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German Pages 752 [753] Year 2015
Bausteine zur Geschichte der Edition Herausgegeben von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta
Band 5
Musikeditionen im Wandel der Geschichte
Herausgegeben von Reinmar Emans und Ulrich Krämer
De Gruyter
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Kulturfonds der VG Musikedition.
ISBN e-ISBN (PDF) e-ISBN (EPUB) ISSN
978-3-11-044090-4 978-3-11-043435-4 978-3-11-043298-5 1860-1820
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX
Andreas Traub Notre-Dame-Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Andreas Traub Musik des 14. Jahrhunderts – Machaut und Landini . . . . . . . . . . . .
25
Bernhold Schmid „… immer noch wenige Werke von Lassus“: Zur Editionsgeschichte der Werke des Münchner Hofkapellmeisters Orlando di Lasso . . . . . . .
48
Jeffrey Kurtzman Collected Works of Claudio Monteverdi: The Malipiero and Cremona Editions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Werner Breig Schütz-Gesamtausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Matthias Schneider Froberger-Editionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
126
Herbert Schneider Geschichte der Bemühungen um eine Lully-Gesamtausgabe . . . . . . . .
149
Ute Poetzsch Die Editionen der Werke Georg Philipp Telemanns . . . . . . . . . . . . .
178
Wolfgang Hirschmann „… damit auch kein eintziger Thon von diesem vortrefflichen Mann verlohren gehen möchte“: Die Editionen der Werke Georg Friedrich Händels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
197
Reinmar Emans, Sven Hiemke Editionen der Werke Johann Sebastian Bachs . . . . . . . . . . . . . . . .
227
Daniela Philippi Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke . . . . . . . . . . . . . . .
261
Wolfram Enßlin Editionen der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs . . . . . . . . . . . . . .
284
VI
Inhalt
Armin Raab Editionen der Werke Joseph Haydns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311
Ulrich Leisinger Zur Editionsgeschichte der Werke von Wolfgang Amadé Mozart . . . . .
337
Bernhard R. Appel Zur Editionsgeschichte der Werke Ludwig van Beethovens: Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
369
Joachim Veit, Frank Ziegler Zur Idee und Geschichte einer Weber-Gesamtausgabe . . . . . . . . . . .
405
Walther Dürr, Michael Kube, Michael Raab Vom Erlafsee zur Gesamtausgabe: Die Ausgaben der Werke Franz Schuberts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
431
Christian Martin Schmidt „… erst nach jahrelangem Warten“: Zur Herausgabe der musikalischen Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy . . . . . . . . . .
457
Michael Beiche, Armin Koch, Ute Scholz Die Editionen der Werke Robert Schumanns . . . . . . . . . . . . . . . .
478
Klaus Döge Die Editionen der Werke Richard Wagners . . . . . . . . . . . . . . . . .
509
Peter Jost Die Editionen der Schriften Richard Wagners . . . . . . . . . . . . . . . .
515
Werner Breig Zur Editionsgeschichte der Briefe Richard Wagners . . . . . . . . . . . .
536
Finn Egeland Hansen The Works of Niels W. Gade (1817–1890) . . . . . . . . . . . . . . . . .
548
Michael Struck, Katrin Eich Zur Edition der Musik von Johannes Brahms . . . . . . . . . . . . . . . .
564
Niels Krabbe The Carl Nielsen Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
584
Timo Virtanen Jean Sibelius Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
604
Susanne Popp, Stefan König Max Reger. Editionen eines unbequemen Komponisten . . . . . . . . . .
614
Inhalt
VII
Ulrich Krämer Die Editionen der Werke Arnold Schönbergs . . . . . . . . . . . . . . . .
639
Luitgard Schader Die Editionen von Paul Hindemiths Werken . . . . . . . . . . . . . . . . .
666
Thomas Ahrend Zur Geschichte der Eisler-Editionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
684
Wolfgang Horn Denkmälerausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Der vorliegende Band stellt erstmals das reichhaltige musikwissenschaftliche Editionswesen in historisch-systematischer Perspektive vor, das in Deutschland vor allem von den renommierten Musiker-Gesamtausgaben geprägt wird. Der Band vereint in chronologischer Folge geschichtliche Abrisse der editorischen Entwicklung zahlreicher Komponisten-Ausgaben von der Notre-Dame-Schule bis zu Hanns Eisler und bietet damit nicht nur Einblicke in die jeweiligen Editionsprinzipien, sondern arbeitet darüber hinaus auch allgemein die Geschichte der Musikedition im jeweiligen historischen Kontext auf. Editionen älterer Musik haben meist lediglich Handschriften zur Vorlage, was zugleich bedeutet, dass oftmals nur Unikate für die Edition zur Verfügung stehen, die als Haupt- bzw. Leitquellen den Rang einer Editionsvorlage beanspruchen. Abschriften, die unmittelbar auf jene zurückgehen, dienen dementsprechend lediglich als Ersatz, wenn die Primärquelle verschollen ist. Bei einer optimalen Quellenlage von mehrfach besetzten Werken liegen freilich nicht nur eine, sondern zwei Primärquellen vor: die Kompositionspartitur sowie das von dieser abgeleitete Aufführungsmaterial in Form von einzelnen Stimmen. Obwohl diese von der Kompositionspartitur unmittelbar abhängig sind, erhalten sie den Rang einer Primärquelle aufgrund des Umstandes, dass die Stimmen meist vom Komponisten revidiert und zudem zusätzlich mit zahlreichen für die Aufführung wesentlichen Angaben versehen werden und dadurch hinsichtlich ihres Informationsgehaltes über ihre Vorlage hinausgehen können. Diese Quellensituation hat früh dazu geführt, dass methodische Reflexionen darüber angestellt wurden, welcher dieser beiden Quellen der Vorzug zu geben sei bzw. wie legitim es ist, beide Quelle in gleicher Weise für die Konstitution eines Notentextes zu mischen. Obwohl um 1800 der Plan einer umfassenderen Denkmäler-Ausgabe scheiterte, legte dieser den Grund für das Bedürfnis zur Sicherung nationaler Kompositionstraditionen, die in der Mitte des Jahrhunderts zu einer Reihe von Gesamtausgaben der als bedeutend erkannten Komponisten führte. Eine erste Welle von Gesamtausgaben wurde in den nachfolgenden 50 Jahren auch für editionsphilologische Fragestellungen und Methodik maßgeblich, die freilich je nach Komponist zu sehr unterschiedlichen Editionsprinzipien führte, ja
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Vorwort
führen musste. Das häufig unbekannte musikalische Terrain, das durch diese Ausgaben erschlossen wurde, hatte aber ebenso wie deren philologischer Anspruch unmittelbar Einfluss auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit den herausgegebenen Werken und trug nicht unwesentlich zur Etablierung des Faches Musikwissenschaft bei. Aber auch die Aufführungspraxis profitierte nach anfänglichen Irritationen in umfangreichem Maße. Das Wechselspiel zwischen Edition, Wissenschaft und Aufführungspraxis erwies sich als ausgesprochen produktiv und stellt auch bei den neueren Editionen immer noch den Normalfall dar, da ein Notentext oftmals nur im Rahmen einer Edition, für die sämtliche Quellen gesichtet und bewertet wurden, so konstituiert werden kann, dass er der Wissenschaft sinnvolle Schlussfolgerungen und dem Praktiker eine angemessene Aufführung ermöglicht. Eine weitere Welle von Gesamtausgaben wurde dadurch ausgelöst, dass nach den beiden Weltkriegen der starke Verlust an musikalischen Quellen ins allgemeine Bewusstsein drang, weswegen zahlreiche ab den 1950er Jahren entstandene Gesamtausgaben durch detailliertere Beschreibung der erhaltenen Quellen versuchten, wenigstens den derzeitigen Stand so weit zu konservieren, dass ein eventuell eintretender Verlust durch die Handschriftenbeschreibungen einigermaßen kompensiert werden könnte. Die Notwendigkeit einer intensiveren Dokumentierung und Aufarbeitung der Quellen führte dazu, dass in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts zahlreiche Freie Forschungsinstitute ins Leben gerufen wurden. Dass es sich – zumal bei den „großen“ Musiker-Gesamtausgaben – um Langzeitprojekte handeln würde, war – anders als heute – den Geldgebern und Organisatoren deutlich bewusst. Da von den Mitarbeitern ein hoher Grad an Spezialisierung gefordert war, zog man es zumeist vor, die Institute ohne direkte Bindung an die Universitäten einzurichten. Glücklicherweise gab es in der deutschen Musikgeschichte eine ganze Reihe von Komponisten, die als derart hochrangig eingestuft wurden, dass man mit der Edition ihrer Werke jeweils ein eigens zu diesem Zweck gegründetes Forschungsinstitut betraute (so etwa für Bach, Beethoven, Gluck, Händel, Haydn, Lasso, Mozart, Schubert und Telemann – den ersten Musiker-Gesamtausgaben, die in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts initiiert wurden). In den 60er Jahren kamen noch die Hindemith-, die Schönberg- und die Wagner-Ausgabe hinzu. Die damit verbundene Spezialisierung wiederum führte zu relativ raschen Ergebnissen und erlaubte, die editionswissenschaftliche Methodik so auszuweiten, dass wiederum nicht nur die Praktiker davon profitierten, sondern auch die Wissenschaft. Besonders greifbar wurden die Erkenntnisse durch einen veränderten Umgang mit unterschiedlichen Fassungen, die nun erstmals nicht kontaminiert, sondern nach Möglichkeit separiert wurden. Die „Fassung
Vorwort
XI
letzter Hand“ wurde ebenso wie der Werkbegriff an sich dadurch massiv in Frage gestellt. Da zugleich die philologischen Methoden wie etwa Papier-, Wasserzeichen- und Schreiberforschung, die bei den Editionsprojekten vor allem für Echtheits- und Datierungsfragen weiterentwickelt wurden, auch auf andere Fachgebiete anwendbar waren, setzten die Musikeditionen deutliche Akzente für das gesamte Fach. So konnte Ludwig Finscher 1998 in seinem Eröffnungsvortrag der Tagung der Gesellschaft für Musikforschung in Halle zu Recht formulieren: „Mir scheinen die Freien Forschungsinstitute heute derjenige Bereich der deutschen Musikwissenschaft zu sein, der am fruchtbarsten und in gewisser Weise am selbstverständlichsten arbeitet.“1 Die Ausnahmestellung der Musiker-Gesamtausgaben, die dank der breiten Förderung in Deutschland überhaupt erst möglich wurde, führte dazu, dass die deutsche Musikwissenschaft im Ausland inzwischen häufig mit den Musiker-Ausgaben identifiziert wird. Dass der vorliegende Band Musikeditionen im Wandel der Geschichte zustande kommen konnte, verdankt sich nicht zuletzt der Mitwirkung von Mitarbeitern aus allen in Deutschland existierenden Editionsinstituten. Darüber hinaus werden aber auch weitere Editionen in ihrer Geschichte dargestellt, die entweder bereits vollständig vorliegen oder ohne eigene Forschungseinrichtungen erarbeitet werden. Es kann nicht verheimlicht werden, dass zudem einige Editionen hier vorgestellt werden, deren Erarbeitung aus förderpolitischen Entscheidungen heraus inzwischen ruht. Ein Blick über die Landesgrenzen hinaus mag wiederum die privilegierte Forschungssituation in Deutschland verdeutlichen, zugleich aber auch aufzeigen, dass die einmal erarbeitete Methodik auch außerhalb Deutschlands Früchte getragen hat. Allen Beiträgern ist herzlich für ihre stets kooperative Zusammenarbeit zu danken. Dies umso mehr, als die Texte aufgrund der langen Entstehungszeit des Projektes aktuell gehalten werden mussten, um den rasanten Entwicklungen innerhalb des musikwissenschaftlichen Editionswesens Rechnung zu tragen. Zu Dank verpflichtet sind die Herausgeber schließlich auch Hermann Zanier für die professionelle Herstellung und Einrichtung der meisten Abbildungen und Notenbeispiele sowie dem Kulturfonds der VG Musikedition für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Reinmar Emans
Ulrich Krämer
____________ 1
Ludwig Finscher, „Diversi diversa orant“. Bemerkungen zur Lage der deutschen Musikwissenschaft, in: Musikkonzepte – Konzepte der Musikwissenschaft. Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung Halle (Saale) 1998, hrsg. von Kathrin Eberl und Wolfgang Ruf, Kassel [u. a.] 2000, Bd. 1, S. 5.
Andreas Traub
Notre-Dame-Musik
Durch die Notre-Dame-Musik wird die Frage nach der Edition mehrstimmiger Musik auf eine qualitativ und quantitativ neue Basis gestellt. Dies zeigt ein kursorischer Rückblick. Die Verfahren zur feierlichen Verklanglichung des Chorals wurden sowohl im 9. Jahrhundert wie um 1100 als Regeln gelehrt und durch Beispiele, die zum einen als Diagramme (descriptiones), zum andern in Buchstabennotation aufgezeichnet waren, veranschaulicht. Zwar hat das Kyrie Cunctipotens genitor Deus des Mailänder Traktats auf Grund der Definition des „neuen Organums“, in dem die Intervalle der Verklanglichung wechseln sollen, individuellere Züge als das Sequenzversikel Rex coeli Domine der Musica enchiriadis und die Antiphon Ipsi soli servo fidem bei Guido von Arezzo; der Beispielcharakter, den die teilweise klanglich gefasste Überschrift benennt: hoc sit vobis iter ad organum faciendum, ist aber auch hier bestimmend.1 Am Repertoire der Winchester-Organa, das über 170 Mess- und Officiumsgesänge umfasst und aus dessen Rubriken die Gleichwertigkeit von klanglichem und sprachlichem Schmuck der Melodien zu erkennen ist – Incipiunt melliflua organorum modulamina super dulcissima celeste preconia und Laus pulchra grecis preconiis compta (vor einem teilweise griechischen Kyrietropus) –, ist zu erkennen, dass es bereits im „alten Organum“ die Möglichkeit gab, von den Regeln abzuweichen, doch erlaubt die Aufzeichnungsweise in adiastematischen Neumen keine sichere Lesung, so dass eine Edition über Vermutungen nicht hinauskommen kann.2 ____________ 1
2
Hans Heinrich Eggebrecht und Frieder Zaminer, Ad organum faciendum. Lehrschriften der Mehrstimmigkeit in nachguidonischer Zeit (= Neue Studien zur Musikwissenschaft, Bd. 3), Mainz 1970, S. 50f. und Abb. 1–2; Hans Schmid, Musica et scolica enchiriadis una cum aliquibus tractatulis adiunctis (= Bayerische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen der Musikhistorischen Kommission, Bd. 3), München 1981, S. 49 und 51; Heinrich Besseler und Peter Gülke, Schriftbild der mehrstimmigen Musik (= Musikgeschichte in Bildern, hrsg. von Heinrich Besseler und Max Schneider, Bd. 3, Lieferung 5), Leipzig 1973, S. 29, Abb. 3; Joseph Smits van Waesberghe, Guidonis Aretini Micrologus (= Corpus scriptorum de musica, Bd. 4), Dallas 1955, S. 209f.; allgemein: Andreas Traub, Frühe Mehrstimmigkeit, in: Geschichte der Kirchenmusik, Bd. 1, hrsg. von Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher (= Enzyklopädie der Kirchenmusik, Bd. 1/1), Laaber 2011, S. 129–148. Andreas Holschneider, Die Organa von Winchester, Hildesheim 1968, die Rubriken S. 41f.
2
Andreas Traub
Anders stellt sich das Editionsproblem bei dem aquitanischen Repertoire von etwa 60 teils mehrfach aufgezeichneten zweistimmigen Stücken – vor allem bei den Benedicamus-Liedern und Sequenzen – dar, das in einzelnen Liederheften, die im 12. Jahrhundert im Kloster St. Martial zu vier Handschriften zusammengebunden wurden, überliefert ist. Obwohl die individuellen Formungen zumeist bis ins Detail hinein zu erkennen sind, können trotz der diastematischen Ausrichtung der aquitanischen Neumen oft Grundfragen der Koordination der Stimmen nicht endgültig beantwortet werden. Vor allem fehlen eindeutige Hinweise zur Rhythmik der melodischen Linien. Die Edition muss den Spagat zwischen Detailtreue und grundsätzlicher Fragwürdigkeit aushalten.3 Die mit dem Notre-Dame-Repertoire gegebene qualitativ neue Basis für die Edition ist der discantus, der eindeutig bestimmte Tonsatz. Johannes de Garlandia definiert zu Beginn und zum Schluss seiner Darlegung über die musica mensurabilis, die strukturell ermessbare Musik: Der discantus ist das Erklingen zweier verschiedener, aber durch Festlegung der rhythmischen Details, der formalen Übereinstimmung und der Intervallik aufeinander ausgerichteter Melodien.4 Entscheidender Begriff ist aequipollentia, die Gleichgewichtigkeit, durch die die Melodien im übergeordneten Ganzen des Tonsatzes aufgehen. Das Element der rhythmischen Strukturierung ist das tempus, die Zeit, in welcher der kurze Ton (brevis) Gestalt annimmt.5 Der Ton kann sich, so Johannes de Garlandia, realisieren als vox recta, regulärer Ton, als vox cassa (quassa), „zerbrochener“ Ton – d. h. der kurze Strukturton kann in unselbständige Teiltöne zerlegt werden; man spricht von fractio modi – und als vox omissa, unterlassener Ton, d. h. als Pause, die damit als Strukturmoment und nicht als Ausfall gewertet wird. Der lange Ton (longa) hat den Wert von zwei Breven, und ihr Wechselspiel strukturiert den musikalischen Rhythmus, und zwar nach sechs Mustern (modi), die, wie Johannes de Garlandia zeigt, durchweg miteinander kombinierbar sind, weshalb notwendig noch ein dreizeitiger Wert in Erscheinung treten muss, die perfekte Longa, die für sich stehen kann im Unterschied zur imperfekten Longa, die auf eine ihr verbundene Brevis angewiesen ist. Das System der Modi ist folgendes: erster Modus 2+1+2+1 …, zweiter Modus 1+2+1+2 …, dritter Modus 3+1+2+3+1+2 …, vierter Modus ____________ 3
4
5
Marianne Danckwardt, Zur Notierung, klanglichen Anlage und Rhythmisierung der Mehrstimmigkeit in den Saint-Martial-Handschriften, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 68 (1984), S. 31–88. Erich Reimer, Johannes de Garlandia. De mensurabili musica, 2 Bde. (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 10/11), Wiesbaden 1972, Teil I, S. 35 und S. 74; zu den Konsequenzen vgl. Fritz Reckow, Processus und structura. Über Gattungstraditionen und Formverständnis im Mittelalter, in: Musiktheorie 1 (1986), S. 5–29. Reimer, Johannes de Garlandia (wie Anm. 4), Teil I, S. 37f.
Notre-Dame-Musik
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1+2+3+1+2+3 …, fünfter Modus 3+3+3 …, sechster Modus 1+1+1 … (1 = brevis, 3 = perfekte longa, 2 = entweder imperfekte longa oder, wenn zwei Breven zwischen zwei Longen stehen, die zweite, zur Ausfüllung des Zeitraums „alterierte“, d. h. verdoppelte brevis). Die regulierende Bedeutung des dreizeitigen Wertes führte später Franco von Köln dazu, die Folge 3+3+3 … als ersten Modus zu bezeichnen.6 Sie ist zugleich die Wurzel für die „perfekte“ Mensurierung im Notationssystem des 14. Jahrhunderts. Das tempus gilt, so Johannes de Garlandia, nur „hier“, im Bereich des discantus, der hierdurch zur musica mensurabilis, zur strukturell ermessbaren Musik wird.7 Durch diese Definition einer „musikalischen Eigenzeit“ ist der Tonsatz jeder Kontingenz einer Aufführung entzogen und damit auch zweifelsfrei zu edieren, wenn man die zu seiner Fixierung gewählte Notation kennt. Wie der als Anonymus IV bezeichnete englische Mönch berichtet, der gegen Ende des 13. Jahrhunderts Paris besuchte und vieles über die Geschichte des Notre-Dame-Repertoires in Erfahrung brachte, suchten die Musiker an der Kathedrale von Paris, das Problem der eindeutigen Aufzeichnungsweise schrittweise zu lösen. Zur Aufzeichnung verwendeten sie die Zeichen der damaligen Choralnotation, die Quadratnotation.8 Die zwei- und dreitönigen Neumen erhielten im Bereich der musica mensurabilis bestimmte rhythmische Bedeutung. Dabei wurde zwischen quadratischen und rhombischen Zeichen unterschieden. Letztere bezeichnen vor allem voces cassae (fractiones), so dass ein quadratischer Climacus erforderlich wurde. Die chorale Liqueszenz wurde zur plica umgedeutet und zeigt wie jene das rhythmisch unbestimmte „Hinüberfließen“ des Tons zum folgenden an. Es blieben aber einige Unklarheiten bestehen; so kann die Dreitongruppe je nach Zusammenhang 2+1+2, 1+2+1, 1+2+3, 3+3+3 und 1+1+1 bedeuten. Zudem verschwindet oder verschiebt sich die Gruppierung, wenn eine Tonwiederholung eintritt. Die Lesung der einzelnen Stelle setzt also stets eine übergreifende Deutung voraus. Für die Übertragung stellen sich drei grundsätzliche Probleme. Erstens: Da die Tongruppen in Einzeltöne zerlegt werden, sollte die Gruppierung durch Zusatzzeichen, Klammern oder Bögen, angegeben werden, damit der Benutzer den Übertragungsvorgang nachvollziehen kann. Zweitens: fractiones und plicae sollten gekennzeichnet werden. Drittens: Der Modalrhythmik liegt kein Takt ____________ 6 7 8
Gilbert Reaney und André Gilles, Franconis de Colonia Ars cantus mensurabilis (= Corpus scriptorum de musica, Bd. 18), Dallas 1974, S. 27. Reimer, Johannes de Garlandia (wie Anm. 4), Teil I, S. 37f. Fritz Reckow, Der Musiktraktat des Anonymus IV, 2 Bde. (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 4/5), Wiesbaden 1967, Teil I, S. 46. Zur Choralnotation vgl. Bruno Stäblein, Schriftbild der einstimmigen Musik (= Musikgeschichte in Bildern, hrsg. von Heinrich Besseler und Max Schneider, Bd. 3, Lieferung 4), Leipzig 1975, v. a. S. 162–165.
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Andreas Traub
zugrunde; die Melodielinien werden vielmehr in unterschiedliche ordines, so Anonymus IV, gegliedert, die insgesamt einander gleichwertig sein müssen.9 Gibt die Übertragung eine zusätzliche Koordination der Stimmen durch Taktstriche, so wird dadurch scheinbar die Dimension eines übergeordneten Gleichmaßes in den Tonsatz eingeführt, die nicht vorhanden ist. Sie zeichnet sich erst in der Neuordnung und -bewertung der modi bei Franco ab. Was die Notenwerte betrifft, so wird in den neueren Übertragungen zumeist das punktierte Viertel zur Wiedergabe der perfekten Longa gewählt; Friedrich Ludwig, Leonard Ellinwood und Heinrich Husmann verwenden dagegen die punktierte Halbe.10 Die quantitativ neue Basis ist das Repertoire selbst, wie es sich in den repräsentativen Quellenhandschriften, vor allem den Codices F, W1 und W2, darstellt.11 Das Repertoire gliedert sich, folgt man der umfangreichsten Quelle, dem Codex F, in über 120 Organa (mehrstimmige Bearbeitungen nur der solistischen Teile von Mess- und Officiumsgesängen), und nahezu 280 Conductus (Festlieder mit weitgehend neu gedichteten Texten). Beide Abteilungen sind, von kleinen Unstimmigkeiten abgesehen, nach dem musikalischen Kriterium der Stimmenzahl angelegt, denn zur Zweistimmigkeit tritt programmatisch die Drei- und experimentell die Vierstimmigkeit. Diese Stufung erschien Heinrich Besseler so gravierend, dass er in seiner Darstellung der Musik des Mittelalters und der Renaissance das zweistimmige Repertoire am Ende des dritten Kapitels „Die Anfänge der abendländischen Mehrstimmigkeit“ behandelte, das drei- und vierstimmige zu Beginn des vierten Kapitels „Das Zeitalter der Gotik“.12 ____________ 9 10
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12
Reckow, Der Musiktraktat (wie Anm. 8), Teil I, S. 23 und passim. Friedrich Ludwig, Die geistliche nichtliturgische, weltliche einstimmige und die mehrstimmige Musik des Mittelalters bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts, in: Handbuch der Musikgeschichte, hrsg. von Guido Adler, Berlin 21930 (Nachdruck München 1975), S. 157–295; Leonard Ellinwood, The Conductus, in: The Musical Quarterly 27 (1941), S. 165–204; Heinrich Husmann, Die drei- und vierstimmigen Notre-Dame-Organa. Kritische Gesamtausgabe (= Publikationen älterer Musik, 11. Jahrgang), Leipzig 1940 (Nachdruck Hildesheim 1989). Codex F: Firenze, Biblioteca Mediceo-Laurentiana, Cod. Plut. 29/1; vgl. Luther Dittmer, Faksimile-Ausgabe der Handschrift Firenze, Biblioteca Mediceo-Laurenziana, Pluteo 29,1 (= Veröffentlichungen mittelalterlicher Musikhandschriften, Bd. 10), Brooklyn 1966. W1: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek Cod. Guelf. 628 Helmst.; vgl. Martin Staehelin, Die mittelalterliche Musikhandschrift W1 (= Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, Bd. 9), Wiesbaden 1995. W2: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek Cod. Guelf. 1099 Helmst.; vgl. Luther Dittmer, Faksimile-Ausgabe der Handschrift Wolfenbüttel 1099 Helmst. (= Veröffentlichungen mittelalterlicher Musikhandschriften, Bd. 2), Brooklyn 1960. Heinrich Besseler, Die Musik des Mittelalters und der Renaissance (= Handbuch der Musikwissenschaft, hrsg. von Ernst Bücken, Bd. 2), Potsdam 1931 (Nachdruck Laaber 1979), S. 98– 102 und S. 112–117; zur Dreistimmigkeit zuletzt Ann Katrin Zimmermann, Studien zur mittelalterlichen Dreistimmigkeit, Tutzing 2008.
Notre-Dame-Musik
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Das Repertoire wird mit den beiden vierstimmigen Organa Viderunt und Sederunt eröffnet, die, so Anonymus IV, colores et pulchritudines („Farben“ und Schönheiten) aufweisen, eine habundantia colorum armonicae artis („Farbenfülle“ der musikalischen Kunst). Dann folgen die drei- und dann die zweistimmigen Sätze. Letztere bilden das Kernstück des Repertoires, den vom Magister Leonin nach liturgischen Gesichtspunkten angelegten magnus liber organi de gradali et antifonario. Zu ihm gehört eine Sammlung von über 460 clausulae, Teilstücke, bei denen ein Melisma in der Choralmelodie zu vielfältiger Bearbeitung anregte. Die Sammlung dokumentiert das Experimentierfeld der Musiker und war offenbar wichtig genug, um in die repräsentative Handschrift aufgenommen zu werden. Dann folgen die drei-, zwei- und einstimmigen Conductus. Eingeschoben ist eine Sammlung von Motetten, die man als ein um das – teils sehr tiefsinnige – Spiel mit der Sprache erweitertes Experimentierfeld bezeichnen möchte und die im 13./14. Jahrhundert zur führenden musikalischen Gattung werden. In W1 stehen wesentlich weniger Organa und Conductus, und Motetten fehlen völlig; in W2 nehmen demgegenüber die lateinischen und französischen Motetten einen beträchtlichen Raum ein. W2 bildet damit eine Art Brücke zu den Motettenhandschriften des späteren 13. Jahrhunderts wie etwa dem Codex Montpellier, in dem zu Beginn noch vier organa tripla stehen.13 Die Handschriften bilden die Struktur des Repertoires ab. In den Organa-Faszikeln ist für den Choral das übliche, mit dem C- und FSchlüssel geschlüsselte Vierliniensystem vorgesehen, für die anderen Stimmen Fünfliniensysteme, deren Tonraum durch die Position des C-Schlüssels bestimmt wird; singulär erscheint dabei auch der C1-Schlüssel für die Töne (in moderner Bezeichnung) d2/e2.14 In den Conductus-Faszikeln wird fast durchweg der C-Schlüssel verwendet, der in der Position C5 den Tonraum bis A erschließt. Singulär sind der F4-Schlüssel und das G (= Gamma) in Excitatur caritas sowie das d2 im Sechsliniensystem mit C2-Schlüssel in Ortus summi.15 So ist der gesamte bei Guido von Arezzo beschriebene und an der „Guidonischen Hand“ demonstrierbare Tonraum erschlossen.16 ____________ 13 14
15 16
Yvonne Rokseth, Polyphonies du XIIIe siècle: le manuscrit H 196 de la Faculté de Médécin de Montpellier, Paris 1935–1939. F fol. 120r/v beim Gradualvers Misit Dominus, ebenso fol. 218r beim Conductus Ortus summi. Eindrücklich zeigt sich die Berücksichtigung des choralen Vierliniensystems bei den außerhalb der Organa-Faszikel aufgezeichneten Stücken Beatis nos adhibe (F fol. 250r) und Veni doctor previe (F fol. 390v). Excitatur caritas in F fol. 252r, Ortus summi in F fol. 218r. Smits van Waesberghe, Guidonis Aretini Micrologus (wie Anm. 1), S. 93–95; ders., Musikerziehung. Lehre und Theorie der Musik im Mittelalter (= Musikgeschichte in Bildern, hrsg. von Heinrich Besseler und Max Schneider, Bd. 3, Lieferung 3), Leipzig 1969, S. 134–143.
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Andreas Traub
Damit stellt sich für die Edition der Notre-Dame-Musik ein Problem, das mindestens bis zur Musik des 14. Jahrhunderts aktuell bleibt: Wie soll man die Edition schlüsseln? Das Tonsystem des Chorals ist in sich strukturiert, aber auf keine absolute Tonhöhe festgelegt; moderne Schlüsselung suggeriert demgegenüber eine absolute Tonhöhe und ein neutrales Tonmaterial. Zwei Möglichkeiten bieten sich an. Entweder behält man die Schlüsselung der Quelle bei und rechnet damit, dass der Benutzer sich einarbeitet; so verfahren Heinrich Husmann bei der Notre-Dame- und Friedrich Ludwig bei der Machaut-Edition. Oder man identifiziert das Tonsystem des Chorals mit dem modernen Tonmaterial und notiert in der – scheinbar – gemeinten Lage; so verfährt Leonard Ellinwood in dem Conductus-Aufsatz und der Landini-Edition.17 Da die Musik dadurch optisch in die Bariton- und Basslage absinkt, verwenden die meisten Editionen darüber hinaus den transponierenden Violinschlüssel. So rückt die Musik zumindest stellenweise in ein merkwürdig erscheinendes Sopranregister, und wenn Violin- und Bassschlüssel zugleich verwendet werden, scheinen sich zwischen den Stimmen riesige Abstände aufzutun.18 Das für eine Edition verwendete Verfahren sollte deshalb begründet und die mit ihm verbundenen Probleme diskutiert werden. Die drei Notre-Dame-Handschriften sind alle nach der Zeit um 1200 entstanden, auf die man das „Ereignis Notre Dame“ (um eine umstrittene Überschrift zu zitieren) datieren kann. Für W1 werden Datierungen zwischen 1230 und 1314 vorgeschlagen.19 Der auch buchkünstlerisch hervorragende Codex F wurde um 1250 in Paris im Atelier von Johannes Grusch angefertigt, und W2 ist gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstanden.20 Durchweg hat man es also mit einer nachträglichen, auf eine repräsentative Überlieferung und nicht auf eine unmittelbare Praxis abzielenden Redaktion des Repertoires zu tun. Diese doppelte Basis der Notre-Dame-Musik wurde von Friedrich Ludwig in seinem 1910 erschienenen Repertorium erschlossen.21 Damit begründete er die nun hundertjährige Geschichte ihrer Edition. Ludwig bezeichnet den Codex ____________ 17
18 19 20 21
Husmann, Die drei- und vierstimmigen Notre-Dame-Organa (wie Anm. 10); Friedrich Ludwig (Hrsg.), Guillaume de Machaut. Musikalische Werke, Bd. 1–4 (zuerst in: Publikationen älterer Musik, Bd. 4 aus dem Nachlass Friedrich Ludwigs hrsg. von Heinrich Besseler, 1926–1943), Leipzig 1954; Ellinwood, The Conductus (wie Anm. 10), S. 165–204; ders., The Works of Francesco Landini, Cambridge 1945 (Nachdruck New York 1970); William Waite, The Rhythm of the Twelfth Century Polyphony. Its Theory and Practice, New Haven 1954. Ein Beispiel bietet die Übertragung von La harpe de mellodie; vgl. im vorliegenden Band den Beitrag Musik des 14. Jahrhunderts – Machaut und Landini, S. 45f. Staehelin, Die mittelalterliche Musikhandschrift W1 (wie Anm. 11), S. 23. Rebecca A. Baltzer, Thirteenth-Century Illuminated Miniatures and the Date of the Florence Manuscript, in: Journal of the American Musicological Society 25 (1972), S. 1–18. Friedrich Ludwig, Handschriften in Quadrat-Notation (= Repertorium organorum recentioris et motetorum vetustissimi stili, Bd. 1, Abt. 1), Halle 1910.
Notre-Dame-Musik
Abb. 1: Handschrift W1, fol. 27v (23v): Zweistimmiges Organum zum Graduale Exiit sermo mit Vers Sed sic eum volo.
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W1 als die älteste Notre-Dame-Quelle, die in den Faszikeln 3 und 4 die erste erhaltene Fassung des Magnus liber organi Leonins – „das klassische Werk des 12. Jahrhunderts für die mehrstimmige Kirchenmusik“22 – enthält. Er beschließt die Beschreibung der Handschrift mit dem grundlegenden Exkurs II (Die der Darstellung des Rhythmus dienende Differenzierung in der Schreibung der Notengruppen in der Quadratschrift), in dem er die Lehre der Modalnotation mit dem Quellenbefund zusammenführt.23 F wird als zweitälteste Quelle bezeichnet und W2, vor der noch die Handschriften aus Madrid und St. Victor beschrieben werden, als die letzte der großen Notre-Dame-Quellen; F enthalte die zweite und W2 die dritte Fassung des Magnus liber organi, die vor allem durch die Überarbeitungen Perotins gekennzeichnet seien, welche Anonymus IV so beschreibt: abbreviavit eundem et fecit clausulas sive puncta plurima meliora.24 Das von Ludwig gelegte Fundament bietet allerdings keine völlige Sicherheit. Drei Probleme liegen auf der Hand, die bei jeder Edition zutage treten und vorab aufgewiesen seien. Die beiden ersten betreffen die Reichweite des discantus. Neben ihm, so berichtet Johannes de Garlandia, gab es in den zweistimmigen Organa dort, wo ein einzelner Choralton ein ihn schmückendes Melisma hat, das organum purum, das sich der rhythmischen Fixierung durch die modi entzieht.25 In welchem Maß sind solche organum purum-Stellen in den überlieferten Redaktionen vorhanden? Im Graduale Exiit sermo (vgl. Abb. 1 nach W1 auf S. 7) ist der Mittelteil des Melismas Sed sic eum volo in F, W1 und W2 gleich aufgezeichnet und erscheint in den Editionen von William Waite (nach W1), Hans Tischler (nach F) und Thomas Payne (nach W2) – zu ihnen später – unterschiedlich.26 In den dreistimmigen Organa tritt dieses Problem dadurch zurück, dass über einzelnen Choraltönen zumeist ein zweistimmiger durchgeformter discantus erklingt. Zweitens: Im Conductus wird in der Regel der Vers mehr oder weniger syllabisch durchkomponiert. Ist dabei der Silbenwert selbständig und gleichbleibend oder auch einem rhythmischen modus unterworfen? Im Conductus Quod promisit ab aeterno (vgl. Abb. 2 nach F auf S. 9) erscheint der Vers ____________ 22 23 24 25 26
Ebd., S. 2. Ebd., S. 42–57. Reckow, Der Musiktraktat (wie Anm. 8), Teil I, S. 46. Reimer, Johannes de Garlandia (wie Anm. 4), Teil I, S. 88f. W1 fol. 27(23)v, F fol. 102v, W2 fol. 67r; Waite, The Rhythm of the Twelfth Century Polyphony (wie Anm. 17), S. 90–93; Hans Tischler, The Parisian Two Part-Organa. The Complete Comparative Edition (Bd. 1: Style and Evolution, Catalogue Raisonné, Office Organa; Bd. 2: The Mass Organa and Mass Ordinatory Settings), Stuyvesant 1988, Bd. 2, S. 734–753; Thomas B. Payne, Les organa à deux voix du manuscrit de Wolfenbüttel Herzog August Bibliothek Cod. Guelf 1009 Helmst. (= Le magnus liber organi de Notre-Dame de Paris, hrsg. von Edward H. Roesner, Bd. 6a/b), Monaco 1996, S. 122–125.
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Abb. 2: Handschrift F, fol. 300v: Zweistimmiger Conductus Quod promisit ab eterno.
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die solvit hodierno zusammen mit seiner Cauda bei Janet Knapp anders als bei Gordon Anderson und Hans Tischler.27 Drittens: In der Modalnotation gibt es Unklarheiten in der Deutung der Notengruppen. So kann die Gruppierung 1+3+3 sowohl als dritter Modus mit der Bedeutung 3 + 1+2+3 + 1+2+3 gelesen werden wie als sechster Modus mit der Bedeutung 1 + 1+1+1 + 1+1+1. Der Beginn der elften clausula zum Versbeginn Tanquam im Weihnachtsresponsorium Descendit de coelis, bei der im Duplum die Gruppierung wegen der Tonwiederholungen nicht in Erscheinung tritt (vgl. Abb. 3 nach F auf S. 11), ist in den Übertragungen von Rebecca Baltzer und Hans Tischler ebenso unterschiedlich realisiert wie etwa der Beginn des Conductus Veri vitis germine in den Übertragungen von Janet Knapp und wiederum Hans Tischler.28 Über diese grundsätzlichen Probleme hinaus tauchen immer wieder Unklarheiten an einzelnen Stellen auf. Heinrich Husmann spricht in seinen Untersuchungen zu Rhythmik und Notation dieser Musik von einer außerordentlichen Mehrdeutigkeit der Ligaturen. […] Eine derartige Mehrdeutigkeit führt häufig auch zu einer entsprechenden Unsicherheit der Übertragung. […] Ein in langer Beschäftigung mit den Notre Dame-Kompositionen geschultes stilistisches Gefühl [wird] im allgemeinen die naheliegendste Lösung finden – die häufig aber nicht die richtige ist.29
Das bedeutet, dass in den Editionen die Persönlichkeit des Herausgebers eine wesentlich wichtigere Rolle spielt als in Editionen späterer, eindeutig zu entziffernder Musik. Man kann also die älteren Editionen nicht „überholen“, sondern wird immer wieder mit Gewinn auf sie zurückgreifen. Letztlich wird man durch keine Edition von der jeweils eigenen Auseinandersetzung mit den Quellen entbunden. Jede Darlegung zur Notre-Dame-Musik wird daher auf eigene Notenbeispiele nicht verzichten können, die im besten Fall nicht nur die allgemeinen Erkenntnisse des Autors, sondern die spezifischen Probleme einzelner Stellen veranschaulichen. Sie alle aufzuzählen oder gar zu würdigen überschreitet den gegebenen Rahmen; nur einige markante Editionen können genannt werden. ____________ 27
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F fol. 300v; Janet Knapp, Thirty-Five Conductus, New Haven 1965, S. 85–88; Gordon A. Anderson, Notre-Dame and Related Conductus (= Opera omnia, Bd. 1–10, Henryville 1977– 1988), Bd. 3, Henryville 1981, S. 30–33 und S. VI; Hans Tischler, The Earliest Polyphonic Art Music: The 150 Two-Part-Conductus in the Notre Dame Manuscripts, Ottawa 2005, Bd. 1, Nr. VII 32 und S. XXXI. Tamquam: F fol. 147v; Rebecca A. Baltzer, Les clausules à deux voix du manuscrit de Florence (= Le magnus liber organi de Notre-Dame de Paris, hrsg. von Edward H. Roesner, Bd. 5), Monaco 1995, S. 6; Tischler, The Parisian Two Part-Organa (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 244. Veri vitis germine: F fol. 269v; Knapp, Thirty-Five Conductus (wie Anm. 27), S. 53; Tischler, The Earliest Polyphonic Art Music (wie Anm. 27), Nr. VII 5 und S. XXIII. Husmann, Die drei- und vierstimmigen Notre-Dame-Organa (wie Anm. 10), S. XIX.
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Abb. 3: Handschrift F, fol. 147v: Zweistimmige clausaulae zum Versbeginn Tamquam.
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In seiner Darstellung der Musik des Mittelalters bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts in dem von Guido Adler herausgegebenen Handbuch der Musikgeschichte bietet Friedrich Ludwig nach der Aufzählung einiger bereits erschienener Übertragungen das zweistimmige Organum Haec dies sowie die Anfangs-Cauda und erste Zeile des Conductus Hac in die nach F, den Beginn des dreistimmigen Organums Nativitas nach dem Codex Montpellier und, wiederum nach F und mit beigegebener Abbildung, den Beginn des vierstimmigen Viderunt, in das er den von Philipp dem Kanzler stammenden tiefsinnigen Text Vide prophecie einfügt.30 Nachdrücklich weist er auf „die hier so früh erreichte Höhe musikalischer Technik“ hin und schlägt mit der Bemerkung „diese große ,F-Dur-Toccata‘ Perotins“ einen Bogen zu der Bach’schen Toccata und Fuge F-Dur BWV 540, der wohl über die Äußerlichkeiten des liegenden Fundamenttons F und des (sich dort aus der Kanonstruktur ergebenden) Klangwechsels hinaus auf den bei dem Organum nicht selbstverständlichen musikalischen Rang aufmerksam machen soll.31 Eines ist allerdings zu bedenken: Die Musik von Notre Dame ist nicht unmittelbar mit den Dimensionen der gotischen Kathedrale zu vergleichen. Rudolf Bockholdt bezeichnet einen Vergleich von Organum und Kathedrale geradezu als „unredlich“.32 Die Musik war nämlich keineswegs dazu bestimmt, gewaltige Räume zu erfüllen, sondern hatte durchaus exklusiven Charakter. Im Rahmen der Liturgie erklang sie in dem durch Schranken und Tapisserien abgegrenzten Chorraum.33 Außerhalb der Liturgie – und das ist wichtig: diese Musik streift die Funktionsbindung ab und hat in sich selber Gewicht – wurde sie in Kreisen von Gelehrten und Kunstkennern vorgetragen (coram litteratis et illis qui subtilitates artium sunt quaerentes).34 Mit einer Kathedrale kann man sie in der Tat schlecht vergleichen, wohl aber mit Skulpturen, Glasfenstern oder Miniaturen. In seinen Übertragungen gibt Ludwig die Ligaturen mit Bögen an – im Viderunt verzichtet er allerdings darauf – und markiert die Gliederung durch punktierte und durchgezogene Striche innerhalb der Systeme. ____________ 30 31 32
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Ludwig, Die geistliche nichtliturgische, weltliche einstimmige und die mehrstimmige Musik des Mittelalters (wie Anm. 10), S. 217–232. Ebd., S. 227. Rudolf Bockholdt, Das Kunstwerk in der Musik, in: Das Kunstwerk (= Kolloquium Kunst und Philosophie, hrsg. von Willi Oelmüller, Bd. 3), Paderborn 1983, S. 283–325, hier S. 305; vgl. jedoch Karlheinz Schlager, Panofsky und Perotin, in: ders. (Hrsg.), Festschrift Hubert Unverricht zum 65. Geburtstag (= Eichstätter Abhandlungen zur Musikwissenschaft, Bd. 9), Tutzing 1992, S. 245–254. Craig Wright, Music and Ceremony at Notre Dame of Paris 500–1500, Cambridge 1989, S. 98–101. Ernst Rohloff, Die Quellenhandschriften zum Musiktraktat des Johannes de Grocheio, Leipzig o. J., S. 144.
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Rudolf von Fickers unter dem Titel „Musik der Gotik“ veröffentlichte Edition des vierstimmigen Sederunt principes hat zwei Teile.35 Der eine ist eine kritische Edition, bei der Ficker die abwärts kaudierte Rhombe einer stilisierten Mensuralnotation verwendet, weiß und punktiert für die perfekte Longa, geschwärzt für die Brevis. Er behält die originalen Schlüssel bei, gibt der Choralstimme aber ein Fünfliniensystem; Ligaturen bezeichnet er mit eckigen Klammern und grenzt in den Oberstimmen Takte von zwei perfekten Longen ab. Über die philologische Exaktheit hinaus geht es Ficker aber um das Erklingen dieser Musik; er stellt sie in einen von dem Organum der Musica enchiriadis bis zum Klang der Gamelan-Ensembles gespannten Rahmen, den er unter dem Titel „Primäre Klangformen“ beschreibt.36 Zudem hebt er hervor, der Aufbau der beiden vierstimmigen Organa Viderunt und Sederunt sei ein ausgesprochen sinfonischer. In der klaren Gliederung der weitgespannten Perioden [!] ist das Streben nach monumentaler Gestaltung nicht zu verkennen. Es wäre daher vollkommen verfehlt, die 450 Takte unseres Werks rein metronommäßig und ohne jegliche Abstufung wie ein Uhrwerk ablaufen zu lassen. Dieser Gefahr einer „umgangsmäßigen“ Interpretation muß unbedingt durch intensive Heranziehung agogischer und dynamischer Mittel gegengesteuert werden.37
So erarbeitete er eine Konzerteinrichtung für sechsstimmigen Knaben- und Männerchor, drei Oboen, drei Fagotte, zwei Trompeten, zwei Tenorposaunen, Celesta, Glocken und dreifach geteilte Violen, die er am 11. April 1929 in der Wiener Burgkapelle zur Aufführung brachte und in dem der Edition beigegebenen Klavierauszug dokumentierte. Der Tonsatz ist dabei um einen Ganzton nach unten transponiert und durch Oktavverdopplungen ausgeweitet. Die Vortragsbezeichnungen reichen von „Langsam schwebend“ bis zu „Mit größter Kraft“ und erinnern zusammen mit dem fff bei Buchstabe P an die Sinfonien Anton Bruckners. Der auf den Tonsatz passende Text De Stephano roseo sanguine / Adesse festina wird nicht beigegeben. Auf dem von Ficker bereitgestellten Aufführungsmaterial beruht die Konzerteinrichtung von Paul Hindemith, die dieser am 14. Mai 1945 an der Yale University zur Aufführung brachte.38 Im Folgenden seien vier Editionen von Organa und drei Editionen von Conductus beigezogen. In seiner 1940 in Leipzig vorgelegten Habilitationsschrift bietet Heinrich Husmann eine Kritische Gesamtausgabe der drei- und ____________ 35 36 37 38
Rudolf von Ficker, Musik der Gotik. Perotins Organum quadruplum „Sederunt principes“, Wien 1930. Ders., Primäre Klangformen, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 36 (1929), S. 21–34. Ficker, Musik der Gotik (wie Anm. 35), S. 30. Andreas Traub, Eine Perotin-Bearbeitung Hindemiths, in: Hindemith-Jahrbuch 1994/XXIII, S. 30–60.
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vierstimmigen Organa.39 Er ordnet die 32 Organa und 17 Clauseln liturgisch und hebt dadurch die in den Quellen gebotene Sonderstellung der vierstimmigen Sätze auf; Viderunt steht als Nr. 3, Sederunt als Nr. 5 und Mors als Nr. 7 der Klauseln. In der Einleitung geht Husmann auf Rhythmik und Notation ein. Er setzt einen Akzentstufentakt voraus und zeigt, dass die rhythmischen modi insofern eine nur begrenzte Bedeutung haben, als sie sich durchdringen und gegenseitig aufheben können. Ausführlich handelt Husmann dann über die Kompositionstechnik. In der Edition verwendet er Bögen zur Angabe der Ligaturen und teilt zur Orientierung Doppellongen, die er auch zählt, durch Taktstriche ab. Im Unterschied zu Husmann befasst sich William Waite in seiner 1946 bei Leo Schrade an der Yale University – an der Hindemith kurz zuvor das Sederunt aufgeführt hatte – entstandenen Dissertation mit den zweistimmigen Organa des Magnus liber nach W1, die er vollständig ediert, wobei er sich auf die 1931 erschienene Faksimile-Ausgabe von James H. Baxter stützt.40 So kann er die Lücke nach fol. 35(31) nicht schließen. Die nicht zum Magnus liber gehörenden, aber für den Umgang mit der Musik bezeichnenden Sanctus-Sätze auf fol. 24(20)v lässt er weg, und beim Alleluia Nativitas fehlt die Zweittextierung Optimam partem. Die Intention von Waites Ansatz erhellt sich daraus, dass er mit einem Zitat aus The Renaissance of the Twelfth Century von Charles Howard Haskins beginnt und mit dem Satz schließt: It is to be hoped that this study has been a contribution to our knowledge of this moment and to the general knowledge of that marvelous flowering of the human mind which, rightly or wrongly, has been named the Renaissance of the Twelfth Century.41
Er konstatiert: Finally, the rhythmic innovations of the same two men [sc. Leonin und Perotin] mark one of the most decisive developments in the history of music, for not only was a consistent system of rhythm, the so called “rhythmic modes”, established in their work but an adequate method of notation as well which provided the basis of our modern notation
und zitiert später die Poétique musicale von Igor Strawinsky.42 Von diesem Ansatz aus wird er dazu genötigt, die Offenheit, die in der Aufzeichnung der ____________ 39 40
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Husmann, Die drei- und vierstimmigen Notre-Dame-Organa (wie Anm. 10). Waite, The Rhythm of the Twelfth Century Polyphony (wie Anm. 17); James H. Baxter, An Old St. Andrews Music Book (Cod. Helmst. 628), Oxford 1931; vgl. Staehelin, Die mittelalterliche Musikhandschrift W1 (wie Anm. 11), fol. 17(13)r–fol. 48(42)v. Waite, The Rhythm of the Twelfth Century Polyphony (wie Anm. 40), S. 1 und 127. Ebd., S. 2 und 13.
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Zweistimmigkeit vorhanden ist, zugunsten eindeutiger Lösungen zurückzudrängen. In seinen Übertragungen wechselt Waite zwischen dem Bass- und dem transponierenden Violinschlüssel. Hans Tischler beginnt seine 1988 abgeschlossene Edition des gesamten zweistimmigen Repertoires mit mehreren Verzeichnissen, vom liturgischen Index und Wortindex bis zu Katalogen von patterns und formulae. Es folgt eine Abhandlung zu Style and Evolution of the Parisian Organa mit dem wichtigen Aufweis von Interrelationship among Organa und der abschließenden Bestimmung von Historical Layers and the Families of Organa. Ein Catalogue Raisonné schließt die Einleitung ab.43 In der Edition verwendet Tischler F als Hauptquelle und gibt simultan die Abweichungen in anderen Quellen wieder. Damit hebt er rein optisch die Geschlossenheit der einzelnen Aufzeichnung auf. Zudem zerlegt er die Stücke in ihre Abschnitte und stellt zu jedem discantus-Abschnitt die vorhandenen Clauseln zusammen, wobei er auch über die drei Hauptquellen hinausgreift. So zerfällt das einzelne Organum in seine Bestandteile; es erscheint – sachlich nicht ganz abwegig – ein „Baukasten“, aus dessen Einzelteilen, deren teils geringe, teils bedeutende Unterschiede man unmittelbar studieren kann, sich die verschiedenen möglichen Gestalten zusammensetzen lassen. Die Organa erscheinen nicht als „Werke“, sondern als „Arbeitsfelder“. In seinen Übertragungen kennzeichnet Tischler rhombische Noten durch Schrägstriche, die wie Akzente aussehen. Die 1993 von Edward H. Roesner begonnene, äußerlich repräsentativste Edition mit dem Titel Le Magnus Liber, der eigentlich allein der Organadupla-Sammlung Leonins gilt, umfasst bis jetzt sechs Bände. Roesner selber ediert Les Quadruples et Triples de Paris, Mark Everist Les Organa à Deux Voix pour l’Office du Manuscrit de Florence und Les Organa à Deux voix pour la Messe du Manuscrit de Florence, Rebecca Baltzer Les Clausules à Deux Voix du Manuscrit de Florence und Thomas B. Payne Les Organa à Deux Voix du Manuscrit de Wolfenbüttel Herzog August Bibliothek Cod. Guelf 1009 Helmst.44 Damit wird einerseits wie schon durch die Edition von Husmann signalisiert, dass die drei- und vierstimmigen Sätze anders als die zweistimmigen eine quellenunabhängige Edition gestatten; andererseits werden letztere, einschließlich der Clauseln, im strikten Gegensatz zu Tischlers Kon____________ 43 44
Tischler, The Parisian Two Part-Organa (wie Anm. 26), Bd. 1, S. XI–LXVIII, 3–88, 89–207. Edward H. Roesner, Les quadrupla et tripla de Paris (= Le magnus liber organi de NotreDame de Paris, hrsg. von Edward H. Roesner, Bd. 1), Monaco 1993; Mark Everist, Les organa à deux voix pour la messe du manuscrit de Florence (= Le magnus liber organi de Notre-Dame de Paris, hrsg. von Edward H. Roesner, Bd. 3/4), Monaco 2001/2002; ders., Les organa à deux voix pour l’office du manuscrit de Florence (= Le magnus liber organi de Notre-Dame de Paris, hrsg. von Edward H. Roesner, Bd. 2), Monaco 2003; Baltzer, Les clausules (wie Anm. 28); Payne, Les organa à deux voix (wie Anm. 26).
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zept als Einzelwerke ediert und die einzelnen Quellen in je einem einzelnen geschlossenen Band dokumentiert. Der Benutzer kann kaum auf die Idee kommen, einen Tonsatz aus Band V in einen Tonsatz aus Band II oder III/IV hineinzumontieren, obwohl die Überlieferung in F darauf hinweist. Die Edition verdeutlicht jedoch durchweg, dass die Organa nur Teile der liturgischen Gesänge sind, indem jeweils die choralen Abschnitte beigegeben werden. Zudem werden im Anhang sämtlicher Bände der Edition die vollständigen Choralmelodien nach Pariser Quellen der Zeit ediert.45 Diese wichtige und umfangreiche Ergänzung wird nur dadurch beeinträchtigt, dass die Melodien in moderner Umschrift (Einzelnoten auf einem mit g2 geschlüsselten Fünfliniensystem, Andeutung der Neumen durch eckige Klammern) und nicht in einer – möglicherweise modifizierten – Choralnotation gegeben werden. Damit ist keine bloße Äußerlichkeit benannt, sondern ein bedenklich stimmender Verlust. In seinem 1941 erschienenen Aufsatz Conductus, der über das Notre-DameRepertoire hinausgreift, bietet Leonard Ellinwood Übertragungen der zweistimmigen Conductus Luto carens et latere und Quid tu vides Ieremia sowie die dreistimmigen Relegentur ab area und Pater noster.46 1965 veröffentlicht Janet Knapp „a small but characteristic group of twoand three-voiced conductus“, damit man sie als „sounding music“ entdecken kann.47 Deshalb lässt sie alle über den reinen Notentext hinausgehenden Angaben – etwa Ligaturenklammern – weg und lagert damit alle Fragen zum Übertragungsverfahren, auf deren Bedeutung sie allerdings im Nachwort hinweist, aus. Damit stellt sich die grundsätzliche und über die Notre-Dame-Musik hinausreichende Frage, ob Musik allein auf der Basis einer – wie sorgfältig auch immer erarbeiteten – Übertragung zum Klingen gebracht werden kann, oder ob die Befassung mit den Notationsproblemen unmittelbar in das Erklingen hineinwirken muss. Über die Auswahl der Stücke erfährt man lediglich: „The selection is representative, in terms both of subject matter and of musical style“ – nach dem Urteil von Janet Knapp.48 Hier sei die Anekdote festgehalten, dass sie auf der Notre-Dame-Tagung in Wolfenbüttel 1985 über einen Conductus kurzweg sagte: „This is a bad composition.“ Gordon Athol Anderson bietet in seiner 1977 begonnenen und 1988 abgeschlossenen zehnbändigen Edition das gesamte Repertoire aller Conductus, die ____________ 45
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Roesner, Les quadrupla et tripla de Paris (wie Anm. 44), S. 269–305 und 354–358; Everist, Les organa à deux voix pour l’office (wie Anm. 44), S. 271–312 und 329–332; ders., Les organa à deux voix pour la messe (wie Anm. 44), Bd. 3, S. 203–235 und 252–258, Bd. 4, S. 197– 231 und 245–251; Payne, Les organa à deux voix (wie Anm. 26), S. 279–331. Ellinwood, The Conductus (wie Anm. 10). Knapp, Thirty-Five Conductus (wie Anm. 27). Ebd., S. 135.
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nur irgendwie mit Notre Dame in Verbindung zu bringen sind. Allein die Fülle des Materials ist überwältigend und verdeutlicht das Gewicht dieser Gattung in der Musik um 1200. In einem zuvor separat veröffentlichten Catalogue Raisonné gibt er durch eine Buchstaben-Zahlen-Kombination, die in der Edition wiederkehrt, die Nähe oder Ferne jedes einzelnen Stücks zum Pariser Zentrum, verbunden mit der Stimmenzahl, an. Als A1 erscheint Serena virginum, das zumindest in F als vierstimmige Motette über vier aneinandergefügte Clauseln Manere überliefert ist, und es folgen weitere derart problematische Stücke, so die Philippus Cancellarius zugeschriebenen Textierungen zu den beiden vierstimmigen Organa Viderunt und Sederunt als A9 bis A12. Zu Beginn der Edition wird damit die Frage nach den Gattungsgrenzen deutlich gestellt, aber nicht weiter diskutiert; der Benutzer wird zur Annahme geführt, dies seien fraglos „Conductus“. Der in den Quellen deutlich „eröffnende“ Conductus Salvatoris hodie steht dagegen als C5, und das letzte katalogisierte Stück, das zweistimmige Virga florem germinavit (P49), wird unvollständig in den Worchester Fragmenten überliefert.49 Zu jedem Stück veröffentlicht Anderson separat den Text mit einer Übersetzung und inhaltlichen Erläuterungen. Ein Problem entsteht dadurch, dass alle Stücke in der Edition „gleich“ aussehen und damit eine Vergleichbarkeit in der Substanz, wie diese auch immer gefasst werden möge, nahegelegt wird. Hans Tischler bietet 2005 unter dem Titel The Earliest Polyphonic Art Music, mit dem er die mehrstimmigen Gesänge des Saint-Martial-Repertoires beiseiteschiebt und die Frage nach der Funktion der Clauseln offenlässt, eine Edition der 130 im siebenten Faszikel von F enthaltenen zweistimmigen Conductus, denen in zwei Anhängen die weiteren zweistimmigen Lieder aus W1, W2 und der Madrider Notre-Dame-Handschrift (Ma) sowie die in F zwar dreistimmig, in W1, W2 und Ma aber zweistimmig überlieferten Lieder folgen.50 Die zweistimmige Fassung ist also die eigentliche, die dreistimmige eine nachträgliche Erweiterung. Wie in der Edition der Organa ist für Tischler die Zweistimmigkeit das entscheidende Kriterium. Abschließend sei an vier Beispielen die Spannweite der Übertragungsmöglichkeiten demonstriert. Das zweistimmige Organum zum Graduale Exiit sermo Vers Sed sic eum volo manere zum Fest des Evangelisten Johannes (vgl. ____________ 49
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Gordon A. Anderson, Notre-Dame and Related Conductus. A Catalogue Raisonné, in: Miscellanea Musicologica 6 (1972), S. 152–229 und 7 (1975), S. 1–81; ders., Notre-Dame and Related Conductus (wie Anm. 27). Tischler, The Earliest Polyphonic Art Music (wie Anm. 27); Ma: Madrid, Biblioteca Nacional Ms. 20486 (olim HH 167); vgl. Luther Dittmer, Faksimile-Ausgabe der Handschrift Madrid 20486 (= Veröffentlichungen mittelalterlicher Musikhandschriften, Bd. 1), Brooklyn 1957.
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Abb. 4: Handschrift W2, fol. 14v–15r: Dreistimmiges Organum zum Vers Sed sic eum volo des Graduales Exiit sermo.
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Abb. 1 nach W1 auf S. 7) wird in allen drei Quellen überliefert.51 Das Stück gliedert sich in ein freies Organum zu Sed sic eum volo, eine Discantuspartie zu manere und ein zweites Organum zu donec veniam; tu me sequere ist der choraliter gesungene Versschluss.52 Der erste Teil stimmt in den drei Quellen bis auf vier Stellen überein: Die erste Figur über dem Cantuston f ist in W1 um einen Schritt g1–a1 kürzer als in F und W2; in der zum g hinabführenden Bewegung nach Erreichen des Cantustons c1 stehen in W1 gegenüber F und W2 die Dreitongruppen f1–e1–f1 und e1–d1–e1; gegen Ende fehlt in W2 das in W1 und F überlieferte e1 vor dem doppelten g1, und die Schlusswendung lautet in W2 c1–d1–e1–f1 f1–e1–c1 d1–c1 gegenüber c1–d1–c1 d1–e1–e1 d1–c1 in W1 und F. Die Übertragungen von William Waite, Hans Tischler und Thomas B. Payne zeigen darüber hinaus unterschiedliche Auffassungen einzelner Notationsdetails. Die Frage nach der „richtigen“ Weise, dieses Organum zum Erklingen zu bringen, löst sich in einer Vielfalt der Möglichkeiten auf. Sie ist damit aber nicht an die Beliebigkeit verwiesen; jeder, der mit dieser Musik umgehen will, ist vielmehr zu einer eigenen, paläographisch und musikalisch begründeten Lösung aufgerufen. Das dreistimmige Organum zum selben Gradualvers Sed sic eum volo wird in F und W2 überliefert (vgl. Abb. 4 nach W2 auf S. 18).53 Die Übertragungen von Heinrich Husmann und Edward H. Roesner stimmen trotz ihres unterschiedlichen Aussehens in der Sache weitgehend überein. Im späteren Verlauf haben aber die Differenzen in der Deutung einiger Pausen interessante Konsequenzen. Das Stück hat folgende Anlage: Nach der breiten „Initiale“ zeichnen sich vor manere drei Abschnitte ab: Der erste reicht bis zum Cantuston a bei sic, der zweite bis zum Cantuston c1 bei vo[lo] und der dritte bis zum Schluss dieses Formteils. Im ersten Abschnitt zählen Husmann und Roesner übereinstimmend 28 Takte bzw. 56 Longen. Im zweiten Abschnitt zählt Husmann 8+12 und im dritten 27 Takte, während Roesner im zweiten auf 17+26 Longen und im dritten auf 56 Longen kommt. Man ist versucht, Husmanns Lesung des zweiten Abschnitts mit Roesners Lesung des dritten zu verbinden und damit die Proportion 56 – 40 – 56 (7 – 5 – 7) aufzustellen. Die Symmetrie besticht, es ist aber fraglich, ob sie vielleicht nur retrospektiv an die Sache herangetragen ____________ 51 52 53
Vgl. Anm. 26. Graduale triplex, S. 636. F fol. 18v, W2 fol. 14v; Husmann, Die drei- und vierstimmigen Notre-Dame-Organa (wie Anm. 10), S. 40–42; Roesner, Les quadrupla et tripla de Paris (wie Anm. 44), S. 73–76. Vgl. hierzu auch Renato Borghi, L’organum „Sancte Germane“ nelle edizioni di Heinrich Husmann ed Edward H. Roesner, in: Edizioni moderne di musica antica. Sei letture critiche, hrsg. von Marina Toffetti (= Didattica della filologia musicale, Bd. 1), Lucca 1997, S. 35–56.
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Abb. 5: Handschrift F, fol. 202v: Dreistimmiger Conductus Relegentur ab area.
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wird. Hier stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Analogie musikalischer und architektonischer Formungen.54 Der in F, W1 und W2 überlieferte und hier nach F wiedergegebene dreistimmige Conductus Relegentur ab area (vgl. Abb. 5 nach F auf S. 20) hat wie Salvatoris hodie, Naturas Deus regulis und Transgressus legem Domini einen zweiten, nur zweistimmigen Teil.55 In den Übertragungen von Leonard Ellinwood, Janet Knapp und Gordon A. Anderson fällt eine Differenz sofort auf: Ellinwood deutet den ersten Ton einer fractio als Longa, Knapp und Anderson den letzten. Die Anfangs-Cauda des Stückes hat in allen drei Editionen 25 „Takte“, die durch die Quintklänge auf d und e in 9+5+11 gegliedert werden. Einige Unterschiede lassen jedoch verschiedene Formvorstellungen erkennen. So ist durch die Pausensetzung im Triplum bei Anderson gegenüber Knapp die Parallelität von T. 5–9 und T. 21–25 hervorgehoben, während bei Ellinwood der dreifache Quintoktavklang auf c in T. 19–21, der mit der DoppellongaDistanz bei der Imitation zwischen Duplum und Cantus verbunden wird, einen formalen Akzent gibt. In der ersten Zeile zeigt sich das Problem des Silbenwertes. Relegentur ab area ist ein steigender Achtsilber. Ellinwood und Knapp verdoppeln -gentur und ab, Anderson nur Letzteres. Die die beiden Oktavklänge verbindende sechstönige Bewegung im Duplum kann offenbar nicht auf die Dauer einer Longa zusammengezogen werden. Knapp unterlässt noch den Hinweis, dass die Silbe Re-, falls sie denn schon zu Beginn der Cauda zu intonieren und nicht vielmehr an die Mitwirkung von Instrumenten zu denken ist, zum Cantuston a wiederholt werden sollte. In der Übertragung des ebenfalls in allen drei Quellen überlieferten zweistimmigen Conductus Quod promisit ab aeterno (vgl. Abb. 2 nach F auf S. 9) weicht Hans Tischler bei promisit ab eter[no] wesentlich von Janet Knapp und Gordon A. Anderson ab und wird, da er wie Knapp einen „Takt“ vorzeichnet, zu einem Taktwechsel genötigt.56 Der Schluss der folgenden Cauda erscheint in jeder Übertragung anders. Knapp rechnet strukturell mit einem Non-OktavVorhalt über g, Anderson mit dem ausgezierten Klangwechsel a/f1–g/g1 und Tischler mit Oktavparallelen, wobei ein weiterer Taktwechsel nötig wird. ____________ 54 55
56
Eine grundsätzlich skeptische Haltung nimmt Stefan Kunze ein (vgl. Das Elend der Parallelen, in: Stefan Kunze, De Musica. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, Tutzing 1998, S. 85–107). F fol. 202v, W1 fol. 96(87)v, W2 fol. 34v; Ellinwood, The Conductus (wie Anm. 10), S. 197– 200; Knapp, Thirty-Five Conductus (wie Anm. 27), S. 11–21; Anderson, Notre-Dame and Related Conductus (wie Anm. 27), Bd. 1, Henryville 1986, S. 61–68 und XXX. F fol. 300v, W1 fol. 139(130)v, W2 fol. 111r; Knapp, Thirty-Five Conductus (wie Anm. 27), S. 85–88; Anderson, Notre-Dame and Related Conductus (wie Anm. 27), Bd. 3, Henryville 1981, S. 30–33 und VI; Tischler, The Earliest Polyphonic Art Music (wie Anm. 27), Bd. 1, Nr. VII 32 und S. XXXI.
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Zusammengefasst: Nach hundert Jahren Editionsgeschichte muss auch heute noch jede Befassung mit der Notre-Dame-Musik erneut von den Quellen ausgehen. Bei allem gebührenden Respekt vor den eindrucksvollen philologischen und analytischen Leistungen können die vorliegenden Editionen aus der Sachlage heraus nicht mehr sein als gut begründete Vorschläge, um deren Prüfung man aber nicht herumkommen kann. Die Aufgabe einer jeweils eigenverantworteten „Neuedition“ ist nicht zu hintergehen.
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Notre-Dame-Musik
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Andreas Traub
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Musik des 14. Jahrhunderts – Machaut und Landini
Um 1280 festigt Franco von Köln die Grundlagen für die weitere Geschichte der Notation, indem er die Folge dreizeitiger Longen als ersten rhythmischen modus bezeichnet, auf den andere modi zurückzuführen sind (reduci).1 Diese Longa wird perfecta genannt und fasst drei tempora in sich.2 Franco begründet ihre Würde mit dem Hinweis auf die Trinität, die vera et pura perfectio, und strukturiert das Verhältnis von Longa zu Brevis, dem das Verhältnis von Brevis zu Semibrevis entsprechen soll: De semibrevibus autem et brevibus idem est iudicium in regulis prius dictis. (Für Semibreven und Breven gilt dasselbe wie in den vorigen Regeln).3 Damit ist der Bereich der vox quassa reguliert.4 Durch die weitere Bestimmung, in principio perfectionis habe eine concordantia zu erklingen, gibt Franco diesem Wert eine den Tonsatz regulierende Kraft.5 Die Konsequenzen dieser Grundlegung sind so umfassend, dass Franco in der Tradition nach Boethius und Guido von Arezzo als dritter „Erfinder“ der Musik gelten konnte. Dies spiegelt sich noch in der monumentalen Quellensammlung des Fürstabtes Martin Gerbert, den Scriptores ecclesiastici de Musica sacra potissimum von 1784: der zweite Band beginnt mit Guidos Micrologus, der dritte mit Francos Ars cantus mensurabilis; Boethius’ De institutione Musica hätte den ersten Band gesprengt und war zudem seit 1492 mehrfach neu gedruckt worden.6 Francos Bestimmung des principium perfectionis als der den Tonsatz strukturierenden Größe erlaubt es, in Übertragungen die per____________ 1
2 3 4 5 6
Vgl. Gilbert Reaney und André Gilles, Franconis de Colonia Ars cantus mensurabilis (= Corpus scriptorum de musica, Bd. 18), Dallas 1974, S. 27 (cap. 3, 4–6) und F. Alberto Gallo, Die Notationslehre im 14. und 15. Jahrhundert, in: Die mittelalterliche Lehre von der Mehrstimmigkeit, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht [u. a.] (= Geschichte der Musiktheorie, Bd. 5), Darmstadt 1984. Zum Thema insgesamt vgl. Rudolf Bockholdt, Französische und niederländische Musik des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Musikalische Edition im Wandel des historischen Bewußtseins, hrsg. von Thrasybulos Georgiades, Kassel 1971, S. 149–173. Vgl. Reaney und Gilles, Franconis de Colonia (wie Anm. 1), S. 29 (cap. 4, 6–8). Ebd., S. 38 (cap. 5, 21). Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag Notre-Dame-Musik, S. 2. Vgl. Reaney und Gilles, Franconis de Colonia (wie Anm. 1), S. 73 (cap. 11, 32). Martin Gerbert, Scriptores ecclesiastici de Musica sacra potissimum, St. Blasien 1784 (Nachdruck Hildesheim 1963).
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fectiones durch senkrechte Striche voneinander abzugrenzen, die jedoch nicht die Bedeutung von Taktstrichen haben, da der Takt in anderer Weise reguliert als die perfectio. Dennoch ist es – dies sei im Vorblick auf Editionen von Musik des 15. und 16. Jahrhunderts erwähnt – nicht sachgemäß, diese Striche nur zwischen die Systeme zu setzen und diese selber davon frei zu halten. In den wenigen erhaltenen Partituren aus dem 16. Jahrhundert werden die Striche durchgezogen, wobei unterdessen die Brevis zum Strukturmaß geworden ist.7 Im späten 13. und gesamten 14. Jahrhundert konzentrierte sich das musikalische Interesse auf die Unterteilung des tempus, d. h. auf die theoretische Rechtfertigung eines möglichst vielfältigen Umgangs mit kleinen Notenwerten. Franco hatte mit der Bestimmung Sed nota semibrevium plures quam tres pro recta brevi non posse accipi eine klare Grenze gezogen.8 Johannes de Grocheo stellt dagegen fest, das tempus könne in infinitum unterteilt werden, da es gemäß der Lehre von Aristoteles zu den zusammenhängenden Dingen gehöre, und schränkt nur ein, dass das Gehör die Unterteilungen noch wahrnehmen können müsse.9 So argumentiert auch 1321 Johannes de Muris in der neunten Conclusio im zweiten Buch der Notitia artis Musicae; er geht dabei bis zu neun gleichen Semibreven und schließt: Laudabilis autem esset musicus et peritus, qui super idem tempus aequale ipsum dividendo nunc per duas, nunc per tres et ceteras partes integre discantaret. (Lobwürdig und erfahren wäre der Musiker, der über einem gleichbleibenden tempus, es in zwei, drei und mehr Teile gliedernd, einen discantus forme).10 Dann weist er den Weg zu neuen Experimenten: Nemo tamen dicat nos statum musicae et finem eius immutabilem tetigisse. (Niemand sage, wir hätten den Stand und das unverrückbare Ende der Musik erreicht).11 Bei der Erfassung der kleinen Notenwerte zeichnen sich in großen Linien zwei Wege ab: der französische des Aufbaus eines Verhältnissystems aller verwendbaren Notenwerte zueinander vom größten (maxima) bis zum kleinsten (minima) und der italienische der Unterteilung eines festen Wertes, der Brevis. Proportio und divisio sind die bestimmenden
____________ 7
8 9 10
11
Vgl. hierzu zusammenfassend Manfred Hermann Schmid, Zur Edition von Musik des 16. Jahrhunderts, in: Musik in Baden-Württemberg. Jahrbuch der Gesellschaft für Musikgeschichte in Baden-Württemberg 6 (1999), S. 185–208. Vgl. Reaney und Gilles, Franconis de Colonia (wie Anm. 1), S. 38 (cap. 5, 22). Vgl. Ernst Rohloff, Die Quellenhandschriften zum Musiktraktat des Johannes de Grocheio, Leipzig o. J., S. 138–140. Vgl. Ulrich Michels, Johannis de Muris Notitia Artis Musicae et Compendium Musicae practicae; Petrus de Sancto Dionysio Tractatus de Musica (= Corpus scriptorum de musica, Bd. 17), Dallas 1972, S. 104f. Ebd., S. 106f.
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Musik des 14. Jahrhunderts
Begriffe. Unter dem Aspekt der Notation spielt die gewichtige, aber zumeist nur fragmentarisch überlieferte Musik aus England keine eigenständige Rolle.12 Die einzelnen Schritte auf diesen Wegen, die von Komponisten und Theoretikern wie Petrus de Cruce, Philippe de Vitry, Johannes de Muris und Marchettus von Padua getan wurden, können hier nicht im Einzelnen beschrieben werden. Das Ergebnis des einen Weges ist das Mensuralsystem der Quatre prolacions von der Maxima zur Longa, von der Longa zur Brevis (modus), von der Brevis zur Semibrevis (tempus) und von der Semibrevis zur Minima (prolatio) in der Doppelung von dreizeitigen (perfectum) und zweizeitigen (imperfectum) Verhältnissen: Minima Semibrevis
1 2 3
Brevis
4 6 9
Longa
8 12 18 27
Maxima
prolatio minor: 2 Minimen prolatio maior: 3 Minimen tempus imperfectum: 2 Semibreven tempus perfectum: 3 Semibreven modus minor: 2 Breven modus maior: 3 Breven
16 24 36 54 81
Die Zwischenwerte können auf verschiedene Weise erreicht werden: Der Wert 6 der Brevis erscheint im tempus perfectum cum prolatione minore (dreimal zwei Minimen) und im tempus imperfectum cum prolatione maiore (zweimal drei Minimen).13 Das System wird differenziert durch die Imperfektion.14 Jeder dreizeitige Wert kann durch einen einzelnen kleineren zu einem zweizeitigen reduziert werden, und zwar von beiden Seiten (3 = 2 + 1 oder 1 + 2). Dies gilt auch für Teilwerte (imperfectio ad partes); so kann die Brevis von 6 (3 + 3) Zeiten zu 1 + 5, 5 + 1 oder 1 + 4 + 1 imperfiziert werden. Man ging noch weiter: Et nota, quod quidam cantores, puta Gulielmus de Mascandio, et nonulli alii, imperficiunt brevem perfectam minoris prolationis ab una sola minima, et brevem imperfectam maioris prolationis a duabus minimis simul sequentibus vel precedentibus […] et dicunt ibi mutari qualitatem. (Und beachte, dass ____________ 12
13
14
Vgl. Karl Kügle, England und die Musik des 14. Jahrhunderts, in: Die Musik von den Anfängen bis zum Barock (= Die Geschichte der Musik, hrsg. von Matthias Brzoska und Michael Heinemann, Bd. 1), Laaber 2001, S. 176–188. Die prolatio wird nicht in perfecta und imperfecta, sondern in maior und minor eingeteilt. Zur Terminologie vgl. Rudolf Bockholdt, Semibrevis minima und Prolatio temporis. Zur Entstehung der Mensuraltheorie der Ars nova, in: Die Musikforschung 16 (1963), S. 3–21. Vgl. das umfangreiche Kapitel De imperfectione der Ars practica mensurabilis cantus secundum Iohannem de Muris in: Christian Berktold, Ars practica mensurabilis cantus secundum Iohannem de Muris, München 1999.
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einige Komponisten wie Guillaume de Machaut und manche andere eine Brevis der Qualität 2 + 2 + 2 durch eine einzige Minima imperfizieren und eine Brevis der Qualität 3 + 3 durch zwei folgende oder vorausgehende Minimen […], und sie sagen, dort ändere sich die Qualität).15 Ein weiteres Mittel zur Differenzierung war die Kolorierung, die Notierung mit roter statt schwarzer Tinte, durch die die Messung der Notenwerte ins Gegenteil verkehrt wurde: So werden im tempus perfectum rot notierte Breven zweizeitig gemessen. Ein Ausblick: Später wurde die Minima in zwei Teilwerte unterteilt, die wiederum in noch kleinere Werte zerlegt wurden. So schrieb der gelehrte Jesuit Athanasius Kircher 1650: Maxima dormit, longa recubat, brevis sedet, semibrevis deambulat, minima ambulat, semiminima currit, chroma volat, semichroma evanescit. (Die Maxima schläft, die Longa ruht, die Brevis sitzt, die Semibrevis wandelt, die Minima geht, die Semiminima eilt, das Chroma fliegt, das Semichroma entschwebt).16 Von der Schriftform her entspricht die Minima der heutigen Halben, die Semiminima dem Viertel und das Chroma dem Achtel. Das Ergebnis des anderen Weges ist das System der Brevisunterteilungen (divisiones), die in der ältesten Quelle der Trecentomusik, dem wohl um 1350 entstandenen Codex Rossi (I-Rvat, 215), mit Buchstaben bezeichnet werden: Die eine Reihe geht vom tempus perfectum aus: .t. ternaria, tempus perfectum minimum: eine Brevis wird in 3 Semibreven unterteilt. .sy. senaria perfecta (senaria ytalica): Jede der 3 Semibreven wird in 2 Minimen unterteilt. .n. novenaria: Jede der 3 Semibreven wird in 3 Minimen unterteilt. .d. duodenaria: Jede der 3 Semibreven wird in 4 Minimen unterteilt. Die andere Reihe geht vom tempus imperfectum aus (die einfache Zweiteilung der Brevis kommt nicht vor): .q. quaternaria: Jede der 2 Semibreven wird in 2 Minimen unterteilt. .sg. senaria imperfecta (senaria gallica): Jede der 2 Semibreven wird in 3 Minimen unterteilt. .o. octonaria: Jede der 2 Semibreven wird in 4 Minimen unterteilt. Die Übereinstimmungen mit dem französischen System sind klar: .n. novenaria = tempus perfectum cum prolatione maiore .sy. senaria ytalica = tempus perfectum cum prolatione minore .sg. senaria gallica = tempus imperfectum cum prolatione maiore .q. quaternaria = tempus imperfectum cum prolatione minore ____________ 15 16
Ebd., S. 25f. Athanasius Kircher, Musurgia universalis, Rom 1650 (Nachdruck Hildesheim 1970), S. 217.
Musik des 14. Jahrhunderts
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Keine Äquivalente gibt es zur octonaria und duodenaria. Das führt dazu, dass in Quellen, in denen italienische Musik in französischer Notation aufgezeichnet wird, bei diesen beiden Divisionen die Longa anstelle der Brevis zur Basis genommen wird (modus perfectus bzw. modus imperfectus jeweils cum tempore imperfecto et prolatione minore). Die folgende Konzentration allein auf die Aufzeichnungen und zwei profilierte Editionen der Werke von Guillaume de Machaut und Francesco Landini bedeutet einerseits angesichts der Breite und Vielfalt der musikalischen Überlieferung aus dem 14. Jahrhundert eine geradezu unzulässige Einengung des Blicks, die zudem noch als Teil einer hier keineswegs beabsichtigten „HeldenGeschichtsschreibung“ missverstanden werden kann.17 Andererseits ermöglicht sie aber auf Grund der ausreichenden und leicht zugänglichen Abbildungen der bei beiden Komponisten sehr guten Quellen ein einfaches Eindringen in die durch die Notation gegebenen Probleme. Dabei werden vor allem Chansons als Beispiele beigezogen, weil sie als Ganzes überblickt werden können. Der Blick bleibt dabei auf Notations- und Editionsfragen gerichtet; übergreifende Deutungen und eine Diskussion der bei beiden Komponisten umfangreichen und gewichtigen Literatur werden nicht geboten. Guillaume de Machaut, durch dessen Schaffen die mehrstimmige Chanson wesentlich den Rang einer anspruchsvollen Komposition erhielt, verdeutlicht im Livre du Voir Dit, dass das Komponieren von Musik eine schriftliche, vom Musizieren und prüfenden Anhören der geschaffenen Komposition getrennte Arbeit ist: j’ay fait le rondel ou vostre nom est, et le vous eüsse envoié par ce messaigne: mais par m’ame je ne l’oy onques et n’ay mie acoustumé de bailler chose que ja face, tant que je l’aye oy.18 Der entscheidende Überlieferungsträger der gesungenen Dichtung ist die kontrollierte Aufzeichnung; er habe ein Buch, in das er alle seine Werke eintrage: Livre ou je met toutes mes choses.19 Die erhaltenen zentralen, auch buchkünstlerisch bemerkenswerten MachautQuellen aus dem 14. Jahrhundert sind mehr oder weniger direkte Abschriften ____________ 17
18
19
Zur Musik des 14. Jahrhunderts vgl. Dorothea Baumann, Musik im Trecento, in: Die Musik von den Anfängen bis zum Barock (= Die Geschichte der Musik, hrsg. von Matthias Brzoska und Michael Heinemann, Bd. 1), Laaber 2001, S. 148–175 und Karl Kügle, Ars nova und die französische Musik des 14. Jahrhunderts, in: ebd., S. 117–147. Zitiert nach Friedrich Ludwig (Hrsg.), Guillaume de Machaut. Musikalische Werke, Bd. 2: Einleitung zu 1. Balladen, Rondeaux und Virelais, 2. Motetten, 3. Messe und Lais (= Publikationen älterer Musik, Bd. III, 1), Leipzig 1928, S. 56*; vgl. dazu Sarah Jane Williams, An Author’s Role in Fourteenth Century Book Production: Guillaume de Machaut’s “Livre ou je met toutes mes choses”, in: Romania 90 (1969), S. 433–454 und Andreas Traub, Guillaume de Machaut und Oswald von Wolkenstein, in: Literatur und Sprache in Tirol, hrsg. von Michael Gebhardt und Max Siller, Innsbruck 1996, S. 173–180. Zitiert nach Ludwig, Machaut Werke, Bd. 2: Einleitung (wie Anm. 18), S. 56*.
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aus diesem Buch.20 Es sind die Handschriften Vg (US-NYw), A (F-Pn, 1584), B (F-Pn, 1585), C (F-Pn, 1586), E (F-Pn, 9221) und F-G (F-Pn, 22545– 22546). In A steht der Vermerk: Vesci l’ordenance que G. de Machaut wet qu’il ait en son livre, und E aus dem Besitz des mit Machaut persönlich bekannten Herzogs von Berry überliefert zu sieben Chansonsätzen eine Zusatzstimme. Im Prolog zu seinem Gesamtwerk berichtet Machaut, die Dame Nature habe ihn verpflichtet, novveaux dis zum Ruhm von Amour zu verfassen.21 So beginnt die erste Chanson mit dem Wort S’Amours und einer Melodie von drei Longen des modus minor und tempus imperfectum mit prolatio maior (Gesamtwert 36) und die erste Motette mit den Worten Amour et biaute und einer Melodie von drei Longen des modus maior und tempus perfectum mit prolatio maior (Gesamtwert 81, der größte Wert im System). Zweifellos sind die Stellen inhaltlich und strukturell aufeinander bezogen. Machauts Insistieren auf der Schriftlichkeit des Komponierens und der Überlieferung des Komponierten steht zeichenhaft die Blindheit Francesco Landinis gegenüber. Er konnte, so legt der Bericht nahe, gar nicht zuerst konzipieren und schreiben und dann in einem zweiten Akt musizieren, sondern musizierte unmittelbar aus der inneren Konzeption heraus. So ist wohl der Bericht in Giovanni da Pratos Paradiso degl’ Alberti zu verstehen, der idealtypisch dem Prolog Machauts und dem Livre du Voir Dit gegenübergestellt werden kann.22 Der „am Schreibtisch komponierende“ Machaut und der „wunderbar auf dem Organetto musizierende“ Landini sind fraglos Klischees, hinter denen sich die beiden wesentlichen Seiten des musikalischen Phänomens, die bleibende Struktur und das augenblickliche Erklingen, verbergen. Landinis Kompositionen bedürfen jedoch genau so wie die Machauts der eindeutig schriftlich fixierten Überlieferung. Nur ist diese anders begründet. Sie kann, wenn man die körperliche Behinderung des Komponisten ernst nimmt, gar nicht auf eine einzige, persönlich verantwortete Quelle zurückgehen, sondern wird durch das hohe Ansehen gestützt, das der Komponist in der gebildeten Gesellschaft seiner Zeit genossen hat. Die wichtigsten Quellen für seine Musik entstanden etwa 1380–1420.23 Es sind vor allem der Codex Squarcialupi (I-Fl 87) mit 146 Stücken und der Codex Panciatichi (I-Fn 26) mit 86 Stücken. ____________ 20
21 22 23
Vgl. François Avril, Buchmalerei am Hofe Frankreichs 1310–1380, München 1978, S. 84–91 und S. 96–99, sowie ders., Les manuscrits enluminés de Guillaume de Machaut, in: Guillaume de Machaut. Poète et compositeur (= Actes et colloques, Bd. 23), Paris 1982, S. 117–133. Vgl. Avril, Buchmalerei (wie Anm. 20), Abb. 29. Vgl. Leonard Ellinwood, The Works of Francesco Landini, Cambridge 1939, 21945 (Nachdruck New York 1970), S. XV. Vgl. Dorothea Baumann, Art. Trecento und Trecentohandschriften, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Sachteil, Bd. 9, Kassel [u. a.] 1998, Sp. 769–791, hier: Sp. 782–787.
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Ihnen sind die Codices Pit (F-Pn 568) mit 61 Stücken, Lo (GB-Lbl 29987) und Reina (F-Pn 6771) mit 29 Stücken anzureihen. Der um 1380–1390 geschriebene Codex Panciatichi, der auch fünf Chansons von Machaut enthält, wird mit den Kompositionen Landinis eröffnet, und zwar in der Reihenfolge zweistimmige Balladen, dreistimmige Balladen, Madrigale und Caccien.24 Die Sammlung beginnt mit der Ballade Donna si t’ò fallito (fol. 1r). In dem durch seinen buchkünstlerischen Rang ausgezeichneten, um 1410–1415 im Kloster Santa Maria degli Angeli in Florenz geschriebenen Codex Squarcialupi steht das Werk Landinis, das hier mit den Madrigalen beginnt, an zehnter Stelle, da in dieser Handschrift das Trecento-Repertoire seiner Entstehungszeit nach geordnet wird. Das Werk Landinis wird mit dem inhaltlich gewichtigen dreistimmigen Tripel-Madrigal Musica son / Già furon / Ciascun vuol und der Porträtminiatur des Komponisten eröffnet (fol. 121v).25 Zum Werk von Machaut werden die Gesamtausgaben von Friedrich Ludwig und Leo Schrade herangezogen, zum Werk Landinis die Gesamtausgaben von Leonard Ellinwood und wiederum Leo Schrade.26 Friedrich Ludwig fasst im ersten Band seiner Machaut-Ausgabe die Chansons zusammen, 40 Balladen und die Trauerballade von Deschamps und Andrieu auf den Tod von Machaut, 21 Rondeaus, 38 Virelais und die sieben Kompositionen aus Remede de Fortune. Der zweite Band enthält eine Einführung in die gesamte Edition mit der die eindringliche Autopsie demonstrierenden Quellenbeschreibung, der Begründung der Editionsprinzipien und ausführlichen Konkordanzen zu jeder einzelnen Komposition, die mehrere Zitate aus dem Livre du Voir Dit einschliessen. Der dritte Band enthält die 23 Motetten und der vierte, posthum von Heinrich Besseler herausgegebene Band die Messe, den Hoquetus David und die 24 Lais. Jeder einzelnen Edition ist der Quellennachweis voran- und ein Kritischer Bericht nachgestellt. Bei den Motetten, der Messe und dem Hoquetus bietet Ludwig im Kritischen Bericht die originale Tenornotierung und wenn möglich auch eine Choralquelle. In der Einführung ____________ 24 25 26
Vgl. F. Alberto Gallo, Il Codice Musicale Panciatichi 26 della Biblioteca Nazionale di Firenze (Faksimile), Florenz 1981. Vgl. F. Alberto Gallo, Il Codice Squarcialupi (Faksimilie), Florenz 1992. Friedrich Ludwig, Guillaume de Machaut. Musikalische Werke, Bd. 1: Balladen, Rondeaux und Virelais (= Publikationen älterer Musik, Bd. I, 1), Leipzig 1926; Bd. 2: Einleitung (wie Anm. 18); Bd. 3: Motetten (= Publikationen älterer Musik, Bd. IV, 2), Leipzig 1929; Bd. 4: Messe und Lais, aus dem Nachlass Friedrich Ludwigs hrsg. von Heinrich Besseler, Leipzig 1943 (vernichtet), 1954 (Wiederabdruck); Leo Schrade, The Works of Guillaume de Machaut (= Polyphonic Music of the Fourteenth Century, Bd. 2–3), Monaco 1956, 21977; dazu separat: Commentary Notes (1956); Ellinwood, The Works of Landini (wie Anm. 22); Leo Schrade, The Works of Francesco Landini (= Polyphonic Music of the Fourteenth Century, Bd. 4), Monaco 1958, 21982 (mit neuer Einleitung von Kurt von Fischer); dazu separat: Commentary Notes (1958).
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begründet er, warum er Vg als Hauptquelle der Edition zugrunde legt. Leo Schrade reiht in seiner Edition Lais, Motetten, Messe, Hoquetus und Chansons aneinander, wobei die Verteilung auf die Bände II und III der Reihe Polyphonic Music of the Fourteenth Century offenkundig rein äußere Gründe hat. Getrennt von der Notenedition wurden die umfangreichen Commentary Notes veröffentlicht, in denen Schrade seine Editionsprinzipien in Abgrenzung zu denen Ludwigs erläutert. Auch die Basis ist eine andere, denn Schrade wählt A als Leithandschrift. Die Editionen unterscheiden sich zunächst durch die Art der Schlüsselung. Ludwig verwendet C-Schlüssel, wobei er aus deren unterschiedlichen Positionen in den Quellen, die er in der Einleitung tabellarisch dokumentiert, jeweils eine angemessene Kombination auswählt. Er veranschaulicht damit den Tonraum jeder Stimme und das tonräumliche Verhältnis der Stimmen zueinander, fordert allerdings den Benutzer auf, sich in die „alten Schlüssel“ und ihren Bedeutungshorizont einzulesen. Schrade verwendet moderne Schlüssel und nimmt für die leichtere Lesbarkeit die unvermeidlichen Verzerrungen des Satzbildes in Kauf: Violin- und Bassschlüssel können geradezu absurde Distanzen suggerieren (etwa d–h2 statt d–h1 im Rondeau Cinc, un, treze), Violinund transponierender Violinschlüssel satztechnische Vertauschungen (etwa e1– a1 statt a–e1 zu Beginn der Ballade S’Amours ne fait). Andererseits unterlässt es Ludwig im Gegensatz zu Schrade, die Ligaturen in der Quelle mit eckigen Klammern anzugeben. Dies bedeutet einen Verlust an unmittelbarer Einsicht, da Ligaturen keine leere Schreibgewohnheit sind, sondern oft strukturelle Zusammenhänge verdeutlichen. Beide Herausgeber verwenden das Achtel zur Wiedergabe der Minima. Die prolatio maior erscheint bei Ludwig als Triolierung, bei Schrade als 3/8-Gruppe; so entstehen bei Ludwig lästige Triolenangaben und bei Schrade mehrfache Punktierungen bei den größeren Werten, die aber stellenweise stillschweigend vereinfacht werden. Unterschiedlich ist das Verfahren der Abteilung von „Takten“; Ludwig grenzt dort größere Einheiten (Longen) ab, wo ihm „aus der Komposition ein modus imperfectus oder modus perfectus herauszutönen schien […]. Wer der Ansicht ist, daß damit zu viel Subjektives in die Übertragung hineingelegt wird, möge bei tempusTakten bleiben“.27 Dieser Hinweis auf die unhintergehbare Subjektivität des Editors ist über die Einzelfrage hinaus gewichtig. Den „reinen“ Machaut wird es bei einem Editionsverfahren ebenso wenig geben wie den „reinen“ Landini; keine Musik kann ohne die vergegenwärtigende Kraft dessen, der sich ihr zuwendet, existieren. Schrade notiert tempus-Takte (Breven). Die Abteilungen führen zum Problem der „Taktangaben“. Ludwig verwendet sie im ersten ____________ 27
Ludwig, Machaut Werke, Bd. 2: Einleitung (wie Anm. 18), S. 46*.
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Band, nicht aber im dritten (Motetten); dort beschreibt er die mensuralrhythmischen Strukturen im Kommentar. Im vierten Band erscheinen die Taktangaben wieder, auch bei den Lais, obwohl in der Einstimmigkeit kein discantus gegeben ist. Schrade bietet auch bei den Motetten Taktangaben, mit denen er u. a. die übergeordneten Verhältnisse wiederzugeben sucht, so bei der ersten Motette (modus maior, tempus perfectum cum prolatione maiore) „(3×) 9/8“. In den Chansons können kleinteilige Wechsel der Mensurierungen vorkommen, etwa die Dehnung einer zweizeitigen Einheit auf drei Zeiten. Dies tritt in den Übertragungen als „Taktwechsel“ zutage, darf aber sachlich nicht mit einem solchen verwechselt werden. Zudem muss man prüfen, wie die Veränderungen jeweils zustande kommen und ob es alternative Notierungen gibt. Noch ein Detail: Für die Klangvorstellung Ludwigs ist bezeichnend, dass er bei Tonwiederholungen an den Grenzen mensuraler Einheiten (Semibreven, Breven) durch punktierte Bögen Überbindungen vorschlägt. Offenkundig wünscht er die rhythmische Struktur eher zu verschleiern als zu artikulieren. Die Ballade Nr. 4, Biaute qui toutes autres pere, wird in Vg, A, G und C zweistimmig überliefert; in E hat sie einen zusätzlichen Contratenor (vgl. Abb. 1 auf S. 34).28 Ludwig und Schrade bieten die dreistimmige Fassung, wobei Ludwig den Contratenor im Druckbild absetzt. Das Stück steht im tempus perfectum, der Tenor wechselt aber an drei Stellen ins tempus imperfectum, so dass zwischen den Stimmen die den Tonsatz bestimmenden Proportionen 3 : 2 bzw. 9 : 6 auftreten, indem die Gleichgewichtigkeit (aequipollentia) von 3 × 2 zu 2 × 3 bzw. 9 × 2 zu 6 × 3 demonstriert wird. Im ersten, acht Longen und Schlusslonga umfassenden Teil setzt dieses Kunstmittel in der Mitte, mit der fünften Longa und zugleich dem Beginn des melismatischen Versschlusses (e)strange / (lo)ange ein; im zweiten Teil bezeichnet es den Einsatz des zweiten Verses und die Stelle, von der an der melodische Verlauf bis zum Schluss übereinstimmt. In Vg, A, G und C wird die Proportion durch Kolorierung angegeben, in E durch Mensurangabe. In der Edition Ludwigs, der Longen abteilt, tritt sie nicht offen in Erscheinung; bei Schrade dagegen sind Breven abgegrenzt, und so entsteht im Tenor ein Taktwechsel. In ähnlicher Weise richtet Machaut im ersten Teil des von Eustache Deschamps genannten Rondeau Nr. 8, Vos doulz resgars, zwischen dem Cantus und dem Tenor, an den hier der Contratenor gekoppelt ist, das Verhältnis „2 × 3 zu 3 × 2“ auf der Longa-Ebene ein.29 Im Cantus reiht er dreimal die Figur a aneinan____________ 28
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Vgl. Ludwig, Machaut Werke, Bd. 1: Balladen (wie Anm. 26), S. 4; Schrade, The Works of Machaut (wie Anm. 26), Bd. 3, S. 74f.; Willi Apel, Die Notation der polyphonen Musik, Wiesbaden 1989, S. 404 nach E. Vgl. Ludwig, Machaut Werke, Bd. 1: Balladen (wie Anm. 26), S. 57; Schrade, The Works of Machaut (wie Anm. 26), Bd. 3, S. 148f.
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Abb. 1: Machaut, Ballade Biaute qui toutes autres pere (Anfang) nach Handschrift E (F-Pn 9221).
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Abb. 2: Machaut, Ballade Doulz amis, nach Handschrift A (F-Pn 1584).
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der, im Tenor dreimal die Figur b (vgl. Notenbeispiel 1). Die abschließenden Longen dieser Figuren sollen zusammentreffen; deshalb muss die Figur im Tenor um eine Brevis früher beginnen. Bei Schrade verschwindet die Doppelschichtigkeit hinter den Überbindungen im Cantus, und man kann den 2/4-„Takt“ 6 nur dann verstehen, wenn man vom strukturellen Übergewicht des Cantus gegenüber dem Tenor ausgeht. Ludwig gibt den komplexen Sachverhalt klar erkennbar wieder. a
b Notenbeispiel 1
In der durch die Wiederholung ihres zweiten Teils formal bemerkenswerten Ballade Nr. 6, Doulz amis (vgl. Abb. 2 auf S. 35), verwendet Machaut im ersten Teil drei und im zweiten Teil zwei siebensilbige Verse; zweiter und vierter Vers werden durch Binnenreim in 4 + 3 Silben gegliedert.30 Für den ersten Vers stellt Machaut ein auf den zweiten modus der Modalrhythmik zurückzuführendes Deklamationsmodell auf, das er auch in den Balladen Nr. 11 und Nr. 19 verwendet (vgl. Notenbeispiel 2). Der zweite Vers wird von Ludwig und Schrade gegensätzlich gedeutet. Ludwig behält das Deklamationsmodell bei und nimmt dabei in Kauf, dass die Reimsilben nicht auf den Schlusston der Melodie, sondern auf das letzte Glied der zu ihm führenden Bewegung fallen. Schrade verbindet Reimsilben und Schlusstöne und erhält dadurch eine Dehnung der vorhergehenden Position des Modells, zuerst von einer Brevis auf eine Longa, dann von einer zwei- zu einer dreizeitigen Longa. Willi Apel, um einen dritten Vorschlag zu nennen, möchte die Longa am Schluss des ersten Verses zweizeitig lesen, verzichtet aber damit auf die gleichklingende Artikulation der Versanfänge.
1
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3
4
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6
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Notenbeispiel 2 ____________ 30
Vgl. Ludwig, Machaut Werke, Bd. 1: Balladen (wie Anm. 26), S. 5f.; Schrade, The Works of Machaut (wie Anm. 26), Bd. 3, S. 77f.; Apel, Die Notation (wie Anm. 28), S. 402 nach A.
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Abb. 3: Machaut, Ballade De petit po, nach Codex Panchiatici (I-Fn 26).
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Bei der Ballade Nr. 18, De petit po (vgl. Abb. 3 auf S. 37), stellt sich zunächst das Problem der Überlieferung.31 In den Machaut-Handschriften Vg, A, G, C und E steht ein dreistimmiger Satz mit Cantus, Tenor und Triplum, in entfernteren Quellen wie dem Codex Panciatichi oder dem Codex Chantilly (F-CH 564) ein dreistimmiger Satz mit Cantus, Tenor und Contratenor. Ludwig und Schrade unterlegen den Satz der Machaut-Handschriften mit dem Contratenor, Ludwig abgesetzt, Schrade nicht. Erstaunlicherweise bezeichnet Schrade zudem im Kommentar den Tonsatz als vierstimmig, obwohl nur eine Quelle alle vier Stimmen zusammen überliefert: der um 1360–1370 wohl in Cambrai entstandene, fragmentarisch erhaltene Codex CaB (F-CA 1328), in dem auch das Rondeau Nr. 7, Se vous n’estes, singulär in einer vierstimmigen Fassung enthalten ist. Die beiden dreistimmigen Tonsätze von De petit po bieten zudem interessante Fragestellungen zum Problem der Musica ficta, der akzidentellen Veränderung einzelner Tonstufen, denn bei aller editorischen Sorgfalt bleibt die modale Fixierung des Tonsatzes in der Schwebe. Das Stück steht in C, und eindeutig überliefert ist am Ende des ersten Teils die ouvert-Kadenz nach D-mi und die clos-Kadenz nach C-re. Die Kadenz am Ende des ersten Verses (volente) führt dagegen notwendig und auch ohne die vorhergehende Alteration zu cis1 im Triplum nach C-ut. Wie die C-Kadenzen im zweiten Teil nach dem ersten Vers (avoir) und bei der Zäsur im dritten Vers (ne puet) zu bestimmen sind, bleibt ungewiss. Die Schlusskadenz möchte man auf Grund der Übereinstimmung mit dem clos des ersten Teils als C-re festlegen. Die einzelnen Quellen bieten verschiedene, teils gegensätzliche Akzidentien. Ludwig versucht, die Situation durch abgestufte Wiedergabe (Akzidentien über dem System notiert, mit Fragezeichen, mit Anführungsstrichen, in eckigen Klammern, mit Anführungszeichen in eckigen Klammern, dazu Hinweise im Kritischen Bericht) wiederzugeben. Das Ergebnis kann nur in gutem Sinn irritieren; zieht man alle Möglichkeiten in Betracht, so hat man einen der faszinierendsten Tonsätze des 14. Jahrhunderts vor sich. Leonard Ellinwood beginnt seine Landini-Edition, die den Zweck hat, das Werk des Komponisten überhaupt greifbar zu machen, mit einer Einleitung, in der die wichtigsten Fragen zur Musik, ihrer Überlieferung und ihrer Eigenart knapp dargestellt werden. Der Vergleich der hier gebotenen Beschreibungen der Codices Panciatichi und Pit (F-Pn 568) mit derjenigen Ludwigs im zweiten Band der Machaut-Edition, den Ellinwood bei den Literaturangaben nennt, zeigt die unterschiedliche Zielrichtung beider Editionen. Damit sei Ellinwoods ____________ 31
Vgl. Ludwig, Machaut Werke, Bd. 1: Balladen (wie Anm. 26), S. 18f.; Schrade, The Works of Machaut (wie Anm. 26), Bd. 3, S. 90f.; Gallo, Il Codice Musicale Panciatichi (wie Anm. 24), S. 24 und Abb. von fol. 100r.
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Arbeit jedoch keineswegs herabgewürdigt, es fiel Leo Schrade jedoch nicht schwer, das wissenschaftliche Gewicht seiner Edition gegenüber Ellinwood hervorzuheben. Bedenklich stimmt allerdings folgende Feststellung: Too much credence must not be placed upon individual progressions of an unusual nature in those compositions appearing in only one manuscript. As will be noted by a comparison of many of the variants given in connection with works appearing in several manuscripts, there are enough variants which are obvious errors on the part of the copyist to make extremely careful in accepting any unusual melodic or harmonic progression as the true intention of the composer. 32
Unbestreitbar gibt es Überlieferungsfehler; es dürfte aber nicht angehen, unter Berufung auf „usual“ und „unusual“ einen „Normaltext“ herzustellen. Gerade in problematischen Überlieferungsfällen gilt es, auch im „Fehler“ den möglichen Gegensinn festzuhalten. Im Schriftbild unterscheiden sich die Editionen von Ellinwood und Schrade durch die Angabe der Oktavlagen und der Tondauern. Schrade verwendet wie in der Machaut-Edition Violinschlüssel, transponierenden Violinschlüssel und Bassschlüssel, so dass die oben erwähnten Probleme auch hier auftreten. Ellinwood überträgt dagegen die Stufen des mittelalterlichen Tonsystems direkt in die moderne Notation, indem er das Gamma mit G und die Positionen des F- und C-Schlüssels mit f und c1 gleichsetzt. So bleibt der reale Stimmenabstand gewahrt; dass die Intonation aber von der Fixierung des Kammertons unabhängig ist, muss man bewusst halten. Sonst müsste man annehmen, dass die jungen Mädchen, die in der im Paradiso degl’ Alberti geschilderten Szene Orsu, gentili spiriti singen, über eine tiefe Altstimme mit dem Umfang g–a1 verfügt hätten.33 Ellinwood verkürzt die Notenwerte einmal und gibt die Minima mit dem Viertel wieder. Schrade verwendet demgegenüber das Sechzehntel, so dass die melodischen Linien durch Balkung strukturiert werden. Die Balkung gibt zwar die jeweilige divisio korrekt wieder, verleiht dem Notenbild aber einen instrumental-virtuosen Charakter. Dies fällt auch im Vergleich mit Schrades Machaut-Edition auf. Ellinwood ordnet Madrigale und Ballate nach Stimmenzahl und dann alphabetisch nach dem Textbeginn. Wie in Ludwigs Machaut-Edition steht über jeder einzelnen Komposition die Angabe der Quellen, dabei der Codex Squarcialupi an erster Stelle, und es folgt ein Kritischer Bericht in Form von Fußnoten. Für Schrade hat der Codex Panciatichi den Rang der Hauptquelle, an der er seine Edition orientiert; die Commentary Notes sind auch hier separat veröffentlicht. ____________ 32 33
Ellinwood, The Works of Landini (wie Anm. 22), S. XLIII. Ebd., S. 138f.
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Abb. 4: Landini, Ballata Donna s’i t’a fallito, nach Codex Panchiatici (I-Fn 26).
