehen auch heute noch, sie rekrutieren sich jedoch weniger entlang eines allgemein relativ anerkannten Maßstabs und mehr im Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Wahrnehmungshorizonten. Für die Zukunft des Feuilletons stellt sich dann die Frage neu: Für wen und mit wem spricht es im 21. Jahrhundert? Blickt man zurück, so gehen Konzepte der »Postdemokratie« (Rancière 1997) und der »Postpolitik« (Mouffe 2011) von einer Entpolitisierung und vom »Verschwinden von lebhaften demokratischen Debatten« (Mouffe 2011: 4) unter den Bedingungen des Neoliberalismus aus. Mit einer Politik der Alternativlosigkeit und einem Identifikationsangebot »zwischen Coca-Cola und Pepsi-Cola« (Finkeldey 2014) können kaum Leidenschaften und Prozesse der Politisierung eingeleitet werden, die den demokratischen Streit lebendig halten, so die Kritik. Politik gerinnt dann zum »reinen Spektakel« (Crouch 2008: 10) oder zum bloßen Verwaltungsakt (Rancière 1997). Der Mangel an demokratischen Identifikationsformen hat einen Rechtspopulismus begünstigt, der eigene Öffentlichkeiten in der Vorstellung einer ›wahren Alternative‹ ausbildet und die demokratisch-pluralistische Ordnung durch Abschottungs- und Ausschlussstrategien gefährdet (vgl. Mouffe 2007a: 87f.). Hier zeigt sich das politische Potential des Feuilletons als Kurator von agonalen Versammlungsräumen, in denen konfligierende Sichtweisen zusammengeführt und miteinander konfrontiert werden, um allgemeine Fragen auf Basis von ethischpolitischen Werten zu debattieren. Blickt man auf die Gegenwart, erschließt sich gerade in der kulturellen Unentschiedenheit die Besonderheit des Feuilletons als integrativer Spannungsraum der kulturellen Heterogenität: Steht die Ordnung der Kulturen zur Debatte, bedarf es Orte, an denen die unversöhnlichen Weltsichten im Dissens miteinander verbunden sind – oder wie Rancière schreibt: »Die politische Argumentation konstruiert eine paradoxe Welt, die getrennte Welten zusammenbringt.« (2008b: 36) Auf diese Weise kann es zur Hybridisierung von öffentlichen Debatten und zur »Entschärfung des potenziellen Antagonismus« beitragen, »der menschlichen Beziehungen innewohnt« (Mouffe 2014: 28). Zugleich kann eine noch größere Offenheit für die Pluralität partikularer Forderungen und Perspektiven jenseits von moralischer Empörung und Szenen des
6. Ausblick
Niedergangs eingefordert werden. Sind »die Grenzen zwischen links und rechts in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker verwischt worden« (Mouffe 2007a: 85) und ist die Befragung der politischen Kategorien selbst schon zu einem »Ritus« (Nassehi 2015: 12) in der öffentlichen Debatte geworden, trifft dies auch auf das Feuilleton zu, das traditionell im Verbund der überregionalen Tages- und Wochenzeitungen öffentliche Diskussionen angestoßen hat. Die einzelnen Feuilletons folgten in der Vergangenheit unterschiedlichen Linien im politischen Spektrum von links und rechts und bildeten auf diese Weise agonale Bezugssysteme aus. Das Feuilleton der FAZ galt traditionell als liberal-konservativ, das Feuilleton der SZ als links-liberal und das der Zeit als liberal. Blickt man auf die untersuchten Feuilletondebatten zur Migration und zum Theater in den 2010er Jahren, unterscheiden sich die Sprecherpositionen der jeweiligen Kulturressorts trotz des eingesetzten Links-Rechts-Deutungsschemata nur bedingt. Im Kampf gegen die ›neuen Rechtsintellektuellen‹ werden die Positionen von Strauß, Sloterdijk und Safranski zur Flüchtlingspolitik fast einstimmig im Feuilleton delegitimiert, bevor sie im Feuilleton der Zeit unter Einbezug von Münkler ausgehandelt werden. Auch Peymanns Aufschrei im Streit um die Berliner Volksbühne wird vom Feuilleton aufgenommen und