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Die unterschiedlichen Editionsprinzipien werden an Donna, s’i t’o fallito, der ersten Ballata im Codex Panciatichi und somit in Schrades Edition deutlich (vgl. Abb. 4 auf S. 40).34 Dass zu Beginn des zweiten Verses, O d’altr’amor che’l tuo seguir consento, der Cantus unter dem Tenor liegt, führt bei Ellinwood zu einer misslichen Anhäufung von Hilfslinien und fällt bei Schrade nicht ins Auge. Die Versschlüsse bei fallito und fede erscheinen in beiden Editionen als zweizeitige Longa mit folgender Brevispause. Ellinwood gibt immerhin am Ort den Hinweis: „As so often happens at phrase endings, the relative values of note and rest here vary between both parts and in each MS.“ In Schrades Hauptquelle steht bei fallito im Cantus eine Longa und im Tenor eine Brevis; es folgt jeweils eine dreizeitige Longapause, wodurch die Longa im Cantus als dreizeitig ausgewiesen und der Verdacht geweckt wird, im Tenor könne der Note die Cauda fehlen, die sie ebenfalls zur Longa machen würde. Bei fede steht in beiden Stimmen eine Brevis mit folgender Brevispause. So entsteht die Vermutung, dass die Zäsuren zumindest in dieser Handschrift ungleich gemeint sind. Problematisch ist die Stelle sempre’l tuo volere. Schrade bietet bei tuo vo- im Tenor f–g, obwohl in der Handschrift eindeutig a–a steht. Vor der folgenden dreitönigen Ligatur steht auf der zweitobersten Linie ein Kreuz, das auf ein cis1 hinweist. So ediert Ellinwood; Schrade bietet stattdessen zuvor h. Auch in der Position des folgenden Kreuzes vor fis weicht Schrade von seiner Leithandschrift ab. Ohne den Griff zu den Commentary Notes bemerkt der Benutzer nicht, dass er vom Codex Panciatichi weggeführt wird. Interessante Editionsprobleme ergeben sich bei der Ballata Nessun ponga speranca (vgl. Abb. 5 auf S. 42).35 Die Semibrevis von drei Minimen wechselt mehrfach in eine Semibrevis von zwei Minimen, was auf der Ebene der Brevis den Umschlag von der senaria imperfecta zur senaria perfecta oder zur quaternaria bewirkt. In den Handschriften werden dabei sowohl hohle („weiße“) Breven und Semibreven wie schwarze Semibreven mit Cauden nach oben und unten verwendet. Das zweite Verfahren zur Kennzeichnung der zweizeitigen Messung geht auf Marchettus von Padua zurück.36 Die Edition Schrades ist derjenigen Ellinwoods dadurch überlegen, dass er die drei divisiones durch die Vorzeichnung von 6/8, 3/4 und 2/4 verdeutlicht, während dort senaria imperfecta und senaria perfecta gleicherweise als 6/4 erscheinen. Schrade reduziert ____________ 34 35
36
Vgl. ebd., S. 81f.; Schrade, The Works of Landini (wie Anm. 26), S. 1; Gallo, Il Codice Musicale Panciatichi (wie Anm. 24), S. 13 und Abb. von fol. 1r. Vgl. Ellinwood, The Works of Landini (wie Anm. 22), S. 249–251; Schrade, The Works of Landini (wie Anm. 27), S. 174f.; Gallo, Il Codice Musicale Panciatichi (wie Anm. 24), S. 18 und Abb. von fol. 40r; ders., Il Codice Squarcialupi (wie Anm. 25), Abb. von fol. 162v. Vgl. Gallo, Die Notationslehre (wie Anm. 1), S. 310f.
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Abb. 5: Landini, Ballata Nessun ponga, nach Codex Panchiatici (I-Fn 26).
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jedoch die Brevis-(= Ganztakt-)Pause nach dem zweiten Vers auf ein Komma, über dessen Gewicht man im Kommentar Auskunft einholen muss. An zwei Beispielen, deren zweites jedenfalls andeutend den bisherigen engen Blickwinkel weitet, sei abschließend gezeigt, wie man im 14. Jahrhundert durch die Aufzeichnungsweise der Musik inhaltliche Dimensionen abbildete. Das Rondeau Nr. 14 von Machaut hat den Refrain: Ma fin est mon commencement | et mon commencement ma fin (vgl. Abb. 6 auf S. 44).37 Die Aufzeichnung (im Codex G) zeigt zwei Stimmen, von denen die untere mit „Contratenor“ bezeichnet ist. Man erkennt zwei mit Notation gefüllte Systeme und ein drittes, das bis auf den C5-Schlüssel leer geblieben, aber zweimal mit der Schlusssilbe -or markiert ist. Die Stimme beginnt mit einer Longa c und schließt mit einer Longa d. Die obere Stimme umfasst sieben Systeme. Die Notenaufzeichnung ist korrekt von oben nach unten zu lesen; die Melodie beginnt und schließt mit einer Longa c1. Der Text steht jedoch „auf dem Kopf“ und befindet sich, wenn man das Blatt umdreht, über den Noten. Es handelt sich um einen dreistimmigen Satz, bei dem die Oberstimmen als Krebskanon angelegt sind. Im vierten System erkennt man eine Longa h, einen Strich und eine Longa d1. Hier ist von beiden Seiten aus die Mitte erreicht, und zur Terz h/d1 passt das d des Contratenors. Der Musiker muss von da an die Stimme „zurückmusizieren“, so dass am Schluss wie am Anfang die Oktave c/c1 erklingt: Ma fin est mon commencement. Die gegenläufige musikalische Bewegung wird weitgehend durch symmetrische rhythmische Strukturen fundiert: 2. bis 4. Note sind in der Melodiestimme Semibrevis-Brevis-Semibrevis und im Contratenor Minima-Semibrevis-Minima. Die Editionen des Stücks von Ludwig und Schrade stimmen überein. Noch bildhafter ist die Aufzeichnung der Chanson La harpe de mellodie von Jacques Senleches, die einzige Musikaufzeichnung in einer Theoretikerhandschrift des späten 14. Jahrhunderts (vgl. Abb. 7 auf S. 45).38 Abgebildet ist eine 25-saitige Harfe, wie sie von Machaut in Le Dit de Harps beschrieben wird – De XXV cordes que la harpe a –,39 und auf die Saiten als einzige Tonortangaben ist die Notation ausgerichtet; die Spatien werden nicht berücksichtigt. Mit der Abbildung der erklingenden Saiten berührt sich diese Aufzeichnung übrigens mit einigen der ältesten Musikaufzeichnungen des Mittelalters, mit der cythara VI cordarum bei Hucbald von Saint Amand und den de____________ 37 38
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Vgl. Ludwig, Machaut Werke, Bd. 1: Balladen (wie Anm. 26), S. 63f.; Schrade, The Works of Machaut (wie Anm. 26), Bd. 3, S. 156f. Quelle: Chicago, Newsberry Library, Ms. 14, 1, fol. 10r; vgl. dazu: Kurt von Fischer, Eine wiederaufgefundene Theoretikerhandschrift des späten 14. Jahrhunderts, in: Schweizer Beiträge zur Musikwissenschaft 3 (1972), S. 23–33. Zitiert nach ebd., S. 31.
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Abb. 6: Machaut, Rondeau Ma fin est mon commencement, nach Handschrift G (F-Pn 22546).
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Abb. 7: Senleches, Chanson La harpe de mellodie, nach der Theoretikerhandschrift (US-Cn Ms. 54,1).
scriptiones in der Musica enchiriadis.40 Bei La harpe de mellodie erkennt man eine dreizeilige texttragende Melodie, aus der durch Anweisungen ein Kanon entsteht, und einen Tenor. Der Tonsatz ist wie beim Rondeau von Machaut dreistimmig. Eine Übertragung, die auf der zweiten, leicht abweichenden Überlieferung der Komposition im Codex Chantilly basiert, zeigt, dass die rhythmische Differenzierung der Oberstimmen auf der Basis des im Tenor durchgehaltenen tempus imperfectum cum prolatione maiore an die Grenzen dessen führt, was die moderne Notation zu leisten vermag.41 Dabei sind die ____________ 40 41
Vgl. Bruno Stäblein, Schriftbild der einstimmigen Musik (= Musikgeschichte in Bildern, hrsg. von Heinrich Besseler und Max Schneider, Bd. 3, Lieferung 4), Leipzig 1975, S. 225. Quelle: Chantilly, Musée Condé Ms. 564, fol. 43v; vgl. dazu: Gordon K. Greene, French Secular Music: Manuscript Chantilly Musée Condé 564, Second part (= Polyphonic Music of the Fourteenth Century, hrsg. von Kurt von Fischer, Bd. 19), Monaco 1982, S. 56f.
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Komplikationen bei per plaisir doit und le gracioux deport aufs Schärfste berechnet und genau aufgezeichnet. Jacques Senleches erweist sich damit im Sinn der zitierten Formulierung von Johannes de Muris als laudabilis musicus et peritus, der den status Musicae fördert. Der Edition von La harpe de mellodie fehlt vor allem die bildliche Seite der Aufzeichnung. Sie ist aber keine Beiläufigkeit, sondern gehört – wie auch beim „musikalischen Herz“, der Chanson Belle bonne sage von Baude Cordier42 – zur Sache selber. Um diese Stücke als Ganzes zu erfassen, genügt es nicht, „nur“ zu hören und die rhythmischen Komplikationen zu erfassen; man muss auch sehen. Eine angemessene Edition dürfte auf einen Abbildungsteil und die Begründung seiner Notwendigkeit nicht verzichten.43 Man darf dies verallgemeinern; die Miniaturen der Machaut-Handschriften und des Codex Squarcialupi sind zur Erfahrung der Musik unabdingbar, genauso wie die Ahnung um kulturgeschichtliche Hintergründe. Ohne Darstellungen wie Johan Huizingas Herbst des Mittelalters oder Alain de Liberas Denken im Mittelalter (um nur zwei Extreme zu nennen) bleibt die Befassung mit der Musik jener Zeit vordergründig, zumal wenn sie sich auf Editionen stützt, seien diese auch noch so sorgfältig durchdacht.
Literaturverzeichnis Apel, Willi: Die Notation der polyphonen Musik, Wiesbaden 1989 Avril, François: Buchmalerei am Hofe Frankreichs 1310–1380, München 1978 Avril, François: Les manuscrits enluminés de Guillaume de Machaut, in: Guillaume de Machaut. Poète et compositeur (= Actes et colloques, Bd. 23), Paris 1982, S. 117–133 Baumann, Dorothea: Art. Trecento und Trecentohandschriften, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Sachteil, Bd. 9, Kassel [u. a.] 1998, Sp. 769–791 Baumann, Dorothea: Musik im Trecento, in: Die Musik von den Anfängen bis zum Barock (= Die Geschichte der Musik, hrsg. von Matthias Brzoska und Michael Heinemann, Bd. 1), Laaber 2001, S. 148–175 Berktold, Christian: Ars practica mensurabilis cantus secundum Iohannem de Muris, München 1999 Bockholdt, Rudolf: Semibrevis minima und Prolatio temporis. Zur Entstehung der Mensuraltheorie der Ars nova, in: Die Musikforschung 16 (1963), S. 3–21 Bockholdt, Rudolf: Französische und niederländische Musik des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Musikalische Edition im Wandel des historischen Bewußtseins, hrsg. von Thrasybulos Georgiades, Kassel 1971, S. 149–173 Ellinwood, Leonard: The Works of Francesco Landini, Cambridge 1939, 21945 (Nachdruck New York 1970) ____________ 42 43
Vgl. Apel, Die Notation (wie Anm. 28), S. 482. Vgl. Peter Ross, Grundlagen einer musikalischen Rezeptionsforschung, in: Rezeptionsforschung in der Musikwissenschaft, hrsg. von Helmut Rösing, Darmstadt 1983, S. 377–418, hier S. 393f.
Musik des 14. Jahrhunderts
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Fischer, Kurt von: Eine wiederaufgefundene Theoretikerhandschrift des späten 14. Jahrhunderts, in: Schweizer Beiträge zur Musikwissenschaft 3 (1972), S. 23–33 Gallo, F. Alberto: Il Codice Musicale Panciatichi 26 della Biblioteca Nazionale di Firenze (Faksimile), Florenz 1981 Gallo, F. Alberto: Die Notationslehre im 14. und 15. Jahrhundert, in: Die mittelalterliche Lehre von der Mehrstimmigkeit, hrsg. von Hans Heinrich Eggebrecht [u. a.] (= Geschichte der Musiktheorie, Bd. 5), Darmstadt 1984 Gallo, F. Alberto: Il Codice Squarcialupi (Faksimilie), Florenz 1992 Gerbert, Martin: Scriptores ecclesiastici de Musica sacra potissimum, St. Blasien 1784 (Nachdruck Hildesheim 1963) Greene, Gordon K.: French Secular Music: Manuscript Chantilly Musée Condé 564, Second part (= Polyphonic Music of the Fourteenth Century, hrsg. von Kurt von Fischer, Bd. 19), Monaco 1982 Huizinga, Johan: Herbst des Mittelalters, hrsg. von Kurt Köster, Stuttgart 1969 Kircher, Athanasius: Musurgia universalis, Rom 1650 (Nachdruck Hildesheim 1970) Kügle, Karl: England und die Musik des 14. Jahrhunderts, in: Die Musik von den Anfängen bis zum Barock (= Die Geschichte der Musik, hrsg. von Matthias Brzoska und Michael Heinemann, Bd. 1), Laaber 2001, S. 176–188 Kügle, Karl: Ars nova und die französische Musik des 14. Jahrhunderts, in: Die Musik von den Anfängen bis zum Barock (= Die Geschichte der Musik, hrsg. von Matthias Brzoska und Michael Heinemann, Bd. 1), Laaber 2001, S. 117–147 Libera, Alain de: Denken im Mittelalter, übersetzt von Andreas Knop, München 2003 Ludwig, Friedrich: Guillaume de Machaut. Musikalische Werke, Bd. 1: Balladen, Rondeaux und Virelais (= Publikationen älterer Musik, Bd. I, 1), Leipzig 1926; Bd. 2: Einleitung zu 1. Balladen, Rondeaux und Virelais, 2. Motetten, 3. Messe und Lais (= Publikationen älterer Musik, Bd. III, 1), Leipzig 1928; Bd. 3: Motetten (= Publikationen älterer Musik, Bd. IV, 2), Leipzig 1929; Bd. 4: Messe und Lais, aus dem Nachlass Friedrich Ludwigs hrsg. von Heinrich Besseler, Leipzig 1943 (vernichtet), 1954 (Wiederabdruck) Michels, Ulrich: Johannis de Muris Notitia Artis Musicae et Compendium Musicae practicae; Petrus de Sancto Dionysio Tractatus de Musica (= Corpus scriptorum de musica, Bd. 17), Dallas 1972 Reaney, Gilbert und André Gilles: Franconis de Colonia Ars cantus mensurabilis (= Corpus scriptorum de musica, Bd. 18), Dallas 1974 Rohloff, Ernst: Die Quellenhandschriften zum Musiktraktat des Johannes de Grocheio, Leipzig o. J. Ross, Peter: Grundlagen einer musikalischen Rezeptionsforschung, in: Rezeptionsforschung in der Musikwissenschaft, hrsg. von Helmut Rösing, Darmstadt 1983, S. 377–418 Schmid, Manfred Hermann: Zur Edition von Musik des 16. Jahrhunderts, in: Musik in BadenWürttemberg. Jahrbuch der Gesellschaft für Musikgeschichte in Baden-Württemberg 6 (1999), S. 185–208 Schrade, Leo: The Works of Guillaume de Machaut (= Polyphonic Music of the Fourteenth Century, Bd. 2–3), Monaco 1956, 21977; dazu separat: Commentary Notes (1956) Schrade, Leo: The Works of Francesco Landini (= Polyphonic Music of the Fourteenth Century, Bd. 4), Monaco 1958, 21982 (mit neuer Einleitung von Kurt von Fischer); dazu separat: Commentary Notes (1958) Stäblein, Bruno: Schriftbild der einstimmigen Musik (= Musikgeschichte in Bildern, hrsg. von Heinrich Besseler und Max Schneider, Bd. 3, Lieferung 4), Leipzig 1975 Traub, Andreas: Guillaume de Machaut und Oswald von Wolkenstein, in: Literatur und Sprache in Tirol, hrsg. von Michael Gebhardt und Max Siller, Innsbruck 1996, S. 173–180 Vecchi, Giuseppe: Marcheti de Padua Pomerium (= Corpus scriptorum de musica, Bd. 6), Dallas 1961 Williams, Sarah Jane: An Author’s Role in Fourteenth Century Book Production: Guillaume de Machaut’s “Livre ou je met toutes mes choses”, in: Romania 90 (1969), S. 433–454
Bernhold Schmid
„… immer noch wenige Werke von Lassus“: Zur Editionsgeschichte der Werke des Münchner Hofkapellmeisters Orlando di Lasso
Mit der Wiederentdeckung der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts im frühen 19. Jahrhundert und ihrer Proklamation als Stilideal für die Kirchenmusik setzt auch die Edition von Lassos Musik ein, wobei zunächst vorwiegend das geistliche Werk berücksichtigt wurde. So gab Friedrich Johann Rochlitz im ersten Teil seiner Sammlung vorzüglicher Gesangstücke der anerkannt grössten, zugleich für die Geschichte der Tonkunst wichtigsten […] Meister […] (3 Bände, Mainz 1835–1840) etliche Lasso-Sätze1 heraus. Weiter wären zu nennen Franz Xaver Löhle mit der Ausgabe der Missa Bell’Amfitritt LV 1146 und einiger anderer Sätze Lassos im 2. Band der Allgemeinen Anleitung zu einer Elementar-Musikschule, vorzüglich berechnet für den Gesang (München 1832) oder die elf Bände der Recueil des morceaux de musique ancienne (Paris 1843–1845), von denen die Bände 1, 2, 5 und 6 Motetten, Chansons und Fragmente aus den Bußpsalmen enthalten.2 Dabei handelt es sich um Sammelbände für liturgische oder pädagogische Zwecke bzw. um Beispielsammlungen zur Musikgeschichte, in denen Lasso keinesfalls herausgehoben behandelt wird. ____________ 1
2
Regina coeli laetare LV 1079, Salve regina LV 881, Angelus ad pastores ait LV 115, außerdem „Die Hauptstücke des 51ten Psalm“, wie Rochlitz das Miserere mei, Deus überschreibt. Es handelt sich dabei um Auszüge aus dem Quartus Psalmus poenitentialis LV 797: die Nummern 1–3, 11–13 und 17–22. (Hier und bei späteren Angaben von LV-Zahlen [LV = Lasso Verzeichnis] vgl. Horst Leuchtmann und Bernhold Schmid, Orlando di Lasso. Seine Werke in zeitgenössischen Drucken 1555–1687 (3 Bde.) (= Orlando di Lasso, Sämtliche Werke, Supplement), Kassel [u. a.] 2001, Register, unter dem Titel bzw. Textincipit dort auch die Fundstelle in der Gesamtausgabe und Quellenangaben. Die Drucke werden dort nach Jahr und laufender Nummer innerhalb des Jahres bezeichnet, z. B. 1555-1.) Die Leitung des Unternehmens hatte Joseph-Napoléon Ney, Prince de la Moskowa (1803– 1857); enthalten ist Musik von etwa 1500 bis hin zu Haydn und Gluck, ein Schwerpunkt liegt bei Palestrina. – Zur frühen Lasso-Edition vgl. den Überblick bei Wolfgang Boetticher, Orlando di Lasso und seine Zeit: 1532–1594. Repertoire-Untersuchungen zur Musik der Spätrenaissance, Bd. 1: Monographie, Kassel [u. a.] 1958, 21999, S. 17–19. Vgl. auch die zeitgenössische Auflistung bei Franz Commer, Selectio Modorum ab Orlando di Lasso compositorum, Bd. 1 (= Musica Sacra, Bd. 5), Berlin 1860, Einleitung S. 1, der auch Johann Gottfried Ferrenbergs Ausgaben der Messen Or sus à coup und Beatus qui intelligit (Köln: Heberle, 1851 und 1854) nennt.
Zur Editionsgeschichte der Werke Orlando di Lassos
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Die erste für den Münchner Hofkapellmeister wirklich bedeutende Ausgabe ist Siegfried Wilhelm Dehns Edition Psalmos VII poenitentiales modis musicis adaptavit Orlandus de Lassus (Berlin 1838). Der um 1560 als Auftragswerk Albrechts V. entstandene Bußpsalmenzyklus ist in einem von Hans Mielich aufwendig illuminierten, für die herzogliche Kunstkammer bestimmten zweibändigen Prachtkodex überliefert und wurde aufgrund eines herzoglichen Publikationsverbots erst 1584 bei Adam Berg gedruckt.3 Er brachte es auf eine Anzahl wichtiger historischer wie moderner Ausgaben und wurde somit bedeutend für die Editionsgeschichte der Werke Lassos: Septem psalmi poenitentiales Orlando di Lasso. In moderner Partitur redigiert von Hermann Bäuerle, Leipzig 1905. Der Herausgeber stützte sich auf die beiden Originalquellen, ferner auf Dehns Edition; dazu publizierte er einen kritischen Bericht (Leipzig 1906), in der Dehns Ausgabe kommentiert wurde.4 Folgende moderne Ausgaben liegen vor: Seven penitential psalms with two Laudate psalms: An Edition of Munich, Bayerische Staatsbibliothek Mus. MS. A, I and II, hrsg. von Charlotte Smith, Newark [u. a.] 1983. The seven penitential psalms and Laudate dominum de caelis, hrsg. von Peter Bergquist (= Recent Researches in the Music of the Renaissance, Bd. 86/87), Madison 1990. Schließlich Horst Leuchtmanns Ausgabe im Rahmen der Neuen Reihe der Sämtlichen Werke (s. u.). Als zentrale Figuren der Lasso-Edition im 19. Jahrhundert vor der von Adolf Sandberger und Franz Xaver Haberl betriebenen (Alten) Gesamtausgabe (seit 1894) sind Franz Commer und Carl Proske zu nennen. Beide gaben umfangreiche Reihen mit Musik vor allem des 16. Jahrhunderts heraus, in denen Lasso eine wichtige Stellung einnimmt: Band 7, 8, 10 und 12 (von insgesamt 12) der bei Schott (Mainz) ab 1840 erschienenen Reihe Commers Collectio operum musicorum batavorum saeculi sedecimi, die insgesamt 17 Motetten Lassos sowie im zwölften Band die Chanson Si je suis brun und das bekannte Matona mia cara enthalten. ____________ 3
4
D-Mbs, Mus.ms. A (vgl. die 40 Farbtafeln in Horst Leuchtmann und Hartmut Schaefer, Orlando di Lasso. Prachthandschriften und Quellenüberlieferung. Aus den Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek München (= Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge, Bd. 62), Tutzing 1994; dazu die anschließenden Erläuterungen S. 169–186). Der Druck erfolgte erst 1584, fünf Jahre nach dem Tod Albrechts V. (München, Adam Berg; RISM L 952; D-Mbs, 4 Mus. pr. 133, Beibd. 2; Abbildungen ebd. S. 85–87). Leuchtmann und Schaefer, Orlando di Lasso (wie Anm. 3), Abb. S. 90, Text S. 92f.
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Bernhold Schmid
Commers innerhalb der Reihe Musica Sacra ausschließlich Lasso gewidmete Selectio Modorum ab Orlando di Lasso compositorum, continens modos quatuor, quinque, sex, septem et octo vocibus concinendos, Tom. I–VIII, Berlin [1860–1867] (= Musica Sacra. Cantiones XVI, XVII saeculorum praestantissimas quatuor pluribusque vocibus accomodatas, Bd. 5–12). Proskes Musica divina: Sive thesaurus concentuum selectissimorum omni cultui divino totius anni iuxta ritum sanctae ecclesiae cath. inservientium,5 Bd. 1: Liber missarum, Regensburg 1853; Bd. 2: Liber motettorum, Regensburg 1855. Der Messenband enthält Lassos Missa Octavi toni Iager LV 622 und seine Missa ad imitationem moduli Puisque j’ay perdu LV 620. Eine 2., veränderte Auflage wurde von F. X. Haberl in den Jahren 1880– 1885 in Regensburg herausgebracht, in die Lassos Missa Quinti toni Pilons pilons lorge LV 416 einging. Der Motettenband enthält insgesamt 20 Sätze Lassos, von denen 15 in den Offertorien-Ausgaben 1582-5 und 1585-86 erstmals gedruckt sind; Proske griff allerdings auf das Magnum opus musicum zurück, eine von den Söhnen Lassos besorgte „Gesamtausgabe“ der Motetten von 1604.7 Diese recht strikte Auswahl zeigt Proskes Vorlieben an.8 Schließlich ist zu nennen Proskes Selectus novus missarum Praestantissimorum superiorias aevi Auctorum […], (zwei Bände in je zwei Teilen, erschienen 1855, 1857 und 1861 in Regensburg). Band I, 1 enthält die Missa Qual donna attende LV 960, Band II, 2 die Missa In die tribulationis LV 961. Proske hatte diese ausschließlich Messen beinhaltende Serie, wie er im (unpaginierten) Vorwort zu Band I, 1 angibt, zusätzlich zur Musica divina auf Wunsch „von Freunden älterer Kirchenmusik und Förderern jenes Unternehmens […] noch vor Beendigung des Jahrganges der ,Musica Divina‘“ ins Leben gerufen. Geplant war die Reihe auf drei Bände mit insgesamt 24 Messen, erschienen sind nur zwei Bände mit 16 Messen. Die zweite Auflage des Messenbandes aus dem ersten Jahrgang der Musica divina (Regensburg 1880–1885) bringt einen weiteren für die Lasso-Edition herausragenden Namen ins Spiel: Franz Xaver Haberl. Dieser hatte schon den 1865 von Joseph Schrems († 1872) begonnenen zweiten Jahrgang der Musica
____________ 5
6 7 8
Zur Musica divina insgesamt vgl. Raymond Dittrich, Dokumentation zum zweiten Jahrgang und zur zweiten Auflage des Messenbandes aus dem ersten Jahrgang der „Musica divina“, in: Musik in Bayern 56 (1998), passim; zum Messenband S. 68f. Leuchtmann und Schmid, Orlando di Lasso (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 61–63 und S. 69–72. Ebd., Bd. 2, S. 287–306. Vgl. dazu GA2, Bd. I, Motetten I, S. XLIIIf. (vgl. unten S. 54).
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divina in vier Bänden bis 1877 weitergeführt, in den insgesamt drei Motetten sowie eine Litanei Lassos Aufnahme fanden.9 Vor allem aber war Haberl zusammen mit Adolf Sandberger Initiator und Herausgeber der heute so genannten Alten Lasso-Gesamtausgabe,10 die (nach fehlgeschlagenen früheren Versuchen) im 300. Todesjahr Lassos 1894 begonnen wurde. Bis 1910 wurden 20 der auf 32 Bände11 veranschlagten Reihe ediert, 1927 erschien Band 21. Die Ausgabe enthält mit den Motetten (Haberl unter Verwendung von Spartierungen Proskes, Band 21 Sandberger), Madrigalen, Chansons und deutschen Liedern (Sandberger) etwa die Hälfte von Lassos Gesamtwerk und wurde aus wirtschaftlichen Gründen abgebrochen. Die folgende bibliographische Aufstellung gibt einen Überblick über den ungewöhnlichen Aufbau der Ausgabe, da die Motetten in den ungeradzahligen Bänden I, III usw. bis XXI enthalten sind, während die Werke nach volkssprachigen Texten in den geradzahligen Bände II bis XX erschienen sind. Orlando di Lasso, Sämmtliche Werke, herausgegeben von Franz Xaver Haberl und Adolf Sandberger, Leipzig: Breitkopf & Härtel [1894–1927]: Motetten: Magnum opus musicum von Orlando di Lasso. Lateinische Gesänge für 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10 u. 12 Stimmen. In Partitur gebracht von Carl Proske, kritisch durchgesehen und redigirt von Franz Xaver Haberl. Theil I (= GA, Bd. I): für 2, 3 und 4 Stimmen. Leipzig [1894] Theil II (= GA, Bd. III): für 4 und 5 Stimmen. Leipzig [1895] Theile III, IV und V (= GA, Bde. V, VII und IX): für 5 Stimmen. Leipzig [1895, 1897 und 1898] Theil VI (= GA, Bd. XI): für 5 und 6 Stimmen. Leipzig [1900] Theile VII, VIII und IX (= GA, Bde. XIII, XV und XVII): für 6 Stimmen. Leipzig [1902, 1903 und 1906] Theil X (= GA, Bd. XIX): für 6, 7 und 8 Stimmen. Leipzig [1908] In Partitur gebracht von Carl Proske, kritisch durchgesehen und redigiert von Adolf Sandberger: Theil XI (= GA, Bd. XXI): für 8, 9, 10 und 12 Stimmen. Leipzig [1927] ____________ 9 10
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Vgl. die Aufstellungen bei Dittrich, Dokumentation (wie Anm. 5); zur 2. Auflage des Messenbandes aus dem ersten Jahrgang S. 70–72; zum zweiten Jahrgang S. 58–64. Zu Vorgeschichte und Entstehung der Alten GA vgl. Sandberger in GA, Bd. II, S. V–VII (seitengleich in GA2, Bd. II); Leuchtmann und Schaefer, Orlando di Lasso (wie Anm. 3), S. 101–111; Johannes Hoyer, Der Priestermusiker und Kirchenmusikreformer Franz Xaver Haberl (1840–1910) und sein Weg zur Musikwissenschaft (= Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg, Beiband 15), Regensburg 2005, S. 366–378. Tendenzen zu „vollständigen“ Ausgaben sind schon zeitgenössisch gegeben, vgl. dazu Schmid in GA2, Bd. V, S. XVIII– XXIV. Vgl. außerdem Helmut Hell und Horst Leuchtmann, Orlando di Lasso. Musik der Renaissance am Münchner Fürstenhof. Ausstellung zum 450. Geburtstag 27. Mai–31. Juli 1982 (= Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge, Bd. 26), Wiesbaden 1982, S. 235–243. Zum Editionsplan vgl. unten, S. 56.
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Bernhold Schmid Madrigale [und weitere Gattungen mit italienischem Text], hrsg. von Adolf Sandberger: Erster, Zweiter, Dritter, Vierter und Fünfter Theil (= GA, Bde. II, IV, VI, VIII und X). Leipzig [1894, 1896, 1897, 1898 und 1899] Kompositionen mit französischem Text, hrsg. von Adolf Sandberger: Erster Teil, I: Nr. 1–56 (= GA, Bd. XII). Leipzig [1904] Zweiter Teil, I: Nr. 57–93 (= GA, Bd. XIV). Leipzig [1904] Dritter Teil, II: Nr. 1–18; III: Nr. 1–19; IV: Nr. 1–5 (= GA, Bd. XVI). Leipzig [1905] Kompositionen mit deutschem Text, hrsg. von Adolf Sandberger: Erster Teil, I: Nr. 1–15; II: Nr. 1–15; III: Nr. 1–11 (= GA, Bd. XVIII). Leipzig [1909] Zweiter Teil, IV: Nr. 1–11; V: Nr. 1–7; VI: Nr. 1–25; VII: Nr. 1–9 (= GA, Bd. XX). Leipzig [1910]
Diese Ausgabe erschien als fotomechanischer Nachdruck 1973 bei Broude Brothers in New York. Da die Gesamtausgabe unvollständig geblieben war, begann man nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer Fertigstellung. Die 1949 gegründete Musikhistorische Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften rief die Neue Reihe12 ins Leben, die allerdings nicht mehr bei Breitkopf & Härtel erschien, sondern bei Bärenreiter, was Folgen für die Editionsrichtlinien hatte (siehe unten, S. 61f.). Bei den Bänden 1, 2 und 21 wurde mittlerweile eine zweite Auflage nötig. Orlando di Lasso, Sämtliche Werke, Neue Reihe, herausgegeben von Peter Bergquist, Wolfgang Boetticher, James Erb, Kurt von Fischer, Marie Louise Göllner, Siegfried Hermelink, Fritz Jensch, Horst Leuchtmann und Reinhold Schlötterer, Kassel [u. a.]: Bärenreiter, 1956–1995: Lateinische Motetten, französische Chansons und italienische Madrigale aus wiederaufgefundenen Drucken 1559–1588, hrsg. von Wolfgang Boetticher (= NR 1). Kassel [u. a.] 1956; Neuauflage mit Nachtrag, hrsg. von Wolfgang Boetticher (= NR 12). Kassel [u. a.] 1989 Die vier Passionen, hrsg. von Kurt von Fischer (= NR 2). Kassel [u. a.] 1961; Neuauflage (= NR 22). Kassel [u. a.] 2006 Messen, hrsg. von Siegfried Hermelink: Messen 1–9: Messen der Drucke Venedig 1570 und München 1574 (= NR 3). Kassel [u. a.] 1962 Messen 10–17: Messen des Druckes Paris 1577 (= NR 4). Kassel [u. a.] 1964 Messen 18–23: Messen der Drucke Paris 1577 und Nürnberg 1581 (= NR 5). Kassel [u. a.] 1965
____________ 12
Leuchtmann und Schaefer, Orlando di Lasso (wie Anm. 3), S. 112f.; vgl. auch NR 1, S. [V] und VII.
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Messen 24–29: Messen des Druckes München 1589 (= NR 6). Kassel [u. a.] 1966 Messen 30–35: Messen aus Einzel- und Sammeldrucken 1570–1588 (= NR 7). Kassel [u. a.] 1967 Messen 36–41: Messen der Drucke Paris 1607 und München 1610 (= NR 8). Kassel [u. a.] 1968 Messen 42–48: Handschriftlich überlieferte Messen I (= NR 9). Kassel [u. a.] 1969 Messen 49–55: Handschriftlich überlieferte Messen II (= NR 10). Kassel [u. a.] 1970 Messen 56–63: [Handschriftlich überlieferte Messen III] (= NR 11). Kassel [u. a.] 1971 Messen 64–70: Handschriftlich überlieferte Messen IV. Fragmente. Modelle. Register (= NR 12). Kassel [u. a.] 1975 Magnificat, herausgegeben von James Erb: Magnificat 1–24: Magnificat des Druckes Nürnberg 1567 (= NR 13). Kassel [u. a.] 1980 Magnificat 25–49: Magnificat der Drucke Paris 1587 sowie München 1576 und 1587 (= NR 14). Kassel [u. a.] 1986 Magnificat 50–70: Magnificat der Jahre 1576–1583 aus Münchner Handschriften (= NR 15). Kassel [u. a.] 1986 Magnificat 71–92: Magnificat der Jahre 1583–85 aus Münchner Handschriften (= NR 16). Kassel [u. a.] 1988 Magnificat 93–110: Postum überlieferte Magnificat. Zweifelhafte Werke. Modelle. Register (= NR 17). Kassel [u. a.] 1988 Das Hymnarium aus dem Jahre 1580/81, hrsg. von Marie Louise Göllner (= NR 18). Kassel [u. a.] 1980 Lectiones, hrsg. von Wolfgang Boetticher (= NR 19). Kassel [u. a.] 1989 Lagrime di San Pietro, hrsg. von Fritz Jensch (= NR 20). Kassel [u. a.] 1989 Prophetiae Sibyllarum, hrsg. von Reinhold Schlötterer (= NR 21). Kassel [u. a.] 1990; Neuauflage (= NR 212). Kassel [u. a.] 2011 Lamentationes Jeremiae Prophetae, hrsg. von Peter Bergquist (= NR 22). Kassel [u. a.] 1992 Offizien und Messproprien, hrsg. von Peter Bergquist (= NR 23). Kassel [u. a.] 1993 Cantica, Responsorien und andere Musik für die Officia, hrsg. von Peter Bergquist (= NR 24). Kassel [u. a.] 1993 Litaneien, Falsibordoni und Offiziumssätze, hrsg. von Peter Bergquist (= NR 25). Kassel [u. a.] 1993 Die sieben Bußpsalmen mit der Motette „Laudes Domini“, hrsg. von Horst Leuchtmann (= NR 26). Kassel [u. a.] 1995
Parallel zur Erstellung der Neuen Reihe wurde eine zweite Auflage der (Alten) Gesamtausgabe (im Folgenden GA) begonnen. Geplant war eine Revision, deren Charakter sich in der Übernahme des ursprünglichen Aufbaus der Ausgabe (Reihenfolge der Bände sowie originale Bandeinteilung) und im Abdruck der Vorworte Sandbergers und Haberls äußert. Tatsächlich liegt jedoch eine Neuausgabe vor, die aufgrund der heute größeren Quellenkenntnis (vgl. die
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Arbeiten Wolfgang Boettichers sowie das Répertoire International des Sources Musicales [RISM]),13 schließlich aufgrund der gestiegenen editorischen Anforderungen an eine kritische Gesamtausgabe notwendig wurde. Wiederum sei ein bibliographischer Überblick geboten, soweit die Bände bisher erschienen sind: Orlando di Lasso, Sämtliche Werke. Zweite, nach den Quellen revidierte Auflage der Ausgabe von F. X. Haberl und A. Sandberger, hrsg. von Horst Leuchtmann und Bernhold Schmid, Wiesbaden [u. a.]: Breitkopf & Härtel, 1968ff. (nachfolgend GA2): Motetten, neu hrsg. von Bernhold Schmid: Motetten I (= Magnum opus musicum, Teil I): Motetten für 2, 3 und 4 Stimmen (= GA2, Bd. I). Wiesbaden [u. a.] 2003 Motetten II (= Magnum opus musicum, Teil II): Motetten für 4 und 5 Stimmen (= GA2, Bd. III). Wiesbaden [u. a.] 2004 Motetten III, IV und V (= Magnum opus musicum, Teil III, IV und V): Motetten für 5 Stimmen (= GA2, Bde. V, VII und IX). Wiesbaden [u. a.] 2006, 2007 und 2010 Motetten VI (= Magnum opus musicum, Teil VI): Motetten für 5 und 6 Stimmen (= GA2, Bd. XI). Wiesbaden [u. a.] 2012 Motetten VII (= Magnum opus musicum, Teil VII): Motetten für 6 Stimmen (= GA2, Bd. XIII). Wiesbaden [u. a.] 2013 Kompositionen mit italienischem Text, neu hrsg. von Horst Leuchtmann: I: Das erste und zweite Buch fünfstimmiger Madrigale, Venedig 1555 und Rom 1557 (= GA2, Bd. II). Wiesbaden 1968 II: Das dritte und vierte Buch fünfstimmiger Madrigale, Rom 1563 und Venedig 1567 (= GA2, Bd. IV). Wiesbaden 1986 III: Die beiden Madrigaldrucke Nürnberg 1585 und 1587 (= GA2, Bd. VI). Wiesbaden 1990 Kompositionen mit französischem Text, neu hrsg. von Horst Leuchtmann: I: Die vierstimmigen Chansons aus „Les Meslanges d’Orlande de Lassus“, Nr. 1– 56, Paris 1576 (= GA2, Bd. XII). Wiesbaden 1982 II: Die fünf- und achtstimmigen Chansons aus „Les Meslanges d’Orlande de Lassus“, Nr. 57–93, Paris 1576 (= GA2, Bd. XIV). Wiesbaden 1981 III: Drei- bis achtstimmige Chansons aus verschiedenen Drucken (= GA2, Bd. XVI). Wiesbaden 1982 Kompositionen mit deutschem Text, neu hrsg. von Horst Leuchtmann: I: Die drei Teile fünfstimmiger deutscher Lieder, München 1567, 1572 und 1576 (= GA2, Bd. XVIII). Wiesbaden 1970 ____________ 13
Boetticher, Orlando di Lasso (wie Anm. 2), S. 729–838 (Quellennachweis); RISM: François Lesure (Hrsg.), Recueils imprimés XVIe–XVIIe siècles. Liste chronologique (= RISM B/I/1), München und Duisburg 1960 und Karlheinz Schlager (Red.), Einzeldrucke vor 1800, Bd. 5: Kaa–Monsigny, Kassel 1975 (RISM A/I/5). Die gedruckten Quellen sind bibliographisch aufgearbeitet in Leuchtmann und Schmid, Orlando di Lasso (wie Anm. 1).
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II: Drei- bis achtstimmige deutsche Lieder aus verschiedenen Drucken sowie aus handschriftlicher Überlieferung (= GA2, Bd. XX). Wiesbaden 1971
Die in der revidierten Neuausgabe derzeit noch fehlenden Bände sind in Vorbereitung. An weiteren wissenschaftlichen Ausgaben von Bedeutung bleiben zu nennen: Orlande de Lassus, Chansons, hrsg. von Jane A. Bernstein (= The Sixteenth-Century Chanson, Bd. 11–14). New York und London 1987 Orlando di Lasso and Others, Canzoni villanesche and Villanelle, hrsg. von Donna G. Cardamone (= Recent Researches in the Music of the Renaissance, Bd. 82/83). Madison 1991 Orlando di Lasso, The Complete Motets, hrsg. von Peter Bergquist, David Crook, James Erb und Rebecca Wagner Oettinger (= Recent Researches in the Music of the Renaissance, Bd. 102/103, 105, 109–112, 114/115, 117/118, 120, 124, 128, 130– 133, 141, 147/148, 148S [Supplement]). Madison 1995–2002 bzw. Middleton 2001– 2007
Für die Aufführung von Bedeutung waren und sind Ausgaben von Hans Joachim Therstappen: Orlando di Lasso, Bußtränen des Heiligen Petrus (= Das Chorwerk, Bd. 34, 37, 41). Wolfenbüttel 1935–1936 Orlando di Lasso, Prophetiae Sibyllarum (= Das Chorwerk, Bd. 48). Wolfenbüttel 1937 Orlando di Lasso, Die Klagen des Hiob. Sacrae lectiones novem ex propheta Hiob (= Edition Merseburger, Bd. 410). Berlin 1949
Im Folgenden näher zu behandeln ist die Gesamtausgabe in ihren zwei Teilen bzw. zwei Auflagen für den ursprünglich von Haberl und Sandberger besorgten Teil, da wir es mit editorischen Ansprüchen verschiedenen Niveaus und auch mit unterschiedlichen Editionsrichtlinien zu tun haben. Des Weiteren ist aufgrund ihrer historischen Bedeutung auf Dehns Bußpsalmenausgabe einzugehen. Der Messenband aus dem ersten Jahrgang von Proskes Musica divina ist vorzustellen, ebenso der erste Band aus Commers Selectio Modorum (Band 5 der Musica Sacra). Besprochen wird die von Peter Bergquist betreute Reihe der Complete Motets und schließlich die Ausgabe der Lagrime di San Pietro von Hans Joachim Therstappen. Sämmtliche Werke Die Quellen für die (Alte) Gesamtausgabe waren hauptsächlich durch bibliographische Arbeiten Robert Eitners und Emil Vogels, ferner durch Biblio-
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thekskataloge14 teilweise erschlossen. Sowohl Haberl als auch Sandberger nennen jeweils eine Anzahl damals bekannter Quellen,15 wobei jedoch mit Irrtümern gerechnet werden muss.16 Von daher stellt sich die Frage, inwieweit zu Haberls und Sandbergers Zeiten ein Überblick über Lassos Gesamtwerk möglich war. Sandberger hat in GA, Bd. II, S. VIf. einen Editionsplan (berechnet auf acht Reihen mit insgesamt 32 Bänden) aufgestellt. Dieser zeigt einerseits, dass an eine Gesamtausgabe im eigentlichen Sinne gedacht war, die dann – wie oben ausgeführt wurde – ja nicht zustande kam. Andererseits ist der Plan teils vage, in sich unvollständig und teils auch inkonsequent: Ein Großteil der heute in der Neuen Reihe enthaltenen Werke war eingeplant: So sind etwa die Messen, die Magnificat, Bußpsalmen, Prophetiae Sibyllarum etc. berücksichtigt. Vieles andere fehlt jedoch, so die Lagrime di San Pietro, die Passionen mit Ausnahme der Matthäus-Passion etc. Ein Konzept für die Motetten fehlt. Lediglich das solche enthaltende Patrocinium musices III17 wird genannt, daneben plante Sandberger zwei Bände mit „Lateinische[n] Gesänge[n], die nicht im Magnum opus18 aufgenommen sind, aus Publikationen Lasso’s und Sammelwerken“. Mutmaßlich sind damit (kleinere) Kirchenwerke wie Offizien gemeint, die teils nur handschriftlich überliefert sind. Sollte Sandberger in seinem Plan berücksichtigt haben, dass Haberl das Magnum opus edieren würde, dann stellt sich die Frage, wieso er das Patrocinium musices III anführt, das ins Magnum opus eingegangen war. Einigermaßen unverändert umgesetzt wurde der Editionsplan für die Madrigale und die deutschen Lieder. Details zu den Chansons, deren Ausgabe Sandberger noch auf vier statt drei Bände berechnet hatte, fehlen. Haberl konnte für seine Ausgabe der Motetten auf eine Spartierung des Magnum opus musicum zurückgreifen, die Carl Proske hauptsächlich im Jahr 1842 angefertigt hatte. Im ersten Band der GA schreibt er: Die materielle Hauptarbeit hat für das Magn. op. mus. Orlando’s schon vor 50 Jahren der als Reformator der kathol. Kirchenmusik in Deutschland rühmlichst bekannte Kanonikus Dr. Carl Proske zu Regensburg vollendet, indem er die 516 Nummern ____________ 14
15 16 17 18
Robert Eitner, Chronologisches Verzeichniss der gedruckten Werke von Hans Leo von Hassler und Orlandus de Lassus (= Beihefte zu den Monatsheften für Musikgeschichte, 5. und 6. Jg.), Berlin 1874; ders., Bibliographie der Musik-Sammelwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Berlin 1877, Nachdruck Hildesheim 1963; Emil Vogel, Bibliothek der gedruckten weltlichen Vocalmusik Italiens aus den Jahren 1500 bis 1700, 2 Bde., Berlin 1892; vgl. auch Sandberger in GA, Bd. II, S. VII (seitengleich in GA2, Bd. II). Vgl. etwa Haberl in GA, Bd. I, S. VIII–XII (GA2, Bd. I, S. XIV–XVIII); Sandberger in GA, Bd. II, S. XVIf. (seitengleich in GA2, Bd. II). Vgl. jeweils die Anmerkungen zu Haberls bzw. Sandbergers Vorwort in den Bänden der GA 2, wo u. a. Irrtümer korrigiert wurden. Vgl. Leuchtmann und Schmid, Orlando di Lasso (wie Anm. 1), 1573-9. Vgl. oben Anm. 7.
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in genauester Weise in Partitur brachte. Der Unterzeichnete [Haberl] hatte nur mehr die Aufgabe, die Proske’schen Partituren nach dem Originaldruck von 1604 zu vergleichen, die fehlenden Texte zu ergänzen und die Accidenzien darüber zu setzen.19
Sandberger ging von anderen Voraussetzungen aus. Er hatte 1888 in der „Musikalischen Abteilung“ der „Königlichen Hof- und Staatsbibliothek zu München“ (der heutigen Bayerischen Staatsbibliothek) Sparten aus dem musikalischen Nachlass von Friedrich Fielitz kennengelernt, die zwar „für Orlando’s Schaffen völlig neue Aufschlüsse“ gewährten, aber aufgrund von Fielitz’ Unbesorgtheit in der Wahl der Quellen, Flüchtigkeit in der Anfertigung der Partituren, seiner Textunterlage und dergl. Revisionen nothwendig machten, die zeitraubender und schließlich doch unzuverlässiger sich gestalteten, als eine gänzliche Neuanlage der Partitur selbst. Als Anregung und wichtige Vorarbeit, in letzterem Sinne allerdings noch mehr für Lasso’s Biographie als für unsere vorliegende Aufgabe wird der Unterzeichnete Fielitz’ Werk stets dankbar anerkennen.20
Sandberger und Haberl stützten ihre Ausgaben auf jeweils nur eine bzw. wenige Quellen, wiewohl ihnen zahlreiche bekannt waren. Das Haberls Motettenausgabe zugrunde liegende Magnum opus musicum, eine auch nach heutigen Maßstäben nahezu vollständige Ausgabe der Motetten Lassos (sie enthält immerhin 73 im Druck erstbelegte Sätze), die 1604 bei Heinrich in München herausgekommen war, kann als ein Versuch gewertet werden, das Motettenschaffen Lassos in einer vollständigen und nach Auffassung der Herausgeber Ferdinand und Rudolph de Lasso mustergültigen, verglichen mit älteren Drucken „verbesserten“ Ausgabe vorzulegen, ein Anspruch, der sowohl im Drucktitel als auch in der Vorrede dokumentiert ist. Dass somit manche Motette in dieser Ausgabe deutliche redaktionelle Eingriffe aufweist, und zwar sowohl im Notentext als auch in der Textunterlegung – 15 Motetten wurden purifizierende Kontrafakta unterlegt, von denen nur zwei bereits in älteren Quellen nachweisbar sind – liegt auf der Hand.21 Haberl übernahm (soweit bisher überschaubar) ausnahmslos die Lesarten dieser Ausgabe; ein kritischer Bericht fehlt, nur in Ausnahmen gibt er unter dem Notentext Anmerkungen. Erst Sandberger, der den letzten Motettenband (Bd. XXI) ediert hat, griff auf ältere Quellen zurück, unterlegte statt der Kontrafakta den ____________ 19 20 21
GA, Bd. I, S. XXI (GA2, Bd. I, S. XXVII). GA, Bd. II, S. V–VII, Zitat S. VII (seitengleich in GA2, Bd. II). Vgl. Bernhold Schmid, „[…] cantiones eius Latinas omnes (motetas vocant) collectas, emendatasque ac multarum necdum editarum acceßione, ceu nouo quasi comitatu auctiores, in lucem daremus.“ Das Magnum opus musicum: Lassos Motetten in der Redaktion durch seine Söhne, in: Mit Fassung. Fassungsprobleme in Musik- und Text-Philologie. Helga Lühning zum 60. Geburtstag, hrsg. von Reinmar Emans, Laaber 2007, passim. Zur Frage der Kontrafakta vgl. Schmid in GA2, Bd. III, S. XXXIXf.
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Originaltext und listete Abweichungen auf.22 Selbstverständlich wurde in der Ausgabe auch die Anordnung des zugrunde liegenden Magnum opus musicum übernommen, was verschiedentlich kritisiert wurde.23 Haberl hat also keinen Versuch unternommen, dem originalen Notentext des Komponisten so nahe wie möglich zu kommen; die zum Teil gravierenden Abweichungen des Magnum opus von älteren Quellen dürften ihm kaum bewusst gewesen sein. Wenn er nach dem Magnum opus ediert hat, dann mag neben dessen von Rudolph und Ferdinand de Lasso behaupteten Vollständigkeit das Vorliegen von Proskes Sparte dafür verantwortlich gewesen sein. Sandberger konnte, wie oben angedeutet, nicht auf vorliegende Sparten zurückgreifen. Hinsichtlich des Aufbaus der Ausgabe entschied er sich, bei den Madrigalen und verwandten Gattungen sowie bei den deutschen Liedern jeweils die Anordnung der Erstdrucke zu übernehmen. Dies geht aus den Titeln seiner Bände zwar nicht hervor (vgl. die Übersicht über die GA in erster Auflage, oben S. 51f.); der in GA, Bd. II abgedruckte, für die Madrigale und die deutschen Lieder weitgehend auch umgesetzte Editionsplan zeigt dies jedoch an.24 Anders verhält es sich mit den Chansons, zu denen der Editionsplan keine näheren Angaben enthält. Da die Sätze ursprünglich nicht in Einzeldrucken als durchnummerierte Bände (wie etwa die Madrigale) herauskamen, sondern zunächst zum großen Teil in Sammeldrucken erschienen sind – etwa in der umfangreichen Chansonbuchreihe bei le Roy & Ballard25 –, griff Sandberger auf ausschließlich Lasso gewidmete Sammlungen, die teils Erstdrucke enthalten, als Editionsgrundlage zurück. In der Regel zog er weitere Quellen heran und gab Abweichungen teilweise an.26 Sein Vorgehen bedeutet ____________ 22 23
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25 26
GA, Bd. XXI, S. VIII–XI. Kritik an der Anordnung des Magnum opus, das „ohne erkennbares System Werke aus früher und später Zeit des Meisters durcheinander wirft“ (so Hugo Leichtentritt, Geschichte der Motette [= Kleine Handbücher der Musikgeschichte nach Gattungen, hrsg. von Hermann Kretzschmar, Bd. 2], Leipzig 1908, Nachdruck Hildesheim [u. a.] 1990, S. 97), hatten auch die beiden Herausgeber Haberl und Sandberger geübt (vgl. Horst Leuchtmann, Zum Ordnungsprinzip in Lassos Magnum Opus Musicum, in: Musik in Bayern 40 (1990), dort wiedergegeben in Anm. 1 und 2, S. 51–53). Weitere Kritik u. a. bei James Haar, Art. Orlande de Lassus, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, 2. Ausgabe, hrsg. von Stanley Sadie, London, New York 2001, Bd. 14, S. 299. Zur Systematik der Anordnung des Magnum opus vgl. Leuchtmann, ebd., passim; vgl. auch Schmid in GA2, Bd. I, S. XLVI–XLVIII. Bei den deutschen Liedern kamen in deren zweitem Band (GA, Bd. XX) gegenüber dem Editionsplan noch die deutschen Psalmen nach Ulenbergs Übersetzung dazu (vgl. Leuchtmann und Schmid, Orlando di Lasso [wie Anm. 1], 1588-2), die im Editionsplan noch in anderem Rahmen publiziert werden sollten. Vgl. die Aufstellungen in Horst Leuchtmanns Einleitung zu GA 2, Bd. XII, S. LXII–XCIII. Vgl. GA, Bd. II (erster Madrigalband), S. XXVI–XXVIII; GA, Bd. XII (erster Chansonband), S. XLVII–LVI; GA, Bd. XX (zweiter Band mit deutschen Liedern, der „Quellenverzeichnis und Revisionsbericht zu Band XVIII und XX“ enthält), S. XXIV–XXVI. Die jeweiligen Texte sind in GA2, Bd. II und XII seitengleich wieder abgedruckt. Der von Sandberger in GA, Bd.
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editionsphilologisch einen wesentlichen Fortschritt gegenüber Haberls Position. Haberls und Sandbergers Editionsrichtlinien27 sind weitestgehend identisch. Sandberger hatte sich an Philipp Spittas Grundsatz orientiert, den er zitiert: Die Neuausgaben müssen bis zu einem gewissen Grade in derjenigen Form der Aufzeichnung erfolgen, welche Gemeingut der heutigen musikalischen Welt geworden sind. Die Herausgabe soll aber auch kein charakteristisches Merkmal der Werke verwischen.28
Es werden alte Schlüssel, originale Notenwerte und durchgezogene Taktstriche verwendet. Mensurzeichen werden original übernommen. Ligaturen werden durch Bindebögen angedeutet. Herausgeberakzidentien stehen über den Noten in Kleinstich, die in den Quellen als $ dargestellte Aufhebung eines b wird in Klammern übernommen (#), zusätzlich wird ein n im Kleinstich über die Note gesetzt. Die Textunterlegung folgt der der Edition zugrunde liegenden Quelle; nur durch Idemzeichen angedeuteter Text wird in kursiver Type ausgeschrieben. Neue Reihe Die Neue Reihe und die revidierte Neuauflage der (Alten) GA basieren auf einer erheblich breiteren Quellenkenntnis, die zum guten Teil auf Boettichers Arbeiten beruht.29 Über die Drucke und deren Inhalt unterrichtet die im Jahr 2001 erschienene Bibliographie.30 Die gedruckte Überlieferung (ca. 470 erhaltene Drucke zwischen 1555 und 1687) hat für die Edition erheblich größere Bedeutung als die etwa 600 handschriftlichen Quellen: Erstens liegt der weitaus größte Teil von Lassos Werk zeitgenössisch gedruckt vor (1197 mit LVNummern versehene Kompositionen gegenüber nur 162 ausschließlich handschriftlich überlieferten, mit LVanh-Nummern gekennzeichneten), zweitens ging die Drucklegung bei den meisten Sätzen einer handschriftlichen Fixierung __________
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XX für beide Bände mit deutschen Liedern zusammengefasste Revisionsbericht wurde in GA2 aufgeteilt: Bd. XVIII, S. XXIVf. und Bd. XX, S. VIIf. Die Richtlinien sind in den einzelnen Bänden der revidierten Neuausgabe und der Neuen Reihe abgedruckt. Haberl hatte in GA, Bd. I, S. XIX–XXI (GA2, Bd. I, S. XXV–XXVII) seine Prinzipien dargelegt. Sandbergers Richtlinien, die er diskutiert und begründet hat, finden sich in GA, Bd. II, S. VIII–XVI (seitengleich in GA2, Bd. II). Vgl. auch die knappe Darstellung vom Autor des vorliegenden Texts in Editionsrichtlinien Musik, hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000, S. 185–188. GA, Bd. II, S. VIII (seitengleich in GA2, Bd. II). Insbesondere Boetticher, Orlando di Lasso (wie Anm. 2), S. 729–838. Vgl. Leuchtmann und Schmid, Orlando di Lasso (wie Anm. 1).
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voraus. Wichtige handschriftliche Quellen, also etwa das Aufführungsmaterial der Münchner Hofkapelle oder auch einige frühe Chorbücher aus Stuttgart, sind durch Bibliothekskataloge erschlossen. Ansonsten ist man auf die nicht stets konsistenten Angaben bei Boetticher31 angewiesen. Da es sich bei den meisten Handschriften um Abschriften aus gedruckten Quellen handelt, haben sie in erster Linie großen Wert für die Erforschung der Rezeptionsgeschichte, und zwar insbesondere dann, wenn Stücke durch Kontrafaktur für eine andere als ihre ursprüngliche Funktion zurechtgemacht wurden (etwa weltlich – geistlich, katholisch – evangelisch).32 Und drittens hat sich kein Lasso-Autograph erhalten. Bis vor einigen Jahren galten der sogenannte Wiener Sibyllen-Codex (A-Wn, Mus. Hs. 18.744), der neben den Prophetiae Sibyllarum noch den Zyklus vierstimmiger Hiob-Lektionen LV 209–217 enthält (gedruckt 1600 und 1565), sowie eine Danziger Handschrift (PL-GD, Ms. 4030) mit einigen Chansons als Autographe. Als Schreiber der Wiener Quelle erkannten Jessie Ann Owens und Helmut Hell jedoch den am Münchner Hof tätigen Jean Pollet. Und das Danziger Autograph wurde erst kürzlich von Paweł Gancarczyk mit besten Gründen Lasso abgesprochen.33 Die Neue Reihe beinhaltet alles das, was in der (Alten) GA fehlte. Der Aufbau insbesondere der Bände, die größere Werkgruppen enthalten, ist unmittelbar an den Bandtiteln zu erkennen (vgl. die Aufstellung oben, S. 52f.). Die Bände werden von einem umfangreichen Textteil eröffnet: Die Einleitung nimmt zu den edierten Kompositionen Stellung. Der kritische Bericht gliedert sich in Richtlinien für die Ausgabe, Quellen sowie Lesartenverzeichnis. Es folgen Abkürzungen, Texte und Übersetzungen sowie ein Faksimileteil. ____________ 31 32
33
Boetticher, Orlando di Lasso (wie Anm. 2), S. 197–261. Zu Handschriften aus dem Regensburger Gymnasium poeticum vgl. GA2, Bd. V, S. LXXI; auch Drucke wurden handschriftlich kontrafaziert, so in der Saalfelder Lateinschule, vgl. GA2, Bd. V, S. LXXI, LXXV und LXXVII, GA2, Bd. IX, S. LXXIX und Bernhold Schmid, Kontrafakta nach Sätzen Orlando di Lassos in Form handschriftlicher Änderungen in gedruckten Quellen, in: Musik des Mittelalters und der Renaissance. Festschrift Klaus-Jürgen Sachs zum 80. Geburtstag, hrsg. von Rainer Kleinertz, Christoph Flamm und Wolf Frobenius (= Studien zur Geschichte der Musiktheorie, Bd. 8), Hildesheim [u. a.] 2010, passim. Jessie Ann Owens (Hrsg.), Vienna, Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung, Mus. Hs. 18.744 (= Renaissance Music in Facsimile, Bd. 25), New York und London 1986, Introduction; Helmut Hell, Ist der Wiener Sibyllen-Codex wirklich ein Lasso-Autograph?, in: Musik in Bayern 28 (1984), passim; Paweł Gancarczyk, Origin, Repertory, and Context of „Lasso’s Autograph“ from Gdańsk, in: Die Münchner Hofkapelle des 16. Jahrhunderts im europäischen Kontext. Bericht über das internationale Symposion der Musikhistorischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Gesellschaft für Bayerische Musikgeschichte, München, 2.–4. August 2004, hrsg. von Theodor Göllner und Bernhold Schmid (= Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Abhandlungen Neue Folge, Heft 128), München 2006, passim; schon Horst Leuchtmann, Orlando di Lasso. Sein Leben. Versuch einer Bestandsaufnahme der biographischen Einzelheiten, Wiesbaden 1976, S. 125f., Anm. 144 hatte beide „Autographe“ angezweifelt.
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Die revidierte Neuauflage der (Alten) GA folgt hinsichtlich der Bandeinteilung und des Inhalts unmittelbar der ersten Auflage, was schon dem Charakter einer Revision geschuldet ist. Aus der (Alten) GA faksimiliert übernommen werden die originalen Textteile Sandbergers bzw. Haberls, an die sich allerdings kommentierende Anmerkungen anschließen. In den Motettenbänden folgt jeweils ein zusätzlicher Textteil mit Einleitung, Auflistung der Quellen und Angaben zu deren Filiation (die erst durch eine genaue Kollation erkennbar wird; in wenigen Fällen Stemmata zu einzelnen Stücken, wenn die Quellenlage es erfordern), kritischem Bericht mit Editionsrichtlinien, fortlaufendem Abdruck der Texte und Faksimileteil. Der Notenteil wird durch Anhänge ergänzt: Dies kann stark abweichende Fassungen betreffen (in GA2 wurden dreistimmige Versionen der Bicinien und Thomas Selles vierstimmige Bearbeitungen von Vorlagen à 5 aufgenommen),34 aber auch bisher fehlende, mitunter nicht zweifelsfrei zuzuschreibende Sätze. Am Ende der Bände stehen jeweils Abkürzungen, Literatur sowie ein Register der Motetten. Die Madrigal-, Chanson- und Liedbände folgen ähnlichen Prinzipien. Für beide Ausgaben werden jeweils das gesamte gedruckte Quellenmaterial und zudem wichtige Handschriften, insbesondere Münchner Kapell-Codices oder kontrafazierende Handschriften, herangezogen. Das bedeutet für die hinsichtlich der Anordnung der (Alten) GA folgenden GA2, dass zwar die Reihenfolge der der (Alten) GA folgenden Quellen übernommen wird, keineswegs aber diese Quellen als Leitquellen genutzt werden. (Schon Sandberger folgte bei der Herausgabe des letzten Motettenbandes GA, Bd. XXI diesem Prinzip.) Somit liegt meist jeweils die älteste Quelle der Ausgabe zugrunde; auf späteren Quellen basieren Notentext und Textunterlegung nur dann, wenn solche als zuverlässiger erkannt werden. So gesehen liegt im Grunde genommen eine Neuausgabe vor, da die Edition hinsichtlich des Notentexts und der Textunterlegung von der (Alten) GA mitunter gravierend abweichen kann. Die Editionsrichtlinien wurden für die Neue Reihe aufgrund des Verlagswechsels teilweise verändert: Statt der in einem Vorsatz angezeigten alten Schlüssel werden moderne verwendet. Die Notenwerte bleiben original, die Taktstriche sind durchgezogen (nur im ersten, von W. Boetticher erarbeiteten Band wird mit zwischen den Systemen verlaufenden Taktstrichen gearbeitet). Mensurzeichen werden original übernommen. Kolor (geschwärzte Noten) wird durch Häkchen angegeben. Ligaturen werden durch Klammern angedeutet. Originale Akzidentien werden auch dann übernommen, wenn sie (nach moderner Lesung unnötig) innerhalb eines Takts mehrmals gesetzt sind. Notwendig zu ergänzende Vorzeichen (etwa weil ein vorausgehender Taktstrich ein in ____________ 34
GA2, Bd. I, VII und IX.
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der Quelle weiter geltendes Vorzeichen außer Kraft setzt) werden im kritischen Bericht angezeigt. Herausgeberakzidentien werden im Kleinstich über die entsprechenden Noten gesetzt. Das originale Zeichen $ wird stets sinngemäß zu # oder n aufgelöst. Die Textunterlegung folgt der der Edition zugrunde liegenden Quelle; nur durch Idemzeichen angedeuteter Text wird in kursiver Type ausgeschrieben. Die revidierte Neuauflage der (Alten) GA bleibt bei den alten Schlüsseln, die Notenwerte werden original übernommen, Taktstriche werden durchgezogen. Die Textunterlegung entspricht den Vorgaben der Neuen Reihe. Soweit bleiben die ursprünglichen Richtlinien erhalten. Hinsichtlich des Umgangs mit geschwärzten Noten, Ligaturen und weitestgehend auch mit Vorzeichen wurden die Richtlinien an diejenigen der Neuen Reihe angepasst. Siegfried Wilhelm Dehn Große Bedeutung für die Forschungs- und Editionsgeschichte Lassos hat Dehns Ausgabe der Bußpsalmen aus dem Jahr 1838.35 Siegfried Wilhelm Dehn, Kompositionslehrer u. a. von Michail Glinka und Peter Cornelius, hatte außerdem Henri-Florent Delmottes Lasso-Biographie (1836) ins Deutsche übersetzt und zudem inhaltlich korrigiert;36 er wurde damit zum eigentlichen Begründer der Lasso-Forschung. Für seine Ausgabe benutzte er alte Schlüssel, unverkürzte Notenwerte und originale Mensurzeichen, von ihm ergänzte editorische Vorzeichen stehen über den Noten, Ligaturen werden durch Bindebögen angegeben. Punktierungen über den Taktstrich hinaus werden durch Überbindungen angegeben. Die vier letzten Bußpsalmen sind ohne Angabe einen Ton nach oben transponiert. In der Quelle durch Idemzeichen angegebene Textwiederholungen sind ausgeschrieben, jedoch nicht kenntlich gemacht. Dehns Richtlinien finden sich mehr oder weniger ähnlich in den meisten Lasso-Ausgaben des 19. Jahrhunderts. Transpositionen nimmt auch Commer in der Selectio Modorum vor, gibt diese aber an. Ligaturen werden entweder wie bei Dehn durch Bindebögen gekennzeichnet (vgl. auch Proske; noch die Alte GA verfährt so) oder gar nicht angegeben (vgl. Commers diverse Ausgaben). Unterschiedliche Verfahrensweisen gibt es ferner bei den über den Taktstrich reichenden Punktierungen: Überbindungen (wie Dehn) nimmt Commer ____________ 35 36
Vgl. Leuchtmann und Schaefer, Orlando di Lasso (wie Anm. 3), S. 92, dort (S. 89f.) auch das Faksimile des Titelblattes und einer Ausgabenseite. Vgl. Siegfried Wilhelm Dehn, Biographische Notiz über Roland de Lattre, bekannt unter dem Namen Orland de Lassus. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben, Berlin 1837. Dehn hat übrigens in seiner Sammlung älterer Musik aus dem 16. und 17. Jahrhundert, Berlin, o. J. weitere Sätze Lassos ediert.
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vor, Proske hingegen setzt nach dem Taktstrich den Additionspunkt. Auch zwischen ausgeschriebenem und in den Quellen nur durch Idemzeichen angegebenem Text wird vor Haberl und Sandberger nicht unterschieden. Dehns Ausgabe hat keinerlei einleitenden Text. Die Editionsprinzipien erschließen sich bei der Durchsicht der Ausgabe. Commer (Selectio Modorum) und Proske (Musica divina) hingegen äußern sich jeweils zu den Richtlinien und listen ihre Quellen auf.37 Bei Dehn fehlen somit auch Hinweise auf die Bedeutung der Bußpsalmen. Wenn die Ausgabe trotzdem wichtig wurde, dann wohl deshalb, weil erstmals ein Werk bzw. ein Zyklus Lassos in einer Einzelpublikation vorgelegt wurde, während Rochlitz’ etwa gleichzeitige Sammlung vorzüglicher Gesangstücke Lasso nicht herausgehoben behandelt. Carl Proske und Franz Commer Carl Proske und Franz Commer publizierten Lasso innerhalb groß angelegter Reihen, die zwar für die Praxis gedacht waren, jedoch aufgrund ihrer monumentalen, jeweils mehrere Bände umfassenden Anlage den Charakter von Denkmäler-Ausgaben haben. Beide richten sich an die Praxis, was sich bei Proske schon daran zeigt, dass der gesamte erste Jahrgang der Musica divina auch in Stimmen herauskam.38 Proske zielt, wie er im Band 1 (Messen) des ersten Jahrgangs (S. V) darlegt, auf die „Regeneration des katholischen Kirchengesangs“. Kenntnisse auf diesem Gebiete seien zwar vorhanden, solche seien aber auf den „Kreis musikalischer Gelehrsamkeit“ beschränkt. „Die Rückkehr zu den ehrwürdigsten Grundlagen echten Kirchengesanges tritt sonach als dringendes Zeitbedürfnis hervor.“ Die Orientierung an der liturgischen Praxis zeigt der Aufbau: jeweils ein Jahrgang sollte Aufführungsmaterial in der Folge des Kirchenjahres liefern.39 Des Weiteren legt Proske an späterer Stelle des Textvorspanns (S. XIII) dar, welche Voraussetzungen ein Chorleiter haben sollte: Er verlangt Kenntnis des Kontrapunkts, des gregorianischen Chorals und der Kirchentonarten. Schließlich wird Lasso kurz charakterisiert (S. LIf.): er stellt ihn neben „Händel, und wie in diesem der deutsche, italienische und englische Genius des achtzehnten Jahrhunderts, so war in Lassus die ganze Herrlichkeit der germanischen und ____________ 37
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Commer, Selectio modorum, Bd. 1 (= Musica Sacra, Bd. 5), Einleitung S. I gibt an, wo er transponiert hat. Auf S. III und IV sind Titel und Vorrede des Originaldrucks 1610-1 abgedruckt. Proske, Musica Divina, Jahrgang 1, Messen berichtet auf S. XXXIII–XLII über Schlüssel, Notenwerte, Mensuren, Akzidentien etc. in den Quellen und gibt an, welche editorischen Schlüsse er daraus zieht. Schon Rochlitz hatte sich im ersten Band seiner Sammlung vorzüglicher Gesangstücke (S. 16) zu den Editionsprinzipien geäußert. Auch zu Proskes Selectus novus missarum (Regensburg 1855–1861) sind Stimmen erschienen. Dittrich, Dokumentation (wie Anm. 5), S. 55.
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romanischen Kunst seiner Zeit in einer grossen Erscheinung vereinigt.“ Festzuhalten bleibt indes, dass Proskes Absicht in erster Linie auf die Verbreitung der Kirchenmusik des 16. Jahrhunderts als Idealfall zielt. Lasso ist bei aller Wertschätzung einer unter mehreren Komponisten, im Zenit steht freilich Palestrina.40 Franz Commer hat andere Vorstellungen, auch wenn er sich ebenso an die Praxis wendet. In der Einleitung zu Band 1 seiner Selectio Modorum (S. 1) heißt es: „Zum Studium und für Gesangvereine sowohl als für den kirchlichen Gebrauch.“ Der liturgische Zweck folgt an dritter Stelle erst nach den „Gesangvereine[n]“; zuerst jedoch denkt Commer offenbar an das „Studium“. Musikalisches und historisches Interesse an der neu entdeckten Musik des 16. Jahrhunderts steht also im Vordergrund, Brauchbarkeit für die Kirche ist gegeben, aber nicht in erster Linie. Und wenn Commer insgesamt acht Bände mit Musik Lassos publiziert, dann deshalb, weil er ihn für bisher vernachlässigt hält. Die Sammlungen mit älterer Kirchenmusik enthielten „immer noch wenige Werke von Lassus. Ja, es will scheinen, als ob man vorzugsweise die Kompositionen der italienischen Schule, in welcher der Zeitgenosse des Lassus, Palestrina, als Stern erster Größe hervorragt, wieder ins Leben zu rufen geneigt wäre“ (S. 1 der Einleitung). Peter Bergquist Unter den modernen Lasso-Editionen ist neben der Gesamtausgabe sicherlich die von Peter Bergquist betreute und größtenteils (13 Bände) auch selbst erarbeitete Ausgabe der Complete Motets mit ihren 21 Bänden (1995–2007) das bedeutendste Unternehmen. Die Anlage unterscheidet sich grundlegend von derjenigen der Motettenbände innerhalb der GA: Die Bandeinteilung und der Notentext folgen zumeist den frühesten gedruckten Quellen, daneben wird handschriftliches Material aus der Münchner Hofkapelle herangezogen. Ein Band entspricht einem originalen Einzeldruck, wenn dieser durchgängig Erstdrucke enthält (Band 1 ediert das sogenannte Antwerpener Motettenbuch 15561, Band 2 das Nürnberger Motettenbuch 1562-4, etc.). Enthalten Einzeldrucke nur einige Erstbelege, dann werden nur diese Sätze in einem Band zusammengefasst (vgl. Band 6, der die Erstbelege aus den beiden Bänden der Selectissimae cantiones 1568-3 und 1568-4 enthält). Ebenso wird bei Erstbelegen aus Sammeldrucken verfahren (vgl. Band 3 mit Motetten aus den fünf Bänden des Thesaurus musicus 1564-5 bis 1564-9). Das Unternehmen richtet sich an „Scholars, students, and performers“, wie Peter Bergquist in seinem in jedem ____________ 40
Vgl. Schmid in GA2, Bd. I, S. XLIIf.
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Band abgedruckten „General Preface“ erläutert. Daraus resultieren die Richtlinien: moderne Schlüssel und Taktangaben – in einem Vorsatz werden die originalen Schlüssel und Mensurzeichen angezeigt –, aber (wohl nach dem Vorbild der Neuen Reihe der GA) originale Notenwerte. Die Taktstriche werden nur durch die Systeme gezogen. Editorische Vorzeichen stehen über den Noten, zwingend zu ergänzende Vorzeichen werden innerhalb des Notentexts in eckige Klammern gesetzt. Die Bände enthalten jeweils den Text fortlaufend abgedruckt mit Angaben zur Textprovenienz und eventuell zur liturgischen Stellung der Sätze; der kritische Bericht fällt zwangsläufig sehr knapp aus, da jeweils nur eine oder zwei Quellen herangezogen werden. Eine Einleitung gibt über die Drucke und die Einzelstücke Auskunft. Die Complete Motets bieten zu den Motettenbänden der Gesamtausgabe in verschiedener Hinsicht eine Ergänzung: Zum einen sind die Motetten in der Anordnung des Erstdrucks präsentiert, während die GA der Anordnung des Magnum opus musicum folgt und damit eine historisch legitimierte, den Gesamtbestand der Motetten umfassende systematische Anordnung aufgreift. Zum anderen ist die Ausgabe aufgrund ihrer modernen Schlüssel auch für Laienchöre geeignet. Im Unterschied zur GA wird allerdings nicht auf das gesamte Quellenmaterial zurückgegriffen; die auf einer im kritischen Bericht dokumentierten breiteren Quellenbasis beruhende Gesamtausgabe ist für den Wissenschaftler selbstverständlich unverzichtbar. Hans Joachim Therstappen Es bleibt, als in erster Linie praktisch ausgerichtete Edition, diejenige der Lagrime di San Pietro von Therstappen zu besprechen, eine Erstausgabe, die in der von Friedrich Blume herausgegebenen Serie Das Chorwerk (Heft 34, 37 und 41) erschienen ist. In allen drei Heften finden sich Einleitungen, die auf die Bedeutung von Lassos Zyklus hinweisen; Heft 34 liefert knappe Editionsrichtlinien: Ligaturen und in der Vorlage nicht enthaltene Akzidentien sind kenntlich gemacht; der italienische Text folgt der originalen Orthographie, zusätzlich ist eine Übersetzung unterlegt. Ansonsten folgt die Ausgabe den Richtlinien des Chorwerks: Moderne Schlüssel (die originalen sind im Vorsatz angezeigt); originale Notenwerte; Taktstriche zwischen den Systemen, was Punktierungen über die Taktgrenzen hinaus erleichtert. Ein Revisionsbericht fehlt. Für die Aufführung fordert Therstappen eine kleine Besetzung, Ergänzung und Ersatz einzelner Stimmen durch Instrumente sei freilich möglich. Wiewohl sich die Ausgabe in erster Linie an die Praxis wendet, macht sie im Grunde nur bei den Schlüsseln Konzessionen, während andere Ausgaben be-
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reits im 19. Jahrhundert auch die Werte verkürzen und detaillierte Vortragsbezeichnungen geben. So hatte Ferrenberg schon 1851 die Notenwerte halbiert und dynamische und andere Angaben ergänzt.41 Proske gibt in der Musica divina in den Erläuterungen gelegentlich Metronomangaben, bei Rochlitz (Sammlung vorzüglicher Gesangstücke) finden sich dynamische Vorschriften wie Angaben zur Besetzung. Wirkung Die Ausgaben des 19. Jahrhunderts mit geistlicher Musik42 trugen zur Wiederentdeckung Lassos bei. Zwar galt gemeinhin Palestrina als der bedeutendste Vertreter einer idealen Kirchenmusik – lediglich Commer (vgl. die Einleitung zur Selectio Modorum) stand eher auf Lassos Seite; die Bedeutung des Niederländers wurde jedoch auch von Proske gewürdigt. Welche Verbreitung insbesondere Proskes Musica divina hatte, zeigt die umfangreiche, Namen wie Institutionen aufweisende Subskribentenliste (S. VII–XII): Insbesondere in den Bistümern Regensburg und Breslau (Proske stammte aus Schlesien) stieß die Sammlung auf großen Erfolg. Oft waren es Pfarrer oder Lehrer auch in kleineren Gemeinden, die Partitur, Stimmen oder beides bestellten. Etliche Einzelausgaben des 19. und 20. Jahrhunderts (Dehn, Therstappen) sorgten für die Verbreitung einiger Werkzyklen, deren Bedeutung dann auch erkannt wurde. Ein Überblick über Lassos Gesamtwerk war damit aber noch nicht gewonnen. Derartiges zu leisten war auch die unvollständige (Alte) Gesamtausgabe von Haberl und Sandberger nicht im Stande: Zum einen enthält sie nur etwa die Hälfte des Gesamtwerks. Zum anderen stehen wir insbesondere bei Haberls Motetten-Edition vor dem Problem, dass als Quelle das von den Lasso-Söhnen zum Teil stark redigierte Magnum opus von 1604 herangezogen wurde. Die Leistung der (Alten) Gesamtausgabe besteht immerhin darin, einige Werkgruppen (wenn auch im Fall der Motetten nicht immer original) nahezu vollständig herausgebracht zu haben. Erst die Neue Reihe und die zweite Auflage der (Alten) GA schaffen Abhilfe: Erstens wird das Gesamtwerk vorgelegt. Zweitens basiert die Ausgabe jeweils auf den mutmaßlich besten Quellen. Und drittens wird das gesamte gedruckte und wichtiges handschriftliches Quellenmaterial herangezogen; redaktionelle Varianten und Fehler im Notentext, außerdem Textabweichungen und Kontrafakta werden im kritischen Bericht dokumentiert. Stark abwei____________ 41 42
Vgl. oben Anm. 2 und Hermelink in NR, Bd. 7, S. XXI. Vereinzelt wurde auch weltliche Musik ediert, so die Chanson Si je suis brun LV 486 und Matona mia cara LV 663 in Commers Collectio operum Musicorum Batavorum, Bd. 12.
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chende Fassungen oder auch Bearbeitungen durch andere Komponisten werden jeweils in Anhängen abgedruckt. Es bleibt zu hoffen, dass sich durch die GA ein einigermaßen detailliertes Bild von Lassos Werk gewinnen lässt und dass zudem durch das Dokumentieren abweichender Fassungen gezeigt werden kann, was mit Lasso im Lauf der zeitgenössischen Rezeption geschah.
Literaturverzeichnis Boetticher, Wolfgang: Orlando di Lasso und seine Zeit 1532–1594. Repertoire-Untersuchungen zur Musik der Spätrenaissance. Bd. 1: Monographie, Kassel [u. a.] 1958; zweite Auflage: Neuausgabe mit einem fortsetzenden Literaturbericht 1958–1998, Verzeichnis der Kontrafakturen, Addenda und Emendata. Wilhelmshaven 1999. Bd. 2: Verzeichnis der Werke. Mit einer Übersicht der nachgewiesenen handschriftlichen und gedruckten Quellen, Wilhelmshaven 1998 Dehn, Siegfried Wilhelm: Biographische Notiz über Roland de Lattre, bekannt unter dem Namen Orland de Lassus. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben, Berlin 1837 Dittrich, Raymond: Dokumentation zum zweiten Jahrgang und zur zweiten Auflage des Messenbandes aus dem ersten Jahrgang der Musica divina, in: Musik in Bayern 56 (1998), S. 55–78 Editionsrichtlinien Musik, im Auftrag der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000 Eitner, Robert: Chronologisches Verzeichniss der gedruckten Werke von Hans Leo von Hassler und Orlandus de Lassus (= Beihefte zu den Monatsheften für Musikgeschichte, 5. und 6. Jg.), Berlin 1874 Eitner, Robert: Bibliographie der Musik-Sammelwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Berlin 1877, Nachdruck Hildesheim 1963 Gancarczyk, Paweł: Origin, Repertory, and Context of „Lasso’s Autograph“ from Gdańsk, in: Die Münchner Hofkapelle des 16. Jahrhunderts im europäischen Kontext. Bericht über das internationale Symposion der Musikhistorischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Gesellschaft für Bayerische Musikgeschichte, München, 2.–4. August 2004, hrsg. von Theodor Göllner und Bernhold Schmid, München 2006 (= Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Abhandlungen Neue Folge, Heft 128), S. 297–309 Haar, James: Art. Orlande de Lassus, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, 2. Ausgabe, hrsg. von Stanley Sadie, London, New York 2001, Bd. 14, S. 295–320 Hell, Helmut: Ist der Wiener Sibyllen-Codex wirklich ein Lasso-Autograph?, in: Musik in Bayern 28 (1984), S. 51–64 Hell, Helmut und Horst Leuchtmann: Orlando di Lasso. Musik der Renaissance am Münchner Fürstenhof. Ausstellung zum 450. Geburtstag 27. Mai–31. Juli 1982 (= Bayerische Staatsbibliothek. Ausstellungskataloge. Bd. 26), Wiesbaden 1982 Hoyer, Johannes: Der Priestermusiker und Kirchenmusikreformer Franz Xaver Haberl (1840– 1910) und sein Weg zur Musikwissenschaft (= Beiträge zur Geschichte des Bistums Regensburg, Beiband 15), Regensburg 2005 Leichtentritt, Hugo: Geschichte der Motette (= Kleine Handbücher der Musikgeschichte nach Gattungen, hrsg. von Hermann Kretzschmar, Bd. 2), Leipzig 1908, Nachdruck Hildesheim [u. a.] 1990 Lesure, François (Hrsg.): Recueils imprimés XVIe–XVIIe siècles. Liste chronologique (= RISM B/I/1), München und Duisburg 1960 Leuchtmann, Horst: Orlando di Lasso. Sein Leben. Versuch einer Bestandsaufnahme der biographischen Einzelheiten, Wiesbaden 1976 Leuchtmann, Horst: Zum Ordnungsprinzip in Lassos Magnum Opus Musicum, in: Musik in Bayern 40 (1990), S. 46–72
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Bernhold Schmid
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Jeffrey Kurtzman
Collected Works of Claudio Monteverdi: The Malipiero and Cremona Editions*
Tutte le opere di Claudio Monteverdi, ed. Gian Francesco Malipiero Gian Francesco Malipiero (1882–1973), known principally to the history of music as a prominent Italian composer of the 20th century, is better known to most musicologists for his pioneering edition Tutte le opere di Claudio Monteverdi (Asolo, Bologna, Vienna, 1926–1942) in 16 volumes, reprinted by Universal Editions of Vienna beginning in 1952 and again by the Fondazione G. Cini of Venice in 1966 with a revised version of Vols. 15 and 16 edited by Denis Arnold in 1967–1968.1 In 1966, Malipiero himself added Vol. 17, a supplementary volume with pieces not included in the earlier volumes. In a brief preface Malipiero rejects “non-autograph” manuscripts as well as a setting of the psalm Confitebor tibi published in Naples in 1627.2 This edition was the first Italian effort at an Opera Omnia of any composer, reflecting the personal interests of Malipiero, the attitudes of Italian composers and other artists of his generation who rejected the immediate opera-dominated past of their country and sought a revival of early Italian music, and Italian national____________
* This essay was first published as No. XII in Jeffrey Kurtzman, Approaches to Monteverdi: Aesthetic, Psychological, Analytical and Historical Studies, Farnham/Surrey 2013, [n. pag.]. The text of the present version is the same except for correction of a few typographical errors and changes in the format of the footnotes. A bibliography of works cited in the footnotes is appended at the end. 1 For an index of the compositions in Malipiero’s edition, see An alphabetical index to Claudio Monteverdi: tutte le opere nuovamente date in luce da G. Francesco Malipiero, Asolo, 1926– 1942, ed. by the Bibliography Committee of the New York Chapter of the Music Library Association, New York [1964?]. The historical background of Monteverdi editions and Malipiero’s undertaking is described in Guglielmo Barblan, Malipiero e Monteverdi, in: L’Approdo musicale 3 (1960), pp. 122–133; Chiara Bianchi, Monteverdi e Malipiero: Storia di un’Edizione, in: Rassegna veneta di studi musicali 15/16 (1999/2000), pp. 209–219; and Iain Fenlon, Malipiero, Monteverdi, Mussolini and Musicology, in: Sing, Ariel. Essays and Thoughts for Alexander Goehr’s Seventieth Birthday, ed. by Alison Latham, Aldershot/Hants 2003, pp. 241– 255. For Gabriele D’Annunzio’s role in promoting Monteverdi and Malipiero’s edition, see also Andrew dell’Antonio, Il divino Claudio: Monteverdi and lyric nostalgia in fascist Italy, in: Cambridge Opera Journal 8/3 (November 1996), pp. 271–284. 2 Published in Giovanni Maria Sabino, Psalmi de vespere, a quattro voci. Napoli, Ambrosio Magnetta. 1627 (= RISM S38, Sammeldrucke 16274).
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ism, fostered by the fascist regime of Mussolini, who had personally supported Malipiero’s project. Through his edition, Malipiero single-handedly made available the music of the Italian master, supplemented by a book containing a biographical sketch, the prefaces, dedications and facsimiles of the title pages of Monteverdi’s printed works, and transcriptions of his letters in the Archivio di Stato of Mantua (Milan: Treves, 1929). For many years, Malipiero’s edition and his separate piano-vocal scores of Monteverdi’s first opera, L’Orfeo,3 and Il Combattimento di Tancredi e Clorinda4 were the primary access students, scholars, performers and the general public had to the composer’s music. Malipiero was famously antagonistic to musicologists, and his edition disdained the tools of contemporary scholarship in editing the collected works of a composer, referring to such approaches as “pedantic” and destructive of the composer’s musical expressiveness. Malipiero, rather, justified his editorial decisions on the basis of what he felt to be an intuitive, mystical connection with Monteverdi.5 As a consequence, there were many deficiencies in his edition, and in 1970 the Fondazione Claudio Monteverdi in Cremona, Italy undertook a new edition of the complete works of the composer utilizing modern paleographical and musicological criteria. That series is not yet quite complete (see below). The purpose of the present article is to examine the criteria and methods of these two editions as a reflection of two very different perspectives on the objectives of an Opera Omnia edition. Malipiero’s goal at the outset was not a critical edition, but rather an edition that would make Monteverdi’s music available to performers of the 1920s and 1930s for whom Monteverdi’s music and most other music of the period had been virtually inaccessible. Palestrina’s works had been available for quite some time in the Breitkopf und Härtel edition by Franz Xaver Haberl (1862– 1907), but other than that, Italian music of the early modern period was largely unavailable to musicians before 1926, apart from a limited number of compositions in individual editions and anthologies.6 Moreover, contemporary musi____________ 3 4 5
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London, J. W. Chester, 1923. London, J. W. Chester, 1931. In his “Farewell” at the end of Vol. 16 in 1942, Malipiero refers to Monteverdi as his “coworker” and declares “We do not know whether to ascribe it to our empathy or to another inderterminable feeling, but in any case we fancy that we have restored to the world ‘all the works’ of Claudio Monteverdi, without disfiguring them and without encountering difficulties of interpretation or doubts concerning the original notation, for the spirit of Claudio Monteverdi has been our guide.” The principal anthologies and editions of Italian music before 1926 were Carl von Winterfeld’s Johannes Gabrieli und sein Zeitalter, Berlin 1834; Robert Eitner’s edition of Monteverdi’s L’Orfeo, Berlin 1881; adaptations of L’Orfeo by Vincent D’Indy, Paris 1904, and Giacomo Orefice, Milan 1909; Alessandro Parisotti’s Arie antiche italiane, Milan 1885–1890; Luigi Torchi’s L’arte musicale in Italia, Milan 1897–1903; the series I classici della musica italiana,
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cians had little knowledge and even less interest in performing the music of the past according to what nowadays is generally called “historically informed performance.” When Malipiero began his edition, there was virtually no understanding of vocal performance practices of the sixteenth and seventeenth centuries, and interest in early instruments was limited to such pioneers as Arnold Dolmetsch (1858–1940) and Wanda Landowska (1879–1959), whose efforts were ignored and even scorned by the vast majority of practicing musicians. Thus, Malipiero’s endeavor must be understood in its own historical context, and whatever the failings of the edition itself, Malipiero deserves the credit for his heroic labors and the revival of Monteverdi’s music in the twentieth century. Malipiero’s edition divides Monteverdi’s works according to genre. The first nine volumes constitute the first eight books of madrigals (the eighth volume is divided into two parts) and the posthumous ninth book, the Madrigali e Canzonette a due, e tre voci of 1651. Vol. 10 comprises the lighter secular works: canzonette and scherzi musicali, while Vols. 11–13 contain the operas. Monteverdi’s sacred works are found in Vols. 14–16, each in multiple parts, and Vol. 17 is a supplement, containing a facsimile of the sole surviving part-book of his Madrigali spirituali of 15837 and both secular and sacred works published in anthologies during Monteverdi’s lifetime which had only come to light after 1942 (see Appendix for more detailed information). From the very first volume, Malipiero’s objectives and editorial methods were clear. Some of these are articulated in Malipiero’s brief preface, which declares: In this edition there are neither deletions nor disfigurements of style. The original is reproduced completely and faithfully. Claudio Monteverdi’s marvelous harmonic sensibility is respected because I don’t consider printing errors those “accidents” that represent the graphic expression of a musician who did not live in 1848. Nor are the tonalities modified, even though it is known that these were transposed, adapting them to the voices at hand. Even today, one can do otherwise in performance. No reduction for pianoforte, so dear to dilettants, is added, but for convenience of reading the same distribution of the four voices is adopted: soprano, alto, tenor and bass (with the “quinto,” which is merely the division of one of the four voices) and only violin and bass clefs (the tenor, however, is read an octave lower).
__________
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Milan 1919–1921; and Robert Haas’s edition of Il ritorno d’Ulisse in patria, in: Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Bd. 57, Vienna 1922. This facsimile was also originally printed in Vol. XVI, the plates of which were lost during World War II.
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Jeffrey Kurtzman Sometimes the tenor is too high, other times the alto is too low: these inconveniences are eliminated by transposing the keys or modifying the distribution of the voices, always conforming to the means at hand.8
In this preface, which appears only in Volume 1, Malipiero disavows any intention of providing analyses or discussion of the music, wishing to let Monteverdi’s music “speak for itself.” Thus we find nothing of the often extensive prefaces that are normal in modern critical editions, commenting on the sources of the music, its history and context, its analysis, and performance criteria. Nor is there any commentary on the texts Monteverdi sets or even any attempt to identify the authors of the texts. Malipiero displayed sound instincts in wanting to present the music as it is, without the modifications, truncations, expansions and other editorial interventions that were so common in editions of early music in that period. He keeps the original names of voices, despite their actual tessitura, and even indicates their original clefs before the modern clefs in which the edition presents them. There are no transpositions and no reductions in note values: Monteverdi’s semibreves and minims become Malipiero’s whole- and half-notes, and modern barring is employed, with the measure in duple meter comprising a semibreve (whole note). When Monteverdi notated triple meter, Malipiero, unlike the Cremona edition to be discussed below, also maintains the original mensurations and note values, offering his own suggestions for proportional tempo relationships between the sections in duple and triple time. Only in the supplementary volume 17 published much later than the others did he resort to reductions of note values and meters in triple time. Triple meter is usually, but not always, barred in accordance with the principal unit that is triply subdivided. An exception is the Lamento della Ninfa from the Madrigali guerrieri ed amorosi in which the measure comprises two triply divided breves instead ____________ 8
Author’s translation; see Gian Francesco Malipiero, Tutte le opere di Claudio Monteverdi, Vol. 1, pp. i–ii: “In questa edizione non si troveranno nè amputazioni, nè deturpazioni dello stile. L’originale si riproduce integralmente e fedelmente. La prodigiosa sensibilità armonica di Claudio Monteverdi viene rispettata perchè non si considerano errori di stampa quegli ‘accidenti’ che rappresentano l’espressione grafica di un musicista che non ha vissuto nel 1848. Nemmeno si modificano le tonalità, quantunque si sappia che queste si trasportavano adattandole alle voci di cui si disponeva. Anche oggi, in caso di esecuzione, si può fare altrettanto. Non si aggiunge il riassunto per pianoforte tanto caro ai dilettanti, ma per facilitare la lettura si adotta sempre la stessa distribuzione delle quattro voci: soprano, contralto, tenore e basso (col ‘quinto’ che è soltanto la divisione di una delle quattro voci) e le sole chiavi di violino (il tenore si legge però l’ottava sotto) e basso. Talvolta il tenore è troppo acuto tal altra il contralto è troppo grave: questi inconvenienti si eliminavano appunto trasportando le tonalità, o modificando la distribuzione delle voci, sempre conformandosi ai mezzi materiali che si avevano sotto mano.”
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of one. At times, such as in Il terzo libro de madrigali, Malipiero changes a Ω mensuration to P, obscuring the tempo significance of Ω. Also in keeping with his intention to present Monteverdi’s own notation, Malipiero openly corrects only the most obvious errors in the original print through footnote annotations at the bottom of the relevant page, though some of his corrections are dubious and Malipiero inevitably introduced new mistakes into his transcriptions.9 Moreover, numerous passages were altered tacitly. Modern practice is followed in the notation of accidentals (an accidental is valid for the remainder of a measure unless altered again), and Malipiero adds a modest amount of musica ficta and other editorial accidentals in parentheses above the staff. Despite preserving Monteverdi’s original notation, Malipiero didn’t hesitate to add performance suggestions of his own without distinguishing them as editorial rather than Monteverdi’s. Today, because of our familiarity with Monteverdi’s original prints, it is an easy matter to separate Malipiero’s editorial performance instructions from Monteverdi’s original notation, but these would not have been obvious to readers in 1926–1942. These added performance suggestions include tempo markings at the head of each piece (e.g. Andante; Andante, molto ritmato; Allegro ritenuto, in 2; Piutosto lento), which are at least in parentheses, indicating their editorial role as mere recommendations. In addition, Malipiero has added dynamic markings, including crescendos and diminuendos; phrase markings where there are both short or longer melismas in the music; and on rare occasions, editorial accidentals and musica ficta.10 These volumes, therefore, are clearly performing editions, designed to be picked up by any musician and performed without need of much additional interpretive information on the part of performers. This is not to imply that Malipiero’s suggestions are necessarily musically inappropriate; indeed, as the work of an excellent musician, they often enhance and convey appropriately the affect of the text at any given moment, though in the music of this period, there is often room for significant disagreement in interpretation, especially with regard to tempo. From the standpoint of a critical edition, however, these scores are sorely lacking. Each volume begins with a facsimile of the title page of the original print used for the transcription, substituting one motto or another for the name of the voice of that part-book at the top of each title page, with additional facsimiles as noted below. In the case of Il primo libro de madrigali, Malipiero ____________ 9 10
See note 20 for articles critiquing Malipiero’s edition, many of which enumerate specific errors. Late in his life, Malipiero declared that if he were to make a new edition of the works of Monteverdi, he would not add any expression marks, considering them superfluous. See Gugliemo Barblan, Malipiero e Monteverdi, in: L’Approdo musicale 3 (1960), p. 131.
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used the Alessandro Raverii reprint of 1607, the second of three editions of Il primo libro, clearly chosen because of its availability in the Museo internazionale e Biblioteca della musica (formerly Civico Museo Bibliografico Musicale) at Bologna. The only copy of the first edition of 1593 is in Gdansk, Poland (Danzig, Prussia in 1926), which Malipiero could have been aware of because of its listing in Robert Eitner’s Biographisch-bibliographisches Quellen-Lexikon,11 but which would have been rather remote of access. On the other hand, a complete copy of the 1621 edition by Bartolomeo Magni in Venice was available in the nearby Biblioteca Estense in Modena. Because Malipiero relies on only a single source throughout all the volumes of the edition (except for Concerto settimo libro de madrigali and L’Incoronazione di Poppea), he did not have the benefit of seeing the composer’s and editors’ later corrections or of comparing different readings of questionable passages. Consequently, we find none of the comparative editorial apparatus that would characterize a modern critical edition. The characteristics of Malipiero’s edition of Il primo libro also mark his editions of the remaining madrigal books, with some additional considerations. Since Malipiero’s source for Il terzo libro de madrigali was the first edition, he includes a facsimile of the dedication as well as the title page. In Il quarto libro de madrigali, the madrigal Sfogava con le stelle begins with the falsobordone style notated in the source as a single breve in each voice, accommodating a number of syllables of text. Malipiero maintains Monteverdi’s breve notation for this and subsequent falsobordone passages and for the first time, offers performance advice in a footnote: “free declamation, almost spoken.”12 Il quinto libro de madrigali, which is represented by facsimiles from the second edition of 1606, includes Monteverdi’s note to readers apologizing for not yet responding to the published attacks of Giovanni Maria Artusi and promising his own treatise on the seconda pratica, which never appeared. The source Malipiero used for his transcription of Il quinto libro, however, was the Ricciardo Amadino print of 1615, which contains a number of hand-written corrections that Malipiero incorporated into his own edition without annotation except for the one he considered subject to question. Near the end of the final madrigal, the Tenore Primo Coro part is so corrupt as to be uncorrectable. Malipiero simply leaves the passage blank and prints the original passage at the bottom of the page as a footnote. Il quinto libro concludes with six madrigals with basso continuo, the first time a basso continuo appears in the compo____________ 11 12
Full title: Biographisch-bibliographisches Quellen-Lexikon der Musiker und Musikgelehrten christlicher Zeitrechnung bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1900–1904. A similar footnote appears in Il quinto libro in the madrigal Che dar più vi poss’io, which also contains a passage in falsobordone.
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ser’s œuvre. Monteverdi’s basso continuo figures in this and all his works are sparse; Malipiero reproduces Monteverdi’s figuring, but adds none of his own, although missing accidentals in the continuo line are notated beneath it in parentheses. Malipiero adds dynamic markings to this continuo part and provides a realization in simple harmonies with the upper parts on a staff of their own in a smaller font to distinguish them from the larger font of Monteverdi’s own bass line, a practice that he will continue throughout the remaining volumes, with a few exceptions. One of these exceptions is found in Il quinto libro, where the final madrigal contains an instrumental sinfonia which Malipiero transcribes as a five-part score instead of the nine parts in two choirs with additional continuo originally printed by Monteverdi.13 Malipiero again exercised sound instincts in the simplicity of his continuo realizations, recognizing the primacy of the voice and avoiding the thicker four-part realizations in 18th-century contrapuntal style that still mar some editions of 17th-century music. Monteverdi’s Il sesto libro de madrigali contains on the final page of the Basso part-book an anonymous sonnet in honor of the composer, which Malipiero prints in modern type. The next madrigal book, entitled Concerto settimo libro de madrigali, for which Malipiero used the 1641 edition according to his facsimile of the title page, nevertheless also contains a facsimile of the original 1619 dedication, as well as another sonnet in praise of the composer, again transcribed in modern type. Having more than one edition at his disposal in Bologna, this is the first time Malipiero made any attempt to compare differences between or among separate editions of the same opus, confined, however to a footnote annotation to the solo madrigal Partenza amorosa in which he indicates a different rubric for the piece in the 1623 edition. Also novel in Malipiero’s edition of the Concerto is a realization of the basso continuo even when the upper parts of the harmonies are fully filled out by notated instruments, a practice that continues in the Madrigali guerrieri et amorosi and throughout all the subsequent volumes of the series. The Madrigali guerrieri et amorosi of 1638, Monteverdi’s Libro ottavo, contains an important theoretical preface, reproduced in facsimile by Malipiero in addition to the title page and dedication. In this volume there are stage and ballet works with stage directions or extensive verbal explanations, such as Il combattimento di Tancredi e Clorinda and Il ballo delle ingrate. Malipiero transcribes all of this verbal material, and in Il ballo, interprets in a footnote Monteverdi’s directions that may be ambiguous or unclear. The differences ____________ 13
The Cremona edition, by contrast, reproduces all nine parts as well as the basso continuo with a full realization.
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between the versions of the Il combattimento in the basso continuo part-book and the other part-books are substantial.14 Where there are such differences Malipiero chooses without comment the basso continuo part as his source, although this is discernible from his footnotes annotating variants in the tenor and instrumental parts. In the Madrigali guerrieri et amorosi, Malipiero’s practice of adding phrase markings makes it impossible to distinguish his editorial interventions from Monteverdi’s own phrase markings, which are common in some of the madrigals, such as Mentre vaga angioletta. Monteverdi’s ninth book of madrigals, issued posthumously by the publisher Alessandro Vincenti in 1651, is actually entitled Madrigali e canzonette a due, e tre voci. In addition to facsimiles of both the title page and Vincenti’s dedication, the original index is transcribed in modern type, including Vincenti’s brief message to readers explaining the reason for republishing some compositions that had already appeared in the Libro ottavo. At the end of this last volume of madrigals, Malipiero publishes facsimiles of the dedications of the first and second books of madrigals, which were lacking in the volumes of the edition containing those works. Vols. 11–13 of Malipiero’s edition contain the operas and operatic excerpts. Vol. 11 consists of L’Orfeo, the Lamento d’Arianna from its 1623 publication, and a fragment composta per la Maddalena attributed to Monteverdi in an anthology of 1617. Il Ritorno d’Ulisse and L’Incoronazione di Poppea comprise vols. 12 and 13 respectively. L’Orfeo is based on the first edition of 1609 (the copies of which contain a number of variants) and ignores the corrected second edition of 1615.15 L’Orfeo contains a variety of mensuration signs whose tempo relationships and note equivalencies are sometimes difficult to grasp. In such circumstances it is essential that an edition reproduce the original mensurations and note values, which Malipiero scrupulously does. Unlike the volumes of madrigals, Malipiero wisely avoids trying to suggest note equivalencies between passages in duple and triple meter except in a single instance in the first act. As in the sinfonia to the last madrigal in Il quinto libro de madrigali, Malipiero does not provide a continuo realization for the instrumental sinfonias and ritornellos in L’Orfeo. On the other hand, he does publish a realization of the continuo line throughout Il Ritorno d’Ulisse, L’Incoronazione di Poppea and all subsequent volumes. ____________ 14 15
See Tim Carter, Monteverdi’s Musical Theatre, New Haven and London 2002, pp. 176f. The stop-press corrections in the several extant copies of the 1609 edition have been studied and documented in Tim Carter, Some Notes on the First Edition of Monteverdi’s “Orfeo” (1609), in: Music & Letters 91 (2010), pp. 498–512, first read as a paper at the conference Orfeo son io held in Verona, Venice and Mantua in December 2005. I am grateful to Professor Carter for sharing a copy of his paper with me prior to publication.
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Vols. 12 and 13, whose operas exist in manuscript versions only, open with faux facsimiles of printed title pages in the style of the 17th century, but dated MCMXXX and MCMXXXI respectively. Vol. 13 contains a facsimile of the first page of the Venetian manuscript of the opera, and a brief preface in each volume describes the manuscripts and provides a list of characters. Vol. 13 is the only volume in the entire series that actually compares two different sources, the Venetian and Neapolitan manuscripts of Poppea. Malipiero erroneously believed the first and third acts of the Venetian manuscript to be in Monteverdi’s own hand, therefore giving the Venetian version priority, but he included at the end of the volume those portions of the 1651 Neapolitan manuscript that “complete” the Venetian one, i.e. passages or numbers lacking in the Venetian manuscript; full ritornellos, notated only by means of a basso continuo in the Venetian manuscript; and different versions of instrumental or vocal numbers. In each case he annotates the divergence between the two sources, although the annotations are not always clear. He also includes in his score those passages that are crossed out in the Venetian manuscript. Where words of characters or indications of scenes are missing from the manuscript, Malipiero supplies them from the 1646 Venetian libretto, and some missing vocal passages are reconstructed where the missing parts are obvious or are found in the Naples manuscript. In all of these editorial interventions, Malipiero is careful to indicate what his contributions are or where the missing Venetian passages may be found in the Naples manuscript, extending even to the point of including facsimiles of the same passage from both manuscripts to clarify a particularly problematic passage. On the other hand, he ignores the transposition rubrics, assuming that such transpositions were to accommodate particular performers. Vol. 13 is the only volume of the series where Malipiero functions like a musicologist, comparing sources, determining what he considers to be the better reading, and annotating carefully his interventions, though he does not make corrections in the Naples manuscript excerpts. The last three volumes of the original series comprise Monteverdi’s sacred prints, published in chronological order. In the Latin-texted works, Malipiero avoids any dynamic markings, tacitly assuming that the kinds of expression he suggested for the madrigals and operas (including the five spiritual madrigals at the beginning of the Selva morale et spirituale) were not appropriate for sacred music. Vol. 14, again in two parts, contains Monteverdi’s youthful Sacrae cantiunculae of 1582 and the 1610 Missa In illo tempore and Vespro della Beata Vergine. Although facsimiles of the title pages and dedications of both prints are provided, there is no indication that the title page of the bassus generalis part-book for the 1610 print used for the facsimile differs in some
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important particulars from that of the vocal part-books. In the Sacrae cantiunculae, Malipiero sometimes changes Ω mensurations to P, without any indication of his having done so, and ignores Monteverdi’s black notation, therefore sometimes misinterpreting it, leading to note values and barring that distort Monteverdi’s meaning.16 The Vespro della Beata Vergine presents a new editorial issue, since the bassus generalis part-book includes upper parts for the four motets and Sonata sopra Sancta Maria as well as for virtuoso passages in the psalms and Magnificats as a guide to the continuo player(s). These upper parts differ in details from the vocal part-books and are reproduced faithfully in the score of Pulchra es and Duo Seraphim as well as the Sonata, giving the reader the opportunity to see the differences and decide which version might take priority. In the Sonata the upper parts are simplifications of the ornamented lines in the instruments. Unaccountably, Malipiero leaves these upper parts of the bassus generalis out of his transcription of Nigra sum, Audi coelum and the Deposuit of the Magnificat a 7, perhaps because the differences of detail between the bassus generalis and vocal versions are frequent and would have required editorial intervention and commentary. On the other hand, Malipiero does include the upper parts of the bassus generalis in the Deposuit of the Magnificat a 6. As with L’Orfeo, Monteverdi’s mensurations in the Vespro are varied and, in the 1610 print, inconsistent. Once again, Malipiero maintains the original mensurations and note values except in the hymn Ave maris stella, where Monteverdi notates the bassus generalis in Ω and the voices in P, whether the meter is duple or triple (Ω or Ω b ), as well as in some verses of the two Magnificats. Unlike Monteverdi, who is consistent in confining Ω to the bassus generalis in the hymn and Magnificats, Malipiero is inconsistent, sometimes extending the bassus generalis mensuration to the voices, other times reproducing the vocal mensuration in the bassus generalis, but always without comment.17 The engraving plates of the last two volumes of Malipiero’s original series, the first devoted to the Selva morale et spirituale of 1641 and the second to the posthumous Messa a quattro voci et Salmi published by Alessandro Vincenti in 1650 (each Malipiero volume published in multiple parts) were lost during World War II. In 1967 and 1968 Universal Edition reprinted these volumes, edited by Denis Arnold, by recopying one of Malipiero’s own private copies. According to Arnold’s notes, the original versions, published in 1941 and 1942 ____________ 16 17
See O magnum pietatis and its second part, Eli clamans. Monteverdi notates the Missa In illo tempore in Ω throughout in all parts. Malipiero adopts this mensuration in all parts as well except for the four-voice Crucifixus, where he unaccountably uses a P mensuration.
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under conditions of war, were badly corrected, contained many errors, and the quality of the printing was poor. Arnold emended errors in Monteverdi’s original prints as well as in the first versions of Malipiero’s edition, with more extensive annotations than Malipiero. Arnold also standardized orthography, which in the 17th century was typically inconsistent, and restored the original rubrics that Malipiero had omitted. On the other hand, he corrected only minor details of Malipiero’s basso continuo. According to Arnold, “the edition remains the work of G. F. Malipiero and the pupils to whom he refers in his original preface.” In Vol. 15 Malipiero had reproduced in facsimile the original 1640 title page of the Selva morale, which exists only in the Bologna copy, and not the final 1641 title page also present in the Bologna copy and all others, leading to frequent references in the scholarly literature to the Selva with the wrong publication date.18 The table of contents is transcribed in modern print and omits the sectional divisions indicated in Monteverdi’s original. In Vols. 15 and 16 the edition distinguishes for the first time Monteverdi’s original phrase markings from those that are editorial. Malipiero closed the final volume of his series with an “Abschied” in which he excoriated those performers and musicologists who added accidentals to Monteverdi’s music and deplored arrangements, performances, publications and recordings which altered Monteverdi’s original text in order to popularize the music. Someone had also brought to Malipiero’s attention his misunderstanding of Monteverdi’s rhythmic and mensural notation in the Sacrae cantiunculae, for Malipiero defended himself with the bizarre and disdainful declaration: If we are occasionally supposed to have read various conventional markings wrongly, as apparently happened in the “sacrae cantiuncolae” [sic], we are not convinced that we have erred; since Monteverdi did not warn us, this would indicate that he perhaps prefers our seemingly faulty interpretation to that of false scholars.19
Malipiero’s edition generated a great deal of commentary from Hans F. Redlich, a pioneering Monteverdi scholar, and others, beginning only two years after the appearance of the first volume. While Redlich initially praised Malipiero’s synthesis between musicological and pragmatic methods, Redlich’s response grew more critical as the volumes were released, finding fault with Malipiero’s editorial judgment and noting mistakes in his transcriptions. ____________ 18
19
Furthering the confusion was Malipiero’s inclusion of the facsimile of the dedication, dated May 1, 1641. The dedication date was ignored by many scholars, who relied solely on the original, but obviously superseded title page of 1640 without consulting other copies of the print, where only the 1641 title page is found. Malipiero, Tutte le opere, vol. 16/2, p. 527.
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Ultimately, after the series was completed, Redlich called for a complete revision of Malipiero’s edition.20 Malipiero published Vol. 17, the supplementary volume, in 1966, long after completing the original series. This volume contains a series of canzonette, arie, motets and other short secular pieces from four different anthologies and a manuscript as well as facsimiles of the aforementioned bass part of the Madrigali spirituali of 1583, the title page of one of the anthologies (RISM SD16295) represented in the volume, the first piece of the volume (Io ardo si), a page from the libretto of Giulio Strozzi’s Proserpina rapita, composed by Monteverdi but lost, and an excerpt from an essay by Matteo Caberloti in praise of Monteverdi from Giovanni Battista Marinoni’s Fiori poetici, published in Venice as a memorial in 1644, a few months after Monteverdi’s death. In this last volume, Malipiero abandoned his editorial performance markings, whether tempo suggestions, dynamics or phrasing in favor of a more simple, pristine transcription. However, he also abandoned his adherence to Monteverdi’s original mensurations and note values in triple time, changing the meter signatures and reducing the note values by half. In Venite et videte, for example, the opening ø with three minims per triple unit becomes B with quarter notes. Later in the piece, the mensuration 3 with three semibreves per unit becomes b with three minims comprising a triple unit. Thus, in the supplementary volume, one of the chief advantages of Malipiero’s edition – the retention of original mensurations and note values – is lost.
____________ 20
See Hans F. Redlich, Monteverdi-Gesamtausgabe, in: Musikblätter des Anbruch 10 (1928), pp. 207–211; idem, Neue Monteverdiana, in: Musikblätter des Anbruch 13 (1931), pp. 127f.; idem, Sull’edizione moderna delle opere di Claudio Monteverdi, in: Rassegna musicale 8 (1935), pp. 23–41; idem, Zur Bearbeitung von Monteverdis “Orfeo”, in: Schweizerische Musikzeitung 76 (1936), pp. 37–42; idem, Monteverdi’s Religious Music, in: Music & Letters 27 (1946), pp. 208–215; idem, Aufgaben und Ziele der Monteverdi-Forschung, in: Die Musikforschung 4 (1951), pp. 318–322; idem, Notes to a New Edition of Monteverdi’s Mass of 1651 [sic], in: Monthly Musical Record 83 (May 1953), pp. 95–99; idem, Claudio Monteverdi, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 16 Kassel [etc.], 1960, cols. 511–532; idem, Problemi monteverdiani, in: Rivista italiana di musicologia 2/2 (1967), pp. 328–331; idem, Claudio Monteverdi (1567–1643): Some Editorial Problems of 1967, in: The Consort 24 (1967), pp. 224–232. Others who critiqued Malipiero’s edition are Giacomo Benvenuti, Il manoscritto veneziano della “Incoronazione di Poppea”, in: Rivista musicale italiana 41 (1937), pp. 176–184; Bernard Jacobson, Murder at Aix, in: Music and Musicians 13 (October 1964), pp. 34f.; Henry Prunières, Le couronnement de Poppée, in: Revue musicale 19 (1938), pp. 135f.; Guglielmo Barblan, Nota bibliografica monteverdiana, in: Rivista italiana di musicologia 2/2 (1967), pp. 387–389; Jack A. Westrup, Review of Claudio Monteverdi: L’Orfeo edited by Denis Stevens, in: Music & Letters 48 (1967), pp. 400–402; idem, Review of “Tutte le opere di Claudio Monteverdi”, vols. 12, 13, 14, pt. i & 14, pt. ii, in: Music & Letters 48 (1967), pp. 171–178.
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Claudio Monteverdi: Opera Omnia, published under the auspices of the Fondazione Claudio Monteverdi of Cremona In 1970 the Fondazione Claudio Monteverdi of Cremona began a new critical edition of the complete works of Monteverdi to supplant the Malipiero edition with all its critical weaknesses. The first volume was edited by Raffaello Monterosso, general editor of the series, at that time director of the Fondazione and Professor at the Scuola di Paleografia e Filologia Musicale of the University of Pavia, located in Cremona and the seat of the Foundation. The goal of the edition was to provide a modern, fully critical edition of use to both scholars and performers. The edition is conceived in twenty volumes; each volume has its own editor, although some have edited, or will edit, more than one volume.21 To date, sixteen of the projected twenty volumes have appeared, including all of the madrigal books, the two books of Scherzi musicali, the three juvenile prints, comprising the Sacrae cantiunculae, the surviving bass part of the Madrigali spirituali and the Canzonette a tre, all three of the major volumes of sacred music, and an anthology of miscellaneous sacred compositions. Volumes announced for publication soon are an anthology of secular compositions; L’Orfeo and the Lamento di Arianna; and L’Incoronazione di Poppea. Once these appear, only Il Ritorno d’Ulisse will remain to be published. Four of the volumes so far issued, the First, Second and Sixth Books of Madrigals and the Messa a quattro voci et salmi of 1650, are accompanied by complete compact disc recordings. As with Malipiero’s edition, the criteria of the Foundation’s series are established in the first volume containing the Primo libro de madrigali. In keeping ____________ 21
Editors and co-editors of the volumes already issued and announced are as follows: Raffaello Monterosso (Madrigali Libro I), Anna Maria Monterosso Vacchelli (Madrigali Libro II, VIII, IX, L’Orfeo and Lamento di Arianna), Maria Teresa Rosa Barezzani (Madrigali Libro III), Elena Ferrari Barassi (Madrigali Libro IV), Maria Caraci (Madrigali Libro V), Mariella Sala (Messa a quattro voci et Salmi of 1650), Denis Stevens (Selva morale et spirituale), Frank Dobbins (Scherzi musicali of 1607), Frank Dobbins and Anna Maria Monterosso Vacchelli (Scherzi musicali of 1632), Antonio Delfino (Madrigali Libro VI; Missa In illo tempore and Vespro della Beata Vergine of 1610, Anthology of sacred compositions), Anna Maria De Chiara (Madrigali Libro VII), Lawrence Cummings (L’Incoronazione di Poppea), Frank Dobbins and Emily Corswarem (Anthology of secular compositions), Anthony Pryer (Sacrae cantiuncolae, Madrigali spirituali a quattro voci, Canzonette a tre voci). The only edition for which an editor has not yet been announced is Il Ritorno d’Ulisse. My own editions of the Missa In illo tempore, published by Carus-Verlag in 1994 and of the Vespro della Beata Vergine of 1610, published in 1999 by Oxford University Press, were originally prepared in 1974 for the Cremona edition. However, I was uncomfortable with Prof. Monterosso’s policy that Monteverdi’s triple-meter notations be reduced, and that difference of opinion, combined with the absence of funding at the time to pay for the publication, led to my withdrawal from the series by mutual, friendly agreement with Prof. Monterosso.
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with modern standards for critical editions, each volume begins with a substantial introduction. Typically, the introduction includes a transcription of the dedication and other prefatory material; a comparison of the various editions of each publication; an analytical discussion of the pieces contained in the print, focusing on particularly relevant compositional features; a discussion of performance issues, especially Monteverdi’s varied and often confusing mensurations; a complete critical apparatus based on all the surviving editions; a critical edition of the texts of all the compositions; and, unique to the best of my knowledge of critical editions, a complete facsimile of the principal source or sources used for the modern edition.22 The presentation of the facsimiles, however, is not uniform from volume to volume: some reproduce each piece in all its parts on a single or facing pages, while others present each complete partbook in succession. The former method is much more convenient for the user, since the transcription of any composition can readily be checked against the facsimile, whereas the latter arrangement requires the reader to browse successively through each part-book to find the individual voices or instruments of a composition. Most of the volumes contain a bibliography and a discography as well.23 The notational criteria for this edition include the use of modern clefs, barring through the staff, the realization of the abbreviation ij by means of italic text, the indication of ligatures in the original by brackets over the notes, and similarly, the indication of coloration in the original by broken brackets over the notes. The edition repeats accidentals within a measure as many times as they appear in the original print, but some accidentals on the staff are editorial additions deemed necessary (such as the repetition of an accidental after a modern barline). Editorial accidentals are printed above the staff: those judged indispensable are without brackets; those regarded as uncertain are in square brackets; those considered as reminders, but in essence superfluous, are in parentheses. Monteverdi’s basso continuo parts as well as those added to the fourth and fifth books of madrigals in the 1615 and subsequent reprints by the Antwerp publisher Pierre Phalèse are included and realized in a simple and appropriate 17th-century style with a small note font as in the Malipiero edi____________ 22
23
The introduction to the fifth book of madrigals also contains a discussion of the “Note to Readers” in this print and historical commentary on the prima & seconda pratica mentioned in that note. Volumes lacking a bibliography are Il quinto libro de madrigali, Concerto settimo libro and the Madrigali guerrieri et amorosi. Volumes lacking a discography are Il secondo libro de madrigali, Concerto settimo libro, the Anthology of sacred compositions and the Selva morale et spirituale.
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tion. The editors of all the volumes reject high clefs (G2, C2, C3, and C4 or F3) as a sign of transposition – a position no longer tenable. Monterosso, as editor of the first volume, Il primo libro de madrigali, is critical in his introduction of Malipiero’s standardized barring in duple time, because of its implication of 18th and 19th-century accentuation on the first and third beats of each measure. In compensation, Monterosso offers practical advice regarding the interpretation and performance of the tactus, contrasting the meaning of the battuta with modern metric accentuation. Despite the flexibility in Monteverdi’s metric accentuation, Monterosso nevertheless elects to bar everything in semibreves, including passages in sesquialtera, just as Malipiero had done. Thus, the barring is identical between the two editions in Il primo libro. Monterosso’s concern over musicians misunderstanding Monteverdi’s accentuation might well have been exaggerated, though performers were less aware of these issues when the first volume was published in 1970 than they are today. Monterosso could have chosen to use Mensurstriche, as in so many modern critical editions of Renaissance music, thereby allowing Monteverdi’s original notation to illustrate better his accentuation of the text rather than breaking phrases up by barlines through the staff and tying notes over barlines. Unfortunately, Monterosso’s decision to use barlines through the staff throughout the series led him to a number of other editorial decisions regarding mensurations and note values that this writer finds confusing and distorting. With the few exceptions noted above, Malipiero had preserved Monteverdi’s original mensurations and note values, so that the reader has an accurate picture of Monteverdi’s method of notating both meters and the rhythms that comprise them. That is still true in the first volume of Monteverdi’s madrigals in the Cremona edition because of Monteverdi’s own uncomplicated notation, but not in subsequent volumes where the editors, attempting on the one hand to notate Monteverdi’s accentuation and on the other to use modern forms of triple notation, alter note values and meter signatures at will. The argument is that Monteverdi’s original notation can be seen in the facsimiles that accompany each volume, but the transcriptions give an inaccurate and often misleading picture of that notation. In Il secondo libro de madrigali, the third piece, Bevea Fillide mia, opens with a mensuration of Ωb, notated by Monteverdi principally in semibreves and minims, which alternates with a Ω mensuration. The editor, however, treats the opening meter as a diminution, cutting the note values by half and obscuring the fundamentally triple meter by using a modern P signature and grouping the semibreves (now minims) in triplets. When the mensuration in Monteverdi’s print shifts to Ω, the original mensuration and note values are retained, obscuring the original notational relationship between the triple
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and duple meter and enforcing a proportional relationship between the two that Monteverdi may or may not have intended. In some madrigals, a shift from triple to duple meter at a cadence requires a proportional tempo relationship in order to effect the intended ritardando, but this is not the case in Bevea Fillide mia; yet the editor’s notation leaves no choice regarding a proportional relationship between the two meters. Moreover, one cannot discern what Monteverdi’s original notation was from the transcription and must refer to the facsimile to become aware of the discrepancy in the modern edition. This is most unfortunate, because it does not allow the reader to work with Monteverdi’s own notation and determine the temporal relationships between triple and duple sections on that basis. Moreover, such a transcription obscures the function of mensuration signs as tempo indications in addition to their role as the organizing basis of the rhythm and meter. In contrast, the editor of Il quinto libro retains Monteverdi’s original Ω b mensuration in the sinfonia of Questi vaghi concenti and bars the passage with three semibreves per tactus (tripla). The introduction to Il quinto libro takes the position that no proportional relationship is necessary or desirable between the tripla and the duple meter of the vocal sections, in opposition to the implicit requirement of a proportional relationship in the transcription of Bevea Fillide mia of Il secondo libro.24 In Il terzo libro, the one madrigal notated by Monteverdi in Ω, O dolce anima mia, is transcribed in P, once again masking the tempo implication of the original alla breve mensuration sign. In Il sesto libro an unusual example of tripla in Zefiro torna, notated by Monteverdi in groups of three minims with a mensuration P 3 , alternates with the mensuration P. The P 3 is transcribed and barred as b, maintaining the original minim note values and groupings, but this mensuration and barring suggest sesquialtera between the triple- and duplemeter sections, so the editor is forced to contradict the sesquialtera and indicate the tripla proportional relationship by means of a note equivalency annotation above the staff. Concerto settimo libro de madrigali is notated entirely in P25 with the exception of four pieces containing short passages in triple meter: Tempro la cetra, Dice la mia bellissima Licori, Non vedrò mai le stelle, and Perche fuggi as well as the ballo Tirsi e Clori, which alternates between P and a triple meter notated by Monteverdi sometimes with øb and sometimes merely b. In the Cremona edition of Tirsi e Clori, reductions of groups of three semibreves by ____________ 24
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Wolfgang Osthoff had warned in 1962 against altering the note values in editions of Monteverdi as distorting the music: Per la notazione originale nelle pubblicazioni di musiche antiche e specialmente nella nuova edizione Monteverdi, in: Acta musicologica 34 (1962), pp. 101– 127. Con che soavita is erroneously notated in Ω in four of the five surviving editions.
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4:1 to semiminim triplets under both a and b meters creates a complex and confusing visual image to the reader, even if the original mensuration sign is given above the staff. Moreover this notation results in what I believe to be an erroneous proportional relationship between triple-meter passages and their concluding cadences in P, wherein the cadence emerges twice too slow in relation to the triple time. It is not clear whether in this piece Monteverdi is accurately using old-fashioned, even outdated, meanings of mensuration signs, or they have lost their proportional significance with regard to note values and are simply indications of an even or uneven tactus. Ironically, the practical result of either interpretation is the same in this instance. The three aspects of Monteverdi’s triple notation are the ø, which originally indicated a 2:1 diminution; the b, which was a sign of sesquialtera; and groupings of three semibreves, which were the notation of tripla – a 3:1 proportional relationship. If the ø is taken as a sign of diminution, then the semibreves should be read as minims, and the tripla becomes sesquialtera as indicated by the b meter. Understood as sesquialtera, the temporal relationship between notes in triple time and the cadences in duple time is three minims = two minims. This is exactly the same result as considering triple and duple mensuration signs, whatever versions and at whatever note levels they may be notated, as simply signs for an uneven or even tactus, though at times possibly with faster or slower tempo implications. Under this interpretation, the groups of Monteverdi’s three semibreves are beat with an uneven tactus, whereas the shift to P for the cadence means that the tactus, which is of an unchanging duration, now evenly subdivides the semibreve, resulting in the same sesquialtera note proportions as the older interpretation of the mensuration signs. I am inclined to believe, as I have argued elsewhere, that by this period, the mensuration symbols have largely lost their earlier proportional significance and are now thought of as indications of even and uneven tactus, which may or may not remain the same in its duration, depending on the musical circumstances.26 Triple meter concluding with a duple-time cadence is one circumstance suggesting an unchanging tactus duration to obtain the appropriate retarding effect of the close. This emphasis on the tactus as the meaning and role of mensuration signs by the second decade of the century, and perhaps earlier among some composers, is to me the only reasonable explanation for the remarkable variety and inconsistency of mensural signs, especially triple-meter signs, in this period.27 ____________ 26 27
Jeffrey Kurtzman, The Monteverdi Vespers of 1610: Music, Context, Performance, Oxford 1999, pp. 437–454. Uwe Wolf, who has most thoroughly studied mensurations in this period, repeatedly finds inconsistency and confusion in the use of triple signatures and their relationship to duple time, even within a single print. See Wolf, Notation und Aufführungspraxis: Studien zum Wandel
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It is just this confusion in relation to earlier mensural theory that should warn us that proportional note relationships are no longer the object of the notation, but simply indications of how to subdivide the tactus. In Tirsi e Clori, by whatever route we reach our conclusion, the notation of the Cremona edition emerges as erroneous in its tempo relationship. That Monteverdi himself is sometimes inconsistent in his own metric notation of triple meters is suggested by the mensuration in Tempro la cetra where one of the instrumental interludes near the end of the piece is in P b . According to sixteenth-century theories of proportions, such a signature would ordinarily indicate sesquialtera with a notation in groups of three minims. Monteverdi’s notation, however, as shown in the basso continuo part, is in groupings of three semibreves, typical of tripla proportion. The upper parts, however, move more quickly and are notated in blackened minims, three per semibreve. The tempo relationship between this section and the preceding and following ones in duple meter is unproblematic, since the preceding section and the triple-meter section both come to full cadences and there is flexibility for any musically reasonable relationship. Nevertheless, a steady tactus, alternating between even and uneven, is feasible, resulting in a very lively tempo for the triple-meter passage. Preserving Monteverdi’s notation in this case is somewhat awkward in modern terms: maintaining the perfect semibreves in the bass would require notating the upper parts in triplets of minims. Converting the perfect semibreves to modern dotted semibreves would not require triplets in the upper parts, but would obscure the blackened notation. Both the Cremona and Malipiero editions choose to notate the bass in dotted minims and maintain the black notation in the upper parts, in essence, creating a 2:1 diminution of Monteverdi’s notation. However, only the Cremona edition indicates that the upper parts are actually blackened minims by means of the standard open brackets. Malipiero’s edition makes them appear as semiminims. The Cremona edition, while indicating the original mensuration above the staff, bars this passage in E. As a consequence, the regularly occurring cadences all fall in the middle of the bar. For an edition whose premise is that modern barring often implies accents in the wrong place, this is a peculiar choice. Malipiero’s barring in b brings some of the cadences at the beginning of a bar, but suggests shifts of accent that belie the regularity of the phrase structure. The barring problem results from Monteverdi’s phrases being in regular units of four semibreves. The E barring of the Cremona edition preserves the regu__________
von Notenschrift und Notenbild in italienischen Musikdrucken der Jahre 1571–1630, 2 vols., Berlin and Kassel 1992.
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larity of the phrase structure, but displaces the cadences. What would be required to locate them in the proper position in relation to the barring is to begin the passage with a half bar, resulting in all the cadences falling on a “downbeat.” Dice la bellissima Licori, Non vedrò mai le stelle, and Perche fuggi each have brief passages in triple meter indicated, as in Tirsi e Clori, by øb with note groupings in units of three semibreves. The Cremona edition reduces both continuo and voices by a 4:1 ratio and employs a a meter for these passages with the semiminims of the voices in triplets. The triple meter of Dice la bellissima begins by completing a cadence but closes with a retarding cadence in P, suggesting a proportional relationship between the two meters. Moreover, the triple-meter sections repeat the text of the preceding duple-meter passages and convert their principal melodic motive from duple to triple time. If a proportion is maintained, the Cremona edition’s transcription generates twice the speed for the triple meter in relation to the surrounding duple time than a simple change from a steady even-to-uneven tactus would. For the performer, however, freedom and flexibility of tempo do not necessarily require a proportional relationship even in this passage. In Non vedrò, the triple-meter section both begins and ends with a cadence, so that no inherent proportional relationship is implied between it and the surrounding duple-meter passages. In Perche fuggi the triple-meter passages are preceded by a cadence, but themselves continue uninterruptedly into duple meter, suggesting a proportional relationship between the two, though even more than Dice la mia bellissima, the tempo throughout this piece can vary substantially according to the contrasting affects of the text. A proportional relationship can be created, as suggested above, by a largely unchanging tactus duration from triple meter to duple. The Cremona edition’s reduction of the triple meter, however, results in the duple meter being twice as slow in relation to the triple as a steady tactus would. The matter is further confused by the duple meter being notated at first in two bars of b, in order to make the first syllable of the word morto fall at the beginning of the bar. The insertion of b bars in a duple-meter context is common throughout the Cremona Concerto edition in order to accommodate bar lines to word and musical phrase accents. In addition, even pieces in P with an even metrical accent throughout are notated superfluously with a modern a meter signature. The editor is always careful to indicate the original mensuration sign above the staff, but the insertion of b bars is often distracting and unhelpful. For example, in A quest’olmo, at the text acque amiche sponde il mio passato ben quasi presente Amor …, the editor has mixed several b bars among the underlying a
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because of harmonic and melodic syncopations or in order to make accented syllables fall at the beginning of a bar. But the b barring tends to obscure the syncopations as well as the cross-accents Monteverdi typically creates between accented melodic notes and text syllables on the one hand and the underlying duple meter on the other. It is just such cross accents that give Monteverdi’s music much of its lively rhythmic character. The shifting meters created by the editor result near the end of the madrigal in the succession b, a, b, c, a, b, a, b, a in the space of only 12 bars. Such a visually bewildering sequence assumes that performers are so rigid and uncomprehending in their accentuation of the bar lines in P that they cannot possibly perceive Monteverdi’s cross accents without the metrical reorganization of the editor. Malipiero’s evenly barred P is far easier to negotiate, especially since the texture is entirely homophonic, with the word accents occurring in the same metric position in all voices. Fortunately, A quest’olmo is the worst example, and most others are limited in the quantity and proximity of their changes – distracting and perhaps annoying, but at least not confounding the reader. However, it is in the Madrigali guerrieri et amorosi and the Madrigali e Canzonette of 1638 and 1651 respectively, that the decision to alter Monteverdi’s mensuration signatures, whether to indicate phrasing or triple time, has the most confusing, sometimes bizarre results. In the Madrigali guerrieri, but not in the Madrigali e Canzonette, Monteverdi’s original mensurations are printed over the first appearance of the editor’s meter signature, at least giving the reader a reference point to the original print. However, triple meters are again rendered as duple-time triplets in the transcription, with note values reduced, distorting Monteverdi’s original notation. In duple time, barring is according to what the editor views as the natural melodic groupings of notes, which, however, results in irregular measures, juxtaposing such oddities as a and c, with and without triplets, and P followed by triplets representing P E . In Hor che’l ciel e la terra, the editor attempts to notate the prosodic accentuation by shifting back and forth between a and b bars in passages where Monteverdi simply notates P, suggesting triple meter where Monteverdi subsumes everything under duple meter. In another passage the editor shifts from P to B to a to D to a in the space of 7 measures. Similar notational anomalies occur in one madrigal after another, misrepresenting in the modern transcription the original metric notation and often engendering more confusion than clarity. In piece after piece, the reader is hard-pressed to discern what Monteverdi’s original notation must have been, and must consult the facsimile to know. Modern performers are more familiar with 17th-century notational practices than a generation ago,
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and would have been better served by Monteverdi’s original notation, while the scholar is not served at all by the transcription.28 The metric and rhythmic notation is even more anomalous and confusing in the Madrigali e Canzonette. The introduction discusses extensively the variety of Monteverdi’s metric signatures as well as the natural prosody of texts and music that contradict Monteverdi’s mensuration signs; it is this prosody that is the justification for altering the changing mensurations, and employing triplets and even duplets. But the results are problematic; in Si si ch’io v’amo, a E meter is followed by H with duplets, while another madrigal notates duplets in a meter, which is particularly baffling. The editor also employs b for both duple meter and sesquialtera in contradiction to Monteverdi’s use of b as sesquialtera or tripla only. Since the editor of this volume doesn’t give the original mensuration sign in the score, the result is further confused. The notation of some pieces is a forest of triplets and triplet group marks; in Bel pastor, because the triplet groups are at different rhythmic levels, the relationship between notes is practically indecipherable. Quando dentro al tuo seno begins in m and then proceeds with C, D, B, D, and C, but the editor at least publishes a second version entirely in duple time (a). Since the editor’s intent is to map out metrically and rhythmically the scansion of the text, the editor becomes the interpreter of the musical text, changing it to suit the editor’s understanding of the poetry and its prosodic relationship to the music, arguing that “it is precisely every editor’s responsibility consciously to attempt to reconstruct […] the most authentic meaning of the music of the past.”29 One cannot disagree with this principle, but the user is forced to rely on the editor’s judgment regarding scansion, and the modern notation doesn’t make it possible to decipher easily what Monteverdi’s original notation was (nor sometimes, to decipher the modern notation itself). Yet in some instances, delineated in the introduction, the editor does avoid such interference. Ultimately, the attempt to render Monteverdi’s complex text scansion and metric variety through the editor’s own meter signatures and barring flounders in a sea of mind-boggling notational complexity. As with the Madrigali guerrieri et amorosi, the user of the edition would again have been better served by maintaining Monteverdi’s original mensurations and note values, possibly with editorial note equivalencies indicated above the staff, and with explanations of temporal relationships and a ____________ 28
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In the introduction to Il primo libro de madrigali, p. 20, Monterosso himself had criticized the continual alternation of polymeters employed by Hugo Leichtentritt in his undated Leipzig edition of 12 fünfstimmige Madrigale von Claudio Monteverdi as “in practice more cumbersome than useful” (“all’atto pratico, più ingombrante che utile”). Madrigali Libro Nono, p. 25: “[…] è compito preciso di ogni editore consapevole tentare di ricostruire […] il significato più autentico delle musiche del passato.”
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discussion of particular points of scansion in the introduction. The notational complexity of this volume is enough to drive the reader back to the Malipiero edition where Monteverdi’s original notation is mostly clear. Similar issues are encountered in the two volumes of Scherzi musicali (1607 and 1632), whose editor similarly alters Monteverdi’s metric notation to indicate the prosody of the text and flexibility of musical phrases. However, as in some of the other volumes, there is no indication in the score of Monteverdi’s original mensurations. The same criteria, procedures and problems seen in the nine books of madrigals and Scherzi musicali are also evident in the four volumes of sacred music published to date. The organ part for the Missa In illo tempore and the Vespro della Beata Vergine of 1610 is in places unaccountably in a small type font, making it unclear what is in Monteverdi’s bassus generalis part-book and what is editorial. Monteverdi’s bassus generalis includes upper parts for several compositions as well as a short score for a number of passages. Since these upper parts sometimes differ, especially rhythmically, from the vocal partbooks, it would have been useful to include them in the transcription of the bassus generalis so that the user could choose the more desirable reading. The editor makes such choices himself, sometimes using the upper parts from the bassus generalis as better readings than the comparable passages in the vocal part-books, but this can only be determined by consulting the critical notes or comparing the score with the facsimile rather than from the transcription itself. In the Sonata sopra Sancta Maria, it is this writer’s view that the editor has misinterpreted Monteverdi’s black notation. Once again, high clefs are ignored as signs of transposition, despite the evidence of a manuscript partitura of the Mass with all parts transposed down a fourth and Padre Giambattista Martini’s example of the first Agnus Dei of the Mass transposed down a fourth in his counterpoint treatise of 1776.30 The introduction to the Selva morale et spirituale (whose facsimile is missing its cover title) is especially problematic in its historical account of the music of the print. Unfortunately, too much of it is simply the fantasy of the editor, Denis Stevens, and has little or no evidentiary basis at all. A number of useful passages from Monteverdi’s letters and other documents regarding performance issues are quoted in the introduction, but the significance of high clefs is once again denied. All rubrics in the part-books are included in the transcription and the missing Altus I and Bassus I parts in the Magnificat a 8 ____________ 30
Giambattista Martini, Esemplare o sia Saggio fondamentale pratico di contrappunto fugato […] parte seconda, Bologna 1776, pp. 242–250. The transcription is notated in the natural clefs with a one-sharp key signature.
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are restored. On the other hand, the editor omits in this piece a rubric in the basso continuo calling for two violins at bar 213 and doesn’t supply missing parts; nor is any note made of this rubric in the Critical Commentary. For the first time in the Cremona series, the editor adds slurs in the transcription, which are clearly missing from the original print. The introduction to the Messa a quattro voci et Salmi of 1650 does acknowledge numerous authorities and treatises dealing with transposition of high clefs. However, the editor doesn’t distinguish between transposition for vocal convenience and transposition because of high clefs, and she ultimately concludes simply and unconvincingly that Monteverdi’s high clefs may simply have been a bow to tradition in the notation of the stile antico. Because the copy of this print in the University Library in Wrocław, Poland, has a significant number of hand-written accidentals added to the parts, the editor includes these in the edition above the affected notes in angled brackets (< >). Also for the first time, the introduction includes a bibliography of modern editions of the music of this print. A bibliography of modern editions, facsimiles and secondary sources is also included in the Anthology of sacred compositions, comprising a series of sacred compositions found in manuscript or originally published in anthologies and not already appearing in one of the other sacred music volumes. Each piece is preceded by its facsimile, which is much more convenient than having all the facsimiles printed at the end of the introduction according to the model of the other volumes. Because the sources are so diverse, the process of transcription is more complicated. Once again, triple meters are rendered in reduced note values, sometimes by 2:1, other times by 4:1, with new meters (original mensurations are printed above the staff), while duple time is transcribed in integer valor. This approach is applied both within individual pieces, as well as to successive pieces from the same source. Most of these pieces are not so complicated metrically as to be seriously problematic in their transcriptions with note reductions and modern meter signatures, but sometimes, as in Venite et videte, the reduction of triple meters and the note equivalency given by the editor results in a duple meter tempo twice too slow for the preceding triple meter. Once again, both the scholar and the performer would have been better served by preserving Monteverdi’s original notation. Since this volume appeared, two settings of the Marian antiphon Salve Regina and one of Regina caeli have been attributed to Monteverdi in a print missing its title pages and with no indication of date, but likely by Alessandro Vincenti from between 1662 and 1667. The print consists only of three Salve Reginas and the Regina caeli, but the first Salve Regina is clearly identified as
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Monteverdi’s and is a reprint of the version first published in an anthology by Lorenzo Calvi in 162931 and later reissued in the Selva morale et spirituale. It is probable that in the (Vincenti?) print of the 1660s the following two settings of the antiphon as well as the Regina caeli, though not directly attributed to Monteverdi, are also by him. All four antiphons have recently been published in both a critical edition and complete facsimile of the part-books.32 The Cremona edition of Monteverdi’s complete works is a vast improvement over Malipiero’s edition in every respect except for its metric and rhythmic notation and its failure to consider the meaning of high clefs in terms of actual sounding pitch. The editorial policy of altering Monteverdi’s mensurations and note values in an effort to notate Monteverdi’s prosody, phrasing and metric relationships results in confusion regarding the notation of triple meter and its relationship to duple meter, which is sometimes erroneous in its representation. Modern notational schemes can be at least as problematic when applied to this music as Monteverdi’s original notation was, though in different ways, and the attempt to improve on Monteverdi’s notation fails in too many respects, including simple readability. Even though a complete facsimile is published in each volume to facilitate comparison with the original source(s), the process is too cumbersome to be very useful, especially when the facsimile presents each part-book in succession rather than assembling the parts for a single piece on the same page or facing pages. The Malipiero edition is superior to the Cremona edition in usually representing accurately Monteverdi’s notation in its transcriptions. Modern scholars and performers are much more adept at understanding that notation than even a generation ago, and Malipiero’s edition is not only a factor in their gaining that comprehension, it continues to be preferred to the Cremona edition by many early music performers because of its easier readability. The complexities of Monteverdi’s prosody, phrasing and metric relationships are better handled through discussion and examples in the introduction to an edition rather than by altering the original notation so radically as the Cremona edition has done.33 These two editions represent two stages of historical musicology in Italy, less than fifty years apart, but separated by the Second World War. Malipiero’s edition, while following in the footsteps of earlier Italian scholars, reflects the ____________ 31 32 33
Quarta racolta de sacri canti a una, due, tre, et quattro voci […] fatta da don Lorenzo Calvi, Venice 1629 (= RISM B/I: 16295). Luigi Collarile (ed.), Salve Regine del Sig. Claudio Monteverde, Bologna 2011. The only published review of a volume of the Cremona edition known to me and to the Fondazione Claudio Monteverdi is Jeffrey G. Kurtzman, Claudio Monteverdi: Madrigali à 5 voci, Libro Primo, edited by Raffaello Monterosso; and Claudio Monteverdi: Il Primo Libro di Madrigali a Cinque Voci, edited by Bernard Bailly de Surcy, in: Journal of the American Musicological Society 27 (1974), pp. 343–348.
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desire of many composers of his generation to break away from the dominance of 19th-century Italian opera in the musical life of the nation, as well as Italian nationalism in its effort to escape foreign, especially Germanic, influence. Malipiero, unique among his compatriots, undertook to present Monteverdi’s music in its original notation and form, but still felt it necessary to instruct performers on how that music should be performed on the basis of his own musical intuition. In the editorial process, Malipiero felt himself to have an instinctive connection with Monteverdi which took precedence over historical knowledge and scientific methodology, which he disdained. The Cremona edition emerged from quite different considerations. The post-war Scuola di Paleografia e Filologia Musicale of the University of Pavia is an institute based on modern musicological method, and the Cremona edition, published under the auspices of the attached Fondazione Claudio Monteverdi, is an effort to bring all the resources of musicological methodology to bear on the works of Monteverdi in conscious reaction to the problems and failings of the Malipiero edition. Again spearheaded by a single individual, Raffaello Monterosso, the demands of the project have required the services of many different editors who, while adhering to the general editorial principles first laid out by Monterosso, are not always consistent in their detailed application. But this edition has not itself solved all of the difficulties of translating Monteverdi’s notation into a modern score. The flexibility of meter, tempo, phrasing, and rhythmic organization of Monteverdi’s music, often not immediately discernible in Monteverdi’s own notation, is not well served by the Cremona edition’s methods, either. The latter appear more pedantic and confusing than helpful, whether to scholars or performers. Both the Malipiero and Cremona editions illustrate the fact that notation is not the piece itself, but only an approximation, insufficient and faulty in many respects, of the music as conceived and intended for performance. The purpose of a modern critical edition should be to clarify that notation as much as possible, while not distorting the original form, and to provide as much information as possible for the understanding of that notation and what it both represents and doesn’t represent for the benefit of both performing musicians and scholars.
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Editions of the Works of Claudio Monteverdi Gian Francesco Malipiero, Tutte le opere di Claudio Monteverdi Vols. 1–2 cite Asola, vols. 3–16 “Nel Vittoriale degli Italiani,” the villa of Gabriele D’Annunzio in Gardone Riviera, as the places of publication on their title pages. Vols. 1–14 were printed in Bologna by Enrico Venturi, indicated on the penultimate page of each volume. The original, faulty and poorly produced editions of vols. 15 and 16 were printed in 1941 and 1942 during World War II (the original plates were lost during the war). Denis Arnold’s 1968 revised editions of these two volumes vastly improved the musical text. In 1967, Universal Edition in Vienna reprinted vols. 1– 14 and the subsequent vols. 15 and 16 in Arnold’s edition. Vol. 17 was published by Malipiero in a private edition in 1966 and republished by Universal in 1968. Vol. 1: Il primo libro de madrigali (Asolo, 1926) Vol. 2: Il secondo libro de madrigali (Asolo, 1927) Vol. 3: Il terzo libro de madrigali (Nel Vittoriale degli Italiani, 1927) Vol. 4: Il quarto libro de madrigali (Nel Vittoriale degli Italiani, 1927) Vol. 5: Il quinto libro de madrigali (Nel Vittoriale degli Italiani, 1927) Vol. 6: Il sesto libro de madrigali (Nel Vittoriale degli Italiani, 1927) Vol. 7: Concerto. Settimo libro de madrigali (Nel Vittoriale degli Italiani, 1928) Vol. 8: Madrigali guerrieri et amorosi. Ottavo Libro (Nel Vittoriale degli Italiani,1929) Vol. 9: Madrigali e Canzonette a due e tre voci. Nono Libro (Nel Vittoriale degli Italiani, 1929) Vol. 10: Canzonette a tre voci, Scherzi Musicali a tre voci, Scherzi Musicali cioè Arie & Madrigali a 1 & 2 voci (Nel Vittoriale degli Italiani, 1929) Vol. 11: Orfeo, Lamento d’Arianna, Musiche de Alcuni (Nel Vittoriale degli Italiani, 1930) Vol. 12: Il Ritorno d’Ulisse in Patria (Nel Vittoriale degli Italiani, 1930) Vol. 13: L’Incoronazione di Poppea (Nel Vittoriale degli Italiani, 1931) Vol. 14: Sacrae Cantiunculae tribus vocibus, Sanctissimae Virgini Missa senis vocibus, Vespro della beata Vergine (Nel Vittoriale degli Italiani, 1932) Vol. 15: Selva Morale e Spirituale (Nel Vittoriale degli Italiani,1941; rev. ed. by Denis Arnold, Vienna: Universal Edition, 1968) Vol. 16: Messa a quattro voci et Salmi a 1.2.3.4.5.6.7. & 8 voci concertati, e Parte da Cappella & con le Letanie della B.V., Frammenti pubblicati in varie raccolte (Nel Vittoriale degli Italiani,1942; rev. ed. by Denis Arnold, Vienna: Universal Edition, 1968) Vol. 17, Supplemento: Secular and Sacred Pieces from Various Anthologies, Villanella a 3 voci, Basso of Madrigali spirituali a 4 voci facsimile (Venice: Fondazione Giorgio Cini, 1966 [private edition]; Vienna: Universal Edition, 1968)
Fondazione Claudio Monteverdi (Cremona) Vol. 1: Il Primo Libro dei Madrigali, ed. Raffaello Monterosso (1970) Vol. 2: Il Secondo Libro dei Madrigali, ed. Anna Maria Monterosso Vacchelli (1979) Vol. 3: Il Terzo Libro dei Madrigali, ed. Maria Teresa Rosa Barezzani (1988) Vol. 4: Il Quarto Libro dei Madrigali, ed. Elena Ferrari Barassi (1974) Vol. 5: Il Quinto Libro dei Madrigali, ed. Maria Caraci (1984) Vol. 6: Il Sesto Libro dei Madrigali, ed. Antonio Delfino (1991) Vol. 7: Madrigali guerrieri et amorosi, Libro Ottavo, ed. Anna Maria Monterosso Vacchelli (2004) Vol. 8: Madrigali e canzonette Libro Nono, ed. Anna Maria Monterosso Vacchelli (1983) Vol. 9: Messa a 4 voci e Salmi, ed. Mariella Sala (1995) Vol. 10: Selva morale et spirituale, ed. Denis Stevens (1998) Vol. 11: Scherzi musicali a tre voci (1607), ed. Frank Dobbins (2002) Vol. 12: Scherzi musicali a una e due voci (1632), ed. Frank Dobbins and Anna Maria Vacchelli (2002) Vol. 13: Missa da Capella a sei – Vespro della Beata Vergine, ed. Antonio Delfino (2005) Vol. 14: Concerto. Settimo Libro dei Madrigali, ed. Anna Maria De Chiara (2008) Vol. 15: Composizioni Sacre. Antologia, ed. Antonio Delfino (2010)
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Vol. 16: Sacrae Cantiunculae (1582), Madrigali spirituali a quattro (1583), Canzonette a tre voci (1584), ed. Anthony Pryer (2012)
Projected volumes: Antologia di composizioni profane, ed. Frank Dobbins and Emily Corswarem Orfeo, Lamento di Arianna, ed. Anna Maria Vacchelli L’incoronazione di Poppea, ed. Lawrence Cummings Il ritorno di Ulisse in patria
Literature An alphabetical index to Claudio Monteverdi: tutte le opere nuovamente date in luce da G. Francesco Malipiero, Asolo, 1926–1942, ed. by the Bibliography committee of the New York Chapter of the Music Library Association, New York [1963] dell’Antonio, Andrew: Il divino Claudio: Monteverdi and Lyric Nostalgia in Fascist Italy, in: Cambridge Opera Journal 8/3 (November 1996), pp. 271–284 Barblan, Gugliemo: Malipiero e Monteverdi, in: L’Approdo musicale 3 (1960), pp. 122–133 Barblan, Guglielmo: Nota bibliografica monteverdiana, in: Rivista italiana di musicologia 2/2 (1967), pp. 387–389 Benvenuti, Giacomo: Il manoscritto veneziano della “Incoronazione di Poppea”, in: Rivista musicale italiana 41 (1937), pp. 176–184 Bianchi, Chiara: Monteverdi e Malipiero: Storia di un’Edizione, in: Rassegna veneta di studi musicali 15/16 (1999/2000), pp. 209–219 Carter, Tim: Monteverdi’s Musical Theatre, New Haven and London 2002 Carter, Tim: Some Notes on the First Edition of Monteverdi’s “Orfeo” (1609), in: Music & Letters 91 (2010), pp. 498–512 Eitner, Robert: Biographisch-bibliographisches Quellen-Lexikon der Musiker und Musikgelehrten christlicher Zeitrechnung bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1900–1904 Fenlon, Iain: Malipiero, Monteverdi, Mussolini and Musicology, in: Sing, Ariel. Essays and Thoughts for Alexander Goehr’s Seventieth Birthday, ed. by Alison Latham, Aldershot/Hants 2003, pp. 241–255 Jacobson, Bernard: Murder at Aix, in: Music and Musicians 13 (October 1964), pp. 34–35 Kurtzman, Jeffrey G.: Claudio Monteverdi: Madrigali à 5 voci, Libro Primo, edited by Raffaello Monterosso; and Claudio Monteverdi: Il Primo Libro di Madrigali a Cinque Voci, edited by Bernard Bailly de Surcy, in: Journal of the American Musicological Society 27 (1974), pp. 343–348 Kurtzman, Jeffrey G.: The Monteverdi Vespers of 1610: Music, Context, Performance, Oxford 1999 Kurtzman Jeffrey: Approaches to Monteverdi: Aesthetic, Psychological, Analytical and Historical Studies, Farnham/Surrey 2013, No. XII [n. pag.] Martini, Giambattista: Esemplare o sia Saggio fondamentale pratico di contrappunto fugato […] parte seconda, Bologna 1776 Osthoff, Wolfgang: Per la notazione originale nelle pubblicazioni di musiche antiche e specialmente nella nuova edizione Monteverdi, in: Acta musicologica 34 (1962), pp. 101–127 Prunières, Henry: Le couronnement de Poppée, in: Revue musicale 19 (1938), pp. 135–136 Redlich, Hans F.: Monteverdi-Gesamtausgabe, in: Musikblätter des Anbruch 10 (1928), pp. 207–211 Redlich, Hans F.: Neue Monteverdiana, in: Musikblätter des Anbruch 13 (1931), pp. 127–128 Redlich, Hans F.: Sull’edizione moderna delle opere di Claudio Monteverdi, in: Rassegna musicale 8 (1935), pp. 23–41 Redlich, Hans F.: Zur Bearbeitung von Monteverdis “Orfeo”, in: Schweizerische Musikzeitung 76 (1936), pp. 37–42 Redlich, Hans F.: Monteverdi’s Religious Music, in: Music & Letters 27 (1946), pp. 208–215 Redlich, Hans F.: Aufgaben und Ziele der Monteverdi-Forschung, in: Die Musikforschung 4 (1951), pp. 318–322
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Werner Breig
Schütz-Gesamtausgaben*
I.
Sämtliche Werke (1858–1894; 1909, 1927)
In der Reihe der um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden musikalischen Gesamtausgaben hat das deutsche 17. Jahrhundert zunächst keine Rolle gespielt. Erst das Jahr 1885, in dem die Geburtsjubiläen von Bach und Händel begangen wurden, lenkte die Aufmerksamkeit auf den ein Jahrhundert älteren deutschen Komponisten Schütz, so dass der auf dem Gebiet der Gesamtausgaben führende Verlag Breitkopf & Härtel das Wagnis eingehen konnte, auch ihm eine Gesamtausgabe seiner Werke zu widmen. Nachdem Philipp Spitta in einem großen Aufsatz über die Jubilare dieses Jahres nachdrücklich auf Schütz hingewiesen und ihm zukünftige Geltung prophezeit hatte,1 erschien im September 1885 die erste Mitteilung des Verlages auf einem Prospekt, in dem der Öffentlichkeit das Werk von Schütz als das Fundament für das Schaffen Bachs und Händels dargestellt wird. Den Gesamtausgaben, die man diesen beiden Komponisten bereits gewidmet hatte, sollte nun eine Schütz-Gesamtausgabe folgen. Zur Begründung heißt es: Händel und Bach wurzeln in der Musik des 17. Jahrhunderts. Die Art dieser Musik gründlich kennen zu lernen wird ein jeder schon um Händel’s und Bach’s willen, sodann aber auch wegen ihres eigenen grossen Kunstwerthes wünschen müssen. Heinrich Schütz, der grösste deutsche Komponist des 17. Jahrhunderts [ist] der hervorragendste Begründer der ausserordentlichen musikalischen Entwicklung, welche Deutschland im folgenden Jahrhundert erlebte […]. Eine genaue Kenntnis der Kompositionen des genialen Meisters ist für das Verständnis der Geschichte der deut____________ * Hilfreiche Auskünfte zur Geschichte der Schütz-Ausgaben verdankt der Verfasser für die Ausgabe der Sämtlichen Werke Frau Dr. Thekla Kluttig (Leipzig) und Herrn Dr. Andreas Sopart (Wiesbaden), für die Neue Schütz-Ausgabe Herrn Dr. Ruprecht Kamlah (Erlangen), Herrn Patrick Kast M. A (Kassel), Herrn Dr. Wolfgang Rehm (Hallein-Rif), Herrn Dr. Wolfgang Thein und Frau Antje Wissemann (Kassel), für die Stuttgarter Schütz-Ausgabe Herrn KMD Günther Graulich und Herrn Dr. Uwe Wolf (Stuttgart). 1 Philipp Spitta, Händel, Bach und Schütz, in: ders., Zur Musik – Sechzehn Aufsätze, Berlin 1892 (Nachdruck Hildesheim, New York 1976), S. 59–92. Schon vom Plan der Gesamtausgabe getragen scheint der Satz: „Über die Geschichte seiner Werke ist kaum etwas zu berichten, sie sollen eine solche erst noch haben“ (S. 84).
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Werner Breig schen Musik nicht nur wichtig, sondern unerlässlich. Zudem sind diese Tonsätze von einer solchen Frische und musikalischen Wirkung, dass dieselben unsern Gesangchören eine ganz ungeahnte Bereicherung bieten werden.
Noch im gleichen Jahr begann die Ausgabe zu erscheinen, von der man meist kurz als der „Spitta-Ausgabe“ spricht. Philipp Spitta (1842–1894)2 war durch seine Bachforschungen zu näherer Beschäftigung mit der deutschen Musik des 17. Jahrhunderts angeregt worden, was dann zunächst zu seiner Ausgabe der Orgelwerke von Dietrich Buxtehude3 führte und dann zur Herausgabe der Sämtlichen Werke von Heinrich Schütz (SGA), den er als „die größte und genialste Erscheinung in der deutschen Musik des 17. Jahrhunderts“4 erkannte und dem er schon in seiner Bach-Monographie einige Passagen gewidmet hatte.5 Doch sollte nicht vergessen werden, dass die „Spitta-Ausgabe“ zwei Initiatoren hatte, und zwar, wie in der Verlagsankündigung zu lesen, neben Spitta Friedrich Chrysander. Diese Doppel-Urheberschaft wird allerdings schon im Vorwort zu Band 1 modifiziert, wenn Spitta schreibt: Alleiniger Herausgeber ist der Unterzeichnete. Friedrich Chrysander hat aus früheren Jahren stammende Vorarbeiten zur Verfügung gestellt, deren ihres Orts Erwähnung geschehen wird.6
Worin besteht der Anteil Chrysanders, und warum hat er sich so rasch wieder von der Editionsarbeit zurückgezogen? Dass er einer der besten Schütz-Kenner der Zeit war, ist unzweifelhaft. Zwar ist – sieht man von einigen Bemerkungen in der Händel-Monographie7 ab – die einzige Veröffentlichung, in der sich seine Kenntnis niedergeschlagen hat, die umfangreiche Arbeit über die Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Kapelle und Oper vom 16. bis 18. Jahrhundert von 1858, in dem ein Abschnitt Heinrich Schütz gewidmet ____________ 2
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Wolfgang Sandberger, Das Bach-Bild Philipp Spittas. Ein Beitrag zur Geschichte der BachRezeption im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1997; Ulrike Schilling, Philipp Spitta. Leben und Wirken im Spiegel seiner Briefwechsel, Kassel 1994; Friedhelm Krummacher, Geschichte als Erfahrung: Schütz und Bach im Blick Philipp Spittas, in: Schütz-Jahrbuch 17 (1995), S. 9–27. Dietrich Buxtehudes Werke für Orgel, hrsg. von Philipp Spitta, Bd. 1–4, Leipzig 1878. Spitta, Händel, Bach und Schütz (wie Anm. 1), S. 84. Spitta würdigt Schütz’ „poetisch-musikalische Gestaltung abgeschlossener biblischer Vorgänge“ (Joh. Seb. Bach, Bd. 1, Leipzig 1873, S. 42f.) und beschreibt relativ ausführlich die Passionen und die Sieben Worte (ebd., Bd. 2, 1880, S. 312–315). Heinrich Schütz, Die evangelischen Historien und die Sieben Worte Jesu Christi am Kreuz, hrsg. von Philipp Spitta (= Sämtliche Werke, Bd. 1), Leipzig [1885], S. [V]. Dort spricht Chrysander von Schütz’ Passionen als „jene[n] anspruchslosen köstlichen Tondichtungen, in denen alles zur Blüthe aufgegangen ist, was in der altdeutschen Weise der Passion Herrliches beschlossen lag“; vgl. Friedrich Chrysander, G. F. Händel, Bd. 1, Leipzig 1858, S. 428.
Schütz-Gesamtausgaben
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ist.8 Doch kannte er nicht nur die Schütz’schen Druckwerke, sondern war auch mit der handschriftlichen Überlieferung vertraut, wie aus seinen Eintragungen auf den Papierumschlägen der Kasseler Schütz-Quellen zu ersehen ist.9 Detaillierteres über Chrysanders Verhältnis zur Schütz-Edition erfahren wir aus seinem Epilog zur Gesamtausgabe, deren Vollendung mit dem frühen Tod Philipp Spittas10 im Alter von 52 Jahren zusammenfiel: Mit wenigen Ausnahmen sind die Werke von Schütz nur in gedruckten oder geschriebenen Stimmbüchern erhalten, und welche Mühe es verursacht, sie aus diesen in eine brauchbare Partitur zu bringen, das kann ich einigermaßen beurtheilen, da ich in den Jahren 1854 bis 1857 mehr als zweitausend Seiten derselben spartirte. […] Die Betrachtung meiner Bände in dem grossen Jubiläumsjahre 1885 war es auch, welche Spitta und mich veranlasste, eine Gesammtausgabe von Heinrich Schütz zu planen, und zwar eine gemeinsame, wie denn auch der Kontrakt mit dem Verlagshause Breitkopf & Härtel von uns beiden unterzeichnet wurde. Dass ich sodann vor dem Beginn der wirklichen Arbeit die Ausgabe meinem Freunde Spitta überliess, dazu wurde ich hauptsächlich bestimmt durch Hoffnungen, die nun der grausame Tod nicht hat zur Erfüllung kommen lassen.11
Wollte Chrysander mit dem letzten Satz andeuten, dass er die Hoffnung hatte, aus der Editionsarbeit würde anschließend eine großangelegte SchützMonographie erwachsen, die Spittas monumentaler Bach-Monographie an die Seite gestellt werden könnte?12 Aus der Angabe „zweitausend Seiten“ lässt sich immerhin eine ungefähre Vorstellung von der Menge der Übertragungen gewinnen, die Chrysander dem Freund als Arbeitsgrundlage überließ.13 Gewiss war es nur mit Hilfe dieser ____________ 8
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Friedrich Chrysander, Geschichte der Braunschweig-Wolfenbüttelschen Kapelle und Oper vom 16. bis 18. Jahrhundert, in: Jahrbücher für die musikalische Wissenschaft 1 (1863), S. 147– 256, hier S. 159–172. Vgl. Christiane Engelbrecht, Die Kasseler Hofkapelle im 17. Jahrhundert und ihre anonymen Musikhandschriften in der Kasseler Landesbibliothek (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 14), Kassel [u. a.] 1958, S. 20, Anm. 27; Clytus Gottwald, Die Handschriften der Gesamthochschul-Bibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek – Manuscripta musica, Wiesbaden 1997, S. 151. Max Seiffert schrieb in der Allgemeinen Deutschen Biographie: „Vor dem Schreibtisch sitzend, auf dem die Schlußcorrektur des letzten Schützbandes lag, starb er am 13. April 1894 Mittags am Herzschlag“ (Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 54, Leipzig 1908, S. 418). Verlagsmitteilung Breitkopf & Härtel, September 1894. Das Zurücktreten Chrysanders von der Schütz-Edition lässt sich allerdings auch schon daraus erklären, dass er damals noch mit Arbeit an der Händel-Gesamtausgabe beschäftigt war, die er mit Recht als seine eigentliche Lebensaufgabe ansah. Möglicherweise ist er nur deshalb als Mit-Initiator der Schütz-Ausgabe aufgetreten, um diesem Projekt gegenüber dem Verlag größeres Gewicht zu geben. Dass Spitta trotzdem seine Notentexte in allen Details mit den Quellen verglich, zeigen seine Einzelanmerkungen.
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Vorarbeit für Spitta möglich, die Ausgabe in der frappierend kurzen Zeit von neun Jahren zu vollenden. Allerdings wurde die erforderliche Zeit anfangs noch kürzer angesetzt, nämlich auf fünf Jahre, dies aber nur dank einer beträchtlichen Fehleinschätzung des Umfangs. Dieser wurde nämlich in der Vorankündigung auf zehn Bände veranschlagt, deren letzter 1890 erscheinen sollte. Dieser Plan muss sich bald als unrealistisch erwiesen haben, wurde aber erst bei Erscheinen von Band 12 öffentlich revidiert. Im Vorwort schrieb Spitta: Mit dem zwölften Bande beginnt die Herausgabe der von mir gesammelten kleinen gedruckten oder nur handschriftlich erhaltenen Werke Schützens. Die Sammlung ist in erfreulicher Weise umfangreicher geworden, als beim Beginn der Ausgabe angenommen werden konnte. Sie wird vier Bände umfassen.
Da aber neben den kleineren Werken noch eine große Drucksammlung, nämlich der Beckersche Psalter, unterzubringen war, umfasste Spittas Ausgabe schließlich 16 Bände, deren letzter 1894 erschien. Die Disposition der Ausgabe ist aus der folgenden Übersicht zu ersehen (in die auch die beiden erst nach Philipp Spittas Tod herausgegebenen Supplementbände aufgenommen sind): Bd.
Jahr
Inhalt
Anm.
1 2 3 4 5 6
1885 1886 1887 1887 1887 1887
14
7 8 9 10 11
1888 1889 1890 1891 1891
SWV 50 (op. 3), 478, 479–481, 481a, 435 SWV 22–34 (Psalmen Davids, op. 2 Nr. 1–13) SWV 35–47 (Psalmen Davids, op. 2 Nr. 14–26) SWV 53–93 (Cantiones sacrae op. 4) SWV 257–276 (Symphoniae sacrae I op. 6) SWV 282–305 (Kleine geistliche Konzerte I, op. 8), 306–337 (Kleine geistliche Konzerte II, op. 9) SWV 341–367 (Symphoniae sacrae II, op. 10) SWV 369–397 (Geistliche Chormusik, op. 11) SWV 1–19 (Italienische Madrigale, op. 1) SWV 398–407 (Symphoniae sacrae III, op. 12 Nr. 1–10) SWV 408–418 (Symphoniae sacrae III, op.12 Nr. 11–21)
____________ 14 15 16 17 18 19 20
Bandtitel: Die evangelischen Historien und die Sieben Worte Christi. Bandtitel: Mehrchörige Psalmen mit Instrumenten – Erste Abtheilung. Bandtitel: Mehrchörige Psalmen mit Instrumenten – Zweite Abtheilung. Mit separater Stimmen-Ausgabe. Mit separater Stimmen-Ausgabe. Bandtitel: Symphoniae sacrae, Dritter Theil, Erste Abtheilung. Bandtitel: Symphoniae sacrae, Dritter Theil, Zweite Abtheilung.
15 16 17
18
19 20
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Schütz-Gesamtausgaben Bd.
Jahr
Inhalt
Anm.
12
1892
21
13 14
1893 1893
15
1893
16
1894
SWV 51 (Psalm 116), 277 (Das ist je gewißlich wahr), 94 (Aria De vitae fugacitate), 279–281 (Musikalische Exequien, op. 7), 420–431(Zwölf geistliche Gesänge, op. 13), 458 (Litanei), 432– 433 (Canticum Simeonis) SWV 476, 449, 462, 461, 466, 467, 448 SWV 469, 475, 459, 444, 443, 459, 340, 456, 439, 450, 20, 21, 48, 453, 470, 386a SWV 49, 465, 338, 441, 451, 452, 460, 442, 96, 438, 368, 434, 440 SWV 97–256 (Beckerscher Psalter, 2. Fassung op. 14)
22 23 24 25
Supplement-Bände: Bd. 17 18
Jahr 1909 1927
Inhalt
Anm.
SWV 435/435a (Weihnachtshistorie) SWV Anh. 11, 477,468, 471, 447, 419, 52, 474, Anh. 1, 446, 472, 436, 437
26 27
Die Anordnung der Werke lässt die chronologische Folge von Schütz’ Originaldrucken zwar noch durchscheinen, folgt ihr aber nicht genau. An den Anfang stellte Spitta nicht die (damals so gut wie völlig unbekannte) Madrigalsammlung op. 1, sondern die Passionen und Historien, wohl deshalb, weil diese Werke durch die Aufführungen und die Edition von Carl Riedel (1870) schon einen gewissen Bekanntheitsgrad besaßen,28 vielleicht auch um dem Riedel’schen Passionen-Pasticcio29 das Original entgegenzustellen. Die folgenden Bände 2 bis 11 enthalten die meisten der von Schütz autorisierten und mit Opus-Nummern versehenen geistlichen Werksammlungen bis zum III. Teil der Symphoniae sacrae op. 12 in chronologischer Folge. Ausgenommen sind die bereits in Bd. I edierte Auferstehungs-Historie von 1623 (op. 3) und die Erstfassung des Beckerschen Psalters von 1628 (op. 5); die ____________ 21 22 23 24 25 26 27 28 29
Bandtitel: Gesammelte Motetten, Concerte, Madrigale und Arien – Erste Abtheilung. Bandtitel: Gesammelte Motetten, Concerte, Madrigale und Arien – Zweite Abtheilung. Bandtitel: Gesammelte Motetten, Concerte, Madrigale und Arien – Dritte Abtheilung. Bandtitel: Gesammelte Motetten, Concerte, Madrigale und Arien – Vierte Abtheilung. Mit einzelnen Varianten der Erstfassung SWV 97–256 (op. 5). Hrsg. von Arnold Schering. Der Band enthält die Weihnachtshistorie unter Einbeziehung der erst 1908 aufgefundenen Quellenmaterialien der Düben-Sammlung (UB Uppsala). Hrsg. von Heinrich Spitta. Bandtitel: Gesammelte Motetten, Concerte, Madrigale und Arien – Fünfte Abteilung. Vgl. Ray Robinson, Heinrich Schütz’ Passions and Historiae in Editions of the Late-19th and Early-20th Centuries, in: Schütz-Jahrbuch 12 (1990), S. 112–130. Der Titel der Ausgabe lautet: Historia des Leidens und Sterbens unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi – Chöre und Rezitative aus den „vier Passionen“ von Heinrich Schütz, zusammengestellt und herausgegeben von Carl Riedel.
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Werner Breig
Italienischen Madrigale sind zwischen die Opera 11 und 12 eingeschoben. Die Bände 12–15 enthalten im Wesentlichen die kleineren Werke, und am Ende steht der Beckersche Psalter in der erweiterten Neufassung von 1661 (op. 14) mit gelegentlichen Hinweisen auf die Erstfassung von 1628. Die Tatsache, dass mit der Schütz-Ausgabe die erste Gesamtausgabe eines deutschen Komponisten des 17. Jahrhunderts vorgelegt wurde, veranlasste Spitta zu grundsätzlichen Überlegungen zur Editionstechnik, die er in den Vorworten der Bände 1 und 2 niederlegte. Allgemein galt der Grundsatz, dass „Besonderheiten der Aufzeichnung […] ein Ausdruck innerer Eigenthümlichkeiten“ sind und deshalb „bis zu einem gewissen Grade beizubehalten“ waren. Auf der anderen Seite sollte vermieden werden, „das Auge des Partiturlesers durch ein Zuviel des Ungewohnten zu befremden und ihm das Weiterlesen zu verleiden“.30 Zu den zu bewahrenden Besonderheiten gehörte für Spitta die Notierung der Stimmen in ihren originalen Schlüsseln, desgleichen die Beibehaltung der originalen Notenwerte, aber auch der Verzicht auf Angaben über Tempo und Lautstärke, die nicht in der Quelle stehen. Die Notwendigkeit, modernen Lesegewohnheiten Rechnung zu tragen, ergab sich aus der Umsetzung der originalen Einzelstimmennotation in Partitur. Eine Partitur erfordert eine metrische Gliederung der – in der Quelle taktstrichlos notierten – Stimmen durch Abteilungsstriche und damit eine Entscheidung über die Darstellung von Taktgrenzen überschreitenden Noten.31 Für den ersten Band war die wichtigste Quelle die nach 1700 von dem damaligen Dresdner Kreuzschullehrer Johann Zacharias Grundig angefertigte Passionen-Handschrift,32 die in Partiturform33 geschrieben ist. Grundig hatte die Partitur durch Taktstriche im Abstand einer Semibrevis gegliedert. Diese Gliederung wurde von Spitta übernommen und auch auf die übrigen, in den Quellen in Einzelstimmen-Notation geschriebenen Werke seines ersten Bandes (Oster-Historie, Sieben Worte) angewandt (vgl. Notenbeispiele 1 und 2). ____________ 30 31
32 33
SGA 1, S. VI. Wir sprechen im Folgenden (wie auch Spitta) vereinfachend von „Taktstrichen“, obwohl die durch sie gebildeten metrischen Einheiten keine „Takte“ im strengen Sinn sein müssen. – Bemerkenswerterweise meint Spitta bei der ersten Erörterung dieser Frage im Vorwort zu Band I, dass man in modernen Stimmenausgaben auf Taktstriche verzichten sollte, „will man den richtigen Vortrag jener Musik den Sängern nicht erschweren oder gar unmöglich machen“ (S. VI). Als es allerdings an die praktische Verwirklichung in den Stimmenausgaben der Cantiones sacrae und der Geistlichen Chormusik ging, rückte Spitta stillschweigend von seiner ursprünglichen Meinung ab und setzte doch Taktstriche. Vgl. Wolfram Steude, Heinrich Schütz, Marco Giuseppe Peranda, Passionsmusiken […], Faksimile nach der Partiturhandschrift der Musikbibliothek Leipzig, Leipzig 1981. Steude bezeichnet die Notationsart genauer als „Chorbuch-Partitur“ (vgl. ebd., S. 6).
Schütz-Gesamtausgaben
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Notenbeispiel 1: Anfang der Passion nach Johannes SWV 481 (Handschrift Grundig).
Notenbeispiel 2: Anfang der Passion nach Johannes SWV 481 (Edition Spitta, SGA 1, S. 125).
Die Beispiele zeigen auch zwei Mittel, mit denen vermieden werden konnte, die – oftmals für das Notenbild charakteristischen – langen Notenwerte wegen der Taktstriche zu teilen. Grundig setzt in solchen Fällen Augmentationspunkte hinter den Taktstrich (T. 3/4) und Noten, die durch einen Taktstrich halbiert werden, direkt auf den Taktstrich (T. 2/3, 3/4). Spitta übernimmt das erstere Verfahren, vermeidet aber das zweite, das weder optisch ansprechend noch (im Sinne der Untereinandersetzung von gleichzeitig Erklingendem) genau ist. Doch Band 2 veranlasste ihn zu neuen Überlegungen. Hier war ein umfangreiches Opus, nämlich die Psalmen Davids von 1619, nach dem Originaldruck zu edieren, in dem – wie es in Schütz’ Originaldrucken die Regel ist – nur die Continuo-Stimme eine Strichgliederung aufweist (vgl. Notenbeispiel 3). Der Abstand zwischen den Abteilungsstrichen beträgt im Normalfall eine Brevis,
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Werner Breig
kann aber relativ frei gehandhabt werden. Spitta normierte den Abstand und bildete einheitliche Brevis-Abschnitte, die er auch auf die anderen Stimmen anwandte, so dass die Stücke durchgehend in Brevis-Takte gegliedert sind.34 Damit war ein Notenbild geschaffen, das äußerlich demjenigen der PalestrinaAusgabe des Verlages Breitkopf & Härtel glich (wenngleich dort eine andere metrische Ordnung herrscht)35 und das sich dank der Autorität der Spitta’schen Ausgabe für Generationen von Musikern so fest als das Notenbild der Schütz’schen Musik einprägte, dass es geradezu mit dem Schütz’schen Original identifiziert wurde. Großes Gewicht haben die mit der Souveränität des Philologen36 angelegten Vorworte, die Angaben zur Werkentstehung, zu den Quellen und einen Stellenkommentar mit Nachweis von differierenden Lesarten und Druckfehlern enthalten. Sie können in besonderen Fällen zu beträchtlicher Länge anwachsen; so wird in Band 4 (Cantiones sacrae von 1625) in dem 24-seitigen Vorwort neben dem Originaldruck die Lüneburger Partiturhandschrift beschrieben und diskutiert; außerdem wird die Herkunft der pseudoaugustinischen Texte besprochen, und schließlich finden sich eingehende Erörterungen über die Anlage einer Stimmenausgabe zum praktischen Gebrauch, die parallel zum Gesamtausgaben-Band veröffentlicht wurde. Von Band 6 an hat es der Herausgeber vielfach auch mit handschriftlichen Frühfassungen zu tun, von deren Abweichungen vom Druck er die wichtigsten beschreibt und auf ihre Aussagekraft für die Werkgenese befragt. Nicht alle Teile von Schütz’ Œuvre standen Spitta für seine Gesamtausgabe zur Verfügung. Wir kennen, vor allem aus erhaltenen Inventarverzeichnissen von verlorenen Bibliotheksbeständen, eine größere Anzahl von Titel- und Besetzungsangaben für einst vorhandene Kompositionen von Schütz.37 Es gibt ____________ 34 35
36 37
Dieses Verfahren hätte eine durchgehende Taktzählung ermöglicht, die auch die Stellenangaben in den Kommentarteilen vereinfacht hätte. Schütz’ Musik ist eher von der – mit Michael Praetorius zu sprechen – „madrigalischen Art“ als von der „Motetten-Art“ geprägt. Vgl. Michael Praetorius, Syntagma musicum, Teil III, Wolfenbüttel 1619, Faksimile-Nachdruck, hrsg. von Wilibald Gurlitt (= Documenta musicologica, Bd. I, 15), Kassel, Basel 1958, S. 50f. – Carl von Winterfeld hatte im Beispiel-Teil seiner Gabrieli-Monographie die beiden rhythmisch-metrischen Systeme unterschieden, indem er für seine Beispiele aus dem Werk von Giovanni Gabrieli die Brevis, für seine Schütz-Beispiele dagegen die Semibrevis als Takteinheit wählte. Spitta hätte sich für seine Entscheidung für die Notierung in Brevis-Takten auf die Partiturdrucke von Peris Euridice (Florenz 1600) und Monteverdis Orfeo (Venedig 1609) berufen können, in denen auch die Brevisgliederung die Norm ist. Spitta war von Haus aus Altphilologe; er war 1864 in Bonn mit der Dissertation De Taciti in componendis enuntiatis ratione promoviert worden. Die aktuellste Zusammenstellung findet sich in Werner Breigs Artikel Schütz, Heinrich in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, Personenteil, Bd. 15, Kassel [u. a.] 2006, Sp. 391f.
Schütz-Gesamtausgaben
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Notenbeispiel 3: SWV 44, Anfang der Continuo-Stimme des Originaldrucks.
auch Verluste, für die Schütz selbst verantwortlich ist. Er hat eine ganze Werkgruppe offenbar niemals in Umlauf gebracht, nämlich die Kompositionen zu theatralischen Vorstellungen; wie es scheint, galten sie ihm nicht als eigentliche musikalische Werke, sondern als ein Teil der Inszenierung einer Theateraufführung. Während die Texte dieser Stücke erhalten sind, wissen wir nichts über die Beschaffenheit der Musik. Außerdem hat Schütz ein Werk absichtlich nur teilweise veröffentlicht, nämlich die Weihnachtshistorie, von der er nur den Part des Evangelisten zum
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Werner Breig
Druck gab. Von den zehn großbesetzten Concerti (Rahmenchöre und direkte Reden) meinte er, dass sie nur in fürstlichen Hofkapellen „ihren gebührenden effect […] erreichen würden“. Deshalb hatte sich, wer sie aufführen wollte, beim Leipziger Thomaskantor oder beim Dresdner Kreuzorganisten „umb eine Abschrifft zu bewerben“,38 deren Herstellung die Genehmigung des Komponisten voraussetzte. Spitta war deshalb auf den Teildruck des Evangelistenparts angewiesen, den er in Band 1 vorlegte. Erst 1908 wurde ein Teil der nicht gedruckten Stimmen in der Universitätsbibliothek Uppsala aufgefunden, was zu einem ersten Supplementband führte, den Arnold Schering herausgab. Ein zweiter Supplementband folgte 1929; sein Herausgeber war Heinrich Spitta (1902–1972), ein Neffe Philipp Spittas, der 1927 mit einer Dissertation Heinrich Schütz’ Orchester und unveröffentlichte Werke promoviert worden war. Der Band enthält eine Reihe von neu aufgefundenen oder neu zugeschriebenen Einzelwerken in handschriftlicher Überlieferung, darunter als umfangreichstes das lateinische Magnificat aus der Universitätsbibliothek Uppsala. Im Vorwort kündigte Heinrich Spitta einen weiteren Supplementband an, der den inzwischen in Guben entdeckten 119. Psalm mit Anhängen („Schwanengesang“) enthalten sollte. Der Band erschien jedoch nicht – ohne dass dafür eine Erklärung gegeben wurde. Möglicherweise ist die Ursache das Fehlen zweier Stimmbücher des II. Chores, deren Rekonstruktion Heinrich Spitta nicht wagte.39 Die Gesamtausgabe von Spitta hat sich durch ihre klaren Editionsprinzipien, ihre Fehlerarmut und ihren Reichtum an Informationen über die Werke langdauerndes Ansehen erworben. Das Ziel, das Spitta vorschwebte, nämlich die Rekonstruktion dessen, was er die „Schütz-Partitur“ nannte, konnte er nicht erreichen, weil es die Schütz-Partitur als verbindlichen originalen ReferenzText nicht gibt.40 Spittas Gewissenhaftigkeit bei der Wiedergabe dessen, was er in den Quellen vorfand, und der Verzicht auf fremde Zusätze haben sie indessen – zumindest für Musikforscher und professionelle Ausführende – zu einer tragfähigen Basis für die Beschäftigung mit Schütz’ Werk werden lassen. Darüber hinaus hat die Edition von Philipp Spitta für einzelne Werke, deren Quellen seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen sind – die prominentesten von ihnen sind die Musikalischen Exequien SWV 279–281 und das Mühlhäuser Da ____________ 38 39
40
Vorbemerkung zum Teildruck von 1664. Erst ein halbes Jahrhundert später konnte Schütz’ monumentales Spätwerk nach den Gubener Stimmen, die unterdessen ein wechselvolles Schicksal erlitten hatten, veröffentlicht werden (siehe unten S. 111f.). Vgl. dazu Werner Breig, Die Editionsgeschichte der „Geistlichen Chormusik“ von Heinrich Schütz, in: Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis, hrsg. von Helga Lühning (= Beihefte zu editio, Bd. 17), Tübingen 2002, S. 237–276, hier S. 243.
Schütz-Gesamtausgaben
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pacem SWV 465, beide in der ehemaligen Universitätsbibliothek Königsberg überliefert –, die Bedeutung einer Quelle gewonnen.
II.
Neue Schütz-Ausgabe (seit 1928)
Als 1927 der von Heinrich Spitta herausgegebene zweite Supplementband der Sämtlichen Werke erschien, war bereits ein Editionsvorhaben auf dem Wege, das später zu einer zweiten Schütz-Gesamtausgabe führen sollte – obwohl Derartiges zunächst gänzlich außerhalb der Pläne des Initiators lag. Gemeint ist Wilhelm Kamlahs praktische Ausgabe von Schütz’ Geistlicher Chormusik. 1924 hatte der 19-jährige Wilhelm Kamlah, damals Student der Philosophie und der Musikwissenschaft,41 sich dem „Bach-Kreis Göttinger Studenten“ angeschlossen und im Frühjahr 1925 an dessen Baltikum-Reise teilgenommen.42 Im Sommersemester 1925 reiste er mit dem von Dolf Küntzel geleiteten „Motettenchor deutscher Studenten“ in die Schweiz. „Mehr beiläufig“, schreibt Kamlah später, „sangen wir einige Werke von Heinrich Schütz, deren Faszination mich nun nicht mehr losließ.“43 Von diesen Erlebnissen angeregt, gründete Kamlah im Herbst 1925, nachdem er an die Universität Heidelberg gewechselt war, selbst eine Vereinigung mit ähnlichen Zielen, und zwar den „Heinrich-Schütz-Kreis – Motettenchor deutscher Studenten“,44 mit dem er in den folgenden Jahren regelmäßig Arbeitstreffen und Singfahrten durchführte. In der Satzung heißt es über die Ziele der Gruppe: Der Heinrich-Schütz-Kreis will das Musikleben der Gegenwart nach Kräften im Sinne einer gründlichen Musikerneuerung beeinflussen, indem er sich vornehmlich auf die Musikkultur des 16. und 17. Jahrhunderts stützt, insbesondere auf die Kom-
____________ 41 42
43 44
Wilhelm Kamlah (1905–1976) war später Universitätslehrer im Fach Philosophie, zuletzt 1954–1970 als Ordinarius an der Universität Erlangen-Nürnberg. Zum Göttinger (vormals Tübinger) Bach-Kreis vgl. Franz Ganslandt, Jugendmusikbewegung und kirchenmusikalische Erneuerung, München 1997; Erich Vogelsang, Bachkreis Göttinger Studenten, in: Musikdienst am Volk, hrsg. von Fritz Jöde (= Werkschriften zur Musikantengilde, Bd. 3), Wolfenbüttel 1927; Wiederabdruck in: Die deutsche Jugendmusikbewegung in Dokumenten ihrer Zeit von den Anfängen bis 1933, hrsg. vom Archiv der Jugendmusikbewegung e. V. Hamburg, Wolfenbüttel 1980, S. 127f. Wilhelm Kamlah, Der Anfang der Schütz-Bewegung und der musikalische Progressismus, in: Musik und Kirche 39 (1969), S. 208. Dazu die ausführliche Darstellung von Ursula Eckart-Bäcker, Die Schütz-Bewegung. Zur musikgeschichtlichen Bedeutung des „Heinrich-Schütz-Kreises“ unter Wilhelm Kamlah (= Beiträge zur Musikreflexion, Bd. 7), Vaduz 1987. Einen detailreichen Bericht über die Wurzeln und die Frühzeit des Heinrich-Schütz-Kreises gab auch Wilhelm Kamlah, Der Anfang der Schütz-Bewegung (wie Anm. 43).
108
Werner Breig
positionen von Heinrich Schütz. Er gliedert seine Arbeit in das Wollen der musikalischen Jugendbewegung ein.45
Aus den – zunächst von den Sängern handschriftlich hergestellten – Notenmaterialien für die „Geistlichen Abendmusiken“ (die Bezeichnung „Konzert“ für die Aufführungen des Kreises wurde bewusst vermieden) ging eine Neuausgabe der Geistlichen Chormusik hervor, die in Einzelheften 1928 im BärenreiterVerlag zu erscheinen begann und 1935 als Gesamtband vorlag. Bei der Vorbereitung der Edition beriet sich Kamlah mit Friedrich Blume, der um die gleiche Zeit mit der Herausgabe der Reihe Das Chorwerk46 begann, die wichtige Editionsgrundsätze mit Kamlahs Schütz-Edition teilt. Schon Philipp Spitta hatte sich mit der Frage beschäftigt, wie eine Ausgabe der Geistlichen Chormusik für die Praxis auszusehen hätte. Dabei setzte er voraus, dass der Dirigent und der Generalbassspieler die GesamtausgabenPartitur benutzen, während die Chorsänger Stimmbücher erhielten, in denen die betreffenden Stimmlagen für den gesamten Werkzyklus enthalten waren. Was die Schlüsselung betrifft, so hatte Spitta den originalen Sopranschlüssel für die Cantus-Stimme durch den auch Laien vertrauten Violinschlüssel ersetzt, aber für Alt und Tenor die originalen Schlüssel (C-Schlüssel auf der 3. bzw. 4. Linie) beibehalten, da eine Umschlüsselung ihm sinnwidrig erschien. Die Chorsänger, so meinte er, würden sich mit den alten Schlüsseln vertraut machen können.47 Während Spitta also versucht hatte, aus einer primär zu Studienzwecken bestimmten Ausgabe Notenmaterial für die Musizierpraxis zu gewinnen, war Kamlahs Ausgangspunkt diese Praxis selbst. Im Vorwort zur ersten Bandausgabe der Geistlichen Chormusik heißt es 1935: „Die Ausgabe ist aus dem leibhaften, werbenden Musizieren hervorgewachsen und hat stets neues Musizieren hervorgerufen.“ Die Bestimmung für die musikalische Praxis prägt die editionstechnischen Entscheidungen, die die neue Ausgabe von Spittas Gesamtausgabe unterscheiden: 1. Die Chorsänger singen nicht mehr aus Stimmbüchern, sondern aus Partiturheften, die, um handlich zu sein, nur ein Stück oder wenige Stücke enthalten. Alle Mitwirkenden einschließlich des Chorleiters benutzen also das gleiche Notenmaterial. Das entspricht dem Ideal des Gemeinschaftsmusizierens in einer kleinen Gruppe; das Einstudieren eines Werkes ist von allgemeiner Partiturkenntnis getragen und kann auch Gespräch und Diskussion einschließen. ____________ 45 46 47
Zitiert nach Eckart-Bäcker, Die Schütz-Bewegung (wie Anm. 44), S. 97. Heft 1, das Missa Pange lingua von Josquin Desprez enthält, erschien 1929. SGA 4, S. XXII.
Schütz-Gesamtausgaben
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2. Es werden keine C-Schlüssel mehr verwendet, sondern nur noch Violinund Bassschlüssel, für den Tenor der oktavierende Violinschlüssel. Damit wird der Notentext auch für Laien leicht lesbar. 3. Der Schütz’sche „Altus“, eine hohe Männerstimme (Umfang etwa e° bis a'), fällt im modernen gemischten Chor den tiefen Frauenstimmen zu, für die er eigentlich zu tief liegt. Dieser Schwierigkeit versuchte Kamlah zu begegnen, indem er die Mehrzahl der Motetten um einen Ganzton nach oben transponierte. 4. Da die Ausgabe für A-cappella-Gesang bestimmt ist, schien der Continuo-Part des Originaldrucks entbehrlich. Das ließ sich damit begründen, dass Schütz im Vorwort die Geistliche Chormusik dem „Stylus der Kirchen-Music ohne den Bassum Continuum“ zurechnet.48 Für eine – von Schütz als Alternative ebenfalls vorgesehene – Aufführung mit Continuo ist die Ausgabe deshalb nicht geeignet. Die Auslassung einer in der Quelle vorhandenen Stimme schien Kamlah offenbar deshalb verantwortbar, weil er die Spitta’sche Gesamtausgabe gleichsam als Rückendeckung betrachtete; sie konnte für alle Informationen herangezogen werden konnte, die nicht unmittelbar der Praxis dienten, auf die Kamlah zielte.49 Mit der Ausgabe der Geistlichen Chormusik hatte Kamlah nicht nur einen neuen Typus einer praktischen Ausgabe vorgelegt. Er hatte auch zum ersten Mal eine der großen Schütz’schen Werksammlungen vollständig in einer praxisfreundlichen Neuausgabe publiziert und damit den Blick auf Schütz’ Œuvre erweitert. Der Erfolg der Geistlichen Chormusik ermutigte den BärenreiterVerlag dazu, die Reihe der Schütz-Ausgaben fortzusetzen. Kamlah selbst ließ der Geistlichen Chormusik noch Neuausgaben der Passionen nach Lukas und Johannes folgen. Andere Editoren setzten die Reihe der Einzelausgaben für die Praxis fort, so Walter Blankenburg (Beckerscher Psalter), Rudolf Gerber (Symphoniae sacrae I), Gottfried Grote (Cantiones sacrae), Hans Hoffmann (Kleine geistliche Konzerte), und Friedrich Schöneich (Musikalische Exequien und Weihnachts-Historie). Der Entschluss, den bisher erschienenen Bestand an Einzelausgaben zu einer Schütz-Gesamtausgabe auszubauen, fiel 1955. Karl Vötterle schrieb in seinen Lebenserinnerungen: „Zahlreiche Einzelausgaben führten organisch zu ____________ 48 49
Der Continuo ist – wie auch vorher schon in der Mehrzahl der Cantiones sacrae von 1625 – nicht selbständig, sondern schließt sich der jeweils tiefsten Stimme als Basso seguente an. Diese Lücke der Kamlah-Ausgabe hat der Bärenreiter-Verlag 1975 durch Veröffentlichung einer separaten Orgelstimme (Intavolierungen von Neidhard Keller) zu schließen versucht. Die Verlagsankündigung (hier zitiert nach Acta Sagittariana 1976, S. 35) gibt dazu folgende Erläuterung: „Nachdem es feststeht, daß Schütz selbst keineswegs nur a cappella musiziert hat, können die mit diesen auch harmonisch abstützenden Instrumentalstimmen gebotenen Hilfen bedenkenlos eingesetzt werden, wodurch sich auch für kleiner besetzte Laienchöre Aufführungsmöglichkeiten ergeben.“
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Werner Breig
der Gesamtausgabe, von der bis heute [1969] sechzehn Bände vorliegen.“50 Nach Auskunft einer Verlagschronik war die Reihe 1973 auf 24 Bände angewachsen.51 Das Prädikat „organisch“, das Vötterle der Fortsetzung der Schütz-Ausgabe zuerkannte, war in positivem Sinne gemeint, d. h. als Gegensatz zu „willkürlich“ oder „beliebig“. Es deutet aber zugleich auf eine Problematik hin, die der Neuen Schütz-Ausgabe von Anfang an innewohnte. Denn Gesamtausgaben entstehen im Normalfall nicht als „organische“ Weiterentwicklung von bereits Vorhandenem, sondern beginnen gleichsam an einem Nullpunkt. Es wird ein Editionsplan aufgestellt, Editionsrichtlinien werden festgesetzt und eine Editionsleitung bestellt;52 und wenn es sich um ein umfangreicheres Projekt handelt, wird eine Arbeitsstelle eingerichtet, an der hauptamtliche Mitarbeiter tätig sind. Ein derartiger Neuanfang wäre allerdings kaum praktikabel gewesen, besonders da man dann den Schütz-Interessenten hätte zumuten müssen, von Werken, die sie schon besitzen, eine zweite Edition zu erwerben. So drückte sich die Eigenschaft „Gesamtausgabe“ nur in einheitlicher äußerer Ausstattung und in einer das Gesamtwerk umfassenden Band-Planung aus. Eine Anforderung, die an die nach dem Zweiten Weltkrieg begonnenen Gesamtausgaben gestellt wird, besteht darin, dass sie „wissenschaftlichpraktisch“ sein sollen; in diesem Sinne heißt es beispielsweise von der Neuen Bach-Ausgabe bereits in deren Eröffnungsband, sie solle „der Wissenschaft einen einwandfreien Originaltext […] bieten und gleichzeitig als zuverlässige Grundlage für praktische Aufführungen dienen“.53 Die Doppeleigenschaft „wissenschaftlich-praktisch“ war gewiss eine Forderung, die sich daraus ergab, dass die Gesamtausgaben durch Mittel der öffentlichen Wissenschaftsförderung finanziert wurden, weshalb die kostenaufwendige Doppelung von „wissenschaftlichen“ und „praktischen“ Ausgaben vermieden werden sollte. Obwohl die Neue Schütz-Ausgabe solche Mittel nicht in Anspruch nahm, sondern ein Verlagsunternehmen war, sollte auch für sie die Forderung „wissenschaftlich-praktisch“ gelten. Sie wurde zum ersten Mal in Wilhelm Ehmanns Vorwort zur Ausgabe der Kleinen geistlichen Konzerte formuliert, wenn auch ohne nähere Erläuterung.54 Die Gestaltung gerade dieser Bände zeigt allerdings, dass das eigentliche Anliegen der Herausgeber darin ____________ 50 51 52 53 54
Karl Vötterle, Haus unterm Stern. Ein Verleger erzählt, Kassel [u. a.] 1969, S. 252. Anna Martina Gottschick, Bärenreiter-Chronik. Die ersten fünfzig Jahre 1923–1973, Kassel [u. a.] 1973, S. 76. Erst seit 1994 liegt die Editionsleitung in den Händen von Walter Werbeck. Johann Sebastian Bach, Adventskantaten, hrsg. von Alfred Dürr und Werner Neumann (= Neue Bach-Ausgabe I/1), Kassel, Basel 1954, S. V. NSA 10, S. X.
Schütz-Gesamtausgaben
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bestand, eine praktische Ausgabe mit Ratschlägen an die Ausführenden vorzulegen. Die (nachträgliche) Erstellung von Kritischen Berichten wurde dem Verlagslektorat überlassen und hatte auf die Gestaltung der Notentexte keinen Einfluss.55 Durch stärkeren Akzent auf der Eigenschaft „wissenschaftlich“ sind die Beiträge gekennzeichnet, die Werner Bittinger (1919–1967) zur NSA leistete. Bittinger, der von 1955 bis 1965 Mitarbeiter des Bärenreiter-Verlages war, stellte einen Editionsplan für die Schütz-Gesamtausgabe auf und begann mit der Erarbeitung der „Kleinen Ausgabe“ des Schütz-Werke-Verzeichnisses (SWV), die 1960 im Druck erschien. Außerdem wurde er als Herausgeber für fünf Bände tätig (Symphoniae sacrae II in drei Teilbänden sowie zwei Bände mit weltlichen Kompositionen). Die von Bittinger bearbeiteten Bände haben einen einheitlichen Editionsmodus: Sie enthalten knappe, aber präzise Kritische Berichte und ausführliche Vorworte mit umfänglichen Formanalysen. Neu ist der Grundsatz, abweichende Frühfassungen vollständig im Notenteil zu edieren. Der Praxis wird weiterhin durch Generalbassaussetzungen und Transpositionen zugearbeitet. Zur verpflichtenden Norm für die folgenden Bände wurde ihre Editionstechnik dennoch nicht erklärt. Werner Breig, der seit 1970 eine Reihe von Bänden edierte, verzichtete gänzlich auf Transpositionen und glich damit die Edition den Regeln des Erbes deutscher Musik für die Herausgabe von „Musik des Generalbasszeitalters“ an.56 Als die Ausgabe begonnen wurde, erwartete man von ihr nichts als die erneute Publikation des bereits in der Spitta-Ausgabe enthaltenen Werkbestandes. Doch im Laufe der Editionsarbeit ergaben sich auch erfreuliche Möglichkeiten zu Erstveröffentlichungen von bisher unbekannten Werken. Die wichtigste von ihnen ist die 1984 vorgelegte Ausgabe des 119. Psalms nebst Anhängen („Schwanengesang“, SWV 482–494). Dieses Schütz’sche Spätwerk war Philipp Spitta unbekannt geblieben und später von Heinrich Spitta, wohl wegen seiner unvollständigen Überlieferung, in seinem Supplementband nicht berücksichtigt worden. Die handschriftlichen Stimmen waren nach dem Zwei____________ 55
56
In der Rezension dieses Bandes von Ursula Klein (Die Musikforschung 20 [1967], S. 233f.) wurde die Berechtigung der Bezeichnung „wissenschaftlich-praktisch“ stark in Zweifel gezogen. Es handele sich in Wirklichkeit um „eine rein praktische Ausgabe mit beigefügten Erläuterungen der Editionsmethoden und einem kurzen Revisionsbericht, der auf Spitta zurückgeht“ (S. 234). Vgl. Editionsrichtlinien musikalischer Denkmäler und Gesamtausgaben, im Auftrag der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Georg von Dadelsen (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 22), Kassel [u. a.] 1967, besonders S. 32 unter Punkt 5. In der Nachfolge-Fassung (Editionsrichtlinien Musik, im Auftrag der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf [= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30], Kassel [u. a.] 2000) ist an entsprechender Stelle das Thema „Transpositionen“ nicht mehr erwähnt.
112
Werner Breig
ten Weltkrieg lange Zeit verschollen und tauchten dann in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden wieder auf. 1984 wurde das Werk mit einer Ergänzung der verlorenen zwei Stimmen von Wolfram Steude ediert.57 Des Weiteren konnten 1971 zwei Psalmkompositionen, die in der Kasseler Bibliothek aufbewahrt werden, aber von Philipp Spitta übersehen worden waren, in Band 28 der NSA erstmals veröffentlicht werden (SWV 36a und SWV 500). Und schließlich fand die Erstfassung des Beckerschen Psalters von 1628 (SWV 97a–256a), die von Philipp Spitta nur durch Bemerkungen im Vorwort berücksichtigt worden war, erstmals in der Edition von Werner Breig (NSA 40) den Weg in eine Neuausgabe. Dass die NSA über Jahrzehnte hinweg im Entstehen war, führte zu kritischen Rückblicken auf früher entstandene Bände, so dass der Wunsch nach revidierten Neufassungen aufkam, die den Bedingungen einer „wissenschaftlich-praktischen“ Ausgabe besser entsprachen. Zwei solcher Revisionen sind bisher erschienen, und zwar wurde die ganz für das A-cappella-Musizieren eingerichtete Ausgabe der Geistlichen Chormusik von Wilhelm Kamlah durch eine Neuausgabe in zwei Teilbänden von Werner Breig (2003, 2006) ersetzt; und 2004 legte Heide Volckmar-Waschk eine Neuausgabe der Cantiones sacrae vor.58 In Vorbereitung ist weiter eine Neuausgabe der Weihnachtshistorie durch Bettina Varwig auf der Basis der unterdessen erweiterten Quellenlage. Zur Zeit (2014) stehen noch 5 Bände mit festgelegtem Inhalt aus, dazu einige weitere (Werke von unsicherer Autorschaft), deren Repertoire noch zu bestimmen ist. Weitere revidierte Neufassungen scheinen nicht ausgeschlossen. Prognosen über den Zeitpunkt, an dem die Ausgabe abgeschlossen sein wird, dürften deshalb verfrüht sein. Die Bandgliederung der Neuen Schütz-Ausgabe folgt der Tradition der Gesamtausgabe Spittas darin, dass sie die kirchenmusikalischen Großwerke an den Anfang stellt (Band 1–4), die von Schütz selbst publizierten Werksammlungen folgen lässt (Band 5–26) und daran die einzeln in Drucken oder Handschriften überlieferten Werke anschließt. Band Inhalt
Erscheinungsjahr Herausgeber
1 1
Weihnachts-Historie Weihnachts-Historie
1955 in Vorb.
2
Passionen – Die sieben Worte
1957
____________ 57 58
Friedrich Schöneich Bettina Varwig (Neufassung) Wilhelm Kamlah, Fritz Schmidt, Bruno Grusnick
Die Ausgabe erschien zunächst im VEB Deutscher Verlag für Musik in Leipzig und wurde später in die Neue Schütz-Ausgabe als Bd. 39 eingegliedert. Zu deren Prinzipien vgl. Abschnitt IV.
113
Schütz-Gesamtausgaben Band Inhalt
Erscheinungsjahr Herausgeber
3 4 5 5,1–2
Auferstehungs-Historie Musikalische Exequien Geistliche Chormusik Geistliche Chormusik
1956 1956 1955 2003, 2006
6
Beckerscher Psalter (Zweitfassung 1661) Zwölf geistliche Gesänge Cantiones sacrae Cantiones sacrae
1957
7 8/9 8/9 10–12 13–14 15–17 18–21 22 23–26 27–28 29 30 31 32 33 34–35 36 37 38 39 40 41–44
Walter Simon Huber Friedrich Schöneich Wilhelm Kamlah Werner Breig (Neufassung)59 Walter Blankenburg
1988 1960 2004
Konrad Ameln Gottfried Grote Volckmar-Waschk (Neufassung) Kleine geistliche Konzerte 1963 Hans Hoffmann, Wilhelm Ehmann Symphoniae sacrae I 1957, 1965 Rudolf Gerber, Gerhard Kirchner Symphoniae sacrae II 1964, 1965, 1968 Werner Bittinger Symphoniae sacrae III 1989, 1990, 1996, Werner Breig 2002 Italienische Madrigale 1962 Hans Joachim Moser Psalmen Davids 1971, 1979, 1981, Wilhelm Ehmann, Werner 1994 Breig Einzelne Psalmen I, II 1970, 1971 Werner Breig Hochzeitsmusiken in Vorb. Joshua Rifkin Dialoge in Vorb. Joshua Rifkin Trauermusiken 1970 Werner Breig Choralkonzerte und Choralsätze 1971 Werner Breig Einzeln überlieferte Werke60 2008 Matthias Schneider Größere Kirchenkonzerte in Vorb. Andreas Waczkat Vielchörige Kirchenkonzerte in Vorb. Claudia Theis Weltliche Lieder und Madrigale 1970 Werner Bittinger Weltliche Konzerte 1971 Werner Bittinger Der Schwanengesang 1984 Wolfram Steude Beckerscher Psalter (Erstfas- 1988 Werner Breig sung 1628) Nachträge – Werke von zwei- in Vorb. felhafter Echtheit
____________ 59 60
Eine ergänzende praktische Ausgabe mit Aussetzung des Generalbasses von Antje Wissemann und einem Vorwort zur Aufführungspraxis von Manfred Cordes erschien 2012 und 2013. Der Band enthält, was dem Titel nicht direkt zu entnehmen ist, die Werke SWV 340, 436, 437, 439 und 456–459.
114
III.
Werner Breig
Stuttgarter Schütz-Ausgabe (seit 1967)
Eine weitere Schütz-Gesamtausgabe erschien seit 1967 im Hänssler-Verlag in Neuhausen bei Stuttgart (seit 1992: Carus-Verlag) unter dem Titel Stuttgarter Schütz-Ausgabe (SSA). Initiator und zunächst alleiniger Herausgeber61 war der Kirchenmusiker Günter Graulich. Wie die NSA wandte sich auch die SSA an die Musikpraxis und erschien zunächst in Form von Einzelwerk-Partituren, die durch Aufführungsmaterial in Form von Teilpartituren und Instrumentalstimmen ergänzt wurden. Im Unterschied zur Ausgabe des Bärenreiter-Verlages basiert die SSA von Anfang an auf einheitlichen Editionsprinzipien, die in den Einzelheften auszugsweise mitgeteilt werden. Die Ausgabe erfüllt auch die Forderungen, die an eine „wissenschaftlich-praktische Ausgabe“ gestellt werden, indem sie von den Quellen ausgeht62 und über das Verhältnis des vorgelegten Notentextes zu den Quellen Rechenschaft ablegt. Die Editionsrichtlinien stimmen großenteils mit den Regeln des Erbes deutscher Musik für Ausgaben von Musik des Generalbass-Zeitalters überein: Die metrische Gliederung erfolgt durch Taktstriche im Abstand einer Semibrevis, die Notenwerte werden nur in den Abschnitten mit dreiteiligem Metrum verkürzt, und Transpositionen werden nicht vorgenommen. Für die Notierung der Singstimmen werden nur die „modernen“ Schlüssel verwendet (Violinschlüssel, oktavierender Violinschlüssel, Bassschlüssel); Continuostimmen werden mit einer Aussetzung versehen. Für die Textunterlegung wurde als Regel aufgestellt: Alle Werke werden zweisprachig vorgelegt (lateinischer und italienischer Originaltext mit deutscher, deutscher Originaltext mit englischer Textübertragung). Der erste Teil dieser Regel kam allerdings kaum zur Anwendung, da nur wenige lateinische Stücke und keine italienischen in Einzelausgaben erschienen. Dagegen sind die englischen Zweittexte ein Charakteristikum der SSA-Einzelausgaben und haben wesentlich zur Verbreitung der Edition im englischsprachigen Raum beigetragen. Dass zunächst die – im Allgemeinen nicht mit nennenswerten Textproblemen belasteten – Notentexte in Einzelausgaben vorgelegt wurden, machte es möglich, im Verlauf von wenigen Jahren einen großen Teil des Schütz’schen Œuvres vorzulegen, wobei die Einzelausgaben als Separatdrucke aus bestimmten Bänden ausgewiesen sind, wenngleich diese zunächst noch nicht existierten. Die Veröffentlichung von Bandausgaben begann 1971, und zwar zunächst ____________ 61 62
Als Mitarbeiter ist Paul Horn genannt, von dem auch die Generalbassaussetzungen stammen. Im Untertitel der Ausgabe heißt es „Sämtliche Werke nach den Quellen neu herausgegeben“.
Schütz-Gesamtausgaben
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als Anreicherung der Ausgaben Graulichs durch Kommentar- und Dokumentationsteile von teilweise beträchtlichem Umfang.63 Als Editoren für die Bände sind seit 1973 auch externe Mitarbeiter tätig. Die Editionsregeln in den neu erarbeiteten Bandausgaben sind nicht durchweg mit den ursprünglich aufgestellten identisch. So gliederte Siegfried Schmalzriedt die Italienischen Madrigale (SSA 1) nach Brevis-Takten64 und unterlegte nur die originalen italienischen Texte. Auch in den Bänden 5, 6 und 8 (Cantiones sacrae, Symphoniae sacrae, Teil I und II) wird auf Übersetzungen der Gesangstexte verzichtet. Der Umfang der SSA ist auf 23 Bände veranschlagt, von denen zur Zeit (2014) sieben vorliegen: 1. Italienische Madrigale (Siegfried Schmalzriedt, 1984) 4. Auferstehungshistorie (Günter Graulich, 1986) 5. Cantiones sacrae (Uwe Wolf, 2013) 6. Sinfoniae sacrae I (Siegfried Schmalzriedt, 1997) 7. Musikalische Exequien (Günter Graulich, 1973) 8. Symphoniae sacrae II (Konrad Küster, 2012) 15. Zwölf geistliche Gesänge (Günter Graulich, Vorwort von Klaus Hofmann, 1971)
Was die gegenwärtig noch ausstehenden 16 Bände betrifft, so teilt der Verlag mit, dass jährlich ein Band vorgelegt werden soll.
IV.
Alternativen der Editionstechnik in den „praktischen“ bzw. „wissenschaftlich-praktischen“ Schütz-Ausgaben
Dass Philipp Spitta seine Gesamtausgabe in einem Zeitraum von neun Jahren erarbeiten konnte, verdankte er (abgesehen von Chrysanders Vorarbeiten)65 zum einen dem Umstand, dass Schütz den größeren Teil seines Œuvres in sorgfältig redigierten und mit Opuszahlen versehenen Drucken vorgelegt hat, und zum andern der editorischen Konzeption, seine Quellen mit einem Minimum an Veränderungen – nämlich nur denjenigen, die durch die partiturmäßige Darstellung erforderlich wurden – zu veröffentlichen. Spittas Nachfolger im 20. Jahrhundert waren in puncto Schnelligkeit weniger erfolgreich. Die NSA (bzw. das, was später diesen Namen erhielt) begann – von heute (2014) aus ____________ 63 64
65
So umfasst der Einleitungsteil von SSA 8 (Musikalische Exequien) 58 Seiten (davon 17 Seiten englische Übersetzung). Diese Abweichung vom sonst geltenden Usus wird nicht begründet, obwohl die Gliederung nach Großtakten gerade bei Schütz’ Opus 1 mit seinen zahlreichen textierten Sechzehnteln die Lesbarkeit beeinträchtigt. Siehe oben S. 98f.
116
Werner Breig
gerechnet – vor 86 Jahren zu erscheinen, und die SSA ist nunmehr seit etwa einem halben Jahrhundert auf dem Wege, und für beide ist ein baldiger Abschluss nicht zu erwarten. Die überlange Bearbeitungszeit ist sicherlich auch der Organisationsform der Ausgaben als reine Verlagsunternehmungen geschuldet. Es entfällt der Termindruck, der bei öffentlich geförderten Projekten durch detaillierte Vorausplanung und Berichtspflicht entsteht; und außerdem haben die Verlage große Repertoirebereiche in ihren Programmen, wobei die Priorität, die eine Schütz-Ausgabe genießt, unterschiedlich ausfallen kann; und schließlich sind Bandherausgeber, wenn sie als freie Mitarbeiter für eine Ausgabe tätig sind, häufig nicht in der Lage, mit der wünschenswerten Promptheit zu arbeiten. Doch daneben gibt es auch Probleme, die in der Sache liegen, d. h. sich aus dem Typus der „praktischen“ bzw. „wissenschaftlich-praktischen“ Ausgabe herleiten. Auf sie soll abschließend ein Blick geworfen werden, wobei als Anschauungsmaterial eine kurze Strecke aus einem Stück der Drucksammlung Cantiones sacrae (1625) dienen soll. Diese Sammlung liegt inzwischen in vier Editionen innerhalb von Gesamtausgaben vor und ermöglicht deshalb einen vergleichenden Blick auf Methoden der Schütz-Edition des 20. und 21. Jahrhunderts. Das folgende Beispiel zeigt die nach Semibreven gezählten Takte 23–28 der Motette Pro hoc magno mysterio66 SWV 77, zunächst faksimiliert nach dem Originaldruck,67 anschließend so, wie sie in der SGA, der NSA (zwei Fassungen) und der SSA geboten werden, also in fünf Darbietungsweisen, von denen keine zwei identisch sind.68 Die substantiellen Unterschiede der Editionstechnik beruhen darauf, dass die Herausgeber die Werke für die Praxis bzw. für Wissenschaft und Praxis einzurichten bestrebt sind und zu diesem Zweck die Quellennotation verändern. Diese Änderungen lassen sich nach fünf Punkten gliedern: 1. Schlüsselung 2. Rhythmische Werte und Taktlänge 3. Tonart 4. Textübersetzungen 5. Generalbassaussetzung ____________ 66
67 68
Es ist die Secunda pars der Motette Supereminet omnem scientiam (SWV 67) über einen pseudoaugustinischen Andachtstext, den Schütz möglicherweise in den Precationes von Andreas Musculus (erstmals 1559) vorfand. Exemplar der Universitätsbibliothek Kassel (Murhardsche und Landesbibliothek), verfügbar als Digitalisat im Internet. Um der synoptischen Darstellung willen mussten die Ausschnitte aus den vier Partiturausgaben neu gesetzt werden, wobei jedoch alle für die Editionstechnik relevanten Merkmale bewahrt worden sind.
Schütz-Gesamtausgaben
1.