zunächst relativ einvernehmlich in die von ihm vorgegebene Bahn geleitet, um sich im Kampf gegen das performative Theater zu positionieren. Die Debatten zeichnen sich weniger durch eine Aushandlung zwischen den Kulturen als vielmehr durch neue Formen der Kollektivierung im Kampf gegen spezifische Partikularkulturen aus. Hier zeigt sich erneut das Dilemma, das die politische Praxis des Feuilletons in der Gegenwart betrifft: Die Kollektivierung trägt zwar zur Politisierung von Diskursen bei und bringt Entscheidungen der (Kultur)Politik zur öffentlichen Verhandlung. Gleichzeitig zeigt sich darin eine Form der Entpolitisierung, wenn alternative Positionen aus dem hochkulturellen Raum eine Abwertung erfahren und vom Diskurs symbolisch ausgeschlossen werden. Die klassische Feuilletondebatte im Ideal des Historikerstreits, die von Schirrmacher im Feuilleton der FAZ professionalisiert wurde, scheint ein Teil der Vergangenheit zu sein. Ein Umstand, der regelmäßig zum Topos des Niedergangs der Debattenkultur führt – der von Sloterdijk in der Flüchtlingsdebatte auch eingesetzt wird. Dies ist jedoch nicht allein auf die Prozesse der Pluralisierung und die globalen Dynamiken zurückzuführen, sondern auch auf einen umfassender Medienwandel im Kontext der Digitalisierung. Der Verlust der Vorstellung einer einheitlichen und legitimen Öffentlichkeit betrifft vor allem das klassische Zeitungsfeuilleton, das traditionell einen gemeinsam geteilten öffentlichen Raum bereitstellt und als Arena für gesellschaftliche Konflikte fungiert. Unter den digitalen Bedingungen verliert es seinen Status als zentrale Deutungsinstanz: Erstens bricht die relative Geschlossenheit der meinungsführenden Printmedien durch eine größere Vielheit an Teilöffentlichkeiten auf, was die Praxis der Bezugnahme zwischen den einzelnen Zeitungsfeuilletons und die Ausbildung von Debatten als agonale Be-
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zugssysteme erschwert (vgl. Jung 2021). Zweitens schreiben sich plattformbasierte Medien wie Twitter in die öffentliche Debatte ein und übernehmen aufgrund der technischen Beschleunigung feuilletontypische Aufgaben wie Themensetzung und Aufmerksamkeitsgenerierung. Drittens lösen sich autoritative Sprecherrollen wie die Figur der Intellektuellen auf, die bislang im Feuilleton einen zentralen Ort für ihre Repräsentationen erhalten haben. Es bestehen alternative Möglichkeiten der Partizipation und der öffentlichen Rede, die in der Figur des »Prosumers« (vgl. Reichert 2008) zum Ausdruck kommt. Damit einher geht eine Ausweitung der Praxis der ästhetischen Subjektivierung und der Re-Interpretation von Ereignissen im öffentlichen Raum als zentrales Charakteristikum der politischen Feuilletonkommunikation. Die Debattenkultur transformiert unter diesen Bedingungen, so könnte man formulieren, zu einer neuen Form von Populärkultur, über die sich die moderne Gesellschaft gegenwärtig verständigt. Gleichwohl kann die feuilletonistische Praxis der Versammlung und des InBezug-Setzens als zentrale Strategie zur Herstellung von Öffentlichkeit und Kernmerkmal von Politik weiterhin geltend gemacht werden, die alle Medienumbrüche überdauert und angesichts der ›neuen Kulturkämpfe‹ erneut an Relevanz gewinnt. Aufgrund der Fragestellung bleibt die Erforschung von (politischen) Öffentlichkeiten im Feuilleton in dieser Arbeit notwendigerweise limitiert. So sind die Orte und Praktiken sowie die Verweis- und Vernetzungsstrukturen unter den Bedingungen der Digitalisierung zu erforschen und auf andere Länder vergleichend auszuweiten. Der performative Ansatz von Öffentlichkeit und das Vier-Dimensionen-Modell zur Untersuchung von medialen Konflikten leistet einen Beitrag für angrenzende