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Schlüsselung
Während Spitta in seiner Ausgabe die originale Schlüsselung bewahrt hat, stimmen alle seit dem 20. Jahrhundert entstandenen Ausgaben – das gilt ebenso für andere Ausgaben „alter Musik“ (etwa Bach und Händel) – darin überein, dass Vokalstimmen nur noch im Violinschlüssel (für den Tenor mit AbwärtsOktavierung) und im Bassschlüssel notiert werden. Das hat sich auch für die Schütz-Edition so fest eingebürgert, dass dieser Frage hier keine weitere Diskussion gewidmet werden soll.69 2.
Metrik, Notenwerte, Taktgliederung
Schütz’ originale Stimmendrucke sind normalerweise ohne Taktstriche notiert – mit Ausnahme der meisten Continuo-Stimmen. Partituren jedoch benötigen zur Übersichtlichkeit eine Gliederung durch Abteilungsstriche. Als metrische Einheit hat Spitta von Band 2 seiner Ausgabe die Norm der Continuostimmen, nämlich Brevis-Gliederung, auf den ganzen Satz übertragen.70 Kamlah wählte dagegen die Semibrevis als Einheit – eine Entscheidung, die in der NSA zur Regel wurde, ohne dass Brevisgliederung ausgeschlossen wurde, wie etwa unsere Beispiele C und D zeigen. Gottfried Grote wich von der originalen Notierung noch weiter ab, indem er statt der originalen Mensurzeichen moderne Taktbezeichnungen (c bzw. E) setzte. (Dass der Chordirigent Grote in seiner Ausgabe vier Halbe als Taktgröße bevorzugte, hatte für ihn auch den praktischen Grund, dass der c-Takt eine differenziertere und ausdrucksvollere Schlagfigur hat.)71 In der SSA wurde von Anfang an nach Semibreven gegliedert – eine Regel, von der nur (ohne ausdrückliche Begründung) der von Siegfried Schmalzriedt edierte Band 1 abweicht. Eine Verkürzung der Notenwerte im geraden Metrum ist für Musik des 17. Jahrhunderts generell unüblich, wohingegen der Usus für die Proportio tripla schwankend ist. Spitta sah keine Veranlassung, von der originalen Notierung abzuweichen. Die Herausgeber des 20. Jahrhunderts verkürzten die Werte um ____________ 69
70 71
Nur vereinzelt sind in der NSA Altus-Stimmen im oktavierenden Violinschlüssel notiert (Neufassung von Bd. 5, in Bd. 28 der 116. Psalm SWV 51). – Dass heutige Musizierende mit dem Singen nach den originalen Schlüsseln überfordert sind, gilt inzwischen vielleicht nicht mehr so zwingend, wie es die Editionspraxis offenbar voraussetzt. Immerhin gibt es Ensembles, die Kopien nach der SGA als Musiziervorlage bevorzugen. Siehe oben S. 103f. Mündliche Äußerung Grotes gegenüber dem Verfasser. – Diese Begründung ist natürlich im Blick auf Schütz anachronistisch, da die heute übliche Schlagfigur für den c-Takt erst im 18. Jahrhundert aufkam. Ob Adam Adrio die Entscheidung, in der 1964 begonnenen Neuen Schein-Ausgabe Brevis-Gliederung zu verwenden, unter dem Einfluss Grotes getroffen hat, mit dem er eng befreundet war, lässt sich heute nicht mehr eruieren.
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A. Originaldruck (1625) Cantus (T. 23–28)
Altus (T. 23–27 / 28–36)
Tenor (T. 23–28)
Bassus (T. 17–23 / 24–33)
Bassus ad Organum (T. 15–23 / 24–30)
Schütz-Gesamtausgaben
119
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die Hälfte, gelegentlich sogar auf ein Viertel, wie in Beispiel C, um dem modernen Benutzer nicht den Eindruck eines sehr langsamen Tempos zu geben. In jüngerer Zeit wird auch gelegentlich wieder auf die originale Notierung zurückgegriffen, wie in Beispiel D. Hier ist die Originalnotierung verbunden mit dem Verzicht auf eine Generalbassaussetzung, so dass die graphisch problematische Untereinandernotierung von Breven in Terzabstand im System der rechten Hand nicht nötig ist.72 Zum Thema „Taktgliederung“ gehören auch die in unserer Beispielsequenz nicht vorkommenden „Mensurstriche“, die in der NSA erstmals von Wilhelm Kamlah für die Geistliche Chormusik verwendet und später gelegentlich wieder aufgegriffen wurden (NSA 1, 7 und zuletzt in NSA 5, der Revisionsausgabe der Geistlichen Chormusik von Werner Breig, 2003/2006). Mensurstriche ermöglichen es, die originalen Notenwerte auch dann, wenn sie Taktgrenzen überschreiten, ungeteilt beizubehalten, was besonders der Anschaulichkeit von (in weiterem Sinne verstandener) „Augenmusik“, etwa Häufungen von „weißen Noten“, zugutekommt. Diese Notationsart war lange Zeit sehr verbreitet und von so hohem Prestige, dass die Priorität für ihre Verwendung sowohl von Heinrich Besseler als auch von Wilhelm Kamlah in Anspruch genommen wurde.73 Dass sie heute weitgehend außer Gebrauch gekommen ist,74 liegt möglicherweise daran, dass sie ein eigens für die Notierung von alter Musik eingeführtes Kunstprodukt ist und überdies Assoziationen an die Musikkultur der Jugend- und Singbewegung75 mit sich führt, die in den 1950er Jahren in Ideologieverdacht geriet.76 3.
Transposition
Als einzige unter den Gesamtausgaben arbeitet die NSA mit Transpositionen. Wilhelm Kamlah gab die meisten der Motetten der Geistlichen Chormusik um einen Ganzton nach oben transponiert wieder, was als eine Konsequenz der Einrichtung für gemischten Chor zu betrachten ist, da hierbei der Altus den ____________ 72 73 74
75 76
Allerdings ist in NSA, Bd. 33 (Schneider, 2008) diese Notierung angewendet worden (Nr. 1 und 2 des Bandes). Breig, Die Editionsgeschichte (wie Anm. 40), S. 265. Von den deutschen Editionsprojekten benutzt das Erbe deutscher Musik den Mensurstrich weiterhin für die Notation von Musik bis in die Zeit um 1570; vgl. Editionsrichtlinien Musik (wie Anm. 56), S. 66. Mit Mensurstrich notiert sind beispielsweise auch die von Walther Lipphardt im BärenreiterVerlag herausgegebenen Sammlungen Gesellige Zeit und Das Männerlied. Siehe etwa Theodor W. Adorno, Kritik des Musikanten, in: ders., Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Göttingen 1956, S. 62–101. – Zum Mensurstrich vgl. auch James Grier, The Critical Editing of Music. History, Method, and Practice, Cambridge 2002 sowie Breig, Die Editionsgeschichte (wie Anm. 40).
Schütz-Gesamtausgaben
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tiefen Frauenstimmen zufällt, für deren Normalumfang er nicht gedacht ist.77 Das Transpositionsprinzip wurde in zahlreichen weiteren Bänden der NSA aufgegriffen, wenn auch nur selten mit Versetzungen in so entfernte Regionen wie in Grotes Edition der Cantiones sacrae (Beispiel C).78 Häufig kommen dadurch die Singstimmen in eine gut singbare Lage. Dies ist jedoch mit Nachteilen erkauft. Erstens wird für den Leser des Notentextes nicht nur die Stellung des Stückes im System der Modi der Anschauung entzogen, sondern es wird überhaupt die Fundierung der Musik in diesem System, das Schütz als Grundlage seines Komponierens betrachtete, verundeutlicht. Und zweitens wird es schwer oder unmöglich, ein mitteltönig gestimmtes Tasteninstrument zur Begleitung zu benutzen – woran in der Anfangszeit der NSA kaum gedacht wurde, was aber heute für manche Ensembles eine Conditio sine qua non darstellt. In den seit 1970 erschienenen Bänden der NSA wird auf Transpositionen verzichtet. Die SSA hat von Anfang an konsequent die von Schütz notierte Tonart beibehalten und es den Ausführenden überlassen, die Stücke in eine für ihr Ensemble passende Lage zu bringen.79 4.
Übersetzungen
In der ersten Ausgabe der Cantiones sacrae in der NSA (Beispiel C) ist zusätzlich zum lateinischen Originaltext eine singbare deutsche Übersetzung unterlegt, von der der Herausgeber Gottfried Grote freilich bemerkt, er sei vom Verleger dazu genötigt worden. Damit sollte vermutlich die Beliebtheit dieses Opus bei Chören und Hörern erhöht werden, die hinter jener der Geistlichen Chormusik zurückblieb.80 Innerhalb der NSA erschienen außerdem die Italienischen Madrigale mit deutschem Zweittext (NSA 22). In der Folge wurde auf ____________ 77
78
79
80
Kamlah war nicht der erste, der Schütz’sche Werke in Transpositionen vorlegte. Bereits 1878 – also lange vor dem Erscheinen von Spittas Gesamtausgabe – hatte Franz Wüllner in seiner Stimmenausgabe von Stücken aus den Psalmen Davids (Drei Psalmen) den 98. Psalm (SWV 35) aus dem originalen authentischen F-Modus (mit b-Vorzeichnung) um eine kleine Terz aufwärts transponiert, was zu vier b als Schlüsselakzidentien führt und die Tonart As-Dur suggeriert. Dass in diesem Falle eine Abwärtstransposition um einen Ganzton gewählt wurde, erklärt sich daraus, dass das Stück in hoher Schlüsselung notiert ist. – Die teilweise exzessiven Transpositionen dieser Ausgabe waren wohl auch ein wesentlicher Grund dafür, den Band in einer revidierten Fassung erneut vorzulegen, die auf Transpositionen ganz verzichtet. Neuerdings gehen allerdings sowohl der Bärenreiter- als auch der Carus-Verlag dazu über, einzelne Werke auf Bestellung in transponierten Fassungen herzustellen, was heute weniger aufwendig ist, da computergestützte Notendrucksysteme über eine Transpositionsautomatik verfügen. In der gleichen Absicht hatte schon Johannes Dittberner um 1914 einige Cantiones sacrae mit deutschen Texten herausgegeben (vgl. Friedrich Spitta, Heinrich Schütz und seine Bedeutung für die Kirchenchöre, in: Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst 19 (1914), S. 5– 12 und 47–52), was Grote vermutlich nicht bekannt war.
122
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deutsche Übersetzungen verzichtet. Das gleiche gilt für die jüngeren BandAusgaben der SSA;81 vermutlich wird die Beschränkung auf den Originaltext auch für künftige Ausgaben die Regel bleiben.82 5.
Aussetzung des Generalbasses
Die originale Notierung von Generalbassstimmen drückt den Oberstimmensatz in einer Abbreviatur aus (Bezifferung), die unter Berücksichtigung der Besetzung, des verwendeten Akkordinstruments und der Raumakustik aus dem Stegreif zu realisieren ist.83 Praktische Ausgaben rechnen mit dem Fall, dass ein im Generalbassspiel ausgebildeter Spieler nicht zur Verfügung steht, und ergänzen deshalb den Werktext durch eine in Noten ausgeschriebene Continuostimme, die entweder in die Partitur integriert ist oder als Einzelstimme angeboten wird. In den aufführungspraktischen Kommentaren zu seinen motettischen Werken hat Schütz allerdings die Organisten aufgefordert, aus dem gedruckten Stimmensatz eine Partitur oder Tabulatur herauszuziehen und danach „wohl und genaw mit einzuschlagen“ (Vorwort der Geistlichen Chormusik), anstatt akkordisch zu begleiten. Da eine moderne Partiturausgabe somit auch ohne Aussetzung die von Schütz gewünschte Spielvorlage darstellt, sind in jüngerer Zeit in der NSA die Geistliche Chormusik (NSA 5/1–2) und die Cantiones sacrae (NSA 8/9) in revidierten Ausgaben ohne Aussetzung vorgelegt worden – wobei allerdings im ersteren Falle eine ergänzende Ausgabe mit einer Generalbassaussetzung von Antje Wissemann angeboten wird.84 Dass die Lösungen der Aufgabe, eine „praktische Ausgabe“ bzw. eine „Ausgabe für Wissenschaft und Praxis“ zu erstellen, so weit auseinandergehen, liegt offenbar daran, dass gerade im Œuvre von Schütz das große Interesse der Musikpraxis und eine historisch relativ weit zurückgehende Notationspraxis aufeinandertreffen.85 Hinzu kommt, dass weder die Bedürfnisse der Wissen____________ 81 82
83 84
85
Zur Übersetzungspraxis der SSA siehe oben S. 114. Dies steht in Einklang mit der in der gegenwärtigen Aufführungspraxis zu konstatierenden Tendenz, Vokalmusik aller Gattungen in der Originalsprache aufzuführen, einer Tendenz, die sich auch in anderen Gesamtausgaben niederschlägt. So werden in der Hallischen HändelAusgabe Opern und Oratorien inzwischen nur noch in der (meist italienischen bzw. englischen) Originalsprache vorgelegt. Zu den Prinzipien von Schütz’ Generalbass-Notation vgl. Gerhard Kirchner, Der Generalbaß bei Heinrich Schütz (= Musikwissenschaftlicher Arbeiten, Bd. 18), Kassel 1960. Darüber hinaus enthält der Band einen Kommentar zur Aufführungspraxis von Manfred Cordes, womit an die ausführlichen Erörterungen angeknüpft wird, mit denen Wilhelm Ehmann vor Jahrzehnten seine Edition der Psalmen Davids begleitet hat (NSA 23ff.). Vgl. dazu ausführlich die Darstellung von Uwe Wolf, die trotz ihrer Zentrierung auf Italien auch für die Notation der deutschen Schützzeit relevant ist (Notation und Aufführungspraxis. Studien zum Wandel von Notenschrift und Notenbild in italienischen Musikdrucken der Jahre 1571–1630, 2 Bde., Kassel 1992).
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schaft noch die der Praxis eindeutig zu definieren und zudem während der langen Zeiträume der Entstehung der Schütz-Ausgaben nicht identisch geblieben sind.86 Eine Folge davon ist, dass keine der beiden im Entstehen begriffenen Schütz-Ausgaben die Editionsprinzipien, nach denen sie begonnen wurde, bis heute beibehalten hat. Das ist selbstverständlich für die NSA, die ihre Herausgeber niemals auf bestimmte Editionsprinzipien verpflichtet hat; doch es gilt – in geringerem Maße – auch für die SSA, bei der offenbar der Übergang von der Phase der von einem Herausgeber verantworteten Einzelausgaben zu der der Bandausgaben, an der eine Mehrzahl von Herausgebern beteiligt ist, neue Überlegungen zur Editionstechnik veranlasst hat. Wenn man in der Folge der inzwischen von mehreren HerausgeberGenerationen erstellten Bände der NSA und der SSA Tendenzen sucht, so ist einmal die Rücknahme von Maßnahmen zu erkennen, die das Werk zu stark verändern (insbesondere Transpositionen) oder bei denen es sich um reine Zusätze handelt (Übersetzungen). Damit hängt zusammen, dass der aus finanziellen Erwägungen resultierende Grundsatz der „Ausgaben für Wissenschaft und Praxis“, nach welchem „Doppeleditionen“ zu vermeiden sind,87 weniger selbstverständlich geworden ist, was wohl auch durch die modernen, computerbasierten Notendruckverfahren und das Prinzip der Herstellung on demand gestützt wird. Man mag die für Gesamtausgaben eigentlich uncharakteristische Instabilität der Editionsmethoden bedauern oder auch kritisieren.88 Für die Benutzer könnte es eher anregend sein, sich mit unterschiedlichen Erscheinungsformen von Schütz’schen Kompositionen vertraut zu machen, wobei ihnen immer noch die Möglichkeit bleibt, sich der im Internet frei verfügbaren digitalisierten Form der SGA zu bedienen.
____________ 86
87
88
Siehe dazu etwa den Abschnitt Ausgabe „für Wissenschaft und Praxis“ bei Georg Feder, Musikphilologie. Eine Einführung in die musikalische Textkritik, Hermeneutik und Editionstechnik, Darmstadt 1987, S. 151ff. Wolfgang Rehm, Notenschrift und Aufführung. Die Rolle der Musikverlage, in: Notenschrift und Aufführung (= Münchner Veröffentlichungen zur Musikgeschichte, Bd. 30), Tutzing 1980, S. 105; dazu Feder, Musikphilologie (wie Anm. 86), S. 153. Besonders scharf ging Allen B. Skei mit der NSA ins Gericht: „The Neue Schütz-Ausgabe […] presents altogether a rather inconsistent musical picture. […] the volumes clearly bear the imprint of a wide variety of editors and show the lack of a firm editorial policy“ (Allen B. Skei, Heinrich Schütz. A Guide to Research, New York, London 1981 [= Garland Composer Resource Manuals, Bd. 1], S. 17).
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Werner Breig
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Matthias Schneider
Froberger-Editionen
Johann Jakob Frobergers Tastenmusik1 hat zu allen Zeiten eine Randstellung im Repertoire von Cembalisten und Organisten eingenommen. Schon der Komponist selbst war zurückhaltend in der Weitergabe seiner Werke. Ihre kompositorischen und aufführungspraktischen Eigenheiten, die viele der spielpraktischen Konventionen hinter sich lassen, machten es in seinen Augen erforderlich, ihre Verbreitung bewusst zu steuern. So musste ihm die Herzogin Sibylla von Württemberg-Montbéliard, die er in seinen letzten Lebensjahren unterrichtete, sogar versprechen, seine Stücke nicht weiterzugeben, „da nit viel wisten mit dem umbzugehen, sondern selbige zu verderben“. Nur wer – so Sibylla – die Spielweise von Frobergers Musik „grif vor grif“ von ihm selbst erlernt habe, könne sie in rechter Weise interpretieren.2 Die zum Tombeau umgestalteten Allemanden, die Froberger um die Mitte des 17. Jahrhunderts gemeinsam mit Pariser Lautenisten und Cembalisten entwickelte, dürften für seinen Tastenstil paradigmatisch sein.3 Geradezu stereotyp findet sich über vielen dieser Stücke der Hinweis, sie seien „a discretion“ bzw. „con discrezione“ zu spielen, was auf eine freiere Handhabung des Zeitmaßes hindeutet. Dass sich die Froberger’schen Allemanden hinsichtlich ihrer Spielweise von denjenigen anderer Komponisten unterschieden, illustriert eine Begebenheit, die Johann Mattheson in der Grundlage einer Ehren-Pforte (1740) mitteilt. Er berichtet dort von einer Begegnung Frobergers mit dem Dresdner Hoforganisten Matthias Weckmann. Die beiden Musiker trugen einen musikalischen Wettstreit aus, der den Grundstein für eine lebenslange Freundschaft und einen sich anschließenden „vertrauten Briefwechsel“ gelegt hätte. Mattheson weiß insbesondere zu berichten, dass Froberger später „dem ____________ 1 2 3
Neben den Kompositionen für Tasteninstrumente sind einige wenige Vokalwerke überliefert, die nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind. An Constantijn Huygens, zit. in Edmund Schebek, Zwei Briefe über J. J. Froberger, kaiserlicher Kammer-Organist in Wien, Prag 1874. Vgl. hierzu Matthias Schneider, Spuren des Tombeau in der norddeutschen Tastenmusik des 17. Jahrhunderts, in: Tod und Musik im 17. und 18. Jahrhundert (= Michaelsteiner Konferenzberichte, Bd. 59), Michaelstein 2001, insbesondere S. 224–229.
Froberger-Editionen
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Weckmann eine Suite von seiner eignen Hand [sandte], wobey er alle Manieren setzte, so daß Weckmann auch dadurch der frobergerischen Spiel=Art ziemlich kundig ward“.4 Ein Fragment dieser Suite findet sich mit großer Wahrscheinlichkeit im Hintze-Manuskript, die einleitende Allemande trägt die Beischrift „Meditation, faist sur ma Mort future“ sowie eine Anmerkung von Weckmanns Hand: „NB Memento mori Froberger?“5 Zentrale Quellen der Musik Frobergers sind zwei kalligraphische und illustrierte autographe Handschriften, die der Komponist dem habsburgischen Kaiser Ferdinand III. widmete (Libro Secondo, 1649, und Libro Quarto, 1656), sowie eine weitere, zwei Jahre später angefertigte autographe Reinschrift (Libro di capricci, e ricercati …, 1658), die allerdings weder kalligraphische Züge noch Illustrationen trägt und Ferdinands Nachfolger Leopold I. von Habsburg gewidmet ist. Der musikbegeisterte Kaiser Ferdinand III. dürfte mit dem außergewöhnlichen Kompositionsstil seines Hoforganisten etwas anzufangen gewusst haben, auch wenn darüber nähere Zeugnisse fehlen. Die Zählung der beiden Prachtbände deutet zudem auf zwei verschollene weitere Bände hin, deren Bestände durch die zahlreichen handschriftlichen Quellen aus dem späteren 17. Jahrhundert gespiegelt werden dürften, die in Bibliotheken und Archiven in ganz Europa erhalten sind. Die drei erhaltenen autographen Handschriften bieten ein systematisch geordnetes Œuvre von je sechs Toccaten, Fantasien, Canzonen und Partiten im Libro Secondo (1649), je sechs Toccaten, Ricercaren, Capriccien und Partiten im Libro Quarto (1656) und je sechs Capriccien und Ricercaren im letzten Band (1658).6 Die Stücke sind korrespondierend zu den unterschiedlichen musikalischen Gattungen jeweils verschieden notiert: Verwendet Froberger für die Toccaten zwei Systeme mit sechs Linien für die rechte und sieben für die linke Hand, so sind die polyphonen Kompositionen (Fantasien, Canzonen, Ricercare) in Partitur auf vier separaten Notensystemen notiert. Für die Partiten schließlich verwendet Froberger zwei Fünf-Linien-Systeme mit Sopran- und Bass-Schlüssel. Bei den Partiten der beiden Sammlungen von 1649 und 1656 besteht ein Unterschied in der Satzreihenfolge: Während im Libro Secondo die einzige Partita, die eine Gigue enthält, mit dieser (wie später allgemein üblich) ____________ 4 5
6
Johann Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte, Hamburg 1740; Nachdruck hrsg. von Max Schneider, Berlin 1910, S. 396 (Artikel Weckmann) und S. 88 (Artikel Froberger). Vgl. Siegbert Rampe, Das „Hintze-Manuskript“. Ein Dokument zu Biographie und Werk von Matthias Weckmann und Johann Jacob Froberger, in: Schütz-Jahrbuch 19, Kassel [u. a.] 1997, S. 71–111. Ein Faksimile dieser Handschriften hat Robert Hill herausgegeben: Vienna, Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung, Mus. Hs. 18706, 17707 und 16560 (= 17th Century Keyboard Music. Sources Central to the Keyboard Art of the Baroque, hrsg. von Alexander Silbiger, Bd. 3/1–3), New York und London 1988.
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Matthias Schneider
schließt, findet sich dieser Satz im Libro Quarto jeweils an zweiter Stelle vor Courante und Sarabande. Froberger hat offenbar gegen Ende seines ParisAufenthaltes oder direkt im Anschluss daran, d. h. um das Jahr 1653, beschlossen, seine Partiten in der Folge Allemande-Gigue-Courante-Sarabande zu ordnen. Einige wenige Beispiele für diese Reihenfolge finden sich auch bei anderen Komponisten, etwa bei Frobergers Pariser Kollegen Jacques Champion de Chambonnières oder bei Matthias Weckmann. So könnte Frobergers Entscheidung gefallen sein, als er Kontakt zu Chambonnières hatte; ausgehend von der von Mattheson erwähnten „lebenslangen Freundschaft“ zwischen Weckmann und Froberger ließe sich vermuten, dass sich Weckmann seinerseits durch die „Suite von seiner eignen Hand“, die er von Froberger erhielt, zu der neuen Satzfolge anregen ließ. Auf Weckmanns dezidierte Beobachtung deutet jedenfalls ein Vermerk im Hintze-Manuskript („Hierauff Auch die Gigue hernach Courant Undt Sarab […] Zu letzt gespielt. – Undt so Setzt er Nun fast Alle seine Sachen in Solcher Ordnung“).7 Auf die zahlreichen handschriftlichen Quellen, die seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts erheblich zur Überlieferung der Tastenwerke Frobergers beitragen, ist hier nicht näher einzugehen. Gedruckt wurden zu seinen Lebzeiten lediglich zwei Einzelwerke. Beide zeugen von der Bedeutung und Reputation, die Frobergers Name in der Musikwelt schon früh genoss. Die im späteren 17. Jahrhundert erschienenen Sammlungen mit seiner Musik erlebten mehrere Auflagen, was die hohe Wertschätzung seiner Musik unterstreicht. Sie werden – wie die beiden Einzelwerke – im Kapitel „Erstdrucke“ behandelt. Die erste wissenschaftliche Gesamtausgabe mit Frobergers Tastenmusik veranstaltete Guido Adler Ende des 19. Jahrhunderts in den Denkmälern der Tonkunst in Österreich. Ihr folgten zwei weitere Gesamtausgaben, von denen die zweite bislang (Stand 2015) allerdings noch nicht vollständig vorliegt. Sie bilden den Gegenstand des zweiten Kapitels („Gesamtausgaben“). In Kapitel 3 geht es anschließend um „Drucke einzelner Quellen“, bevor im vierten Kapitel („Weitere Ausgaben“) einige besonders bemerkenswerte Ausgaben mit einer Auswahl von Frobergers Klavierwerken, z. T. im Kontext von Werken anderer Komponisten, behandelt werden.
____________ 7
Vgl. hierzu Johann Jacob Froberger, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hrsg. von Siegbert Rampe (im Folgenden: Rampe-GA), Band III, Kassel [u. a.] 2001, S. XLI, sowie seinen Aufsatz zum Hintze-Manuskript (wie Anm. 5), S. 99f.
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I.
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Erstdrucke
Kirchers Musurgia universalis und Roberdays Fugues, et Caprices Die erste veröffentlichte Komposition von Froberger ist die Fantasia sopra Ut, re, mi, fa, sol, la (FbWV 201),8 die Athanasius Kircher 1650 in seiner Musurgia universalis abdruckte.9 Die Fantasie dient dort im Rahmen von Kirchers Stillehre der Illustration des Phantasticus stylus, für den das ingenium des Komponisten und seine kompositorischen Entscheidungen maßgeblich sind. Kircher dürfte die Komposition während Frobergers zweitem Rom-Aufenthalt erhalten haben, der frühestens im November 1645 begann. Bekanntschaft mit Kircher könnte Froberger freilich bereits auf seiner ersten Italienreise (zwischen 1637 und 1641) gemacht haben, als er, ausgestattet mit einem Stipendium von Kaiser Ferdinand III., bei Girolamo Frescobaldi in Rom studierte. Ungewöhnlich mutet die hohe Wertschätzung an, die Kircher Froberger entgegenbringt: Nicht eine Komposition des bekannteren und avancierteren Komponisten Girolamo Frescobaldi, sondern von Froberger wählt Kircher für das Beispiel zu diesem modernen Kompositionsstil aus, wobei durchaus vorstellbar ist, dass Frobergers Fantasie direkt auf Kirchers Initiative in Rom hin entstand.10 Da die Fantasie auch in der autographen Handschrift von 1649 enthalten ist, lassen sich Intention des Komponisten und Umsetzung beim Druck gut vergleichen. Kircher übernimmt ein Charakteristikum der Froberger’schen Notationsweise: die jeweils eine Brevis umfassenden Großtakte. Neben kleineren Abweichungen in der Führung der Mittelstimmen fällt daneben die taktweise Gliederung des Hexachord-Themas zu Beginn auf – in der Handschrift von 1649 ist das Thema noch nicht in Takte gegliedert, sondern wird lediglich in aneinandergereihten Semibreven vorgestellt, was dort die Frage aufwirft, ob diese Themenvorstellung überhaupt mitgespielt werden soll. Die zweite zu Frobergers Lebzeiten im Druck veröffentlichte Komposition ist das Ricercar in d (FbWV 407), das im Libro Quarto (1656) die Reihe der Ricercare eröffnet. Der Erstdruck dieses Stücks ist eine im ersten Teil stark veränderte und um einen ungeradtaktigen dritten Teil erweiterte Fassung, die ____________ 8
9 10
Die Zählung der Froberger-Werke erfolgt nach dem von Rampe vorgeschlagenen FrobergerWerkverzeichnis, vgl. Artikel Froberger, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 7, Kassel [u. a.] 2002, Sp. 177–185. Athanasius Kircher, Musurgia universalis sive ars magna consoni et dissoni, Rom 1650, Faksimile-Nachdruck, hrsg. von Ulf Scharlau, Hildesheim 1970, S. 465. Vgl. hierzu Matthias Schneider, „Ad ostentandum ingenium, & abditam harmoniae rationem“. Zum Stylus phantasticus in der Tastenmusik des 17. Jahrhunderts, in: Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis 22 (1998), Winterthur 1999, S. 103–126.
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als Fugue 5me (FbWV 407a) in François Roberdays Sammlung Fugues, et Caprices (Paris 1660) erschien.11 Vermutet Siegbert Rampe in der Fuge eine „auf Basis von FbWV 407 eigens zur Veröffentlichung“ in dieser Sammlung von Froberger selbst geschaffenene Fassung,12 so lassen kodikologischer und kompositorischer Befund auch andere Schlüsse zu: Einerseits ist, wie Rampe einräumt, kaum eindeutig zu entscheiden, welche der Fassungen die ältere darstellt; andererseits könnten die Änderungen und Erweiterungen durchaus auch von Roberday selbst stammen.13 Roberday gibt im Vorwort seiner Ausgabe an, dass er für seine eigenen Kompositionen Themen der Italiener Antonio Bertali und Francesco Cavalli und der französischen Komponisten Pierre de la Barre, Louis Couperin, Robert Cambert und Henri d’Anglebert sowie von Froberger verwendet habe. Drei der Kompositionen in seiner Sammlung allerdings sollen aus fremder Feder stammen – Roberday nennt die Namen ihrer Komponisten (Frescobaldi, Froberger und dessen Wiener Kollegen Wolfgang Ebner) zwar im Vorwort, ohne freilich die betreffenden Stücke selbst zuzuordnen. Lediglich für die Fugue 5me konnte bislang in Frobergers Ricercar eine Konkordanz gefunden werden – wobei die Frage offenbleibt, ob sie damit eine der drei erwähnten Kompositionen oder zumindest in ihrem dritten Abschnitt Roberdays eigenes, durch Themen von Froberger inspiriertes Werk darstellt. Die Mainzer Drucke von Ludwig Bourgeat Im letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts erschienen mehrere Drucke, die ausschließlich Froberger’sche Tastenwerke enthalten. Unter ihnen sind zunächst die Drucke des Mainzer Verlegers und Buchhändlers Ludwig Bourgeat zu nennen. Seine Sammlung Diverse Ingegnosissime, Rarissime & non maj piu viste Curiose Partite di Toccate, Canzone, Ricercate, Alemande, Correnti, Sarabande e Gigue (Mainz 1693) stellt den ersten Druck mit mehreren Froberger’schen Kompositionen dar.14 Er enthält insgesamt neun Toccaten, eine Fantasie, zwei Ricercare und zwei Capricci und ist damit zwar weniger umfangreich als die Prachthandschriften für das habsburgische Kaiserhaus, aber ____________ 11 12 13
14
Hrsg. von Alexandre Guilmant und André Pirro (= Archives des maîtres de l’orgue, Bd. 3), Paris 1901. Rampe-GA, Band II: Libro Quarto (1656), Kassel [u. a.] 1995, S. XIII. Dieses nimmt etwa Howard Schott in seiner Gesamtausgabe an: Johann Jacob Froberger, Œuvres complètes pour clavecin, 4 Bde., hrsg. von Howard Schott (= Le Pupitre, Bd. 57 und 58, im Folgenden: Schott-GA), Paris 1990ff., Band 1.1, Vorwort, S. X. Vgl. das Faksimile dieses Druckes: Johann Jacob Froberger, Diverse… Partite, 2 parts (Mainz, Bourgeat, 1693, 1696); 10 Suittes de Clavessin … (Amsterdam, Mortier, n. d.), hrsg. von Robert Hill (= 17th Century Keyboard Music. Sources Central to the Keyboard Art of the Baroque, hrsg. von Alexander Silbiger, Bd. 4), New York, London 1988.
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ähnlich systematisch geordnet. Eine der Toccaten ist allerdings aus Frobergers Œuvre auszuscheiden: tatsächlich handelt es sich um die Toccata settima von Johann Kaspar Kerll, die von Bourgeat fälschlicherweise unter die FrobergerStücke aufgenommen wurde. Die im Titel erwähnten Suitensätze (Allemande, Correnti, Sarabande e Gigue) fehlen in der Ausgabe völlig. Ihre Erwähnung könnte darauf hinweisen, dass Bourgeats Vorlage in ihrem letzten Teil, ähnlich den Prachthandschriften, Partiten von Froberger enthielt, die Bourgeat allerdings nicht in den Druck übernahm. Die Titelblätter späterer Auflagen enthalten den Hinweis auf die Partiten nicht mehr. Von Bourgeats Druck sind mehrere Auflagen erhalten, die sich nur geringfügig unterscheiden, etwa durch ihre Titelseiten (einer der Drucke besitzt ein deutsches Titelblatt) und den Abdruck eines Vorworts in lateinischer Sprache, mit dem der Band dem thüringischen Violinvirtuosen Johann Jacob Walther gewidmet ist. Die letzten beiden Toccaten der Sammlung entsprechen (in umgekehrter Reihenfolge) den ersten beiden des Libro Secondo von 1649, ebenso finden sich dort ein Ricercar und die Fantasie als Fantasien Nr. 2 und 4 wieder. Bourgeats Vorlagen lassen sich nicht mit Sicherheit ermitteln. Auch wissen wir nicht, wie Frobergers Kompositionen nach Mainz gelangt sind. Bekannt ist allerdings, dass sich Froberger im September 1665 in Mainz aufhielt, wo er mit Constantijn Huygens, dem Generalsekretär des Prinzen von Oranien, zusammentraf. Offensichtlich ging es bei diesem Besuch auch um das vakante Amt des Mainzer Domorganisten. Freilich ließe sich aufgrund dieses Besuchs weder erklären, warum es beinahe weiterer drei Jahrzehnte bedurfte, bis die Kompositionen in Mainz gedruckt wurden, noch, wie die Vorlagen dafür beschaffen und von wem sie geschrieben worden waren. Der Umstand, dass sich zwischen den Froberger-Werken irrtümlich auch eine Toccata von Kerll befindet, lässt es als unwahrscheinlich erscheinen, dass Bourgeat direkt aus Froberger-Autographen oder autorisierten Abschriften stechen ließ. Einige kleinere Abweichungen des Drucks von den Fassungen des Autographs von 1649 haben Alexander Silbiger auf eine Überarbeitung im Anschluss an die Abschrift für Ferdinand III. schließen lassen.15 Die nicht in den autographen Handschriften enthaltenen Stücke geben möglicherweise Hinweise auf das Repertoire der als verschollen geltenden weiteren Bücher (Libro Primo und Libro Terzo).
____________ 15
Diese These geht auf einen unveröffentlichten Vortrag Silbigers zurück, auf den Hill im Vorwort seiner Faksimile-Ausgabe (wie Anm. 14, S. VIII) verweist.
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Die Amsterdamer Drucke von Estienne Roger und Pierre Mortier Wenig später als die Mainzer Drucke erschienen in Amsterdam zehn Suittes de Clavessin von Froberger, herausgegeben von dem seit 1695 dort ansässigen Verleger Estienne Roger. Roger begann seine verlegerische Tätigkeit in Amsterdam im Jahre 1697 und war außerordentlich erfolgreich, wobei dieser Erfolg wohl hauptsächlich auf Raubdrucken basierte.16 Der Froberger-Druck erschien erstmals 1698. Eine lokale Konkurrenz bekam Roger wenig später in Pierre Mortier, der seine Ausgaben in großem Stil auf Drucke von Roger stützte, wobei er Rogers Preise weit unterbot. Im Jahre 1709 erschien seine Ausgabe der 10 Suittes. Auf ihrem Titelblatt gibt er an, den Inhalt der Sammlung erheblich verbessert zu haben: „Mis en Meilleur ordre, et Corrigée d’un Grand nombre de Fautes“.17 Estienne Roger reagierte schon bald auf diese Ausgabe mit einer Neuauflage seines Suitendrucks, in die er viele Korrekturen von Mortier übernahm. Auch im Falle der Amsterdamer Drucke gibt es keine eindeutigen Hinweise auf die verwendeten Vorlagen. Allerdings könnte ihre Komplementarität zu den Mainzer Drucken Bourgeats auf ein gemeinsames Manuskript deuten, etwa aus dem Nachlass von Constantijn Huygens, wie bereits Robert Hill vermutet hat.18 In diesem Fall hätte Bourgeat die ersten Abteilungen mit Toccaten und polyphonen Stücken gedruckt und die Suitensätze, von denen noch auf dem Titelblatt von 1693 die Rede ist, weggelassen. Roger/Mortier hätten anschließend die Suiten veröffentlicht. Ein 1694 in Frankfurter und Leipziger Katalogen angekündigter Bourgeat-Druck mit Froberger-Suiten ist offenbar nie zustande gekommen.19 Die Angabe „Mis en Meilleur ordre“ im Druck von Pierre Mortier hat zu unterschiedlichen Interpretationen geführt. Während Howard Schott sie auf die Satzfolge (mit der Courante an zweiter Position) bezieht, interpretiert sie Rampe als einen Hinweis u. a. auf die genauere Positionierung der Notenköpfe, die Angabe moderner Taktvorzeichnungen sowie die Ergänzung von Ligaturen und Pausen.20 Hinsichtlich der Satzfolge unterscheiden sich die erhaltenen Amsterdamer Drucke von Roger und Mortier jedenfalls nicht. ____________ 16
17 18 19
20
Nähere Untersuchungen zu den beiden Verlegern und ihren Drucken finden sich bei François Lesure, Estienne Roger et Pierre Mortier. Un épisode de la guerre des contrefaçons à Amsterdam, in: Revue de Musicologie 38 (1956), S. 35–48. Hier zitiert nach dem Faksimile (wie Anm. 14), Vorwort, S. VI. Vgl. ebd., Vorwort, S. VII. Vgl. Friedrich Wilhelm Riedel, Quellenkundliche Beiträge zur Geschichte der Musik für Tasteninstrumente in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (vornehmlich in Deutschland) (= Musikwissenschaftliche Schriften, Bd. 22), 2. Auflage, München, Salzburg 1990, S. 124. Schott-GA, Band 2.2, S. X; Rampe-GA, Band III, Kassel [u. a.] 2001, S. XVI.
Froberger-Editionen
II.
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Gesamtausgaben
Guido Adler, Denkmäler der Tonkunst in Österreich Die erste Gesamtausgabe Froberger’scher Tastenwerke besorgte Guido Adler in den Jahren 1897 bis 1903 in den Denkmälern der Tonkunst in Österreich.21 Sie blieb für lange Zeit trotz aller Mängel, die ihr im Laufe der Zeit attestiert wurden, eine Referenzausgabe: Die Übertragung der Notentexte aus den Quellen erwies sich als im Wesentlichen zuverlässig, und ihre Zählung wurde – mit kleineren Korrekturen – von den späteren Gesamtausgaben übernommen. Auf diese Weise legte sie den Grundstein für ein erst ein knappes Jahrhundert später in Angriff genommenes Werkverzeichnis. Der erste der drei Teile umfasst zwölf Toccaten, sechs Fantasien, sechs Canzonen, acht Capriccios und sechs Ricercare aus den in autographen Handschriften erhaltenen Kompositionen, Band 2 dreißig Partiten sowie einzelne Partitensätze, während in Band 3 weitere dreizehn Toccaten, zehn Capriccios, sieben Ricercare, zwei Fantasien sowie in einem Anhang zwei Suiten und weitere Suitentänze abgedruckt sind.22 Auch wenn die Froberger-Autographe den Grundstock für den ersten Band lieferten, hat der Herausgeber deren Systematik nicht unverändert übernommen, sondern den Bestand nach seinen eigenen Vorstellungen geordnet. Die Partiten hat er in einem eigenen Band zusammengefasst und die übrigen Stücke – nicht unähnlich den handschriftlichen Quellen und ersten Sammeldrucken – nach Gattungen geordnet. Im Unterschied zu den Partiten des zweiten Bandes sah Adler die Kompositionen im ersten und dritten Band als „Orgel- und Claviermusik“ an; die Toccaten, Fantasien und Ricercare bezeichnet er gar als „kirchliche Orgelstücke“.23 Adlers Bemühen um eine Systematisierung des Œuvres scheint nicht erst aus heutiger Sicht über das Ziel hinauszuschießen. Bereits Margarethe Reimann hatte beklagt, er habe „eigenmächtig Frobergers Suiten in klassische Ordnung gebracht“, eine Ordnung, die zwar späteren Abschriften und Drucken der Partiten entspricht, nicht immer aber die autographe Situation wiedergibt.24 Adlers Eingriff in die originale Gestalt besteht darin, die Satzfolge der Suiten einander anzugleichen, ohne dabei Rücksicht auf die Vorlagen zu nehmen, aus ____________ 21
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Johann Jakob Froberger, Werke für Orgel und Klavier, 3 Bde., hrsg. von Guido Adler (= Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Bd. 8, Jahrgang IV/1, Bd. 13, Jahrgang VI/2 und Bd. 21, Jahrgang X/2), Wien, Leipzig 1897–1903 (im Folgenden: Adler-GA). Adler nennt die im Original als „Partiten“ bezeichneten Werke in seiner Ausgabe durchweg „Suiten“. Adler-GA, Vorwort zum ersten Band (1896). Margarethe Reimann, Artikel Froberger, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Friedrich Blume, Bd. 4, Kassel [u. a.] 1955, Sp. 991.
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Matthias Schneider
denen sie stammten. So ist etwa eine Entwicklung innerhalb von Frobergers Werk, die, wie bereits erwähnt, auf die Gegebenheiten in Paris zu Beginn der 1650er Jahre reagiert und ihrerseits andere Komponisten, insbesondere Matthias Weckmann, beeinflusst haben dürfte, an der Edition nicht mehr ablesbar. Adler standen für seine Ausgabe noch wesentlich weniger Quellen zur Verfügung, als heute bekannt sind, auch wenn er schon eine beachtliche Anzahl bedeutender Handschriften zusammengetragen hatte. Bei einigen der von ihm in die Edition aufgenommenen Stücke hat er im Revisionsbericht zwar Bedenken an der Zuweisung formuliert, entschied sich aber, sie gleichwohl in Frobergers Werk einzuordnen;25 bei anderen ist die Authentizität erst später in Zweifel gezogen worden. Adlers Editionsprinzip beruht darauf, aus den verfügbaren Quellen – nach vorheriger Bewertung und Ausscheiden „minderwerthiger“ Vorlagen – für jedes Stück eine optimale Lesart zu gewinnen. Einige Varianten erschienen Adler freilich so bemerkenswert, dass er sie im Revisionsbericht abdruckte. An unklaren Stellen nahm er beherzt Emendationen vor, über die der Revisionsbericht Auskunft gibt. Darüber hinaus besteht in Adlers Ausgabe generell die Tendenz zur „Normalisierung“ der Vorlagen, bei der manches Detail verloren geht. Das betrifft zunächst unbedenkliche Vereinheitlichungen, etwa die Notation sämtlicher Tastenmusik auf zwei Fünf-Linien-Systemen, unabhängig von der Notation der Vorlage, oder die Vereinheitlichung der Vorzeichensetzung, bei der etwa die G-Dur-Partita „auff Die Maÿerin“ eine generelle G-Dur-Vorzeichnung erhält und nicht, wie die Handschrift, jedes fis einzeln gekennzeichnet wird. Anders verhält es sich bei Adlers Reduktion der Froberger’schen Großtakte auf die Hälfte oder der vereinheitlichten Balkung von Achtel- und Sechzehntelgruppen: Hier gehen mit der Normalisierung möglicherweise aufführungspraktische Hinweise verloren. Adlers Ausgabe stellte einen Notentext für das gesamte Froberger’sche Tastenwerk bereit, der auch aus heutiger Sicht schon erstaunlich vollständig ist und dem später nur wenige Einzelstücke hinzugefügt wurden. Sie bildete die Basis für eine eingehendere Beschäftigung mit Froberger, die ihren Niederschlag in zahlreichen praktischen Ausgaben fand.
____________ 25
Vgl. etwa die Toccaten FbWV 123–125, die in der von Johann Valentin Eckelt geschriebenen Quelle zunächst die auf Johann Pachelbel verweisende Initiale „J. P.“ trugen, welche dann nachträglich in „Froberg.“ korrigiert wurde. Adler vermerkt hierzu: „Wenngleich die Authentizität nicht ganz sicher gestellt ist, so müssen die Stücke nicht als dubios bezeichnet werden.“ Adler-GA, Bd. III, S. 123.
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Howard Schott, Le Pupitre Im Jahre 1979 erschien der erste Band der Œuvres Complètes pour Clavecin Frobergers, herausgegeben bei Heugel von Howard Schott. Die beiden Teilbände von Tome 1 enthalten die Stücke der autographen Sammlungen von 1649, 1656 und 1658. In zwei weiteren Teilbänden sind Toccaten und polyphone Werke sowie Suiten26 und verschiedene Einzelstücke erschienen, die vornehmlich aus Bourgeats Mainzer Drucken (1693 und 1696), den Amsterdamer Drucken von Roger und Mortier sowie einigen handschriftlichen Quellen stammen. Unter den letzteren befinden sich Quellen aus Wien (insbesondere aus dem Minoritenkonvent), aus Frankreich (darunter das Manuscrit Bauyn) sowie aus Nord-, Mittel- und Süddeutschland. Schott behielt weitgehend Adlers Zählung der Stücke bei, wich aber dort von ihr ab, wo er die Korrektur irrtümlicher Zuschreibungen für angebracht hielt. So ersetzte er in Tome 1 die Suite Nr. XXIX, die aus fehlerhaften Zuschreibungen bzw. bereits abgedruckten Sätzen des Libro Quarto besteht, durch eine viersätzige Es-Dur-Partita aus der Möller’schen Handschrift, die vormals ursprünglich Georg Böhm zugeschrieben worden war.27 Die anonym überlieferte Partita hatte Gustav Leonhardt bereits 1964 für Froberger reklamiert,28 und Willi Apel kam 1967 aufgrund stilistischer Beobachtungen ebenfalls zu der Vermutung, dass es sich um ein Werk Frobergers handeln könnte.29 Gleichwohl bot erst Schott eine Edition des Stückes im Kontext der Froberger’schen Kompositionen.30 Siegbert Rampe erkannte ein Jahrzehnt später im Rahmen seiner Gesamtausgabe in ihrem ersten Satz gar die Allemande faite en passant le Rhin, dans une barque, en grand peril, von der bei Mattheson mehrfach zu lesen ist, die aber unter den bekannten Partiten bis dato noch nicht gefunden worden war.31 Seine These wurde schließlich von Peter Wollny nach Entdeckung einer FrobergerHandschrift aus den Beständen der Berliner Sing-Akademie widerlegt, in der ____________ 26 27 28 29 30
31
Auch Schott verwendet – wie Adler – durchweg den Gattungsbegriff der „Suite“ anstelle der originalen Bezeichnung „Partita“. Vgl. Schott-GA, Band 2.2, S. XI, Anm. 2, sowie Hill (wie Anm. 14), S. VII und X, Anm. 16. Ernest-Bloch-Vorlesung an der Universität Kaliforniens in Berkeley (1964), veröffentlicht als Johann Jacob Froberger and his Music, in: L’Organo 6/1 (1968), S. 15. Willi Apel, Geschichte der Orgel- und Klaviermusik, Kassel [u. a.] 1967, S. 617. Die Suite war zunächst Georg Böhm zugeschrieben worden, vgl. die Gesamtausgabe von Johannes Wolgast, Leipzig 1927, Band I, S. 45 (Suite V). Klaus Beckmann hat in seiner Ausgabe der Böhm’schen Tastenmusik (Georg Böhm, Sämtliche Werke für Klavier/Cembalo, Wiesbaden 1985, S. 62) die Suite zwar unter den Incerta eingereiht, Hinweise auf Froberger finden sich hier jedoch nicht. Rampe-GA, Bd. IV.1, Kassel [u. a.] 2003, S. XVIIf. Vgl. Johann Mattheson, Der Vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, S. 130 sowie ders., Grundlage einer Ehren-Pforte (wie Anm. 4), S. 89.
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die von Mattheson beschriebene Allemande eindeutig in der Partita e-Moll (FbWV 627) identifiziert werden konnte.32 In Tome 2 lässt Schott bei den Toccaten die Nummer XVII aus – unter dieser Nummer hatte Adler unwissentlich die Toccata settima von Kerll übernommen, die in Ludwig Bourgeats Druck steht. Ebenso verzichtet Schott auf den Abdruck der Toccata XXII, einer Variante von Toccata XXI, sowie der vermutlich unechten Toccaten XXIII bis XXV.33 Ferner kommt es zur Auslassung der Capricci („Capriccios“) XI und XIV bis XVII, der Fantasia VIII und des Ricercars XV. Schott verfolgt nicht die Absicht, sämtliche Varianten und Lesarten mitzuteilen. Er entscheidet sich vielmehr für jeweils eine Hauptquelle, zu deren Überprüfung er allerdings andere Quellen heranzieht. In Tome 1 bilden die autographen Handschriften diese Hauptquellen. Für Tome 2 bemerkt Schott, dass es aufgrund der sehr unterschiedlichen Qualität der zumeist handschriftlichen Quellen und der Vielzahl an Lesarten und Varianten schwierig sei, sich für eine Hauptquelle zu entscheiden. Da verlässliche Zeugnisse für einen „texte correct“ fehlen, seien die vorhandenen Überlieferungen zu einem Notentext zu amalgamieren. Für eine ausführlichere Diskussion verweist er auf seine Monographie über Frobergers Tastenmusik.34 Die originale Aufzeichnungsweise (italienische Notation für die Toccaten, Partiturnotation für die polyphonen Werke und französische für die Suiten) wird bei allen Werkgruppen auf die moderne Notation (zwei Fünf-LinienSysteme mit Violin- und Bass-Schlüssel) vereinheitlicht. Auch halbiert Schott wie Adler – als Zugeständnis an moderne Spieler – in seiner Ausgabe grundsätzlich Frobergers Großtakte (die jeweils eine Brevis umfassen), macht die eingefügten Halb-Taktstriche aber von den originalen dadurch unterscheidbar, dass sie nur die Notenlinien selbst, nicht das ganze Notensystem teilen. Seine Ausgabe eignet sich unter den neueren Ausgaben für Aufführungszwecke besonders gut: Das Notenbild ist übersichtlich, Korrekturen und Anmerkungen sind auf ein Minimum beschränkt. Bei den Partiten verzichtet Schott im Allgemeinen auf die Ergänzung von Pausen, wodurch das Notenbild ebenfalls erheblich entlastet wird. Weitere aufführungspraktische Zeichen (Bindebögen, Verzierungszeichen) sind auf das beschränkt, was die Quellen ____________ 32 33
34
Siehe unten, S. 141f. Auf Unsicherheiten bei der Zuschreibung hatte ja bereits Adler hingewiesen (wie Anm. 25). Vgl. hierzu das Verzeichnis der Werke Frobergers von Siegbert Rampe (wie Anm. 8), S. 183. Rampe schreibt Froberger auch die Toccata XX (FbWV 120) ab und weist sie Muffat bzw. Carlo Ferdinando Sinomelli zu. Howard M. Schott, A Critical Edition of the Works of J. J. Froberger with Commentary, Diss. mschr., Oxford 1977.
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vorgeben. Bei den wenigen geradtaktig notierten Giguen empfiehlt Schott eine Ausführung in dreizeitigem Takt. Diese aufführungspraktische Konvention leitet er aus den beiden Überlieferungen der Gigue aus der ersten Partita ab, die im Libro Quarto (1656) FbWV 607 in einer geradtaktigen Version, im Manuscrit Bauyn dagegen im dreizeitigen Takt wiedergegeben ist. Siegbert Rampe, Neue Ausgabe sämtlicher Clavier- und Orgelwerke Einige Jahre nach Schott begann Siegbert Rampe im Bärenreiter-Verlag mit der Veröffentlichung einer neuen Froberger-Gesamtausgabe. Damit verfolgte er das Ziel, nicht nur sämtliche Froberger zugeschriebenen Instrumentalwerke vorzustellen, sondern zugleich auch Stücke zweifelhafter Echtheit sowie Varianten einzubeziehen. Die Edition begann wiederum mit dem Libro Secondo (1649) und wurde mit der Ausgabe der beiden anderen Wiener Autographe (1656 und 1658) fortgesetzt. Ursprünglich waren darüber hinaus zwei weitere Bände mit der Edition abschriftlich und im Druck überlieferter Werke geplant, deren Anhänge auch die Varianten ungesicherter Authentizität und die Dubiosa enthalten sollten. Im Verlaufe der editorischen Arbeit nahm das Projekt immer größere Dimensionen an. Boten die Bände III und IV (in jeweils zwei Teilbänden) zunächst sämtliche Partiten aus verstreut aufgefundenen abschriftlichen Quellen und Drucken, so wurde es mit Abschluss dieses Teils notwendig, noch zwei weitere Bände zu projektieren: Band V soll Toccaten und polyphone Werke abschriftlicher Überlieferung enthalten, Band VI die Ausgabe mit inzwischen aufgefundenen vokalen und instrumentalen Ensemblestücken abrunden. Das Erscheinen dieser beiden Bände steht zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch aus. Der letzte Band der Ausgabe soll ein von Rampe erstelltes Werkverzeichnis des Komponisten enthalten, das an die in Cembalisten- und Organistenkreisen etablierte Zählung der Froberger’schen Kompositionen in Adlers Gesamtausgabe anknüpft. Hatte bereits Schott in seiner Gesamtausgabe die Adler’schen Nummern leicht modifiziert übernommen, so ordnet Rampe – ganz im Sinne der an den autographen Prachthandschriften erkennbaren Systematik des Komponisten – seine Ausgabe nach Gattungen. Den Werkzahlen Adlers stellt er jeweils eine Ziffer voran, die für eine Gattung steht (1 = Toccaten, 2 = Fantasien, 3 = Canzoni, 4 = Ricercari, 5 = Capricci, 6 = Partiten und Partitensätze). Die angefügte zweistellige Zahl geht zwar im Allgemeinen auf Adlers römische Zählung der Stücke zurück, korrigiert bzw. ergänzt aber dort, wo Neufunde bzw. neue philologische Ergebnisse dies erforderlich machen. Auch wenn das Erscheinen des letzten Bandes der Froberger-Ausgabe durch das
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Anwachsen des Bestandes an Stücken und Varianten in weitere Ferne gerückt ist, sorgt eine vorläufige Version des Werkverzeichnisses in der zweiten Ausgabe der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart einstweilen für Ersatz.35 Rampe, selbst als Cembalist und Organist aktiv, versucht den Spagat zwischen wissenschaftlicher und praktischer Ausgabe. So wendet er sich auf der einen Seite mit dem Anspruch philologischer Genauigkeit und größtmöglicher Vollständigkeit an den wissenschaftlichen Benutzer, zum andern mit der Präsentation der unterschiedlichen Varianten im Notentext gleichermaßen an Praktiker: „eine Trennung beider Bereiche wurde bewusst vermieden“.36 Rampe unterscheidet zwischen unterschiedlichen Werkfassungen und Lesarten – erstere werden in der Edition separat abgedruckt, letztere durch Varianten in Notentext oder Kritischem Bericht angezeigt. In der Regel liegt der Edition einzelner Stücke jeweils eine Hauptquelle zugrunde, die in Großstich wiedergegeben wird. Als Kriterien für ihre Auswahl gibt Rampe einerseits die vollständige Überlieferung des Notentexts an, andererseits den Umstand, dass die Quelle „substantielle Ornamentationen in ihrer einfachsten überlieferten Gestalt enthält“.37 Daraus schließt er auf die mutmaßlich früheste Lesart. Hinter der genauen Wiedergabe aller verfügbaren Abweichungen steht die These, dass sämtliche Fassungen Varianten derselben Stücke (und keine korrumpierten Abschriften) darstellen, die allesamt auf den Komponisten zurückgehen und somit Anspruch auf Authentizität erheben. Ob diese These tatsächlich zutrifft, wird sich im Einzelfall nur schwer verifizieren lassen. Gleichwohl ist die Wiedergabe der Fassungen und Lesarten als Varianten sicherlich auch dann zu begrüßen, wenn nicht als sicher angenommen werden kann, dass tatsächlich alle Varianten auf Froberger selbst zurückgehen. Sofern Lesarten in den Haupttext der Edition eingefügt werden, geschieht dies in Form von Ossia-Takten direkt oberhalb bzw. unterhalb des betreffenden Notensystems, oder es werden alternative bzw. fragliche Zeichen eingeklammert, von denen aus Ziffern auf die jeweilige, am unteren Seitenrand genannte Quelle verweisen. Dies dient dem Zweck, dem Spieler auf einen Blick ein Bild der divergierenden Überlieferungssituation zu vermitteln. Erkauft wird dieser philologische Vorzug freilich um den Preis, dass die Ausgabe für Aufführungszwecke beinahe unbrauchbar wird: Wo für eine Komposition zahlreiche Quellen mit jeweils unterschiedlichen Lesarten überliefert sind, werden die Druckseiten so überladen, dass ein konzentriertes Spiel durch das ____________ 35 36 37
Siehe oben, Anm. 8. Rampe-GA, Band I, Kassel [u. a.] 1993, Vorwort, S. III. Rampe-GA, Band IV.1, Kassel [u. a.] 2003, Vorwort, S. VIII.
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Schriftbild nicht mehr unterstützt, sondern eher behindert wird.38 Gleichwohl berühren viele der hier genannten Informationen gerade diejenigen Fragen, die nicht nur für wissenschaftliche Untersuchungen, sondern gerade auch für Entscheidungen des Interpreten Relevanz haben. Damit tritt ein generelles Problem des hier eingeschlagenen Editionsweges zutage: Die Mehrzahl der Überlieferungsvarianten spricht ganz speziell spieltechnische und figurativ-gestalterische Fragen des Tastenspiels an. Sie dürften für musikwissenschaftliche Untersuchungen lediglich dann von Interesse sein, wenn der Tastenstil selbst bzw. seine Interpretation im Zentrum einer Untersuchung steht. An den Varianten lassen sich Entwicklungen von Frobergers Kompositionsstil, insbesondere so wichtiger Aspekte wie etwa der Ornamentik oder des Style brisé, aber auch ihre Rezeption in den Quellen der folgenden Jahrzehnte nachvollziehen. Doch rückt damit die Edition nahe an eine Studie heran, die dieser speziellen Fragestellung gewidmet ist – für alle anderen Fragestellungen (und erst recht für die künstlerische Interpretation von Frobergers Musik) würde der einfache Notentext einer Quelle bzw. seine Optimierung mithilfe weiterer Quellen völlig ausreichen. Ermöglicht die Ausgabe dem Spieler einerseits eine individuelle Entscheidung, welchem Überlieferungsstand, welcher Tradition oder Konvention er folgen möchte, so ist es doch zur sachgerechten Entscheidung unerlässlich, den Quellenwert der einzelnen herangezogenen und präsentierten Quellen zu beurteilen, bevor er sich bei seiner Interpretation für die eine oder andere Variante entscheiden kann. Welcher Praktiker wird wohl bereit sein, sich in solchem Umfang auf die philologische Diskussion einzulassen? Nimmt die Froberger’sche Tastenmusik bereits eine Nischenstellung ein, so dürfte für das Interesse an diesen speziellen Fragen nur noch ein verschwindend kleiner Adressatenkreis verbleiben. Im Übrigen kommt auch Rampe nicht ohne die Entscheidung aus, welche der Lesarten er im Notentext sichtbar macht und welche er lediglich in den Kritischen Bericht aufnimmt. Insofern könnte die Vielzahl unterschiedlicher Varianten im Notenbild den Spieler sogar in der trügerischen Sicherheit wiegen, hier alle verfügbaren Lesarten versammelt zu haben, ohne weitere von Rampe als unwichtig beurteilte Lesarten zur Kenntnis zu nehmen. Wäre unter diesen Umständen nicht eine übersichtlichere Darstellung aller Lesarten im Kritischen Bericht, etwa in Form einer Synopse, angebrachter gewesen? Rampes Ausgabe zeigt sich mit ihren ausführlichen Einleitungen zu allen wichtigen Aspekten der Tastenmusik einerseits zweifellos dem heutigem Reflexionsstand editorischer Grundfragen gewachsen, andererseits schießt sie ____________ 38
Vgl. z. B. Rampe-GA, Bd. III, Kassel [u. a.] 2001, S. 16, 21ff. und 73ff.
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freilich mit ihrem Anspruch sogleich über das Ziel hinaus und mutiert zu einer veritablen Studie über Frobergers Tastenmusik mit allen Aspekten von Überlieferung und Aufführungspraxis.
III.
Drucke einzelner Quellen
Im Unterschied zu den Gesamtausgaben, die alle bekannten bzw. verfügbaren Quellen aufarbeiten, gibt es aus jüngerer Zeit einige Editionen, denen lediglich eine einzige Quelle zugrunde liegt. Bei ihnen kann sich der Herausgeber auf die Überlieferungssituation dieser Quelle beschränken und ihre Besonderheiten herausstellen, während Parallelüberlieferungen lediglich zur Klärung offener Fragen herangezogen werden. In diesem Zusammenhang sind folgende Veröffentlichungen zu nennen. Erst in den späten 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ist die Handschrift Ms. 1-T-595 der Sächsischen Landesbibliothek Dresden bekannt geworden. Sie enthält dreizehn mit Suite überschriebene Partiten von Froberger, darüber hinaus weitere von Valentin Strobel, Jean Mercure, Alessandro Poglietti und Michael Bulyowsky.39 Eine anonym überlieferte Suite trägt ebenfalls stilistische Züge Frobergers, auch wenn sie der Herausgeber dieses Bandes, Rudolf Rasch, „vorsichtshalber […] nicht unbedingt“ Froberger zuschreiben möchte. Die mutmaßlich von Bulyowsky angefertigte Handschrift ist mit „Straßburg, den 15. März 1675“ datiert. Bemerkenswert vor dem Hintergrund der übrigen Quellen ist einerseits die Satzfolge der hier gebotenen Suiten: Bei der Mehrzahl der Froberger zugeschriebenen bzw. für ihn beanspruchten Suiten sowie bei sämtlichen übrigen Kompositionen steht die Gigue an zweiter Stelle, wobei die Satzzahl zwischen drei und sieben Sätzen schwankt. Andererseits bietet die Handschrift neben einigen Konkordanzen zu bekannten Partiten aus Libro secondo und Libro quarto sowie den Amsterdamer Drucken drei Suiten als Unica, fehlende Sätze zur bislang nur fragmentarisch überlieferten Partita FbWV 628 sowie deutlich abweichende Fassungen zu einigen bereits bekannten Werken. Der Wert einer eigenen Ausgabe dieser Handschrift dient in erster Linie der Forschung: Sie kann helfen, Überlieferungswege aufzudecken und die Entwicklung ihres Schreibers über einen längeren Zeitraum nachzuzeichnen. Zudem mögen einige Details wie etwa der Hinweis auf eine Petite Reprise in der ____________ 39
Vingt et une suites pour le clavecin de Johann Jacob Froberger et d’autres auteurs. Dresden, Sächsische Landesbibliothek, Ms. 1-T-595, Strasbourg 1675, hrsg. von Rudolf Rasch (= Convivium musicum, Bd. 5), Stuttgart 2000. Zitat aus dem Vorwort, S. XVIII.
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Gigue der Suite in d (FbWV 602b) interessant sein, auch wenn die Ausgabe im Übrigen wohl weniger zu einem veränderten Spielverhalten der konzertierenden Interpreten als zu tieferen Einsichten in den Überlieferungsprozess führen wird. Ein weiterer Wert der Ausgabe besteht in der Veröffentlichung bislang noch nicht bekannter Beischriften zu mehreren Sätzen. So wird der letzte Satz der 2. Suite (FbWV 613) als „Gigue praecedens in proportione nommée La rusée Mazarinique“ überschrieben, die Allemande der 5. Suite (FbWV 618) trägt die Bezeichnung „faite à l’honneur de Madame Sibylle Duchesse de Wirtemberg“, an die sich eine „Gigue nommée La Philotte“ anschließt, und die Allemande der Suite Nr. XIII (FbWV 616) als „Allemande repraesentans monticidium Frobergeri“. Der Hinweis „Allemande nommée Wasserfall“ zur Suite en Mi mineur konnte von Rasch noch nicht gedeutet werden – vor dem Hintergrund der Beischriften in der im Folgenden vorgestellten Froberger-Quelle klärt sich freilich die Bedeutung dieser Anspielung auf. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von Toccaten, Suiten und Lamenti aus der Handschrift SA 4450 der Sing-Akademie zu Berlin, die im Jahr 2004 von Peter Wollny herausgegeben wurden.40 Die Quelle, eine zeitgenössische kalligraphische Abschrift, die der Hamburger Organist Johann Kortkamp angefertigt haben könnte, ist erst durch die Rückführung der zwischenzeitlich kriegsbedingt nach Kiew ausgelagerten Bestände der Berliner Sing-Akademie wieder ins Blickfeld geraten. Zwar bietet sie keine bis dato unbekannten Stücke, doch enthält sie wertvolle Details zu bisher bekannten Suiten. Insbesondere tragen die hier versammelten Suiten ausführliche Beischriften, von denen andernorts nur verkürzte oder verstümmelte Varianten bekannt geworden sind. Das betrifft insbesondere die bereits erwähnte, von Mattheson ausführlich beschriebene Allemande faite en passent le Rhin, dans une barque, en grand peril.41 Mattheson hatte u. a. in § 72 des vierten Haupt-Stücks im Zweiten Theil („Von der melodischen Erfindung“) seines Vollkommenen Capellmeisters Frobergers Fähigkeit gelobt, auf dem Clavier eine ganze Geschichte „samt ihren Gemüths-Eigenschafften gar wol vorzustellen“. Eine Überfahrt des Grafen von Thun über den Rhein, an der Froberger selbst teilgenommen habe, werde „in 26 Noten-Fällen ziemlich deutlich vor Augen und Ohren geleget“.42 Hatte die Handschrift von Bulyowsky bereits mit der Beischrift „nommée Wasserfall“ zur Suite e-Moll FbWV 627 eine Anspielung auf dieses Ereignis gegeben, die von bisherigen Herausgebern keinem Ereignis zugeordnet werden ____________ 40
41 42
Toccaten, Suiten, Lamenti. Die Handschrift SA 4450 der Sing-Akademie zu Berlin, Faksimile und Übertragung, hrsg. von Peter Wollny und der Singakademie zu Berlin (= Documenta Musicologica II: Handschriften-Faksimiles, Bd. 31), Kassel [u. a.] 2006. Siehe oben, S. 135f. Mattheson 1739 (wie Anm. 31), S. 130.
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konnte, so beantwortet die hier edierte Quelle diese Frage. Neben dem Notentext und der Überschrift bietet sie eine detaillierte Schilderung der Begebenheit. Verweisziffern im Text finden sich in der Komposition über einzelnen Akkorden, Motiven oder ganzen Phrasen wieder. Die von Mattheson bezeichneten „26 Noten-Fälle“ lassen sich auf diese Weise nacheinander in der Allemande auffinden. Wollnys Ausgabe unterstreicht dies anschaulich: Als einzige der hier behandelten Editionen einzelner Quellen bietet sie neben der minutiösen Übertragung zum Vergleich ein vollständiges Faksimile im selben Band (wenn auch nicht in direkter Gegenüberstellung). Einzelne Stücke bzw. Sätze Frobergers sind in den vergangenen Jahren in der Zeitschrift Concerto herausgegeben worden. So präsentierte Thomas Synofzik zu Beginn des Jahres 1996 eine Sarabande in c, die bis dahin noch nicht publiziert worden war.43 Dies war umso erstaunlicher, als die Quelle selbst, ein umfangreiches mehrteiliges Tabulaturbuch aus dem Nachlass des Marburger Anatomieprofessors Guido Richard Wagener, bereits geraume Zeit früher auch als Froberger-Quelle ins Blickfeld geraten war.44 Die Sarabande ist – im Abstand von wenigen Seiten – zweimal vom selben Schreiber notiert worden, was interessante Rückschlüsse auf den Kopierprozess und die beabsichtigte Gestalt des Suitensatzes zulässt. So finden sich nur in der ersten Abschrift Ornamente, in der zweiten hingegen zusätzliche Bindebögen. Synofzik kommentiert die Unterschiede und druckt zusammen mit seiner Edition beide Versionen im Faksimile ab, so dass sich Leser bzw. Interpreten selbst einen Eindruck verschaffen können. Ebenfalls in der Zeitschrift Concerto bot jüngst der Cembalist Bob van Asperen die Edition einer Toccata prima aus einem bereits lange bekannten Handschriften-Konvolut der Sammlung Chigi, das Frescobaldis Sohn Domenico mit dem Namen seines Vaters Girolamo versehen hatte.45 Van Asperen diskutiert Kompositionsmerkmale der drei Toccaten, die am Ende des Konvoluts eine eigene Abteilung bilden. Sie heben sich qualitativ deutlich vom vorangehenden Bestand der Handschrift ab und waren schon früher stilistisch ____________ 43 44
45
Thomas Synofzik, J. J. Froberger (1616–1667), Sarabande in c, in: Concerto. Das Magazin für Alte Musik, Heft 109 (1995/96), S. 23–26. Es handelt sich um die Handschrift mit der Signatur 26.374, Bibliothèque du Conservatoire Royale du Musique in Brüssel. Zur Kenntnis genommen hatte etwa Howard Schott die Quelle, ohne auf die überlieferten Unica einzugehen. Schott-GA, Band 2.1, S. XI. Bob van Asperen, „Drei Toccaten“ in der Handschrift „Chigi Q.IV.25“. Überlegungen zu einer möglichen Zuschreibung an Johann Jacob Froberger, in: Concerto. Das Magazin für Alte Musik, Heft 224 (2009), S. 34–41. Abdruck der vollständigen Toccata Prima auf S. 36. – Auch die Quelle liegt als Faksimile vor: Vatican City, Biblioteca Apostolica Vaticana, MS Chigi Q.IV.25 (attributed to Frescobaldi), hrsg. von Alexander Silbiger (= 17th Century Keyboard Music. Sources Central to the Keyboard Art of the Baroque, hrsg. von Alexander Silbiger, Bd. 1), New York, London 1988.
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zwischen Frescobaldis späten und Frobergers frühen Toccaten eingestuft worden.46 Van Asperen kommt überzeugend zu dem Schluss, dass es sich um Toccaten Frobergers handeln muss. Grundlage seiner Erörterung bilden zahlreiche idiomatische Vergleiche mit Passagen aus dem gesicherten Tastenwerk von Froberger und Frescobaldi, die jeweils mit abgedruckt werden. Dabei erweist ein Vergleich mit der Toccata IV aus dem Libro Secondo (1649, FbWV 104), bei dem deutliche thematisch-motivische Korrespondenzen zutage treten, dass es sich bei der Toccata Prima wohl um eine Frühfassung von FbWV 104 handeln müsse, die als Schülerarbeit unter Frescobaldis Leitung entstanden sein könnte. Die Ausgabe folgt der Quelle unter Halbierung der Großtakte mit eigenen, nur die einzelnen Notenlinien teilenden Taktstrichen analog der Schott’schen Gesamtausgabe und übernimmt im Übrigen viele Merkmale der Quelle in den gedruckten Notentext.
IV.
Weitere Ausgaben
Die erste wissenschaftliche Edition der Musik Frobergers durch Guido Adler führte zu einer Reihe von praktischen Ausgaben. Ihr Hauptinteresse richtete sich auf die Verbreitung der Froberger’schen Musik; auf der Grundlage des wissenschaftlich fundierten Texts boten sie Hilfen für Spieler, die mit der Musik von Froberger noch keine Erfahrung hatten. In der Reihe „Meister des Cembalos“ etwa suchte Helmut Schultz im Jahre 1935 für den Leipziger Verlag C. F. Peters mit einer Auswahl Froberger’scher Kompositionen dessen Hauptgattungen vorzustellen. Zugleich setzte er sich zum Ziel, einige Fehler der Adler’schen Gesamtausgabe zu korrigieren und neue Lesarten beizusteuern.47 Die Zugeständnisse an den zeitgenössischen Spieler bestehen einerseits darin, dass die Notenwerte einiger Abschnitte zur besseren Lesbarkeit für den modernen (und in der Musik des 17. Jahrhunderts nicht so bewanderten) Spieler halbiert werden, andererseits zeichnet sich die Ausgabe durch spieltechnische Einrichtungen (etwa exemplarische Fingersätze, Arpeggio-Zeichen bei Dezimengriffen) und die Ergänzung von TempoAngaben sowie Registrier-Empfehlungen für die zeitgenössisch üblichen Cembali aus. Wie andere Herausgeber seiner Zeit ersetzt Schultz den originalen Gattungsbegriff „Partita“ durch „Suite“, seine Besetzungsangabe ist „für Cembalo (Klavier)“. Neben den spielpraktischen Beigaben verfolgt der Her____________ 46 47
Vgl. Alexander Silbiger im Vorwort zum Faksimile (wie Anm. 45), S. XII. Ausgewählte Klavierwerke für Cembalo (Klavier). Nach den ältesten Vorlagen, hrsg. von Helmut Schultz (= Meister des Cembalos, Bd. 1), Leipzig 1935.
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ausgeber durchaus auch auf textkritischer Ebene ambitionierte Ziele. Dies wird exemplarisch deutlich an der Partita in e FbWV 623, in der sich Schultz – anders als Adler – für die geradtaktige Version der Gigue entscheidet, wie sie im Manuscrit Bauyn wiedergegeben ist. Überhaupt scheint die Renaissance von Cembalo und Clavichord zur häuslichen Musikpflege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer stärkeren Verbreitung der Musik von Froberger geführt zu haben, auch wenn sich die Veröffentlichungen seiner Tastenstücke zumeist auf einige wenige Kompositionen konzentrierten. So gab Leopold J. Beer bei Heinrichshofen drei Suiten heraus, um das Andenken des „eigentlichen Schöpfers der Klaviersuite“ (Vorwort) lebendig zu erhalten.48 Neben der Partita „Auff die Mayerin“ veröffentlichte Beer – wie schon Schultz – die Partita in e FbWV 623. Auch er bezeichnet die drei abgedruckten Partiten als Suiten, seine Besetzungsangabe lautet „für Klavier oder Orgel“. Damit ist offensichtlich eher die praktische Verwendbarkeit als eine philologisch genaue Entsprechung der Quellen gemeint. Beers Ausgabe folgt der wissenschaftlichen Gesamtausgabe von Guido Adler, die er allerdings durch Stichnoten ergänzt. Dazu erklärt er im Vorwort seiner Ausgabe: Wie fast alle ältere Klaviermusik gibt das Original sehr häufig nur Melodie und Baß, die übrigen Stimmen nur in Bruchstücken oder auch gar nicht an. Es war Aufgabe des Ausführenden, die Zwischenstimmen selbst hinzuzufügen. Soweit es nötig erschien, hat der Herausgeber diese Stimmen in kleinen Noten beigefügt, die aber natürlich nicht als verbindlich zu betrachten sind; Änderungen und weitere Ergänzungen bleiben dem Ermessen des Ausführenden überlassen.
Auch wenn aus heutiger Sicht dieses Verfahren problematisch erscheint – positiv einzuschätzen ist der Ansatz Beers, das Bewusstsein des Spielers dafür zu schärfen, zwischen gedrucktem Notentext und spielerischer Konvention zu unterscheiden. Dazu sollten die von ihm eingefügten Stichnoten als Vorschläge auf die Sprünge helfen (vgl. Notenbeispiel). Dass Beer im vorliegenden Fall jedoch mit der Ergänzung von Noten in der Kadenz der Prima partita die besondere Eigenart des Style brisée nicht richtig deutet, mag aus heutiger Sicht gegen sein Grundanliegen zurücktreten. Auch die wenig später von Johann Philipp Hinnenthal im eigenen Verlag veranstaltete Ausgabe von vier Froberger-Kompositionen unterschiedlicher Gattungen diente dem Zweck, die Musik eines der „bedeutendsten Komponis____________ 48
Drei Suiten für Klavier oder Orgel, hrsg. von Leopold J. Beer, Magdeburg und Leipzig 1944.
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Notenbeispiel: Prima partita aus FbWV 606 „Auff die Mayerin“, T. 11f. [6].
ten vor Bach“ einem größeren Kreis bekannt zu machen.49 Hinnenthal bietet vier Kompositionen: die Toccata in d FbWV 102 (Libro Secondo, 1649), das Capriccio in C FbWV 506 und das Ricercar in G FbWV 402 (beide aus dem Libro di capricci e ricercati […], 1658) sowie die Suite in h FbWV 626 (überliefert in der Handschrift C. Grimm, 1699). Seine Ausgabe folgt Adlers Edition, in dessen Notentext freilich häufig Bögen eingefügt werden, gelegentlich auch zusätzliche Akzidentien und an Schlüssen einige Akkordtöne. Im Vorwort gibt der Herausgeber den Hinweis, abgesehen von Toccata und Suite seien die beiden polyphonen Stücke auch im Ensemble (für „Gamben, Blockflöten, Streichquartett“) spielbar, was sicherlich als Zugeständnis auf das seit den 1920er Jahren wachsende Interesse an Ensemble-Hausmusik verstanden werden muss. Dass diese Empfehlung beim Herausgeber selbst nicht im Vordergrund stand, unterstreicht der Vermerk „für Cembalo/Clavier“ auf dem Titelblatt. Weite Verbreitung und zahlreiche Neuauflagen erreichte die 1931 von Karl Matthaei besorgte Ausgabe „Ausgewählte Orgelwerke“ mit vier Fantasien und sechs Ricercaren.50 Auch ihr liegt Adlers Gesamtausgabe zugrunde, die Matthaei jedoch durch Vergleich mit mehreren Handschriften an einigen Stellen korrigiert hat. Matthaei hält die Stücke – wie schon der Titel angibt – für Orgelmusik, notiert jedoch auf zwei Fünf-Linien-Systemen, da es für den Einsatz des Pedals in den Handschriften keine konkreten Hinweise gebe. Freilich gibt er selbst gelegentlich Empfehlungen zum Pedalgebrauch (durch die Angaben „con Pedale“, „senza Pedale“, „con Ped. ad libitum“). Die dreizeitigen Taktarten setzt Matthaei einheitlich in den ¾-Takt, weil er ansonsten befürchtet, ____________ 49 50
Johann Jacob Froberger, Toccata, Capriccio, Ricercare, Suite für Cembalo/Klavier, hrsg. von Johann Philipp Hinnenthal, Bielefeld 1946, Vorwort. Johann Jacob Froberger, Ausgewählte Orgelwerke, hrsg. von Karl Matthaei, Kassel [u. a.] 1931.
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„dass alle derartigen ungeradtaktigen Zwischensätze meistens viel zu unbeschwingt, in geradezu unstilistisch schwerfälligem Zeitmaß gespielt werden“.51 Eingang fanden einzelne Kompositionen Frobergers auch in Anthologien. Unter ihnen ist etwa die Reihe Berühmte Werke alter Meister für Orgel von Georg Amft zu nennen.52 In einem ersten Band Aus der Zeit vor Bach findet sich neben Toccaten von Frescobaldi und Muffat, je einer Ciacona von Pachelbel und Buxtehude sowie einem Präludium („und Fuge“) des Letztgenannten eine Capriccio überschriebene Komposition, die sich bei näherer Betrachtung als Toccata in d FbWV 102 aus dem Libro secondo (1649) erweist. Hält sich der Herausgeber einerseits zwar eng an den Notentext der autographen Vorlage, so geht er doch wie selbstverständlich davon aus, dass die Komposition für die Orgel bestimmt und daher pedaliter auszuführen sei. Infolgedessen wird sie auf drei Notensystemen eingerichtet, deren unterste Stimme dem Pedal zugewiesen ist. Dabei mutet Amft dem Spieler im Pedal virtuose Figurationen und Läufe zu, wie sie selbst noch einige Generationen nach Froberger für die Orgel gänzlich untypisch waren: Der aus Sechzehntel- und Zweiunddreißigstelnoten bestehende abwärtsgerichtete Lauf vom Beginn des Diskant, der im vierten (nach Frobergers Takteinteilung zweiten) Takt im Bass wiederkehrt, lässt sich auf dem Pedal nur mit moderner Applikatur technisch bewältigen (typische Pedaladaptionen solcher Figurationen weisen im Barock sonst treppenförmige Gestalt auf, gestalten also die Skalenbewegung jeweils aus Terzsprüngen und entgegengesetzten Sekunden). Die Ausgabe ist mit Fingerund Fußsätzen, Phrasierungsbögen, dynamischen Zeichen und Tempo-Angaben versehen, einschließlich von Ritenuti an den Abschnittsenden. Weitere Ausgaben mit Kompositionen Frobergers, die in der organistischen Praxis weitere Verbreitung fanden, sind die „Freien Orgelstücke Alter Meister“, herausgegeben von Adolf Graf53 mit der Toccata in F FbWV 125 als einzigem Froberger-Werk, deren Zuschreibung an Froberger nach neueren Erkenntnissen eher zweifelhaft ist,54 sowie die von Hanns Hübsch herausgegebenen „Zwanzig leichten Handstücke für Orgel oder Klavier“,55 die zwei Fantasien und ein Ricercar enthalten. Die vorgenannten Ausgaben stehen auf der Grundlage von Adlers Gesamtausgabe, auch wenn hier und da weitere Quellen zu Rate gezogen und Entscheidungen Adlers revidiert wurden. Durch ihre spielpraktische Attitüde ____________ 51 52 53 54 55
Ebd., Vorwort. Berühmte Werke alter Meister für Orgel. A. Aus der Zeit vor Bach, hrsg. von Georg Amft, Leipzig 1906. Freie Orgelstücke Alter Meister, hrsg. von Adolf Graf, Bd. 2, Kassel [u. a.] 1970. Siegbert Rampe (wie Anm. 8), Sp. 184. Zwanzig leichte Handstücke für Orgel oder Klavier, hrsg. von Hanns Hübsch, Heidelberg o. J.
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haben sie es vermocht, das Interesse an Froberger sowie eine gewisse Bekanntheit seiner Tastenwerke wachzuhalten und weiterzuentwickeln. Große Spielerkreise haben sie gleichwohl damit nicht erschlossen, und es sollte noch beinahe ein halbes Jahrhundert dauern, bis die Ausgaben von Schott und Rampe Frobergers Tastenmusik zu größerem Durchbruch verholfen haben. Doch auch jetzt bleibt – angesichts der philologischen und spielpraktischen Besonderheiten seiner Musik – seine Tastenmusik ein Betätigungsfeld für Spezialisten, die es verstehen, sie mit rechter „discretion“ zu spielen.
Ausgaben Werke für Orgel und Klavier, 3 Bde., hrsg. von Guido Adler (= Denkmäler der Tonkunst in Österreich. Bd. 8, Jahrgang IV/1, Bd. 13, Jahrgang VI/2 und Bd. 21, Jahrgang X/2), Wien, Leipzig 1897–1903 Berühmte Werke alter Meister für Orgel. A. Aus der Zeit vor Bach, hrsg. von Georg Amft, Leipzig 1906 Ausgewählte Orgelwerke, hrsg. von Karl Matthaei, Kassel [u. a.] 1931 Ausgewählte Klavierwerke für Cembalo (Klavier). Nach den ältesten Vorlagen, hrsg. von Helmut Schultz (= Meister des Cembalos, Bd. 1), Leipzig 1935 Drei Suiten für Klavier oder Orgel, hrsg. von Leopold J. Beer, Magdeburg und Leipzig 1944 Toccata, Capriccio, Ricercare, Suite für Cembalo/Klavier, hrsg. von Johann Philipp Hinnenthal, Bielefeld 1946 Freie Orgelstücke Alter Meister, hrsg. von Adolf Graf, Bd. 2, Kassel [u. a.] 1970 Vatican City, Biblioteca Apostolica Vaticana, MS Chigi Q.IV.25 (attributed to Frescobaldi), hrsg. von Alexander Silbiger (= 17th Century Keyboard Music. Sources Central to the Keyboard Art of the Baroque, hrsg. von Alexander Silbiger, Bd. 1), New York, London 1988 Vienna, Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung, Mus. Hs. 18706, 17707 und 16560, hrsg. von Robert Hill (= 17th Century Keyboard Music. Sources Central to the Keyboard Art of the Baroque, hrsg. von Alexander Silbiger, Bd. 3/1–3), New York, London 1988 Diverse […] Partite, 2 parts (Mainz, Bourgeat, 1693, 1696); 10 Suittes de Clavessin […] (Amsterdam, Mortier, n. d.), hrsg. von Robert Hill (= 17th Century Keyboard Music. Sources Central to the Keyboard Art of the Baroque, hrsg. von Alexander Silbiger, Bd. 4), New York, London 1988 Œuvres complètes pour clavecin, 4 Bde., hrsg. von Howard Schott (= Le Pupitre, Bd. 57 und 58), Paris 1990ff. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hrsg. von Siegbert Rampe, Kassel [u. a.] 1993ff. Thomas Synofzik, J. J. Froberger (1616–1667), Sarabande in c, in: Concerto. Das Magazin für Alte Musik, Heft 109 (1995/96), S. 23–26 Vingt et une suites pour le clavecin de Johann Jacob Froberger et d’autres auteurs. Dresden, Sächsische Landesbibliothek, Ms. 1-T-595, Strasbourg 1675 (= Convivium musicum, Bd. 5), hrsg. von Rudolf Rasch, Stuttgart 2000 Toccaten, Suiten, Lamenti. Die Handschrift SA 4450 der Sing-Akademie zu Berlin, Faksimile und Übertragung, hrsg. von Peter Wollny und der Singakademie zu Berlin (= Documenta Musicologica II: Handschriften-Faksimiles, Bd. 31), Kassel 2006
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Matthias Schneider
Literaturverzeichnis Apel, Willi: Geschichte der Orgel- und Klaviermusik, Kassel [u. a.] 1967 Asperen, Bob van: „Drei Toccaten“ in der Handschrift „Chigi Q.IV.25“. Überlegungen zu einer möglichen Zuschreibung an Johann Jacob Froberger, in: Concerto. Das Magazin für Alte Musik, Heft 224 (2009), S. 34–41 Kircher, Athanasius: Musurgia universalis sive ars magna consoni et dissoni, Rom 1650 Leonhardt, Gustav: Johann Jacob Froberger and his Music in: L’Organo 6/1 (1968) Lesure, François: Estienne Roger et Pierre Mortier. Un épisode de la guerre des contrefaçons à Amsterdam, in: Revue de Musicologie XXXVIII (1956), S. 35–48 Mattheson, Johann: Grundlage einer Ehren-Pforte, Hamburg 1740, Nachdruck hrsg. von Max Schneider, Berlin 1910 Mattheson, Johann: Der Vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739 Rampe, Siegbert: Das „Hintze-Manuskript“. Ein Dokument zu Biographie und Werk von Matthias Weckmann und Johann Jacob Froberger, in: Schütz-Jahrbuch 19, Kassel [u. a.] 1997, S. 71–111 Rampe, Siegbert: Froberger-Werkverzeichnis, in: Artikel „Froberger“ in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 7, Kassel [u. a.] 2002, Sp. 177–185 Reimann, Margarethe: Artikel „Froberger“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Friedrich Blume, Bd. 4, Kassel [u. a.] 1955, Sp. 982–993 Riedel, Friedrich Wilhelm: Quellenkundliche Beiträge zur Geschichte der Musik für Tasteninstrumente in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (vornehmlich in Deutschland) (= Musikwissenschaftliche Schriften, Bd. 22), 2. Auflage, München, Salzburg 1990 Schebek, Edmund: Zwei Briefe über J. J. Froberger, kaiserlicher Kammer-Organist in Wien, Prag 1874 Schneider, Matthias: Spuren des Tombeau in der norddeutschen Tastenmusik des 17. Jahrhunderts, in: Tod und Musik im 17. und 18. Jahrhundert (= Michaelsteiner Konferenzberichte, Bd. 59), Michaelstein 2001, S. 217–232 Schneider, Matthias: „Ad ostentandum ingenium, & abditam harmoniae rationem“. Zum Stylus phantasticus in der Tastenmusik des 17. Jahrhunderts, in: Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis 22 (1998), Winterthur 1999, S. 103–126 Schott, Howard M.: A Critical Edition of the Works of J. J. Froberger with Commentary, Diss. mschr., Oxford 1977
Herbert Schneider
Geschichte der Bemühungen um eine Lully-Gesamtausgabe
Die Versuche, eine Lully-Gesamtausgabe zu publizieren bzw. zu Ende zu führen, standen bisher unter keinem guten Stern. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber einer der wichtigsten scheint nicht die komplizierte Überlieferungslage seiner frühen Bühnenwerke zu sein. Bevor Jean-Baptiste Lully 1672 das Privileg für den Druck seiner Opern gewährt wurde, erschienen nur vereinzelt Ariendrucke für ein Liebhaberpublikum und eine Edition von wenigen Instrumentalsätzen. Lediglich die Livrets der Ballets de cour und der Comédiesballets sind lückenlos erhalten. Immerhin hat es fünf Jahre gedauert, bis Lully das Privileg in Anspruch nahm und begann, die Musik seiner Opern zu edieren. Mit dem Erscheinen des Stimmendrucks von Isis (1677) und der Partiturdrucke seiner Bühnenwerke (seit Bellérophon, 1678) wurde die Tradition der gedruckten Editionen des Repertoires der Académie royale de musique und später auch der Opéras-comiques (zunächst auch mit den gesprochenen Dialogen) begründet. Neben diesen von Ballard besorgten Drucken vertrieb Henri Foucault Partiturabschriften der Bühnenwerke Lullys (Ballets de cour, Comédies-ballets, Tragédies en musique, auch den Recueil des plus beaux endroits des opéras de Lully). Bald nach Lullys Tod umging Henri de Baussen das Privileg Ballards für den Druck von Musik mit mobilen Lettern und publizierte Stiche reduzierter Partituren der Opern, und das Verlagshaus Ballard komplettierte die Ausgaben von Bühnenwerken Lullys durch die Herausgabe der zu Lebzeiten des Komponisten nicht gedruckten Opern Thésée, Atys, Alceste, Cadmus et Hermione und Les Fêtes de l’Amour et de Bacchus sowie neue Ausgaben von Partitions générales oder Partitions réduites bereits gedruckter Bühnenwerke, wie etwa Proserpine im Jahre 1715. Darüber hinaus erschienen zahlreiche Partituren in holländischen Verlagen. Die Pariser Ausgaben der Werke Lullys blieben erstaunlich lange im Handel. So wurden in einem Katalog Jean-Jérôme Imbaults (Catalogue de la Musique à Vendre chez M r Imbault après Cessation de Commerce, vermutlich aus
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dem Jahre 1814),1 der aus der Zeit erhalten ist, als er seinen Verlag verkauft hatte, noch in Leder gebundene Ausgaben der Pastorale (Les Fêtes de l’Amour et de Bacchus), der beiden späten Ballets (Le Triomphe de l’Amour, Le Temple de la paix) und der Tragédies en musique (Cadmus et Hermione, Alceste, Thésée, Atys, Isis, Psyché, Bellérophon, Phaéton, Persée, Proserpine, Amadis, Roland, Armide, Acis et Galathée sowie die von Colasse vollendete Oper Achille et Polyxène) zum Preis von 75 Francs angeboten. Im 19. Jahrhundert erschienen vor der von Théodore de Lajarte herausgegebenen Serie von Klavierauszügen von Bühnenwerken nur zwei Werke im Druck, bezeichnenderweise solche, die Molière mit Lully geschaffen hatte: Jean-Baptiste Weckerlins Partitur einer eigenen Orchestrierung2 und ein Klavierauszug3 der bis dahin nur handschriftlich überlieferten Musik des Bourgeois gentilhomme und Ludovic Cellers Klavierauszug mit Dialogtexten von Le Mariage forcé.4 Lajarte, der Bibliothekar der Bibliothèque de l’Opéra, gab eine Serie von Klavierauszügen französischer Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts im Verlag Michaelis heraus, darunter elf Opern Lullys:5 Armide, reconstitutée et réduite par Théodore de Lajarte, Paris: Th. Michaelis, 1878; Atys, Bellérophon, Thésée, Cadmus et Hermione, Psyché, alle 1880; Alceste, 1881; Isis, 1882; Proserpine, 1882; Persée, 1883, dieser mit einer Introduction von Arthur Pougin, und Phaéton, 1884.6 Henry Prunières, Schüler Romain Rollands und Herausgeber der Revue Musicale, beschäftigte sich seit 1914 mit dem Plan, eine Lully-Gesamtausgabe ____________ 1
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5
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Einen ausführlichen Artikel widmet Henri Vanhulst diesem Katalog (B-Br, Fétis 5193 C MUS); vgl. Henri Vanhulst, Un catalogue manuscrit de Jean-Jérôme Imbault postérieur à 1812, in: Noter, annoter, éditer la musique. Mélanges offerts à Catherine Massip, réunis par Cécile Reynaud & Herbert Schneider, Genf 2012, S. 429–446. Le Bourgeois gentilhomme. Partition d’orchestre reconstitutée par J. B. Weckerlin, Paris: Richault [1891]. Le Bourgeois gentilhomme, Klavierauszug von J. B. Weckerlin, Paris: Durand-Schœnewerk, o. D. Molière–Lully, Le Mariage forcé. Comédie-ballet en 3 actes ou le Ballet du Roi dansé par le Roi Louis XIV le 29e jour de janvier 1664. Nouvelle édition publiée d’après le manuscrit de Philidor l’aîné par Ludovic Celler, avec des fragments inédits de Molière et la musique de Lully, réduite pour piano, Paris: L. Hachette et Cie. 1867 (F-Po A. i. D. 1225). Einzelne Gesänge Lullys erschienen im Verlag F. Delsarte in der Reihe Archives du chant (ca. 1850). In einem Brief vom 15. August 1930 an Paul A. Vidal, der die Klavierauszüge von Lullys Atys und Amadis für den Verleger Durand vorbereitet hatte, meint Prunières zu den von Lajarte publizierten Klavierauszügen, die teilweise nicht den vollständigen Notentext der Werke enthalten: „J’ai été bien surpris d’apprendre par votre lettre que vous avez préparé une édition piano et chant d’Atis et Amadis, il en existait déjà une d’ailleurs fort mauvaise dans l’édition Michaelis.“ Von Armide erschienen noch Klavierauszüge zu verschiedenen Aufführungen: Armide. Réduction par Frank Martin, préface de Henry Prunières, Genf: Édition Henn [1924]; Armide, Klavierauszug, revidiert von Henri Busser, Paris und Brüssel: Henri Lemoine 1957 (zur Aufführung beim Festival de Bordeaux im Mai 1957). Le Triomphe de l’Amour, „harmonisation et réalisation par André Caplet“, ist im Autograph erhalten (F-Po Mf A 13c).
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ins Leben zu rufen; konkretisiert wurde er aber erst mit den seit den späten 1920er Jahren beginnenden Vorbereitungen. Obwohl mit den Œuvres complètes von Jean-Philippe Rameau,7 die von Camille Saint-Saëns unter Mitarbeit zahlreicher bedeutender Komponisten herausgegeben und innerhalb von 29 Jahren erschienen war, ein Modell bestand, schlug Prunières einen ganz anderen Weg ein und erwähnte bezeichnender Weise in keinem der seine Lully-Ausgabe betreffenden Dokumente die Rameau-Ausgabe. Die von Prunières aufbewahrten Archivalien der Revue Musicale und seiner Lully-Gesamtausgabe wurden von seinem Sohn als Kopien dem Institut de recherche sur la patrimoine musicale en France (IRPMF) für ein Seminar über diesen bedeutenden Wissenschaftler und Publizisten zur Verfügung gestellt. Sie erlauben die weitgehende Rekonstruktion der Geschichte dieser Edition. Dank der großzügigen Bereitstellung dieser wichtigen Quellen kann der folgende Überblick über Konzeption, Entstehung und Scheitern dieser ersten Lully-Ausgabe gegeben werden.8 Die editorische Arbeit begann 1929 und endete mit dem Tod Prunières 1942. Angesichts des geplanten Erscheinungsrhythmus und der Tatsache, dass Prunières keine öffentlichen Mittel für sein Unternehmen erhielt, die Ausgabe in einer Zeit größter ökonomischer Schwierigkeiten und des Krieges entstand und zuletzt auch noch gesundheitliche Probleme die Aktivitäten des Herausgebers einschränkten, erstaunt das Scheitern des Unternehmens kaum. Prunières konzipierte seine Ausgabe in Form einer Subskription mit einem jährlichen Erscheinungsmodus einer bestimmten Anzahl von Bänden bzw. Seiten zum Preis von 500 Francs pro Jahr: „Prix de souscription à l’édition ordinaire: 500 fr. par an, donnant droit aux 2 ou 3 volumes parus dans l’année,“ heißt es im Aufruf zur Subskription. Außerdem räumte Prunières zu Beginn nach typisch französischem Subskriptionsmodus die Möglichkeit ein, die gesamte Reihe im Voraus zu bezahlen. Der zuerst erschienene Band war programmatisch gewählt, handelt es sich doch um Lullys erste Tragédie en musique, Cadmus et Hermione. Er wird in der Anzeige der Revue Musicale beschrieben als „Une partition gd in-folio de 224 pages, avec notices historique et bibliographique, fac-similé, portrait et ____________ 7
8
Die erste Rameau-Gesamtausgabe leitete Camille Saint-Saëns (Paris: Durand 1895–1924, 18 Bde.). Die Bände wurden unter Mitwirkung zahlreicher bedeutender Komponisten ediert. Zuvor hatte Lajarte folgende Klavierauszüge von Opern Rameaus bei Michaelis in Paris ediert: Castor et Pollux, 1881, Dardanus, 1881, Les Fêtes d’Hebé, 1881, Hippolyte et Aricie, 1881, Les Indes galantes, 1882, Platée, 1883, Zoroastre, 1883. Abgesehen von den Auszügen aus Rezensionen stammen alle hier zitierten Texte aus diesen Archivalien.
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planche hors texte, etc. Partition transcrite en clefs usuelles avec réduction pour clavier des parties d’orchestre et réalisation de la basse.“
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Von den in der Annonce genannten Mitarbeitern haben nur Tessier und Raugel zu einigen Bänden beigetragen. In einer weiteren Anzeige der Revue Musicale wird ausführlicher beschrieben, was der Subskribent erhält und wie viel er investieren muss: L’année de souscription comprend environ 500 pages en deux ou trois tomes grand in-folio. Le prix de souscription est de 500 francs par année, pour l’édition à 300 exemplaires numérotés sur Alfa, et de 1.000 francs par an pour l’édition de luxe sur papier pur fil Lafuma, tirée à 25 exemplaires numérotés. Aucun volume n’est vendu séparément.
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Im ersten Jahr 1930 erschien nur der von Prunières allein edierte Cadmus et Hermione. Der Gesamtbestand der Prunières-Ausgabe umfasst 10 Bände. Einen während des Krieges nicht mehr fertiggestellten elften Band in reduzierter Form gab François Lesure 1972 im Verlag Broude Brothers Ltd. in New York heraus, bei dem auch der Reprint der Prunières-Ausgabe erschien. Série I, Ballets Bd. 1, Édition de la Renue Musicale, Notice historique de Prunières, Révision […], commentaire André Tessier, Basse continue d’A. Dieudonné, Ballet du temps, Ballet des plaisirs, L’Amour malade, 1931, 131 S. Bd. 2, Ballet d’Alcidiane, Ballet des gardes, Xerxès, 1933, 206 S. Série II, Comédies-ballets, Bd. 1, Le Mariage forcé, L’Amour médecin, 1931, 109 S., Notice historique de Prunières, réduction G. Sazerac de Forge Bd. 2, Les Plaisirs de l’Île enchantée, La Pastoral comique, Le Sicilien, Le Grand divertissement royal de Versailles, 1933, 247 S. Bd. 3, Monsieur de Pourceaugnac, Le Bourgeois gentilhomme, Les Amants magnifiques, 1938, 238 S. Série III, Motets, Bd. 1, Miserere, Notice historique et réduction de la basse continue pour orgue par Félix Raugel, 1931, 79 S. Bd. 2, Plaude laetare, Te Deum, Dies irae, Notice historique par Prunières, basse continue par Henry Letocart, G. Sazerac de Forge, 1935, 263 S. Bd. 3, De profundis, Avec coeli munus supernum, Omnes gentes, Domine salvum fac, texte établi sous la direction d’Henry Prunières révisé par Michel Sanvoisin, Notes sur les sources et Notice historique par François Lesure, New York, Broude, 1972 Série IV, Opéras, Bd. 1, Cadmus et Hermione, Révision du texte par Prunières, basse continue par Matthys Vermeulen (1888–1967), 1930, 200 S. Bd. 2, Alceste, Notice historique et révision du texte par Prunières, basse continue par Raymond Moulaert, 1932, 352 S. Bd. 3, Amadis, 1939, 259 S.
Der angestrebte Rhythmus von zwei bis drei Bänden pro Jahr konnte nur 1931 und 1933 eingehalten werden (1931 drei Bände, 1933 zwei Bände, je ein Band 1930, 1932, 1935, 1938 und 1939). Prunières hatte an mehreren Fronten zu kämpfen. Viele Probleme betrafen nicht unmittelbar die editorische Arbeit: – die vertraglich festgeschriebene Finanzierung durch die wohlhabende Australierin Louise Dyer,9 die Klavier und Musikwissenschaft studiert hatte und entsprechende Mitspracherechte in ökonomischen Belangen wie auch in der ____________ 9
Louise Dyer hinterlegte zu Beginn des Unternehmens 125.000 Francs auf einem Bankkonto. Vorgesehen waren weitere 60.000 Francs nach vier Jahren für den Fall, dass dies nötig wäre; vgl. Jim Davidson, Lyrebird Rising. Louise Hanson-Dyer of Oiseau-Lyre. 1884–1962, Melbourne 1994, S. 180.
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wissenschaftlichen Durchführung verlangte,10 verursachte erhebliche Schwierigkeiten, die zum großen Teil auf das Konto Prunières gingen und zu einem Prozess zwischen ihm und Louise Dyer führten, der wegen des Krieges sowie der Krankheit und des Todes von Prunières nicht zuende geführt wurde;11 die spezifisch französische Art der Subskription, d. h. die Vorausbezahlung der gesamten geplanten Reihe, ein Verfahren, gegen das Louise Dyer mit Erfolg opponierte und das Prunières infolgedessen zwang, die im Voraus bezahlten Summen zurückzuerstatten; der periodische Erscheinungsrhythmus, der bei einer nicht kritischen Gesamtausgabe bestenfalls unter den Bedingungen einzuhalten ist, wie sie Prunières zu Beginn seines Unternehmens konzipiert zu haben scheint; die Nummerierung der Bände (nicht innerhalb der Serien, sondern die Nummerierung jedes einzelnen Bandes der Serie – noch Amadis, 1939, trägt den Eintrag „Exemplaire No……“), die bei der Auslieferung Probleme bereitete; die verzögerte Bezahlung der Mitarbeiter, verursacht durch finanzielle Probleme des Unternehmens; die Mahnungen und die Prozesse mit säumigen Subskribenten; die Stornierung von Bestellungen, da Subskribenten in Zahlungsnot gerieten,12 oder die Umbestellung der Luxus-Ausführung auf die preiswertere Ausführung der Bände bei Subskribenten wie Paul Hirsch in Frankfurt, dessen finanzielle Möglichkeiten seit seiner Übersiedlung nach London beschränkt waren.13
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Die Schwierigkeiten mit Louise Dyer begannen, als Prunières ihr zwar den ersten Band der Lully-Ausgabe, Cadmus et Hermione dedizierte, aber nirgendwo sonst ihren Namen in dem Band erwähnte. Vgl. Davidson, Lyrebird Rising (wie Anm. 9), S. 184f. In einem Brief der Universal-Edition vom 1. August 1935 an La Revue Musicale werden solche Beispiele genannt: „Nous regrettons beaucoup de devoir vous informer que nous avons reçu de nouveau deux retours du dernier volume de l’édition complète de Lully avec la raison suivante: Musikwissenschaftliches Seminar der Universität, Freiburg i. Br. n’est plus en état de continuer la souscription à cause des difficultés financielles [sic]. Verlagsbuchhandlung Karl Siegismund, Berlin, a liquidé son departement de sortiment. Nous tâcherons de recevoir dans le dernier cas l’adresse du sous-souscripteur, s’il existe, mais nous espérons que, si nous ne reussirons pas, vous consenterez dans tous les deux cas d’annuler les souscriptions. […] P. S. Vue la situation mauvaise pour la vente des œuvres tres chères nous craignons de ne pouvoir pas accquerir [sic] des nouveaux souscripteurs. Comme nous avons la semaine prochaine une grande expédition à notre représentant de Paris nous vous pourrions retourner en même temps une partie des volumes ,Lully‘ (des livraisons antérieures, restées en commission) et prions de bien vouloir nous dire par retour du courrier si vous y consentez.“ Paul Hirsch schrieb am 23. Januar 1940 aus Cambridge: „Je profite de l’occasion pour vous demander s’il est possible, en vue des temps et conditions changées pour moi depuis que j’ai quitté l’Allemagne, de me livrer à l’avenir l’édition ordinaire au lieu d’un exemplaire de luxe?“
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Wie sehr Prunières die fehlende Resonanz zuständiger Institutionen in Frankreich einforderte, zeigen die zwischen ihm und dem Minister Eugène Lautier ausgetauschten Briefe. Dieser schrieb am 31. März 1930 an den „Directeur de la ‚Revue Médicale‘ [sic]“: Cher Monsieur, J’ai reçu un petit mot de notre ami André François-Poncet [der französische hohe Komissar nach dem Zweiten Weltkrieg und spätere französische Botschafter in Bonn], qui parle de vous. Je serais enchanté de causer avec vous. Je ne puis, cependant, vous fixer un jour dès à présent, car notre budget n’est pas voté au Sénat et je dois m’absenter pour aller inaugurer la statue de Mistral à Cannes, et celle d’Edmond Rostand à Marseille.
Darauf antwortete Prunières am 30. April 1930: Monsieur le Ministre, Ainsi que vous avez bien voulu m’y engager ce matin je m’empresse de vous résumer l’objet de ma visite. J’entreprends la publication d’une édition monumentale des œuvres de LULLY qui doit paraître dans l’espace de 13 années et formera environ 36 tomes in-folio. Le prix de souscription annuel, donnant droit à 3 tomes est de 500 Fr. vous trouverez d’ailleurs, dans le prospectus ci-joint, tous renseignements [sic] concernant cette publication. J’ai déjà reçu de nombreuses souscriptions de l’étranger, notamment du Ministère de l’Instruction Publique italien et de la Bibliothèque de l’Institut de Paris, mais je voudrais bien pouvoir imprimer en tête de mon édition la souscription du Ministère des Beaux-Arts. Il me paraît vraiment impossible que celui-ci se désintéresse d’une publication comme celle-là, consacrée au fondateur du théâtre lyrique en France. J’ajoute qu’il y a environ un an j’avais obtenu de mon ami François-Poncet la promesse qu’il ferait tout son possible pour trouver les crédits nécessaires à la souscription à 5 exemplaires de cette publication, destinés à la bibliothèque de l’Opéra et aux bibliothèques de 3 des principaux Conservatoires de France.
Die Größe des Unterfangens und seine damit verbundene Arbeitsbelastung unterstreicht Prunières in einem Brief an die Redaktion der Zeitschrift Le Temps vom 8. August 1930. Mit seiner Bemerkung, für Frankreich sei dies ein erstes Vorhaben dieser Art, kann Prunières nur die periodische Erscheinungsweise gemeint haben, gab es doch zuvor vergleichbare umfangreiche Editionsvorhaben wie die von Henry Expert14 und die von Saint-Saëns herausgegebenen Œuvres complètes Rameaus. Mit Stolz weist Prunières auch darauf hin, seine Ausgabe stehe den anerkannten bedeutenden deutschen und englischen Editionen nicht nach: ____________ 14
Z. B. dessen Maîtres musiciens de la Renaissance française, 23 Bände, Paris 1894–1908.
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Mon Cher Confrère, Je ne sais si vous êtes au courant de l’énorme travail que j’ai entrepris qui consiste à ressusciter intégralement l’œuvre du Fondateur de l’Opéra Français, Jean Baptiste LULLY. Cette première année je viens de publier CADMUS & HERMIONE, et à l’automne je donnerai le premier tome des Comédies-Ballets. J’ai fait un effort énorme et sans me vanter je crois pouvoir affirmer que c’est la première fois en France que l’on tente quelque chose de semblable. Mon effort a été compris tout de suite en Angleterre où j’ai trouvé l’appui d’un éditeur sans lequel il m’aurait été impossible d’entreprendre cette oeuvre, aux ÉtatsUnis, en Allemagne et en Italie, toutes mes souscriptions ou à peu de chose près, viennent de ces pays. En France jusqu’ici, on semble vouloir ignorer cette entreprise à laquelle je vais consacrer à peu près toute ma vie. Les volumes reviennent à un prix exhorbinant et nous ne faisons autant dire pas de services de presse. […] Je crois que sous le rapport de la présentation, comme sous celui de la transcription, cette édition n’a rien à craindre de la comparaison avec les plus belles éditions musicologiques allemandes ou anglaises.
Im Brief vom 15. August 1930 an Paul A. Vidal spricht Prunières die übernommene Bürde der Lully-Ausgabe im festen Glauben an, das Projekt sei in zwölf Jahren abzuschließen: Les volumes ne sont pas vendus séparément, mais réservés aux souscripteurs de toute la collection qui comprendra trente six volumes et durera douze ans! Plaignez15 moi!
Der Ausgabe von Cadmus et Hermione hatte Prunières als einzige Quelle eine Handschrift aus seinem Besitz zugrunde gelegt und den Bericht über Varianten auf wenige Beispiele beschränkt. Offenbar ging es ihm nicht um eine Kritische Ausgabe, sondern lediglich um die Wiedergabe einer ausgewählten Quelle. Die detaillierte und niederschmetternde Kritik von Henry C. Colles in The Times vom 11. Oktober 1930 an diesem ersten Band führte zu einer Umorientierung: “Œuvres Complètes de Lully” is something for which the musical world has been waiting for over 200 years. […] It is not for us to express surprise that the French should have waited 200 years to begin a complete edition of their master. It was the Germans who brought out the complete Handel, and the edition of our native composer, Henry Purcell, though begun 50 years ago, is still unfinished. More shame to us. Now, however, the way has been cleared for Lully, as it was not for Purcell, by ____________ 15
An Hertzka von der Universal-Edition schreibt Prunières erneut, erst nach Abschluss der Ausgabe und falls die Auflage von 300 Exemplaren nicht verkauft sei, werde man Einzelbände verkaufen: „Aprés l’achèvement de la publication seulement, c’est-à-dire dans une douzaine d’années, si le nombre de 300 souscriptions n’était pas atteint nous céderions ces volumes separément.“
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the generosity of an American [recte: Australian] lady, Mrs. James Dyer, who has shouldered the heavy financial burden which the undertaking involves. The first volume, the score of the earliest of Lully’s operas, Cadmus et Hermione, is before us. […] On receiving the first fruits of the venture it is natural to look first to the editorship. The value of such an edition lies in its dissemination of precise and accurate information about the work, both through the text itself and by judicious commentary. It is not to be expected that Cadmus et Hermione will be brought back to performance by its publication, safe possibly on some special occasion, such as a congress of musicians. This must be primarily a library edition to which students may turn for an authoritative solution of their doubts, an edition to serve the ends of musical scholarship. This editorship of the whole project by M. Henry Prunières, known for his valuable literary works on Lully and his period, is at first sight reassuring. Examination of his first volume is not a little disquieting. His preface and his notes do not show the precision of method which modern schorlarship requires. […] He reproduces two pages in facsimile of the printed score of 1719, one of the beginning of the overture and one of a song in the first act. Comparisons of them with M. Prunières’s score shows at once, what indeed he says, that he has not followed the first printed score or considered its text as having any authority. What, then, is his authority? He says that a great number of manuscripts exist. “They are in general more correct than the printed copies, from which they differ in many points, unfortunately the bass is never figured.” He adds in these conditions “We have preferred a manuscript score which seems contemporaneous with the first presentations and which we have compared with several other manuscript scores in the libraries of the Opéra and the Conservatoire. We indicate in a note the most important variants from the printed edition.” That is all he has to say about sources. Even the preferred manuscript remains unidentified, and there is no list of the manuscripts in the two libraries with which the preferred one has been compared. The name of Philidor l’aîné, who made the great collection of contemporary manuscripts, part of which is among the chief glories of the Conservatoire library, is not even mentioned. How do the Philidor scores compare with M. Prunières’s preferred score, if indeed it is no tone of them. We turn to the list of variants at the end of the volume in hope of getting a little light. It consists of 38 short vocal phrases given without any reference to the particular manuscript or printed score in which they occur. Three out of 38 happen to stem from that page of the song, “Quoy, Cadmus”, of which a facsimile is given. We need look no farther than that to be convinced of the incompleteness of the list. M. Prunières’s score differs in six important details from the score of 1719. Two of these differences are noted as variants in the list, where a third variant from some other unnamed score is also included. The unnoted differences appear quite as important – that is as material to the musical sense of the passage as the noted ones. On what principle is the selection made, and if there is that amount of arbitrariness discernible in one page, what may there be not lurking behind the other 193 pages of Prunières’s score? We are not here disputing M. Prunieres’s judgement in the choice of the text. Only a scholar who had collated the available scores could do that. Our point is that he has not given his readers enough information to enable them to have enough confidence in his judgment. This vagueness of his statements and the meagreness of his
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information make us wonder whether he has undertaken that thorough collation of sources which is the business of an editor of a monumental work such as this to do for the benefit of those who will use it without themselves being able to refer to original sources. M. Prunières is doubtless aware that a large number of the Philidor scores and parts of Lully’s works are in England in the library of St. Michael’s College, Tenbury. Has he caused any search to be made of that collection? He does not mention it, but then he does not mention any source by name or reference number, except the printed score of 1719, which he rejects. It has been said that the object of such an edition as this is the solution of doubts. This volume raises doubts to such an extent that everything one can say of it must end with a question mark. In view of the importance of the collected Lully to the whole musical world we would beg M. Prunières to consider his methods before proceeding farther, and to bring them more into line with those acknowledged ciples 16 which declare an editor’s sense of public responsibility.
Die nicht signierte Besprechung stammt zwar von Colles, aber inszeniert hatte sie Louise Dyer, die den erfahrenen Herausgeber Edmund Fellowes, der auch die Musikbestände des St. Michael’s College in Tenbury mit seinen LullyQuellen katalogisiert hatte, beauftragte, die Qualität des Bandes zu beurteilen. Der Rat von Fellowes ging dahin, die Edition weiterer Bände zu verhindern, wenn nicht die wissenschaftliche Fundierung der Ausgabe gesichert sei.17 Durch die Rezension in der Times war die Ausgabe öffentlich diskreditiert. Prunières wandte sich nach einer Reise nach New York in einem Brief an den Herausgeber der Times und bat ihn, die ins Englische übersetzte Gegendarstellung in der Times zu publizieren, wo sie tatsächlich am 29. November 1930 abgedruckt wurde. Monsieur le Directeur, J’ai été très ému en prenant connaissance ces jours derniers de l’article publié contre mon édition des Œuvres complètes de LULLY, par le Dr. Co Colles [sic]. Je n’ai nullement la prétention de réaliser une œuvre d’une telle envergure sans quelques erreurs de détail, mais M. Colles met en doute ma compétence et ma méthode et jette la suspicion sur toute l’édition, ce qui me cause un tort considérable, car c’est en Angleterre que j’ai trouvé les appuis les plus efficaces pour la réalisation de ce vaste projet. Je n’ai pas oublié la collaboration que j’ai apportée au Times il y a quelques années pour un Special french number et cela m’encourage à vous demander de bien vouloir publier dans le Times la lettre ci-jointe où je réponds à M. Colles et fournis quelques explications nécessaires.
____________ 16
Henry C. Colles, The Works of Lully. A Question of Editorship, in: The Times, 11. Oktober
17
1930, o. S.
Vgl. Jim Davidson, Lyrebird Rising (wie Anm. 9), S. 181–183.
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Sir: I have just come back from a voyage to America, and I have only just become acquainted with the article in The Times of the 11th of October, devoted to my edition of the works of Lully. Having always met in England with the most sympathetic reception of my works, I think it is my duty to supply a few indications in answer to the criticisms of Mr. Colles. From the point of view of the edition, the works of Lully may be divided into three categories: A. The works of which there is only extant a very limited number of manuscripts: ballets, comédies-ballets, motets B. The operas printed during the life of Lully or immediately after his death C. The operas remaining in manuscript from or which were only published in the eighteenth century. For category A, we establish the text with the most minute care, noting all the differences, as one may soon be convinced upon reading Tome I. of the Ballets and Comedy-Ballets. For category B, we follow the printed text, enriching it with a few indications of orchestra and of shades, when we can discover any in the orchestral material existing at the Opéra, at Torino and at Tenbury. For category C, the situation varies with each opera. For Cadmus, it was inextricable. The simplest plan would have been to follow the edition of 1719, but it is full of material faults, the rhythms are mutilated, the figures are false. The copy of Philidor, which is to be found not at the Conservatoire but at Versailles, is dated 1703, it is figured but contains many faults. Philidor was a superb writer, but it is impossible to consider him as a sure guide. He very often arranges the texts which he reproduces. After a minute examination of the question, I thought it preferable to choose a partition of the commercial type, one of those which Lully had sold at the doors of the theatre and which seems contemporary to the first performances. I have made use of a partition from my own library, but which is identical with the quantity of others which may be met with nearly everywhere and of which the front page is adorned with a little frontispiece [sic] representing angel musicians. I have compared it with the manuscript Vm 2/6 of the Bibliothèque Nationale and with two manuscripts of the Opéra and of the Conservatoire, without finding other variations than the differences in the distribution of the ornamental signs (the little cross) and in the alterations. On the other hand, these omissions were so numerous that I considered it as useless to signal them all and I preferred to correct the fundamental text by means of these copies. The printed partition, as I stated in my preface, offers a different version of the text reproduced by the manuscripts which I consulted, with the exception of those which in the eighteenth century were executed according to it. Not only have I indicated the principal vocal differences, but I have loyally published the facsimiles, that a reader may judge of the enormous difference existing between the two texts. Mr. Colles reproaches me with not having published all the differences, but it would have then needed a second volume hardly smaller that the first! It is already quite a feat to publish the works of Lully in thirty-six volumes but
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if all the variations are to be given, fifty tomes would be necessary. It would be a waste, and the artistic interest of such a work would be nil. The few specialists will always have the resource of going and consulting the partition of 1719, which is to be found in most of the large European libraries, if they wish to study the variations that the music of Lully has undergone in forty-six years. A partition of Lully is not a partition of Bach, where nothing is left to chance. More often Lully noted the top and the bass. His “secretaries” filled in the intermediate parts. In the absence of a text which is an authority, as is the case of Cadmus, to wish to reconstitute the partition of Lully with the same rigour that one would employ in editing a madrigal of Byrd or of Monteverdi, is materially impossible. One must rely on the best text, signalling a few interesting differences. Or Colles complains that my choice is arbitrary. In principle, he is right, but in practice he is wrong. The essential was to resuscitate Cadmus, and I have succeeded in drawing from the dust of libraries the admirable partition. In the volumes which will follow, my collaborators and I will know how to make the most of this very difficult initial experience. I propose going to Tenbury this winter to find if possible indications of instrumentation. I hope for nothing more, for it concerns an arrangement of Philidor and I am mistrustful of second-hand texts such as these, which are very posterior to the death of Lully. Our subscribers will shortly receive, with a little erratum, the facsimile of the Overture of Cadmus, the manuscript which we have employed. […] The works on opera which I have published for the last twenty years appear to me to merit that a little confidence should be given to their author.
Prunières erläutert hier einige Regeln seiner Ausgabe, für die es keine Editionsrichtlinien gab. Er unterscheidet drei verschiedene Quellenlagen: – eine beschränkte Zahl von Handschriften für die Ballets de cour, die Comédies-ballets und die Motets. Bezogen auf die Ballets de cour und die Comédies-ballets existieren grosso modo die in der Regel sehr gut orientierten kommerziellen, allerdings in vielen Fällen nicht die gesamte Musik überliefernden Kopien des Ateliers Henri Foucault, die 1678 angefertigte Stimmenabschrift von Instrumentalsätzen (Edinburgh), die Kopien Philidors und individuelle Kopien. Von einer „very limited number of manuscripts“ bezüglich dieser Gattungen zu sprechen, ist nicht richtig, sie trifft nur auf einige Motets zu. Bezüglich der letzteren erwähnt Prunières nicht den bedeutenden Druck von 1684; – die zu Lebzeiten Lullys unter seiner Aufsicht und kurz nach seinem Tod (Atys und Thésée) gedruckten Tragédies en musique; – die nach 1700 gedruckten Opern (Alceste, Psyché, Cadmus et Hermione), die wegen zahlreicher Fehler, rhythmischer Veränderungen und fehlerhafter Basse-continue-Bezifferung unzuverlässig seien.
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Die Orientierung an kommerziellen Kopien, wie sie Lully Prunières zufolge am Eingang der Académie royale de musique verkauft haben soll – im Fall von Cadmus et Hermione (1719 gedruckt) eine aus seinem eigenen Besitz mit zwei musizierenden Engeln auf dem Titelblatt und andere Kopien der Bibliothèque nationale de France, der Bibliotheken des Conservatoire (heute auch in der BnF) und der Opéra –, ist gerechtfertigt, allerdings enthalten auch sie Varianten, die dokumentiert und bewertet werden müssen. Der Zuverlässigkeit der Kopien Philidors stand er bereits sehr kritisch gegenüber. Die von Cadmus et Hermione sei fehlerhaft, besonders in der Bezifferung. Er habe arrangierte Versionen der kopierten Werke vorgelegt, denen Prunières misstraut. Man müsse dem „best text“ vertrauen und nur wenige interessante Varianten mitteilen. Die editorischen Entscheidungen Prunières’ waren, dies räumt er ein, ökonomisch motiviert, denn bei detailliertem Kritischem Bericht über alle Varianten benötige man anstelle der 35 geplanten Bände deren 50.18 Außerdem sei dies eine Verschwendung von Energien und von keinerlei künstlerischem Interesse. Die Werke Lullys seien nicht jenen Bachs oder Monteverdis vergleichbar, da Sekretäre die Mittelstimmen der Orchestersätze geschrieben hätten. Prunières’ Priorität bestand darin, Cadmus et Hermione „wiederauferstehen“ zu lassen und in einer spielbaren Version vorzulegen. Anfänglich bestand also kein wissenschaftlicher Anspruch an seine Werkedition. Nur unter der Prämisse, eine einzige, gut ausgesuchte Quelle als Basis für die Edition auszuwählen, konnte er sich vornehmen, zwei bis drei Bände pro Jahr zu edieren. Der für Deutschland zuständige Auslieferer war die Universal-Edition in Wien, bei der außerhalb Frankreichs die größte Anzahl von Subskriptionen einging. In einem Brief an Prunières vom 16. Juni 1930 schlägt der Direktor der Universal-Edition, Emil Hertzka, Namen von potentiellen Rezensenten mehrerer deutscher Fachzeitschriften vor und setzt sich dafür ein, Karl Geiringer mit der Ausgabe eines Bandes der Lully-Ausgabe zu beauftragen: Cher Monsieur le Directeur, En réponse à votre honoré du 14 ct. nous vous recommandons d’envoyer le 1er volume de l’édition Lully à M. le Dr. Alfred Einstein, Berlin W 30, Heilbronnerstrasse 61, qui en fera le compte dans la „Zeitschrift für Musikwissenschaft“ et „Berliner Tagblatt“ ____________ 18
Die Editionspolitik, lediglich die wichtigsten Varianten im Kritischen Bericht zu dokumentie-
ren, wurde noch im letzten zu Lebzeiten Prunières’ geplanten Band beibehalten; vgl. den letzten Abschnitt des im Anhang abgedruckten Vorworts zum dritten Motettenband.
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M. Bernard Schuster, Berlin-Wilmersdorf, Prinzregentenstrasse 9, qui fera le compte dans „Die Musik“ M. le Dr. Alfred Heuss, Gaschwitz bei Leipzig, Gustav Meiselstrasse 23 pour la „Zeitschrift für Musik“ Ces sont les 3 revues allemandes les plus importantes. En vue du prix élevé de l’Edition Lully nous ne vous proposons pas encore un quatrième critique, mais vous informerons plus tard, lorsque nous aurions l’impression que l’envoi gracieux à une certaine personne serait avantageux. Nous profitons de cette occasion, pour vous faire la proposition suivante. Nous l’accueillerons avec plaisir, s’il vous serait possible, d’inviter le chef de notre département historique, M. le Dr. Karl Geiringer, de collaborer scientifiquement à l’édition Lully. M. le Dr. Geiringer, qui vous est probablement connu comme collaborateur du „Handbuch“ de Guido Adler, à la „Zeitschrift für Musikwissenschaft“, aux partitions „Philharmonia“ (Pergolesi, Bach etc.) et aussi à votre revue très éstimé [sic], est devenu il y a quelque temps comme successeur de M. le Professeur Mandysczewski, „Kustos“ aux archives et au Musée de la „Gesellschaft für Musikfreunde“. Il est parfaitement au courant de la technique d’édition pour les œuvres anciennes, ayant collaboré aux „Denkmäler der Tonkunst in Österreich“, pour lesquels il a édité des oeuvres du 17e siècle et prépare un nouveau volume. Nous croyons, que ce serait assez avantageux pour vous, d’avoir parmi vos collaborateurs un historien vivant dans le pays allemand, qui pourrait sans difficulté se procurer tout le matériel nécessaire pour les buts de l’édition Lully, qui se trouve dans l’Europe Centrale. Nous serions très satisfaits, si notre proposition vous intéressera et vous prions d’agréer, cher Monsieur le Directeur, l’assurance de nos sentiments très distingués.
Prunières begründete seine Ablehnung des Vorschlags, ausländische Mitarbeiter mit der Edition eines Bandes zu beauftragen, damit, er wolle unter Beweis stellen, dass man in Frankreich wie in anderen Ländern in der Lage sei, eine Gesamtausgabe ohne ausländische Mitarbeiter zu realisieren. An einen unbekannten Adressaten wird von der Revue Musicale am 3. Juli 1930 die Zusendung von Besprechungsexemplaren abgelehnt, da nur wenige Kopien dafür vorgesehen seien: Je suis bien désolé de ne pouvoir vous envoyer un exemplaire des OEUVRES COMPLETES DE LULLY, le tirage étant limité à 325 exemplaires et le service réduit à une dizaine d’exemplaires pour toute l’Europe, qui seront confiés uniquement à des spécialistes pour les comptes-rendus détaillés dans les revues techniques de musicologie. Je vous prie de m’excuser et j’espère que vous voudrez bien quand même annoncer la publication de cet ouvrage qui est faite sans aucune subvention officielle et qui représente le plus gros effort tenté jusqu’à ce jour en France en musicologie.
Anders als Colles in der Times kritisiert Charles van den Borren in seiner Besprechung von Cadmus et Hermione in der von Prunières geleiteten Revue
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Musicale die Aussetzung der Basse continue. Das Arrangement der Instrumentalsätze und die Generalbassaussetzung von Matthijs Vermeulen ont été faites avec un soin et une conscience dignes de tous les éloges. Néanmoins ce travail n’est peut-être pas entièrement à l’abri de tout reproche. Sans doute la réduction de l’orchestre a été effectuée suivant une méthode qui préserve beaucoup mieux que ne peuvent le faire les réductions proprement „pianistiques“, la sonorité bronzée et les grésillements harmoniques, d’un archaïsme si savoureux, de l’original. […] Mais, dans son zèle à bien faire, il s’est trop souvent départi de cette bienfaisante neutralité qui s’impose, dans une tâche de ce genre, si l’on veut éviter d’aller à l’encontre des intentions probables de l’auteur. Dans son „horreur du vide“ il lui est arrivé plus d’une fois de „trop remplir“.
Van den Borren kritisiert die zahlreichen stilwidrigen Imitationen im Rezitativ und die zu starke Betonung der „accents rythmiques“ in der Aussetzung. Dans un ordre d’idées analogue, M. Vermeulen pousse à bout son système de vouloir dire plus qu’il ne faut, lorsque, dans la scène I de l’acte IV, il reprend le rythme de la ritournelle par où débute l’acte, comme une sorte de leitmotiv, tout au long des récitatifs qui suivent. […] Ces critiques sont toutefois loin de s’adresser à l’ensemble de la partition. Maints passages […] témoignent de ce que M. Vermeulen est 19 un musicien habile et raffiné.
Ganz andere Fragen wirft Kathi Meyer in ihrer Rezension in der Zeitschrift für Musikwissenschaft auf und kommt bezüglich der bei Colles so negativen Bewertung der Ausgabe und der von Van den Borren so sehr kritisierten Generalbassaussetzung zu einem völlig konträren Urteil: Die Ausgabe ist in ihrer Art mustergültig und vereinigt in sich die Vorzüge, die man bei den Veröffentlichungen des Herausgebers Henry Prunières gewohnt ist: historische Zuverlässigkeit, Stilkenntnis und künstlerischen Geschmack. Der Geschmack zeigt sich im äußeren Gewande, wie in der inneren Bearbeitung. Die Druckanordnung, die Feinheit des Stiches, die Faksimilebeilagen, so äußerlich die Dinge erscheinen, sind vorbildlich verwendet und geben schon etwas von der Stimmung wieder, in die das Werk auch personalstilistisch eingeordnet wird. […] Die Bearbeitung erstreckt sich fast nur auf die Generalbaßstimme, die Matthys Vermeulen ausgesetzt hat. Auch hier Geschmack, keine Überladenheit, nur eine fein ausgewogene harmonisch Stütze. Phrasierungen und Vortragbezeichnungen sind kaum eingefügt, was man wohl als Vorzug bezeichnen darf. Auch bei der Ausschreibung der Verzie20 rungen hat vernünftige Vorsicht gewaltet.
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Charles van den Borren, [Rezension], in: La Revue Musicale 12 (1931), S. 266–268.
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Zeitschrift für Musikwissenschaft 13 (1930–1931), S. 351.
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Nach einer knapp gehaltenen historischen Einordnung des Werkes und einem uneingeschränkten Lob der Einleitung des Herausgebers bezweifelt Meyer jedoch den Sinn der Lully-Gesamtausgabe und stellt grundsätzliche Überlegungen über die Auswahl an zu edierende alte Musik an: Nun erhebt sich die Frage, ist erstens dieser Rahmen heute ausreichend, und zweitens, was ist der Nutzen solcher Ausgaben? […] So sehr wir gerade die vorliegende Veröffentlichung als solche loben können, so müssen wir doch zugeben, daß der Kreis, an den sich die Ausgabe wendet, sehr klein ist. Es bleibt natürlich etwas schwer, die Situation von Deutschland aus zu beurteilen. In Frankreich genießt Lully auch heute wohl noch eine größere Verbreitung, ähnlich wie bei uns in Deutschland etwa Heinrich Schütz eine besondere nationale Bedeutung besitzt. Gerade in dem Vorwort, in der stilistischen Analyse, kommt überzeugend zum Ausdruck, wie die Oper Cadmus mit ihrer Ausgeglichenheit und ihrer Grazie das Ideal der französischen Musik verkörpert. – Wir wollen daher nur von unserem Standpunkt aus urteilen, und da scheint uns diese Ausgabe, wie übrigens alle Gesamtausgaben, zu wenig für die Praxis berechnet zu sein. Es fehlen vor allem die Stimmenausgaben, und es fehlen die Übersetzungen des Textes zum mindesten in die deutsche, englische und italienische Sprache, wie sie in den Gluckausgaben der Mademoiselle Pelletan z. B. gegeben sind. Welchen Mühen hat sich jetzt ein Dirigent zu unterziehen, wenn er eine der Opern aufzuführen plant! Die Ausgabe würde, bei Berücksichtigung dieser mehr praktischen Gesichtspunkte, sich sofort ein größeres Publikum erwerben und stärkere Beachtung in den Kreisen der Praktiker auch des Auslands finden. Und nun noch den zweiten prinzipiellen Einwand gegen die Lullyausgabe. Von welchen Meistern, von welchen Arten von Werken brauchen wir heute Neuausgaben? Es scheint naheliegend, daß man hauptsächlich diejenige Musik zu veröffentlichen bestrebt sein wird, die uns nur in einem oder in sehr wenigen Exemplaren erhalten ist, deren Existenz also verhältnismäßig gefährdet, deren Kenntnis vor allem außerordentlich erschwert ist. Die Opern Lullys, und darin besteht ja der Hauptteil seines Schaffens, sind laut dem königlichen Theaterpatent, das Lully besaß, sämtlich im Druck erschienen. Es ist ein Vorzug der französischen Opern, auch der Folgezeit, daß sie dadurch viel bekannter und verbreiteter geworden sind, als in den Nachbarländern. Wieviel schlechter steht es um die gleichzeitigen und selbst späteren Werke in Deutschland und Italien! Jommelli, Scarlatti, Traëtta, da Majo, Reinhard Keiser: wäre es nicht wichtiger, von diesen Komponisten Ausgaben zu besitzen? […] In unserem Fall handelt es sich mehr um einen Zufall, daß in Henry Prunières die Initiative eines Organisators mit der Eigenschaft des Lullyforschers zusammengetroffen ist. Solche Organisatoren sollte man über ihr spezielles Interessengebiet hinaus vor die Aufgabe stellen, Pläne auszuarbeiten, welche Werke ihres Landes am dringlichsten zu veröffentlichen seien. Über solche Pläne sollte man dann von einer Kommission genau beraten lassen und nach ihren Ratschlägen bei der Realisierung des Bibliotheks- und Archivgutes vorgehen. Es scheint zweifelhaft, ob dann Prunières, der bei der Redaktion seiner Revue musicale eine so umfassende
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und überlegene Kenntnis verschiedener Gebiete zeigt, doch bei Lully als dem wich21 tigsten Vertreter geblieben wäre.
Der mit „g“ signierende Rezensent22 in La Rassegna musicale verzichtet auf eine kritische Bewertung der Ausgabe von Cadmus et Hermione: E il primo volume costituisce un saggio eccelente della cura e delle serietà con cui il Prunières si è accinto all’impresa nè facile nè breve: sia dal punto di vista della presentazione grafica, sia da quello dell’edizione musicale, nulla vi è da eccepire. […] La lettura della partitura, trascritta su cinque portate, e agevolata da una utile trascri23 zione pianistica delle parti strumentali, dovuta a Matthys Vermeulen.
Die harte Kritik von Colles war Anlass für Prunières, den gewiss noch immer reduzierten Anspruch an die Kritische Ausgabe in den folgenden Bänden halbwegs zu erfüllen. Zwei im Subskriptionsaufruf genannte Mitarbeiter, der schon im Juli 1931 verstorbene André Tessier und Félix Raugel, arbeiteten an der Lully-Ausgabe mit. Tessier trug im ersten Band der Serie I Ballets von 1931 ein Kapitel über die Verzierungspraxis sowie einen Abschnitt über die Aufführungspraxis mit ausführlichen Zitaten aus Georg Muffats Vorrede zum Florilegium primum (1695) bei. In seiner Rezension dieses Bandes in der Times hebt Colles die konzeptionelle Verbesserung der Ausgabe hervor und stellt sie als Auswirkung der heftigen Kritik an der Edition von Cadmus et Hermione dar: Beginnings of the Ballet. A Volume of Lully. It is evident that M. Henry Prunières has done some hard thinking since he issued the score of Cadmus et Hermione as Volume I. of the complete works of J. B. Lully. […] These [ballets] are presented with very much fuller editorial commentary than that which accompanied the score of Cadmus, and since we complained of the vagueness of M. Prunières’s statements and the meagreness of his information in the former case we are the more glad to notice this sign of reformation now. With this second volume (Ballets Tome I.) M. Pruinières issues his general preface to the whole edition which ought to have appeared with the first, and in it he sets forth the general principles by which he proposes that his editorship shall be guided. The principles are unexceptionable. […] He proposes to give all variants of any importance, and sums up with something like an apology for he past, with the words: “mais Cadmus fut pour nous une école”. […] This frankness leaves no more to be ____________ 21
Kathi Meyer, Neuausgaben alter Musikwerke [Rezension von Cadmus et Hermione], in:
Zeitschrift für Musikwissenschaft 13 (1930–1931), S. 350f. Meyers Besprechung blieb die einzige Rezension eines Bandes der Lully-Ausgabe in der Zeitschrift für Musikwissenschaft. Vermutlich handelt es sich um Guido M. Garri, den Herausgeber der Rassegna musicale. Andere Rezensionen von Bänden der Lully-Ausgabe sind sehr allgemein gehalten, ihre Autoren Henri de Curzon, im Journal des débats (4. März 1934) und Henry Bidou in Le Temps (24. Januar 1934 und 27. August 1938) setzen sich nicht kritisch mit der Editionsmethode auseinander. 23 Vgl. die Rezension in: La Rassegna musicale 1 (1931), S. 179f. 22
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said, except to regret that the editor did not go to school before Cadmus went to press, especially since M. Prunières begins to put his good intentions into effect by calling in the aid of an able colleague, M. André Tessier, who is responsible for the laborious technical criticism called for by the early ballets. […] At any rate the volume of ballets gives the assurance which we asked for that a serious attempt at collation has been made. If the edition is continued on these lines its value will be greatly 24 enhanced, and the generosity of Mrs. James Dyer will be amply rewarded.
Klarer als hier dargelegt kann man die Neuorientierung nach der Kritik in der Times durch Colles kaum formulieren. Nach seiner Rezension von Cadmus et Hermione in der Revue Musicale übernahm Van den Borren auch die Besprechung des ersten Bandes der Ballets de cour und der Alceste in Acta musicologica.25 Bezogen auf die Ballets de cour bemerkt er: La lecture est un pur ravissement, et l’on conçoit que l’auteur de pareils joyaux ait évincé si rapidement ses concurrents français moins experts dans l’art de séduire leurs contemporains. C’est que Lully est vraiment un homme de „synthèse“, dont les créations fixent une date, une époque, un milieu, une atmosphère.
Die Generalbassaussetzung und das Arrangement der Instrumentalsätze durch A. Dieudonné, einer Schülerin Nadja Boulangers, findet seine Zustimmung: Il faut dire que la méthode suivie, dans l’édition de M. Prunières, pour la réduction de l’orchestre au clavier – méthode que Melle A. Dieudonné applique avec un réel bonheur dans ce volume des ballets –, est de nature à donner une idée fort exacte de la technique lullyste, avec son ampleur décorative et sa souplesse contrapuntique. D’un autre côté, les instructions fournies par le très regretté André Tessier pour résoudre la question des „agrémens“ [sic] contribuent à donner, de ces derniers, des versions qui apparaissent comme fort vraisemblables, Lully se bornant, en cette matière, à exprimer les ornements, quels qu’ils soient, par une petite croix nullement révélatrice de ses intentions précises.
Die Übernahme der aufführungspraktischen Ausführungen von Muffat bezeichnet Van den Borren als excellente inspiration […] (que complète un commentaire explicatif d’A. Tessier), encore qu’elles offrent au lecteur maint sujet de trouble et d’étonnement, notamment en ce qui regarde les „agrémens“ et, plus encore peut-être, l’exécution pointée des successions de notes égales. ____________ 24
The Times, 4. Juli 1934, o. S. Eine Kopie dieser Rezension befindet sich unter den Archivalien des Nachlasses von Prunières (vgl. Anm. 27). Charles van den Borren, [Rezension der Ballets de cour], in: Acta Musicologica 5 (1933), S. 128f.
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Zu Beginn der Besprechung der Alceste26 kommt Van den Borren auf seine Kritik an Cadmus et Hermione zurück: Si la restitution de la première de ces œuvres [Cadmus] offrait certains défauts, que nous avons signalés naguère dans la Revue Musicale (mars 1931, p. 266), celle d’Alceste est, à cet égard, une revanche éclatante. Cette fois, la réalisation de la basse continue, qui est, en ce domaine, le point délicat, principalement dans le récitatif, est à l’abri de tout reproche. Chargé de cette tâche, M. Raymond Moulaert, s’en est acquitté avec un sens peu commun de la convenance stylistique.
In der „excellente préface“ analysiere Prunières „avec sagacité et finesse le livret de Quinault et la musique de Lully“. Van den Borren kritisiert die „maniérismes inventés par les professeurs de chant plus préoccupés du détail que de l’ensemble“, womit historische Gesangslehren gemeint sind. M. Prunières s’est servi, avant tout, de copies manuscrites plus complètes, principalement celle de Vignol (1678), pour établir le texte musical de l’opéra. Un commentaire bibliographique (pp. XXXVss.) fournit, au sujet de ces diverses sources, toutes les indications voulues.
Die Besprechung schließt mit einer Liste mit „quelques errata“. Für den 1931 erschienenen ersten Band der Comédies-ballet erhielt Prunières von anderer Stelle Hilfestellung, die er vermutlich angefordert hatte. Es handelt sich um eine Liste mit Quellen des Mariage forcé (Drucke und Handschriften der Livrets und der Komödie, zwölf Partiturabschriften mit Angabe der Bibliotheken und Signaturen) von einer nicht bekannten in der Württembergischen Landesbibliothek tätigen Person.27 Bezüglich des Vertriebs der Ausgabe Prunières’ entstanden z. T. erhebliche Schwierigkeiten, die im Fall des vertraglich für die anglo-sächsischen Länder zuständigen Hauses Stainer & Bell in London gravierend waren, da aus der Sicht Prunières’ die Zahlungsverpflichtungen nicht eingehalten wurden und dadurch die Fortsetzung der teuren Herstellung der Bände in Gefahr geriet. Auch hier spielte Louise Dyer eine wichtige Rolle. Sie hatte die Subskription durch den britischen Auslieferer vermittelt. Das unregelmäßige Erscheinen veranlasste Stainer und Bell, den Vertrag auszusetzen. Andere Probleme entstanden dadurch, dass bei der Auslieferung mehrmals Bände mit unterschiedlicher Nummerierung bei den Empfängern ankamen. Einige Briefe aus dem Jahr 1939, die Prunières mit seinen Mitarbeitern wechselte, zeigen nicht nur, dass er diese mit der Vorbereitung des Manu____________ 26 27
Ders.: [Rezension von Alceste], in: Acta Musicologica 6 (1934), S. 75f.
Diese Liste befindet sich unter den Archivalien des oben erwähnten für das IRPMF kopierten Nachlasses von Prunières.
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skripts für den Notenstich beauftragte, sondern auch, dass Sazerac de Forge mit dem Notenmanuskript von Acis et Galatée weit fortgeschritten war.28 Außerdem liegt ein vollständiges Vorwort für den dritten Band mit Motetten vor, der vier Grands motets (De profundis, Benedictus, Notus in Judea und Domine salvum fac regem) und zwei Petits motets (Omnes gentes plaudite, Avec coeli munus supernum) enthalten sollte. Der bereits erwähnte, erst 1972 publizierte dritte Band der Motets enthält nur vier der sechs für diesen Band vorgesehenen Motets. Das von Charles Pineau im August 1939 fertiggestellte Vorwort war offenbar dem Herausgeber des Bandes von 1972, François Lesure, nicht bekannt. Es enthält viele Angaben zu editorischen Entscheidungen, die heute nicht mehr annehmbar erscheinen (siehe Anhang). Die von Prunières geleitete Ausgabe der Werke Lully blieb nicht nur unvollständig, sondern sie befriedigt auch nur in einigen Bänden und erfüllt kaum den Anspruch an eine wissenschaftliche Edition selbst nach damals gültigen Maßstäben. Eine zweite Initiative für eine Kritische Ausgabe der Werke Lullys entstand in den 1980er Jahren nach dem Erscheinen des Werkkatalogs LWV.29 Es wurde ein Redaktionskomitee gebildet, dem der Chefredakteur Carl B. Schmidt vorstand. Als Verlag war der Broude Trust in New York vorgesehen. Auseinandersetzungen um die Editionsmethode unter den Migliedern des Herausgebergremiums und außerdem mit dem Verleger Ron Broude führten zu erheblichen Problemen, zuletzt sogar zu einer Blockade und zur Auflösung des Vertrags durch Broude. Geplant waren die Serien 1 Court ballets and entr’actes, II Comédies- and tragédies-ballets, III Works for l’Académie royale de musique, IV Sacred vocal works und V Miscellaneous instrumental and vocal works. Am Ende kam schließlich ein Band unter dem Titel „Jean-Baptiste Lully, The Collected Works, general editor Carl B. Schmidt, Series IV Sacred Works, Volume 5, New York, The Broude Trust 1996“ heraus. Er enthält folgende Motets: Quare fremuerunt gentes LWV 67, hrsg. von Lionel Sawkins und Carl B. Schmidt, Notus in Judaea Deus LWV 77/17, hrsg. von John Hajdu Heyer und Exaudiat te dominus LWV 77/15, hrsg. von Anne Baker. ____________ 28
Brief von de Sazerac de Forge an Prunières vom 11. Dezember 1939: „Si vous préférez faire
travailler Viol [der Notenstecher] de suite sur Acis et Galatée, le Prologue est fait, et une de mes amies de Paris refugiée auprès de nous pourrait vous le remettre rue Duroc à son prochain voyage, c’est à dire dans la semaine de Noël.“ Am 18. Dezember schreibt er erneut: „J’avancerai plus vite dans Acis et Galatée en faisant la transcription moi-même, que dans Atys.“ Mehrfach werden in Briefen Sazerac de Forges von 1939 und 1940 Flüchtlinge erwähnt, die es in der Provinz unterzubringen und zu versorgen galt. Ein Manuskript Sazerac de Forges von Acis et Galatée wurde bisher nicht aufgefunden. 29 Herbert Schneider, Chronologisch-thematisches Verzeichnis sämtlicher Werke von Jean-Baptiste Lully (LWV), Tutzing 1981.
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Nach dem traurigen Ende dieses Projekts trat Jérôme de La Gorce an den Verfasser heran, ob er nicht bereit sei, mit ihm zusammen eine Kritische Edition zu leiten. Zuvor war durch die Initiative Sylvie Bouissous, der Chefredakteurin der Opera Omnia von Jean-Philippe Rameau, die Organisation Musica Gallica im Ministère de la Culture in Paris ins Leben gerufen worden, eine Organisation, die sich der Publikation französischer Musik verschrieb. Dadurch bestand zumindest die Möglichkeit, Druckkostenzuschüsse für die Gesamtausgabe zu erhalten. Nachdem ein Comité scientifique und ein Comité de rédaction gebildet war, begann die Arbeit an den Editionsrichtlinien, die mehrfach überarbeitet werden mussten.30 Das Problem bestand darin, für so verschiedene Gattungen wie das Ballet de cour, für dessen Edition trotz der Prunières-Ausgabe kein überzeugendes Modell zur Verfügung stand, die Comédies-ballets, die Tragédies en musique und die Grands und Petits motets einheitliche Richtlinien zu finden. Bei der Suche nach einem Verleger erfuhren wir von allen in Frage kommenden Musikverlagen in Frankreich und Deutschland eine teils schroffe, teils uninteressierte Ablehnung, obwohl doch eine Bezuschussung der Druckkosten in Aussicht stand. Nach der Sitzung des Redaktionskomitees während des Kongresses der International Musicological Society in London im Juli 1997, als die beiden Chefredakteure eingestehen mussten, immer noch keinen Verlag gefunden zu haben, war durch die Vermittlung der Redakteurin Doris Wendt der Georg Olms Verlag bereit, sich mit großem Engagement und Sorgfalt der Aufgabe der Edition anzunehmen. Bis heute werden die Œuvres complètes Lullys ohne eigens für die Edition verfügbares Personal herausgegeben. Die DFG hat dankenswerter Weise drei Jahre Gelder für Mikrofilme und Kopien zur Verfügung gestellt und eine halbe wissenschaftliche Hilfskraft finanziert, aber von vorneherein eine Verlängerung dieses minimalen Zuschusses abgelehnt. Von den erschienenen Bänden sind neben dem Editionsband (zweisprachige Einleitung, Edition des Textbuchs und der Partitur, Kritischer Bericht) auch die Klavierauszüge und das Stimmenmaterial verfügbar. Die Lully-Ausgabe setzte von Anfang an dadurch Maßstäbe, dass sie eine literarischen Ansprüchen standhaltende Ausgabe der „Livrets“ bzw. der gesungenen Texte vorlegt, für die François Moureau verantwortlich ist. Bisher sind erschienen:
____________ 30
Publiziert in: Editionsrichtlinien Musik, im Auftrag der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute
in der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a] 2000, S. 189–215.
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Partiturbände Serie I, 6: Ballet des saisons, hrsg. von James P. Cassaro, Les Amours déguisés, hrsg. von James R. Anthony und Rebecca Harris-Warrick, Ballet royal de Flore, hrsg. von Albert Cohen, 2004 Serie II, 2: Les Plaisirs de l'Ile enchantée (La Princesse d’Elide), George Dandin ou Le mari confondu (Le grand divertissemant royal de Versailles), hrsg. von Catherine Cessac, 2013; 4: Monsieur de Pourceaugnac, hrsg. von Jérôme de La Gorce, Le Bourgeois gentilhomme, hrsg. von Herbert Schneider, 2006; 6: Psyché, hrsg. von John S. Powell und Herbert Schneider, 2007 Serie III, 4: Thésée, hrsg. von Pascal Denécheau, 2010; 6: Isis, hrsg. von Lionel Sawkins, 2014; 14: Armide, hrsg. von Lois Rosow, 2003 Serie IV, 2: Jubilate Deo und Te Deum, hrsg. von John Hajdu Heyer, 2009
Klavierauszüge
Serie I, 6, 2004; Serie II, 2, 2013; 4, 2007; 6, 2009; Serie III, 4, 2012; 14, 2006; Serie IV, 2, 2011.
Das Projekt der Œuvres complètes Lullys wurde 2009 offiziell in die Liste der Vorhaben des Insitut de Recherche sur le Patrimoine Musical en France (seit 2014 Institut de Recherche en Musicologie) aufgenommen, ohne dass damit eine personelle Ausstattung verbunden wäre. Es bleibt zu hoffen, dass irgendwann wenigstens ein hauptamtlicher Mitarbeiter für die Ausgabe finanziert werden kann und somit dieses jüngste Vorhaben einer Lully-Edition seinen Abschluss finden wird.
Anhang Texte für den zweiten Band mit Motetten, der nicht mehr im Druck erschien: Préface. Ce volume comprend: 1o quatre grands motets (De profundis – Domine salvum fac regem – Notus in Judea – Benedictus) conçus pour deux chœurs : un premier chœur formé de quelque voix choisies, le petit chœur, écrit à 4 ou 5 parties, et un second chœur plus nombreux, le grand chœur, toujours écrit à 5 parties. Cet ensemble vocal était accompagné par des instruments à archet, soutenus par le continuo réalisé à l’orgue, lequel était généralement renforcé par une basse de violon; (violoncelle) parfois un basson doublait encore, en entier, ou en partie, le grave de cet ensemble instrumental. 2o deux autres motets de moindre importance, (Omnes gentes, plaudite manibus – Ave cœli munus superbum) écrits, l’un et l’autre à 3 parties, pour voix de solistes, avec accompagnement de continuo, seulement. –
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Toutes ces œuvres étaient-elles destinées à la chapelle royale? Pour le Benedictus et le De profundis le titre l’indique : Motets à 2 chœurs pour la chapelle du Roy. Paris 31 1684. Les motets: Notus in Judea – Domine salvum fac regem, eurent, probablement aussi, la même destination, Lully s’étant servi pour ces deux œuvres, des mêmes éléments vocaux instrumentaux que pour le Benedictus et le De profundis. Mais toutes ces pièces de grandes dimensions, d’une exécution assez difficile, exigeant un personnel nombreux et exercé, ne devaient pas former le répertoire journa32 lier de la chapelle royale; elles étaient sans doute, destinées aux grandes solennités ou à quelques circonstances particulières, comme le Plaude Gallia, composé pour le baptême du Dauphin – ou comme le Te Deum, chanté en 1687, chez les Feuillants de la rue Saint Honoré, à l’occasion de la convalenscence du roi. C’est vraisemblablement, pour le service des jours ordinaires, que Lully composa la série de ces douze petits motets écrits pour trois voix de solistes avec accompagnement du continuo, dont deux se trouvent dans le présent volume : Omnes gentes plaudite manibus – Avec cœli munus supernum. – Les maîtres de musique du roi ne se contentaient pas de faire exécuter leurs propres compositions, à la chapelle du château, les œuvres des principaux musiciens contemporains figuraient aussi à leurs programmes. Cependant, au temps de la surintendance de Lully, par suite de l’esprit exclusif ombrageux de celui-ci, la part de ses confrères dut être singulièrement réduite. I. Notes sur le texte littéraire. Les paroles des motets : De profundis (Ps. 129.) Benedictus (Cantique de Zacharie) Notus in Judea (Ps. 75.) sont empruntées au psautier et Lully en a mis integralement en musique tous les versets, chaque verset formant un tout musical plus ou moins développé. – Les paroles du Domine salvum fac regem, sont également tirées du psautier. C’est le verset 10 du 33 psaume 19 : Exaudiat te Dominus. Le verset appliqué à Louis XIV, devenait ainsi une prière pour la santé du monarque et l’astucieuse Madame de Maintenon ne manquait pas de faire chanter à ses élèves, quand le roi allait les visiter, ces paroles du psalmiste, mises en musique par les musiciens en renom à cette époque. Aussi trouve-t-on de nombreuses compositions musicales sur ce texte, dans les cahiers de chant ayant servi aux demoiselles de St. Cyr. ____________ 31
Originale Anm.: „Ces motets, au nombre de six, (Miserere, – Dies iræ – Plaude in Gallia, – De
32
profundis, – Te Deum, – Benedictus,) sont les seuls motets de Lully, gravés de son vivant.“
Originale Anm.: „On sait que, chaque jour, Louis XIV assistait à une messe célébrée dans la
chapelle du château, pendant laquelle on exécutait des motets en musique, généralement au nombre de trois : l’un assez long, allant du commencement de la messe à l’Elévation – le deuxième, plus court, de l’élévation à la poste-communion, environ – enfin, pour terminer, un Domine salvum fac regem. Tel était le programme habituel de la messe du roi.“ 33 Originale Anm.: „Chez les protestants, ce psaume porte le numéro 20 – chez les catholiques le numéro 19.“
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Lully lui-même l’a mis en musique deux fois : outre le motet à deux chœurs, publié dans ce volume, on trouve, sur ces mêmes paroles, un autre motet à 3 voix, avec accompagnement du continuo et qui fait partie de la série des douze petits motets signalés plus haut. Quoique le motet Omnes gentes plaudite manibus, débute par les premier mots du psaume 46, c’est un texte de fantaisie, n’ayant aucun rapport avec les paroles du psal34 miste. Cependant, certaines expressions empruntées aux livres saints, indiquent que l’auteur (peut être un ecclésiastique) vivait dans la familiarité des textes sacrés. On sait qu’à cette époque, les musiciens d’église, préféraient souvent, aux textes liturgiques, des textes en prose ou en vers, composés à leur intention, pour une solennité quelconque, par certains littéraires spécialisés dans ce genre de compositions religieuses qui, d’ailleurs, n’était pas approuvé de tout le monde et qui donna lieu souvent, à maintes critiques. Le texte de ce motet fut, sans doute, écrit à l’occasion d’une maladie de Louis XIV. Ce sont, en effet, des paroles d’actions de grâces, pour remercier Dieu, d’avoir rendu la santé au roi. (Circum dederunt dolores mortis... et populus clamavit ad Dominum: exurge Domine et vide afflictionem meam... Vidit Dominus et sanavit eum... morbum et inimicos dissipasti. Ideo confitebor tibi Domine, et nomini tuo psalmam dicam.) Mais, à quelle maladie du monarque, ce texte fait-il allusion? Ici, on est réduit aux hypothèses. 35 D’ailleurs, on n’a que l’embarras du choix, car, comme le dit M. Louis Bertrand, „malgré sa forte constitution et une santé héroïque, le roi fut malade, toute sa vie.“ Ave cœli munus supernum. Ce texte n’est emprunté, ni à la liturgie gallicane, ni à la liturgie romaine et l’Abbé Ulysse Chevalier n’en fait pas mention. Peut-être provient-il du „propre“ d’une congrégation. Au XVIIe et au XVIIIe siècles, les congrégations d’hommes ou de femmes (surtout celles de fondation récente), faisaient souvent composer à leur usage, des hym36 nes, des proses et même des offices entiers. II. Notes sur le texte musical. En ce qui concerne le De profundis, ainsi que le Benedictus, on s’est servi pour établir le texte musical de cette édition, d’un exemplaire gravé [recte gedruckt im Typendruck mit beweglichen Lettern] chez Ballard, généralement correct. (Bibl. Nat. Réserve V1 99) „Motets à 2 chœurs pour la chapelle du Roy. 1684.“ 17. Ps. in 4.) Pour les autres motets contenus dans ce volume, le texte a été établi d’après les exemplaires suivants: Domine salvum. (Bibl. Nat. Vm1 1041) Omnes gentes. (Bibl. du Cons. de Paris. Rés. F 989 et F 668, Bibl. Nat. Vm 1 1040 et 1041). Ave cœli munus supernum (Bibl. du Cons. de Paris Rés F 668 et F 989. Bibl. Nat. Vm1 1170 et Vm1 1041). Notus in Judea (Bibl. Nat. Vm1 1040, Vm1 1170 et Vm1 1047). ____________ 34 35
Originale Anm.: „Posuisti in capite ejus. Confitebor tibi Domine. Exurge Domine, etc.“ Originale Anm.: „Le ,Journal de la santé du Roy‘ rédigé par Vallot, Daguin et Fagot, „méde-
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cins de sa Majesté“ nous renseigne amplement sur les nombreuses maladies de Louis XIV.“
Originale Anm.: „On appelle „propre“ d’une congrégation ou d’un diocèse, la collection des offices particuliers à une congrégation, ou à un diocèse.“
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Il faut remarquer que pour les motets non gravés ou ceux gravés après la mort de Lully, tous les exemplaires diffèrent non seulement sur des questions de détail, mais aussi, sur des points importants: les uns ne contenant qu’un chœur au lieu de deux, les autres ne donnant pas intégralement les parties instrumentales, ou donnant seulement le continuo. Dans d’autres exemplaires, le continuo manque en tout ou en partie. Pour le chiffrage les variantes sont aussi importantes. Certains n’ont aucun chiffre. Parfois, les chiffres sont mal placés, ou erronés, en sorte que pour établir le texte musical, il est nécessaire de se servir de plusieurs exemplaires, corrigeant ou complétant un exemplaire par un autre. III. De l’exécution. On n’a pas cru nécessaire d’ajouter des nuances ou des indications de mouvement à celles suffisamment explicites, données par l’auteur. Il faut cependant, tenir compte que l’Allegro, au temps de Lully, était moins vif que de nos jours, – les mouvements lents (adagio, lento,) moins lents qu’à notre époque. Le mouvement le plus employé était le mouvement modéré, (tempo giusto). Le mot Vivace indiquait plutôt le caractère d’une pièce que son mouvement. Quant aux nuances d’intensité, la nuance la plus usitée était le mezzo forte. (m.f.) Le forte (f.) et le piano (p.) étaient d’un usage moins fréquent. Cependant les nuances douces (piano et même pianissimo) s’employaient assez souvent pour les „échos“. Jamais de fortissimo. (ff.) L’exécution gardait toujours le ton de la bonne compagnie, le ton qui convenait aux dialogues symétriques des tragédies classiques. De même que les héroïnes de Racine et de Corneille, même dans les circonstances les plus tragiques, n’atteignent jamais à la violence des personnages des drames romantiques, de même, la musique française de cette époque, garde toujours un ton mesuré ce qui ne l’empêche pas d’être expressive, mais son expression est toute intérieure. L’observation exacte des valeurs était généralement de règle, dans l’exécution. Cependant, dans un certain nombre de cas, il sera nécessaire „d’interpréter“ ces valeurs, (le mot est de M. Ch. Widor) en leur enlevant une partie de leur durée, afin d’éviter certains „frottement“ un peu trop cruels. D’autres cas de modification des valeurs, seraient encore à signaler, s’il m’était permis de m’étendre davantage sur ce sujet. IV. Des ornements. Le t placé au dessus ou au dessous d’une note, n’indiquait pas, par lui-même, un trille ou un mordant, mais un tremblement de la voix ou de l’archet sur la corde. Ce tremblement ou ce „tremblé“ comme on disait alors, étant impossible à rendre sur les instruments à clavier, il a bien fallu lui chercher un équivalent. C’est pourquoi, le „tremblé“ est devenu au clavecin et à l’orgue, trille, mordant ou pincé. La petite croix placée au dessus, ou au dessous des notes, avait la même signification que le t. Il semble, d’ailleurs, que cette croix était une déformation du t, à moins que ce soit le contraire. Dans la copie des motets de Lully, faite par Brossard, copie qui se trouve à la Bibliothèque Nationale, le t est remplacé par une croix, (+) ce qui prouve que ces deux signes
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avaient la même signification. D’autre part, dans d’autres cas, Brossard remplace le t par un pincé. [Mordentzeichen] On aurait pu relever les variantes qui se trouvent entre les différents exemplaires, mais celles-ci sont tellement nombreuses, qu’il a fallu y renoncer. D’ailleurs, comme nous nous sommes efforcés de choisir la version paraissant la meilleure, il n’y a pas lieu de signaler les autres qui, en général, ne présentent pas un très grand intérêt. Il y a lieu d’espérer que cette édition des œuvres religieuses de Lully, fera mieux apprécier et aimer un côté peu connu du génie de l’un des plus grands musiciens français, qui quoique né à Florence, fut à coup sûr, le meilleur et le plus caractéristique représentant du style Louis XIV, en musique. C. Pineau Chatelaillon (Charente Inférieure) Août 1939.
Literaturverzeichnis Colles, Henry C.: The Works of Lully. A Question of Editorship, in: The Times, 11. Oktober 1930, o. S. Davidson, Jim: Lyrebird Rising. Louise Hanson-Dyer of Oiseau-Lyre. 1884–1962, Melbourne 1994 Editionsrichtlinien Musik, im Auftrag der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000, S. 189–215 Meyer, Kathi: Neuausgaben alter Musikwerke [Rezension von Cadmus et Hermione], in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 13 (1930–1931), S. 350f. Schneider, Herbert: Chronologisch-thematisches Verzeichnis sämtlicher Werke von Jean-Baptiste Lully (LWV), Tutzing 1981 Van den Borren, Charles: [Rezension], in: La Revue Musicale 12 (1931), S. 266–268 Van den Borren, Charles: [Rezension der Ballets de cour], in: Acta Musicologica 5 (1933), S. 128f. Van den Borren, Charles: [Rezension von Alceste], in: Acta Musicologica 6 (1934), S. 75f. Vanhulst, Henri: Un catalogue manuscrit de Jean-Jérôme Imbault postérieur à 1812, in: Noter, annoter, éditer la musique. Mélanges offerts à Catherine Massip, réunis par Cécile Reynaud & Herbert Schneider, Genf 2012, S. 429–446
Ute Poetzsch
Die Editionen der Werke Georg Philipp Telemanns
I.
Denkmälerausgaben
Denkmäler deutscher Tonkunst Der Beginn der Telemann-Editionen ist mit der Veröffentlichung des Oratoriums Der Tag des Gerichts (TVWV 6:6) und der Kantate Ino (TVWV 20:41) 1908 als Band 28 der 1. Folge der Denkmäler deutscher Tonkunst durch Max Schneider markiert.1 Daneben gilt dieser Band aber auch als Initialzündung für die Telemann-Forschung überhaupt. Der Band enthält eine umfangreiche Einleitung mit einem Anhang, den Revisionsbericht, ein Porträt Telemanns und im Notenteil das Oratorium und die Kantate. Anhand der von Telemann selbst verfassten Lebensläufe, die er durch anderweitige Dokumente ergänzte, beschreibt Schneider in der Einleitung Telemanns Leben und Wirken. Neben Auszügen aus Archivalien, Zeitungen, Chroniken und Notenbeispielen enthält sie den vollständigen Abdruck der Autobiographien von 1718 und 1740 (S. VI–XVII). Auf der Grundlage der von Telemann selbst mitgeteilten Werklisten und ergänzender Quellen wird ein Überblick über den Werkbestand gegeben. Aussagen zu musikalischen Sachverhalten begründet Schneider anhand der Kompositionen selbst. Soweit möglich, geht er auch auf die Aufführungsgeschichte der mitgeteilten Kompositionen ein. Deutlich lehnt Schneider die Heroengeschichtsschreibung des gerade vergangenen 19. Jahrhunderts ab. Er setzt auf die Beschäftigung mit Telemanns Musik, Selbstzeugnissen und vielfältigen Dokumenten aus dem engeren und weiteren Umfeld und stellt Verbindungen zu den Zeitgenossen her. Im Anhang zum Vorwort sind die vier erhaltenen Briefe von Carl Heinrich Graun und Telemann, die sie im Winter 1751/1752 und im Jahr 1756 wechselten, ____________ 1
Schneider war zuerst Bibliothekar des musikwissenschaftlichen Instituts der Berliner Universität, nach 1907 katalogisierte er in der Königlichen Bibliothek den Nachlass Georg Michael Telemanns, vgl. Max Schneider, Einleitung und Revisionsbericht zu: Georg Philipp Telemann. Der Tag des Gerichts. Ino (= DDT, Bd. 28), Leipzig 1908, S. LXXVI. – Zu den Denkmälerausgaben insgesamt vgl. im vorliegenden Band den Beitrag Denkmälerausgaben, S. 704ff.
Die Editionen der Werke Georg Philipp Telemanns
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vollständig mit allen Notenbeispielen wiedergegeben (S. LXV–LXXI). Weiterhin ist Telemanns Gedenkgedicht für seine erste Frau Louise, das wertvolle biographische Hinweise enthält, abgedruckt. Der Revisionsbericht umfasst die Aufzählung der Quellen, die Beschreibung der Hauptquelle und deren Provenienz. Für den Tag des Gerichts lagen der originale Textdruck, ein Wiederabdruck und eine Partiturabschrift vor. Ein fast vollständiger von Schneider aufgefundener Stimmensatz wie auch der Nachdruck des Worttextes in der Ausgabe der Werke von Christian Wilhelm Alers wurden kollationiert, für die Textgewinnung selbst aber nicht herangezogen. Die in der als Quelle A qualifizierten Partitur fehlenden Überschriften hat der Herausgeber nach dem Textdruck ergänzt, „sonstige Zusätze durch Einklammerung oder kleinere Typen kenntlich gemacht“ (S. LXXVI). Für die Orthographie des Noten- und Worttextes gelten die allgemeinen von der Musikgeschichtlichen Kommission erarbeiteten Grundsätze. In den Einzelanmerkungen werden der Textdruck und die Hauptquelle für die Musik berücksichtigt. Die Edition der Kantate Ino beruht auf einer „sorgfältig geschriebenen, der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts angehörenden Kopie mit genauer Baßbezifferung“ (S. LXXIX); ein Textdruck war nicht bekannt. Eine weitere vorhandene Quelle berücksichtigte Schneider nicht.2 Dem Band beigegeben ist als Porträt Telemanns die Reproduktion der Schabkunst von Valentin Daniel Preisler in Originalgröße. Die den Partituren vorangesetzten Zwischentitel sind an den Originaltiteln orientiert. Die Instrumentennamen im Vorsatz der Partitur behalten die Form der Quelle, jedoch wurde das „Primo“ bzw. „Secondo“ der Quelle durch römische Ziffern ersetzt. Das Doppelsystem für den ausgesetzten Generalbass ist, wie bei Denkmälerbänden üblich, der Partitur hinzugefügt. Die Stichvorlage für den Band blieb erhalten.3 Schneider hat die Quelle diplomatisch übertragen und dann mit roter Tinte die Auflösungen von Kürzeln und Textmarken, die in der Edition mit einem eigenen System bedachten Instrumente und die nach Analogie ergänzten dynamischen Zeichen eingetragen. Die Generalbass-Systeme wurden mit Bleistift geschrieben. Sein Manuskript reichte Schneider in Etappen ein: Das zur Kantate Ino hatte er am 2. August 1904 abgeschlossen, Hermann Kretzschmar, Ordinarius für Musikwissenschaft an der Berliner Universität, begutachtete es am 9. März 1906. Das Teil____________ 2
3
Zur Problematik der Überlieferung, Quellenlage und Edition der Kantate vgl. Wolfgang Hirschmann, Christian Gottfried Krauses Bearbeitung der Ino-Kantate von Georg Philipp Telemann, in: Telemanns Vokalmusik. Über Texte, Formen und Werke (= Studien und Materialien zur Musikwissenschaft, Bd. 49), Hildesheim 2008, bes. S. 326–352. Staatliches Institut für Musikforschung, SM 27–46. Ich danke Herrn Carsten Schmidt für die Bereitstellung des Materials und freundlich erteilte Auskünfte.
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manuskript des Oratoriums hat Kretzschmar am 16. März 1906 mit „gesehen“ abgezeichnet. Das Imprimatur erteilte der Reihenherausgeber Rochus Freiherr von Liliencron bzw. sein Vertreter. Bereits 1906 erschien in den Denkmälern Deutscher Tonkunst in Band 29/30 Instrumentalkonzerte deutscher Meister Telemanns Concerto F-Dur für Violine und Orchester (TWV 51:F4) im Zusammenhang mit anderen Concerti von Johann Georg Pisendel, Johann Adolph Hasse, Carl Philipp Emanuel Bach, Christoph Graupner, Gottfried Heinrich Stölzel und Konrad Friedrich Hurlebusch. In der Einleitung führt der Herausgeber Arnold Schering in die Geschichte der Gattung ein, bestimmt ihren historischen Ort, berichtet über Musiker und widmet einen Abschnitt der Ausführung von Verzierungen. Im Revisionsbericht werden die Editionsprinzipien der Übertragung in ein modernes Notenbild – etwa die Auflösung von Abbreviaturen und con-stromentiNotation und Umschriften von Schlüsselungen – sowie die Kennzeichnung von Zusätzen dargelegt, in den Einzelbemerkungen die Quellen genannt und die wenigen Fehler aufgelistet. Für Telemanns Concerto schlägt Schering ein Doppelaccompagnement von zwei Cembali vor, die entsprechenden Systeme befinden sich im Kleinstich unter der Partitur. Unter Leitung von Hermann Kretzschmar, der 1912 den Vorsitz in der musikhistorischen Kommission übernommen hatte, erschienen 1917 in Band 57 die 24 Oden (TVWV 25:86–109). Der Herausgeber Wilhelm Krabbe beschreibt das „Sololied“ als eine insbesondere in Hamburg beheimatete Gattung und geht auf die Bedeutung des Dichters Friedrich von Hagedorn ein. Für Einzelheiten zu Leben und Werk Telemanns wird auf das Vorwort zu Band 28 verwiesen. Beigegeben sind Faksimiles der Titelseite und des Vorwortes aus dem Originaldruck der Oden von 1741. 1927 edierte Max Seiffert unter der Ägide von Hermann Abert den Doppelband 61/62 mit der Musique de Table unter dem Titel „Tafelmusik. Hamburg 1733“. Der Band enthält neben dem Notenteil Faksimiles des Originaltitels (S. VII) und des Subskribentenverzeichnisses (S. IXff.). Auch die Zwischentitel sind Faksimile-Wiedergaben. Der Generalbass wurde nicht ausgesetzt, Vorwort und Revisionsbericht in ein Beiheft ausgelagert.4 Die Einführung berücksichtigt unterschiedliche Aspekte: Seiffert eruiert das Erscheinungsjahr des Werkes, schätzt die Auflagenhöhe und würdigt ausführlich den Verleger Telemann. Die Beschreibung der Gattungen erforderte am Beispiel der Ouver____________ 4
Max Seiffert, Georg Philipp Telemann (1681–1767). Musique de Table. Ausführungen zu Band LXI und LXII der Denkmäler deutscher Tonkunst, Erste Folge, Leipzig 1927. Die Ausführungen beruhen weitgehend auf: ders., Telemanns „Musique de table“ als Inspirationsquelle für Händel, in: Bulletin de la Société „Union musicologique“ IV, Den Haag 1924, S. 1–28.
Die Editionen der Werke Georg Philipp Telemanns
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türensuite einen musikgeschichtlichen Exkurs, während Concerto, Solo, Trio und Quatuor (Quadro) kürzer charakterisiert und bei ihnen mehr auf die Spezifik der vorliegenden Kompositionen eingegangen werden konnte. Nicht zuletzt setzt sich Seiffert kritisch mit Urteilen über Telemanns Musik auseinander. Einen eigenen Abschnitt widmet er Besetzungsfragen und widerspricht der These Karl Nefs, dass „die Ouverturen-Suiten seit 1700 samt und sonders der Orchestermusik“ zuzurechnen seien (S. 18). Anhand zahlreicher Notenbeispiele zeigt Seiffert, wie Händel mit Themen und Motiven aus der Musique de Table umgegangen ist. Darüber hinaus sind die Sätze, aus denen Händel Inspiration geschöpft hat, im Inhaltsverzeichnis gekennzeichnet. Reichsdenkmale Als erster Band der Serie 1 des Erbes deutscher Musik erschien in der Abteilung „Oper und Sologesang“ 1936 das Intermezzo Pimpinone (TVWV 21:15). Im Vorwort würdigt der Herausgeber Theodor W. Werner das Werk und kritisiert einige Fehlurteile über Telemann, denn weder gebe es hier Tonmalerei, noch seien die Arien weniger differenziert gestaltet als die Rezitative. Die Ausgabe selbst „möchte der Wissenschaft und Kunst zugleich dienen“, aber auch eine „zuverlässige Grundlage für die neue Belebung des Stückes selbst bilden“ (S. VII).5 Verfrüht sei es, stilkritische Einordnungen vornehmen zu wollen (S. VII). Als die besten Kenner Telemanns werden Seiffert und Schneider zitiert, wobei auf die im Vorwort zu DDT 28 niedergelegten Forschungen hingewiesen wird, aber auch auf die 1931 erschienene Telemann-Biographie von Erich Valentin.6 Der Kritische Bericht umfasst die detaillierte Beschreibung der Quellen (Stimmendruck aus Telemanns Verlag, Partiturabschrift und Generalbassauszug); der Druck als Hauptquelle für die Edition wird eingehend beschrieben (S. 103). Eine Spartierung, auf der im Jahr 1926 eine Aufführung fußte, wird erwähnt (S. 103). Das Editionsprinzip ist das einer Urtextausgabe. Es gibt nur wenige, in der Partitur nicht gekennzeichnete, aber in den Einzelanmerkungen verzeichnete Zusätze, denn die unter Telemanns Anleitung und teilweise von seiner Hand gestaltete Vorlage sei sehr präzise ausgezeichnet. Hinzugefügt wurden Generalbassziffern und Überschriften, von denen nur vereinzelte in der Quelle zu finden sind. Beschrieben und für die Kollationierung herangezogen wurde auch der Textdruck. Beigegeben sind ein Porträt Telemanns, eine Ansicht Hamburgs, Titel und erste Seite des Textdruckes, eine Seite der Partiturhandschrift, eine aus dem Stimmheft des Pimpinone mit ____________ 5 6
Noch heute hat der Verlag Schott das Leihmaterial im Katalog. Erich Valentin, Georg Philipp Telemann, Burg bei Magdeburg 1931.
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der Arie „So quel, che si dice“ und eine Seite des Generalbassauszuges mit dieser Arie. Im 1938 erschienenen ersten Band der Abteilung Orchestermusik (Band 11 der Reichsdenkmale) „Gruppenkonzerte der Bach-Zeit“ sind Telemanns Concerto D-Dur für drei Trompeten, Pauken, zwei Oboen, Streicher und Basso continuo 1716 (= Ouvertüre zur Serenata TVWV 12:1a, TWV 54:D3) und das Concerto B-Dur für zwei Blockflöten, zwei Oboen, Violine, zwei Violen und Basso continuo (TWV 54:B2) enthalten, neben Concerti von Johann Friedrich Fasch und Johann David Heinichen. Ausschlaggebend für die Auswahl der Kompositionen war die „Buntheit der Besetzungen“. Titel wie Vorwort des Bandes nehmen auf Johann Sebastian Bach Bezug – dessen Concerts avec plusieurs instruments seien nicht als Gebrauchsmusik anzusehen wie so viele andere Concerti der Zeit. Womit der Herausgeber Karl Michael Komma Bach zum vorbildlichen Komponisten „deutscher Orchesterkunst“ erklärt, dessen „kostbare Leistungen“ aber nicht als Maßstab für die Arbeiten der Zeitgenossen zu nehmen seien (S. V). Telemanns Concerto D-Dur hebe mit „Händelscher Mächtigkeit“ an, das in B-Dur sei in seiner „Bachnähe“ geradezu „erstaunlich“ (S. VI). Zeugen solche Bemerkungen von einem Wandel, bei dem an die Stelle der kontextualisierenden Methode Schneiders und Seifferts an Denktraditionen des 19. Jahrhunderts orientierte Betrachtungsweisen treten, so wird als Prinzip die Wiedergabe des Notentextes möglichst nahe an der Quelle mit Kennzeichnung sämtlicher Zusätze beibehalten. Denn die „Ausgabe soll ein möglichst getreues Bild der geschriebenen oder aus den Stimmen zusammengefügten Partituren ergeben“ (S. VI).
II.
Einzelausgaben, Praktische Ausgaben
Außerhalb der Denkmälerreihen erschienen bald Ausgaben einzelner Kammermusikwerke. Für zwei der frühesten zeichnete Max Seiffert verantwortlich; beide sind bibliophile Drucke, die in nur wenigen nummerierten Exemplaren ausgegeben wurden. 1914 erschienen im Verlag und Antiquariat Leo Liepmannssohn als Band 2 der „Veröffentlichungen der Ortsgruppe Berlin der Internationalen Musikgesellschaft“ die Singe-, Spiel- und Generalbaß-Übungen (TVWV 25:39–85).7 In seiner Einleitung verknüpft Seiffert die Anforderung an „Gesangslehrer und -lehrerinnen an höheren Lehranstalten in Preußen“, einen Generalbass des 17. oder 18. Jahrhunderts aussetzen zu können, ____________ 7
Die Ausgabe wurde vom Bärenreiter-Verlag übernommen und ist auch heute noch erhältlich (BA 887).
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mit dem Anliegen, Telemanns Werk bekannt zu machen. Die Edition folgt der Vorlage, indem der Neudruck „in allem Wesentlichen das Original getreulich“ wiedergibt, „Abweichungen“ vom Original werden in kurzen allgemeinen Bemerkungen tabellarisch mitgeteilt. Beigegeben sind Faksimiles der ersten Notenseite sowie des Titelblattes nach dem Exemplar der Königlichen Bibliothek in Berlin. Außerdem wird Telemanns kurzes Vorwort abgedruckt. Seiffert verzichtet auf eine Modernisierung der Orthographie der Worttexte und der die Konstellationen des Generalbasses erläuternden Fußnoten. Das zweite von Seiffert herausgegebene Werk, die Fantaisies pour le Clavessin (TWV 33:1–36), erschien 1923 im Verlag von Martin Breslauer.8 Im Vorwort werden die bisherigen Aktivitäten zur Erschließung von Telemanns Leben und Werk zusammengefasst. Dabei verweist Seiffert auf die bereits vorhandenen Denkmälerbände, die Arbeiten Max Schneiders und den Katalog der großen Ausstellung, die anlässlich des 9. Bachfestes in Hamburg konzipiert wurde und zeigte, welch herausragende Rolle Telemann in der Musikgeschichte dieser Stadt gespielt hat.9 Auch sei man dabei, eine „umfassende Bibliographie der Werke Telemanns als unerläßliche Grundlage für die gerechte, allseitige geschichtliche Würdigung des Meisters“ (S. [V]) zu schaffen. Die vorliegende Ausgabe der Klavierfantasien füge sich in „die Kette dieser Arbeiten“ ein. Durch die Veröffentlichung werde auch überprüfbar, inwieweit die Bedeutung der Fantasien für die „zeitgenössische Klavierkunst“ in der Geschichte der Klaviermusik10 zutreffend eingeschätzt worden sei (S. [V]). Außerdem gibt Seiffert eine kurz gefasste Einführung in die Geschichte der Klaviermusik des 18. Jahrhunderts. Die Ausführungen werden ergänzt durch Hinweise auf die Auflösung der wichtigsten Verzierungszeichen, „da dem Herausgeber eine Urtextausgabe oblag, die nur in den dringendsten Fällen den veränderten Gepflogenheiten unserer Zeit entsprechend am originalen Druckbilde ändern durfte“ (S. VII). Die geringe Anzahl von Fehlern im als Vorlage dienenden Originaldruck erklärt Seiffert mit dem großen Anteil, den der Komponist selbst an der Herstellung hatte. Änderungen und Korrekturen, welche die Schlüsselung und Setzung der Akzidentien betreffen, werden mitgeteilt. ____________ 8 9
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Die Ausgabe wurde vom Bärenreiter-Verlag übernommen (BA 733), wobei das Vorwort leicht gekürzt und damit aktualisiert wurde. Die Musik Hamburgs im Zeitalter Seb. Bachs. Ausstellung anläßlich des neunten deutschen Bachfestes zu Hamburg 3.–7. Juni 1921 in Gemeinschaft mit dem Hamburgischen Staatsarchiv und dem Hamburgischen Museum für Kunst und Gewerbe veranstaltet von der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek, Hamburg 1921. – Im Vorwort wird dem Vorstand „des Fürstl. Instituts für musikwissenschaftliche Forschung zu Bückeburg“ – Seiffert – gedankt, der „die ganze Fülle seiner Sachkenntnis in den Dienst des Unternehmens“ gestellt habe (S. VIII). Max Seiffert, Geschichte der Klaviermusik, hrsg. als dritte, vollständig umgearbeitete und erweiterte Ausgabe von C. F. Weitzmann’s Geschichte des Klavierspiels und der Klavierliteratur, Bd. 1: Die ältere Geschichte bis um 1750, Leipzig 1899, S. 350–357.
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Ab den 1920er Jahren erschienen weitere dem Urtextgedanken verpflichtete Einzelausgaben,11 in den 1940er Jahren auch noch solche, die vor dem Krieg konzipiert worden waren.12 Im ersten Jahrzehnt der Telemann-Urtextausgabe wies man nach dem Vorbild Seifferts im Vorwort in aller Kürze auf die Bedeutung Telemanns hin, machte anhand der aktuellen wissenschaftlichen Literatur und der Kompositionen Vorschläge für die Datierung und gab Hinweise für die Ausführung. Der Revisionsbericht zählte die Quellen auf und beschrieb diejenige, nach der die Ausgabe erarbeitet worden ist.13 Doch nahm der Umfang der Vorbemerkungen bald ab, in manchen Fällen wurden nur noch Hinweise zur Ausführung von Verzierungen gegeben.14 Sowohl zu Band 28 wie auch zu Band 61/62 der DDT stellten die Verlage Aufführungsmaterialien bzw. Einzelausgaben zur Verfügung. Die Partitur der Tafelmusik wurde dafür um interpretierende Zusätze erweitert, der Stimmensatz enthielt eine Cembalostimme mit ausgesetztem Generalbass. Bearbeitende Ausgaben, die den „Bedürfnissen und Bedingungen der jeweils aktuellen Aufführungspraxis Rechnung“ tragen,15 spielen in der frühen Zeit der Telemann-Edition eine eher untergeordnete Rolle. Doch hatten Bearbeitungen insofern eine gewisse Wirkung, als auf ihrer Basis Fehlurteilen über den Komponisten Telemann Vorschub geleistet wurde, wie bei der Beurteilung der Oper Der geduldige Socrates (1934 in Krefeld aufgeführt) oder der der Matthäuspassion von 1730, die Kurt Redel 1930 bearbeitet hatte.16 ____________ 11
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Einige der Initialausgaben: Zwölf Phantasien für Geige allein (TWV 40:14–25), Wolfenbüttel 1927 (Möseler), 20 Kleine Fugen (TWV 30:1–20), Hannover 1928 (Nagels Musikarchiv), Triosonate E-Dur aus den Essercizii musici (TWV 42:E4), Hannover 1928 (Nagels Musik-Archiv), Duett G-Dur für „Flöte und Violine“ aus dem Getreuen Music-Meister (TWV 40:111), Hannover 1928 (Nagels Musik-Archiv), Leichte Fugen (TWV 30:21–26), Kassel 1929 (Bärenreiter). Weitere Nachweise bei Martin Ruhnke, Artikel Telemann, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Friedrich Blume, Bd. 13, Kassel 1966, Sp. 206–208. Wie Schneiders Ausgabe der Trietti metodichi; Schneider schreibt am 8. Februar 1944 an Max Seiffert bezüglich der Zerstörung des Verlages Breitkopf in Leipzig: „Auch Telemanns fertig gewesene ‚Trii metodichi‘ scheinen dahin zu sein. Davon habe ich aber wenigstens das Manuskript noch.“ Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky Hamburg, Handschriftenabteilung, Sign. NGuF: Bda: Sch: 1. Ich danke Herrn Dr. Jürgen Neubacher für die Mitteilung dieses Briefes. Als Beispiel einer gut kommentierten Urtextausgabe für die Praxis darf die Ausgabe der Violinfantasien (Wolfenbüttel 1927) gelten. Vgl. Die Kleine Kammermusik, Kassel 1936 (Bärenreiter) oder die beiden Kantaten aus dem Harmonischen Gottesdienst, Kassel 1933 (Bärenreiter). Christian Martin Schmidt, Art. Editionstechnik, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Sachteil, Bd. 2, Kassel, Stuttgart 1995, Sp. 1663. Martin Ruhnke, In welchem Maße werden zur Zeit in der Musikwissenschaft die Ergebnisse der Quellenforschung benützt und gewürdigt?, in: Quellenforschung in der Musikwissenschaft, in Verbindung mit Wolfgang Rehm und Martin Ruhnke hrsg. von Georg Feder (= Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 15), Wolfenbüttel 1982, S. 125 und 128.
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Überhaupt scheint ab den 1930er Jahren der Aspekt der modernen Aufführung an Bedeutung zu gewinnen, wodurch nun auch Interpreten begannen, sich als Telemann-Herausgeber zu betätigen.17 Reihen wie Hortus musicus oder Nagels Musik-Archiv blieben dabei, für die praktische Wiederbelebung der Werke gedachte Urtextausgaben herauszugeben. Auch die DDR-Verlage veröffentlichten Urtextausgaben, die wie die ersten Ausgaben Seifferts mit kommentierenden Vorbemerkungen und Revisionsberichten versehen wurden.18
III.
Telemann-Auswahlausgabe19
Vorbereitungen, 1950 bis 1960 Seit den späten 1930er Jahren nahmen auf Drängen und in Verbindung mit Max Seiffert die Vorbereitungen für eine Telemann-Ausgabe Gestalt an. Seiffert schwebte eine Gesamtausgabe vor.20 1931, aus Anlass des 250. Geburtstages Telemanns, hatte er versucht, „für den immer noch fehlenden Dritten im Dreigestirn der Vorklassiker deutscher Musik eine Telemann-Gesellschaft ins Leben zu rufen“, die sich „die Bibliographie und die geistige Wegbereitung einer künftigen Gesamtausgabe zur Aufgabe“ machen sollte.21 Seifferts Bemühen um eine Telemann-Edition wurde erneuert, als ein Interesse Karl Vötterles zu erkennen war, der Telemanns „Größe und Erfindungskraft“ bewunderte. ____________ 17
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Martin Ruhnke kritisierte diese Praxis streng; vgl. Martin Ruhnke, Bemerkungen zu zwei Telemann-Neuausgaben, in: Die Musikforschung 18 (1965), S. 312–314 und ders., In welchem Maße (wie Anm. 16). Ute Poetzsch, Editionen Telemannscher Werke in den Musikverlagen der DDR, in: Georg Philipp Telemann – Werküberlieferung, Editions- und Interpretationsfragen. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz anläßlich der 9. Telemann-Festtage der DDR, Teil 3, Köln 1991. Martin Ruhnke, Zum Stand der Telemann-Forschung, in: Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongreß Kassel 1962, hrsg. von Georg Reichert und Martin Just, Kassel [u. a.] 1963; ders., Telemann-Forschung 1967. Bemerkungen zum „Telemann-WerkeVerzeichnis“, in: Musica 21 (1967), Heft 1, S. 6–10; ders., Telemann-Ausgabe, in: Musikalisches Erbe und Gegenwart. Musiker-Gesamtausgaben in der Bundesrepublik Deutschland, im Auftrag der Stiftung Volkswagenwerk hrsg. von Hanspeter Bennwitz, Georg Feder, Ludwig Finscher und Wolfgang Rehm, Kassel [u. a.] 1975, S. 89–93; ders., In welchem Maße (wie Anm. 16); sowie ders., Zur Ausgabe, in: Telemann Ausgabe, Bd. 20 (1967) bis Bd. 36 (2003). 1953 berichtet Richard Lauschmann: „Sehr am Herzen lag ihm als alter Wunsch die Gesamtausgabe der Werke Georg Philipp Telemanns, deren erste Bände er noch druckfertig machen konnte.“ Richard Lauschmann, Dem Gedächtnis Prof. D. Dr. Max Seifferts, in: Schleswiger Nachrichten vom 10.4.1953 (Archiv des Staatlichen Instituts für Musikforschung, Berlin). Für den Hinweis hierauf danke ich Herrn Carsten Schmidt. Max Seiffert an Werner Menke, 30. Dezember 1934, Stadt- und Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt/Main, Abt. Musik, Theater, Film, Slg. W. Menke, Kapsel 14.
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Seiffert gewann Vötterle nicht nur als „Verleger, sondern auch als Anwalt des Herzens für Telemann“.22 Zu Beginn war weiter an eine Gesamtausgabe gedacht worden, wobei nun der „kommenden Generation überlassen“ werden sollte, das Begonnene in dieser Richtung weiterzuführen.23 Konzipiert wurde demnach eine erweiterbare Auswahlausgabe. Der erste Vertrag vom August 1943 bezieht sich auf eine zwanzigbändige Reihe Georg Philipp Telemann. Ausgewählte Werke.24 Vertragspartner waren das Staatliche Institut für deutsche Musikforschung (Max Seiffert), die Niedersächsische Musikgesellschaft Braunschweig (Friedrich Blume), Max Schneider, Fritz Stein und der Bärenreiter-Verlag (Karl Vötterle). Die Ausgabe sollte „in die Reihe der vom Institut betreuten Ausgaben musikalischer Meister“ aufgenommen werden, wobei das Institut sich einverstanden erklärte, die Ausgabe in Verbindung mit der Niedersächsischen Musikgesellschaft durchzuführen (§ 1). Herausgegeben werden sollte die Reihe im Auftrag des Instituts von einem „Sonderausschuß unter Leitung von Max Schneider, Max Seiffert und Fritz Stein“ (§ 2). Die Herausgeber zeichneten in Abstimmung mit dem Institut für Inhalt, Umfang, Editionspraxis, Reihenfolge der Veröffentlichung, aber auch die Ausstattung verantwortlich (§ 2). Noch im Jahr 1943 sollte das Manuskript für den ersten Band fertig gestellt sein; für 1944 waren zwei Bände vorgesehen, danach sollten jährlich ein, höchstens zwei Bände eingereicht werden bzw. erscheinen (§ 9). Die Vertragspartner behielten sich vor, „die Auswahlausgabe zu erweitern“ (§ 9). Auflagenhöhe, Ladenpreis und Lieferbedingungen sollten vom Verlag, dem das „ausschließliche Verlags- und Vervielfältigungsrecht“ zugestanden wurde, im Einvernehmen mit dem Institut festgelegt werden. Er hatte das Recht, Einzelausgaben und Stimmenmaterial herauszugeben (§ 3). Seifferts Entwurf für den Subskriptionsaufruf verschickte Vötterle Ende Januar 1944.25 Änderungswünsche sollten direkt an Seiffert gemeldet werden, der auch Vorschläge zur Preisgestaltung und zu Sondersubskriptionen unterbreitet hatte. Vötterle plädierte für eine unkomplizierte Preisgestaltung und Gesamtsubskription. Max Schneider folgte ihm, regte aber an, trotz Gesamtsubskription eine gewisse Flexibilität zuzulassen.26 Der Aufruf zur Subskription erschien mit leichten Änderungen wohl noch 1944; 1950 wird darauf ____________ 22 23 24 25 26
Karl Vötterle, Haus unterm Stern. Über Entstehen, Zerstörung und Wiederaufbau des Bärenreiter-Werkes, Kassel 1963, S. 220 und 222. Ebd., S. 222. Staatliches Institut für Musikforschung, Nachlass Max Schneider, SM 27–50, Briefe II: Hans Albrecht, 1943–1945. Ebd., Briefe VII: Karl Vötterle, Briefe 1940–1950. Max Schneider an Max Seiffert, 8. Februar 1944 (wie Anm. 12).
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und auf die Rolle Seifferts verwiesen, „der wie kein zweiter eine längst notwendige Gesamtausgabe des Telemannschen Werkes zu einer Lebensaufgabe gemacht und auch die ersten Bände schon vorbereitet hatte“.27 Noch immer scheint der Gedanke einer Gesamtausgabe auf, „die Telemann endlich auf den Platz stellt, der ihm in der Geschichte, wie im Kunstbewußtsein der Musikwelt gebührt“,28 obwohl der Aufruf eindeutig auf eine Auswahl von zuerst 20 Bänden in zwei Reihen zielt. Das Manuskript für den ersten Band, der die Sonate metodiche von 1728 und die Continuation des Sonates methodiques von 1732 enthält, hatte Seiffert 1944 fertig gestellt;29 erschienen ist er 195030 als Band I der nun Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke betitelten Reihe, herausgegeben von der Gesellschaft für Musikforschung. Den Zeitpunkt hatte man bewusst gewählt, denn „die Verwirklichung der Telemann-Ausgabe [sei] zu einer Ehrenpflicht gerade im Bach-Jahr geworden“.31 Ab 1955 wurde die Ausgabe von der Musikgeschichtlichen Kommission e. V. unterstützt.32 In den 1950er Jahren erschienen zwölf Bände, die die Kammermusik ohne Generalbass, den vollständigen Jahrgang Harmonischer Gottesdienst, die Suiten und Concerti für Querflöte und obligates Cembalo, die erste Produktion der Tafelmusik und ausgewählte Ouvertürensuiten enthalten. 1955 war mit sechs neuen Bänden das produktivste Jahr. Diese Produktivität wurde möglich, weil Telemann viele der nun edierten Werke im eigenen Verlag herausgebracht hatte; aus dem handschriftlich überlieferten Korpus wurden lediglich die Ouvertüren ausgewählt. Von Beginn an wurde die Ausgabe beachtet und kritisch begleitet. Gelegentlich wurde bedauert, dass der von Seiffert gesetzte Standard nicht immer gehalten wurde. Insbesondere gerieten die Bände 2 und 3 (die ersten Bände des Harmonischen Gottesdienstes),33 9 (Sechs Suiten für Querflöte, Violine und ____________ 27 28 29 30
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[Karl Vötterle], Aufruf zur Vorbestellung. Georg Philipp Telemann. Auswahlausgabe seiner musikalischen Werke, [Kassel 1950, S. 3]. Ebd., [S. 2]. Das Vorwort ist mit der Orts- und Datumsangabe „Ückeritz auf Usedom, 23. Juli 1944“ unterzeichnet. Vermutlich nur in einer kleinen Auflage; 1955 erschien eine zweite, auf der alle weiteren Nachdrucke fußen. Ruhnke kannte jedenfalls wohl kein Exemplar von 1950, weshalb er das Erscheinen des ersten Bandes der Ausgabe mit Band II 1953 ansetzt (vgl. Ruhnke, Zur Ausgabe [wie Anm. 19]). Aufruf zur Vorbestellung (wie Anm. 27), [S. 3]. Ruhnke, Zur Ausgabe (wie Anm. 19). Alfred Dürr, Georg Philipp Telemann. Der Harmonische Gottesdienst. 72 Solokantaten für 1 Singstimme, 1 Instrument und Basso continuo. Hamburg 1725/26, hrsg. von Gustav Fock. Generalbaß-Aussetzung von Max Seiffert. Teil I: Neujahr bis Reminiscere. Teil II: Oculi bis 1. Pfingsttag. Bärenreiter-Verlag Kassel und Basel (1953). XI und 272 S. (durchpaginiert) =
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Basso continuo)34 und 10 (Sechs ausgewählte Ouvertüren)35 in die Kritik. Hingewiesen wurde auf Irrtümer bei der Interpretation von Quellen, die nur fragmentarische Mitteilung eines wichtigen Dokuments, Unvollständigkeit bei der Erfassung der Quellen, Ungenauigkeiten bei möglichen Datierungen oder die Gestaltung eines Bandes als „Gebrauchsausgabe“, die u. a. auf die Kennzeichnung von hinzugefügten Auszeichnungen verzichte. Einige Fehler der ersten Bände des Harmonischen Gottesdienstes konnten in den folgenden beseitigt werden. Neuorientierung 1960 bis 1992, Werkeverzeichnis Auf Empfehlung der Musikgeschichtlichen Kommission übernahm Martin Ruhnke 1960 die Redaktion der Ausgabe; herausgegeben wurde sie weiterhin von der Gesellschaft für Musikforschung. Ruhnke oblag die fachliche Betreuung, die Ausarbeitung der Editionsrichtlinien und die weitere Planung. Von 1960 bis 1992 erschienen die Bände 13 bis 26 (ohne Band 16, der 1994 herauskam) der nun auf 30 Bände angelegten Ausgabe und die ersten beiden Bände des dreibändigen Supplements mit dem Instrumentalwerkeverzeichnis. Ruhnkes Konzeption trug der Realität der begonnenen Auswahlausgabe, die dem riesigen und in seinen Ausmaßen und Facetten bis dahin noch kaum bekannten Werk gerecht zu werden hatte, Rechnung. Die Vielfalt des Telemann’schen Werkes war demnach auf beschränktestem Raum in möglichster Breite und Ausgewogenheit anhand exemplarischer Werke von besonderer musikgeschichtlicher Bedeutung zu zeigen.36 In den Blick genommen wurden nun verstärkt Vokalwerke – zuerst Passionen, Opern und die geistliche Konzertmusik, dann Gelegenheitswerke. Bei der Instrumentalmusik sollte der Schwerpunkt weiterhin bei den bereits von Telemann selbst verlegten Werken liegen, ergänzt durch Kompositionen aus dem handschriftlich überlieferten Repertoire. Die dreibändige Edition der Musique de Table war 1963 abgeschlossen. Darauf erschien mit der Lukaspassion 1728 (TVWV 5:13) in Band 15 erstmals ____________
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Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke, hrsg. im Auftrag der Gesellschaft für Musikforschung, Bd. II und III, in: Die Musikforschung 7 (1954), H. 3, S. 373–376. Siegfried Hermelink, Georg Philipp Telemann: Musikalische Werke. Band IX: Sechs Suiten für Querflöte, Violine und Basso continuo, hrsg. von Johann Philipp Hinnenthal. Kassel und Basel: Bärenreiter-Verlag 1955, in: Die Musikforschung 14 (1961), H. 2, S. 249f. Heinz Becker, Georg Philipp Telemann: Sechs ausgewählte Ouvertüren für Orchester mit vorwiegend programmatischen Überschriften, hrsg. von Friedrich Noack, Kassel und Basel, Bärenreiterverlag, VIII u. 114 S. (Telemann, Musikalische Werke, Bd. X), in: Die Musikforschung 10 (1957), H. 4, S. 577–581. Ruhnke, Telemann-Ausgabe (wie Anm. 19), S. 90.
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ein exemplarisches Vokalwerk. 1967 und 1969 wurden die Opern Der geduldige Socrates (TVWV 21:9) und Der neumodische Liebhaber Damon (TVWV 21:8) ediert. Die geistliche Konzertmusik war vertreten mit der Donner-Ode (TVWV 6:3a/b) und dem Oratorium Das befreite Israel (TVWV 6:5). Aus dem handschriftlich überlieferten Repertoire der Concerti wurden 12 Violinkonzerte und Konzerte für mehrere Instrumente ausgewählt. Unter dem nicht zutreffenden Titel Zwölf Pariser Quartette (Nr. 1–6 bzw. 7–12)37 erschienen die Hamburger Quadri von 1730 und die in Paris aufgeführten und dort 1738 gedruckten Nouveaux Quatuors. Ein Band enthält die Scherzi melodici und die Sonates Corellisantes, ein weiterer die Six Quatuors ou Trios. Vorgesehen waren das Passionsoratorium Seliges Erwägen (TVWV 5:2) und die einzige im 18. Jahrhundert gedruckte liturgische Passion, die Johannes-Passion 1745 (TVWV 5:30), dazu die drei Sammlungen Moralische Kantaten. Die von Ruhnke entwickelten Editionsrichtlinien entsprechen „im wesentlichen den Richtlinien anderer wissenschaftlicher Ausgaben und dienen dem Ziel, einen für den modernen Benutzer lesbaren, aber wissenschaftlich einwandfreien Notentext zu bieten.“38 Zusätze werden gekennzeichnet, über Weiteres berichten die Einzelanmerkungen. Ediert wird nach einer Hauptquelle. Das Vorwort soll Informationen über die musikgeschichtliche Bedeutung des veröffentlichten Werks, die Gattung und Telemanns Beitrag zur Gattung bereitstellen und wenn möglich Einzelheiten zur Entstehungs-, Überlieferungsund Rezeptionsgeschichte mitteilen. Martin Ruhnke ging zu Recht davon aus, dass eine Auswahl aus einem umfangreichen Werk nur auf der Basis eines Überblicks über ein Gesamtwerk getroffen werden kann,39 weshalb er die Erstellung eines Werkeverzeichnisses als notwendige und vordringliche Aufgabe ansah. Für das Vokalwerk sollte auf die Arbeiten Werner Menkes zurückgegriffen werden, der in den 1930er Jahren begonnen hatte, die Quellen sämtlicher Vokalwerke zu verzeichnen, was er dann im Auftrag des Staatlichen Instituts für Musikforschung mit Unterstützung Max Seifferts weiterführte.40 Zu einzelnen Werkgruppen der Instrumentalmusik hatte es bereits verschiedene Studien gegeben, die teilweise überholt waren, so dass Ruhnke selbst das Instrumentalwerkeverzeichnis neu konzipierte.41 In Umrissen stand der Plan für das Werkeverzeichnis Ende 1960 fest. Ab ____________ 37 38 39
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Bei der Nachauflage 2000 wurden die Titel den Originaltiteln angepasst. Ruhnke, Telemann-Ausgabe (wie Anm. 19), S. 91. Ebd., S. 90; Martin Ruhnke, Vorwort zu: Georg Philipp Telemann, Thematisch-systematisches Verzeichnis seiner Werke. Telemann-Werkverzeichnis (TWV). Instrumentalwerke, Bd. 1, Kassel [u. a.] 1984, S. VIIf. Materialsammlung in der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt Johann Christian Senckenberg, Abt. Musik, Theater, Film, Sign. HB 20:H 800. Ruhnke, Zum Stand der Telemann-Forschung (wie Anm. 19).
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1961 unterstützte die Deutsche Forschungsgemeinschaft das Unternehmen, 1967 forderte Ruhnke ein schnelles Erscheinen, da er einen Zusammenhang zwischen mangelhafter Quellenkenntnis und unzulänglichen Ausgaben sah.42 Ein erstes modernes „Vor“verzeichnis für einen Teilbereich, das die von ihm entwickelten Prinzipien und seine Nomenklatur verwendete, erschien 1969 mit dem Verzeichnis der Ouvertürensuiten von Adolf Hoffmann.43 Werner Menke sollte auf der Grundlage seiner Vorarbeiten das Vokalwerkeverzeichnis nach Ruhnkes Richtlinien erstellen. Dazu kam es nicht, weil Menke seine Mitarbeit aufkündigte und das zweibändige Vokalwerkeverzeichnis separat veröffentlichte.44 Die systematische Erschließung von Gelegenheitswerken, insbesondere der Musiken für Kircheneinweihungen in Hinblick auf Bestand, Quellenlage, Gattung und in Vorbereitung auf eine Auswahl für die Edition stand Ende der 1980er Jahre im Mittelpunkt eines von Ruhnke geleiteten Forschungsprojekts.45 Seit Martin Ruhnke die Redaktion übernommen hatte, prägte dieser nicht nur die Ausgabe entscheidend, sondern auch die Telemannforschung insgesamt,46 die er in den akademischen Diskurs einführte und für die er wesentliche Standards setzte. 1992 bis heute 1992 wurde die Telemann-Auswahlausgabe in das von der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften in Mainz koordinierte Akademienprogramm aufgenommen und eine Arbeitsstelle in Magdeburg47 eingerichtet. Ruhnke, seit 1960 faktisch Herausgeber, wurde es nun auch nominell, als Mitherausgeber wurde Wolf Hobohm gewonnen.48 Der neue Plan sah 60 Bände vor, wobei Ruhnke damit rechnete, dass bis 2005 42 Bände sowie die drei geplanten Supplementbände erschienen sein würden, nach denen eine Erweite____________ 42 43
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Ruhnke, Telemann-Forschung 1967 (wie Anm. 19), S. 9. Adolf Hoffmann, Die Orchestersuiten Georg Philipp Telemanns TWV 55 mit thematischbibliographischem Werkverzeichnis, Wolfenbüttel 1969, S. 5; Ruhnke, Vorwort (wie Anm. 39), S. IX. Das Verzeichnis der Werkgruppe 55 ist im dritten Band des TWV aufgegangen. Werner Menke, Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke von Georg Philipp Telemann, Bd. 1: Cantaten zum gottesdienstlichen Gebrauch, Frankfurt/M. 1982, Bd. 2, Frankfurt/M. 1983. Wolfgang Hirschmann, Bericht über das Forschungsprojekt „Gelegenheitsmusiken von Georg Philipp Telemann – Untersuchungen zu Struktur, Funktion und gattungsgeschichtlichen Kontexten“. In: Telemann-Gesellschaft e. V. (Internationale Vereinigung). Mitteilungsblatt Nr. 1, Dezember 1991. So auch mit seinem umfassenden Artikel Telemann (wie Anm. 11). Zugeordnet dem Zentrum für Telemann-Pflege und -forschung. Ruhnke, Zur Ausgabe (wie Anm. 19).
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rung möglich wäre. Doch wurde 1998 die Laufzeit auf 2010 und die Zahl der Bände auf 50 begrenzt. Die Breite des Telemann’schen Œuvres konnte nun in nur noch 18 Bänden entfaltet werden; erschienen waren inzwischen die Festmusiken zur Geburt eines kaiserlichen Prinzen 1716 (TVWV 12:1) in zwei Bänden, die Kapitänsmusik 1730 (TVWV 15:5), die Johannes-Passion 1745 (TVWV 5:30), die Ramler-Oratorien Die Hirten bei der Krippe zu Bethlehem (TVWV 1:797) und Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu (TVWV 6:6) sowie ein Band mit Streicherkonzerten und -sonaten. Der Editionsplan umfasste weiterhin die Hamburger Bearbeitung einer Oper von Georg Friedrich Händel, mit dem Passionsoratorium Der Tod Jesu (TVWV 5:6) das dritte Werk der Ramler-„Trilogie“, das zusammen mit dem Schwesterwerk Betrachtung der neunten Stunde (TVWV 5:5) herauszugeben war, und die Vertonung des berühmten Passionsoratoriums von Barthold Heinrich Brockes (TVWV 5:1) aus dem Jahr 1716. Neu in Angriff genommen wurde die Edition des Seligen Erwägens (TVWV 5:2) von 1722, dessen Text Telemann selbst besorgt hatte. Die Essercizii musici sollten noch einmal eines der von Telemann selbst verlegten Instrumentalwerke repräsentieren. Modifiziert wurde der Plan wegen der Rückführung der ausgelagerten Bestände der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg mit der einzigen Quelle für die Oper Emma und Eginhard (TVWV 21:25) aus St. Petersburg, wodurch das nicht nur für die Geschichte der Hamburger Oper höchst bedeutungsvolle Werke wieder edierbar wurde. Aus dem Rücktritt Martin Ruhnkes im Sommer 2003 und der Evaluierung des Vorhabens resultierten neue Veränderungen. 2004 berief die Union der Akademien der Wissenschaften, jetzt selbst Herausgeberin, ein Projektleitungsgremium. Der Editionsplan wurde überarbeitet mit dem Ziel einer weiteren Schärfung des Profils der Ausgabe als Auswahlausgabe. So entschloss man sich, die von der historischen Selektion besonders stark betroffene Werkgruppe der Opern in allen erhaltenen Werken darzustellen und nach der Edition von Miriways (TVWV 21:24), Flavius Bertaridus (TVWV 21:27) und Sieg der Schönheit (TVWV 21:10) um die bis dahin noch ausstehende Edition der Oper Orpheus (TVWV 21:18) zu ergänzen. Ein Band sollte die Werkgruppe der deutschsprachigen Kammerkantaten anhand der drei gedruckten Sammlungen Moralischer Kantaten und der handschriftlich überlieferten Kammerkantaten darstellen. Weiterhin im Plan blieben der Grand Motet „Deus judicium regi da“ (TVWV 7:7) und ein Band mit Kircheneinweihungsmusiken. Im Editionsplan von 1992 hatte Ruhnke als Forschungsauftrag für die Arbeitsstelle formuliert, „das schwierige Problem zu lösen […], wie man aus den ungeheuer zahlreichen Kirchenkantaten eine sinnvolle Auswahl treffen kann“, womit sich „eine besonders schwierige Aufgabe“ stelle, denn es sei „erst nach
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dem intensiven Studium der restlichen über 1300 erhaltenen Kantaten“ möglich, Prinzipien für die Auswahl festzulegen.49 Es zeigte sich, dass Telemanns Kantatenwerk hauptsächlich in Jahrgängen strukturiert ist. Ein Jahrgang besteht, dem Kirchenjahr mit seinen Perikopen folgend, aus 72 Einzelkompositionen. Telemann gestaltete seine Jahrgänge als individuelle Werke, deren Texte er nach Möglichkeit bei guten und theologisch kundigen Dichtern in Auftrag gab.50 Die Edition eines Jahrgangs würde sechs Bände füllen. Da die charakteristische Gestaltung eines Jahrgangs jedoch auch an zusammenhängenden Abschnitten erkennbar ist, wurde festgelegt, in einem Band jeweils eine Reihe von zwölf aufeinander folgenden Kompositionen zu edieren. Begonnen wurde mit dem 1. Advent des frühesten erhaltenen Jahrgangs Geistliches Singen und Spielen aus dem Jahr 1710/1711, wobei auch die für die Zeit bis zum Sonntag nach Weihnachten erhaltenen Zweitvertonungen von 1717/1718 berücksichtigt wurden. Fortgesetzt wurde mit zwölf Kompositionen aus dem 1714/1715 erstaufgeführten Französischen Jahrgang und dem sich anschließenden Abschnitt des Kirchenjahres ab Neujahr. Ein weiterer Band enthält eine Folge von zwölf Stücken ab Estomihi.
IV.
Editionsprinzipien
In den Editionsrichtlinien der Telemann-Ausgabe sind die Prinzipien der klassischen Denkmäler- und Urtexttradition aufgehoben. Dem Charakter der Ausgabe als Work in progress gemäß, regeln die Richtlinien die Grundzüge der Edition, aber nicht jeden Einzelfall. Festgeschrieben ist das Prinzip der Edition nach einer Hauptquelle, der Verzicht auf freie Ergänzungen und Sparsamkeit bei Analogie-Ergänzungen, Kennzeichnung von Zusätzen durch Kleinstich, Kursivierung oder Strichelung, strikte Berichterstattung im kritischen Apparat. Modifiziert wurde dieser Rahmen durch die Übernahme der deutschsprachigen dynamischen Bezeichnungen und Instrumentennamen, die bislang italianisiert worden waren. Bei dem erst neu erschlossenen Gebiet der Edition der gottesdienstlichen Musik ist die Überlieferungsgeschichte des Einzelwerks in den Zusammenhang der Überlieferung des gesamten Jahrgangs zu stellen. ____________ 49 50
Martin Ruhnke, Zur Planung der Telemann-Auswahlausgabe, 1992 (maschinenschriftlich). Ute Poetzsch-Seban, Die Kirchenmusik von Georg Philipp Telemann und Erdmann Neumeister. Zur Geschichte der protestantischen Kirchenkantate in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Beeskow 2006, passim. Vgl. auch Ute Poetzsch, Art. Telemann, Georg Philipp, in: Lexikon der Kirchenmusik, hrsg. von Günther Massenkeil und Michael Zywietz, Bd. 2, Laaber 2013, S. 1299–1304.