Disziplinen und kann für die Untersuchung von digitalen Netzwerken weiterentwickelt werden. Die Theorie der Artikulation und die konzeptuellen Erweiterungen des Agonalen und Hybriden sind anschlussfähig sowohl für ein Verständnis von Digitalität als Bündel »historisch neue[r] Möglichkeiten der Konstitution und der Verknüpfung« (Stalder 2016: 18) als auch für eine relationale Soziologie, die auf die Verbindung von sozialen (Affekt)Beziehungen zielt. (Politische) Öffentlichkeiten können dann als Zusammenspiel alter und neuer Medien in den Blick genommen werden, in dem sich Debatten mit Bezug auf das Allgemeine auf eine neue Weise konstituieren.
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Danksagung
Die Idee zur vorliegenden Dissertation ist aus meiner journalistischen Tätigkeit und den Erfahrungen in redaktionellen und künstlerischen Zusammenhängen entstanden, die in die wissenschaftliche Arbeit eingeflossen sind und den soziologischen Zugang geprägt haben. Sie ist an der Universität Hamburg verfasst worden und wäre nicht ohne die Unterstützung verschiedener Personen und Institutionen möglich gewesen. Für die langjährige Betreuung meiner wissenschaftlichen Arbeit danke ich vor allem Urs Stäheli und Andreas Ziemann, die mich in meinem Vorhaben gefördert und in zahlreichen Gesprächen begleitet haben. Danken möchte ich auch Hildegard Kernmeyer für den Austausch und ihre Unterstützung meines Gastaufenthaltes am Zentrum für Kulturwissenschaften der Karl-FranzensUniversität Graz. Mit ihr gemeinsam organisierte ich die von der ZEIT-Stiftung geförderte Tagung »Feuilleton. Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur«, deren Teilnehmer:innen mir wertvolle Anregungen gegeben haben und aus der die Interdisziplinäre Gesellschaft für Feuilletonforschung hervorgegangen ist. Zudem möchte ich mich bei all den Kolleg:innen bedanken, die meine Forschung durch gemeinsame Diskussionen und Kritik bereichert haben – aus manchen Begegnungen wurden Freundschaften: Debora Frommeld, Sina Farzin, Aza Gleichmann, Benjamin Heidrich, Luise Heinz, Miira Hill, Steffi Hobuß, Michael Jäger, Victor Kempf, Lisa Knoll, Jana Mader, Conrad Lluis Martell, Christian Helge Peters, Anne Pumperla, Helge Schwiertz und Samuel Strehle. Klara Vanek danke ich für das Korrektorat sowie dem transcript Verlag für die gute Zusammenarbeit. Der Universität Hamburg möchte ich für die finanzielle und ideelle Förderung meines Forschungsprojekts danken. Mein ganz besonderer Dank gilt schließlich meiner Familie und all jenen, die mir den notwendigen Rückhalt auf diesem Weg gegeben haben.
Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)
Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft 2020, 432 S., kart., Dispersionsbindung, 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5
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Soziologie Wolfgang Bonß, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Helga Pelizäus, Michael Schmid
Gesellschaftstheorie Eine Einführung Januar 2021, 344 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-4028-1 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4028-5
Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)
Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft 2020, 320 S., Klappbroschur, Dispersionsbindung, 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9
Detlef Pollack
Das unzufriedene Volk Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute 2020, 232 S., Klappbroschur, Dispersionsbindung, 6 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5238-3 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5238-7 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5238-3
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