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Besondere Konstellationen – wenn etwa unterschiedliche Überlieferungsstränge auf Telemann zurückzuführen oder Quellen unterschiedlicher Rezeptionsstufen erhalten geblieben sind – machen es erforderlich, mitunter zur Quellenedition überzugehen. Insgesamt zielt die Telemann-Ausgabe „auf die Erstellung authentischer Werktexte“, die eine verlässliche Grundlage sowohl für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Telemanns Werk als auch für die stilgerechte Interpretation bieten.51 Jeder Band enthält über den Notentext hinaus das Reihenvorwort, ein Vorwort und den Kritischen Bericht. Im Vorwort werden die Werke oder Werkgruppen musikgeschichtlich eingeordnet und Hintergrund- und Kontextinformationen gegeben. Hingewiesen werden kann hier auch auf Besonderheiten der Kompositionen; weiterhin soll die Quellenlage skizziert und, wenn möglich, sollen Aussagen zur Rezeptionsgeschichte getroffen sowie Hinweise zur Aufführungspraxis gegeben werden. Der Kritische Bericht enthält neben den Quellenbeschreibungen die Erörterung der spezifischen Editionsmethode und die Einzelanmerkungen in tabellarischer Form. Die Titel werden in möglichst enger Anlehnung an die Originaltitel gefasst. Beigegeben werden Faksimiles instruktiver Notenseiten und Faksimiles der Textdrucke. Sind keine Textdrucke erhalten, werden die Texte in der den Noten unterlegten Form abgedruckt. Die seit 2004 in rascher Folge erscheinenden Bände, in deren Textteilen und Kritischen Apparaten sowohl im Sinne von Einzelstudien komplexe Sachverhalte dargestellt als auch aufgrund der Anforderungen des jeweiligen Gegenstandes methodische Ansätze weiterentwickelt werden, weisen eine Vielzahl neuer Erkenntnisse auf, die in ihrer Fülle vermutlich erst nach und nach ihre volle Wirkung entfalten können. Angesichts dessen ist es nach wie vor zu bedauern, dass eine Telemann-Gesamtausgabe nicht in Sicht ist. Die heutige Auswahlausgabe wäre durch ihre profiliert modulare Anlage unschwer erweiterbar. Zu gegebener Zeit könnten einzelne Jahrgänge vervollständigt, aber auch andere Werkgruppen um weitere Kompositionen ergänzt werden. Jedenfalls lag bei Abschluss des Akademienprojekts 2010 mit 50 Bänden und dem Werkeverzeichnis Instrumentalwerke ein wenn auch knapper, so doch instruktiver Überblick über Telemanns Werk vor. Das sich 2011 anschließende Projekt, das vom Land Sachsen-Anhalt und der Landeshauptstadt Magdeburg getragen wird, widmet sich ausschließlich der Kirchenmusik Telemanns. Bis 2022 sollen unter der Leitung von Wolfgang Hirschmann zwölf Bände erscheinen, von denen zehn Kirchenmusik-Jahrgänge präsentieren, einer späte Einzelstücke und einer die Gruppe der fünf großen vokal-instrumentalen Cho____________ 51
Zur Ausgabe, in: Telemann Ausgabe, Bd. 39ff., 2004ff.
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ralbearbeitungen. Innerhalb des Projekts sind Erweiterungen möglich, so dass Bände mit musikgeschichtlich bedeutsam erscheinenden weiteren Werken wie etwa der Pastorelle en Musique zusätzlich ediert werden können.
Ausgaben Denkmäler deutscher Tonkunst Konzert F-Dur (TWV 51:F4), hrsg. von Arnold Schering, Leipzig 1906 (= DDT, 1. Folge, Bd. 29 und 30: Instrumentalkonzerte deutscher Meister) Der Tag des Gerichts. Ino, hrsg. von Max Schneider, Leipzig 1908 (= DDT, 1. Folge, Bd. 28) 24 Oden, hrsg. von Wilhelm Krabbe und Joseph Kromolicki, Leipzig 1917 (= DDT, 1. Folge, Bd. 57) Tafelmusik, Hamburg 1733, hrsg. von Max Seiffert, Leipzig 1927 (= DDT, 1. Folge, Bd. 61 und 62)
Andere Denkmälereditionen Pimpinone, hrsg. von Theodor W. Werner, Mainz 1936 (= Erbe deutscher Musik, Abteilung Oper und Sologesang, Bd. 1) Konzert D-Dur für 3 Trompeten, Pauken, 2 Oboen, Streicher und Generalbaß, Konzert B-Dur für 2 Flöten, 2 Oboen, Violine, 2 Bratschen, Violoncell, Kontrabaß und Generalbaß, hrsg. von Karl Michael Komma, 1938 (= Erbe deutscher Musik, Abteilung Orchestermusik, Bd. 1: Gruppenkonzerte der Bach-Zeit [= Reichsdenkmale, Bd. 11])
Einzelausgaben Singe-, Spiel- und Generalbaß-Übungen (Hamburg 1733/34), hrsg. von Max Seiffert (= Veröffentlichungen der Ortsgruppe Berlin der Internationalen Musikgesellschaft, Bd. 2), Berlin 1914 Fantaisies pour le Clavessin 3 Douzaines, hrsg. von Max Seiffert (= Veröffentlichungen der Musikbibliothek Paul Hirsch Frankfurt a. M., unter Mitwirkung von Paul Hirsch hrsg. von Johannes Wolf, Bd. 4), Berlin 1923 Zwölf Fantasien für Geige allein (1735), hrsg. von Albert Küster, Wolfenbüttel 1926 20 kleine Fugen, hrsg. von Walter Upmeyer (= Nagels Musik-Archiv 13), Hannover 1928 Leichte Fugen und kleine Stücke für Klavier. Fugues légères et petits jeux à clavessin seul, composés par Telemann, hrsg. von Martin Lange, Kassel 1929 Triosonate E-Dur für Flöte, Violine und Continuo (aus „Essercizii Musici“ Trio Nr. 9), hrsg. von Rolf Ermeler (= Nagels Musik-Archiv Nr. 47), Hannover 1930 4 Kantaten aus dem „Harmonischen Gottesdienst“, für den praktischen Gebrauch hrsg. von Werner Tell, Kassel 1932/1933 Die kleine Kammermusik, hrsg. von Waldemar Woehl (= Hortus musicus 47), Kassel 1936 III Trietti metodichi e III Scherzi, hrsg. von Max Schneider, Leipzig 1948
Auswahlausgabe Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke, Kassel usw. 1950ff.
Literaturverzeichnis Becker, Heinz: Georg Philipp Telemann: Sechs ausgewählte Ouvertüren für Orchester mit vorwiegend programmatischen Überschriften, hrsg. von Friedrich Noack, Kassel und Basel, Bärenreiterverlag VIII u. 114 S. (Telemann, Musikalische Werke, Bd. X), in: Die Musikforschung 10 (1957), H. 4, S. 577–581
Die Editionen der Werke Georg Philipp Telemanns
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Die Musik Hamburgs im Zeitalter Seb. Bachs. Ausstellung anläßlich des neunten deutschen Bachfestes zu Hamburg 3.–7. Juni 1921 in Gemeinschaft mit dem Hamburgischen Staatsarchiv und dem Hamburgischen Museum für Kunst und Gewerbe veranstaltet von der Hamburger Staatsund Universitätsbibliothek, Hamburg 1921 Dürr, Alfred: Georg Philipp Telemann: Der Harmonische Gottesdienst. 72 Solokantaten für 1 Singstimme, 1 Instrument und Basso continuo. Hamburg 1725/26, hrsg. von Gustav Fock. Generalbaß-Aussetzung von Max Seiffert. Teil I: Neujahr bis Reminiscere. Teil II: Oculi bis 1. Pfingsttag. Bärenreiter-Verlag Kassel und Basel (1953). XI und 272 S. (durchpaginiert). = Georg Philipp Telemann. Musikalische Werke, hrsg. im Auftrag der Gesellschaft für Musikforschung, Bd. II und III, in: Die Musikforschung 7 (1954), H. 3, S. 373–376 Hermelink, Siegfried: Georg Philipp Telemann: Musikalische Werke. Band IX: Sechs Suiten für Querflöte, Violine und Basso continuo, hrsg. von Johann Philipp Hinnenthal. Kassel und Basel: Bärenreiter-Verlag 1955, in: Die Musikforschung 14 (1961), H. 2, S. 249f. Hirschmann, Wolfgang: Bericht über das Forschungsprojekt „Gelegenheitsmusiken von Georg Philipp Telemann – Untersuchungen zu Struktur, Funktion und gattungsgeschichtlichen Kontexten“. In: Telemann-Gesellschaft e. V. (Internationale Vereinigung). Mitteilungsblatt Nr. 1, Dezember 1991 Hirschmann, Wolfgang: Christian Gottfried Krauses Bearbeitung der Ino-Kantate von Georg Philipp Telemann, in: Telemanns Vokalmusik. Über Texte, Formen und Werke (= Studien und Materialien zur Musikwissenschaft, Bd. 49), Hildesheim 2008, S. 323–339 Hoffmann, Adolf: Die Orchestersuiten Georg Philipp Telemanns TWV 55 mit thematisch-bibliographischem Werkverzeichnis, Wolfenbüttel 1969 Lauschmann, Richard: Dem Gedächtnis Prof. D. Dr. Max Seifferts, in: Schleswiger Nachrichten vom 10.4.1953 Menke, Werner: Thematisches Verzeichnis der Vokalwerke von Georg Philipp Telemann, Bd. 1: Cantaten zum gottesdienstlichen Gebrauch, Frankfurt/M. 1982, Bd. 2, Frankfurt/M. 1983 Poetzsch, Ute: Editionen Telemannscher Werke in den Musikverlagen der DDR, in: Georg Philipp Telemann – Werküberlieferung, Editions- und Interpretationsfragen. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz anläßlich der 9. Telemann-Festtage der DDR. Teil 3, Köln 1991, S. 3–7 Poetzsch, Ute: Art. Telemann, Georg Philipp, in: Lexikon der Kirchenmusik, hrsg. von Günther Massenkeil und Michael Zywietz, Bd. 2, Laaber 2013, S. 1299–1304 Poetzsch-Seban, Ute: Die Kirchenmusik von Georg Philipp Telemann und Erdmann Neumeister. Zur Geschichte der protestantischen Kirchenkantate in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Beeskow 2006 Ruhnke, Martin: Zum Stand der Telemann-Forschung, in: Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongreß Kassel 1962, hrsg. von Georg Reichert und Martin Just, Kassel [u. a.] 1963, S. 161–164 Ruhnke, Martin: Bemerkungen zu zwei Telemann-Neuausgaben, in: Die Musikforschung 18 (1965), S. 312–414 Ruhnke, Martin: Art. Telemann, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Friedrich Blume, Bd. 13, Kassel 1966, Sp. 175–210 Ruhnke, Martin: Zur Ausgabe, in: Telemann Ausgabe, Bd. 20 (1967) bis Bd. 36 (2003) Ruhnke, Martin: Telemann-Forschung 1967. Bemerkungen zum „Telemann-Werke-Verzeichnis“, in: Musica 21 (1967), Heft 1, S. 6–10 Ruhnke, Martin: Telemann-Ausgabe, in: Musikalisches Erbe und Gegenwart. Musiker-Gesamtausgaben in der Bundesrepublik Deutschland. Im Auftrag der Stiftung Volkswagenwerk hrsg. von Hanspeter Bennwitz, Georg Feder, Ludwig Finscher und Wolfgang Rehm, Kassel [u. a.] 1975, S. 89–93 Ruhnke, Martin: In welchem Maße werden zur Zeit in der Musikwissenschaft die Ergebnisse der Quellenforschung benützt und gewürdigt?, in: Quellenforschung in der Musikwissenschaft. In Verbindung mit Wolfgang Rehm und Martin Ruhnke hrsg. von Georg Feder (= Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 15), Wolfenbüttel 1982, S. 123–142 Ruhnke, Martin: Vorwort zu: Georg Philipp Telemann, Thematisch-systematisches Verzeichnis seiner Werke. Telemann-Werkeverzeichnis (TWV). Instrumentalwerke Bd. 1, Kassel 1984 Ruhnke, Martin: Zur Planung der Telemann-Auswahlausgabe, 1992 (maschinenschriftlich)
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Schmidt, Christian Martin: Art. Editionstechnik, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Sachteil, Bd. 2, Kassel, Stuttgart 1995, Sp. 1656–1680 Schneider, Max: Einleitung und Revisionsbericht zu: Georg Philipp Telemann. Der Tag des Gerichts. Ino (= DDT, Bd. 28), Leipzig 1908 Seiffert, Max: Geschichte der Klaviermusik, hrsg. als dritte, vollständig umgearbeitete und erweiterte Ausgabe von C. F. Weitzmann’s Geschichte des Klavierspiels und der Klavierliteratur, Bd. 1, Leipzig 1899 Seiffert, Max: Telemanns „Musique de table“ als Inspirationsquelle für Händel, in: Bulletin de la Société „Union musicologique“ IV, Den Haag 1924, S. 1–28 Seiffert, Max: Georg Philipp Telemann (1681–1767). Musique de Table. Ausführungen zu Band LXI und LXII der Denkmäler deutscher Tonkunst, Erste Folge, Leipzig 1927 Valentin, Erich: Georg Philipp Telemann, Burg bei Magdeburg 1931 [Vötterle, Karl]: Aufruf zur Vorbestellung. Georg Philipp Telemann. Auswahlausgabe seiner musikalischen Werke [Kassel 1950] Vötterle, Karl: Haus unterm Stern. Über Entstehen, Zerstörung und Wiederaufbau des BärenreiterWerkes, Kassel 1963 Zur Ausgabe, in: Telemann-Ausgabe, Bd. 39ff. (2004ff.)
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„… damit auch kein eintziger Thon von diesem vortrefflichen Mann verlohren gehen möchte“: Die Editionen der Werke Georg Friedrich Händels
I.
Händels Rinaldo in Hamburg
Als Georg Friedrich Händels Londoner Debutoper Rinaldo im Jahr 1715 erstmals auf der Hamburger Opernbühne am Gänsemarkt gespielt wurde, war der Bearbeiter Barthold Feind genauestens darauf bedacht, seine deutsche Übersetzung des italienischen Librettos so einzurichten, dass auch in Hamburg die gesamte Musik Händels erklingen konnte: „Die teutsche Poesie betreffend / hat der Ubersetzer des Italiäners Worte / Metro und Verstand gerade / nach des Herrn Capellmeisters Hendels Music, wo es nöthig gewesen / fast sclavisch gefolget / damit auch kein eintziger Thon von diesem vortrefflichen Mann verlohren gehen möchte“1 – diese Überzeugung, dass man „keinen einzigen Ton“ der Musik eines bedeutenden Komponisten verloren gehen lassen sollte, ist im Grunde die zentrale Motivation jeder Musiker-Gesamtausgabe. Und dass ein derartiger Anspruch 1715 im Bereich der Opera seria formuliert wurde, erstaunt umso mehr, als gerade diese Gattung im 18. Jahrhundert durch eine besondere Veränderlichkeit der Werktexte gekennzeichnet war: Bei Wiederaufführungen wurden in der Regel Änderungen am Libretto und am Notentext vorgenommen, so dass sich hier Werkgeschichte in Fassungsgeschichte aufzulösen droht. Auch von Rinaldo liegen uns zwei stark voneinander abweichende Fassungen vor, die in der Hallischen Händel-Ausgabe in zwei Teilbänden veröffentlicht worden sind2 und von denen schwer zu entscheiden ist, welche nun die „eigentliche“ ist: Um im obigen Bild zu bleiben, enthalten beide Fassungen des Werkes durchaus verschiedene „Töne“ Händels, und will man wirklich „keinen einzigen Ton“ der Musik Händels verloren gehen lassen, so muss man beide Fassungen berücksichtigen und editorisch bewahren. ____________ 1
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[Barthold Feind], Kurtzer Vor-Bericht, in: RINALDO, Musicalisches Schau-Spiel / Auf dem grossen Hamburgischen Theatro / Im Monath Novembr. 1715. HAMBURG, gedruckt bey Friderich Conrad Greflingern, ohne Paginierung. David R. B. Kimbell (Hrsg.), Hallische Händel-Ausgabe, Ser. II, Bd. 4/1: Rinaldo. Opera seria in tre atti HWV 7a, Kassel [u. a.] 1993 und Hallische Händel-Ausgabe, Ser. II, Bd. 4/2: Rinaldo. Opera seria in tre atti HWV 7b, Kassel [u. a.] 1996.
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Vor diesem Hintergrund einer starken textlich-musikalischen mouvance der Opera seria,3 ihrer Konzentration auf das jeweilige Aufführungsereignis und ihrer konstanten Offenheit für Umarbeitungen und Brückenschläge zu anderen Werken erstaunt die Aussage Feinds umso mehr: Händels Musik, so scheint es, wurde als so dominant und entscheidend für das multimediale Opernereignis Rinaldo angesehen, wurde als so bedeutsam und herausragend empfunden, dass man keine Änderung am Notentext dulden wollte. Detailanalysen könnten freilich zeigen, dass speziell die Rezitativübersetzungen Feinds sich nicht ohne Eingriffe an den Händel’schen Notentext anpassen lassen4 – aber wichtig in unserem Zusammenhang ist doch der Anspruch, der bereits 1715 an Händels Kompositionen herangetragen wurde: Dass man jeden Ton seiner Musik bewahren müsse.
II.
Privatsammlungen und frühe Drucke
Solch eine Haltung der Musik Händels gegenüber lässt sich bald auch bei verschiedenen adligen Freunden und Gönnern des Komponisten in England nachweisen; auch hier wird das Bestreben deutlich, dass man der Musik Händels möglichst vollständig habhaft werden wollte. So hat etwa Charles Jennens (1700–1773), der Textdichter des Messiah, ab Mitte der 1720er Jahre eine Sammlung von Erstdrucken der Opern Händels angelegt, die er dann nach und nach durch Abschriften vervollständigte: „Die Kopisten wurden angewiesen, nicht allein vollständige Kompositionen, sondern auch frühe Versionen einzelner Sätze und sogar von Abschnitten, die im Autograph gestrichen wurden, abzuschreiben“; Jennens wollte nach 1740 „ein Archiv sämtlicher Werke Händels […] errichten“5 – auch hier war offenbar der Gedanke leitend, „keinen einzigen Ton“ Händels verloren gehen zu lassen. Ähnliche Kollektionen sind von Elizabeth Legh (1694–1734), Anthony Ashley Cooper, 4th Earl of Shaftesbury (1711–1771), Bernard Granville (1699–1775) und seiner Schwester Mary Pendarves (1700–1788) überliefert.6 ____________ 3
4 5 6
Vgl. Michele Calella, Zwischen Autorwillen und Produktionssystem. Zur Frage des „Werkcharakters“ in der Oper des 18. Jahrhunderts, in: Bearbeitungspraxis in der Oper des späten 18. Jahrhunderts. Bericht über die Internationale wissenschaftliche Tagung vom 18. bis 20. Februar 2005 in Würzburg, in Verbindung mit Armin Raab und Christine Siegert hrsg. von Ulrich Konrad (= Würzburger Musikhistorische Beiträge, Bd. 27), Tutzing 2007, S. 32. Detaillierte Analysen dazu bei Hansjörg Drauschke, Händels Opern in Hamburg: Aspekte der Bearbeitung und Anverwandlung, in: Händel-Jahrbuch 57 (2011), S. 147–173. Terence Best, Die Überlieferung der Werke, in: Georg Friedrich Händel und seine Zeit, hrsg. von Siegbert Rampe, Laaber 2009, S. 186. Zu den frühen Händel-Sammlungen vgl. die Überblicke in: Terence Best (Hrsg.), Handel Collections and Their History, Oxford 1993; ders., Die Überlieferung der Werke (wie Anm. 5);
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All diese Sammlungen hatten freilich keinen öffentlichen Charakter: Sie schmückten private Bibliotheken, und ihre Besitzer waren mit Händel mehr oder weniger eng persönlich verbunden. Die Motivation für die damalige Handel Community, sich über die zeitgenössischen Druckausgaben hinaus mit Abschriften der Werke zu versorgen, lag darin, dass zum einen die Drucke mit Instrumentalmusik oft nicht autorisiert und daher unzuverlässig waren (ein besonders eklatantes Beispiel bieten hier etwa die Concerti des Opus 3), 7 dass zum anderen aber die Drucke mit Opern und Oratorien meist nicht die gesamten Notentexte enthielten, sondern nur die musikalischen Höhepunkte, also die Ouvertüren, Arien und (bei den Oratorien) Chöre; außerdem waren die gedruckten Partituren in den Instrumentalstimmen reduziert.8 Tatsächlich kam diesen Druckausgaben eine andere Funktion zu als heutigen Partituren: Sie sollten nicht die vollständige Komposition überliefern und auch keine Grundlage für vollständige Aufführungen bieten, sondern den Kennern und Liebhabern die musikalischen Höhepunkte eines Vokalwerks zur Verfügung stellen, um diese im privaten oder halb-öffentlichen Kreis zu musizieren oder musizieren zu lassen; zugleich ermöglichten die Drucke ein intensives Studium von Händels Musik und förderten damit die – bereits bei Feind greifbare – Konzentration auf den Komponisten und die von ihm gestifteten Text-MusikRelationen.9 „The Most Celebrated Songs in the Oratorio Call’d Athalia Compos’d by M:r Handel“ lautet dementsprechend der Titel des Erstdrucks von Händels 1733 in Oxford uraufgeführtem Oratorium, der in London bei dem Verleger Walsh erschien.10 __________
7
8
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10
und ders. u. a., Sources and Collections, in: The Cambridge Handel Encyclopedia, hrsg. von Annette Landgraf und David Vickers, Cambridge 2009, S. 604–613. Vgl. Donald Burrows, Walsh’s Editions of Handel’s Opera 1–5: The Texts and Their Sources, in: Music in Eighteenth-Century England: Essays in Memory of Charles Cudworth, Cambridge 1982, S. 79–102, und Hans Joachim Marx, Zur Entstehung der „Concerti grossi“ opus 3 von Georg Friedrich Händel, in: Händel-Jahrbuch 34 (1988), S. 57–70. Zu den vor allem bei Händels „Hausdrucker“ Walsh erschienenen Ausgaben vgl. William C. Smith, Handel: A Descriptive Catalogue of the Early Editions, London 1960, und Donald Burrows, John Walsh and his Handel Editions, in: Music and the Book Trade from the Sixteenth to the Twentieth Century, hrsg. von Robin Myers, Michael Harris und Giles Mandelbrote, New Castle (DE) und London 2008, S. 69–104. Vollständige zeitgenössische Druckausgaben erschienen 1738 von Alexander’s Feast HWV 75 und 1743 von Acis and Galatea HWV 49b; vgl. Donald Burrows und Annette Landgraf, Editions, in: The Cambridge Handel Encyclopedia, hrsg. von Annette Landgraf und David Vickers, Cambridge 2009, S. 205f. Dazu genauer Bernhard Jahn, Zwischen Festgemeinschaft und Partiturdruck: Kommunikationstheoretische und mediengeschichtliche Überlegungen zum Kontext barocker Opernaufführungen, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 20 (1995), S. 116–154. Vgl. Stephan Blaut (Hrsg.), Hallische Händel-Ausgabe, Serie I, Bd. 12/2: Athalia. Oratorio in Three Parts HWV 52, Teilbd. 2: Anhang I–III und Kritischer Bericht, Kassel [u. a.] 2006, S. 438f.
200
III.
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Die Arnold-Ausgabe
Von der Idee einer gedruckten Gesamtausgabe als „öffentlicher Angelegenheit“ war die Überlieferungssituation von Händels Werken zu seinen Lebzeiten in zweierlei Hinsicht entfernt: Sammlungen mit dem Anspruch auf Vollständigkeit waren privater Natur und vermengten gedruckte mit handgeschriebenen Anteilen; die veröffentlichten Drucke selbst dienten anderen Zwecken als denen einer Gesamtausgabe. Diese Situation änderte sich erst, als Händel zunächst in England, dann in Deutschland zu einer nationalen Identifikationsfigur aufstieg: Eine Gesamtausgabe der Werke dieses Komponisten erschien dann als nationale Aufgabe; es ging darum, dem „großen Sohn“ der Nation ein monumentales Denkmal in Noten zu errichten. In England bereitete die Handel Commemoration des Jahres 1784 den Weg hin zum Plan einer modernen Gesamtausgabe: By the time of the Handel Commemoration of 1784, when the cult of the master seemed to reach a peak, it had become clear to English musicians that the existing editions were too fragmented and unreliable to be of real value: Handel’s undiminished status as the greatest of composers meant that there was a need for a complete edition, preferably under the direction of a single editor, who should be a musician of stature. Nothing of the sort had ever been contemplated for any composer in any country.11
Charles Burney überliefert 1785 eine entsprechende Ankündigung (zitiert wird die deutsche Übersetzung von Johann Joachim Eschenburg aus demselben Jahr): Se. Majestät der König sowohl, als die Direktoren des Concerts alter Musik; und viele andere Verehrer Händelischer Arbeiten, haben den Wunsch geäußert, daß man eine gleichförmige und vollständige Ausgabe aller seiner Sing- und Instrumentalsachen, in Partitur, in Kupfer stechen möchte. Und Herr R. Birchall hat unlängst einen Subskriptionsplan dazu bekannt gemacht, dessen Ausführung gar sehr zu wünschen ____________ 11
Terence Best, From Walsh to the Hallische Händel-Ausgabe: Handel Editions Past and Present, in: Handel Studies. A Gedenkschrift for Howard Serwer, hrsg. von Richard G. King (= Festschrift Series, Bd. 22), Hillsdale (NY) 2009, S. 8. Der Artikel von Terence Best bietet die bislang beste Darstellung zur Geschichte der Händel-Edition; weitere Gesamtdarstellungen bei Christine Siegert, Überlieferung und Editionen, in: Händels Opern, hrsg. von Arnold Jacobshagen und Panja Mücke, Teilbd. 1 (= Das Händel-Handbuch, Bd. 2, 1), Laaber 2009, S. 377–395, Burrows und Landgraf, Editions (wie Anm. 8) sowie Annette Landgraf, Editing Handel: Collected Editions Past and Present, and Current Approaches, in: Early Music Performer 26 (2010), S. 4–8. Weitere Literatur ist verzeichnet bei Hans Joachim Marx (Hrsg.), An International Handel Bibliography / Internationale Händel-Bibliographie (1959–2009), Göttingen 2009, vor allem S. 39–47, sowie in den durch Jens Wehmann jährlich aktualisierten Bibliographien im Händel-Jahrbuch.
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wäre […]. Das Ganze würde ungefähr aus achtzig Foliobänden bestehen, deren jeder, eins ins andere gerechnet, 150 Seiten stark seyn würde.12
Ab 1787 unternahm Samuel Arnold (1740–1802), der als Organist und Komponist für die Königliche Kapelle wirkte, den Versuch, mit Unterstützung von König Georg III. die Werke Händels in einer Gesamtausgabe vollständig zu edieren. Bis 1797 erschienen immerhin 180 Lieferungen (zu je 48 Seiten), die die englischsprachigen Werke Händels in monumentalen Partitur-Ausgaben erschlossen, in denen aber eine ganze Reihe von Werken seiner italienischen Zeit, vor allem aber die Opern bis auf fünf Werke (Agrippina, Teseo, Giulio Cesare, Sosarme, Il pastor fido III) unediert blieb. Arnold gab die Werke ohne zusätzliche Informationen heraus und ging dafür auf die frühen Drucke zurück, zog aber auch schon Autographe und Abschriften für die Erstellung der Notentexte heran. Darüber hinaus lässt sich beobachten, dass Arnold had access to sources which are now missing, such as, possibly, the performing score of Agrippina, but he found it difficult to produce clear versions of works that Handel had altered often. Arnold’s scores therefore usually offer a mix of different versions.13
So klar es ist, dass die Edition Arnolds nicht den Kriterien einer historischkritischen Ausgabe entsprechen konnte, so offensichtlich ist ihre editionsgeschichtliche Bedeutung: Sie stellt vor allem unter mediengeschichtlichem Blickwinkel – als Versuch einer von der Öffentlichkeit getragenen und auf die Öffentlichkeit gerichteten Druckausgabe aller Werke eines Komponisten in qualitativ hochstehender Ausstattung und mit monumentalem Anspruch – die erste moderne Musiker-Gesamtausgabe dar, auch wenn sie ein Fragment geblieben ist. Arnolds Edition, die auch eine Reihe von Erstausgaben Händel’scher Werke enthält (u. a. La Resurrezione HWV 47, Agrippina HWV 6 und die Ode for the Birthday of Queen Anne HWV 74), scheiterte letztlich an der sinkenden Subskribentenzahl und damit an der Finanzierung. Auch ein erneuter Anlauf um die Mitte des 19. Jahrhunderts, den eine 1843 gegründete Handel Society „for a superior and standard edition of the works of Handel“, unternommen hatte, schlug fehl. Die Ausgabe musste ihr Erscheinen 1848 zusammen mit der Auf____________ 12
13
Johann Joachim Eschenburg, Dr. Karl Burney’s Nachricht von Georg Friedrich Händel’s Lebensumständen und der ihm zu London im Mai und Jun. 1784 angestellten Gedächtnißfeyer, Berlin, Stettin 1785, Nachdruck Leipzig 1965, S. LII. Burrows und Landgraf, Editions (wie Anm. 8), S. 207; vgl. Jacob Maurice Coopersmith, The First Gesamtausgabe: Dr. Arnold’s Edition of Handel’s Works, in: Notes 4 (1947), S. 277– 291, 439–449; Paul Hirsch, Dr. Arnold’s Handel Edition (1787–1797), in: The Music Review 8 (1947), S. 106–116; und Annette Landgraf, Die Händelausgabe von Samuel Arnold, in: Händel Haus-Mitteilungen 1993, Heft 2, S. 23–26.
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lösung der Gesellschaft einstellen; der Verlag Cramer, Beale & Co. setzte die Reihe allerdings bis 1858 als „printed for the Handel Society“ fort.14 Die Edition umfasste insgesamt 14 Werke und Werkkomplexe in 16 Bänden mit vor allem englischsprachiger Vokalmusik;15 Felix Mendelssohn Bartholdy gab innerhalb der Reihe 1845/1846 als 5. Band Israel in Egypt heraus und bekannte sich in einem programmatischen Vorwort zu einer strikten Trennung von überliefertem Notentext und editorischen Zusätzen – eine durchaus moderne und zukunftsweisende Haltung: The Council of the Handel Society having done me the honor to request me to edit “Israel in Egypt,” an oratorio which I have always viewed as one of the greatest and most lasting musical works, I think it is my first duty, to lay before the Society the Score as Handel wrote it, without introducing the least alteration, and without mixing up any remarks or notes of my own with those of Handel. In the next place, as there is no doubt that he himself introduced many things at the performance of his works which were not accurately written down, and which even now, when his music is performed, are supplied by a sort of tradition, according to the fancy of the Conductor and the Organist, it becomes my second duty to offer an opinion in all such cases; but I think it of paramount importance that all my remarks should be kept strictly separate from the Original Score, and that the latter should be given in its entire purity, in order to afford to every one an opportunity of resorting to Handel himself, and not to obtrude any suggestions of mine upon those who may differ from me in opinion.16
IV.
Deutschland im frühen 19. Jahrhundert
Die Bestrebungen um eine öffentliche Gesamtausgabe im Deutschland des späten 18. und 19. Jahrhunderts waren von der Absicht getragen, Händel als musikalische Heroengestalt gleichsam nach Deutschland zurückzuholen. Jo____________ 14 15 16
Burrows und Landgraf, Editions (wie Anm. 8), S. 207. Eine Übersicht der erschienenen Bände bei Burrows und Landgraf, Editions (wie Anm. 8), S. 207 und Landgraf, Editing Handel (wie Anm. 11), S. 5. Felix Mendelssohn Bartholdy (Hrsg.), Israel in Egypt. An Oratorio. Composed in the Year 1738; By George Frederic Handel, London, Printed for the Members of The Handel Society, 1845/46, S. III. Zu Mendelssohns Edition und seinen Händel-Bearbeitungen vgl. Susanna Großmann-Vendrey, Felix Mendelssohn Bartholdy und die Musik der Vergangenheit (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 17), Regensburg 1969; Wilgard Lange, Mendelssohns Händel-Bearbeitungen, in: Georg Friedrich Händel im Verständnis des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Walther Siegmund-Schultze (= Martin-Luther-Universität HalleWittenberg. Wissenschaftliche Beiträge 1984, 38 [G 11]), Halle/Saale 1984, S. 70–77; Rainer Heyink, Original oder Bearbeitung? Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Annäherung an die „Werktreue“ bei Händel, in: Göttinger Händel-Beiträge 6 (1996), S. 254–268; zusammenfassend Bernd Edelmann, Der bürgerliche Händel. Deutsche Händel-Rezeption von 1800 bis 1850, in: Händel unter Deutschen, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musik-Konzepte. Neue Folge, Bd. 131), München 2006, S. 44–48.
Die Editionen der Werke Georg Friedrich Händels
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hann Otto Heinrich Schaum regte 1805 eine deutsche Gesamtausgabe der Werke Händels an; in der Berlinischen Musikalischen Zeitung veröffentlichte er einen entsprechenden Aufruf, in dem er darüber Klage führte, dass „Händel, dieser große deutsche Künstler, dessen Nahme und Nachruhm jedem patriotischen Deutschen höchst ehrwürdig seyn sollte, […] in unserm Vaterlande doch nur so wenig, oder fast gar nicht, gekannt“ sei; „und während die brittische Nation sein Andenken durch die glänzendsten Feierlichkeiten erneuert, schläft dasselbe bei uns, seinen Landsleuten, fast ganz ein“; er forderte „das ganze deutsche musikalische Publikum“ dazu auf, „die Geisteswerke eines verstorbenen Genies wieder herzustellen, und ihm dadurch gleichsam ein immerwährendes Denkmal bei seiner Nation zu setzen“.17 Das Komponistengenie als nationale Identifikationsfigur – dieser Denkhaltung also entsprang die Idee der Gesamtausgaben. Schaums eng an Arnolds Ausgabe angelehnte Edition erschien ab 1822, um bereits nach vier Bänden mit Anthems im Jahr 1825 wieder einzugehen.18 Unrealisiert blieb auch der Plan des Verlags Breitkopf & Härtel, auf der Basis der Händel-Sammlung des Barons Gottfried van Swieten im Anschluss an die Edition der MessiasBearbeitung von Wolfgang Amadé Mozart eine Gesamtausgabe seiner Werke herauszubringen.19 Auch um die Jahrhundertmitte schielte das gebildete Deutschland neidvoll nach England, wenn es um die Frage einer Gesamtausgabe der Musik Händels ging: „In England ist die unbedingte Verehrung dieses Meisters ein musikalischer Glaubensartikel“, heißt es in einem Bericht über die Initiative der Handel Society in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung des Jahres 1844,
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Johann Otto Heinrich Schaum, Über eine deutsche Ausgabe der Händelschen Werke, in: Berlinische Musikalische Zeitung 1 (1805), S. 335–337 und 339–341, zitiert nach Siegfried Flesch, Die Händel-Ausgabe von J. O. H. Schaum, in: Händel-Jahrbuch 39 (1993), S. 106f. Vgl. auch Werner Rackwitz, Neues über J. O. H. Schaum, in: Händel-Jahrbuch 46 (2000), S. 265–294. Eine Übersicht der erschienenen Bände bei Landgraf, Editing Handel (wie Anm. 11), S. 4. Vgl. Reinhold Bernhardt, W. A. Mozarts Messias-Bearbeitungen und ihre Drucklegung in Leipzig 1802–03, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 12 (1929/1930), S. 21–45; Andreas Holschneider, Die musikalische Bibliothek G. van Swietens, in: Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Kassel 1962, Kassel 1963, S. 174–178; Bernd Baselt, Deutsche Händel-Editionen zur Zeit der Wiener Klassik. Ein chronologischer Überblick, in: Georg Friedrich Händel als Wegbereiter der Wiener Klassik, im Auftrag der Georg-FriedrichHändel-Gesellschaft hrsg. von Walther Siegmund-Schultze (= Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Wissenschaftliche Beiträge 1977, 39 [G 4]), Halle/Saale 1977, S. 59f. Zu Mozarts Händel-Bearbeitungen außerdem Ulrich Konrad, „Unter den ältern Komponisten schäzte er am allerhöchsten aber Händeln“ – Wolfgang Amadé Mozart und Georg Friedrich Händel, in: Göttinger Händel-Beiträge 12 (2008), S. 5–31, und Andreas Holschneider, Mozart als Händel-Interpret, in: Göttinger Händel-Beiträge 12 (2008), S. 57–61.
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sie hat nie gewankt und ist in den gegenwärtigen Tagen vielleicht noch in grösserem Maasse vorhanden, als zu seinen Lebzeiten. Dort werden auch seine Werke noch in der originalen Gestalt, ohne Abänderungen und Instrumentalzusätze, aufgeführt; man würde es für einen Frevel halten, an solchen als classisch anerkannten Werken etwas ändern oder bessern zu wollen.20
Händels Musik als die eines Klassikers duldet keine Eingriffe von fremder Hand – die Gesamtausgabe soll der Nachwelt die Werke in gereinigter Form, und das heißt: in ihrer ursprünglichen Gestalt zurückgeben. Das Bestreben um authentische Notentexte ist bis heute eine zentrale Aufgabe von MusikerGesamtausgaben geblieben – auch wenn in Händels Opern und Oratorien, wie anfangs angedeutet, eine Reduktion auf eine authentische Werkgestalt oft gar nicht möglich ist. Der Bericht von 1844 weist des weiteren darauf hin, dass der „in England zu diesem Zwecke gestiftete Verein […] das Unternehmen nicht als ein merkantilisches“ betrachte, sondern „vielmehr als eine Ehrensache der englischen Nation.“21 Diese idealistische Betrachtungsweise scheint allerdings bereits damals nur in begrenztem Maße den Realitäten entsprochen zu haben, denn die Finanzierung derartiger Großunternehmen war auch zu jener Zeit ein Problem und ist es bis heute geblieben.
V.
Die Chrysander-Ausgabe
1856 wurde die Deutsche Händelgesellschaft gegründet mit dem Ziel, die vollständigen Werke des großen Tonkünstlers in einer historisch geordneten und kritisch geläuterten Partitur-Ausgabe mit den Originaltexten und deutscher Uebersetzung, unter Beifügung eines Klavierauszuges zu allen Gesangwerken, zu sammeln und zu veröffentlichen. 22
Der Historiker und Händel-Enthusiast Georg Gottfried Gervinus (1805– 1871)23 war die treibende Kraft hinter dem Editionsvorhaben, das er als eine „vaterländische Unternehmung“ ansah; es müsse „eine historisch-kritische ____________ 20
21 22
23
The Handel Society, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 46 (1844), Sp. 503; vgl. Bernd Baselt, Händel-Edition im Verständnis des 19. Jahrhunderts (Beiträge zur Geschichte der Ausgabe der deutschen Händelgesellschaft, hrsg. von Friedrich Chrysander), in: Georg Friedrich Händel im Verständnis des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Walther Siegmund-Schultze, Halle/Saale 1984 (= Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Wissenschaftliche Beiträge 1984, 38 [G 11]), S. 47. The Handel Society (wie Anm. 20),. Sp. 503; vgl. Baselt, Händel-Edition, ebd., S. 46. Ankündigung einer vollständigen Ausgabe von Händel’s Werken, in: Euterpe 16 (1857), S. 78f., zitiert nach Waltraud Schardig, Friedrich Chrysander. Leben und Werk (= Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft, Bd. 32), Hamburg 1986, S. 41. Zu Gervinus grundlegend Wolfgang Ebling, Georg Gottfried Gervinus (1805–1871) und die Musik (= Beiträge zur Musikforschung, Bd. 15), München, Salzburg 1985.
Die Editionen der Werke Georg Friedrich Händels
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Ausgabe der Werke von Deutschen für Deutschland besorgt werden“, die zugleich ein „Denkmal deutscher Sorgfalt und Gründlichkeit“ darstellen solle.24 Dem Direktorium gehörten Moritz Hauptmann und Siegfried Wilhelm Dehn, der Verlag Breitkopf & Härtel sowie Gervinus und die letztlich für den Fortgang und Abschluss des Unternehmens entscheidende Persönlichkeit, Friedrich Chrysander (1826–1901),25 an. Ein im Dezember 1857 erschienener neuerlicher Aufruf zur bislang eher schleppend verlaufenen Subskription enthält wichtige Formulierungen zur Ausrichtung der Ausgabe nach dem Vorbild der literarischen Klassiker-Ausgaben, zu der Gleichsetzung Händels mit Goethe und Shakespeare, der nationalistischen Grundierung des Vorhabens sowie seinem Denkmalcharakter: Für Nicht-Musiker bleibt die Angelegenheit allerdings nur die eines dem grossen deutschen Manne zu stiftenden würdigen Denkmals in der bis jetzt noch fehlenden Gesammt-Ausgabe seiner Werke, zu dem jeder, der es vermag, seinen Beitrag nicht gern verweigern wird. Für die Musikverständigen aber, auch wenn sie nicht Musiker von Fach sind, verbindet sich diesem allgemeinen Interesse noch das für das zu erlangende Besitzthum selbst. Wenn man dem deutschen Volke ankündigte, dass ein Schatz von unbekannten Werken Göthe’s, an Zahl dem bekannten wenigstens gleich, entdeckt sei und um einen hohen Preis gehoben werden könne, wer würde sich mit dem Fach entschuldigt halten, seinen Einsatz für ein so vaterländisches Opfer zu verweigern? Dieses aber ist der vorliegende Fall! Wir haben in dem Jahrhundert nach Händel’s Tode für seine grossen, in Schutt vergrabenen Kunstwerke zu thun, was die Engländer im Jahrhundert nach Shakespeare’s Tode für ihn und seine Wiederbelebung auf der Bühne gethan haben. Und wir richten noch einmal an die ____________ 24
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Ankündigung einer vollständigen Ausgabe von Händels Werken (1. September 1856), Abdruck in: Ebling, Georg Gottfried Gervinus (wie Anm. 23), S. 134; vgl. Hans Joachim Marx, Das Händel-Bild Chrysanders, in: Händel-Jahrbuch 48 (2002), S. 39ff. Zu Chrysander grundlegend Schardig, Friedrich Chrysander (wie Anm. 22); vgl. auch Werner Rackwitz, Händeliana in Briefen Friedrich Chrysanders an Heinrich Bellermann, in: HändelJahrbuch 45 (1999), S. 220–252, und ders., Friedrich Chrysander, der Judas Maccabaeus und der Deutsch-französische Krieg 1870/71, in: Händel-Jahrbuch 48 (2002), S. 111–125. Zum Verhältnis zwischen Chrysander und Johannes Brahms und zu dessen zeitweiliger Mitarbeit an der Händel-Ausgabe vgl. Gustav Fock, Brahms und die Musikforschung – im besonderen Brahms und Chrysander, Hamburg 1956; Bernd Baselt, Beiträge zur Chrysander-Forschung I: Friedrich Chrysander und Hans von Bülow – eine Dokumentation, in: Händel-Jahrbuch 15/16 (1969/70), S. 123–149; Imogen Fellinger, Das Händel-Bild von Brahms, in: Göttinger HändelBeiträge 3 (1989), S. 235–257; Howard Server, Brahms and the Three Editions of Handel’s Chamber Duets and Trios, in: Händel-Jahrbuch 39 (1993), S. 134–160; Jürgen Neubacher, Ein neuer Quellenfund zur Mitarbeit Johannes Brahms’ an Friedrich Chrysanders Ausgabe von Händels „Italienischen Duetten und Trios“ (1870), in: Die Musikforschung 51 (1998), S. 210– 215; Hans Joachim Marx, Brahms und die Musikforschung, in: Johannes Brahms. Quellen – Text – Rezeption – Interpretation. Internationaler Brahms-Kongreß 1997, hrsg. von Friedhelm Krummacher und Michael Struck in Verbindung mit Constantin Floros und Peter Petersen, München 1999, S. 291–303; sowie ders., Johannes Brahms im Briefwechsel mit Friedrich Chrysander, in: Musik und Musikforschung. Johannes Brahms im Dialog mit der Geschichte, hrsg. von Wolfgang Sandberger und Christiane Wiesenfeldt, Kassel [u. a.] 2007, S. 221–273.
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deutsche Nation vertrauensvoll unsere Bitte und Mahnung, in solch einer wahrhaft vaterländischen Sache nicht zurückzubleiben.26
Im Jahr 1858 konnte dann als erster Band der Händel-Gesamtausgabe das Oratorium Susanna erscheinen.27 Zwei Jahre zuvor hatte Victor Schoelcher, ein Mitglied der Händel-Gesellschaft, die Händel’schen Direktionspartituren erwerben können und stellte die 129 wertvollen Bände der Gesellschaft für die Bearbeitung der Gesamtausgabe zur Verfügung. Bei diesen (von Chrysander erstmals so bezeichneten) „Handexemplaren“ handelt es sich um Partiturabschriften, die seit 1719/1720 von Händels Adlatus John Christopher Smith senior angefertigt worden waren und die als Dirigierpartituren dienten. Die Tatsache, dass Händel und seine Mitarbeiter bei Überarbeitungen der Werke die anfallenden Veränderungen und Ergänzungen in diese Partituren eintrugen, macht die Handexemplare zu ebenso wichtigen wie oft hoch komplizierten Quellen.28 Auch Chrysander erkannte die Bedeutung dieser Quellengruppe: Im Vorwort des ersten Bandes schreibt er dazu, dass „dieser Zuwachs an Quellen […] die Arbeit bedeutend“ vergrößert habe, denn die Handexemplare sind voller Bemerkungen, Aenderungen und Zusätze, die zum Theil nur durch die mühsamsten Untersuchungen zu erledigen waren. Aber gewiss dürfen wir es einen glücklichen Umstand nennen, dass die Vorarbeiten zu dem Unternehmen der deutschen Händelgesellschaft mit Verhältnissen zusammentrafen, die zum ersten Male eine völlig erschöpfende Ausgabe ermöglichten.29
Nun, diese „völlig erschöpfende Ausgabe“, die sich Chrysander und Gervinus vorgenommen hatten, wäre – ähnlich wie die Ausgabe der englischen Handel Society – nach den ersten Bänden wieder eingestellt worden, wenn ihr Entstehen an die tätige Mitwirkung der damaligen Händel-Gesellschaft geknüpft gewesen wäre. Denn das Direktorium der Gesellschaft löste sich bereits 1860 nach internen Querelen auf; der Bach-Forscher Moritz Hauptmann stand Händels Werken sehr kritisch gegenüber und sah nicht ein, ____________ 26
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29
Zitiert nach Ludwig Friedrich Christian Bischoff, Die deutsche Ausgabe von G. F. Händel’s sämmtlichen Werken, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 6 (1858), S. 15; auch bei Ebling, Georg Gottfried Gervinus (wie Anm. 23), S. 142. Zum Shakespeare-Vergleich vgl. Martin Geck, Shakespeare und Händel. Aufstieg, Peripetie und Niedergang eines kulturgeschichtlichen Diskurses, in: Händel unter Deutschen (wie Anm. 16), S. 53–66. Friedrich Chrysander (Hrsg.), Georg Friedrich Händel’s Werke. Ausgabe der Deutschen Händelgesellschaft, Bd. 1: Susanna. Oratorium von Georg Friedrich Händel, Leipzig o. J. [1858]. Grundlegend dazu Hans Dieter Clausen, Händels Direktionspartituren („Handexemplare“) (= Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft, Bd. 7), Hamburg 1972; einen guten Überblick bietet ders., The Hamburg Collection, in: Handel Collections and Their History, hrsg. von Terence Best, Oxford 1993, S. 10–28. Chrysander (Hrsg.), Händel’s Werke (wie Anm. 27), S. III.
Die Editionen der Werke Georg Friedrich Händels
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wozu solche Sachen alle mit enormen Kosten und Arbeiten gedruckt werden sollen, um der wenigen enragirten Händelianer willen – gebraucht werden sie ja doch sicher niemals werden. Es ist doch entsetzlich viel Schlendrian drin. 30
Hinter solchen Überzeugungen steht jenes ausgrenzende Ressentimentdenken, das die Bach-Forschung des 19. Jahrhunderts und noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägte. Chrysander arbeitete zwar mit dem Verlag Breitkopf & Härtel zunächst weiter zusammen, nahm dann aber 1864 nach Kündigung des Vertrages mit dem Verlag auch die Druckherstellung in eigene Hand. Nur die Kassengeschäfte und den Vertrieb überließ Chrysander dem Leipziger Buchhändler und Verleger von Gervinus, Wilhelm Engelmann. So war aus der ursprünglichen Sache der Händel-Gesellschaft ein Unternehmen geworden, dessen Durchführung fast ausschließlich auf den Schultern eines Mannes und seiner Privatinitiative ruhte: Friedrich Chrysander. Ab 1866 lebte er in Bergedorf bei Hamburg und gab Band für Band der Ausgabe heraus, „kaufte das Papier, lernte Setzer, Stecher und Drucker an, nahm die ganze Herstellung auf sich und in sein Haus“, wie der Nachruf Hermann Kretzschmars ausführt,31 druckte also die Bände in seiner hauseigenen Druckerei. Das Unternehmen finanzierte er u. a. aus den Erträgen seiner weltberühmten Kunstgärtnerei. In Georg V. von Hannover fand Chrysander einen Förderer, der die Händelausgabe – allerdings nur bis 1866 – mit einer jährlichen Subvention unterstützte, in Gervinus einen wichtigen Propagandisten der Ausgabe sowie einen geschickten Übersetzer. 1894 war das große Werk so gut wie abgeschlossen. Max Seiffert gab 1902, im Jahr nach Chrysanders Tod, die letzten Bände aus dessen Nachlass heraus, darunter den Messias als Band 45. So liegt also seit 1902 diese erste Händel-Gesamtausgabe als editorische Großtat eines Einzelnen vor,32 auch als (1965 nachgedruckte) englischsprachige Ausgabe33 und inzwischen als Digitalisat im Internet.34 In dem wichtigen Vorwort zum ersten Band der Ausgabe weist Chrysander darauf hin, dass sich bei der „Herstellung der Partituren“ auf der Basis der ____________ 30 31 32 33
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Brief von Moritz Hauptmann an Franz Hauser vom 1. Pfingstsonntag 1860, zitiert nach Schardig, Friedrich Chrysander (wie Anm. 22), S. 48f. Hermann Kretzschmar, Friedrich Chrysander, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 9 (1902), S. 40. Friedrich Chrysander (Hrsg.), G. F. Händel’s Werke. Ausgabe der Deutschen Händelgesellschaft (1858–1902). Friedrich Chrysander (Hrsg.), The Works of George Frederic Handel. Printed for the German Handel Society by Breitkopf & Härtel, Leipzig (1859–1903), Nachdruck Ridgewood (NJ) 1965. Online-Ausgabe (2008) unter http://www.digitale-sammlungen.de.
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Händel’schen Eigenschriften und Handexemplare „eine Menge von Skizzen und Varianten, von historischen und praktischen Bemerkungen angehäuft“ habe, deren Mittheilung jedoch die Bände bedeutend vergrössert haben würde. Ein weiterer Grund, diesen Apparat den Werken nicht beizugeben, war für uns der, dass die Mehrzahl der Mitglieder vor der Hand nur die aufführbare Musik zu besitzen wünscht. […] Um aber Denen, die in die Werkstatt des Meisters, in die Entstehungsgeschichte seiner Schöpfungen eindringen wollen, sowie dem Autor selbst noch völliger Genüge zu thun, sammeln wir alles, was die Handschriften ergeben oder was sonstwie auf die Werke Bezug hat, um es bei hinreichender Zunahme der Zahl der Mitglieder künftig in gesonderten Bänden zu veröffentlichen.35
Niemand wird Chrysander angesichts seiner herkulischen Editionsleistung vorwerfen wollen, dass es zur Publikation dieser Kritischen Berichte, Quellenund Werkkommentare nie gekommen ist. Das, was wir freilich heute von einer kritischen Ausgabe mit großer Selbstverständlichkeit erwarten – dass sie transparent ist, also ihr editorisches Vorgehen und ihre editorischen Entscheidungen, ihre Quellenbasis, die Bewertung der Quellen sowie die Entscheidung, nach welcher Quelle (oder welchen Quellen) ediert wird, klarlegt –, leistet Chrysanders Ausgabe gerade nicht. Man muss zurückgehen zu den Quellen, wenn man Chrysanders editorisches Vorgehen im Einzelnen rekonstruieren und verstehen will. Klar ist freilich, dass Chrysander nicht nur die erste und bislang einzige Ausgabe der Werke Händels erstellt hat, die den Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann – nein, er bietet darüber hinaus auch Händels Musik ohne bearbeitende Fremdzusätze in hervorragend redigierten Bänden, die in der Regel nur wenige Übertragungs- oder Druckfehler aufweisen. Dennoch ließ diese Ausgabe in wachsendem Maße Wünsche offen: nicht nur wegen der mangelnden Transparenz und Begründung der editorischen Methode, sondern auch deshalb, weil Chrysander als ein Kind des 19. Jahrhunderts mit großer Selbstverständlichkeit davon ausgegangen war, dass sich Händels Kompositionen auf einen authentischen Werktext zurückführen lassen. Seine Vorgehensweise war von der Überzeugung getragen, dass Händel, wenn er seine Werke wiederholt umarbeitete, dies tat, um sie, wie Chrysander zu Judas Maccabäus anmerkt, „so abgerundet wie möglich erscheinen zu lassen“;36 mit anderen Worten: Chrysander ging von der Vorstellung einer „Fassung letzter Hand“ aus, die Händels Absicht voraussetzt, „mit der jeweils letzten Fassung eines Werkes seinen ‚letzten Willen‘ kundzutun“.37 Jüngere ____________ 35 36
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Chrysander (Hrsg.), Händel’s Werke (wie Anm. 27), S. IIIf. Friedrich Chrysander (Hrsg.), Georg Friedrich Händel’s Werke. Ausgabe der Deutschen Händelgesellschaft, Bd. 22: Judas Maccabäus. Oratorium von Georg Friedrich Händel, Leipzig o. J. [1866], Vorwort unter IV. Clausen, Händels Direktionspartituren (wie Anm. 28), S. 66.
Die Editionen der Werke Georg Friedrich Händels
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Generationen von Forschern sind in dieser Hinsicht sehr viel skeptischer geworden: Ob es Händel bei seinen Mehrfachbearbeitungen eigener Werke um Perfektionierung ging, ist höchst fragwürdig. Vielmehr scheinen in diesen Bearbeitungen pragmatische Notwendigkeiten – Änderungen im Sängerpersonal, veränderte bühnentechnische Bedingungen – mit ästhetischen Motiven verquickt zu sein, die aber nicht darauf hinauslaufen, das Werk besser, letztgültiger, sondern eher, es anders zu machen, ihm neue Facetten abzugewinnen. Man könnte angesichts dieser mangelnden Perfektionierungstendenz den Begriff der „Urfassung“ ins Spiel bringen, um in der ersten kompositorischen Ausformulierung, die in der Regel in den Autographen niedergelegt ist, die eigentliche Werkgestalt dingfest zu machen – und tatsächlich hat Chrysander gelegentlich auch in diesem Sinne argumentiert, so im Falle der AthaliaEdition als Band 5 der Ausgabe, der er das Autograph, die „Originalhandschrift“, zugrunde legt, weil es „das Werk in vollständig abgerundeter Gestalt enthält“.38 Besonders in der frühen Phase ihrer editorischen Arbeit an der Ausgabe waren sich Gervinus und Chrysander offenbar einig, dass, wie Gervinus in einem Brief von 1861 vermerkt, „der erste Wurf immer der beste“ sei; einige Veränderungen Händels an den autographen Notentexten beurteilt er darin sogar als „wahrhafte Verschlechterungen“.39 Aber auch die „Eigentlichkeit“ der Autographe hat ihre Tücken, weil Händel in vielen Fällen zwischen der ersten autographen Niederschrift und der Erstaufführung die Werke geändert hat, so dass Teile aus dem autographen Material nie als Bestandteil des betreffenden Werkes aufgeführt worden sind (und teilweise von Händel in anderen Stücken verwendet wurden). Wenn man mit dem Begriff „Urfassung“ mehr verbindet als die erste Formulierung eines Werkes, wenn man damit eine Fassung von besonderer Authentizität, vielleicht sogar die „Originalfassung“ meint, dann lässt sich auch dieser Begriff nicht so recht auf Händels Opern und Oratorien anwenden. Streng genommen gibt es bei Händel weder Urfassungen noch Fassungen letzter Hand, sondern eben nur verschiedene Werkausprägungen, die vor dem neutralen Auge des philologischen Betrachters gleichberechtigt sind, weil sie alle vom Urheber des Werkes herrühren und von ihm autorisiert worden sind (anders liegen die Dinge natürlich bei Fremdbearbeitungen). Diese Problematik hat Chrysander nicht erkannt, und seine Editionen stellen insofern unzulässige Verkürzungen, oft auch ____________ 38
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Friedrich Chrysander (Hrsg.), Georg Friedrich Händel’s Werke. Ausgabe der Deutschen Händelgesellschaft, Bd. 5: Athalia. Oratorium von Georg Friedrich Händel, Leipzig o. J. [1859], Vorwort. Brief von Gervinus an Chrysander vom 23. Oktober 1861 (Chrysander-Nachlass im HändelHaus Halle), zitiert nach Baselt, Händel-Edition (wie Anm. 20), S. 55f.
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regelrechte Verkennungen eines weitaus komplizierteren Überlieferungsbefundes dar.
VI.
Die Hallische Händel-Ausgabe
Jens Peter Larsen hat in seinen Studien zur Messias-Überlieferung40 nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass es den Notentext des Messiah nicht gibt, sondern dass dieser in verschiedene Fassungen zerfällt. In einem Beitrag von 1981 hat Larsen seine Position zusammengefasst: Eine naheliegende Frage ist die, ob es möglich ist, eine „Ausgabe letzter Hand“, eine von Händel irgendwie als „definitive Version“ betrachtete Form des Werks anzugeben. Aber diese Frage muß zweifellos im allgemeinen abgewiesen werden. Alles, was wir aus Händels Praxis zur Beantwortung dieser Frage ableiten können, scheint darauf hinzuweisen, dass er sich als Praktiker und Pragmatiker immer die Möglichkeit reservierte, neue Fassungen einzufügen, wenn er, nach einem Intervall, ein Werk wieder zur Aufführung brachte. Es ist in gewissem Umfang möglich, Fassungen von Arien als offenbar später wieder aufgegebene Gelegenheitsfassungen, etwa als Konzessionen an bestimmte Sänger, zu verstehen; aber oft werden wir zwei verschiedene Versionen einer Arie als gleichberechtigt anerkennen müssen, wenn auch vielleicht jeweils in verschiedener Umgebung. In der Nach-Händelschen Zeit hat man sich zu einem großen Teil auf bestimmte, unwandelbare Fassungen der Werke, besonders der Oratorien, festgelegt, aber Händels Aufführungen waren von einer größeren Labilität geprägt, weil er ständig Neuformungen einführte. Welche Form eines Werks die „richtige“ oder die „beste“ ist, läßt sich kaum sagen, aber welche Formen als authentisch gelten dürfen, muß als eine zentrale Frage an die Forschung gelten.41
Die neue Gesamtausgabe, die Hallische Händel-Ausgabe,42 versucht genau dieser Herausforderung gerecht zu werden: Sie ist bestrebt, „für jedes Werk, das in verschiedenen Fassungen vorliegt, herauszufinden, wie es in den wechselnden Stadien beschaffen war“,43 und diese verschiedenen Stadien editorisch zu dokumentieren. Sie berücksichtigt also die von Larsen beschriebene „Labilität“ der Werkidentität und trägt der Tatsache Rechnung, dass in Händels Musik – pointiert gesagt – alles im Fluss ist. ____________ 40
Jens Peter Larsen, Handel’s Messiah: Origins, Composition, Sources, London 1957, New York 1972. Jens Peter Larsen, Probleme der Händel-Überlieferung, in: Die Musikforschung 34 (1981), S. 140f. Hallische Händel-Ausgabe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von der Georg-Friedrich-HändelGesellschaft, Leipzig, Kassel [u. a.] 1955–1990, Kassel [u. a.] 1991ff. Larsen, Probleme der Händel-Überlieferung (wie Anm. 41), S. 140. 2
41 42 43
Die Editionen der Werke Georg Friedrich Händels
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Das Bedürfnis nach einer neuen kritischen Gesamtausgabe der Werke Händels wurde jedoch nicht nur durch diese grundsätzliche editionsmethodische (in gewisser Hinsicht werk-ontologische) Problematik, sondern auch durch die allgemeinen Fortschritte der Quellenforschung genährt. Neue Werke Händels wurden bekannt, vor allem aber neue Quellengruppen (Chrysander hatte beileibe nicht alle verfügbaren Quellen für seine Editionen konsultiert; nun kamen noch bedeutende Quellenfunde hinzu, die Chrysander gar nicht kennen konnte), die Datierung der Quellen wurde auf der Basis von skrupulösen Papierund Wasserzeichenuntersuchungen erheblich verfeinert – wegweisend sind hier die Untersuchungen von Donald Burrows und Martha Ronish an den Autographen44 –, die komplexe Struktur der Handexemplare mit ihren Eintragungen aus verschiedenen Zeitschichten wurde nach und nach offen gelegt – Pionierarbeit leistete hier die Dissertation von Hans Dieter Clausen45 – und die verschiedenen Schreiberhände konnten teilweise identifiziert, oft zeitlich eingeordnet und genauer lokalisiert werden. Die (auch) überlieferungsgeschichtlichen Studien von Winton Dean und J. Merrill Knapp zu den Oratorien und Opern Händels,46 das von Bernd Baselt erarbeitete Werkverzeichnis47 und die wichtige Dokumentensammlung, die Otto Erich Deutsch mit seiner Dokumentar-Biographie vorlegte,48 stellen weitere Meilensteine der modernen HändelPhilologie dar, die vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufblühte.49 Die Incerta-Problematik bei Händel ist in jüngerer Zeit systematisch angegangen worden;50 nach wie vor aber ist die Authentizität einzelner Werke ____________ 44 45 46
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Donald Burrows und Martha Ronish, A Catalogue of Handel’s Musical Autographs, Oxford 1994. Clausen, Händels Direktionspartituren (wie Anm. 28), Winton Dean, Handel’s Dramatic Oratorios and Masques, London 1959, 62006; Winton Dean und John Merrill Knapp, Handel’s Operas 1704–1726, Oxford 1987; Winton Dean, Handel’s Operas 1726–1741, Woodbridge 2006. Händel-Handbuch, Bd. 1–3, Leipzig, Kassel 1978, 1984, 1986. Otto Erich Deutsch, Handel: A Documentary Biography, London 1955; Händel-Handbuch, Bd. 4: Dokumente zur Leben und Schaffen. Auf der Grundlage von Otto Erich Deutsch „Handel – A Documentary Biography“, Leipzig, Kassel 1985. Auf das neue bedeutende Editionsprojekt der Collected Documents, dessen erster Band jüngst erschienen ist, kann an dieser Stelle nur kurz verwiesen werden: Donald Burrows, Helen Coffey, John Greenacombe, Anthony Hicks (Hrsg.), George Frideric Handel. Collected Documents, Bd. 1: 1609–1725, Cambridge 2013. Vgl. Donald Burrows, From Chrysander to 2001: The Progress of Handel Scholarship, in: Händel-Jahrbuch 48 (2002), S. 13–33. Vgl. Hans Joachim Marx und Steffen Voss, Die Händel zugeschriebenen Kompositionen in den thematischen Katalogen von Breitkopf (1762–1768), in: Göttinger Händel-Beiträge 9 (2002), S. 149–160; dies., Die Händel zugeschriebenen Kompositionen I (Arien und Lieder, HWV Anh. B 001–033), in: Göttinger Händel-Beiträge 11 (2006), S. 95–124, sowie dies., Die Händel zugeschriebenen Kompositionen II (Duette und Solo-Kantaten, HWV Anh. B 101–134), in: Göttinger Händel-Beiträge 12 (2008), S. 123–162; dies., Die Händel zugeschriebenen Kompositionen III (Oratorische Werke und Kirchenmusik, HWV Anh. B 201–219), in: Göttinger Händel-Beiträge 13 (2010), S. 165–192; dies., Die Händel zugeschriebenen Kompositionen IV (Orchesterwerke HWV Anh. B 301–368), in: Göttinger Händel-Beiträge 14 (2012),
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umstritten.51 Insgesamt verfügen wir heute über eine wesentlich differenziertere „Landkarte“ der Händel-Überlieferung, als sie dem 19. Jahrhundert zugänglich war. Hinzu kommt, dass bei aller Akkuratesse der editorischen Arbeit Chrysanders einzelne Ausgaben auch unter der Maßgabe des damaligen Forschungsstandes schlicht defizitär waren.52 Annette Landgraf hat die ersten Planungen zu einer neuen HändelGesamtausgabe genau rekonstruiert.53 Ihren Untersuchungen zufolge gehen diese Planungen bis in die Zeit des Jahres 1937 zurück, als die Hallenser Stadtoberen mit Blick auf das Händelfest 1938 vorschlugen, eine neue HändelGesellschaft mit Sitz in Halle zu gründen, um Halle als Stadt der Händelpflege weiter zu profilieren. Dieser Umstand traf mit den Bestrebungen des Verlegers Karl Vötterle vom Bärenreiter-Verlag zusammen, unter Leitung von Rudolf Steglich eine neue, zehn Bände umfassende Händel-Ausgabe herauszubringen. Nach einigem Hin und Her kam 1943 ein Vertrag für eine elfbändige „Stammausgabe Händelscher Werke“ zustande, die 4 Bände Klaviermusik, 3 Bände Kammermusik und 4 Bände Gesangsmusik umfassen soll, sowie nach dem freien Ermessen der Stadt Halle Neubearbeitungen grösserer Händelscher Werke (Bühnenwerke, Oratorien u. a.), deren Einrichtung im Auftrage der Stadt Halle vorgenommen wurde.54
Der sofortigen Realisierung dieser „Händel-Ausgabe der Stadt Halle“ standen aber die furchtbaren Ereignisse der letzten drei Jahre des Zweiten Weltkriegs entgegen. Der Vertrag zwischen dem Bärenreiter-Verlag und der Stadtverwaltung von Halle freilich lief __________
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S. 167–213; zudem Hans Joachim Marx, Händel, Georg Friedrich, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 8, Kassel, Weimar 2002, Sp. 571–574; Winton Dean und Anthony Hicks, Handel, George Frideric, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg. von Stanley Sadie, Bd. 8, London 1980, S. 114–137; und Anthony Hicks, Handel, George Frideric, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg. von Stanley Sadie, Bd. 10, London 22001, S. 779–808. Vgl. etwa die anhaltende Diskussion um die Echtheit der Johannespassion: Hans Joachim Marx, „… eines weltberühmten Mannes gewisse Passion“. Zur Herkunft der Händel zugeschriebenen Johannes-Passion, in: Musica 41 (1987), S. 311–316; Rainer Kleinertz, Zur Frage der Autorschaft von Händels Johannespassion, in: Händel-Jahrbuch 49 (2003), S. 341–376; und John H. Roberts, Placing „Handel’s St. John Passion“, in: Händel-Jahrbuch 51 (2005), S. 153–177. Ein Beispiel – Chrysanders Edition des Anthem „O Praise the Lord with One Consent“ HWV 254 – diskutiert Graydon Beeks, Friedrich Chrysander and the Editorial History of O Praise the Lord with One Consent, HWV 254, in: Händel-Jahrbuch 48 (2002), S. 45–56. Annette Landgraf, Halle und die Hallische Händel-Ausgabe – Idee und Verwirklichung. Ein Exkurs in die Jahre 1940–1946, in: Georg Friedrich Händel – Ein Lebensinhalt. Gedenkschrift für Bernd Baselt (1934–1993), hrsg. von Klaus Hortschansky und Konstanze Musketa (= Schriften des Händel-Hauses in Halle, Bd. 11), Halle/Saale 1995, S. 315–342. Ebd., S. 328 (Zitat aus dem Vertragsentwurf von 1943).
Die Editionen der Werke Georg Friedrich Händels
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offenbar entsprechend den Vereinbarungen bis zum 31.12.1952, ohne daß ein Band erschien. Die Ausgabe ging dann aus den Händen der Stadt in die Obhut der HändelGesellschaft über, eine Verbindung, die sich bis in die heutige Zeit als tragfähig erwiesen hat.55
Die Hallische Händel-Gesellschaft wurde 1948 unter dem Vorsitz von Max Schneider gegründet. Sie ging dann 1955 in der Georg-Friedrich-HändelGesellschaft als einer internationalen Vereinigung auf, bei der es sich allerdings „von Gründung an um eine vollständig in das politische System“ der DDR „eingepaßte Organisation“ handelte.56 In diesem Jahr begann dann auch die Hallische Händel-Ausgabe als eine Koproduktion zwischen dem Deutschen Verlag für Musik, Leipzig, und dem Bärenreiter-Verlag, Kassel, mit ihrer Arbeit – einer Arbeit, die bis heute anhält und von verschiedenen Personen und Institutionen vorangetrieben worden ist. Damals wie heute ist die Händel-Gesellschaft Trägerin der Ausgabe, und damals wie heute steht sie in engster Verbindung mit der Musikwissenschaft an der Universität Halle, dem Händel-Haus Halle und dem Verlagshaus Bärenreiter. Die Arbeiten an der Hallischen Händel-Ausgabe standen allerdings gerade zu Beginn unter keinem guten Stern, denn die „ersten Bände waren […], grob gesagt, nicht mehr als nach Händels Autographen revidierte ChrysanderAusgaben“.57 Vor allem aus England, wo die Händel-Philologie bedeutsame Fortschritte gemacht hatte, kam berechtigte Kritik. Es dauerte einige Zeit, bis die Hallische Händel-Ausgabe – nicht zuletzt durch das Wirken des großen Hallenser Händelforschers Bernd Baselt und aufgrund der Internationalisierung der Ausgabe durch Einberufung eines Editorial Board mit englischen, amerikanischen und deutschen Editionsspezialisten im Jahr 1984 – im Konzert der modernen musikwissenschaftlichen Editionsunternehmungen gleichberechtigt mitspielen konnte. Die noch ungeschriebene Geschichte der neuen Händel-Ausgabe im geteilten Deutschland wird sicherlich die forschungspolitisch schwierige Situation akzentuieren müssen, mit der das Unternehmen konfrontiert war: ____________ 55 56
57
Ebd., S. 341f. Lars Klingberg, „Politisch fest in unseren Händen“. Musikalische und musikwissenschaftliche Gesellschaften in der DDR. Dokumente und Analysen (= Musiksoziologie, Bd. 3), Kassel [u. a.] 1997, S. 168. Zur Vorgängerorganisation der Hallischen Händel-Gesellschaft vgl. nun ders., Die Gründung der Hallischen Händel-Gesellschaft – eine „bürgerliche“ Vereinigung ohne Zukunftschance, in: Katrin Gerlach, Lars Klingberg, Juliane Riepe und Susanne Spiegler, Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext (= Studien der Stiftung Händel-Haus, Bd. 2), 2 Teilbände, Beeskow 2014, Teilbd. 1, S. 433–454. Siegfried Flesch, Zur Hallischen Händel-Ausgabe, in: 75 Jahre Musikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität, hrsg. von Bernd Baselt, Halle 1990 (= Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Wissenschaftliche Beiträge 1990, 8 [G 17]), S. 29.
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Political divisions in Europe had produced a situation which defied all logic: the resources for the production of the edition were committed to an eastern-bloc country, for whose citizens travel was restricted and external communications were difficult (as well as being costly and inefficient), while almost all of the essential sources were to be found in Britain and Western Germany.58
Außerdem musste Händel in der DDR mit der marxistisch-leninistischen Gesellschaftstheorie versöhnt werden – kein einfaches Unterfangen, konnte doch Händels Lebensweg auch als der eines spätfeudalistischen Fürstendieners oder frühkapitalistischen Musik-Unternehmers gedeutet werden. Es ist bezeichnend, dass die Einpassung Händels in die Leitlinien des sozialistischen Realismus von einer Journalistin, Johanna Rudolph, in der vom Staatsapparat geforderten Eindeutigkeit und Breite vollzogen wurde.59 Die offiziellen Verlautbarungen der DDR-Musikwissenschaft und der Händel-Gesellschaft waren weniger plakativ, wenngleich vielleicht nicht weniger eindeutig. Selbst im Instrumentalschaffen Händels glaubte Walther Siegmund-Schultze zu erspüren, „daß hier ein neues Pathos, eine neue geistige Kraft sich erhebt, daß der freie Mensch zu sprechen beginnt und nicht der unterdrückte Untertan, wie bei Bach, und nicht das absolutistische Regime“.60 Auf der anderen Seite sollte man nicht vergessen, dass unter den gewiss nicht leichten Rahmenbedingungen der DDR bedeutende Beiträge zur internationalen Händel-Forschung erbracht wurden – dafür steht etwa die wissenschaftliche Lebensleistung eines Bernd Baselt – und dass bereits mit den Jubiläumsfestspielen 1959 eine Öffnung hin zur angelsächsischen Forschung begann,61 die schließlich in die Orientierung der Hallischen Händel-Ausgabe an den inzwischen erreichten editorischen Standards durch die bereits genannte Einrichtung eines international besetzten Editorial Board einmündete. ____________ 58 59
60 61
Donald Burrows, From Chrysander to 2001 (wie Anm. 49), S. 32. Johanna Rudolph, Händelrenaissance. Eine Studie, Berlin 1960; Bd. 2 Berlin 1969 (mit dem Untertitel „Händel der Aufklärer“). Zu dem ganzen Komplex vgl. Werner Rackwitz, Geschichte und Gegenwart der Hallischen Händel-Renaissance. 2. Teil: 1929–1976 (= Schriften des Händel-Hauses in Halle, Bd. 2), Halle/Saale 1979; Gert Richter, Annotationen zur HändelPflege im politischen System der DDR, in: Georg Friedrich Händel – Ein Lebensinhalt (wie Anm. 53), S. 343–358; Klingberg, „Politisch fest in unseren Händen“ (wie Anm. 56); Dietrich Helms, Westöstlicher Händel. Die „Opernrenaissance“ in den beiden deutschen Staaten, in: Händel unter Deutschen (wie Anm. 16), S. 87–105; sowie neuerdings Katrin Gerlach u. a., Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 56) und verschiedene Beiträge im Händel-Jahrbuch 59 (2013) und 60 (2014). [Walther Siegmund-Schultze], Aufgaben und Ziele der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft, in: Händel-Jahrbuch 2 (1956), S. 11. Vgl. etwa die Diskussionsbeiträge von Johanna Rudolph, Merrill Knapp, Frederick Hudson, Alfred Mann in: Walther Siegmund-Schultze, Prinzipien einer musikalischen Klassiker-Ausgabe am Beispiel Georg Friedrich Händels, in: Händel-Jahrbuch 18/19 (1972/73), S. 125–137.
Die Editionen der Werke Georg Friedrich Händels
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Von entscheidender Bedeutung schließlich ist die Förderung, welche die Ausgabe seit 1992 durch die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften erfahren hat und weiterhin erfährt: Hier werden die KomponistenGesamtausgaben tatsächlich als eine nationale, aber mehr noch als eine internationale Aufgabe angesehen – denn das Renommee der deutschen Musikwissenschaft in Europa und in der Welt ist nach wie vor mit den modernen Gesamtausgaben verbunden, die durch die Bund-Länder-Finanzierung der Akademien ermöglicht werden und gleichsam die Flaggschiffe der deutschen Musikwissenschaft darstellen. Heute ist die Hallische Händel-Ausgabe als Akademienprojekt und Drittmittelprojekt der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit drei vollen und zwei halben wissenschaftlichen Stellen sowie einer halben Sachbearbeiterstelle ausgestattet; die Stiftung Händel-Haus stellt der Arbeitsstelle Räumlichkeiten und Kommunikationsmittel zur Verfügung. Die Leitung der Ausgabe liegt bei dem englischen Händelforscher Terence Best und dem Verfasser dieses Beitrags; wesentliche Kontroll- und Steuerungsfunktionen kommen dem Editorial Board zu, dem die Händel-Spezialisten Graydon Beeks, Donald Burrows, Hans Dieter Clausen, Hans Joachim Marx und John Roberts angehören. Aus der Geschichte des Editionsprojektes ist es erklärlich, dass eine Reihe der frühen Bände nicht den editorischen Standards einer modernen wissenschaftlichen Gesamtausgabe entspricht. Dieses Defizit konnte inzwischen zum Teil durch das Erscheinen von Revisionsbänden (etwa der Musik für Tasteninstrumente durch Terence Best)62 ausgeglichen werden. Teilweise wird man aber auch neuere, von ausgewiesenen Händel-Forschern außerhalb der neuen Gesamtausgabe erstellte Editionen den frühen Bänden der Hallischen HändelAusgabe vorziehen; zweifelsohne übertrifft die Messiah-Edition von Donald Burrows aus dem Jahr 198763 den entsprechenden Band der Hallischen Händel-Ausgabe von 196564 hinsichtlich der editorischen Präzision und Transparenz bei weitem. Außerdem sind in der seit 1978 erscheinenden Novello Handel-Edition65 solide, historisch-kritisch gearbeitete Ausgaben von Händel-Werken erschienen, die in der Hallischen Händel-Ausgabe noch fehlen. ____________ 62
63 64 65
Terence Best (Hrsg.), Hallische Händel-Ausgabe, Serie IV, Bde. 1, 5, 17: Klavierwerke I, II, IV, Neuausgabe Kassel [u. a.] 1993, 1999, 1998; Kritischer Bericht zu Klavierwerke I–IV, Kassel [u. a.] 2000. Donald Burrows (Hrsg.), George Frideric Handel. Messiah. An Oratorio for Solo Voices, Chorus and Orchestra. Eleven Versions, 1742–1754, London [u. a.] 1987. John Tobin (Hrsg.), Hallische Händel-Ausgabe, Serie I, Bd. 17: The Messiah. Oratorio in Three Parts / Der Messias, Leipzig, Kassel [u. a.] 1965. The Novello Handel Edition, hrsg. von Donald Burrows, Oxford 1978ff. Zu den weit verbreiteten preiswerten Händel-Publikationen des Verlags von J. Alfred Novello seit 1846 vgl. Donald Burrows, Making the „Classic“ Accessible: Vincent Novello’s Vocal Scores of Han-
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Den in den aktuellen Bänden der Hallischen Händel-Ausgabe repräsentierten Standard der Editionswissenschaft möchte ich anhand der 2006 erschienenen Ausgabe des Oratoriums Athalia HWV 52 darstellen.66 Die Edition ist in zwei Teilbände gegliedert, deren erster den vollständigen Notentext der Erstaufführung des Werkes, die 1733 in Oxford stattfand, wiedergibt (S. 1–224). Die Festlegung des editorischen Haupttextes auf die Werkgestalt der Erstaufführung ist eine rein pragmatische Entscheidung, die die Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit der Bände gewährleisten soll; sie beinhaltet keinerlei ästhetische Wertung. Der zweite Teilband enthält diejenigen Stücke, die bei den verschiedenen Bearbeitungen des Werkes durch Georg Friedrich Händel neu eingefügt wurden; sie sind so angeordnet und editorisch dokumentiert, dass die verschiedenen Fassungen rekonstruierbar werden: die Fassung der Londoner Aufführungen von 1735 (Anhang I, S. 225–344), der Entwurf der 1743 geplanten Fassung (Anhang II, S. 345–380), die Fassung der Aufführungen von 1756 (Anhang III, S. 381–416). Die Ausgabe wird durch ein Vorwort (Teilband 1, S. VII–XVIII, englische Übersetzung S. XIX–XXIX) eröffnet, das über die Entstehungs-, Aufführungs- und Bearbeitungsgeschichte des Werkes, seine Beziehungen zu anderen Kompositionen Händels (Parnasso in Festa HWV 73, Wedding Anthem HWV 262), den biblischen und literarischen Hintergrund des Oratoriums sowie über seine Quellen knapp informiert; am Ende stehen Hinweise zur Aufführungspraxis. Eine Konkordanz orientiert synoptisch über die verschiedenen Fassungen (S. XXX–XXXV); ausgewählte Faksimileseiten aus den musikalischen Quellen, ein Faksimile des Librettodruckes (London 1733/1735) und eine deutsche Übersetzung des Oratorientextes einschließlich seiner späteren Fassungsvarianten schließen diesen Teil der Ausgabe ab. Das Kernstück der Edition bildet freilich der gut neunzigseitige Kritische Bericht, welcher der Wiedergabe der Notentexte im zweiten Teilband folgt (S. 417– 510). Hier werden alle heute bekannten und zugänglichen Quellen des Werkes beschrieben und bewertet – vom Libretto zum Autograph über die Direktionspartitur hin zu den zeitgenössischen Partitur- und Stimmenabschriften sowie Drucken. Die verschiedenen Bearbeitungsschichten der Direktionspartitur werden in einer Synopse minutiös voneinander getrennt und dokumentiert (S. 423– 434); eigens werden die für die Edition von Athalia relevanten Quellen auch anderer Werke des Komponisten und die Quellen zu den neuen Stücken der späteren Fassungen erfasst und beschrieben. Eine Übersicht zu den Ausgaben von Athalia im späteren 18. und 19. Jahrhundert schließt sich an. Die Quellen__________
66
del’s Oratorios, in: Händel-Jahrbuch 53 (2007), S. 103–120; und Burrows und Landgraf, Editions (wie Anm. 8), S. 208f. Blaut (Hrsg.), Hallische Händel-Ausgabe (wie Anm. 10).
Die Editionen der Werke Georg Friedrich Händels
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bewertung wird in einem Stemma zusammengefasst. Die Einzelnachweise (S. 449–510) sind dadurch besonders gekennzeichnet, dass sie in die Partitur der Erstaufführung nicht übernommene Lesarten sowie umfänglichere Korrekturen im Autograph und diskutable Varianten in Sekundärquellen verzeichnen.
VII.
Edition als Bearbeitung
Über die Klavierauszüge und die vom Verlag als Leihmaterial vertriebenen Aufführungsmaterialien erreicht die Edition auch die musikalische Praxis: Es ist heute eine Selbstverständlichkeit, dass das speziell für die Musikpraxis bestimmte Notenmaterial nicht von der Werkgestalt, die der Hauptteil der wissenschaftlichen Ausgabe mitteilt, abweicht. Dahinter steht die Überzeugung, dass auch der Praxis mit dem historisch-kritischen Notentext am besten gedient ist. Friedrich Chrysander sah dies noch grundsätzlich anders: Er arbeitete ab 1894 an einer später so genannten „Neuen Händel-Ausgabe für den praktischen Gebrauch“, die Bearbeitungen der wichtigsten Oratorien und vokalen Festmusiken (in Klavierauszügen und darauf basierendem Aufführungsmaterial) enthielt und nach Chrysanders Tod von dessen Sohn Rudolf Chrysander (1865–1950) weiter vertrieben wurde.67 Dabei nahm Chrysander nicht nur Kürzungen vor, sondern ergänzte auch Arien aus anderen Stücken. Wesentliche Impulse zu dieser Ausgabe gingen von dem Dirigenten Fritz Volbach (1861–1940) aus, der in einem Vortrag von 1906 die Motivation für die praktischen Bearbeitungen prägnant zusammenfasste: Ein Kunstwerk läßt sich von zwei Standpunkten aus betrachten und beleuchten, vom streng historischen, und vom Standpunkt unseres heutigen, eigenen Empfindens. Im ersteren Falle versetzen wir uns in die Zeit der Entstehung des betreffenden Werkes zurück und fragen, wie trat es damals nach Auffassung und Klang in die Erscheinung; also eine exakt philologische Methode. Der andere Standpunkt ist der des Künstlers, der fragt, wie er ein älteres Werk so wiedergeben kann, daß diese Wiedergabe in erster Linie dem Fühlen unserer Zeit entspricht, ohne die Eigenart des Stils zu zerstören. Nur dieser zweite Standpunkt kann überhaupt für uns in der Praxis in Frage kommen.68 ____________ 67
68
Vgl. Annette Landgraf, Die Händel-Bearbeitungen Friedrich Chrysanders, in: HändelJahrbuch 48 (2002), S. 57–69, und Paul van Reijen, Die Händel-Klavierauszüge Friedrich Chrysanders und seiner „Nachfolger“, in: Händel-Jahrbuch 48 (2002), S. 71–102, außerdem Dieter Gutknecht, Friedrich Chrysander und die Aufführungen Händelscher Oratorien, in: Georg Friedrich Händel – Ein Lebensinhalt (wie Anm. 53), S. 241–259. Fritz Volbach, Bericht über die Vorführung von Instrumenten, welche für die Aufführung Händel’scher und Bach’scher Werke von praktischer Bedeutung sind, in: Vier Vorträge gehal-
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Chrysander und Volbach wollten also mit ihren Händel-Bearbeitungen den ausübenden Musikern eine Werkgestalt an die Hand geben, welche die ästhetische Aktualisierung der Musik Händels erleichtert oder sogar erst ermöglicht. Den ursprünglichen Werktexten trauten sie dies offenbar nicht zu. In dieser Hinsicht stehen beide in der Kontinuität der Händel-Bearbeiter des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, von denen Ignaz von Mosel (1772–1844) „die größte Breitenwirkung erzielt haben“69 dürfte. Wir sind heute durch die Erkenntnisse der historischen (oder historisch informierten) Aufführungspraxis zu der Auffassung gelangt, dass die stets notwendige und von jeder Generation neu zu leistende ästhetische Aktualisierung der Musik Händels gerade durch die „streng historische“ Betrachtung wesentliche Impulse erfahren kann – die von Volbach so strikt gezogenen Grenzen haben sich längst verwischt. Heutige Musiker, Dirigenten und Regisseure wollen sich nicht mehr von einem (noch so klugen und feinsinnigen) Editor bevormunden lassen, sondern möchten anhand eines möglichst objektiv den historischen Notentext (und seine verschiedenen Fassungen) abbildenden Materials ihre eigenen ästhetischen und interpretatorischen Entscheidungen treffen; um die oben zitierten Worte Mendelssohns aufzugreifen, geht es darum, „to afford to every one an opportunity of resorting to Handel himself“.70 In diesem Sinne haben eben nicht die „Neue Händel-Ausgabe für den praktischen Gebrauch“ und all die anderen bearbeitenden Ausgaben des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern gerade die streng philologisch gearbeiteten Editionen die Aufführungsgeschichte der Musik Händels seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmt: Die gesamte Wiederentdeckung des Händel’schen Opernschaffens, die sich inzwischen zu einem – von Manfred Rätzer akribisch bilanzierten,71 von Dietrich Helms, Silke Leopold und Arnold Jacobshagen hellsichtig analysierten72 – globalen Boom ausgeweitet hat, wäre ohne Chry__________
69 70 71
72
ten anlässlich der 1. Aufführungen der Kaiserin Friedrich-Stiftung in Mainz am 17. und 18. Mai 1906, Mainz o. J., S. 77, zitiert nach Landgraf, Die Händel-Bearbeitungen (wie Anm. 67), S. 69. Zum Wirken Volbachs vgl. auch Christoph-Hellmut Mahling, Bemerkungen zu den Händel-Festen in Mainz unter Fritz Volbach, in: Händel-Jahrbuch 44 (1998), S. 100–111, und Walther R. Volbach, Friedrich Chrysanders Briefe an Fritz Volbach, in: Die Musikforschung 13 (1960), S. 143–159, 281–299. Edelmann, Der bürgerliche Händel (wie Anm. 16), S. 43. Mendelssohn Bartholdy (Hrsg.), Israel in Egypt (wie Anm. 16), S. III. Manfred Rätzer, Szenische Aufführungen von Werken Georg Friedrich Händels vom 18. bis 20. Jahrhundert: eine Dokumentation (= Schriften des Händel-Hauses in Halle, Bd. 17), Halle/ Saale 2000; das Verzeichnis wird laufend in den Bänden des Händel-Jahrbuchs aktualisiert. Helms, Westöstlicher Händel (wie Anm. 59); Silke Leopold, Händel. Die Opern, Kassel [u. a.] 2009, S. 7–28; Arnold Jacobshagen, Händel im Pantheon. Der Komponist und seine Inszenierung, Sinzig 2009, S. 56–70; und ders., Rekonstruktion und Verwandlung. Zur Analyse und Interpretation zeitgenössischer Händel-Inszenierungen, in: Händel-Jahrbuch 56 (2010), S. 485– 506.
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sanders Ausgaben dieser Werke undenkbar gewesen, und auch die neuen Opern- und Oratorien-Ausgaben der Hallischen Händel-Ausgabe bilden heute die Grundlage für Händel-Produktionen weltweit. Eine vom BärenreiterVerlag erstellte Statistik weist für die Jahre 2001 bis 2008 215 Aufführungen mit den nach der Hallischen Händel-Ausgabe erstellten Aufführungsmaterialien (zum Teil auch Vorabmaterial vor Erscheinen des gedruckten Bandes) nach, wobei der Löwenanteil nicht unerwartet auf Giulio Cesare (47 Produktionen) und Alcina (33 Produktionen) entfällt.
VIII. Edition und gesellschaftlicher Wandel Die vorangehende Darstellung könnte den Eindruck erweckt haben, als hätte sich im Gegensatz zur DDR die Musikwissenschaft in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg in einem gleichsam politikfreien Raum bewegt. Diese Vorstellung ist trügerisch. Vielmehr erweisen sich die starke Fixierung der Forschung auf die Quellenphilologie und der Aufstieg der Musiker-Gesamtausgaben zu einer Leitidee des Faches und einem bestimmenden Element seiner Positionierung in der Wissenschaftslandschaft der BRD als ein Reflex auf die extreme politische Instrumentalisierung der deutschen Musikgeschichte in der NS-Zeit. Dieser Rückzug in die scheinbar objektive und politikfreie Zone reiner Philologie war nur dem Anschein nach unpolitisch – in ihm treten in nicht geringerem Maße politische Entscheidungen und Haltungen zutage als in der oben herausgearbeiteten Grundierung der Gesamtausgaben-Bewegung des 19. Jahrhunderts durch nationalstaatliches Denken oder in der Begründung der Händel-Bewegung in der DDR durch die Ideale des sozialistischen Realismus. Gerade im Fall Händels war die Heftigkeit der Gegenreaktionen nach dem Zweiten Weltkrieg allzu verständlich: Händel war in der NS-Zeit zum Aushängeschild des musikalischen Germanentums stilisiert worden, die HändelFestspiele 1935 zu „Reichs-Händelgedenktagen“ ausgebaut, Händel selbst zum „Wikinger der Musik“ erklärt worden.73 Eine 1940 eingerichtete und von Hans ____________ 73
Vgl. Katja Roters, Bearbeitungen von Händel-Oratorien im Dritten Reich (= Schriftenreihe des Händel-Hauses in Halle, Bd. 16), Halle/Saale 1999; Annette Landgraf, Der Opfersieg von Walstatt: Das Oratorium „Israel in Egypt“ von Georg Friedrich Händel im nationalsozialistischen Gewand, in: Musikkonzepte – Konzepte der Musikwissenschaft, hrsg. von Kathrin Eberl und Wolfgang Ruf, Kassel [u. a.] 2000, S. 597–604; Pamela M. Potter, The Twentieth Century and Beyond. The Politicization of Handel and His Oratorios in the Weimar Republic, the Third Reich, and the Early Years of German Democratic Republic, in: The Musical Quarterly 85 (2001), S. 311–341; Isabelle Müntzenberger, „Händel-Renaissance(n)“. Aspekte der HändelRezeption der 1920er Jahre und der Zeit des Nationalsozialismus, in: Händel unter Deutschen (wie Anm. 16), S. 67–86; Gert Richter, „Wikinger“ aus der Saalestadt – Ideologie und Realität hallescher Händelpflege in der NS-Zeit, in: Der Klang der Stadt. Musikkultur in Halle vom
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Joachim Moser geleitete „Reichsstelle für Musikbearbeitung“ hatte sich daran gemacht, die judaistischen Elemente aus Händels Oratorien zu tilgen und Stücke wie Israel in Egypt zu massenwirksamen Instrumenten der Verherrlichung des Führers Adolf Hitler und der Propagierung seiner Ziele umzuschmieden: Das genannte Werk wurde zum Opfersieg von Walstatt. Die in diesem Zusammenhang entstandenen und in der Zeit des „Dritten Reiches“ (mehr oder weniger) erfolgreich aufgeführten Oratorienbearbeitungen markieren zweifelsohne den prekären Tiefpunkt der Editionsgeschichte der Werke Händels. Dass man diese Geschichte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs weder in der BRD noch in der DDR offensiv aufarbeitete, ist Teil einer gesamtdeutschen Problematik, die bis in unsere Tage weiterwirkt. Doch sollte man sich bei aller kritischen Befragung der forschungspolitischen Hintergründe der deutschen Gesamtausgaben-Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg stets bewusst sein, dass die strenge philologische Methode genau jene extremen Verzerrungen und Entstellungen unmöglich macht, die Händels Werken im Nationalsozialismus zugefügt wurden. In der Neutralität und Offenheit der Methode, ihrer konsequenten Rationalität und ihrem strengen Historismus liegt ihr aufgeklärter Charakter beschlossen. Insofern ist die Geschichte der Händel-Edition ein getreuer Spiegel der musikalischen Editionsgeschichte als einer Geschichte unterschiedlicher historischer Kontextualisierungen und Funktionalisierungen seiner Werke. Als deren wichtigste Stationen seien nochmals abschließend genannt: in Händels Zeit die private, in der Regel aristokratische Liebhabersammlung, durchaus mit Anspruch auf Vollständigkeit, in der sich Drucke mit Handschriften mischen, sowie die unvollständige Druckausgabe von Vokalwerken als Spielvorlage für private Aufführungen und Medium des Selbststudiums der Werke; im Zuge einer Vereinnahmung Händels als musikalischen Nationalhelden die monumentalen Denkmälerausgaben als Gesamtausgaben, denen die Überzeugung zugrunde liegt, man könne von den Werken eine gültige Werkgestalt – als „Urfassung“ oder „Fassung letzter Hand“ – edieren; dann die verschiedenen bearbeitenden, von Händels Kompositionen wegführenden Ausgaben, die zum einen einer als notwendig erachteten ästhetischen Aktualisierung, zum anderen aber einer unmittelbaren politischen und ideologischen Vereinnahmung der __________
17. bis 20. Jahrhundert, hrsg. von Wolfgang Ruf (= Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte, Bd. 13), Halle/Saale 2009, S. 189–212; Annette Landgraf, National Socialist Arrangements, in: The Cambridge Handel Encyclopedia, hrsg. von Annette Landgraf und David Vickers, Cambridge 2009, S. 436–438; zu den Bearbeitungen jetzt ausführlich Juliane Riepe und Katrin Gerlach, Händels Oratorien im „Dritten Reich“. Bearbeitungspraxis und ideologischer Kontext, in: Katrin Gerlach u. a., Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen (wie Anm. 56), Teilbd. 1, S. 16–157.
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Musik Händels dienen sollten; und schließlich die neuen Editionsunternehmen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und des frühen 21. Jahrhunderts, welche die von Händel geschaffenen Fassungen seiner Werke berücksichtigen, die sich wandelnden Werkgestalten dokumentieren und in einem offenen Editionskonzept der „Labilität“ und Beweglichkeit des Überlieferungsbefundes Rechnung tragen. Das Edieren der Werke Händels ist heute – aufgrund der Offenheit des Werkkonzepts und der immensen Fortschritte in der Verfeinerung des editorischen Vorgehens und der editorischen Werkzeuge – eine komplizierte, anspruchsvolle Tätigkeit, eine Sache für hoch versierte Spezialisten. Wie sich die Edition der Werke Händels in der Zukunft fortsetzen und wandeln wird, hängt – das dürfte die vorangehende Darstellung deutlich gemacht haben – nicht nur von den ästhetischen Präferenzen, sondern mehr noch von den gesellschaftlichen Interessen und politischen Ansprüchen ab, die ihnen zukünftige Generationen entgegenbringen. Denn zweifelsohne manifestiert sich auch die Geschichte der Musik-Edition in einem sich wandelnden Netz aus „sozial festgelegten Bedeutungsstrukturen“.74
Literaturverzeichnis Ankündigung einer vollständigen Ausgabe von Händel’s Werken, in: Euterpe 16 (1857), S. 78f. Baselt, Bernd: Beiträge zur Chrysander-Forschung I: Friedrich Chrysander und Hans von Bülow – eine Dokumentation, in: Händel-Jahrbuch 15/16 (1969/70), S. 123–149 Baselt, Bernd: Deutsche Händel-Editionen zur Zeit der Wiener Klassik. Ein chronologischer Überblick, in: Georg Friedrich Händel als Wegbereiter der Wiener Klassik. Im Auftrag der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft hrsg. von Walther Siegmund-Schultze (= Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Wissenschaftliche Beiträge 1977, 39 [G 4]), Halle/Saale 1977, S. 58–71 Baselt, Bernd: Händel-Edition im Verständnis des 19. Jahrhunderts (Beiträge zur Geschichte der Ausgabe der deutschen Händelgesellschaft, hrsg. von Friedrich Chrysander), in: Georg Friedrich Händel im Verständnis des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Walther Siegmund-Schultze (= Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Wissenschaftliche Beiträge 1984, 38 [G 11]), Halle/Saale 1984, S. 46–60 Beeks, Graydon: Friedrich Chrysander and the Editorial History of O Praise the Lord with One Consent, HWV 254, in: Händel-Jahrbuch 48 (2002), S. 45–56 Bernhardt, Reinhold: W. A. Mozarts Messias-Bearbeitungen und ihre Drucklegung in Leipzig 1802–03, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 12 (1929/1930), S. 21–45 Best, Terence (Hrsg.): Handel Collections and Their History, Oxford 1993 Best, Terence (Hrsg.): Hallische Händel-Ausgabe. Serie IV, Bde. 1, 5, 17: Klavierwerke I, II, IV, Neuausgabe Kassel [u. a.] 1993, 1999, 1998; Kritischer Bericht zu Klavierwerke I–IV, Kassel [u. a.] 2000 Best, Terence: From Walsh to the Hallische Händel-Ausgabe: Handel Editions Past and Present, in: Handel Studies. A Gedenkschrift for Howard Serwer, hrsg. von Richard G. King (= Festschrift Series, No. 22), Hillsdale (NY) 2009, S. 5–24 ____________ 74
Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/ Main 1983, S. 19.
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Wolfgang Hirschmann
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Wolfgang Hirschmann
Richter, Gert: „Wikinger“ aus der Saalestadt – Ideologie und Realität hallescher Händelpflege in der NS-Zeit, in: Der Klang der Stadt. Musikkultur in Halle vom 17. bis 20. Jahrhundert, hrsg. von Wolfgang Ruf (= Forschungen zur hallischen Stadtgeschichte, Bd. 13), Halle/Saale 2009, S. 189–212 Riepe, Juliane und Katrin Gerlach, Händels Oratorien im „Dritten Reich“. Bearbeitungspraxis und ideologischer Kontext, in: Katrin Gerlach, Lars Klingberg, Juliane Riepe und Susanne Spiegler, Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext (= Studien der Stiftung Händel-Haus, Bd. 2), 2 Teilbände, Beeskow 2014, Teilbd. 1, S. 16–157 Roberts, John H.: Placing „Handel’s St. John Passion“, in: Händel-Jahrbuch 51 (2005), S. 153–177 Roters, Katja: Bearbeitungen von Händel-Oratorien im Dritten Reich (= Schriftenreihe des Händel-Hauses in Halle, Bd. 16), Halle/Saale 1999 Rudolph, Johanna: Händelrenaissance. Eine Studie, Berlin 1960; Bd. 2 mit dem Untertitel „Händel der Aufklärer“ Berlin 1969 Schardig, Waltraud: Friedrich Chrysander. Leben und Werk (= Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft, Bd. 32), Hamburg 1986 Schaum, Johann Otto Heinrich: Über eine deutsche Ausgabe der Händelschen Werke, in: Berlinische Musikalische Zeitung 1 (1805), S. 335–337, 339–341 Server, Howard: Brahms and the three Editions of Handel’s Chamber Duets and Trios, in: HändelJahrbuch 39 (1993), S. 134–160 Siegert, Christine: Überlieferung und Editionen, in: Händels Opern, hrsg. von Arnold Jacobshagen und Panja Mücke, Teilband 1 (= Das Händel-Handbuch, Bd. 2,1), Laaber 2009, S. 377–395 [Siegmund-Schultze, Walther]: Aufgaben und Ziele der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft, in: Händel-Jahrbuch 2 (1956), S. 7–20 Siegmund-Schultze, Walther: Prinzipien einer musikalischen Klassiker-Ausgabe am Beispiel Georg Friedrich Händels, in: Händel-Jahrbuch 18/19 (1972/73), S. 103–124 (dazu Diskussionsbeiträge von Johanna Rudolph, Merrill Knapp, Frederick Hudson, Alfred Mann, S. 125–137) Smith, William C.: Handel. A Descriptive Catalogue of the Early Editions, London 1960 Tadday, Ulrich (Hrsg.): Händel unter Deutschen (= Musik-Konzepte. Neue Folge, Bd. 131), München 2006 The Handel Society, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 46 (1844), Sp. 502–505 Tobin, John (Hrsg.): Hallische Händel-Ausgabe, Serie I, Bd. 17: The Messiah. Oratorio in Three Parts / Der Messias, Leipzig und Kassel [u. a.] 1965 Volbach, Fritz: Bericht über die Vorführung von Instrumenten, welche für die Aufführung Händel’scher und Bach’scher Werke von praktischer Bedeutung sind, in: Vier Vorträge gehalten anlässlich der 1. Aufführungen der Kaiserin Friedrich-Stiftung in Mainz am 17. und 18. Mai 1906, Mainz o. J., S. 75–81 Volbach, Walther R.: Friedrich Chrysanders Briefe an Fritz Volbach, in: Die Musikforschung 13 (1960), S. 143–159, 281–299
Reinmar Emans, Sven Hiemke
Editionen der Werke Johann Sebastian Bachs
Die Editionsgeschichte der Werke Johann Sebastian Bachs stellt sich dank zweier Ausgaben, die das Attribut „gesamt“ verdienen – nämlich der sogenannten Alten Bach-Gesamtausgabe (im Folgenden: BG), deren erste Lieferung mit den Kantaten BWV 1–10 im Jahre 1852 erschien, und der Neuen Bach-Ausgabe (im Folgenden: NBA), die ab 1950 erarbeitet wurde –, als einigermaßen zielgerichtet dar. Doch erweist sie sich bei genauerem Blick auch auf ihre Vorläufer als höchst komplex und keineswegs „folgerichtig“. Stets war das Ringen um einen adäquaten Notentext, der aber so ohne weiteres nicht zu konstituieren war, von der Frage begleitet, welche Kompositionen eine Edition oder gar eine Historisch-Kritische Ausgabe überhaupt verdienen. Die Bach-Bilder haben sich im Laufe der Zeit massiv verändert. Aus einem Musiker, der erst im dritten Anlauf das Amt des Thomaskantors in Leipzig erlangte, wurde einer der größten Heroen der Musikgeschichte. Daran freilich hatten nicht zuletzt die unzähligen Notenausgaben entscheidenden Anteil.
I.
Drucke zu Lebzeiten Johann Sebastian Bachs
Die chronologische Aufzählung der wenigen Werke Bachs, die zu seinen Lebzeiten im Druck erschienen,1 beginnt mit einer Ausnahme. Veranlasste der Komponist die meisten seiner Ausgaben selbst, so hatte er an der Herstellung der Druckausgaben seiner Kantaten zu den Feierlichkeiten des Mühlhäuser Ratswechsels keinen Anteil: Die turnusmäßig anfallende Musik zum Ratswechsel am 4. Februar ging auf Kosten der Stadt. Nur eine der beiden (oder möglicherweise sogar drei) Musiken indes, die Bach zu diesem Anlass komponierte – die „Glückwünschende Kirchen Motetto“ Gott ist mein König BWV 71 (Uraufführung Mühlhausen 1708) – ist überliefert (neben dem Autograph ist der Originaldruck, bestehend aus einem Stimmensatz und einem Textdruck, erhalten); ____________ 1
Vgl. Georg Kinsky, Die Originalausgaben der Werke Johann Sebastian Bachs. Ein Beitrag zur Musikbibliographie, Wien [u. a.] 1937.
228
Reinmar Emans, Sven Hiemke
eine zweite Ratswechselkantate BWV Anh. 192 für das Folgejahr ist verschollen und nur durch Rechnungseintragungen belegt.2 Die Kantate zum Ratswechsel 1710 wurde ebenfalls von einem „H[errn] Baach“ komponiert – ob es sich hierbei um Johann Sebastian oder um seinen Cousin Johann Friedrich Bach (um 1682–1730) handelt, der das Organistenamt an St. Blasii von jenem übernommen hatte, ist nicht zu ermitteln. Es blieben dies jedenfalls die einzigen Kantaten, die zu Bachs Lebzeiten im Druck erschienen. Die Herausgabe weiterer Werke im Druck erfolgte fast ausschließlich im Selbstverlag, also auf eigenes finanzielles Risiko, das Bach lange Zeit offenbar überhaupt nur bei seinen Clavierwerken für kalkulierbar hielt. Jedenfalls bemaß sich die Entscheidung für oder gegen eine Druckausgabe eines Werkes nicht an dessen Qualität. Etliche Sammlungen aus Bachs Weimarer und Köthener Zeit wurden nicht zum Druck befördert, waren aber erklärtermaßen für ganz bestimmte Zielgruppen gedacht: das Orgelbüchlein für den „anfahenden Organisten“, die Inventionen und Sinfonien für „denen Liebhabern des Claviers, besonders aber denen Lehrbegierigen“, das Wohltemperierte Clavier für die „Lehr-begierige musicalische Jugend“.3 Zweifellos rechnete Bach weithin mit einer Verbreitung durch Abschriften, die neben gedruckten Musikalien bis ins 19. Jahrhundert hinein als Verkaufsobjekte dienten.4 Drucklegung und Vertrieb des ersten Teils der Clavier-Übung – die Sechs Partiten BWV 825–830 – hatte Bach von langer Hand vorbereitet. In der Partita I BWV 825 (Leipzig 1726) suchte der Komponist noch den Bezug zum Hof in Köthen: Gewidmet ist das Werk – die „Musicalischen Erstlinge“, wie Bach diese Sätze im handschriftlichen Widmungsexemplar bezeichnete5 – Prinz Emanuel Ludwig (1726–1728), dem neu geborenen Sohn seines ehemaligen Dienstherrn Fürst Leopold und dessen zweiter Ehefrau Charlotte (der Bach wenig später mit der Kantate Steigt freudig in die Luft BWV 36a ebenfalls eine Huldigungsmusik zum Geburtstag übereignete). In der Druckausgabe des Werkes ist die Dedikation nicht vermerkt, wohl aber Bachs Titel eines „Hochfürstlich Anhalt-Cöthnischen würklichen Capellmeisters“, der auch auf den Titelseiten der weiteren Einzeldrucke erscheint.6 Im Übrigen vermittelte ____________ 2 3
4 5 6
Vgl. NBA, Serie I, Bd. 32.1: Ratswahlkantaten I. Kritischer Bericht von Christine Fröde, Kassel [u. a.] 1992, S. 85–88. Zu den Titelseiten dieser Sammlungen vgl. Schriftstücke von der Hand Johann Sebastian Bachs, vorgelegt und erläutert von Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze (= BachDokumente, Bd. I), Leipzig und Kassel 1963 [im Folgenden: Dok. I], Nr. 148 (Orgelbüchlein), Nr. 152 (Wohltemperiertes Clavier) und Nr. 153 (Inventionen). Vgl. Max Schneider, Verzeichnis der bis zum Jahre 1851 gedruckten (und der geschrieben im Handel gewesenen) Werke von Johann Sebastian Bach, in: Bach-Jahrbuch 3 (1906), S. 84–113. Dok. I, Nr. 155, S. 223f. Zu den Titelseiten der Partiten I–V vgl. Dok. I, Nr. 156, 159, 160, 162 und 164, S. 224, 227– 231. Von der sechsten Partita BWV 830 ist kein Exemplar des Einzeldruckes nachweisbar. Ihr
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der Anschluss des Titels Clavier-Übung an das gleichnamige und äußerst erfolgreiche Klavierwerk7 von Johann Kuhnau (1660–1722), Bachs Vorgänger im Amt des Thomaskantors, ebenso die Hoffnung auf einen vergleichbaren Absatz, wie die „Galanterien“, die laut weiterer Titelformulierungen in der Sammlung enthalten waren, Modernität versprachen.8 Möglich ist zudem, dass Bach mit dem deutsch-italienischen Begriff „Partita“ (im Unterschied zum „höfisch“-französischen Terminus „Suite“) auf die klavierspielenden Dilettanten zielte.9 Die Ankündigung der Neuerscheinung in den Leipziger Post-Zeitungen vom 1. November 1726 klärte zugleich darüber auf, dass mit dieser Partita erst der „Anfang gemachet“ war und ihr Komponist plante, das Opus „nach und nach […] zu continuieren“.10 Tatsächlich erschienen im Folgejahr gleichzeitig die Partiten II und III. Bach vertrieb sie über ein weitgespanntes Netz von Kommissionären: Die betreffende Anzeige vom 19. September 1727 nennt Christian Petzold (1677–1733), den Amtsvorgänger Wilhelm Friedemann Bachs (1710–1784) als Organist der Dresdener Sophienkirche, Johann Gotthilf Ziegler (1688–1747), Organist der Ulrichkirche in Halle, den in Lüneburg amtierenden Organisten Georg Böhm (1661–1733), Georg Heinrich Ludwig Schwanenberger (1737–1804) aus Wolfenbüttel sowie den Stadt- und Ratsmusiker Gabriel Fischer (1684–1749) aus Nürnberg und dessen Augsburger Kollegen Johann Michael Roth (Lebensdaten unbekannt) als Kontaktpersonen, bei denen die Werke zu beziehen waren.11 Freilich betätigte sich umgekehrt auch Bach selbst als Kommissionär – so etwa für Johann David Heinichens General-Bass in der Composition (Dresden 1728), für Johann Gottfried Walthers Musikali____________
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Erscheinen bestätigt indes Johann Gottfried Walther, [Art.] Bach, in: ders., Musikalisches Lexikon, Leipzig 1732; Nachdruck hrsg. von Richard Schaal, Kassel [u. a.] 41986, S. 64. Johann Kuhnau, Neuer Clavier Übung Erster Theil; Leipzig 1689. Ein „Ander Theil“ erschien ebenda 1692. Für Bachs Orientierung an dieser Sammlung spricht auch seine ursprüngliche Planung einer siebten Partita, wie sie beide Teile von Kuhnaus Kompendium bieten. Dies belegt die Ankündigung der fünften Partita vom 1. Mai 1730, in der das Erscheinen der „annoch restirenden zweyen letztern“ Werke dieser Reihe für die nächstfolgende Michaelis-Messe angekündigt wird. Gemäß des diatonischen Tonartenplans hätte Bachs siebente Partita in F-Dur gestanden (die beiden Teile von Kuhnaus Sammlung folgen jeweils einer aufsteigenden Tonleiter (vgl. Werner Neumann, Einige neue Quellen zu Bachs Herausgabe neuer Werke, in: Musa – Mens – Musici, hrsg. vom Institut für Musikwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Leipzig 1969, S. 165–168, hier S. 166). Clavir Ubung bestehend in Praeludien, Allemanden, Couranten, Sarabanden, Giguen, Menuetten und anderen Galanterien […] (Dok I., Nr. 156, S. 224). Vgl. Siegbert Rampe, Suiten und Klavierübung, in: Bach Handbuch, hrsg. von Konrad Küster, Kassel [u. a.] 1999, S. 747–787, hier S. 767. Vgl. Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs 1685–1750, vorgelegt und erläutert von Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze (= BachDokumente, Bd. II), Leipzig und Kassel 1969 [im Folgenden: Dok. II], Nr. 241, S. 160f. Vgl. Dok. II, Nr. 224, S. 169.
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sches Lexikon (Leipzig 1732), für Werke Conrad Friedrich Hurlebuschs (1735) und seines Sohnes Wilhelm Friedemann (1745 und 1748).12 Nach sukzessiven, jeweils an den Messeterminen orientierten Druckveröffentlichungen von drei weiteren Partiten (IV: 1728; V und VI: 1730) fasste Bach die sechs Werke in einem Sammeldruck als Opus 1 zusammen (Leipzig 1731) und verwies im Titel auf seine neue Würde als „Hochfürstl. SächsischWeißenfelsischer würklicher Capellmeistern“13 (eine Widmung an Christian von Sachsen-Weißenfels [1682–1736] freilich unterblieb auch hier). Forkel (1749–1818) zufolge machte das Kompendium „zu seiner Zeit in der musikalischen Welt großes Aufsehen“,14 und auch wenn über Absatz und Auflagenhöhe der Werke nichts bekannt ist, darf man annehmen, dass die Unternehmung ein finanzieller Erfolg war, denn ebenso wie Kuhnaus Sammlung wurde Bachs Clavier-Übung I mehrfach aufgelegt.15 Jedenfalls entschloss sich Bach, die Werkreihe fortzusetzen, wobei er für den zweiten und vierten Teil der ClavierÜbung sogar Verleger fand. Im Abstand von jeweils vier Jahren folgte dann ein „Zweyter Theil“ mit dem Italienischen Konzert BWV 971 und der Ouvertüre in h-Moll BWV 831 (Nürnberg 1735)16 – etliche Druckfehler veranlassten Bach wohl bereits im Folgejahr zu einer korrigierten Neuauflage, bei der der Titel und die Seiten 20– 22 nach dem Handexemplar neu gestochen wurden – sowie ein „Dritter Theil“, bestehend aus den Orgelwerken Präludium und Fuge in Es BWV 552, den Choralbearbeitungen BWV 669–689 und den vier Duetten BWV 802–805 ____________ 12 13
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Vgl. Dok. II, Nr. 260, S. 191, Nr. 363, S. 256f., Nr. 373, S. 262f., Nr. 528f., S. 414f., und Nr. 567, S. 446f. Dok. I, Nr. 165, S. 222f. Bach führte diesen Titel (als „Kapellmeister von Haus aus“) spätestens vom 20. März 1729 an (vgl. Dok. I, Nr. 60, S. 129, dort noch parallel zu seinem Köthener Hoftitel, der indes mit dem Tod des Fürsten Leopold praktisch erloschen war) bis zur Auflösung der Kapelle im Sommer 1736. Johann Nikolaus Forkel, Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802, S. 50; Nachdruck mit Quellen und Materialen hrsg. von Christoph Wolff unter Mitarbeit von Michael Maul (= Bach-Dokumente, Bd. VII), Kassel [u. a.] 2008 [im Folgenden: Dok. VII], S. 63. Vgl. Andrew Talle, Zum Vertrieb und Adressatenkreis von Bachs Clavier-Übung, Opus 1, in: Bachs Musik für Tasteninstrumente. Bericht über das 4. Dortmunder Symposium 2002, hrsg. von Martin Geck (= Dortmunder Bach-Forschungen, Bd. 6), Dortmund 2002, S. 213–222. Zweyter Theil der Clavier Ubung bestehend in einem Concerto nach Italienischen Gusto und einer Ouverture nach Französischer Art, vor ein Clavicymbel mit zween Manualen (Dok. I, Nr. 168, S. 235). Dass sich die Tonarten der beiden Werke (F-Dur und h-Moll) im Quintenzirkel diametral gegenüberstehen, muss als eine bewusste Entscheidung des Komponisten gelten, denn zwei ältere Fassungen der Ouvertüre stehen noch in c-Moll (vgl. Christoph Wolff, Ordnungsprinzipien in den Originaldrucken Bachscher Werke, in: Bach-Interpretationen, hrsg. von Martin Geck, Göttingen 1969, S. 144–167, hier S. 149). Zur Pressemeldung dieser Neuerscheinung vgl. Dok. II, Nr. 370, Nr. 260.
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(Leipzig 1739).17 Editionsgeschichtlich nicht uninteressant ist, dass man lange Zeit Bach selbst für den Stecher dieses Werkes hielt. Tatsächlich aber lieferte er wohl nur die Druckvorlage für den Kupferstich, bei dem dann – verfahrensbedingt – auch der Bach’sche Schriftduktus übernommen wurde.18 Die Goldberg-Variationen BWV 988 (Nürnberg 1741 oder 1742) sind im Titel ebenfalls als Clavier-Übung bezeichnet, setzen die Nummerierung der ersten drei Teile aber nicht fort.19 Wie das erst 1975 aufgefundene Handexemplar Bachs zeigt, enthält auch dieser Stich etliche Druckfehler.20 Zur Leipziger Ostermesse 1736, chronologisch also zwischen der Drucklegung des zweiten und des dritten Teils der Clavier-Übung, erschien im Leipziger Verlag Breitkopf das von Georg Christian Schemelli (ca. 1676–1762) herausgegebene Musicalische Gesangbuch,21 dessen Melodien von Bach „theils ganz neu componiret, theils auch von Ihme im General-Baß verbessert“ wurden, wie Friedrich Schultze (1690–1766), Prediger der Zeitzer Schlosskirche, an der Schemelli als Kantor amtierte, in seiner Vorrede erklärte.22 In welchem Ausmaß sich Bach an dem Gesangbuch beteiligte, ist allerdings unklar. Den insgesamt 954 Texten alter und neuer Lieder stehen nur 69 Melodien gegenüber (BWV 439–507); 21 von ihnen erschienen in Schemellis Musicalischem Gesangbuch zum ersten Mal. Arnold Schering (1877–1941) schrieb Bach allerdings die Urheberschaft von nur drei Liedern zu.23 Die Sechs Choräle von verschiedener Art für Orgel BWV 645–650, nach ihrem Verleger und Stecher Johann Georg Schübler (um 1720–?) in Zella als ____________ 17
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Dritter Theil der Clavier Übung bestehend in verschiedenen Vorspielen über die Catechismusund andere Gesaenge, vor die Orgel (Dok. I, Nr. 169, S. 236f.). Zur Ankündigung dieses Werkes in den Leipziger Post-Zeitungen, Ausgabe vom 30. September 1739, vgl. Dok. II, Nr. 456, S. 370. Vgl. Yoshitake Kobayashi, Bachs Notenpapier und Notenschrift, in: Der junge Bach. weil er nicht aufzuhalten… Begleitbuch zur Ersten Thüringer Landesausstellung, hrsg. von Reinmar Emans, Erfurt 2000, S. 413–427, hier S. 414. Clavier Ubung bestehend in einer Aria mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavicimbel mit 2 Manualen (Dok. I, Nr. 172, S. 240). Vgl. Christoph Wolff, Bach’s Handexemplar of the Goldberg Variations: A New Source, in: Journal of the American Musicological Society 29 (1976), S. 224–241; gekürzte deutsche Fassung: Bachs Handexemplar der Goldberg-Variationen – eine neue Quelle, in: Bericht über die wissenschaftliche Konferenz zum III. Internationalen Bachfest der DDR, Leipzig 18./19. September 1975, im Auftrag des Johann-Sebastian-Bach-Komitees der DDR, hrsg. von Werner Felix und Armin Schneiderheinze, Leipzig 1977, S. 79–90. Dok. II, Nr. 378, S. 266. Zitiert nach Dok. II, Nr. 379, S. 266f., hier S. 267. Arnold Schering, Bach und das Schemellische Gesangbuch, in: Bach-Jahrbuch 21 (1924), S. 105–124, bes. S. 106 und S. 124. Gemeint sind die Lieder Dir, dir, Jehova, will ich singen BWV 452, Komm, süßer Tod BWV 478 und Vergiss mein nicht, mein allerliebster Gott BWV 505. Letzterer Satz ist durch den Autorvermerk „Di S. Bach D. M. Lips“ als Originalkomposition nachgewiesen (vgl. NBA, Serie III, Bd. 2.1: Choräle und geistliche Lieder. Repertoires der Zeit vor 1750. Kritischer Bericht von Frieder Rempp, Kassel [u. a.] 1991, S. 111).
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Schübler-Choräle bekannt, erschienen 1748 oder 1749.24 Dass es sich hierbei um Bearbeitungen von Kantatensätzen handelt,25 ist im Titel nicht vermerkt – offenbar spielte es für den Verkauf keine Rolle. Noch Friedrich Conrad Griepenkerl (1782–1849), der in den Jahren 1845–1847 eine siebenbändige Edition von Bachs Orgelwerken besorgte, hielt die Werke für genuine Orgelkompositionen. Die Komposition und der Druck von Teilen des Musikalischen Opfers BWV 1079 waren bereits zwei Monate nach Bachs Besuch am Hofe Friedrichs II. vollendet, so dass Bach diesem wohl im Juli 1747 ein Widmungsexemplar übersandte.26 Dass er das Thema Regium „in einer ordentlichen Fuga zu Papiere bringen und hernach in Kupfer stechen lassen“ wollte, hatte der Komponist offenbar schon am ersten Abend seines Besuches in Potsdam bekanntgegeben, wurde jedenfalls noch während seines Aufenthaltes in den Berlinischen Nachrichten mitgeteilt.27 Das gesamte Werk lag zur MichaelisMesse Ende September 1747 im Druck vor. Über Auflage und Verbleib der bereits im Folgejahr vergriffenen Erstausgabe (auf Grundlage eines Stiches von Johann Georg Schübler) informierte der Thomaskantor am 6. Oktober 1748 seinen Cousin Johann Elias Bach (1705–1755): Mit dem verlangten exemplar der Preußischen Fuge kan voritzo nicht dienen, indem justement der Verlag heüte consumiret worden; (sintemalen nur 100 habe abdrucken laßen, wovon die meisten an gute Freunde gratis verthan worden). Werde aber zwischen hier u. neüen Jahres Meße einige wieder abdrucken laßen.28
Tatsächlich erschien Anfang 1749 eine zweite Auflage. Ihre Höhe belief sich wohl ebenfalls auf 100 Exemplare, denn von dem Titel und der Vorrede des Werkes hatte Bach im Juli 1747 bei Breitkopf 200 Abzüge bestellt.29 Die Kanonischen Veränderungen über „Vom Himmel hoch“ BWV 769,30 komponiert für die Aufnahme in die von Lorenz Mizler (1711–1778) gegrün____________ 24
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Vgl. Dok. I, Nr. 175, S. 245f., und NBA, Serie IV, Bd. 1: Orgelbüchlein, Sechs Choräle von verschiedener Art (Schübler-Choräle), Choralpartiten. Kritischer Bericht von Heinz-Harald Löhlein, Kassel [u. a.] 1987, S. 127ff. Fünf Kantaten entstanden zwischen 1724 und 1731 (ebd., S. 160). Von der sechsten Choralbearbeitung (BWV 646) fehlt der Nachweis einer Vorlage – dass sie auf den Satz einer (verschollenen) Kantate zurückgeht, ist wahrscheinlich, aber letztlich nicht sicher. Zur Titelseite und Widmung des Musikalischen Opfers vgl. Dok I., Nr. 173, S. 241ff. Der Zueignungstext ist auf den 7. Juli 1747 datiert. Vgl. Dok. II, Nr. 554, S. 434f. Johann Sebastian Bach, Brief an Johann Elias Bach, 6. Oktober 1748 (Dok. I, Nr. 49, S. 117f., hier S. 117). Vgl. Dok. II, Nr. 556, S. 436. Einige canonische Veränderungen über das Weynachts-Lied: Vom Himmel hoch, da komm ich her (Dok. I, Nr. 176, S. 245f.).
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dete „Correspondierende Societät der musicalischen Wissenschaften“,31 erschienen 1748 bei dem Nürnberger Drucker und Verleger Balthasar Schmid (1705–1749). Abweichungen zwischen Erstdruck und autographer Reinschrift haben die Bach-Forschung zu lang anhaltenden Debatten darüber veranlasst, welche dieser beiden Quellen Bachs letztgültige Intention wiedergebe. Gregory G. Butler konnte indes plausibel machen, dass beiden Quellen offenbar zeitlich parallel entstanden und das Konzept einer „Fassung letzter Hand“32 weder auf dieses Werk noch auf Bachs künstlerischen Ansatz überhaupt anwendbar ist.33 An weiteren im Druck erschienenen Kompositionen sind noch zwei Kanons zu nennen: der sechsstimmige Tripelkanon BWV 1076, der auch auf dem von Haußmann angefertigten Bach-Portrait zu sehen ist und dessen (offenbar nur in geringer Stückzahl hergestellte) Druckexemplare von 1747 anscheinend ebenfalls für die Mitglieder der Mizler’schen Sozietät bestimmt waren, sowie der vierstimmige Rätselkanon BWV 1074, der sich zu Bachs Lebzeiten großer Beliebtheit erfreute und in Lehrbüchern verbreitet war.34 Ein weiteres Projekt – die Drucklegung der Kunst der Fuge BWV 1080 – hatte Bach weit vorangetrieben. Das Werk erschien aber erst posthum und wurde Ende 1750 oder Anfang 1751 von Carl Philipp Emanuel Bach herausgegeben. Ob die im Druck fixierte Werkgestalt der Intention ihres Komponisten entspricht, ist unklar, da es Bachs „letzte Kranckheit […] verhindert[e], seinem Entwurf nach, die vorletzte Fuge völlig zuende zu bringen, und die letzte […] auszuarbeiten“.35 1752 besorgte Friedrich Wilhelm Marpurg (1718– 1795) eine zweite Auflage. Finanziell scheint die Drucklegung allerdings ein Misserfolg gewesen zu sein, denn schon 1756 wurden die Kupferplatten von ____________ 31
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Vgl. die Auskunft Lorenz Mizlers im Anschluss an den Nekrolog: „Zur Societät hat er [Bach] den Choral geliefert: Vom Himmel hoch da komm’ ich her, vollständig ausgearbeitet, der hernach in Kupfer gestochen“; zitiert nach: Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs, vorgelegt und erläutert von Hans-Joachim Schulze (= Bach-Dokumente, Bd. III), Leipzig und Kassel 1984 [im Folgenden: Dok. III], Nr. 666. Im Juni 1747 wurde Bach als 14. Mitglied aufgenommen (vgl. ebd., Nr. 665). Zur Problematik des Begriffs vgl. Georg von Dadelsen, Die „Fassung letzter Hand“ in der Musik, in: Acta Musicologica 33 (1961), S. 1–14. Gregory G. Butler, Bach’s Clavier-Uebung III: The Making of a Print,with a Companion Study of the Canonic Variations on “Vom Himmel Hoch” BWV 769, Durham 1990; ders., J. S. Bachs Kanonische Veränderungen über „Vom Himmel hoch“ (BWV 769). Ein Schlußstrich unter die Debatte um die Frage der „Fassung letzter Hand“, in: Bach-Jahrbuch 86 (2000), S. 9–33. Der Kanon findet sich in: Der getreue Music-Meister, hrsg. von Johann Valentin Görner und Georg Philipp Telemann, Hamburg 1728, S. 68; Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, S. 412; Lorenz Christoph Mizler, Neu eröffnete musikalische Bibliothek, Bd. 3, Leipzig 1747, S. 482f.; und Friedrich Wilhelm Marpurg, Abhandlung von der Fuge, 2. Teil, Berlin 1754, S. 99f. und Tab. XXXIII, Fig. 2. Von dem Erstdruck ist kein Exemplar bekannt, auch das Autograph ist verschollen (Angaben nach Dok. I, Nr. 158, S. 226). Carl Philipp Emanuel Bach, Nekrolog (Dok. III, Nr. 666, S. 80–93, hier S. 86).
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Carl Philipp Emanuel Bach „für einen billigen Preiß“ angeboten, nachdem „nur ungefähr dreyßig Exemplare davon abgesetzet“ worden waren.36
II.
Auf dem Weg zur Gesamtausgabe
Nach Bachs Tod bezeichnet die von Carl Philipp Emanuel Bach herausgegebene, etwa zweihundert Kirchenlieder umfassende Sammlung Johann Sebastian Bachs vierstimmige Choralgesänge (2 Bände, Berlin 1765 und 1769) den ersten Versuch, die Werke des Thomaskantors aus historisch-konservatorischen und liturgisch-musikpraktischen Gründen bereitzustellen. Umfangreicher noch war eine zweite, in vier Lieferungen erschienene „Choral“Sammlung (Leipzig 1784–1787), die von ihrem Verleger Johann Gottlob Immanuel Breitkopf (1719–1794) im Subskriptionsaufruf für die zweite Auflage als „die einzigen Muster des reinen Satzes und eine nie versiegende Quelle für angehende Componisten“ beworben wurde.37 Diese Ansicht teilten auch jene Musiktheoretiker, die Ausschnitte oder (Teil-)Sätze aus diesen Sammlungen als Unterrichts- oder musikgeschichtliches Belegmaterial heranzogen – darunter Johann Philipp Kirnberger (1721–1783) in Die wahren Grundsätze zum Gebrauch der Harmonie (1773) und in der Kunst des reinen Satzes in der Musik (1771–1779), John Hawkins (1719–1799) in seiner General History of the Science and Practice of Music (London 1776), Johann Friedrich Reichardt (1752–1814) im Musikalischen Kunstmagazin (Bd. 1, 1782) sowie im Essay of Practical Musical Composition (London 1799) August Friedrich Kollmanns (1756–1829), der sich für einen interkulturellen Wissensaustausch zwischen dem Fürstentum Hannover und London einsetzte und die Rezeption deutscher Musik und Musiktheorie in England nachhaltig forcierte. Die eigentliche Bach-Renaissance zu Beginn des 19. Jahrhunderts allerdings verband sich mit seinen Klavierwerken. Vor allem das Wohltemperierte Clavier gehörte zum Repertoire eines jeden guten Pianisten.38 So verwundert es wenig, dass eine Druckausgabe gerade dieser Sammlung ein vielfältiges verlegerisches Interesse fand: Nachdem eine geplante Edition des Berliner Verlegers Johann Carl Friedrich Rellstab (1759–1813), der bereits im September 1790 „Joh. Seb. Bachs, zweymal 24 Vorspiele und Fugen aus allen Tonar____________ 36 37 38
Dok III, Nr. 683, S. 113. Vgl. auch Peter Schleuning, Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“. Ideologien – Entstehung – Analyse, Kassel [u. a.] 1993, S. 254. Dok. III, Nr. 849, S. 341. Karen Lehmann, Die Idee einer Gesamtausgabe. Projekte und Pläne, in: Bach und die Nachwelt, Bd. 1: 1750–1800, hrsg. von Michael Heinemann und Hans-Joachim Hinrichsen, Laaber 1997, S. 225–304, hier S. 256.
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ten“ als „das Erste und Bleibendste was die deutsche Nation als Musickunstwerk aufzuzeigen hat“,39 angekündigt hatte, mangels Subskribenten nicht zustande gekommen war, erschien das Wohltemperierte Clavier nach der Wende zum 19. Jahrhundert nahezu zeitgleich in zwei Verlagen – bei Nikolaus Simrock (1773–1832) in Bonn und bei Hans Georg Nägeli (1773–1836) in Zürich. (Letzterer realisierte eine Herausgabe in der Reihe Musicalische Kunstwerke im strengen Style von J. S. Bach und anderen Meistern, die auch die GoldbergVariationen, die Sonaten für Violine Solo BWV 1014–1019 und die Kunst der Fuge enthielt). Auch Kollmann beabsichtigte eine Edition des Wohltemperierten Claviers, rückte von der Idee aber wieder ab, nachdem er von den ambitionierten Plänen der „Œuvres complettes de Jean Sebastian Bach“ in Leipzig gehört hatte,40 die das von Franz Anton Hoffmeister (1754–1812) und Ambrosius Kühnel (1770–1813) begründete „Bureau de Musique“ in Angriff nahm.41 Beethoven war von diesem editorischen Vorhaben hellauf begeistert: Daß sie Sebastian Bach’s Werke herausgeben wollen, ist etwas, was meinem Herzen, das ganz für die Hohe Große Kunst dieses Urvaters der Harmonie schlägt, recht wohl thut, und ich bald im vollen Laufe zu sehen wünsche, ich hoffe von hier aus, sobald wir den goldenen Frieden verkündigt werden hören, selbst manches dazu Beyzutragen, sobald sie darauf prenumeration nehmen.42
Redaktionell betreut wurde die Gesamtausgabe von Bachs Klavier- und Orgelwerken in 16 Bänden (Leipzig und Wien 1801–1804) von Johann Nikolaus Forkel, der im selben Verlag auch die erste ausführliche Bach-Biographie (Leipzig 1802) vorlegte und die Gelegenheit nutzte, die „vollständige und kritisch-correcte Ausgabe der Seb. Bachischen Werke“ gleich im ersten Absatz seiner Vorrede als eine „rühmliche Unternehmung“ zu bewerben.43 So verfes____________ 39 40
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Carl Friedrich Rellstab, Ankündigung einer Druckausgabe des Wohltemperierten Claviers (Dok. III, Nr. 955, S. 486–488). Michael Heinemann und Hans-Joachim Hinrichsen, Mit Bach, in: dies. (Hrsg.), Bach und die Nachwelt, Bd. 1: 1750–1800, Laaber 1997, S. 13–24, hier S. 20. Eine Edition von Bachs sämtlichen Klavierwerken erschien bei Robert Birchall (ca. 1750–1819) in London zwischen 1810 und 1813. Karen Lehmann, Die Anfänge einer Bach-Gesamtausgabe. Editionen der Klavierwerke durch Hoffmeister und Kühnel (Bureau de Musique) und C. F. Peters in Leipzig 1801–1865. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte J. S. Bachs (= Leipziger Beiträge zur Bach-Forschung, Bd. 6), Leipzig [u. a.] 2004, S. 42. Ludwig van Beethoven an Franz Anton Hoffmeister, 15. Januar 1801 (Nr. 54), in: Ludwig van Beethoven. Briefwechsel. Gesamtausgabe, im Auftrag des Beethoven-Hauses Bonn hrsg. von Sieghard Brandenburg, Bd. 1: 1783–1807, München 1996, S. 63f., hier S. 63. In seinem Brief an Hoffmeister vom 22. April 1801 subskribierte Beethoven die Ausgabe (ebd., Nr. 60, S. 72f., hier S. 72). Forkel, Über Johann Sebastian Bachs Leben (wie Anm. 14), S. V (Dok. VII, S. 9).
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tigte sich Bachs Ausnahmestellung als „stärkste[r] Orgel- und Clavierspieler […], den man jemals gehabt hat“,44 sowohl editorisch als auch publizistisch. Von einer „Gesamtausgabe“ im heutigen Wortsinn sind die „Œuvres complettes“ freilich denkbar weit entfernt. Forkel klammerte Bachs Vokalwerke von vornherein aus seinen Editionsplänen aus und entschied die Frage, ob ein Bach-Werk einer Veröffentlichung wert ist, im Übrigen nach persönlicher Einschätzung der betreffenden Komposition als eine „Meister-“ oder eine „Schülerarbeit“. Dabei fielen die vor 1725 entstandenen Werke ausnahmslos in die letzte Kategorie und verdienten nach Ansicht Forkels „eben so wenig in eine Ausgabe seiner Werke aufgenommen zu werden, als man die SchulExercitia eines nachher groß gewordenen Gelehrten unter seine Opera aufzunehmen pflegt“.45 Forciert wurde die breite Akzeptanz der neuen Druckausgaben gewiss nicht zuletzt durch den modernen Plattendruck, mit dem alle drei Verleger ihre Editionen des Wohltemperierten Claviers realisierten. Das neue Tiefdruckverfahren zeitigte ein übersichtlicheres und ungleich gefälligeres Stichbild als der Typendruck der zweibändigen Ausgabe von J. S. Bach’s Motetten in Partitur (Leipzig 1802/03), die der Gewandhauskapellmeister und spätere Thomaskantor Johann Gottfried Schicht (1753–1823) bei Breitkopf & Härtel betreut hatte.46 Dass die Resonanz auf diese Ausgabe gleichwohl vorteilhaft ausfiel, mag vorrangig mit ihrer Monopolstellung zusammenhängen: Weder erschienen Bachs Motetten in den folgenden Jahren und Jahrzehnten in einer Konkurrenzausgabe, noch zeigten andere Verlage überhaupt Interesse an einer Veröffentlichung von Bachs Vokalmusik. So kündigte Breitkopf & Härtel zusammen mit dem zweiten Band der Motetten noch ein weiteres Vokalwerk Bachs an, dessen Herausgabe 1805 wiederum von Schicht besorgt wurde: die zweichörige Messe G-Dur BWV Anh. II 167, die sich indes bald als Fehlzuschreibung erwies.47 Ab etwa 1820 ist die Zahl der praktischen Ausgaben von Bachs Klavierwerken bereits unüberschaubar. Zunehmend wurden sie mit Fingersätzen und spielpraktischen Hinweisen zur Dynamik, zum Tempo und zur Artikulation ____________ 44 45
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Carl Philipp Emanuel Bach, Nekrolog (Dok III., Nr. 666, S. 80–93, hier S. 87). Brief Forkels an Hoffmeister und Kühnel, 4. Mai 1802, in: The Forkel – Hoffmeister & Kühnel Correspondence. A Document of the Early 19th-Century Bach Revival, hrsg. von George B. Stauffer, New York 1990, Nr. 9; zitiert nach Lehmann 1997 (wie Anm. 38), S. 265. BWV 225–229 sowie BWV Anh. III 159; mit teilweise deutlich abweichendem Notentext und geänderten Texten. Der Name des Herausgebers ist – zeittypischen Usancen folgend – in der Ausgabe nicht vermerkt. Im selben Verlag besorgte Schicht zwischen 1803 und 1806 auch eine vierbändige Edition mit Bach’s Choral-Vorspielen für die Orgel. Alfred Dörffel schrieb das Werk Johann Ludwig Bach zu (BG, Bd. 16, S. XXXIX); Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach, Bd. 2, Leipzig 1887, S. 508f., vermutete Antonio Lotti als Komponisten.
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ausgestattet. Dies gilt schon für die von Friedrich Konrad Griepenkerl besorgte Ausgabe der Chromatischen Fantasie BWV 903 (Leipzig 1819) und erst recht für die Interpretationsausgaben wie etwa Liszts Edition einzelner Präludien und Fugen des Wohltemperierten Claviers sowie der Chromatischen Fantasie oder die zweite, ebenfalls als „Œuvres complets“ betitelte Ausgabe mit Klavier-, Kammermusik- und konzertanten Werken Bachs (Leipzig 1837–1852), die bei C. F. Peters, dem Nachfolgeverlag von Hoffmeister & Kühnel, erschien; sie wurde von Carl Czerny (1791–1857) begonnen, nach einem Zerwürfnis zwischen Herausgeber und Verlag ab 1842 von Griepenkerl weitergeführt und nach dessen Tod von Siegfried Wilhelm Dehn (1799–1858) abgeschlossen.48 Auch die Ausgaben Hans von Bülows (1830–1894) stehen in der Tradition dieses Editionstypus. Eine „dritte Gesamtausgabe“, die in den Jahren 1866/1867 als Fortsetzung der Gesamtausgabe von 1837 erschien, enthielt Ergänzungen weiterer Klavier- und Instrumentalwerke sowie nun endlich auch die Editionen der großen Vokalwerke, die in den bisherigen „Gesamtausgaben“ keine Berücksichtigung gefunden hatten. So sehr aber Herausgeber und Verlag ihre Bearbeitungsausgaben im Blick auf Dilettanten für gerechtfertigt hielten, so umstritten war eine solche Editionspraxis bereits zu Czernys Lebzeiten. Namentlich Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) lehnte diesen Typus vehement ab und proklamierte mit dem Anspruch, Bachs Werke „unverfälscht“ und möglichst nach dem Autograph zu edieren, herausgeberische Grundsätze, die er 1845 in den Druckveröffentlichungen einiger Orgelkompositionen Bachs49 im Londoner Verlag Coventry und Hollier auch praktisch umsetzte. Nachdem Georg Poelchau (1773–1836) im Jahre 1811 die weihnachtlichen Einlagesätze des Magnificat BWV 243a und 1818 die Missa A-Dur BWV 234 bei Simrock im Druck veröffentlicht hatte (1828 sollte die Missa G-Dur BWV 236 folgen) und Friedrich Schneider (1786–1853) im Zusammenhang mit dem 300. Jahrestag der Reformation 1817 die Drucklegung der Kantate Ein’ feste Burg ist unser Gott BWV 80 vorbereitet hatte (Erstdruck 1821), erschienen 1830 auch Bachs große Vokalwerke im Druck: bei Adolph Schlesinger die Matthäus-Passion, bei Traugott Trautwein die Johannes-Passion und bei Nicolaus Simrock die von Adolf Bernhard Marx (1795–1866) heraus____________ 48 49
Vgl. Lehmann 1997 (wie Anm. 38), S. 276ff. Zum Inhalt der einzelnen Bände vgl. ebd., S. 289–298. Im Einzelnen: Orgelbüchlein BWV 599–664, die Choralbearbeitungen BWV 651–663 und BWV 740 sowie die Choralpartiten Christ, du bist der helle Tag BWV 766 und Sei gegrüßet, Jesu gütig BWV 768. Zu Mendelssohns Editionsmethode vgl. Reinmar Emans, Zwei Herzen in einer Brust – Zwischen Historismus und Pragmatismus. Felix Mendelssohn Bartholdys und Johannes Brahms’ editorischer Umgang mit den Werken Bachs und Händels, in: editio 20 (2006), S. 84–96.
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gegebenen Kantaten BWV 101–103 (1831 folgten die Kantaten BWV 104– 106). Als ein Nachteil der Editionen von Schlesinger und Marx erwies sich der Verzicht auf die Mitteilung der Generalbassbezifferung. 1833 veranlassten Nägeli und Simrock die Veröffentlichung von Kyrie und Gloria der h-MollMesse, nachdem ersterer bereits 1818 – allerdings erfolglos – in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung zur Subskription des „grössten musikalischen Kunstwerks aller Zeiten und Völker“ aufgerufen hatte.50 Die Herausgabe des zweiten Teils folgte erst 1845. Am 31. Juli 1850, anlässlich des 100. Todestages Bachs, rief Gustav Bock in der Neuen Berliner Musikzeitung zur „Stiftung einer Bach-Gesellschaft“ auf, deren Aufgabe es sein sollte, „dem grossen Manne ein Denkmal zu setzen, das seiner und der Nation würdig sei“.51 Es war dies die Geburtsstunde der ersten „vollständigen kritischen Ausgabe aller Werke Johann Sebastian Bach’s“, herausgegeben von der Bach-Gesellschaft zu Leipzig, verlegt bei Breitkopf & Härtel in den Jahren 1851–1899.
III.
Die Bach-Gesamtausgabe (BG)
Spätestens mit der Aufführung von Bachs Matthäus-Passion BWV 244 durch Felix Mendelssohn Bartholdy am 11. März 1829 in Berlin rückte das Vokalwerk des Thomaskantors verstärkt in den Fokus der Musikpraktiker. Zur gleichen Zeit versuchte sich Johann Nepomuk Schelble (1789–1837) als Leiter des Cäcilienvereins in Frankfurt an Teilen der h-Moll-Messe BWV 232. Da diese ebenso wie die Johannes- und die Matthäus-Passion BWV 245 bzw. 244 im Druck vorlag, wundert es kaum, dass man vorrangig diese Großwerke aufführte. Für Aufführungen von Kantaten musste das Notenmaterial hingegen erst erarbeitet werden, da nur wenige Editionen greifbar waren (so etwa die sechs von Adolf Bernhard Marx herausgegebenen Kantaten BWV 101–106 oder die Ausgabe der Kantate Ein feste Burg ist unser Gott BWV 80 von Friedrich Schneider). Dennoch schätzte Schelble zu Beginn der 1830er Jahre das öffentliche Interesse an einer Gesamtausgabe eher gering ein. In einem Brief an den Musikalien-Sammler Franz Hauser (1794–1870), der der Gesamtausgabe mit ____________ 50
51
Hans-Georg Nägeli, Subskriptionsaufruf für die Ausgabe der Messe in h, in: Ausgewählte Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1801–1850, hrsg. von Andreas Glöckner, Anselm Hartinger und Karen Lehmann (= Bach-Dokumente, Bd. VI), Kassel [u. a.] 2007 [im Folgenden: Dok. VI], C 50, S. 462f. Gustav Bock, Aufforderung zur Stiftung einer Bach-Gesellschaft (Dok. VI, C 35, S. 444–447, hier S. 444).
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seinem Katalog Johann Sebastian Bach’s Sämmtliche Werke, thematisch verzeichnet überhaupt erst den Weg geebnet hatte, urteilte Schelble: In Deutschland ist nichts Grosses zu erwarten, auch kein König wird sich in Bach’s Muse vertiefen. Die Musiker selbst müssen die Sache in die Hand nehmen und eine Ausgabe der Bach’schen Werke veranstalten. 52
Als in den 1840er Jahren die Händel-Gesellschaft den Plan fasste, eine Gesamtausgabe vorzulegen, rührte sich auch das Bach-Lager: So erfreulich es auch für den deutschen Musiker sein muß, so knüpft sich doch ein trauriger Gedanke daran: für Händel haben sich schon so viele Hände gerührt, für unsern großen Sebastian noch nicht. Sollen wir uns auch darin von den Engländern überholen lassen, und gewiß sie werden es uns zu unserer Beschämung, wenn wir nicht bald dazu thun.
Und in der dazu gehörigen Fußnote heißt es: Die Zeit ist vielleicht nicht so fern, wo der Plan einer vollständigen Ausgabe Bach’s dem Publicum vorgelegt werden dürfte.53
Dank der intensiven Bemühungen des Altertumsforschers Otto Jahn (1813– 1869), der als Mozart-Biograph (4 Bände, Leipzig 1856–1859) später auch für die Musikwissenschaft von Bedeutung war, wurde zur 100. Wiederkehr des Todestages Bachs die Bach-Gesellschaft zu Leipzig ins Leben gerufen, deren Ziel es war, sämtliche Werke des Thomaskantors zu veröffentlichen. Unterzeichner des Aufrufs waren die Komponisten Robert Schumann (1810–1856), Franz Liszt (1811–1886), Ignaz Moscheles (1794–1870) und Louis Spohr (1784–1859) sowie einige namhafte Bach-Forscher bzw. Direktoren verschiedener Singakademien und Konservatorien. Als Vorsitzender fungierte der amtierende Thomaskantor Moritz Hauptmann (1792–1868), der nicht nur für die Editionsrichtlinien hauptverantwortlich, sondern auch als Bandherausgeber eine der produktivsten Kräfte war. Vom Verlag C. F. Peters, in dem seit 1837 die primär von Friedrich Konrad Griepenkerl und dann von Siegfried Wilhelm Dehn veranstalteten Œuvres Complets erschienen, wurde der Plan zu dieser Gesamtausgabe offenkundig stark beargwöhnt. Für eine ernsthafte Konkurrenzsituation spricht auch, dass Breitkopf & Härtel als Verlag gewonnen wer____________ 52
53
Der Brief befindet sich im Fotoarchiv des Bärenreiter-Verlages Kassel; zitiert nach: 40 Jahre Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen. Bach-Ausgaben einst und jetzt. Aus der Arbeit des Johann-Sebastian-Bach-Instituts Göttingen, Katalog von Kirsten Beißwenger und Bettina Faulstich anlässlich einer Ausstellung im Foyer der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen vom 7. April bis 3. Mai 1991, Privatdruck Göttingen 1991, S. 17. Die Händelgesellschaft, in: Neue Zeitschrift für Musik 19 (1843), Nr. 22, S. 87.
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den konnte und – wie im ersten Band der BG ausgeführt wird – Dehn, der wegen früherer Verpflichtungen an Peters gebunden war, „nur für die Herausgabe der Gesangcompositionen seine Theilnahme zusichern konnte“.54 In Nr. 30 der Signale für die Musikalische Welt 1850 wird die geplante Ausgabe angekündigt: Ein Nationalunternehmen. Unter den mancherlei Kundgebungen, den am 28. Juli dieses Jahres fallenden Todestag des großen Meister deutscher Tonkunst, Johann Sebastian Bach, würdig zu feiern, haben wir besonders einen Gedanken als glücklich und folgenreich zu preisen. Es ist die von Leipzig ausgegangene Idee, durch Herstellung einer schönen und correcten Ausgabe von Bach’s sämmtlichen Werken, dem deutschen Meister das schönste und ehrenvollste Denkmal zu setzen. Dazu hat sich eine Anzahl um die Tonkunst hochverdienter Männer verbunden, deren näher ausgeführten Plan wir weiter unten in ihren eigenen Worten folgen lassen, indem wir zugleich alle deutschen Künstler und Kunstfreunde einladen, sich bei diesem die Ehre der Nation betreffenden Unternehmen zahlreich und warm zu betheiligen. […] Wer da weiß, wie lückenhaft die Kenntniß der Schöpfungen Bachs jetzt im Allgemeinen noch ist, mit welchem Zauber aber der Meister den zu sich hinzieht, der sich ihm treuen Sinnes genähert hat, der wird auch ahnen können, welchen Umschwung die größere Verbreitung seiner Werke in der musikalischen Welt – aber freilich nur im Laufe der Zeit – hervorbringen muß. Daß das lebende Geschlecht wieder fähig und bereit ist, den Sebastian Bach zu studiren, halten wir für ein sehr günstiges Zeichen […].
Damit wurde neben der nationalen Denkmalsetzung eine weitere wesentliche Zielsetzung der Ausgabe benannt: das Studium der Werke. Der philologisch geschulte Otto Jahn zielte bei seiner Konzeption weniger auf den ausführenden Musiker als vielmehr auf den Wissenschaftler – doch genau das war zunächst die Achilles-Ferse der Ausgabe. Deutlicher wird diese Grundtendenz noch bei der „Aufforderung zur Stiftung einer Bach-Gesellschaft“: Man wolle eine „durch Vollständigkeit und kritische Behandlung den Anforderungen der Wissenschaft und Kunst genügende Ausgabe seiner Werke“ vorlegen, die wirklich vollständig sein soll: Die Aufgabe ist, alle Werke Joh. Seb. Bachs, welche durch sichere Ueberlieferung und kritische Untersuchung als von ihm herrührend nachgewiesen sind, in einer gemeinsamen Ausgabe zu veröffentlichen. Für jedes wird wo möglich die Urschrift oder der vom Componisten selbst veranstaltete Druck, wo nicht, die besten vorhandenen Hülfsmittel zu Grunde gelegt, um die durch die kritisch gesichtete Ueberliefe____________ 54
BG, Bd. 1, S. III.
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rung beglaubigte ächte Gestalt der Compositionen herzustellen. Jede Willkühr in Aenderungen, Weglassungen und Zusätzen ist ausgeschlossen.55
Den ehrgeizigen Publikationsplan koppelte man an die Menge der Subskribenten, da die Ausstattung ohne luxuriös zu sein in Format, Druck und Papier sich vor den gewöhnlichen Publicationen in einer Weise auszeichnen, wie es sich für ein Nationalunternehmen geziemt. Je größer die Anzahl der Subscribenten ist, um so mehr wird jährlich publicirt […].56
Die Ausgabe ist in zwei Abteilungen gegliedert: „1) Gesangmusik a) mit und b) ohne Begleitung. 2) Instrumentalcompositionen a) für Orgel, b) Klavier, c) Orchester.“ Vorgesehen war der Partiturdruck, doch sollte bei den Vokalkompositionen mit Begleitung „auch ein Klavierauszug untergelegt“ werden. Diese Idee wurde dann aber von Moritz Hauptmann verworfen und, ebenso wie die zeitweilig geplante Aussetzung des Generalbasses, letztlich nicht umgesetzt. Unter dem Aspekt der Vollständigkeit werde das Streben dahin gerichtet sein, die Veröffentlichung ungedruckter oder durch Seltenheit so gut wie unbekannter Werke thunlichst in den Vordergrund treten zu lassen.57
Der geringen Erfahrung mit der Edition von barocken Vokalkompositionen ist es zumindest auch zuzuschreiben, dass die BG nicht, wie eigentlich geplant, mit der h-Moll-Messe die Publikationsreihe eröffnete, sondern mit einem Band, der 10 Kirchenkantaten enthält (BWV 1–10). Wenig erbaulich dürfte es für den Herausgeber Moritz Hauptmann gewesen sein, dass nur zwölf Chorvereine und kein einziger protestantischer Kirchenchor die Ausgabe subskribierten.58 Dabei waren diese die eigentlichen Adressaten, da sie eine weitere Verbreitung der Vokalmusik Bachs erst ermöglicht hätten. Gut zehn Jahre später hatte sich der Subskribentenkreis allerdings genau in die gewünschte Richtung erweitert. Der wissenschaftliche Anspruch der Ausgabe zeigt sich in einer knappen Quellenbeschreibung zu jeder Kantate. Zwar gingen diese Beschreibungen zunächst nur selten über die Mitteilung des Aufbewahrungsortes der Quelle und eine Auflistung der Einzelstimmen hinaus. Doch werden bereits im Vorwort die unterschiedliche Funktion von Partitur und Stimmen sowie deren ____________ 55 56 57 58
Signale für die Musikalische Welt 8 (1850), Nr. 30, S. 290. Mit nur geringen Änderungen wurde dieser Aufruf auch für das Vorwort des ersten Bandes der BG genutzt. Ebd. Ebd. Vgl. BG, Bd. 46, S. LVI.
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Konsequenz für einen zuverlässigen Notentext diskutiert. Eine derartige funktionale Differenzierung der Quellen war von der Edition der Tastenmusikwerke her nicht bekannt, da diese normalerweise nur in Partitur notiert wurden: Wer die Originalpartituren S. Bach’s kennt, die sehr flüchtige, vielfach corrigirte und überschriebene, oft schwer zu entziffernde Schrift derselben, wird nicht in Abrede sein, dass solche Stimmen, die zu grossem Theil von S. Bach’s Hand selbst geschrieben, und wo dies nicht der Fall ist, von ihm revidirt, berichtigt und mit Vortragsbezeichnung versehen worden sind, zur Herstellung einer vollständigen, die Intention des Componisten unzweideutig dargelegten Partitur dem Autographon derselben immer weit vorzuziehen sind.59
Und doch blieb letztlich ungeklärt, welchen Anteil die Stimmen bei der Konstitution des Textes haben sollten. Übernommen wurde aus ihnen allerdings die Continuo-Bezifferung, die in Bachs Partituren in aller Regel nur ganz rudimentär zu finden ist. Über weitere Abweichungen zwischen Partitur und Stimmen informiert die Quellenbeschreibung nicht. Die relative Vollständigkeit der artikulatorischen Angaben lässt allerdings erkennen, dass die Stimmen zumindest für die akzidentelle Ebene herangezogen wurden. Eine Begründung für ein solches Verfahren der Quellenmischung findet sich, wenngleich in dieser Verallgemeinerung gewiss unrichtig, ebenfalls im Vorwort: Wir treffen fast nie eine Stimme von denen die zur Musikaufführung unter seiner Leitung gedient haben, in der nicht die für die Redaction immer sehr erfreulichen und dem Geschäft Sicherheit leistenden Schriftzüge der Hand S. Bach’s sich gewahren lassen.60
Die wissenschaftliche Ausrichtung der BG, die gewiss von Jahn anvisiert und von Moritz Hauptmann verfestigt wurde, verursachte bei den Praktikern freilich zunächst mehr Irritationen als vertiefte Einsichten. Die ausführliche Rechtfertigung des rein wissenschaftlichen Charakters, die Hauptmann am 20. September 1851 dem Direktorium unterbreitete, spiegelt zugleich das eigentliche Dilemma wider: Man war sich nicht im Klaren darüber, wie mit dieser scheinbar nur rudimentär aufgezeichneten Musik umzugehen war. Zwar wurde die Beigabe eines Klavierauszuges, der der praktischen Ausführung dienen sollte und entsprechend „eingerichtet“ werden musste, als möglicherweise „ganz verdienstlich“ angesehen, weil diese „den Begleiter der Mühe und Schwierigkeit überhebt, sich selbst nach Gutdünken und Dafürhalten eine harmonische Ausführung zurecht zu legen“. Doch bliebe eine solche Einrichtung stets „nur ein Dafürhalten und Gutdünken des Bearbeiters“ – unabhängig davon, wie pro____________ 59 60
BG, Bd. 1, S. XV. Ebd., S. XVI.
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fund bei diesem die Bach-Kenntnis auch immer wäre. Auch Jahn bewertete einen solchen Auszug als „unwürdige unausführbare Zugabe“, die den Fehlschluss nahelegen könnte, „dass es mit unserer Kunst so schlecht bestellt sei“.61 Im Übrigen – so Jahn – könne es doch wohl unmöglich Ziel dieser Ausgabe sein, Bachs Werke „für die praktische Ausführung herzustellen und geeignet zu machen“, da dies mit massiven Eingriffen in den Notentext verbunden wäre. Auch müssten zahlreiche Vorschläge gemacht werden, denn zum Theil sind die Instrumente, deren sich Bach bediente, gar nicht mehr vorhanden, zum Theil ist die Behandlung der noch üblichen eine andere geworden, die das, was Bach von ihnen verlangt, entweder gar nicht mehr, oder nicht mehr mit guter Wirkung zu leisten vermag. – Die nöthigen Einrichtungen zu treffen, dass das in der Originalgestalt jetzt Unausführbare ausführbar werde, dass mit eingehendem Verständniss in das Original und mit möglichster Schonung desselben, für die Ausführung eine gute Wirkung erlangt werden könne – das wird für das Einzelne dem einzelnen mit Kenntniss und Liebe verfahrenden Bearbeiter überlassen bleiben müssen; unsere Aufgabe ist doch immer nur, das was von Bach’s Compositionen noch vorhanden, zum Theil nur in der Original-Handschrift und wenigen Abschriften, in Privatsammlungen und Bibliotheken zerstreut, öfters schwer zugänglich und einem leicht zu fürchtenden Untergang ausgesetzt ist, in einer möglichst vollständigen Sammlung, mit dem was schon im Druck erschienen verbunden, in einer Gesammtausgabe zusammenzufassen, um so auch jedes Einzelne desto sicherer der Zukunft aufzubewahren.62
Dass diese eindeutige Positionierung nicht überall auf Zustimmung stieß, belegt der Austritt Moscheles’ aus dem Direktorium im Februar 1853. Die dadurch hervorgerufene Spaltung sei „niemals gänzlich überwunden“ worden, für die Geschichte der Philologie aber symptomatisch, konstatierte Jahn: Es handelt sich um die alte Frage, ob der Finder und Herausgeber sich begnügen soll, das Object möglichst gereinigt vorzulegen, oder ob er verpflichtet ist, es auch sachlich zu erklären und zum vollen Verständniss zu bringen, eine in der gesammten Kunstwissenschaft immer wiederkehrende Frage, die besonders in der Geschichte der Philologie zu einer langdauernden Scheidung zwischen einer formalen und realen Gruppe geführt hat.63
Die von Hauptmann entwickelten Editionsgrundsätze führten bei Vokalkompositionen allerdings immer dann zu Konflikten mit den methodischen Forderungen Karl Lachmanns (1793–1851), wenn sowohl die autographe Kompositionspartitur als auch die oft von Bach selbst um aufführungspraktische Zusät____________ 61 62 63
Nach Hermann Kretzschmar, Die Bach-Gesellschaft. Bericht über ihre Tätigkeit, in: BG, Bd. 46, S. XVIII–LXIII; das Zitat auf S. XLII. Ebd., S. XLI. Ebd., S. XLII.
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ze erweiterten, letztlich aber von der Partitur abhängigen Originalstimmen überliefert waren – bei einer Quellenlage also, die für Bachs Kantaten der Normalfall war. Der Herausgeber Wilhelm Rust (1822–1892) hatte eine unkommentierte und undifferenzierte Quellenkontamination von Partitur und Stimmen, wie sie in den ersten Bänden der BG praktiziert worden war, bereits in Bd. 5 hinterfragt und versucht, Partitur und Stimmen im Sinne einer Abhängigkeit im Lachmann’schen Sinn klarer zu differenzieren: Wo nun Partitur und Stimmen von einander abweichen, da ist nur dann den Stimmen der Vorzug gegeben worden, wenn die Abweichung von J. S. Bach selbst herrührt. 64
Eine solche Entscheidung setzt freilich voraus, dass man die Änderungen und Zusätze Bachs auch als solche erkennt – eine Voraussetzung, die sicherlich zu einigen Fehlentscheidungen geführt hat. Wie stark die Bewertung der originalen Quellen Einfluss auf den edierten Notentext haben kann, wurde vollends deutlich, als es galt, in Bd. 12.1 den Notentext der Johannes-Passion vorzulegen. Anders als bei den zuvor edierten Kantaten weist die Originalpartitur dieses Werkes einen neueren Entwicklungsstand als die Stimmen auf – was den Herausgeber veranlasste, der Edition eine Bemerkung der „Redaction“ voranzustellen: Während bei Abweichungen zwischen Originalpartitur und Originalstimmen in den meisten Fällen diese die späteren und verbesserten Lesarten aufweisen, so liegen hier die Verhältnisse grade umgekehrt. Für Herstellung des Grundtextes musste die Originalpartitur ausschliessliche Quelle bleiben. Die Originalstimmen durften dagegen nur zur Aushülfe herangezogen werden. 65
Sie dienten der Präzisierung des Notentextes hinsichtlich der Instrumentierung, der Generalbassbezifferung sowie der Korrektur von Fehlern im nicht konsequent durchrevidierten abschriftlichen Teil der Partitur, zudem aber auch der Ergänzung mancher Vortragszeichen und Auszierungen. Vortragszeichen finden sich erst in dem abschriftlichen Theile der Originalpartitur weniger häufig, während der autographe auch in dieser Beziehung die Stimmen bei weitem überflügelt. Die den Stimmen entlehnten Triller und Vorschläge haben wir durch besondere Zeichen markiren lassen […]. In Rücksicht auf das „frühere“ Entstehen der Stimmen hielten wir die Aufnahme dieser Zeichen nur in „unterschiedlicher“ Gestalt für gerechtfertigt.66 ____________ 64 65 66
BG, Bd. 5, S. XXXI. Diese Anmerkung bezieht sich allerdings zunächst nur auf die Ratswahlkantate BWV 29. BG, Bd. 12/1, S. XX. Ebda.
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Man unterschied also bei der Edition der Johannes-Passion erstmalig Partitur und Stimmen typographisch. Ab Bd. 12/2 verwendete man dieses Verfahren, bei dem die Originalpartitur als Mater angesehen wurde, die durch die originalen Stimmen verbessert werden konnte. Die typographische Differenzierung erlaubte stets den Nachvollzug, auch ohne lange Lesartenlisten vorlegen zu müssen.67 Bei den Musikpraktikern freilich stieß diese am Notenmaterial getroffene Entscheidung, die den wissenschaftlichen Anspruch der BG gleichsam optisch untermauerte, weitgehend auf Unverständnis. Schließlich hatten sich wesentliche aufführungspraktische Selbstverständlichkeiten nicht tradiert, und zahlreiche Instrumente waren nicht mehr greifbar. Auch die fehlende Generalbasspraxis machte sich als Manko bemerkbar; dies umso mehr, als in den von Adolf Bernhard Marx herausgegebenen Kantateneditionen, die für die ersten Aufführungen herangezogen wurden, die Continuobezifferungen fehlten. Führte man die Musik so auf, wie sie im Notenmaterial dargestellt war, waren groteske Fehleinschätzungen vorprogrammiert: Wir führten die Sachen auf, wie sie die Vorlagen darboten und nahmen naiv genug an, dass mit ihnen der Inhalt jener Kunstwerke völlig erschöpft sei. Zwar machte das Publikum zuweilen grosse Augen, wenn ihm in einer Bach’schen Cantate ein seltsames Zwiegespräch zwischen Flöte und Contrabass vorgetragen wurde, oder wenn gar der Continuo einen langen, grämlichen Monolog zum Besten gab – dergleichen focht uns aber weiter nicht an und kam auf Rechnung der guten, alten Zeit, die man hinnehmen zu müssen glaubte, wie sie eben war.68
So beschrieb Robert Franz die Verfahren der Zeit vor dem Erscheinen der BG eindringlich. Erst nachdem ihm durch die ersten Kantatenbände innerhalb der Gesamtausgabe bewusst wurde, dass Bach mit einer harmonischen Ausgestaltung der Continuostimme rechnete, begann er, „ein Accompagnement auszuarbeiten“. Zuerst probirte ich es mit accordischen Ausführungen, merkte aber sehr bald, dass damit hier nicht durchzukommen war: die Harmonien fielen bleischwer in die Bach’schen Stimmen hinein und fanden nirgends an dem geschmeidigen Continuo festen Halt: statt zu unterstützen, hemmten dergleichen Zuthaten nur den Verlauf.69 ____________ 67
68 69
Vgl. hierzu auch die ausführlichere Darstellung bei Reinmar Emans, Quellenmischung von Partitur und Stimmen in der Neuen Bach-Ausgabe. Ein legitimes Verfahren der Edition?, in: Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis, hrsg. von Helga Lühning (= Beihefte zu editio, Bd. 17), Tübingen 2002, S. 97–106. Robert Franz, Offener Brief an Eduard Hanslick. Ueber Bearbeitungen älterer Tonwerke namentlich Bach’scher und Händel’scher Vocalmusik, Leipzig 1871, S. 2. Ebd., S. 3.
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Erst als er den Continuo polyphon ausgeschrieben habe, sei zu seiner „freudigen Ueberraschung […] plötzlich alles lebendig“ geworden. Franz’ Überlegungen riefen sofort Gegner auf den Plan, die glaubten, Bach hätte einem Dritten niemals derart viele Spielräume überlassen, wie Franz sie in seinen Bearbeitungen beanspruchte. Dass diese vielerorts als allzu konstruiert und anachronistisch bewertet wurden, lag nicht zuletzt daran, dass Franz für die Continuobegleitung zunächst nicht weniger als fünf Orchesterinstrumente als Ersatz für die nicht immer zur Verfügung stehende Orgel ausschrieb. Da der Bach-Biograph Philipp Spitta aus seinem Studium von Bachs Partituren und Originalstimmen zu dem Ergebnis kam, dass eine Orgel als Begleitinstrument unabdingbar war, entbrannte ein Kampf um die korrekte Continuoausführung, der von Seiten der BG eindeutig zugunsten der Position Spittas entschieden wurde.70 So legte Wilhelm Rust, zu dieser Zeit die Autorität schlechthin, in Bd. 22 der BG einen ausführlichen Beitrag zur Orgelbegleitung und zu den „Bezifferungen und harmonischen Eigenthümlichkeiten“ vor:71 Nachdem mir, als Herausgeber Bach’scher Werke, wohl mehr, als irgend Jemandem in gegenwärtiger Zeit, bezifferte Clavier- und Orgelstimmen unseres Meisters in einer Weise durch die Hände gegangen sind, die die genaueste Prüfung jeder einzelnen Note und Ziffer erforderten, dürfte die Mittheilung meiner darüber gesammelten Kenntnisse und Erfahrungen sich auf Berechtigung wie Schuldigkeit zugleich begründen.72
Ähnlich sorgte die BG für (teilweise polemisch geführte) Diskussionen bei einzelnen Stücken, die früher unter Bachs Namen veröffentlicht worden waren, deren Echtheit von den Herausgebern aber bezweifelt wurde. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass sich die (nur zum Teil bekannten) Herausgeber früherer Ausgaben oftmals mit einer einziger Vorlage begnügten und ihre Ausgaben alles andere als „streng kritisch“ waren; sie hielten Abschriften für Urschriften und nahmen es mit äusseren und inneren Merkmalen der Echtheit leicht. In den Gesangwerken sind ihnen in Folge dessen verhältnissmässig viele falsche Stücke untergelaufen.73
Aber auch die Herausgeber der BG veröffentlichen in den Anhängen oder aber auch als Haupttext manche Kompositionen zweifelhafter Echtheit und riefen ____________ 70
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Umfänglich dargestellt wird der Disput von Hans-Joachim Hinrichsen, Die Bach-Gesamtausgabe und die Kontroversen um die Aufführungspraxis der Vokalwerke, in: Bach und die Nachwelt, Bd. 2: 1850–1900, hrsg. von Michael Heinemann und Hans-Joachim Hinrichsen, Laaber 1999, S. 227–297. BG, Bd. 22, S. XIII–XVIII bzw. S. XVIII–XX. Ebd., S. XIII. BG, Bd. 46, S. XXIV.
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damit ihrerseits Kritiker auf den Plan. Besonders Johannes Schreyer (1856– 1929) glaubte den Herausgebern minutiös nachweisen zu können, welche Stücke zu Unrecht in die Gesamtausgabe gelangt seien. Für ein richtiges Urteil galt ihm die Satzlehre: Satzfehler seien Bach nicht unterlaufen, so dass grundsätzlich alle Kompositionen, die dergleichen enthalten, nicht von ihm stammen können. Bei einigen Kompositionen wie etwa der Lukas-Passion lag Schreyer mit seiner Kritik richtig, andere wie etwa die Sechs Sonaten für Violine und obligates Cembalo BWV 1014–1019 oder auch die Kantate Herz und Mund und Tat und Leben BWV 147 hingegen gelten nach wie vor als authentisch, was darauf hinweisen mag, dass seine „Methode“ auch nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Gleichwohl hat Schreyer mit seinen Beiträgen zur BachKritik74 eine Diskussion angeregt, die – freilich unter geänderten methodischen Prämissen – bis heute anhält. Unkritisiert blieb kaum einmal ein neuer Band, zumal die inhaltliche Planung der Bände immer wieder dadurch unterlaufen wurde, dass wichtige Quellen nicht greifbar waren oder die Konstituierung des Notentextes mit sehr viel mehr Problemen behaftet war als zunächst vermutet. Die h-Moll-Messe wurde zunächst von Julius Rietz (1812–1877) herausgegeben, doch fehlte ihm das Autograph, welches im Besitz von Hermann Nägeli (1811–1872) war. Als dieses durch die Vermittlung von Friedrich Chrysander (1826–1901) endlich zur Verfügung stand, sah sich das Direktorium gezwungen, dieses Werk neu herauszugeben. Auch die Herausgabe des Wohltemperirten Claviers war bereits deutlich früher vorgesehen, doch zogen sich die editorischen Arbeiten an dem Werk über 14 Jahre hin, sodass andere Instrumentalwerke dazwischen geschoben werden mussten, um den Erscheinungsrhythmus nicht zu gefährden. In der daraus entstehenden Eile konnte es durchaus passieren, dass – wie etwa bei den Inventionen – ein wichtiges Autograph keine Berücksichtigung fand. Und dennoch ließen sich manche Termine nicht einhalten, was von den Subskribenten gerügt wurde. Auch erlahmte allmählich die Arbeitskraft einiger Editoren, die die Ausgabe maßgeblich geprägt und vorangetrieben hatten. Wilhelm Rust etwa hatte ab 1853 nicht weniger als 19 Bände in recht rascher Folge vorgelegt. Ihm ist es zu verdanken, dass die Revisionsberichte erweitert und auch aufführungspraktische Fragen verstärkt behandelt wurden. Möglicherweise, weil Rust nie als Festangestellter an der Ausgabe arbeitete und seine Verträge oftmals nur auf wenige Jahre befristet waren, gerieten seine Arbeiten in den 1870er Jahren ins Stocken: ____________ 74
Johannes Schreyer, Beiträge zur Bach-Kritik, Dresden 1910.
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Das Directorium kann wegen verspäteter Einsendung des Materials die Bände nur mit mehrjährigem Rückstand hinausschicken, in den Vorreden bleiben die eingehenden Untersuchungen da ganz aus, wo sie erwartet werden, sind lässiger geführt, mit mystisch-pietistischen Betrachtungen gefüllt. Im Text bürgern sich Eigenmächtigkeiten ein: den Bach’schen Noten sind Bibelverse und Choraltexte mit und ohne Parenthese übergeschrieben, wesentliche Titel sind weggelassen oder in die Vorrede versetzt.75
Immer wieder hagelte es Kritik – nicht zuletzt auch durch den BachBiographen Philipp Spitta. Als das Direktorium Rust bat, Spittas Werk stärker einzubeziehen, legte dieser wiederholt die Arbeit nieder und beendete sie im Frühjahr 1882 endgültig. Zu dieser Zeit arbeitete auch Alfred Dörffel (1821– 1905) an der Ausgabe, für die er zehn Bände fertigstellte. Da noch zahlreiche Werke zu edieren waren, die Subskribenten aber bereits mit einer baldigen Fertigstellung der gesamten Ausgabe rechneten, sah man sich genötigt, die noch ausstehenden Editionen auf mehrere Schultern zu verteilen – unter Gefährdung einer eigentlich angestrebten Einheitlichkeit. Zugleich wurden ab 1881 verbesserte Neuausgaben erforderlich, da nun wesentliche Quellen zur Verfügung standen. Und auch zahlreiche zunächst zurückgestellte Kompositionen sollten in einem Ergänzungsband nachgereicht werden: Schon als im Jahre 1881 von Wien aus für die englischen und französischen Suiten, für das Wohltemperirte Clavier, für die Kunst der Fuge verbesserte Neuausgaben beantragt wurden, fasste das Directorium einen Ergänzungsband in’s Auge, wies ihm aber nicht blos die durch redactionelle Irrthümer, durch nachträglich gefundene, wichtige Handschriften nothwendig gewordenen Berichtigungen, sondern auch die unvollständigen, die mangelhaft beglaubigten, die aus inneren Gründen zweifelhaften, die von den Hauptgruppen versprengten Compositionen, die zerstreuten Kleinigkeiten und die Bach’schen Bearbeitungen eigner und fremder Werke zu. Dadurch wurde aus dem einen Band eine ganze Reihe von Ergänzungsbänden, die mit dem 41. Jahrgang einsetzt.76
Trotz Kritik wurden auch als „wohl nicht echt“ eingeschätzte Werke wie etwa die Lukas-Passion publiziert,77 um dem wissenschaftlichen Anspruch an eine „Gesamtausgabe“ durch größtmögliche Vollständigkeit gerecht zu werden. Dank dieses Anspruchs konnte die Bach-Gesellschaft in ihrem Resümee stolz formulieren, dass die „kritische Genauigkeit in der Wiedergabe des Notentextes […] zum Muster für verwandte Unternehmungen geworden“ sei.78 Gleich____________ 75 76 77 78
BG, Bd. 46, S. XLVII. Ebd., S. XLIX. BG, Bd. 45.2. Ebd., S. LI.
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wohl erkannte man Unzulänglichkeiten vor allem des Kritischen Berichts und beklagte die zögerliche Aufnahme der Ausgabe durch die Praktiker. Wenngleich es im Bericht unausgesprochen bleibt, dürfte den Veranstaltern auch der Umstand, dass die Organisten nach wie vor lieber die von Friedrich Konrad Griepenkerl und Ferdinand August Roitzsch 1845–1847/1852 bei Peters in Leipzig erschienene achtbändige „Gesamtausgabe“ der Orgelwerke Bachs nutzten, ein Dorn im Auge gewesen sein. Zwar konnte man zu Recht konstatieren, dass insbesondere Bachs Vokalmusik dank der BG an Akzeptanz und Bekanntheit erheblich gewonnen hatte. Doch blieben weiterhin mancherlei Wunschvorstellungen uneingelöst – weshalb man beschloss, das Werk des Thomaskantors durch regelmäßige Bachfeste bekannter zu machen. Mit dem Erscheinen des letzten Bandes der Gesamtausgabe am 27. Januar 1900 löste sich die Bach-Gesellschaft satzungsgemäß auf. Doch noch am gleichen Tag wurde die Neue Bach-Gesellschaft ins Leben gerufen, die es sich u. a. zur Aufgabe machte, auf verschiedenen Ebenen für die Verbreitung der Werke Bachs zu sorgen.
IV.
Die Neue Bach-Ausgabe (NBA)
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen zahlreiche Ausgaben von Bearbeitungen, von denen diejenigen Ferruccio Busonis (1866–1924) die nachhaltigste Wirkung entfalteten; diese kamen dem Musikpraktiker deutlich mehr entgegen, als die BG es tat. Außerdem setzten sich einige neue Ausgaben kritisch mit einigen Bänden dieser ersten wirklichen Gesamtausgabe auseinander, sei es, weil zwischenzeitlich neue Quellen aufgefunden wurden, oder aber, weil der Notentext aus anderen Gründen verbesserungswürdig erschien. Die beiden Weltkriege führten bei den Editionen zu massiven Einschnitten, sorgten aber zugleich dafür, dass 50 Jahre nach Abschluss der BG eine neue Gesamtausgabe der Werke Johann Sebastian Bachs als notwendig erachtet wurde. Es war nämlich deutlich geworden, wie wichtig es war, das noch Existierende für die Nachwelt zu sichern, nachdem aufgrund der kriegerischen Ereignisse zahlreiche Bach-Quellen nicht mehr auffindbar waren. Insofern fielen Vorschläge für eine neue Ausgabe, wie etwa die des Verlegers Karl Vötterle (1903–1975), der bald nach dem Zweiten Weltkrieg „Die Stunde der Gesamtausgabe“ ausrief,79 auf fruchtbaren Boden. Friedrich Blume (1893–1975) hatte allerdings zuvor schon auf die Kriegsverluste hingewiesen.80 Einem solchen ____________ 79 80
Karl Vötterle, Die Stunde der Gesamtausgabe, in: Musica 10 (1956), S. 33–36. Vgl. 40 Jahre Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen (wie Anm. 52), S. 24.
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Plan kam gewiss auch der Umstand entgegen, dass die BG zu diesem Zeitpunkt vergriffen war und die Ansprüche an eine Kritische Gesamtausgabe in den vergangenen 50 Jahren nicht unwesentlich gewachsen waren.81 Im Bach-Gedenkjahr 1950 waren dem Thomaskantor zahlreiche Tagungen gewidmet. Beim Musikwissenschaftlichen Kongress in Lüneburg fanden erste Vorgespräche über eine neue Gesamtausgabe zwischen Karl Vötterle, Friedrich Blume und dem gerade mit seinen Studien zu den frühen Kantaten Johann Sebastian Bachs frisch promovierten Alfred Dürr (1918–2011) statt.82 Das im gleichen Jahr unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Theodor Heuß (1884–1963) stattfindende Göttinger Bach-Fest wurde finanziell von dem Hannoveraner Kunstmäzen Bernhard Sprengel (1899–1985) so großzügig unterstützt, dass Restgelder in Höhe von 12.000 DM übrig blieben, die es ermöglichten, ein Jahr später das Göttinger Johann-Sebastian-Bach-Institut zu gründen. Göttingen bot eine gut funktionierende Infrastruktur, da die Stadt von Kriegszerstörungen weitgehend verschont geblieben war und eine reichhaltige und funktionstüchtige Universitätsbibliothek besaß. Als Direktor des zum 1. April 1951 gegründeten Instituts konnte Hans Albrecht (1902–1961) gewonnen werden, stellvertretender Direktor wurde Alfred Dürr. Als Träger des neuen Instituts konstituierte sich der Verein zur Förderung des Johann-Sebastian-Bach-Instituts. Die Organisatoren des Göttinger Bach-Festes, Otto Benecke (1896–1963), seinerzeit Geschäftsführer der Max-Planck-Gesellschaft, und Bernhard Sprengel, übernahmen zusammen mit Wilhelm Martin Luther (1912–1962) die Trägerschaft. Drei Monate vor Gründung des Göttinger Johann-Sebastian-Bach-Institutes war in Leipzig auf Anregung von Werner Neumann (1905–1991) das Bach-Archiv als zentrale Forschungsstätte zum Werk Johann Sebastian Bachs gegründet worden. In Kooperation mit dem wenig später gegründeten Göttinger Institut sollte hier die Neue Bach-Ausgabe miterarbeitet werden. Die aus der Kriegszeit resultierende freundschaftliche Verbundenheit von Alfred Dürr und Werner Neumann manifestierte sich auch im von diesen beiden Bach-Forschern gemeinsam vorgelegten ersten Band der Neuen Bach-Ausgabe, der die Adventskantaten enthielt. Er erschien bereits im Jahre 1954. ____________ 81
82
Die folgende Darstellung basiert im Wesentlichen auf Reinmar Emans, Die Neue Bach-Ausgabe, in: Bach und die Nachwelt, Bd. 4: 1950–2000, hrsg. von Joachim Lüdtke, Laaber 2005, S. 289–303. Den Erinnerungen von Georg von Dadelsen (1918–2007) zufolge nahm bei einem gemeinsamen Ausflug in die Lüneburger Heide „der gestrenge Friedrich Blume […] den jungen Doktor beiseite […], um ihm auf den Zahn zu fühlen und seine Eignung und Bereitschaft für die ihm zugedachte Aufgabe zu erkunden“ (Rede Georg von Dadelsens am 1. April 1981 zum Rücktritt Alfred Dürrs vom Amt des stellvertretenden Direktors des Johann-Sebastian-Bach-Instituts in Göttingen).
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Vor der eigentlichen Editionsarbeit musste zunächst erfasst werden, welche Quellen den Krieg überdauert hatten. Hierzu wurde ein Verzeichnis der seit Erscheinen der ersten Bach-Gesamtausgabe verschollenen Originalhandschriften Bachscher Werke erstellt, das zunächst Bibliotheken und Privatsammlern zur Überprüfung vorgelegt83 und später noch einmal separat veröffentlicht wurde. In einem weiteren Rundschreiben wurden diverse Bibliotheken gebeten, ihre Bestände nochmals gründlich zu sichten und die Bestände an anonymen Kantaten, Passionen, Oratorien usw. daraufhin zu überprüfen, ob sich darin etwa noch möglicherweise von Bach stammende Werke vorfinden, insbesondere solche mit den umstehend abgedruckten Textanfängen […].
Auf Basis der Rückmeldungen konnten eine Quellendatei angelegt und Mikrofilme der Quellen bestellt werden. Erstmalig ließen sich Quellen zu einzelnen Werken direkt miteinander vergleichen, wobei mancherlei Abweichungen erkannt wurden, die in der alten Ausgabe unentdeckt geblieben waren. Dank der Fotografien konnten erstmalig die Schriftzüge in den autographen Manuskripten minutiös miteinander abgeglichen werden; ebenso ließen sich nun durch den kontinuierlichen Vergleich der Schriftzeugnisse unterschiedliche Schreiber erstmalig differenzieren und umgekehrt verschiedene Handschriften einem einzigen Schreiber zuordnen. Als hilfreich erwies sich zudem die Katalogisierung der Wasserzeichen, die bei der BG nur rudimentär für Fragen der Authentizität herangezogen worden waren. Schon früh wurde daher ein Katalog der in den Originalhandschriften enthaltenen Wasserzeichen in Auftrag gegeben – ein wertvolles Mittel zur Datierung der Handschriften. Bereits 1964 konnte der Erfurter Papierforscher Wisso Weiß (1904–1992) ein umfangreiches Arbeitsexemplar vorlegen. Dieses wiederum war die Basis für Band 1 der Addenda zur Neuen Bach-Ausgabe, den der Handschriften- und Schreiber-Experte Yoshitake Kobayashi (1942–2013) zusammen mit Wisso Weiß 1985 bearbeitete. Neben der Erfassung und Katalogisierung aller bekannten Bach____________ 83
Der Aufruf enthielt folgenden Wortlaut: „Die zahlreichen Besitzverschiebungen, zumal während der letzten beiden Kriege, haben es mit sich gebracht, daß verhältnismäßig viele Originalhandschriften Bachscher Werke, die im ersten Jahrhundert nach Bachs Tode noch der Vernichtung entgangen waren, heute nicht mehr nachweisbar sind. Dies gilt insbesondere für eine Reihe von Handschriften der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek Berlin, die aus ihrer kriegsbedingten Verlagerung nicht zurückgekehrt sind. Die hier vorgelegte Verlustliste möchte insbesondere der Quellenbeschaffung im Rahmen der Arbeiten an der Neuen Bach-Ausgabe dienen; ihre Veröffentlichung geschieht in der Hoffnung, daß, wenn nicht die Originale selbst, so doch vielleicht Photokopien oder Filmaufnahmen (oder auch handschriftliche Kopien) in Privat- oder anderem Besitz erhalten sein könnten. Eventuelle Besitzer derartiger Materialien würden sich außerordentliche Verdienste um die Bachforschung erwerben durch eine entsprechende Nachricht an die herausgebenden Institute […].“ (Zitiert nach Acta Musicologica 39 [1967] Fasc. III–IV, S. 202f.).
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Quellen wurden so auch wesentliche Grundlagen für die Datierung der Handschriften geschaffen. Bereits 1951 stellte Alfred Dürr dem Herausgebergremium der NBA einen Entwurf der Editionsrichtlinien vor.84 Zu diskutieren waren insbesondere die Entscheidungen, ob man alte oder neue Schlüssel verwendete und wie man mit transponierenden Instrumenten umgehen sollte. Dabei ergab sich ein interessantes Paradoxon, durchaus einer tiefenpsychologischen Studie wert: diejenigen Mitglieder, von denen man wußte, daß sie ohne Schwierigkeiten Partituren mit alten Schlüsseln und transponierenden Instrumenten spielen konnten, stimmten in der Mehrzahl für Modernisierung, diejenigen, denen man das weniger zutraute, für Beibehaltung der alten Notation. Man entschied sich für Modernisierung.85
Vor allem die klingende Notation von transponierenden Instrumenten stieß in der Folge wiederholt auf Kritik. Die Zusammenarbeit zwischen Göttingen und Leipzig wurde kontinuierlich weiterentwickelt. Hier erwies es sich als hilfreich, dass Karl Vötterle auch auf Verlagsseite eine tragfähige Ost-West-Beziehung aufbaute. Weil „die in Leipzig nach internationaler Rechtsvorstellung widerrechtlich enteigneten Verlage Breitkopf & Härtel, Peters und Hoffmeister“ nicht bereit waren, mit dem Bärenreiter-Verlag zusammenzuarbeiten, wie Frieder Zschoch als Zeitzeuge berichtet,86 wurde auf Karl Vötterles Rat kurzerhand der Deutsche Verlag für Musik gegründet, der als Partner des Bärenreiter-Verlages zunächst vor allem für die Herstellung der Notenbände verantwortlich war, da in Leipzig der Notenstich wieder florierte. Am 9. Oktober 1953 unterzeichneten Karl Vötterle ____________ 84
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Diesem Gremium gehörten folgende Wissenschaftler an: Heinrich Besseler, Friedrich Blume, Alfred Dürr, Walter Gerstenberg, Rudolf Gerber, Wilibald Gurlitt, Christhard Mahrenholz, Werner Neumann, Wolfgang Schmieder, Arnold Schmitz, Max Schneider, Rudolf Steglich, Walther Vetter und Friedrich Smend, aber auch zahlreiche Direktoren der Musikabteilungen großer Bibliotheken und ausländische Bach-Forscher wie Higinio Anglès, Charles van den Borren, Vladimir Fédorow (Pariser Nationalbibliothek), Jacques Handschin, Richard S. Hill (Kongressbibliothek Washington), Knud Jeppesen, A. Hyatt King (British Museum London), Paul Henry Lang, Fausto Torrefranca, Wilhelm Virneisel (Deutsche Staatsbibliothek Berlin) und Jack Allan Westrup. Georg von Dadelsen, 40 Jahre Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen, in: 40 Jahre Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen. Dokumentation der Festveranstaltungen am 6. und 7. April 1991, zusammengestellt und hrsg. von Reinmar Emans, Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen (Privatdruck), Oktober 1991, S. 9–18, hier S. 13. Frieder Zschoch, Zur Geschichte der Neuen Bach-Ausgabe. Ein Rückblick des Verlagslektors, in: Die Neue Bach-Ausgabe auf dem Wege zu ihrem Abschluß. Vier Referate, gehalten am 9. November 1996 in Göttingen, hrsg. von Martin Staehelin, Göttingen 2000, S. 11f. Siehe auch ders., Verlegerische Zusammenarbeit bei der Neuen Bach-Ausgabe. Rückblick eines Verlagsdirektors, in: Die Neue Bach-Ausgabe 1954–2007. Eine Dokumentation vorgelegt zum Abschluß von Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hrsg. vom Johann-SebastianBach-Institut Göttingen und dem Bach-Archiv Leipzig, Kassel [u. a.] 2007, S. 23–25.
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für den Bärenreiter-Verlag und Georg Engelmann für den Deutschen Verlag für Musik Leipzig den Vertrag über die Neue Bach-Ausgabe. 1954 erschien ein erster Subskriptionsaufruf, der auch die Bandaufteilung fixierte. Sehr optimistisch ging man davon aus, dass jährlich fünf bis sechs Notenbände publiziert werden könnten. Zugleich wurde auf die Bedeutung von gleichberechtigten Fassungen hingewiesen, die in der BG meist noch zu einer „idealen“ Fassung kontaminiert worden waren: Nicht nur das Auftauchen zahlreicher bisher unbekannter Quellen sowie der Nachweis der Unechtheit oder der berechtigte Zweifel an der Echtheit bei einer Reihe von Werken machen eine neue Ausgabe notwendig, sondern auch die Revision unseres Bachbildes, die aus einer vertieften Einsicht in die Schaffensweise des Barockmusikers geboren ist. Die Erkenntnis, daß er seine Werke weitgehend den praktischen Forderungen des Augenblicks anpaßte, ist gleichbedeutend mit der Abkehr von der Auffassung des 19. Jahrhunderts, daß die letzte Fassung eines Werkes die vollendete, endgültige Form darstelle, in der der Meister selbst dieses Werk ,in die Ewigkeit‘ habe eingehen lassen wollen. Es besteht heute kein Zweifel mehr darüber, daß auch frühere Fassungen das Recht auf eine eigene Würdigung erheben können (S. 5).87
Zudem begegnete man dem fortschreitenden Verfall und der Unzugänglichkeit zahlreicher Quellen mit einer möglichst genauen Handschriftenbeschreibung – das Bedürfnis nach „möglichst genaue[n] Auskünfte[n] über die Quellen“, die den Eventualitäten zukünftiger Quellenverluste vorbeugen sollten, war seinerzeit eines der Hauptargumente für die Notwendigkeit einer neuen Gesamtausgabe. Dieses Ziel führte zu einem deutlichen Anwachsen der Kritischen Berichte, die – anders als bei vielen anderen Ausgaben – als separate Bände vorgelegt wurden und somit keinen unmittelbaren Umfangsbeschränkungen unterworfen waren. Vor allem der Tatkraft Alfred Dürrs und Werner Neumanns war es zu verdanken, dass in den folgenden Jahren in rascher Abfolge Band für Band erschien. Inzwischen zeichnete sich allerdings ab, dass sich die angeworbenen externen Herausgeber häufig nicht an die Richtlinien und vor allem viel zu selten an die Termine hielten. Im Januar 1958 mahnte Hans Albrecht in einem Rundbrief die Bandbearbeiter der Neuen Bach-Ausgabe zur Disziplin und zur Konzentration auf die eigentlichen Ziele der Neuen Bach-Ausgabe: Die Großzügigkeit, mit der das Johann-Sebastian-Bach-Institut bisher die Aufnahme grundlegender Forschungen zu einzelnen Werken bzw. Werkgruppen Bachs in die Kritischen Berichte der Neuen Bach-Ausgabe geduldet hat, läßt sich in Zukunft beim besten Willen nicht mehr verantworten […]. Das Johann-Sebastian-Bach____________ 87
Ein Exemplar des Subskriptionsaufrufes aus dem Besitz des Göttinger Johann-Sebastian-BachInstituts befindet sich nun im Bach-Archiv Leipzig.
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Institut kann daher unter keinen Umständen mehr zulassen, daß in den Kritischen Berichten außer den unerläßlichen Bemerkungen, die sich aus den Quellen ergeben, noch länger Ausführungen über die veröffentlichten Werke selbst gemacht werden […]. Die Neue Bach-Ausgabe hat nicht die Aufgabe, Bach-Forschung im weiteren Sinne des Wortes zu treiben. Ihr Ziel ist immer noch in erster Linie ein einwandfreier Notentext.88
Mit aller Deutlichkeit wurde vor allem Pünktlichkeit eingefordert: Insbesondere weist das Johann-Sebastian-Bach-Institut die Argumente derjenigen Bandbearbeiter weit von sich, die die Verzögerung der Ablieferung von Manuskripten damit begründen wollen, daß noch wichtige Fragen, z. B. zur Datierung der veröffentlichten Werke, geklärt werden müßten.89
Diese Forderung war umso plausibler, als es Alfred Dürr kurz zuvor gelungen war, den größten Teil von Bachs Kantaten aufgrund primär quellenkundlicher Methoden bis auf den Tag genau zu datieren, womit er das bisher bestehende Bild der künstlerischen Entwicklung Bachs grundsätzlich in Frage stellte.90 Trotz dieser den Kritischen Bericht entlastenden Forschungsergebnisse und der Personalaufstockung des Instituts durch Dietrich Kilian (1928–1984) blieben Verspätungen von Bänden der externen Bearbeiter weiterhin an der Tagesordnung. Ein weiterer Grund für die Verzögerungen lag in der Verfeinerung der Editionstechnik. In einer Mitteilung vom November 1971 an die Subskribenten der Neuen Bach-Ausgabe heißt es dementsprechend: Die unterzeichnenden Institute und Verlage bedauern, daß der ursprünglich vorgesehene Erscheinungsrhythmus der Neuen Bach-Ausgabe nicht eingehalten werden konnte. Die Gründe dafür sind in der durch die Neue Bach-Ausgabe in Fluß gekommenen Bach-Forschung sowie in den moderneren Editionsmethoden zu suchen, die einen nicht vorhergesehenen wissenschaftlichen Arbeitsaufwand zur Folge hatten. Die Verantwortlichen hielten es im Interesse der Qualität der Neuen Bach-Ausgabe daher für richtig, eine langsamere Erscheinungsweise in Kauf zu nehmen […].91
Neben diesen Sorgen um die termingerechte Ablieferung standen lange Zeit die Bemühungen um eine sichere Finanzierung des Instituts, das von Beginn an zu gleichen Teilen von der Bundesrepublik Deutschland und der Kultusministerkonferenz der Länder unterhalten wurde, seit 1963 aber durch die Stiftung Volkswagenwerk bezuschusst werden musste. Nachdem 1974 einige ____________ 88 89 90 91
Hans Albrecht, Brief vom 9. Januar 1958; ehemals im Besitz des Göttinger Johann-SebastianBach-Instituts, nun im Bach-Archiv Leipzig. Ebd. Alfred Dürr, Zur Chronologie der Leipziger Vokalwerke J. S. Bachs, in: Bach-Jahrbuch 44 (1957), S. 5–162. Zitiert nach Zschoch, Zur Geschichte der Neuen Bach-Ausgabe (wie Anm. 86), S. 13.
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Editionsinstitute aus der Förderung durch das Bundesministerium für Forschung und Technologie ausgegliedert wurden und dadurch in ihrer Existenz gefährdet waren, gelang es dem damaligen Vereinspräsidenten Hermann Heimpel (1901–1988) durchzusetzen, dass die Finanzierung ab 1976 im Rahmen des Bund-Länder-Abkommens unter der Obhut der Konferenz der Akademien der Wissenschaften in Mainz erfolgte.92 Der Historiker Heimpel hatte von den Jahren 1971 bis 1986 den Vereinsvorsitz inne. Als sein Vorgänger war nach dem Tode Otto Beneckes im Jahre 1963 der einstige Hamburger Schulsenator Heinrich Peter Landahl (1895–1971) Vorstand des Vereins geworden. Ab 1986 übernahm dieses Amt Bernd Moeller (geb. 1931), der evangelische Theologie an der Göttingen Universität lehrte. Nach dem Tode des Direktors Hans Albrecht hatte von 1961 bis 1962 der Direktor der Göttinger Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek, Wilhelm Martin Luther, dieses Amt übernommen. Sein Nachfolger wurde der Ordinarius für Musikwissenschaft in Hamburg und später in Tübingen, Georg von Dadelsen (1918–2007), der nicht nur zur gleichen Zeit wie Alfred Dürr die neue Chronologie erarbeitet, sondern als dessen langjähriger Freund auch die Entwicklungen des Instituts und der Neuen Bach-Ausgabe stets mit Interesse verfolgt hatte. Aus Altersgründen trat er 1994 von seinem Amt als Direktor des Göttinger Instituts zurück; sein Nachfolger wurde der in Göttingen lehrende Musikwissenschaftler Martin Staehelin (geb. 1937). In Leipzig berief man, als 1979 das Bach-Archiv den „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten Johann Sebastian Bach der DDR“ einverleibt wurde, Werner Felix (1927–1998) zu deren Generaldirektor; die Abteilung Forschung übernahm Armin Schneiderheinze (1939–2003). Von 1992 bis 2000 leitete der Bach-Forscher und langjährige Mitarbeiter Hans-Joachim Schulze (geb. 1934) das nun wieder als „Bach-Archiv“ bezeichnete Institut. Nach dessen Pensionierung übernahm Christoph Wolff (geb. 1940) dieses Amt, das inzwischen in den Händen von Peter Wollny (geb. 1961) liegt. Alfred Dürr hatte nach dreißig Jahren als Spiritus Rector der Neuen BachAusgabe zum 1. April 1981 sein Amt als stellvertretender Direktor niedergelegt, um – befreit von den Amtsgeschäften – seine voluminöse Edition des Wohltemperierten Claviers rascher vorwärts treiben zu können. Klaus Hofmann (geb. 1939), der seit 1978 im Bach-Institut angestellt war, führte die Dienstgeschäfte bis kurz vor Schließung des Göttinger Bach-Instituts am 31. Dezember 2006 weiter. An der Erstellung der 106 Noten- und 112 Textbände ____________ 92
Vgl. hierzu auch Reinmar Emans, Internationale und interdisziplinäre Abhängigkeiten: Die musikwissenschaftliche Editionsphilologie, in: editio 26 (2012), S. 1–12, besonders S. 2f.
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(Kritische Berichte, Katalogwerke, Schrift-, Bild- und Dokumente) waren insgesamt 55 (davon 38 externe) Mitarbeiter beteiligt.93 Auf der Basis der parallel zum Erscheinen der NBA entstandenen Forschungsarbeiten zur Chronologie der Kantaten, zur Entwicklung der Handschrift Johann Sebastian Bachs, zu den an der Herstellung der Originalstimmen beteiligten Schreibern, zu Wasserzeichen und Papier sowie zur Überlieferung der Quellen94 mussten zahlreiche Handschriften gegenüber der BG neu bewertet werden, was nicht unbeträchtliche Abweichungen der Notentexte zur Folge hatte. Im Laufe der Arbeiten an der NBA gerieten dank der genaueren Kenntnis von Bachs Schriftzügen auch unterschiedliche Werkfassungen stärker in den Blick. Diese wurden in den frühen Bänden oft noch allein im Kritischen Bericht dargestellt,95 später jedoch auch separat abgedruckt. So entschloss sich der Editionsausschuss, einen Band mit Rekonstruktionen für eine Reihe von Instrumentalkonzerten vorzulegen, nachdem sich gezeigt hatte, dass den im Autograph vorliegenden Cembalokonzerten Fassungen für ein anderes Melodieinstrument vorausgingen – zum Teil sind die Änderungen im Autograph der Cembalokonzerte aufgrund eines anderen Schriftduktus unmittelbar erkennbar. Da Bach die Konzerte auf der Basis der verschollenen Frühfassungen auch in anderen Kontexten, wie etwa den instrumentalen Einleitungen von Kantaten, verwendete, ließ sich die ursprüngliche Fassung oftmals recht eindeutig rekonstruieren. Allenfalls Details erwiesen sich im Nachhinein als diskussionsbedürftig. Von Anfang an verfuhr man bei denjenigen Kompositionen, deren Echtheit angezweifelt wurde, uneinheitlich; als kleinster gemeinsamer Nenner wurden viele Incerta in den Kritischen Berichten behandelt, nicht aber eigens abgedruckt.96 ____________ 93
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Hierbei handelt es sich um Konrad Ameln, Ulrich Bartels, Kirsten Beißwenger, Heinrich Besseler, Walter Blankenburg, George S. Bozarth, Paul Brainard, Werner Breig, Georg von Dadelsen, Alfred Dürr, Hartwig Eichberg, Rudolf Eller, Reinmar Emans, Walter Emery, Hans Eppstein, Wilfried Fischer, Robert Freeman, Christine Fröde, Rudolf Gerber, Andreas Glöckner, Hans Grüß, Rufus Hallmark, Günter Haußwald, Karl Heller, Marianne Helms, Ryuichi Higuchi, Klaus Hofmann, Frederick Hudson, Richard D. Jones, Dietrich Kilian, Hans Klotz, Yoshitake Kobayashi, Thomas Kohlhase, Ulrich Leisinger, Heinz-Harald Löhlein, Robert L. Marshall, Ernest May, Arthur Mendel, Robert Moreen, Werner Neumann, Helmut Osthoff, Emil Platen, Wolfgang Plath, Frieder Rempp, Friedrich Smend, Hans-Peter Schmitz, HansJoachim Schulze, Manfred Teßmer, Leo Treitler, James Webster, Wisso Weiß, Matthias Wendt, Uwe Wolf, Christoph Wolff, Peter Wollny. Die meisten Ergebnisse dieser Forschungen wurden später in Supplementbänden veröffentlicht. So wurden etwa die h-Moll-Messe und die Johannes-Passion noch in – wenn man so will – idealisierten Fassungen dargeboten, die letztlich keiner der Bach’schen Fassungen entsprachen. Vgl. hierzu Alfred Dürr, Erinnerungen an den Beginn der Neuen Bach-Ausgabe, in: Die Neue Bach-Ausgabe 1954–2007 (wie Anm. 86), S. 18: „Als nicht minder problematisch erwies sich die Frage nach Aufnahme der Kompositionen zweifelhafter Echtheit. Hier vertrat Friedrich Blume die radikale Forderung, nur die als echt gesicherten Werke zu publizieren. Es sei besser, eine echte Komposition bleibe von der Veröffentlichung ausgeschlossen, als wenn die Einbe-
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So erfreulich die Resonanz auf die Neue Bach-Ausgabe auch war: Die Kritischen Berichte, auf deren Bedeutung für das Verständnis auch des Notentextes bereits im Subskriptionsaufruf von 1954 hingewiesen wurde, wurden kaum zur Kenntnis genommen. Bis heute gelten sie vielen als zu sperrig und – wenn man so will – als zu wissenschaftlich. Die Zielsetzung der Ausgabe, die, wie es im normierten Teil der Bandvorworte heißt, „der Wissenschaft einen einwandfreien Originaltext der Werke J. S. Bachs bieten und gleichzeitig als zuverlässige Grundlage für praktische Aufführungen dienen“ 97 sollte, wird dadurch freilich nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Doch erinnert dies an das Dilemma, in das die Alte Bach-Gesamtausgabe wegen ihres „Wissenschaftscharakters“ geraten war. Ähnlich wie die BG prägte auch die NBA erst allmählich Standards aus, die in den frühen Bänden und in manchen Einzelbänden nicht erreicht wurden. Auch waren zwischenzeitlich für einige Werke neue Quellen gefunden worden. Vor Fertigstellung der Ausgabe war daher bereits vorgesehen, einzelne Bände in einer revidierten Fassung noch einmal vorzulegen. Nachdem zunächst die Finanzierung eines solchen Projektes unmöglich schien, konnte das Leipziger Bach-Archiv 2010 mit der Umsetzung dieses Vorhabens beginnen. Als erster von zunächst 15 geplanten Bänden (darunter auch die JohannesPassion, die editorisch zu den schwierigsten Werken Bachs zu rechnen ist) erschien eine revidierte Ausgabe der h-Moll-Messe (NBArev), deren zahlreiche Überklebungen und Überschreibungen im Stimmensatz dank der Röntgenfluoreszenz-Analyse partiell erstmals lesbar bzw. differenzierbar gemacht werden konnten. Doch auch da ist das letzte Wort nicht gesprochen, denn inzwischen legte Ulrich Leisinger (geb. 1964) die Messe in einer Hybrid-Edition erneut vor, wofür er die von EDIROM entwickelten Tools einsetzen konnte. Auch für eine Gesamtausgabe der Orgelwerke Bachs bei Breitkopf & Härtel98 werden diese Tools verwendet, überwiegend aber zu einer Veranschaulichung unterschiedlicher Fassungen. Ebenso wie sich die BG rasch als Standard für neue Editionsvorhaben etablieren konnte, basieren die meisten Bach-Ausgaben von heute auf den Forschungsergebnissen der NBA. Spätestens hier zeigt sich, dass das Bemühen um wissenschaftliche Akribie nicht vergeblich war. ____________
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ziehung ungesicherter Werke das Bachbild verdunkle. Dieser Standpunkt hat sich in der Zwischenzeit radikal umgekehrt, was freilich den Vorteil hat, daß die zweifelhaften Werke greifbar bleiben und der Diskussion zur Verfügung stehen.“ Zu den daraus resultierenden Unterschieden zwischen der Alten und der Neuen Bach-Ausgabe siehe Emans, Quellenmischung von Partitur und Stimmen in der Neuen Bach-Ausgabe (wie Anm. 67), besonders S. 102–105. Johann Sebastian Bach, Sämtliche Orgelwerke, Editionsleitung Werner Breig, Pieter Dirksen und Reinmar Emans, Wiesbaden 2010ff.
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Reinmar Emans, Sven Hiemke
Literaturverzeichnis 40 Jahre Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen. Bach-Ausgaben einst und jetzt. Aus der Arbeit des Johann-Sebastian-Bach-Instituts Göttingen, Katalog von Kirsten Beißwenger und Bettina Faulstich anlässlich einer Ausstellung im Foyer der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen vom 7. April bis 3. Mai 1991, Privatdruck Göttingen 1991 Bach-Werke-Verzeichnis. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von Johann Sebastian Bach, hrsg. von Wolfgang Schmieder, Leipzig 1950; 2. überarbeitete und erweiterte Ausgabe, Wiesbaden 1990 Bach-Werke-Verzeichnis. Kleine Ausgabe, hrsg. von Alfred Dürr und Yoshitake Kobayashi unter Mitarbeit von Kirsten Beißwenger, Wiesbaden 1998 Bach-Dokumente, hrsg. vom Bach-Archiv Leipzig. Supplement zu Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke Band I: Schriftstücke von der Hand Johann Sebastian Bachs. Kritische Gesamtausgabe, vorgelegt und erläutert von Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze, Leipzig und Kassel 1965 Band II: Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs 1685–1750. Kritische Gesamtausgabe, vorgelegt und erläutert von Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze, Leipzig und Kassel 1969 Band III: Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1750–1800, vorgelegt und erläutert von Hans-Joachim Schulze, Leipzig und Kassel 1972 Band V: Dokumente zu Leben, Werk und Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1685–1750. Neue Dokumente, Nachträge und Berichtigungen zu Band I–III, vorgelegt und erläutert von Hans-Joachim Schulze unter Mitarbeit von Andreas Glöckner, Kassel [u. a.] 2007 Band VI: Ausgewählte Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1801–1850, hrsg. und erläutert von Andreas Glöckner, Anselm Hartinger und Karen Lehmann, Kassel [u. a.] 2007 Band VII: Johann Nikolaus Forkel: Ueber Johann Sebastian Bachs Kunst und Kunstwerke (Leipzig 1802). Edition – Quellen – Materialien, vorgelegt und erläutert von Christoph Wolff unter Mitarbeit von Michael Maul, Kassel [u. a.] 2008 Brandenburg, Sieghard: Ludwig van Beethoven. Briefwechsel. Gesamtausgabe, im Auftrag des Beethoven-Hauses Bonn, Bd. 1: 1783–1807, München 1996 Butler, Gregory G.: Bach’s Clavier-Uebung III: The Making of a Print, with a Companion Study of the Canonic Variations on „Vom Himmel Hoch“ BWV 769, Durham 1990 Butler, Gregory G.: J. S. Bachs Kanonische Veränderungen über „Vom Himmel hoch“ (BWV 769). Ein Schlußstrich unter die Debatte um die Frage der „Fassung letzter Hand“, in: BachJahrbuch 86 (2000), S. 9–33 Dadelsen, Georg von: Die „Fassung letzter Hand“ in der Musik, in: Acta Musicologica 33 (1961), S. 1–14 Dadelsen, Georg von: 40 Jahre Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen, in: 40 Jahre Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen. Dokumentation der Festveranstaltungen am 6. und 7. April 1991. Zusammengestellt und hrsg. von Reinmar Emans. Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen (Privatdruck), Oktober 1991, S. 9–18 Der getreue Music-Meister, hrsg. von Johann Valentin Görner und Georg Philipp Telemann, Hamburg 1728 Die Händelgesellschaft, in: Neue Zeitschrift für Musik 19 (1843), Nr. 22, S. 87 Dürr, Alfred: Zur Chronologie der Leipziger Vokalwerke J. S. Bachs, in: Bach-Jahrbuch 44 (1957), S. 5–162 Dürr, Alfred: Erinnerungen an den Beginn der Neuen Bach-Ausgabe, in: Die Neue Bach-Ausgabe 1954–2007. Eine Dokumentation vorgelegt zum Abschluß von Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hrsg. vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und dem Bach-Archiv Leipzig, Kassel [u. a.] 2007, S. 17f.
Editionen der Werke Johann Sebastian Bachs
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Emans, Reinmar: Quellenmischung von Partitur und Stimmen in der Neuen Bach-Ausgabe. Ein legitimes Verfahren der Edition?, in: Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis, hrsg. von Helga Lühning (= Beihefte zu editio, Bd. 17), Tübingen 2002, S. 97–106 Emans, Reinmar: Die Neue Bach-Ausgabe, in: Bach und die Nachwelt, Bd. 4: 1950–2000, hrsg. von Joachim Lüdtke, Laaber 2005, S. 289–303 Emans, Reinmar: Zwei Herzen in einer Brust – Zwischen Historismus und Pragmatismus. Felix Mendelssohn Bartholdys und Johannes Brahms’ editorischer Umgang mit den Werken Bachs und Händels, in: editio 20 (2006), S. 84–96 Emans, Reinmar: Internationale und interdisziplinäre Abhängigkeiten: Die musikwissenschaftliche Editionsphilologie, in: editio 26 (2012), S. 1–12 Forkel, Johann Nikolaus: Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802 Franz, Robert: Offener Brief an Eduard Hanslick. Ueber Bearbeitungen älterer Tonwerke namentlich Bach’scher und Händel’scher Vocalmusik, Leipzig 1871 Heinemann, Michael und Hans-Joachim Hinrichsen: Mit Bach, in: Bach und die Nachwelt, Bd. 1: 1750–1800, hrsg. von denselben, Laaber 1997, S. 13–24 Hinrichsen, Hans-Joachim: Die Bach-Gesamtausgabe und die Kontroversen um die Aufführungspraxis der Vokalwerke, in: Bach und die Nachwelt, Bd. 2: 1850–1900, hrsg. von Michael Heinemann und Hans-Joachim Hinrichsen, Laaber 1999, S. 227–297 Kinsky, Georg: Die Originalausgaben der Werke Johann Sebastian Bachs. Ein Beitrag zur Musikbibliographie, Wien [u. a.] 1937 Kobayashi, Yoshitake: Bachs Notenpapier und Notenschrift, in: Der junge Bach. weil er nicht aufzuhalten… Begleitbuch zur Ersten Thüringer Landesausstellung, hrsg. von Reinmar Emans, Erfurt 2000, S. 413–427 Kretzschmar, Hermann: Die Bach-Gesellschaft. Bericht über ihre Tätigkeit, in: BG, Bd. 46, S. XVIII–LXIII Kuhnau, Johann: Neuer Clavier Übung Erster Theil, Leipzig 1689 Lehmann, Karen: Die Idee einer Gesamtausgabe. Projekte und Pläne, in: Bach und die Nachwelt, Bd. 1: 1750–1800, hrsg. von Michael Heinemann und Hans-Joachim Hinrichsen, Laaber 1997, S. 225–304 Lehmann, Karen: Die Anfänge einer Bach-Gesamtausgabe. Editionen der Klavierwerke durch Hoffmeister und Kühnel (Bureau de Musique) und C. F. Peters in Leipzig 1801–1865. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte J. S. Bachs (= Leipziger Beiträge zur Bach-Forschung, Bd. 6), Leipzig [u. a.] 2004 Marpurg, Friedrich Wilhelm: Abhandlung von der Fuge, 2. Teil, Berlin 1754 Mattheson, Johann: Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739 Mizler, Lorenz Christoph: Neu eröffnete musikalische Bibliothek, Bd. 3, Leipzig 1747 Neumann, Werner: Einige neue Quellen zu Bachs Herausgabe neuer Werke, in: Musa – Mens – Musici. Im Gedenken an Walther Vetter, hrsg. vom Institut für Musikwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Leipzig 1969, S. 165–168 Rampe, Siegbert: Suiten und Klavierübung, in: Bach Handbuch, hrsg. von Konrad Küster, Kassel [u. a.] 1999, S. 747–787 Schering, Arnold: Bach und das Schemellische Gesangbuch, in: Bach-Jahrbuch 21 (1924), S. 105– 124 Schleuning, Peter: Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“. Ideologien – Entstehung – Analyse, Kassel [u. a.] 1993 Schneider, Max: Verzeichnis der bis zum Jahre 1851 gedruckten (und der geschrieben im Handel gewesenen) Werke von Johann Sebastian Bach, in: Bach-Jahrbuch 3 (1906), S. 84–113 Schreyer, Johannes: Beiträge zur Bach-Kritik, Dresden 1910 Signale für die Musikalische Welt 8 (1850), Nr. 30 Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach, Bd. 2, Leipzig 1887 Stauffer, George B.: The Forkel – Hoffmeister & Kühnel Correspondence. A Document of the Early 19th-century Bach Revival, New York 1990 Talle, Andrew: Zum Vertrieb und Adressatenkreis von Bachs Clavier-Übung, Opus 1, in: Bachs Musik für Tasteninstrumente. Bericht über das 4. Dortmunder Symposium 2002, hrsg. von Martin Geck (= Dortmunder Bach-Forschungen, Bd. 6), Dortmund 2002, S. 213–222 Vötterle, Karl: Die Stunde der Gesamtausgabe, in: Musica 10 (1956), S. 33–36
260
Reinmar Emans, Sven Hiemke
Walther, Johann Gottfried: Musikalisches Lexikon, Leipzig 1732; Nachdruck hrsg. von Richard Schaal, Kassel [u. a.] 41986 Wolff, Christoph: Ordnungsprinzipien in den Originaldrucken Bachscher Werke, in: Bach-Interpretationen, hrsg. von Martin Geck, Göttingen 1969, S. 144–167 Wolff, Christoph: Bach’s Handexemplar of the Goldberg Variations: A New Source, in: Journal of the American Musicological Society 29 (1976), S. 224–241; gekürzte deutsche Fassung: Bachs Handexemplar der Goldberg-Variationen – eine neue Quelle, in: Bericht über die wissenschaftliche Konferenz zum III. Internationalen Bachfest der DDR, Leipzig 18./19. September 1975, im Auftrag des Johann-Sebastian-Bach-Komitees der DDR hrsg. von Werner Felix und Armin Schneiderheinze, Leipzig 1977, S. 79–90 Zschoch, Frieder: Zur Geschichte der Neuen Bach-Ausgabe. Ein Rückblick des Verlagslektors, in: Die Neue Bach-Ausgabe auf dem Wege zu ihrem Abschluß. Vier Referate, gehalten am 9. November 1996 in Göttingen, hrsg. von Martin Staehelin, Göttingen 2000 Zschoch, Frieder: Verlegerische Zusammenarbeit bei der Neuen Bach-Ausgabe. Rückblick eines Verlagsdirektors, in: Die Neue Bach-Ausgabe 1954–2007. Eine Dokumentation vorgelegt zum Abschluß von Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, hrsg. vom JohannSebastian-Bach-Institut Göttingen und dem Bach-Archiv Leipzig, Kassel [u. a.] 2007, S. 23–25
Daniela Philippi
Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke
I.
Vorgeschichte
Obwohl Gluck als Komponist durch seine Reformwerke für die Opernbühne immer im musikhistorischen Gedächtnis präsent war, blieben Breite und Quantität seines Schaffens bis zum frühen 20. Jahrhundert weithin unbekannt. Als Ursache hierfür kann gelten, dass nur jene Werke, deren Drucklegung früh erfolgt war, eine andauernde Verbreitung und Rezeption erfuhren, weshalb das sich seit dem frühen 19. Jahrhundert formende Gluck-Bild auf „den Opernreformer“ konzentriert blieb. Denn es waren neben wenigen Ausnahmen Glucks überwiegend in Paris gedruckte Opern aus den 1760er und 1770er Jahren, zu denen die Autoren des 19. Jahrhunderts Zugang hatten. Zudem war die Auswahl der bevorzugten Werke im Hinblick auf Opernaufführungen nochmals reduziert, und zwar vor allem auf Orfeo ed Euridice bzw. Orphée et Euridice und Iphigénie en Tauride sowie – bezogen auf Paris – auf die französische Alceste. Daneben richtete sich der Blick der Biographen auf den imaginationsreichen und leidenschaftlich komponierenden alten Gluck. Exemplarisch skizzierte E. T. A. Hoffmann in seinem Essay Ritter Gluck1 die romantische Vorstellung von diesem Komponisten, der seine musikdramatischen Werke in zwingender Emphase schafft und zum Leben erweckt – eine Vorstellung, die schon in den Anschauungen Friedrich Justus Riedels2 angelegt war. Im nachfolgenden biographischen Schrifttum, zu dem auch Beiträge in Musiklexika zählen, erfolgte eine genauere Betrachtung des Schaffens und Wirkens von Gluck, einschließlich des Nachweises aller seiner damals bekannten Kompositionen. Unter den im 19. Jahrhundert erschienenen Schriften ist die von Anton Schmid vorgelegte umfangreiche Biographie3 die älteste, und sie gilt zugleich ____________ 1 2 3
[Ernst Theodor Amadeus Hoffmann], Ritter Gluck, in: Allgemeine Musikalische Zeitung 11 (1809), Sp. 305–319. Friedrich Justus Riedel, Ueber die Musik des Ritters Christoph von Gluck. Verschiedene Schriften gesammelt und herausgegeben von Friedrich Just. Riedel, Wien 1775. Anton Schmid, Christoph Willibald Ritter von Gluck. Dessen Leben und tonkünstlerisches Wirken, Leipzig 1854.
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Daniela Philippi
als die inhaltlich verlässlichste. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein blieb jedoch eine teleologische Sichtweise prägend, die Glucks bis 1761 komponierte Werke lediglich als „Vorstufen“ auf dem Weg zur Opernreform wertete. Die erste Anregung zu einer Gluck-Werkausgabe ging von Hector Berlioz aus, der die französischen Opern Glucks hoch schätzte und die Notwendigkeit einer sorgfältigen Werkausgabe Ende der 1850er Jahre anmahnte.4 Tatsächlich realisiert wurde diese Idee auf Initiative der Mäzenin Fanny Pelletan, die nicht nur Klavier spielte, sondern auch über umfangreiches musiktheoretisches Wissen verfügte. Gemeinsam mit ihrem Lehrer Berthold Damcke, der seit 1859 in Paris wirkte, entwickelte sie das Konzept der Ausgabe und legte die ersten drei Bände vor.5 Beschränkt auf das Corpus der in den 1770er Jahren für Paris komponierten Reformopern Glucks sah das Konzept eine quellenkritische Edition und Kommentierung sowie die Übersetzung der französischen Gesangstexte ins Italienische und Deutsche vor. Die insgesamt sechs Bände der so genannten Pelletan-Ausgabe erschienen von 1873 bis 1902 bei Richault bzw. Durand in Paris. Sie präsentieren die ausgewählten Werke in Partiturdrucken.6 Konzipiert als Prachtausgaben enthalten sie zudem umfangreiche Vorworte mit editionskritischen Kommentaren (jeweils in Französisch, Italienisch und Deutsch) sowie Informationen zur jeweiligen Oper und ihrer Überlieferung. Als Herausgeber bzw. Textautoren beteiligten sich neben Pelletan und Damcke (1873 und 1874), Camille Saint-Saёns mit Olgar Thierry-Poux (1889) sowie Camille Saint-Saёns mit Julien Tiersot (1901 und 1902). Die erhebliche Lücke zwischen den Erscheinungsjahren der drei ersten Bände und jenen der Bände vier bis sechs hat ihre Ursache in dem frühen Ableben Pelletans (1876) und dem Tod Damckes ein Jahr zuvor. Bereits 1874 hatte Pelletan jedoch Saint-Saёns zur Mitarbeit motivieren können, der schließlich ihre Vorarbeiten zu den noch ausstehenden Werkausgaben fortführte. Trotz seiner teilweise abweichenden Sicht bezüglich editorischer Entscheidungen brachte er die ____________ 4
5
6
Vgl. hierzu sowie zur Pelletan-Ausgabe Gabriele Buschmeier und Thomas Betzwieser, Ein Monument für Gluck – und Berlioz: die Werkausgabe von Fanny Pelletan, in: Von Gluck zu Berlioz – Antikenrezeption und Monumentalität in der französischen Oper, Symposium Nürnberg, 17.–18.7.2010, hrsg. von Thomas Betzwieser (erscheint voraussichtlich 2015). Stephan Wortsmann schreibt hierzu: „Der geistige Urheber dieser Edition war Berlioz, seine Anregung begeisterte Fräulein Fanny Pelletan und ihren Lehrer B. Damcke dazu, das große Werk zu unternehmen. Nach dem Tode der Gründerin vollendeten Julien Tiersot und Camille Saint-Saёns die Ausgabe“. In: Die deutsche Gluck-Literatur. (Christoph Willibald Ritter v. Gluck) 1714–1787, [Leipzig 1914], Neudruck Walluf 1973, S. 50. Iphigénie en Aulide (Richault, 1873), Iphigénie en Tauride (Richault, 1874), Alceste (Richault, 1874), Armide (Richault, 1889), Orphée et Euridice (Durand, 1898) und Echo et Narcisse (Durand, 1902). Die Übersetzer der Gesangstexte waren Peter Cornelius und Giuseppe Záffira für die ersten drei Bände sowie Franz von Holstein und Arrigo Boito für Armide, Max Kalbeck und Giovanni Pozza für Orphée und Theobald Rehbaum und Pietro Floridia für Echo et Narcisse.
Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke
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Pelletan-Ausgabe zum Abschluss und verwirklichte so ein herausragendes Beispiel der frühen Musikphilologie.7 Die im späten 19. Jahrhundert gewachsene Wertschätzung historischer Musikquellen zeitigte auch in Bezug auf Glucks Werke sowie auf die Kenntnis ihrer Überlieferung ergebnisreiche Folgen. Während einzelne Arienabdrucke nach handschriftlichen Quellen bereits in den Monographien erschienen waren, begegnet mit dem 1891 von Paul Graf Waldersee herausgegebenen Prologo (Florenz 1767) zudem der Fall einer vollständigen Einzelpublikation nach einem aktuellen Quellenfund.8 Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang jedoch das von Alfred Wotquenne vorgelegte Thematische Verzeichnis der Werke Glucks aus dem Jahr 1904,9 das die umfassendste Zusammenstellung aller zu dieser Zeit nachweisbaren Werke des Komponisten enthält. Fußend auf den biographischen Schriften zu Gluck sowie auf Robert Eitners Quellenlexikon10 macht Wotquenne nicht nur Angaben zur jeweiligen Uraufführung, sondern nennt zudem bekannte gedruckte wie handschriftliche Quellen der betreffenden Komposition. Wie es für Werkverzeichnisse des frühen 20. Jahrhunderts bereits üblich war, sind in einem umfangreichen ersten Teil klavierauszugsartige Noten- und Textincipits der geschlossenen Nummern oder abgrenzbaren Musikabschnitte aus sämtlichen damals bekannten Kompositionen Glucks notiert. Zusammen mit den nur wenige Jahre später von Josef Liebeskind vorgelegten Ergänzungen zu Wotquennes Werkverzeichnis11 bilden die Werknachweise das Gesamtschaffen Glucks nahezu vollständig ab. Der qualitative Fortschritt des Verzeichnisses von Wotquenne bestand insbesondere in dem Anspruch, möglichst alle Kompositionen des Autors zu verzeichnen und ihre Überlieferung zu ermitteln, d. h. sich nicht mehr nur auf einzelne herausragende Werke zu beschränken. In den Arbeiten, die Julien ____________ 7 8
9 10
11
Angaben nach Buschmeier und Betzwieser, Ein Monument für Gluck (wie Anm. 4). Der Partiturdruck erschien bei Breitkopf & Härtel in Leipzig (1913). Vgl. weitere Angaben hierzu bei Christoph-Hellmut Mahling, Vorwort und Kritischer Bericht, in: Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke, Abteilung III, Bd. 27: Prologo, hrsg. von Christoph-Hellmut Mahling, Kassel [u. a.] 2005, S. IX und 158. Alfred Wotquenne, Catalogue thématique des œuvres de Chr. W. v. Gluck, Leipzig 1904, Nachdruck Hildesheim, Wiesbaden 1967. Robert Eitner, Biographisch-bibliographisches Quellen-Lexikon der Musiker und Musikgelehrten der christlichen Zeitrechnung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1900–1904, hieraus: Bd. 4 Flixius – Haine, Leipzig 1901, S. 281–288, sowie Bd. 10 Ubaldi – Zyrler. Nachträge, 1904, S. 385. – Vgl. ergänzend die verbesserte 2. Auflage (Bd. 1–10, Graz 1959 und Bd. 11, Graz 1960), die in Bd. 11, S. 9 und 13 betreffs Gluck sechs weitere Quellennachweise zur Musiküberlieferung enthält. Josef Liebeskind, Ergänzungen und Nachträge zu dem Thematischen Verzeichnis der Werke von Chr. W. von Gluck von Alfred Wotquenne / Complément et Suppléments au catalogue thématique des œuvres de Chr. W. von Gluck par Alfred Wotquenne, Übertragung ins Französische von Ludwig Frankenstein, Leipzig 1911.
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Daniela Philippi
Tiersot nach seiner Mitarbeit an der Pelletan-Ausgabe zu Gluck vorlegte,12 findet sich dieser umfassende Ansatz weitergeführt. Neue Anstöße zur Förderung der Gluck-Pflege gingen von der 1909 in Leipzig gegründeten Gluck-Gesellschaft aus, zu deren Trägern Max Arend zählte, der kurze Zeit später eine zusätzliche Gluck-Vereinigung in Dresden initiierte. Die Leipziger Gluck-Gesellschaft mit Hugo Riemann und Hermann Abert an der Spitze brachte ein Jahrbuch heraus und setzte die Idee einer Kritischen Ausgabe der Werke Glucks zumindest mit einigen Bänden in die Realität um. Für deren Publikation hatte man drei deutschsprachige Denkmalreihen gewählt, die um die Jahrhundertwende ins Leben gerufen worden waren: die Denkmäler der Tonkunst in Bayern (DTB), Denkmäler deutscher Tonkunst (DDT) und die Denkmäler der Tonkunst in Österreich (DTÖ).13 Von den vier Editionen in Partitur wurden zwei von Abert und jeweils eine von Robert Haas und Alfred Einstein vorgelegt, wobei gemäß dem neuen, auf die gesamte Breite des Œuvres gerichteten Anspruch auch frühe Werke Berücksichtigung fanden.14 Allerdings war die bis dahin vor allem auf heuristischen Methoden beruhende Forschung nur für wenige Werke ausreichend. Nach dem Tod Aberts (1927) und der Emigration Alfred Einsteins (1933), der den letzten Band des Unternehmens (L’Innocenza giustificata) erarbeitet hatte, kamen die editorischen Aktivitäten dieser Forschergruppe zum Erliegen. Als Vertreter der nächst jüngeren Generation von Musikwissenschaftlern und als ehemaliger Schüler Hermann Aberts griff Rudolf Gerber bereits in den 1930er Jahren die vorangegangenen Bestrebungen auf.15 Unterstützt durch Karl Vötterle, der laut publizierter Mitteilung des Verlags noch während des Krieges (1942) den Plan gefasst hatte, in seinem Verlag eine Ausgabe der Werke Glucks zu realisieren,16 initiierte Gerber schließlich direkt nach seiner Berufung auf den Lehrstuhl für Musikwissenschaft an der Universität Göttin____________ 12 13 14
15
16
Vgl. u. a. seine unter dem Titel Gluck erschienene Biographie (Paris 1910) sowie den Aufsatz Les Premiers Opéras de Gluck, in: Gluck-Jahrbuch 1 (1913), S. 9–27. Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag Denkmälerausgaben, S. 704ff. In den DTÖ erschienen Orfeo ed Euridice (1914), Don Juan (1923) und L’Innocenza giustificata (1937); in den DTB Le nozze d’Ercole e d’Ebe (1914). Als Klavierauszug erschien Alceste, bearbeitet von Herbert Viecenz, Übersetzung des Librettos ins Deutsche von Hermann Abert, Leipzig 1925. Vgl. hierzu die aktuellen Studien von Michael Custodis, die er bei dem Symposium Christoph Willibald Gluck (1714–2014): Bilder Mythen Diskurse, das vom 23.–25. Oktober 2014 an der Universität Wien veranstaltet wurde, sowie im Rahmen eines Vortrages an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz am 29. Januar 2015 präsentiert hat; sie befinden sich derzeit im Druck. Custodis legt Gerbers Mitarbeit innerhalb des Sonderstabs Musik im Amt Rosenberg des NS-Regimes offen. Vgl. Anna Martina Gottschick (Redaktion), Bärenreiter-Chronik. Die ersten fünfzig Jahre 1923–1973, Kassel [u. a.] 1973, S. 42.
Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke
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gen im Jahr 1943 die Gluck-Gesamtausgabe.17 Zwar erfolgten editorische Arbeiten schon seit den 1930er Jahren, doch konnte der erste Band des neuen Vorhabens erst mehrere Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges erscheinen. Er enthält die von Franz Rühlmann vorgelegte Edition der Opéra-comique L’Ivrogne corrigée (GGA IV/5) und markiert das Jahr 1951 als den Publikationsbeginn der Gluck-Gesamtausgabe (= GGA), die den Titel Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke trägt. Institutionell war sie zunächst an das Staatliche Institut für Musikforschung Berlin angebunden; finanziell unterstützt wurde sie anfangs auch durch die Stadt Hannover.18 Die damals erarbeitete Gliederung der Gesamtausgabe unterteilt das Œuvre des Komponisten in sechs Werkgruppen, die verschiedene Bühnengenres sowie Instrumental- und nicht szenische Vokalmusik unterscheiden. Obwohl die Quellenrecherchen und Forschungen zum Schaffen Glucks in den nachfolgenden Jahrzehnten in umfassender Weise neue Erkenntnisse erbracht haben, hat die Gliederung der Gluck-Gesamtausgabe in sechs Abteilungen bis heute Gültigkeit; hinzugenommen wurde lediglich eine weitere für Supplementa. Die Bezeichnungen der Abteilungen wurden im Sinne der Einheitlichkeit und zugunsten einer problemlosen Zuordnung innerhalb des gesamten Corpus beibehalten, sie lauten: I Musikdramen, II Tanzdramen, III Italienische Opere serie und Opernserenaden, IV Französische Komische Opern, V Instrumentalmusik und VI Vokalmusik. Da sich die Ausgabe als einzige wissenschaftliche Edition der Werke Glucks etablieren konnte und das Zentrum der Gluck-Forschung bildet, wird sie im zweiten Abschnitt des vorliegenden Beitrages umfassend berücksichtigt. Außerhalb der deutschsprachigen Länder sind Forschungen, die sich auf den Gesamtbestand des Schaffens von Gluck, auf die Überlieferung seiner Werke sowie in umfassender Weise auf biographische Dokumente richten, auch nach der Jahrhundertmitte vereinzelt geblieben. Einen wichtigen Beitrag bildet Cecil Hopkinsons Erfassung und Beschreibung der historischen Notendrucke19 sowie Patricia Howards Kompendium zur Gluckforschung.20 Zudem gibt die ____________ 17
18
19 20
Vgl. Ludwig Finscher, Artikel Gerber, Rudolf, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 7, Stuttgart, Kassel [u. a.] 2002, Sp. 764; sowie Gerhard Croll, Artikel Gluck, Christoph Willibald, Wilibald; Christoph Willibald Ritter von Gluck, in: ebd., 2002, Sp. 1155. Vgl. Gottschick (Redaktion), Bärenreiter-Chronik (wie Anm. 16), S. 65f., sowie die entsprechenden Fördervermerke in den bis 1974 erschienenen Bänden der Gesamtausgabe. Gemäß den aktuellen Forschungen von Michael Custodis (s. o.) ging die Unterstützung der Stadt Hannover auf eine Vereinbarung zurück, die in den frühen 1940er Jahren getroffen worden war. Cecil Hopkinson, A Bibliography of the Printed Works of C. W. von Gluck, London 1959, erweiterte Auflage New York 1967. Patricia Howard, Christoph Willibald Gluck. A Guide to Research, New York 1987, 22003.
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ebenfalls von Howard21 zusammengestellte Ausgabe von Briefen und Dokumenten nach der von Hedwig und Erich Hermann Müller von Asow vorgelegten Sammlung22 den bislang umfassendsten Überblick zu erhaltenen biographischen Quellen. In seiner Abhandlung über die von Gluck gepflegten Genres Opéra-comique und Ballett im Kontext der Wiener Aufführungen von 1752 bis 1765 legte Bruce Alan Brown grundlegendes Material vor, das in Bezug auf die Ballette zugleich den am stärksten von Autorschaftsfragen geprägten Bereich betrifft.23
II.
Die Gluck-Gesamtausgabe (GGA)
Auch wenn die Ausgangsbedingungen der Nachkriegsjahre ungünstig waren, konnte die von Gerber gegründete Gluck-Gesamtausgabe doch immerhin auf den musikwissenschaftlichen Forschungsergebnissen zweier Generationen aufbauen. Nur so war es möglich, trotz der Quellen-Verluste im Zweiten Weltkrieg durch Zerstörung oder Verlagerung bereits in den frühen 1950er Jahren mit der Edition einiger Werke zu beginnen. Denn die Kenntnis von Werküberlieferungen, wie sie durch Einzelstudien und Wotquennes Thematisches Verzeichnis gegeben war, erlaubte die Bewertung der Quellenlage mehrerer Opern. Waren die als editionsrelevant einzustufenden Quellen eines Werkes zugänglich, konnte mit der Edition begonnen werden. Nicht zuletzt hieraus erklärt sich, dass die Mehrzahl der bis in die frühen 1960er Jahre publizierten Bände der Gluck-Gesamtausgabe Werke vorlegt, von denen zu Lebzeiten des Komponisten ein gültiger Partiturdruck erschienen war.24 Unter den ersten Bänden der Gesamtausgabe finden sich aber auch Editionen, die in Ermangelung eines Autographs nach nur einer Partiturabschrift oder wenigen handschriftlichen Quellen erstellt werden mussten bzw. müssen.25 Außerdem unter____________ 21 22 23 24
25
Dies., Gluck. An Eighteenth-Century Portrait in Letters and Documents, Oxford 1995. Hedwig und Hermann Müller von Asow, The Collected Correspondence and Papers of Christoph Willibald Gluck, London 1962. Bruce Alan Brown, Gluck and the French Theatre in Vienna, Oxford 1991. In chronologischer Reihenfolge ihrer Publikation im Rahmen der Gesamtausgabe Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke: Echo et Narcisse – Echo und Narziß (Abteilung I, Bd. 10), hrsg. von Rudolf Gerber, Kassel [u. a.] 1953; Paride ed Elena – Paris und Helena (Abteilung I, Bd. 4), hrsg. von Rudolf Gerber, Kassel [u. a.] 1954; Alceste – Alkestis (Pariser Fassung von 1776) (Abteilung I, Bd. 7), hrsg. von Rudolf Gerber, Kassel [u. a.] 1957; Triosonaten (Abteilung V, Bd. 1), hrsg. von Friedrich Heinrich Neumann, Kassel [u. a.] 1961; Orfeo ed Euridice – Orpheus und Eurydike (Wiener Fassung von 1962) (Abteilung I, Bd. 1), hrsg. von Anna Amalie Abert und Ludwig Finscher, Kassel [u. a.] 1963. In chronologischer Reihenfolge ihrer Publikation im Rahmen der Gesamtausgabe Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke: L’Ivrogne corrigé – Der bekehrte Trunkenbold (Abteilung IV, Bd. 5), hrsg. von Franz Rühlmann, Kassel [u. a.] 1951; L’Ile de Merlin ou Le monde ren-
Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke
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nahm Gerber umfassende Quellen-Recherchen für nur lückenhaft bekannte Bereiche wie beispielsweise für die Werkgruppe der Sinfonien. Deutlich war schon damals, dass die Quellenforschung, die für eine Gesamtausgabe generell grundlegende Bedeutung hat, im Falle der heterogenen Überlieferungssituation des Schaffens von Gluck eine umfangreiche und schwierige Aufgabe ist.26 Die Geschichte der Gluck-Gesamtausgabe zeigt diesbezüglich, wie stark historische Bedingungen auf den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess einwirken können. So sprechen beispielsweise die in den 1950er Jahren mit großer Sorgfalt edierten Werkausgaben das Problem der damals weitreichenden Beschränkungen an, die neben der allgemeinen Quellenrecherche vor allem auch die Zugänglichkeit betrafen.27 In den 1990er Jahren waren es infolge der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ erneut äußere Bedingungen, die die Quellenforschung erheblich beeinflussten. Seit ihrem Beginn ist es das Ziel der Gluck-Gesamtausgabe, sämtliche Werke von Christoph Willibald Gluck in einer auch der musikalischen Praxis dienenden, historisch-kritischen Edition vorzulegen. Hierzu gehören neben dem Notentext und dessen textkritischer Kommentierung auch Informationen zur Werkgeschichte und zur zeitgenössischen Rezeption. Den Notenbänden sind jeweils ein ausführliches Vorwort und ein mehrteiliger Kritischer Bericht beigegeben; nur bei zu großem Umfang von Noten- und Textteilen erscheinen letztere in einem separaten Band. Da das Schaffen Glucks überwiegend vokale Bühnenwerke umfasst, ist die editorische Berücksichtigung der vertonten Texte ein wichtiger Bestandteil. Zudem hat die im Fach Musikwissenschaft insgesamt seit den 1980er Jahren intensivierte Librettoforschung auch bei der Gluck-Gesamtausgabe eine Aufwertung dieses Aspektes bewirkt: So wird in den seit 1991 erschienenen Bänden das jeweilige Uraufführungslibretto als vollständiges Faksimile abgedruckt, und für jene Werke, die bis zu diesem Zeitpunkt bereits in Editionen der Gluck-Gesamtausgabe vorlagen, wurde eine entsprechende Wiedergabe einschließlich umfassender Kommentierung in einem separaten Band der Abteilung VII Supplement vorgenommen.28 __________
26 27
28
versé – Merlins Insel oder Die verkehrte Welt (Abteilung IV, Bd. 1), hrsg. von Günter Hauswald, Kassel [u. a.] 1956; Le Cinesi – Die Chinesinnen (Abteilung III, Bd. 17), hrsg. von Gerhard Croll, Kassel [u. a.] 1958. Vgl. hierzu die genaueren Angaben weiter unten, im Abschnitt „Zur Quellensituation“. Vgl. besonders Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke, Abteilung I, Bd. 4: Paride ed Elena – Paris und Helena, hrsg. von Rudolf Gerber, Kassel [u. a.] 1954, S. 309f.; Abteilung I, Bd. 7: Alceste – Alkestis (Pariser Fassung von 1776), hrsg. von Rudolf Gerber, Kassel [u. a.] 1957, S. 403; Abteilung IV, Bd. 7: La Rencontre imprévue – Die Pilger von Mekka, hrsg. von Harald Heckmann, Kassel [u. a.] 1964, S. 308. Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke, Abteilung VII, Bd. 1: Libretti. Die originalen Textbücher der bis 1990 in der Gluck-Gesamtausgabe erschienenen Bühnenwerke. Textbücher verschollener Werke, hrsg. von Klaus Hortschansky, Kassel [u. a.] 1995.
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Die in den 1950er Jahren getroffenen Entscheidungen zur Darstellung der Werke entsprechen zwar einerseits den gültigen philologischen Standards,29 berühren jedoch andererseits inhaltliche Komponenten und Darstellungsprinzipien, deren Bewertung zeitgebunden ist. Letztere tragen ebenso den damaligen Methoden musikphilologischer Arbeit mit Alter Musik Rechnung, wie sie darauf verweisen, dass mit Blick auf die Musikpraxis, die noch nicht über Erfahrungen der heutigen historischen Interpretationspraxis verfügen konnte, gerne Hilfestellungen gegeben wurden, die heutzutage nicht mehr zwingend nötig scheinen. Da viele Aspekte jedoch grundsätzliche Prinzipien der Darstellung von Notentext und Forschungsergebnissen berühren und für die nicht zu den Spezialisten zählenden Rezipienten – Ausübende wie Wissenschaftler – weiterhin von Nutzen sind, werden sie im Sinne einer Einheitlichkeit der Gesamtausgabe beibehalten. Hierzu gehören die Ergänzung einer Generalbassaussetzung,30 die modernisierte Schlüsselung der Vokalstimmen, die Verwendung der modernen Partituranordnung, die stets italienische Bezeichnung der Instrumente und Chorstimmen sowie auch die Ergänzung von Vorschlägen zur Besetzung des Basso continuo. Zudem ist mit einer Ausnahme31 in allen Werkausgaben der Abteilung I sowie in den bis 1969 erschienenen Bänden der Abteilungen III und IV neben der originalsprachigen Textierung eine eigens angefertigte deutschsprachige Übersetzung unterlegt. Auf eine solche Textergänzung wurde in den später erschienenen Bänden verzichtet. In personeller Hinsicht kam es Ende der 1950er Jahre zu Veränderungen. Nachdem Gerber 1957 überraschend verstorben war, übernahm FriedrichHeinrich Neumann die Editionsleitung. Er konnte sich dieser Aufgabe aufgrund seines frühen Todes jedoch nur etwas mehr als zwei Jahre widmen. 1960 folgte Gerhard Croll, der die Editionsleitung bis 1990 innehatte. Mit ihm wechselte der Sitz der Gluck-Gesamtausgabe zunächst nach Münster/Westf. und mit seiner Berufung auf die Lehrkanzel für Musikwissenschaft der Uni____________ 29
30
31
So entschied man sich beispielsweise für eine typographische Kennzeichnung von Herausgeber-Ergänzungen im Notentext und die schematische Auflistung der abweichenden Lesarten editionsrelevanter Quellen im Teil C Einzelbemerkungen des Kritischen Berichts. Die wichtigsten Mittel der Kennzeichnung sind in einem Auszug der Editionsrichtlinien aufgelistet. Vgl. Editionsrichtlinien Musik, im Auftrag der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000, S. 79–105, insbesondere S. 84–104. In den Bänden der Gluck-Gesamtausgabe wird jeweils im Teil B des Kritischen Berichts auf die Verwendung der typographischen Kennzeichnungen erläuternd verwiesen. Und zwar in nahezu allen Bänden, d. h. mit Ausnahme der französischen, für die Pariser Académie Royale de Musique geschaffenen Musikwerke der Abteilungen I und IV sowie einzelner, seit 1992 herausgegebener Opéras-comiques. Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke, Abteilung I, Bd. 2: Telemaco, hrsg. von Karl Geiringer, Kassel [u. a.] 1972.
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versität Salzburg 1966 dann dorthin.32 Zu den Aufgabenfeldern jener Phase der Gluck-Gesamtausgabe gehörte neben der Ermittlung von Musik- und Textquellen auch der Erwerb von Mikrofilmen wichtiger Quellen sowie die Erstellung von Rohmanuskripten, da im Unterschied zu anderen zeitgleich erarbeiteten wissenschaftlichen Editionen von den Werken Glucks kaum moderne Ausgaben vorlagen, die als Arbeitsgrundlage hätten dienen können. Die Quellenrecherchen hatten sich zwangsläufig zunächst an den gut ermittelbaren Beständen ausgewählter Bibliotheken zu orientieren. Zudem waren sie überwiegend werkbezogen ausgerichtet, d. h. dem Bestreben geschuldet, die Quellensituation der jeweils editorisch zu bearbeitenden Komposition zu erfassen. Für die Auswahl herauszugebender Werke war also weiterhin das erwähnte Kriterium der Zugänglichkeit von editionsrelevanten Quellen hochrangig, außerdem zielte man darauf, die Werkausgaben der Abteilung I (Musikdramen) möglichst zügig zu komplettieren.33 In den ersten Jahrzehnten nach ihrer Gründung wurden Arbeiten an der Gluck-Gesamtausgabe durch unterschiedliche Förderer finanziert, neben den oben (siehe S. 265) genannten kamen ab 1962 die Stiftung Volkswagenwerk und später das Bundesministerium für Forschung und Technologie (Förderung bis Ende 1974) sowie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hinzu. Doch gab es bis zur Übernahme der Gluck-Gesamtausgabe in das deutsche Akademienprogramm,34 die 1979 erfolgte, keine kontinuierliche Editionsstelle, d. h. keine festangestellten Mitarbeiter. Daher waren sogenannte „externe“ Mitarbeiter, von denen einige auch als Herausgeber hervorgetreten sind, besonders wichtig. Die Beteiligung externer Mitarbeiter blieb allerdings noch lange notwendig und erfolgt vereinzelt noch bis in die Gegenwart. Ausgehend von einer nun an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz angesiedelten halben Wissenschaftlerstelle Ende der 1970er Jahre konnte das Personaldeputat der Gluck-Gesamtausgabe in Deutschland allmählich aufgestockt werden; ab dem Jahr 1994 standen schließlich zwei volle Wissenschaft____________ 32
33 34
Vgl. den Personenartikel Croll, Gerhard, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 5, Stuttgart, Kassel [u. a.] 2001, Sp. 124. Vgl. Gerhard Croll, Die Gluck-Gesamtausgabe 1987, in: Österreichische Musikzeitschrift 42 (1987), S. 516. Dabei handelt es sich um eine Förderung, die zu gleichen Teilen aus Mitteln des Bundes und des jeweiligen Sitzlandes des Projektes in der Bundesrepublik Deutschland erfolgt. Das Akademienprogramm wird koordiniert von der Union (bis 1998 Konferenz) der deutschen Akademien der Wissenschaften, die in Mainz bei der Akademie der Wissenschaften und der Literatur und seit 2003 zudem in Berlin bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ansässig ist. Vgl. hierzu auch Gabriele Buschmeier, Musikwissenschaft im Akademienprogramm. Eine Bestandsaufnahme von den Anfängen bis heute, in: Archiv für Musikwissenschaft 69 (2012), Heft 4, S. 304–317.
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lerstellen zur Verfügung. In Österreich erfolgte seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend eine finanzielle Unterstützung der Gluck-Forschung an der Salzburger Universität, zunächst durch die Österreichische Akademie der Wissenschaften und seit dem Gluck-Gedenkjahr 1987 über das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung.35 Zu Beginn der 1990er Jahre kam es zur Neuorganisation des Akademienvorhabens Gluck-Gesamtausgabe, mit der eine Verlagerung früherer Zuständigkeiten einherging, d. h. auch die Organisation der Arbeiten obliegt seitdem der Mainzer Akademie, die auch Herausgeberin der Ausgabe ist. Außerdem wurden die Aufgaben des Herausgebergremiums erweitert,36 da seine Bedeutung mit den in Menge und Arbeitsaufwand zunehmenden Forschungsschwerpunkten der Gluck-Gesamtausgabe wie etwa im Bereich der frühen Opern, der Opéra-comique und der verschiedenen Incerta-Fragen, deutlich anwuchs. Den Vorsitz des Herausgebergremiums, das in seiner Zusammensetzung erneuert bzw. vergrößert wurde, übernahm der Leiter des Musikwissenschaftlichen Instituts der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Christoph-Hellmuth Mahling. Nach dessen Tod im Jahr 2012 ging der Vorsitz des Herausgebergremiums auf seinen Amtsnachfolger Klaus Pietschmann über. Die Salzburger Gluck-Forschungsstelle stand bis 2009 unter Leitung von Gerhard Croll, der diese Aufgabe an Sibylle Dahms weitergab. Die teils aus öffentlichen, teils aus privaten Geldern finanzierte Gluck-Forschungsstelle in Österreich ist an den Fachbereich Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg angegliedert; in der Regel umfasst die personelle Ausstattung zwei Teilzeitstellen. Seit dem Jahr 2011 hat die Gluck-Gesamtausgabe eine weitere Arbeitsstelle in Deutschland, sie ist am Institut für Musikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main angesiedelt und mit einer Akademieprofessur verbunden,37 zu deren Aufgaben es zählt, philologische Methoden und aktuelle Forschungsaspekte in die universitäre Lehre sowie durch Vorträge u. Ä. in den interdisziplinären Dialog einzubringen. Zur Quellensituation Der Rückblick auf die verschiedenen Phasen der Gluckforschung hat bereits deutlich gemacht, dass die Quellenrecherche und somit auch die Ermittlung ____________ 35 36 37
Vgl. Croll, Gluck-Gesamtausgabe 1987 (wie Anm. 33), S. 517. Angaben nach dem Protokoll der Sitzung des Herausgeber-Gremiums der Gluck-Gesamtausgabe am 8. Februar 1991. Die Finanzierung der beiden deutschen Arbeitsstellen erfolgt aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Bonn und Berlin, des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur Rheinland-Pfalz, Mainz, des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, Wiesbaden, und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
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der Werküberlieferung langwierig waren und sind. Hier sei nun näher beleuchtet, wodurch dies verursacht wird und wie sich die Überlieferungssituation nach heutigem Kenntnisstand darstellt. Gluck war nach einer langen Phase seines Wanderlebens als Berufsmusiker zu Beginn der 1750er Jahre in Wien ansässig geworden. In privater Hinsicht verband ihn seine Heirat mit der Wiener Kaufmannstochter Maria Anna (Marianne) Bergin am 15. September 1750 mit dieser Stadt; beruflich gelang es ihm durch seine vorangegangenen Erfolge, hier Fuß zu fassen. Seit Ende des Jahres 1752 erhielt er aus dem Umfeld des Hofes regelmäßig Aufträge als Kapellmeister und Komponist, zunächst vom kaiserlichen Feldmarschall Prinz von Sachsen-Hildburghausen und ab 1755 von der kaiserlichen Familie und den Verwaltern der Wiener Theater. In den 1770er Jahren, in denen Gluck seine ruhmreichen Opernerfolge in Paris feierte, verlegte er seinen Wohnsitz nicht dorthin, sondern behielt Wien und die nähere Umgebung als Lebensmittelpunkt bei. Somit war die Voraussetzung gegeben, dass auch sein Hab und Gut sowie die Autographe seiner Werke großenteils in diesem privaten Umfeld blieben, zumal er aufgrund seiner guten wirtschaftlichen Lage keinerlei Notverkäufe tätigen musste. Nach seinem Tod am 15. November 1787 ging sein gesamter Nachlass an seine Witwe Marianne, die weiterhin in Wien lebte. Da das Ehepaar Gluck keine eigenen Kinder hatte und die Adoptivtochter bereits im jugendlichen Alter verstorben war, wurden die Besitztümer Glucks und somit auch seine Autographe nach dem Tod von Marianne am 12. März 1800 an Carl Gluck, den ältesten Sohn ihres Schwagers Franz Anton Ludwig Gluck, weitervererbt. Dieser wohnte in einem Landhaus im südwestlich von Wien gelegenen Kalksburg; infolge der Kriegsereignisse während der Belagerung durch Napoleon 1809 fielen die Notenskripte und Dokumente Glucks allerdings Brand und Plünderungen zum Opfer.38 Autographe von Gluck sind daher nur überliefert, sofern sie bereits damals andernorts aufbewahrt worden waren; sie stellen außerordentliche Raritäten dar. Umso bedeutsamer sind die professionellen Abschriften seiner für Wien komponierten Werke, die teils als Partituren, teils als Particelle (Melodie- und Basso-Stimme) vorliegen und die zu seinen Lebzeiten als Deposita für die kaiserliche Hofbibliothek angefertigt worden waren. Als ebenso relevant können in der Regel auch jene zeitgenössischen Abschriften gelten, die jeweils in das Umfeld einer – in der Regel von ____________ 38
Vgl. die biographischen Schriften zu Gluck, insbesondere aus jüngerer Zeit Gerhard Croll, Artikel Gluck, Christoph Willibald (wie Anm. 17), Sp. 1100–1160; Gerhard und Renate Croll, Gluck. Sein Leben. Seine Musik, Kassel [u. a.] 2010; Gerhard Croll und Dieter Haberl, Artikel Gluck, Christoph Willibald, in: Lexikon zur deutschen Musikkultur in Böhmen, Mähren, Sudetenschlesien, hrsg. vom Sudetendeutschen Musikinstitut Regensburg, 2 Bde., München 2000, Bd. 1, Sp. 750–756 (zugleich S. 433–436).
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Gluck geleiteten – Uraufführung gehörten oder auch als Dedikationsexemplare für den Auftraggeber entstanden. Diese Abschriften (Partituren, Particelle oder Stimmen) sind nicht selten in Bibliotheken oder Archiven des Uraufführungsortes (bzw. in dessen Nähe) aufbewahrt; vielfach sind die zu einem Werk gehörenden Materiale jedoch über zahlreiche Bibliotheken und Archive in und außerhalb Europas verstreut. Als weiterer Quellentypus ist der zeitgenössische Notendruck zu nennen. Von Glucks Opern sind beinahe ausschließlich jene, die den Reformgedanken umsetzen, vollständig im Druck erschienen, und zwar beginnend mit Orfeo ed Euridice (Uraufführung 1762, Druck 1764). Darüber hinaus sind es mit zwei Ausnahmen39 kurze Kompositionen oder Auszüge aus Opern, die in zeitgenössischen Ausgaben vorgelegt wurden. Hierzu zählen die um 1746 in London gedruckten Triosonaten und Vokalnummern aus Opern sowie die in den 1770er und 1780er Jahren zum einen in französischen Drucken erschienenen Einzelnummern aus den späten Opern und zum anderen in deutschsprachigen Almanachen und einer Sammlung gedruckten Oden und Lieder. Für alle zeitgenössischen Notendrucke Gluck’scher Werke gilt, dass von ihnen mehrere Exemplare überliefert sind. Die Qualität ihrer Textüberlieferung ist jedoch heterogen, und zwar insofern, als für einige Drucke mangelnde Sorgfalt bei der Herstellung festzustellen ist.40 Die überwiegende Zahl der Musikdrucke zeichnet sich durch ein sehr kompaktes Satzbild mit eng aneinandergerückten Notensystemen und Akkoladen aus, innerhalb derer Artikulationsangaben jeglicher Art u. a. aufgrund typographischer Unzulänglichkeiten der Zeichenformungen schwer lesbar sind. Die auch in Musikhandschriften des 18. Jahrhunderts übliche Nutzung ein und desselben Notensystems für unterschiedliche Instrumente ohne genaue Kennzeichnung der Wechsel ist hier ebenfalls anzutreffen. Trotz solcher Mängel bieten die Operndrucke eine genaue und vollständige Abfolge der Werke, enthalten meist auch Regieanweisungen und die Vokalstimmen einschließlich des unterlegten Textes.41 Die Überlieferungssituation der gedruckten Uraufführungslibretti weicht schon allein deswegen deutlich von jener der Musikdrucke ab, weil sie zu den ____________ 39 40
41
Jeweils die zweite Fassung von L’Arbe enchanté und Cythère assiégée (beide Paris 1775). Vgl. Bruce Alan Brown in seinem Vorwort zur Ausgabe von L’Arbre enchanté (Versailles 1775), in: Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke, Abteilung IV, Bd. 11, hrsg. von Bruce Alan Brown, Kassel [u. a.] 2009, S. XIX–XXI, sowie Gerhard Croll in seinem Vorwort zur Alceste (Wiener Fassung von 1767), in: Abteilung I, Bd. 3, Teilband b: Vorwort, Notenanhang, Kritischer Bericht, Kassel [u. a.] 2005, S. XLIX. Ebenso Marius Flothuis im Kritischen Bericht zu seiner Ausgabe der Iphigénie en Aulide, in: Abteilung I, Bd. 5, Teilband b: Vorwort, Notenanhang, Kritischer Bericht, Kassel [u. a.] 1989, S. 583; und Rudolf Gerber, in: Abteilung I, Bd. 4: Paride ed Elena, Kassel [u. a.] 1954, S. 309. Nur in den Chorstimmen ist die Textunterlegung nicht völlig ausnotiert, was aber aufgrund der hier üblichen Parallelführungen der Stimmen keinen Informationsverlust bedeutet.
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meisten der Bühnenwerke Glucks erschienen sind und somit quasi zur gesamten Schaffenszeit des Komponisten Auskunft geben. Die überwiegende Zahl solcher Textdrucke ist in mehreren Exemplaren erhalten; Lücken oder lediglich singuläre Belege gibt es aber insbesondere für einige der frühen Opern Glucks.42 Für jene Opern, die eine rege Rezeptionsgeschichte haben, existieren darüber hinaus zahlreiche Librettoausgaben, die anlässlich späterer Aufführungen oder Aufführungsfolgen gedruckt wurden. Die Anzahl jeweils nachweisbarer Exemplare solcher Librettodrucke ist jedoch oftmals gering. Aufgrund der angedeuteten Relevanz der handschriftlichen Musiküberlieferung, die für die Mehrzahl der Opernkompositionen Glucks die ausschließliche ist, hat der Textnachweis durch Libretti hohe Bedeutung. So kann die Zuordnung einer Partiturabschrift zu einer bestimmten Aufführung leicht durch Abgleich mit dem entsprechenden Libretto erfolgen, wenn für diese Aufführung ein spezifischer Austausch von Nummern und/oder einzelner Textteile vorgenommen wurde, was im 18. Jahrhundert durchaus üblich war.43 Dementsprechend lassen sich anhand des Uraufführungslibrettos jene Musikhandschriften zuordnen und ausfindig machen, die der im Sinne des editorischen Ziels (siehe unten „Zur Edition“) gültigen Werkgestalt dieser ersten Aufführung zuzuordnen sind. Generell dienen die Libretti auch als Informationsquellen zur Rezeptionsgeschichte, da sie Aufführungen einschließlich ihrer Orte und ggf. Interpreten dokumentieren; es ist jedoch nicht bekannt, wie hoch der Prozentsatz der erhaltenen Librettoausgaben an der Anzahl der jemals erschienenen ist. Während bei den beschriebenen Quellenüberlieferungen eine Ausgabe des entsprechenden Werkes meist keine größeren Probleme bereitet oder zumindest realisierbar ist, gibt es solche, die die Konstitution einzelner Werke oder Werkteile unmöglich machen. Aufgrund der unterschiedlichen Quellenarten gibt es zudem hinsichtlich der ursprünglichen Gestalt unvollständig überlieferte Werke, zum Beispiel dann, wenn zwar ein Particell, aber weder Partitur noch Stimmen überliefert sind, oder wenn ein Libretto zwar vollständig, die dazugehörige Musik jedoch nur für einzelne Nummern erhalten ist. Umfangreiche Verluste der Musik sind vor allem für das frühe Opernschaffen Glucks zu verzeichnen. So sind von den zehn nachgewiesenen Opere serie der Jahre 1741 bis 1746 acht nur in einzelnen Teilen, d. h. in separat überlieferten Arien, ____________ 42
43
So gibt es Verluste etwa zu Le nozze d’Ercole e d’Ebe (GGA III/11), Kassel [u. a.] 2009 oder späte Funde wie zu La clemenza di Tito (GGA III/16), Kassel [u. a.] 1995, dessen Uraufführungslibretto in nur einem Exemplar erhalten ist und das erst 2001 wieder aufgefunden wurde (als kommentiertes Faksimile erschienen in der Beilage zum GGA-Band, Kassel [u. a.] 2004). Vgl. die Erläuterung einer entsprechenden Situation im Vorwort zu: Demofoonte (GGA III/3), hrsg. von Tanja Gölz, Kassel [u. a.] 2014, S. XVI–XIX.
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einem Duett und/oder der Sinfonia überliefert,44 und auch von der 1752 in Prag uraufgeführten Issipile haben sich nach derzeitigem Kenntnisstand lediglich vier Arien erhalten. Darüber hinaus zählen vor allem kleinere Werke zu den Verlusten. Die Hinweise auf ihre Existenz beruhen in der Regel auf Zeitzeugenberichten, d. h., sie waren nie und sind (bis heute) nicht durch Notentexte belegt, und nur vereinzelt ist die vertonte Textvorlage nachweisbar: Konkret betreffen die Verluste vor allem kirchliche Vokalmusik, die Gluck vertont haben soll, und Instrumentalkompositionen aus den 1730er Jahren, die 1764 zur Krönung Josephs II. in Frankfurt am Main bestimmte Kantate Enea e Ascanio, der höchstwahrscheinlich Musik von Gluck zugrunde lag,45 sowie Lieder46 und die Hermanns Schlacht nach Friedrich Gottlieb Klopstock aus seiner letzten Schaffensphase, d. h. den 1770er und 1780er Jahren. Alle Quellenfunde, die den genannten Bereichen zuzuordnen sein könnten, berühren also den Problemkreis der Incerta. In Bezug auf Glucks gesamtes Schaffen überwiegen allerdings die Incerta-Fragen der Genres Ballett und Opéra-comique. Die Anzahl von falschen Zuschreibungen einzelner Stücke hingegen ist vergleichsweise gering.47 Zur Klärung von Glucks möglicher Autorschaft für die Ballette und Opéras-comiques, deren Aufführung er 1759–1764 in Wien realisierte, ist eine Berücksichtigung der spezifischen Kontexte unabdingbar. Neben der Recherche von Quellen zur jeweiligen Komposition, für die zunächst Gluck als Autor anzusehen ist, sind zu diesen beiden Genres aber auch deswegen verstärkt weitere Forschungen – wie etwa zur Entstehung und Aufführungsweise – notwendig, weil die jeweilige Werk- bzw. Aufführungsgestalt anhand der überlieferten Musikquellen und Libretti oder Szenare oftmals nur schemenhaft erschließbar ist. Die hiermit verbundene heuristische Herausforderung hat dazu geführt, dass konkrete Entscheidungen, ob ein entsprechendes Werk in der Gluck-Gesamtausgabe aufgenommen werden sollte oder nicht, teilweise erst in jüngster Zeit getroffen wurden. So erfolgte 2013 der Beschluss, 22 erhaltene Wiener Ballette, für die eine musikalische Beteiligung ____________ 44
45 46 47
Vollständig erhalten ist Ipermestra (Venedig 1744), erschienen als Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke, Abteilung III, Bd. 6, hrsg. von Axel Beer, Kassel [u. a.] 1997; zudem sind sämtliche geschlossenen Nummern von Demofoonte (Mailand 1743; wie Anm. 43) erhalten. Vgl. Klaus Hortschansky zu Enea e Ascanio in: GGA VII/1 (wie Anm. 28), S. XLIV–XLV. Geistliche Lieder nach Christian Fürchtegott Gellert (vor 1776) sowie einige Lieder nach Oden von Friedrich Gottlieb Klopstock. Hierzu zählen etwa das Pasticcio aus Musik von Gluck Die Maienkönigin (bearbeitet von Johann Nepomuk Fuchs) oder ein Flötenkonzert in G-Dur. Vgl. zudem im Werkverzeichnis von Wotquenne (wie Anm. 9) den Abschnitt Morceaux de chant détachés, S. 151f. und 217f. Zu Zuschreibungen liedartiger Vokalstücke vgl. Daniela Philippi, Zur vorliegenden Ausgabe und Kritischer Bericht, in: Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke, Abteilung VI, Bd. 2: Oden und Lieder auf Texte von Friedrich Gottlieb Klopstock und Lorenz Leopold Haschka, hrsg. von Daniela Philippi und Heinrich W. Schwab, Kassel [u. a.] 2011, S. XVIIf. und S. 48.
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Glucks – sei es als Bearbeiter oder als Kapellmeister – anzunehmen ist, in Abteilung II der Gluck-Gesamtausgabe zu publizieren. Wie oben im historischen Überblick zur Gesamtausgabe bereits angedeutet, erfolgte in den 1990er Jahren auch bezüglich der Quellenrecherchen eine Kurskorrektur. Während zuvor überwiegend werkorientiert vorgegangen worden war, um die jeweilige Komposition bald edieren und publizieren zu können, stand nun für ein Dezennium das Bestreben im Vordergrund, möglichst alle weltweit erhaltenen Gluck-Quellen zu ermitteln. Hierfür wurden sowohl Bestände von Archiven und Bibliotheken, die eine umfangreichere GluckÜberlieferung erwarten ließen, vor Ort systematisch gesichtet und erfasst als auch sämtliche bereits vorhandenen Nachweissysteme kumuliert. Zu Letzteren zählen interne Kataloge mit Quellennachweisen ebenso wie publizierte Verzeichnisse und Studien sowie Ergebnisse der RISM-Arbeitsstellen. Die Umstellung der Erfassung auf elektronische Datenträger, d. h. in einer digitalen Datenbank, erleichterte eine umfassendere Dokumentation jeder einzelnen Quelle. Dieser seither beibehaltene Ansatz zielt auf eine genaue, den Quellenwert bereits mitberücksichtigende Beschreibung des Zustands der jeweiligen Quelle und ihres Inhalts; zudem werden Querverweise auf interne Forschungsergebnisse sowie publizierte Belege gegeben. Im Zuge der raschen Veränderungen im digitalen Sektor sind zwar immer wieder zeitaufwendige Umstrukturierungen aufgrund veränderter Software notwendig, zugleich schließen diese Entwicklungen jedoch auch erweiterte Möglichkeiten ein. So dienen die Nachweise der Quellen-Datenbank seit 2011 zusätzlich als Basis für die Erarbeitung des Gluck-Werkverzeichnisses, das innerhalb der Abteilung VII Supplement sowohl als digitale Version in prozessualer Onlinepräsentation entsteht als auch in einer hierauf folgenden Druckversion gegen Laufzeitende der Ausgabe erscheinen wird. Neben den durch die politischen Veränderungen der 1990er Jahre insbesondere in Mittelosteuropa erweiterten Recherchemöglichkeiten vor Ort sind es heutzutage zudem die gestiegenen Zugriffsmöglichkeiten auf digitale Verbundsysteme von Bibliotheken und anderen Institutionen des In- und Auslands, die die Anzahl von Nachweisen zur Überlieferung des Œuvres von Gluck erhöhen. Dabei werden allerdings vor allem rezeptionsgeschichtlich relevante Fakten sichtbar, die weit ins 19. Jahrhundert hineinreichen. Das heißt zugleich, dass es kaum noch zu Funden von Quellen aus dem Umfeld des Komponisten kommt, die für die editorische Arbeit im engeren Sinne entscheidend sind. In der internen Gluck-Quellendatenbank sind Anfang 2014 ca. 2150 Musikhandschriften, 1100 Notendrucke und 520 Libretti umfassend beschrieben. Die Quelleneinträge behandeln Aspekte, die die Grundlage für Entscheidungen bilden, die bereits zu Beginn der editorischen Arbeiten an
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einem Werk getroffen werden. Da für diese Arbeiten meist mehrere Quellen vergleichend studiert werden müssen, wurden seit Beginn der Gluck-Gesamtausgabe Kopien auf unterschiedlichen Speichermedien erworben, so dass das in der Mainzer Akademie der Wissenschaften aufbewahrte Material mit Kopien von ca. 1500 Quellen die weltweit umfangreichste Sammlung zur Überlieferung der Werke Glucks ist. Zur Edition In den Editionsrichtlinien der Gluck-Gesamtausgabe,48 die zu Beginn der 1990er Jahre zugunsten einer genaueren Festschreibung editionskritischer Verfahren eine Überarbeitung erfahren haben, sind Regeln definiert, die den gesamten Verlauf der Herausgabe eines zu edierenden Werkes beschreiben. Demnach besteht die erste Aufgabe eines Bandherausgebers darin, sich eine Übersicht über die erhaltenen Quellen zum jeweiligen Werk zu verschaffen und danach eine erste Bewertung vorzunehmen. Als Grundlage hierfür dienen die Ergebnisse der Quellenforschung, wie sie in der beschriebenen Datenbank und Materialiensammlung der Gluck-Gesamtausgabe verfügbar sind, sowie eigene Studien des Herausgebers. Trotz der bereits vorliegenden Forschungsergebnisse stellt dieser Arbeitsschritt in der erreichten Phase des Vorhabens nicht selten eine große Herausforderung dar, denn die noch zu edierenden Kompositionen weisen meist eine problematische und oft auch unvollständige Überlieferung auf. Unabhängig davon gilt generell, dass die divergierenden Quellensorten – Partituren, Particelle, einzelne Stimmen – eine unterschiedliche musikalische Aussagekraft haben. Außerdem lassen sich viele der erhaltenen Abschriften nur ungenau datieren und nur hypothetisch zeitgenössischen Kontexten zuordnen, was ihre Bewertung erschwert. Dabei macht die gelegentlich anzutreffende Vielzahl solcher Abschriften die editorische Arbeit nicht einfacher, da es gilt, die Quelle (oder Quellen) ausfindig zu machen, die den Werktext in möglichst authentischer Gestalt – und das heißt bezogen auf das Schaffen von Gluck für die Mehrzahl der Werke: möglichst in der Gestalt der Uraufführung – überliefert. Naheliegenderweise beschränkt sich dieser Anspruch nicht im Sinne des engen Werkbegriffs, wie er insbesondere auf Kompositionen des 19. Jahrhunderts angewandt wird, auf die Annahme einer einzigen gültigen Werkgestalt. Somit kann die Sichtung und Analyse kohärenter Quellen zu dem Ergebnis führen, dass mehrere Versionen existieren, für die aber zu klären ist, ob es sich tatsächlich jeweils um selbständige (und autorisierte) Fassungen handelt. Verweisen ermittelbare Kontexte auf konkrete Auf____________ 48
Vgl. Anm. 29.
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führungssituationen, an denen Gluck selbst beteiligt war, liegt die Gültigkeit sowohl bei geringfügigen Veränderungen als auch bei selbständigen Fassungen nahe. Die Mitteilung solcher Erkenntnisse erfolgt je nach Umfang und Art a) durch Ossia- oder Fußnotenangaben innerhalb des Haupttextes, b) in einem Anhang durch auszugsweisen oder vollständigen Abdruck einzelner Stücke oder c) durch Erläuterungen im Vorwort und Kritischen Bericht. Nur für selbständige (und autorisierte) Fassungen findet die Publikation in einem separaten Band statt.49 Mit Methoden der Quellenbewertung und Textkritik, die von Analysen der Materialien (Papier, Faszikel etc.) und Recherchen zur Provenienz und Datierung bis hin zur Kollation des gesamten Notentextes nach mehreren Quellen reichen, wird eine Filiation erarbeitet, auf der die editorischen Entscheidungen gründen. Die genannten Urteilskriterien bedingen, dass wichtige Quellen im Original eingesehen werden müssen; die Arbeit mit Quellenkopien ist darüber hinaus aber unverzichtbar. Die inhaltliche Beurteilung der Abweichungen bzw. Lesarten verschiedener Quellen oder auch die Interpretation einer mehrdeutigen Notierung in den maßgeblichen Quellen bedarf spezieller Methoden. Hierzu zählt die kritische Deutung von historischen Schreibeigentümlichkeiten, möglichen Schreibfehlern und Überschreibungen ebenso wie auch die Analyse des musikalischen Textes, die Prüfung der inhaltlichen Zuverlässigkeit des Notats und der Abgleich von Parallelstellen. Da Gluck überwiegend Opern vorgelegt hat, wird auch das Libretto – idealerweise das der Uraufführung – zur Textkritik herangezogen. Neben den meist spärlichen Angaben zur Entstehungsgeschichte sind aus Mitteilungen zu den Uraufführungsbedingungen (z. B. vorhandene Instrumente, mitwirkende Sänger) des zu edierenden Werkes außerdem oftmals Hilfen für die maßgebliche Quellenbewertung zu entnehmen. Letztere wird im Kritischen Bericht (Teil B) nach einer ausführlichen Beschreibung aller zur Werküberlieferung zählenden Quellen (Teil A) präsentiert und bildet die Grundlage der editorischen Entscheidungen, sowohl für die Textkonstitution einschließlich diakritischer Zeichen50 als auch für die Nennung von Abweichungen im Kritischen Bericht. Diese werden teils zusammengefasst im Teil B, teils detailbezogen im Teil C, dessen Anordnung sich nach dem musikalischen Verlauf des Werkes richtet, gegeben. Zu Aspekten, die zusammenfassend behandelt werden, zählen häufig Fragen zur Instrumentierung, d. h. von welcher Besetzungsstärke pro Instrumentengruppe auszugehen ist, welche Instrumentenausprägung unter diversen Bezeichnungen zu ____________ 49 50
Dies gilt beispielweise für die Prager und Wiener Fassung des Ezio sowie für die Wiener und Pariser Fassung von L’Arbre enchanté. Die Gluck-Gesamtausgabe verwendet zur Kennzeichnung von Herausgeberergänzungen runde Klammern, Kleinstich und gestrichelte Linien.
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verstehen ist,51 wie der basso continuo besetzt wurde etc. Aber auch historische Notierungsweisen, die von Artikulationszeichen über die Akzidentiensetzung bis hin zu Abbreviaturen reichen, werden überblicksartig behandelt, indem ihr Vorkommen beschrieben und ihre Deutung sowie ihre gegebenenfalls modernisierte Darstellung in der vorgelegten Edition erläutert wird. Ein besonderes Problem begegnet in der nur angedeuteten Notierungsweise von Verzierungen und Spieltechniken – insbesondere der Vorschläge, Triller, notes inégales oder des ondeggiando –, zum einen, weil die verwendeten Zeichen in ihrer Bedeutung unkonkret sind, zum anderen, weil die graphische Wiedergabe schon innerhalb nur einer Quelle sehr inkonsistent sein kann, so dass auch Parallelstellen unterschiedlich notiert sind. Bei jeder Edition muss daher erläutert werden, welche vereinheitlichenden oder nicht vereinheitlichenden Darstellungsformen gewählt wurden. Ergänzende Hinweise für die Aufführungspraxis hierzu werden sehr zurückhaltend gegeben, da es sich musikalisch um einen variablen interpretatorischen Bereich handelt. In jüngster Zeit völlig aufgegeben wurde außerdem die Mitteilung von Herausgebervorschlägen zu Appogiaturen und Kadenzen – eine Entscheidung, die auf dem Argument gründet, dass die Positionen dieser in den Quellen beinahe nie notierten Verzierungsmittel der solistischen Vokalstimme für den kundigen Interpreten aus dem Haupttext erschließbar sind und ihre Ausgestaltung ohnehin zur interpretatorischen Aufgabe gehört.52 Der edierte Notentext, auch als Haupttext bezeichnet, soll gemäß Editionsrichtlinien der Gluck-Gesamtausgabe eine vollständige und musizierbare Werkgestalt präsentieren. Die Präambel der Editionsrichtlinien beginnt dementsprechend mit dem Satz: „Die folgenden Grundsätze für Textgestaltung und Anlage der Notenbände sowie der Kritischen Berichte sollen dazu dienen, die Gluck-Gesamtausgabe (GGA) einheitlich und in wissenschaftlich-kritischer wie musikalisch-praktischer Hinsicht einwandfrei zu gestalten.“ Hieraus ergibt sich, dass eindeutige Fehler zu korrigieren sind, wobei die Konjektur dann typographisch zu kennzeichnen ist, wenn mehrere Korrekturmöglichkeiten denkbar sind. Solche Fehler betreffen häufig die Metrik und Rhythmik, aber ____________ 51
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So etwa Fragen danach, welches Instrument mit der Bezeichnung Salterio gemeint oder welcher Klangcharakter durch die Vorschrift des Chalumeau beabsichtigt war; vgl. Daniela Philippi, Vorwort, in: Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke, Abteilung IV, Bd. 6: Le Cadi dupé. Der betrogene Cadi, hrsg. von Daniela Philippi, Kassel [u. a.] 1999, S. XIV; und Gerhard Croll, Kritischer Bericht. B. Allgemeines, in: GGA I/3b (wie Anm. 40), S. 638. Die Entscheidung für eine genauere Ausnotierung von Auszierungen im Sinne einer Interpretationshilfe, die seit den 1950er Jahren gepflegt wurde, setzte sich betont von der ehemals durch Hermann Abert vertretenen wissenschaftlichen Editionsweise ab, die auf solche Ergänzungen verzichtet hatte. Vgl. Wolfgang Boetticher, Über Entwicklung und gegenwärtigen Stand der Gluck-Edition, in: Acta musicologica 30 (1958), S. 105.
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auch die Diastematik. Weniger häufig sind Notierungen, die für das jeweilige Instrument Unspielbares vorschreiben, wie etwa eine zu hohe oder zu tiefe Lage. Für Abweichungen, die der Herausgeber als Varianten deutet, kann eine Darstellung und Kommentierung innerhalb des Notentextes (als Ossia-Version oder in einer Fußnote an Ort und Stelle) gewählt werden. Ebenso wird auf zweifelhafte oder unvollständige Stellen, die durch schematisch gekennzeichnete Ergänzungen nicht ausreichend kenntlich zu machen sind, möglichst durch Kommentierung in einer Fußnote eingegangen. Insgesamt erfolgt die Darstellung der Edition in moderner Partiturniederschrift, wobei die hiermit unkenntlich gemachten historischen Schreibungen sowohl durch summarische Erläuterung im Kritischen Bericht als auch durch Faksimiles einzelner Seiten aus wichtigen Quellen mitgeteilt werden. Die kenntlich gemachten Ergänzungen innerhalb des Haupttextes, die insbesondere Artikulationsangaben und Dynamik betreffen, können Lesarten aus Referenzquellen sein oder aus Analogieschlüssen resultieren. Es ist aber nicht im Sinne des Editionsziels, interpretierende musikalische Sichtweisen festzuschreiben; auf sie kann aber in den Textteilen hingewiesen werden. Im Haupttext eines Bandes der Gluck-Gesamtausgabe werden die Musik und – soweit hinzugehörend – die gesungenen und gesprochenen Texte sowie Hinweise zur dramatischen Gliederung und szenischen Darstellung vorgelegt. Ausgenommen bleibt dabei die Rekonstruktion der ehemals gegebenen Bühnendarstellung, da diese nur vermutet werden kann. So finden sich bereits bezüglich der Ausführung von gestischen und tänzerischen Elementen in der Überlieferung kaum Hinweise; konkrete Beschreibungen der Personenführung, Kostüme oder Bühnenbilder fehlen fast völlig. Alle Erkenntnisse und Überlegungen hierzu werden jedoch gemeinsam mit den Forschungsergebnissen zur Entstehung, Uraufführung und Überlieferung des edierten Werkes in einem ausführlichen Vorwort zur jeweiligen Edition präsentiert. Unter den Hinweisen zu den Aufführungsbedingungen haben insbesondere die Nachweise zu den Sängern und Sängerinnen der Uraufführung einen hohen Stellenwert, nicht zuletzt, weil sie je nach Gattung spezifische Merkmale der entsprechenden Vokalpartien erklären helfen. Ergänzend zum Kritischen Bericht wird im Vorwort eine knappe Beschreibung der Quellenlage sowie ihrer inhaltlichen Bewertung mit Bezug auf die vorgelegte Edition gegeben. Verweise auf Übernahmen und Entlehnungen innerhalb des Schaffens von Gluck gehören ebenfalls zum Standard. Ist im Rahmen der editorischen Überlegungen die Entscheidung getroffen worden, Varianten, Fassungen oder andere zum Werkkontext gehörende Stücke in einem Notenanhang beizufügen, wird ihre wissenschaftliche Begründung ebenso im Vorwort angeführt.
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III.
Daniela Philippi
Die Wirkung der Gesamtausgabe auf die Rezeption
Die beim Bärenreiter-Verlag erscheinende Gluck-Gesamtausgabe ist gemäß Planungsstand des Jahres 2013 auf 58 Bände konzipiert, hiervon sind 43 Bände publiziert. Die Werke Glucks, die innerhalb dieser Gesamtausgabe in den Abteilungen II, III und IV erschienen sind, lagen bis dahin großenteils noch nicht im Druck vor, d. h., sie waren nur handschriftlich überliefert.53 Daneben bilden die in zeitgenössischen Partiturdrucken überlieferten Werke eine eigene Gruppe. Ihre Herausgabe im Rahmen der Gluck-Gesamtausgabe ist teils die erste quellenkritische Edition, teils eine editorische Revision der schon in den frühen kritischen Ausgaben (s. o.) erfolgten Publikation. Die Gesamtausgabe verbessert also den Zugang zum Gesamtschaffen Glucks grundlegend, indem sie von allen nachweisbaren Kompositionen verlässliche Notentexte publiziert. Zusammen mit den Ergebnissen der Quellenforschung, die in den beigegebenen Kommentaren aufbereitet sind, bietet sie eine Grundlage für Forschung und Lehre und ermöglicht weiterführende Studien. Darüber hinaus stellen die Werkeditionen aber auch für die musikalische Praxis – sei es im Ausbildungsbereich oder für Aufführungen – eine Voraussetzung zur Erweiterung des bislang gepflegten Repertoires dar. Der Bärenreiter-Verlag kann auf Grundlage der vorgelegten Noteneditionen werkgetreue Aufführungsmaterialien herstellen. Wie herausragende Beispiele zeigen, realisiert die Bühnenpraxis im Zuge der zunehmenden Verfügbarkeit der Opern Glucks in steigendem Maße auch solche Werke, die nach zeitgenössischen Aufführungen in Vergessenheit geraten waren. Erinnert sei hier an die Inszenierungen des Ezio (Prag 1750) durch die Oper Frankfurt (2013), Atto d’Orfeo aus Le feste d’Apollo (Parma 1769) durch die Göteborg Opera (2014) sowie auch Semiramide durch das Staatstheater Mainz (2008). Während noch wenige Jahre zuvor vor allem Festivals für Alte Musik Träger solcher Inszenierungen waren, sind Kenntnisstand und Verbreitung der sogenannten Historischen Interpretationspraxis im 21. Jahrhundert so weit angewachsenen, dass auch Werke ohne kontinuierliche Aufführungstradition von größeren wie kleineren Opernhäusern interpretiert und in den Spielplan genommen werden. Mit jedem vorgelegten Band der Gluck-Gesamtausgabe werden neue Erkenntnisse zum überlieferten Schaffen eines bedeutenden und beispielgebenden Komponisten des 18. Jahrhunderts zugänglich gemacht und Wechselwirkungen von gesellschaftlichen und künstlerischen Voraussetzungen aufgezeigt. Die Notentexte selbst gewähren Einblicke in die kompositorischen Mittel und ____________ 53
Ausnahmen hiervon begegnen für Prologo (wie Anm. 8) und Le nozze d’Ercole e d’Ebe (wie Anm. 14).
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die Entwicklungen seines Personal-Stils, der die Besonderheiten verschiedener Operngenres ausgestaltete. Außerdem zeigen die Ergebnisse der Quellenvergleiche unterschiedliche Überlieferungsvarianten eines Werkes auf und vergegenwärtigen so das Verfahren des variablen Umgangs mit Musik, wie er für Bühnengattungen des 18. Jahrhunderts üblich war. Er reicht von exakten Vervielfältigungen über Fassungen mit wenigen Änderungen bis hin zu Bearbeitungen für andere Besetzungen und Aufführungskontexte fern der ursprünglichen Werkzuordnung. Während diese Phänomene zu dem Bereich der zeitgenössischen Musikpflege gehören, ist zudem Glucks eigener Umgang mit seiner Musik von Relevanz. Zwar verwendete er Abschnitte oder ganze Sätze mehrfach,54 doch hatte er nachweislich seit den 1760er Jahren von jedem seiner Werke eine Idealvorstellung, die es musikalisch und darstellerisch zu realisieren galt.55 Die zunehmende Erschließung von historischen Aufführungsgewohnheiten erweitert die Sicht auf theatrale Präsentationen der Opern Glucks einschließlich etwaiger Zusätze, wie etwa das nach dem Ende einer Opernaufführung obligatorisch anschließende Ballett. Solche Erkenntnisse werden in den Vorworten und Kritischen Berichten der Bände, durch Faksimilierung erhaltener Abbildungen und zunehmend auch durch Wiedergabe entsprechender Notentexte im Anhang mitgeteilt. In den Gattungen Opéra-comique und Ballettpantomime werden überdies erweiterte Darstellungsformen genutzt, wie etwa mit einem in den Handlungsverlauf integrierten Abdruck der Vaudevilles (Melodien und Strophentexte)56 und für die Ballettpantomime durch die erstmals synoptisch angelegte Wiedergabe choreographischer Hinweise aus mehreren Quellen innerhalb einer Ballett-Edition in der Ausgabe der Kurz- und damit Originalfassung des Don Juan.57 Die Gluck-Gesamtausgabe zählt zu den ersten nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Editionsreihen und spiegelt in ihren teils beibehaltenen, teils modifizierten Prinzipien wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen des Faches ebenso, wie sie auf neue, durch die Forschung vermittelte Erkenntnisse reagiert. Neben der Modifikation von Darstellungsformen ist es also vor allem der Zuwachs an Erkenntnissen aus der Grundlagenforschung zu Glucks Schaffen, ____________ 54 55
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Vgl. Klaus Hortschansky, Parodie und Entlehnung im Schaffen Christoph Willibald Glucks (= Analecta musicologica, Bd. 13), Köln 1973. Exemplarisch nachvollziehbar ist dieser Sachverhalt anhand von Mitteilungen über die Probenarbeit zur Uraufführung der Alceste 1767 in Wien. Vgl. Gerhard Croll, Vorwort zu Alceste (wie Anm. 40), S. XVIII–XXII. Beginnend mit Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke, Abteilung IV, Bd. 3: Le Diable à quatre, ou La Double Métamorphose, hrsg. von Bruce Alan Brown, Kassel [u. a.] 1992. Vgl. Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke, Abteilung II, Bd. 2: Don Juan (Wien 1761) und Les Ampours d’Alexandre et de Roxane (Wien 1764), hrsg. von Sibylle Dahms und Irene Brandenburg, Kassel [u. a.] 2010.
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der sich in den Editionen und Kommentaren der einzelnen Bände in einer zunehmend detaillierten und ausführlichen Themenbehandlung niederschlägt, und der außerdem zur Erweiterung der ursprünglichen Gesamtplanung in den Abteilungen II und VII geführt hat. Das Hybrid-Konzept des Werk- und Quellenverzeichnisses kombiniert eine erste Publikationsphase in digitaler Form mit einer zweiten als abschließender Printversion. Die sukzessive vorgehende Zusammenstellung der Werkangaben wird als GluckWV-online (www.gluckgesamtausgabe.de/gwv.html) bereits in der Arbeitsphase zugänglich gemacht. Zudem erfolgt eine bedarfsorientierte Anpassung der Software, wobei inhaltlich motivierte Darstellungsmodi entwickelt und erprobt werden. Hieraus resultieren Transformationsmodelle für die Aufbereitung von musikbezogenen Informationen sowie auch für die nutzerorientierte Präsentation, die Interaktionsmöglichkeiten mitberücksichtigen.
Literaturverzeichnis Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke, begründet von Rudolf Gerber, fortgeführt von Gerhard Croll, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, Kassel [u. a.] 1951ff. Bennwitz, Hanspeter, Georg Feder, Ludwig Finscher und Wolfgang Rehm (Hrsg.): Musikalisches Erbe und Gegenwart. Musiker-Gesamtausgaben in der Bundesrepublik Deutschland, Kassel [u. a.] 1975, S. 38–41 und 114f. Berke, Dietrich: „Die Stunde der Gesamtausgabe“ – nachgefragt, in: Musik-Kultur heute: Positionen – Profile – Perspektiven. Bärenreiter-Almanach, Kassel [u. a.] 1998, S. 171–179 Boetticher, Wolfgang: Über Entwicklung und gegenwärtigen Stand der Gluck-Edition, in: Acta musicologica 30 (1958), S. 99–112 Brown, Bruce Alan: Gluck and the French Theatre in Vienna, Oxford 1991 Buschmeier, Gabriele: Musikwissenschaft im Akademienprogramm. Eine Bestandsaufnahme von den Anfängen bis heute, in: Archiv für Musikwissenschaft 69 (2012), Heft 4, S. 304–317 Buschmeier, Gabriele und Thomas Betzwieser: Ein Monument für Gluck – und Berlioz: die Werkausgabe von Fanny Pelletan, in: Von Gluck zu Berlioz – Antikenrezeption und Monumentalität in der französischen Oper, Symposium Nürnberg, 17.–18.7.2010, hrsg. von Thomas Betzwieser (erscheint voraussichtlich 2015) Croll, Gerhard: Gluckforschung und Gluck-Gesamtausgabe, in: Musik und Verlag. Karl Vötterle zum 65. Geburtstag am 12. April 1968, hrsg. von Richard Baum und Wolfgang Rehm, Kassel [u. a.] 1968, S. 193–196 Croll, Gerhard: Die Gluck-Gesamtausgabe 1987, in: Österreichische Musikzeitschrift 42 (1987), S. 516f. Croll, Gerhard: Artikel Gluck, Christoph Willibald, Wilibald; Christoph Willibald Ritter von Gluck, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 7, Stuttgart, Kassel [u. a.] 2002, Sp. 1100–1160 Croll, Gerhard und Renate: Gluck. Sein Leben. Seine Musik, Kassel [u. a.] 2010 Croll, Gerhard und Dieter Haberl: Artikel Gluck, Christoph Willibald, in: Lexikon zur deutschen Musikkultur in Böhmen, Mähren, Sudetenschlesien, hrsg. vom Sudetendeutschen Musikinstitut Regensburg, 2 Bde., München 2000, Bd. 1, Sp. 750–756 (zugleich S. 433–436) Editionsrichtlinien Musik, im Auftrag der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000
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Gottschick, Anna Martina (Redaktion): Bärenreiter-Chronik. Die ersten fünfzig Jahre 1923–1973, Kassel [u. a.] 1973, S. 65f. Hortschansky, Klaus: Parodie und Entlehnung im Schaffen Christoph Willibald Glucks (= Analecta musicologica, Bd. 13), Köln 1973 Hopkinson, Cecil: A Bibliography of the Printed Works of C. W. von Gluck, London 1959, erweiterte Auflage New York 1967 Howard, Patricia: Gluck. An Eighteenth-Century Portrait in Letters and Documents, Oxford 1995. Howard, Patricia: Christoph Willibald Gluck. A Guide to Research, 2. revidierte Auflage, New York 2003 Müller von Asow, Hedwig und Hermann: The Collected Correspondence and Papers of Christoph Willibald Gluck, London 1962 Musikwissenschaftliche Editionen. Publikationsverzeichnis der von der Union betreuten Musikwissenschaftlichen Editionen und Dokumentationen (Stand: 30. September 2011), Koordination und Redaktion: Gabriele Buschmeier, Mainz 2012, S. 25–29 Philippi, Daniela: Christoph Willibald Gluck – Sämtliche Werke. Ein Portrait zum 290. Geburtstag des Komponisten am 2. Juli 2004, in: Die Tonkunst online. Das monatliche Online-Magazin für klassische Musik 2 (2004) (= www.die-tonkunst.de) Wortsmann, Stephan: Die deutsche Gluck-Literatur. (Christoph Willibald Ritter v. Gluck) 1714– 1787, [Leipzig 1914], Neudruck Walluf 1973 Wotquenne, Alfred: Catalogue thématique des œuvres de Chr. W. v. Gluck, Leipzig 1904, Nachdruck Hildesheim, Wiesbaden 1967
Wolfram Enßlin
Editionen der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs
Die Geschichte der Editionen der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs ergibt ein sehr heterogenes, vielschichtiges, mitunter unübersichtliches Bild.1 Große Teile von Bachs musikalischem Œuvre, insbesondere seine Klaviermusik, waren bereits zu Lebzeiten im Druck erschienen, teilweise in mehreren unterschiedlichen Ausgaben. Es verstrichen jedoch noch mehr als 200 Jahre, bis eine bereits mehrfach geplante Gesamtausgabe seiner Werke realisiert werden konnte, in der noch eine beachtliche Anzahl von Kompositionen erstveröffentlicht werden. Als einer der letzten „großen“, epochemachenden Komponisten wurde C. P. E. Bach mit einer Gesamtausgabe bedacht, die 2000 begonnen wurde und von der in der Zeit von 2005 bis 2013 die Hälfte der ca. 112 Bände erschienen ist. In der folgenden Abhandlung wird im ersten Kapitel ein Überblick über Bachs zu Lebzeiten erschienene Werke gegeben, der Frage nach autorisierten und nicht autorisierten Ausgaben nachgegangen, die Beziehung zu seinen Verlegern beleuchtet sowie seine Tätigkeit als Verleger eigener Werke beschrieben. Im zweiten Kapitel wird zum einen der steinige Weg hin zu einer C. P. E. Bach-Gesamtausgabe nachgezeichnet, zum anderen werden die Herausforderungen aufgezeigt, die an die aktuelle Gesamtausgabe gestellt werden, vor allem hinsichtlich eines speziellen Werkbegriffs. Im dritten Kapitel schließlich werden anhand eines konkreten Beispiels unterschiedliche Editionsprinzipien verschiedener Ausgaben verdeutlicht.
I.
Editionen zu Lebzeiten Bachs
C. P. E. Bach hat im Laufe seines Lebens nur zwei Anstellungen gehabt. Dreißig Jahre, von 1738–1768, diente er als Cembalist am preußischen Hofe.2 Ein ____________ 1 2
Siehe diesbezüglich den kursorischen Überblick in Eugene Helm, The Editorial Transmission of C. P. E. Bach’s Music, in: Early Music 17 (1989), S. 32–41. 1738 wurde er als Cembalist in die Kapelle des Kronprinzen Friedrich berufen. 1741 erfolgte die Festanstellung als Kammercembalist König Friedrichs II. von Preußen.
Editionen der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs
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Jahr nach dem Tod seines Patenonkels Georg Philipp Telemann trat er 1768 dessen Nachfolge als städtischer Musikdirektor der fünf Hamburger Hauptkirchen und Kantor des Johanneums an. Diese Position hatte er bis zu seinem Tod 1788 inne. Obgleich er somit 20 Jahre eine der wichtigsten kirchenmusikalischen Stellen im deutschsprachigen Raum besetzte, galt er Zeit seines Lebens europaweit vor allen Dingen als eine der Koryphäen des Klaviers.3 Dies bezog sich nicht nur auf seine Kompositionen bzw. musikpraktische Ausübung als Cembalist,4 sondern auch aufgrund seiner in zwei Teilen publizierten epochemachenden Schrift Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen5 auf die Musiktheorie. Die Verbreitung dieses Œuvres über seine Wirkungsstätten hinaus und damit auch seines Ruhms war vor allem dabei der Tatsache geschuldet, dass Bach selbst große Teile seiner Klavierkompositionen zum Druck brachte. – Symptomatisch ist, dass er mit dem Menuett C-Dur Wq 111, dessen Kupferstich er höchstpersönlich besorgte, bereits eine seiner frühesten Kompositionen 1731 drucken ließ.6 – Die Drucke wiederum dienten als Vorlage zahlreicher Abschriften, weshalb allein die Quantität an überlieferten Quellen bei zahlreichen Werken sehr hoch ist. Doch erst zu Beginn der 1740er Jahre setzte die eigentliche Geschichte der Ausgaben Bach’scher Werke ein. Neben Klavierwerken wurden lange Zeit vornehmlich nur Lieder publiziert. Die ersten beiden Editionen – das Schäferlied Eilt, ihr Schäfer, aus den Gründen Wq 199.2, Bachs früheste bekannte Liedkomposition, in einer von Johann Friedrich Gräfe 1741 herausgegebenen Odensammlung7 sowie die sechs preußischen Sonaten Wq 488 – stehen stellvertretend für zwei Publikationsformen, die für Bach üblich waren: Einerseits ____________ 3 4
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Klavier wird hier als Synonym für das pedallose Tasteninstrument wie das Cembalo, das Clavichord oder das Hammerklavier verwendet. Sein Wirken als Cembalist beschränkte sich in seiner Berliner Zeit weitgehend auf die Begleitung im Rahmen der königlichen Abendmusiken. In Hamburg trat er dann verstärkt als Solist in öffentlichen Konzerten auf. 1753 und 1762 im Verlage des Autors in Berlin erschienen. Eintrag im Verzeichnis des musikalischen Nachlasses des verstorbenen Capellmeisters Carl Philipp Emanuel Bach, Hamburg 1790 (= NV 1790), Nachdruck hrsg. von Rachel Wade unter dem Titel Catalogue of Carl Philipp Emanuel Bach’s Estate, New York [u. a.] 1981, S. 53: „1 Menuett mit überschlagenden Händen, L[eipzig]. 1731 verfertigt und vom Verfasser selbst in Kupfer radirt.“ Sammlung | verschiedener und auserlesener | ODEN | zu welchen | von den berühmtesten Meistern in der Musik | eigene Melodeyen | verfertiget worden | besorgt und herausgegeben | von | einem Liebhaber der Musik und Poesie [Johann Friedrich Gräfe] | [Stich] | III Theil | Halle 1741; darin als „Die 33. Ode.“, S. 33. Den Namen des Autors von Bachs Schäferlied teilte Gräfe erst im IV. Teil mit. Sei Sonate | per Cembalo | che all’Augusta Maestà | di | FEDERICO II. | Rè di Prussia | D. D. D. | l’Autore | Carlo Filippo Emanuele Bach | Musico di Camera di S: M. | Alle spese di Balth: Schmid | in Norimberga [1742].
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erschienen seine Werke in Sammelpublikationen mit Werken verschiedener Komponisten und einem fremden Herausgeber,9 andererseits als eigens in Auftrag gegebener Druck mit Bach als verantwortlichem Herausgeber bzw. Editor. Beide Arten weisen noch zwei Varianten auf. Bei den Sammelpublikationen fremder Herausgeber stellt sich zudem die Frage, inwieweit Bach in die Publikation eingewilligt hat oder ob diese ohne sein Wissen geschah. Bei den von ihm selbst betreuten Publikationen trat er zunehmend auch als Verleger auf und übernahm damit auch den Vertrieb und die ökonomische Verantwortung. So lässt sich eine Klassifikation der Editionen Bach’scher Werke zu seinen Lebzeiten in vier Stufen formulieren, die einhergeht mit Bachs zunehmender Einflussnahme und Verantwortung für die Edition: 1a. Publikation ohne Bachs Einwilligung 1b. Publikation mit Bachs Einwilligung 2a. Eigenpublikation durch einen fremden Verleger 2b. Eigenpublikation im Verlage des Autors Während die jeweilige Zuordnung der Eigenpublikationen zu 2a bzw. 2b unstrittig ist, konnte bislang nicht zweifelsfrei geklärt werden, welche Publikationen zur Rubrik 1a und welche zu 1b gehören. Rachel W. Wade vertrat die These, dass die in Bachs Autobiographie10 genannten Ausgaben, die keine eigenständige Nummer haben, sondern nur in Absatzform bzw. als Zusatz erwähnt werden, von Bach nicht autorisiert worden seien.11 Der Auflistung hatte Bach die Erläuterung vorangestellt: „Mit meinem Wissen und Willen sind folgende Arbeiten von mir im Druck erschienen“.12 An zwei Stellen unterbrach Bach die Durchnummerierung13 und begann die Einschübe mit Worten wie „Ich muß bey dieser Gelegenheit, da ich alles von mir gedruckte anführen soll, erwähnen […]“,14 dann folgten weitere Drucke unnummeriert. Diese einleiten____________ 9 10
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Mit dem Musikalischen Vielerley (Hamburg 1770) trat Bach überdies selbst als Herausgeber fremder Werke in Erscheinung. In Carl Burney’s der Musik Doctors Tagebuch seiner Musikalischen Reisen, Dritter Band. Durch Böhmen, Sachsen, Brandenburg, Hamburg und Holland. Aus dem Englischen übersetzt, Hamburg 1773, Nachdruck hrsg. von Richard Schaal, Kassel [u. a.] 1959, S. 198–209. Rachel W. Wade, Autorisierte und nicht autorisierte Ausgaben der Musik von C. P. E. Bach, in: Carl Philipp Emanuel Bach. Musik für Europa. Bericht über das Internationale Symposium vom 8. März bis 12. März 1994 im Rahmen der 29. Frankfurter Festtage der Musik an der Konzerthalle „Carl Philipp Emanuel Bach“ in Frankfurt (Oder), hrsg. von Hans-Günter Ottenberg, Frankfurt (Oder) 1998 (= Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Konzepte, Sonderband 2), S. 291–305, hier S. 293. Burney, Tagebuch, Bd. 3 (wie Anm. 10), S. 203. Einmal betrifft es die Sammelpublikationen von Liedern, das andere Mal mit Ausnahme der Münter-Lieder diejenige von Klavierstücken. Burney, Tagebuch, Bd. 3 (wie Anm. 10), S. 206.
Editionen der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs
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den Sätze wären laut Wade „nicht nötig gewesen, wenn diese Ausgaben ebenso wie diejenigen, die mit eingeklammerten Ziffern beginnen, autorisiert worden wären.“15 Das mögliche Gegenargument, dass Bach diese Einschübe verwendete, um Sammelpublikationen mit Werken verschiedener Komponisten anzugeben, entkräftet sie dadurch, dass mit Haffners Œuvres melées (Nr. 8) oder Breitkopfs Raccolta (Nr. 9) – ebenso wie zudem mit Marpurgs Fugensammlung (Nr. 10) – durchaus Sammelpublikationen in der Hauptliste enthalten sind.16 Endgültig entkräften lässt sich Wades These nicht. Jedoch gilt Folgendes zu bedenken: Beide Einschübe sind nicht als gleichgewichtig zu bewerten. Im einen Fall handelt es sich um einen Zusatz, der sich direkt auf die unmittelbar zuvor erwähnte Publikation bezieht: (18) 1761, gab Wever in Berlin eine Odensammlung von mir im Drucke heraus. Bey Gelegenheit der Oden muß ich anmerken, daß schon vorher in der gräfischen,17 krausischen,18 langischen19 und breitkopfischen20 Odensammlung, von mir dergleichen anzutreffen sind.21
Die laut Titelblatt der Originalausgabe 176222 bei Arnold Wever in Berlin erschienene und bei Breitkopf in Leipzig gedruckte Odensammlung Wq 199 enthält, neben fünf Erstveröffentlichungen, 15 Lieder, die bereits zuvor in anderen Sammlungen durch Gräfe, Krause etc. herausgegeben worden sind. Gegenüber den Erstdrucken weisen sie einige geringfügige Änderungen auf. Die Wever’sche Ausgabe ist im Gegensatz zu den Erstdrucken durch die Her____________ 15 16 17
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Wade, Autorisierte und nicht autorisierte Ausgaben (wie Anm. 11), S. 293. Ebd., S. 294. Sammlung | verschiedener und auserlesener | ODEN | zu welchen | von den berühmtesten Meistern in der Musik | eigene Melodeyen | verfertiget worden | besorgt und herausgegeben | von | einem Liebhaber der Musik und Poesie [d. i. Johann Friedrich Gräfe] | [Stich] | IV Theil | Halle 1743: Wq 199.10, 12. ODEN | mit | Melodien. | [Stich] | Erster Theil. | Berlin, | gedruckt und verlegt bey Friedrich Wilhelm Birnstiel, privil. Buchdr.: Wq 199.4, 5, 11 – ODEN | mit | Melodien. | [Stich] | Zweyter Theil. | gedruckt und verlegt bey Friedrich Wilhelm Birnstiel, privil. Buchdr., hrsg. von C. W. Ramler und C. G. Krause: Wq 199.1, 7 Neue | Lieder | zum Singen | beym | Clavier, | von | Friedrich Wilhelm Marpurg. | BERLIN, | verlegts Gottlieb August Lange. 1756: Wq 199.6. Berlinische | Oden und Lieder. | [Vignette] | Leipzig, | Druckts und verlegts Johann Gottlob Immanuel Breitkopf. | 1756: Wq 199.3, 9, 13 – Berlinische | Oden und Lieder. | Zweyter Theil. | [Vignette] | Leipzig, | Druckts und verlegts Johann Gottlob Immanuel Breitkopf. | 1759: Wq 199.8, 15. Hinzu kommt noch das Lied Wq 199.14, das zuvor in Historisch=Kritische | Beyträge | zur | Aufnahme der Musik | von | Friedrich Wilhelm Marpurg. | I. Bach. | Erstes Stück. | [Vignette] | Berlin, | in Verlag Joh. Jacob Schützens sel. Wittwe. | 1754 erschienen ist. Die Jahreszahl 1761 dürfte hier wohl eher die Fertigstellung der Sammlung zum Ausdruck bringen.
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ausgeberschaft Bachs autorisiert. Sie ersetzt diese zuvor verstreut publizierten Erstdrucke. Im anderen Fall handelt es sich um einen eigenständigen Abschnitt, der zu Beginn auf Zitate Bach’scher Kompositionen in theoretischen Schriften Marpurgs rekurriert, die von Marpurg nicht als solche gekennzeichnet sind. Erst im Anschluss erwähnt Bach zahlreiche Sammelpublikationen wie das Musikalische Allerley bzw. Mancherley, Birnstiels Nebenstunden etc., die allesamt andernorts bis 1773 von Bach nicht publizierte Klavierwerke und Lieder enthalten. Ob nun alle dort erschienenen Werke ohne Wissen und Willen Bachs publiziert wurden, erscheint zumindest fragwürdig, da kaum glaubhaft ist, dass Bach in dieser Größenordnung leichtfertig ungedruckte Kompositionen aus der Hand gegeben haben soll. In jedem Fall greift die Definition der autorisierten Ausgaben, wie sie Wade verwendet, zu kurz und muss deshalb präzisiert werden: Als autorisierte Ausgaben sollten nur diejenigen bezeichnet werden, deren Drucklegung von Bach überprüft worden ist. Ansonsten sollte man von Ausgaben sprechen, in deren Drucklegung Bach eingewilligt hat. Deren Quellenwert für heutige Editionen ist in jedem Fall niedriger einzustufen als die von ihm autorisierten Ausgaben. Mag die Fülle der Verlage, in denen zu Lebzeiten Erstdrucke von Bachs Werken veröffentlicht wurden, auf den ersten Blick sehr groß erscheinen – gerade angesichts der großen Zahl von Sammelpublikationen –, so reduziert sich deren Anzahl sehr schnell, wenn man sich auf diejenigen beschränkt, bei denen der Komponist selbst als Herausgeber gewirkt hat. In den frühen Berliner Jahren konzentrierte sich Bach vor allem auf die Nürnberger Verleger Balthasar Schmid (nach dessen Tod auf dessen Witwe) sowie Johann Ulrich Haffner.23 Die Kontakte zu Schmid dürften über Johann Sebastian Bach zustande gekommen sein, der seine im Eigenverlag erschienene Clavierübung Dritter Teil 1739 bei Schmid hatte drucken lassen. Mit dem Originaldruck von Gellerts geistlichen Oden und Liedern mit Melodien Wq 194, Anfang 1758 erschienen, wurde Georg Ludewig Winter in Berlin bis zu dessen Tod 1772 zu Bachs Hauptverleger.24 Im Zusammenhang mit der Drucklegung der sechs Cembalokonzerte Wq 43 intensivierten sich die bereits bestehenden Kontakte zwischen Bach und dem Leipziger Verleger Johann Gottlob Immanuel Breitkopf, der ihm nach Winters Tod im Frühjahr ____________ 23
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Siehe dazu Lothar Hoffmann-Erbrecht, Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bachs Nürnberger Verleger, in: Die Nürnberger Musikverleger und die Familie Bach. Materialien zu einer Ausstellung des 48. Bach-Fests der Neuen Bach-Gesellschaft, hrsg. von Willi Wörthmüller, Nürnberg 1973, S. 5–10. Längere Zeit wohnte Bach in Winters Haus.
Editionen der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs
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1772 bei den Streitigkeiten mit Winters Witwe um die Herausgabe dieser Konzerte vermittelnd zur Seite gestanden hat. Bach schien schon längere Zeit eine engere Geschäftsbeziehung zu Breitkopf intendiert zu haben, die jedoch von Winter verhindert worden sein muss.25 Breitkopf sollte bis zu Bachs Tod dessen wichtigster Verleger bzw. Drucker werden. Bach war schon früh von Breitkopfs Erfindung des Notensatzes mit beweglichen Lettern sehr angetan. Zahlreiche seiner Kompositionen in Sammelpublikationen waren bereits vor 1772 in Breitkopfs Druckerei gesetzt worden. Die erhaltenen Geschäftsbriefe Bachs an Breitkopf26 – die Gegenbriefe existieren nicht mehr, da Bach nahezu seine komplette Korrespondenz vernichtet hat – bezeugen ein sehr gutes, loyales, vertrauensvolles, mitunter freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden.27 Sie beleuchten zudem detailliert das häufig gewählte Geschäftsmodell des Bach’schen Selbstverlags. Hier handelte es sich um ein auf Pränumeration aufgebautes Unternehmen, mit Breitkopf als verantwortlichem Drucker und einem Netzwerk an „Kollekteuren“ als wichtigster Verbreitungsinstanz.28 Frucht dieses Unternehmens waren in der Zeit von 1774 bis 1787 zwölf Editionen Bach’scher Werke.29 Die Motivation Bachs, sich auf ein solches Unternehmen einzulassen, war laut Hans-Günter Ottenberg folgende: ____________ 25
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So schrieb Bach am 5. April 1773 an Breitkopf: „Ich muß Ihnen offenherzig sagen daß von langen Jahren her mein Hauptaugenmerk auf Sie gerichtet war. Sie waren von Jeher mein Mann. Allein unser guter Gevatter Winter hat alles immer hintertrieben. Wir hätten ein Haufen zusammen machen können. Beyde hätten wir keinen Schaden gelitten. Ich wäre weiter gekommen, als mit unserem langsamen verstorbenen Freund.“ Zitiert nach Carl Philipp Emanuel Bach. Briefe und Dokumente. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Ernst Suchalla, 2 Bde., Göttingen 1994, Dok. 129, S. 298. Publiziert in Briefe von Carl Philipp Emanuel Bach an Johann Gottlob Immanuel Breitkopf und Johann Nikolaus Forkel, hrsg. von Ernst Suchalla, Tutzing 1985, sowie in Briefe und Dokumente (wie Anm. 25). Über Breitkopf ließ Bach seiner Schwester Elisabeth Juliane Friederica Altnickol regelmäßig Geldbeträge zukommen. Bachs jüngstes Kind, der Maler Johann Sebastian Bach der Jüngere, wohnte während seines Leipziger Studiums im Hause Breitkopf. Der erste erhaltene Brief Bachs an Breitkopf datiert vom 6. November 1765. Siehe dazu im Übrigen Hermann von Hase, Carl Philipp Emanuel Bach und Joh. Gottl. Im. Breitkopf, in: Bach-Jahrbuch 8 (1911), S. 86– 104. Dies betraf in erster Linie erstmalig publizierte Kompositionen. Hinzu kamen aber auch Wiederabdrucke wie beispielsweise die fünfte Auflage von Gellerts Oden 1784, für die Breitkopf als Verleger wirkte. Siehe Anhang 1; zu Bach als Verleger eigener Werke vgl. detailliert vor allem Stephen L. Clark, C. P. E. Bach as a Publisher of his Own Works, in: Carl Philipp Emanuel Bach. Musik für Europa (wie Anm. 11), S. 199–211; Hans-Günter Ottenberg, Die Klaviersonaten Wq 55 im Verlage des Autors. Zur Praxis des Selbstverlags bei Carl Philipp Emanuel Bach, in: Carl Philipp Emanuel Bach. Beiträge zu Leben und Werk, hrsg. von Heinrich Poos, Mainz [u. a.] 1993, S. 21–39; Peggy Daub, The Publication Process and Audience for C. P. E. Bach’s Sonaten für Kenner und Liebhaber, in: J. S. Bach, the Breitkopfs and Eighteenth-Century Music Trade (= Bach Perspectives 2 [1996]), S. 65–83.
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Die Praxis des Selbstverlages ermöglichte ihm eine unmittelbare Kontrolle der Verteilung seiner Druckerzeugnisse auf dem musikalischen Markt. Dadurch erhielt Bach wiederum genaueren Aufschluß über solche Faktoren wie Bedarf und Nachfrage, denn schon in der Subskriptionsbereitschaft des Publikums vermochte er zu einem Gutteil das tatsächliche Interesse an seiner Musik zu erkennen.30
Im Subskriptionsaufruf zu seinen Israeliten in der Wüste Wq 238 am 14. September 1774 in der Staats- und gelehrte[n] Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten (der Aufruf datiert vom 12. September 1774)31 erfahren wir, dass sich Bach explizit auf das 1773 von Klopstock für die Ausgabe der Deutschen Gelehrten-Republik gewählte Subskriptionsmodell berief.32 Diese Publikationen im Selbstverlag verlangten von Bach eine enorme organisatorische Leistung. Viele Fragen mussten zudem im Vorfeld jeder Ausgabe neu geklärt werden. Vor allem mußte er sich Gedanken über die Absatzchancen seiner Kompositionen machen, also die ungefähre Zahl der Käufer schätzen. Solche Kalkulationen waren unerläßlich für die Festlegung der Auflagenhöhe. Bach mußte sich im klaren sein über die inhaltliche Anlage und Gestaltung, über den voraussichtlichen Bogenumfang, über die Papiermenge und -qualität, über das Format und den Preis, wobei letzterer gleich mehrfach differenziert wurde: Pränumerationspreis, Kaufsumme für Exemplare im Freiverkauf sowie besondere Preisregelungen. Wichtig war auch die Überlegung, wieviel Exemplare im Klavier- [Sopran-] und wieviel im Violinschlüssel gedruckt werden sollten.33
Mit Ausnahme des Oratoriums Die Israeliten in der Wüste und der Klaviertrios Wq 91 enthalten alle diese Ausgaben ein ausführliches Pränumerantenverzeichnis mit namentlicher Angabe der Subskribenten und der Zahl der abgenommenen Exemplare. Die Spanne reichte von 156 Subskribenten bei „Kenner und Liebhaber III“ sowie 255 abgenommenen Exemplaren bei Klopstocks Morgengesang bis zu 362 Subskribenten und 596 abgenommenen Exemplaren bei den Klaviertrios Wq 90. Entschied sich Bach bei den „Cramer-Psalmen“ sowie den Instrumentalmusikausgaben für eine Auflagenhöhe von 1.050 Stück, so ____________ 30 31
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Ottenberg, Die Klaviersonaten Wq 55 (wie Anm. 29), S. 21. Bachs Subskriptionsaufruf findet sich abgedruckt in Barbara Wiermann, Carl Philipp Emanuel Bach: Dokumente zu Leben und Wirken aus der zeitgenössischen Hamburgischen Presse (1767–1790) (= Leipziger Beiträge zur Bachforschung, Bd. 4), Hildesheim [u. a.] 2000, Dokument II/42, S. 200. „Sämmtliche Herren Correspondenten bey des Herrn Klopstocks Deutscher GelehrtenRepublik, von denen ich mir dieselbe Gütigkeit aus Liebe zur Tonkunst erbitte und verspreche, werden von jetzt an, bis zum 10ten Januar 1775, nach des Herrn Klopstocks Plan und Zureden, Subscription annehmen. Alles, was Herr Klopstock diesen Herren geleistet hat, erfülle ich auch, und hoffe dasselbe auch von ihnen.“ Ebd. Ottenberg, Die Klaviersonaten Wq 55 (wie Anm. 29), S. 23.
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291
beschränkte er sich bei den orchesterbesetzten Vokalwerken auf 555 (Doppelchöriges Heilig Wq 217), 554 (Morgengesang Wq 239) sowie 350 Exemplare (Israeliten Wq 238).34 Auch wenn Bach kurz vor seinem Tod Breitkopf 3.038 Restexemplare aller sechs Ausgaben seiner Sammlungen für Kenner und Liebhaber (bei einer ursprünglichen Gesamtauflage von 6.300 Exemplaren) zu einem Preis von 500 Reichstalern anbot,35 dürfte sich, obgleich der Absatz der Ausgaben im Laufe der Zeit abnahm, im Ganzen gesehen Bachs unternehmerisches Risiko finanziell ausgezahlt haben.36
II.
Wege zur Gesamtausgabe
Es war ein langer und mühsamer Weg, bis um die Jahrtausendwende eine C. P. E. Bach-Gesamtausgabe in einem gesicherten finanziellen und organisatorischen Rahmen installiert werden konnte. Ernst Fritz Schmid war es, der 1930 den Plan einer Gesamtausgabe37 an die Verlage Breitkopf & Härtel und Bärenreiter (Karl Vötterle) herantrug, die beide diesem Projekt positiv gegenüberstanden und Pläne zur wirtschaftlichen Durchführung erstellten. Persönlichkeiten wie Heinrich Schenker, Anthony van Hoboken (Photogrammarchiv Wien) und Robert Haas (Musiksammlung Österreichische Nationalbibliothek) waren in diese Editions-Pläne miteinbezogen. Angedacht war, dass das von van Hoboken ins Leben gerufene und privat von ihm finanzierte Photogrammarchiv als Institution für die Herausgabe der Werke verantwortlich sein sollte, eventuell unter wissenschaftlicher Leitung von Robert Haas und mit Ernst Fritz Schmid als maßgeblichem Editor. Das Photogrammarchiv, und damit van Hoboken persönlich, sollte die Hauptlast bei der Finanzierung der Gesamtausgabe tragen. Die Pläne scheiterten, als van Hoboken das finanzielle Risiko in dem vom Bärenreiter-Verlag vorgelegten Vertragsentwurf, vor allem durch die Bindung an das Projekt auf 20 Jahre, zu ____________ 34 35 36
37
Siehe Übersicht Clark, C. P. E. Bach as Publisher (wie Anm. 29), S. 200f. Briefe und Dokumente (wie Anm. 25), Dok. 592 (Brief vom 3. Mai 1788), S. 1264. Suchalla hat den Reinertrag für die verkauften Exemplare dieser sechs Sammlungen hochgerechnet und kommt auf einen Betrag von ca. 3.357 Reichstalern und 8 Groschen, was 10.072 Mark entspricht und fast sieben Jahresgehältern aus seiner späteren Berliner Zeit gleichkommt; vgl. ebd., S. 1265ff. – Im Fall seines von ihm selbst hochgeschätzten Oratoriums Auferstehung und Himmelfahrt Jesu Wq 240 war Bach letztendlich das finanzielle Risiko des Selbstverlags zu hoch, weshalb er 1785 Breitkopf anbot, ihm die Partitur abzutreten und sie allein zu verlegen (Brief vom 30. November 1785 an Breitkopf; vgl. ebd., Dok. 524, S. 1124). Breitkopf ging auf dieses Angebot ein und brachte die Partitur 1787 heraus. Eine genaue Darstellung und Rekonstruktion der schließlich gescheiterten Pläne einer C. P. E. Bach-Gesamtausgabe ist einer eigenständigen Abhandlung durch den Verfasser dieser Zeilen vorbehalten. Die Informationen stützen sich auf einen jetzt im Bach-Archiv befindlichen Briefwechsel der erwähnten Personen.
292
Wolfram Enßlin
hoch erschien. Unklar bleibt, weshalb die für van Hoboken günstigere Kalkulation durch Breitkopf & Härtel keine weitere Berücksichtigung fand. Der Plan einer Bach-Gesamtausgabe wurde somit 1930 ein erstes Mal ad acta gelegt. Von Karl Vötterle wurde er während des Zweiten Weltkrieges im Februar 1943 wieder aufgegriffen. Zwischenzeitlich muss Ernst Fritz Schmid gemeinsam mit Robert Haas für den Musikwissenschaftlichen Verlag (zuerst Wien, dann Leipzig) einen Plan für eine Ausgabe erarbeitet haben. Ohne eigentlichen Vertrag hatte Schmid einen ersten Band bei diesem Verlag abgeliefert; die fertigen Stichplatten ruhten aber seither in der Druckerei Brandstetter/Leipzig. Ohne nähere Einzelheiten zu diesem Ausgabenprojekt des Musikwissenschaftlichen Verlags zu kennen, muss auch dieser Versuch als gescheitert angesehen werden. Die Pläne Vötterles mit Haas gerieten ins Stocken, als das Staatliche Institut für Musikforschung (SIM) mit einbezogen werden musste. 1942 war in der von diesem Institut herausgegebenen Reihe Das Erbe deutscher Musik ein Band mit Bachs vier Orchestersinfonien Wq 183 erschienen.38 Da Vötterle vertraglich verpflichtet war, die Publikationspläne des Staatlichen Institutes nicht zu gefährden, lief diese Publikation seinem Plan einer Gesamtausgabe zuwider. Da auch noch die Herausgabe der Kammermusikwerke angedacht war, gab das Institut zuerst einmal nur die Klavier- und Vokalwerke frei. Doch zeigte sich das SIM schließlich kompromissbereit. Es schien alles darauf hinauszulaufen, dass die Gesamtausgabe in Zusammenarbeit mit dem SIM publiziert werden sollte, mit Robert Haas als Herausgeber. Die Rolle von Schmid stand dabei noch nicht fest. Denn gegen seine Mitarbeit bestanden erhebliche Bedenken von Seiten des SIM, da ihm aufgrund von Differenzen mit der staatlichen Seite einst die Lehrbefugnis entzogen worden war und er nicht Mitglied der Reichsmusikkammer war. Die Kriegswirren 1944/1945, das Ende des Zweiten Weltkriegs mit all seinen Folgen dürften dazu geführt haben, dass der Gesamtausgabenplan ein weiteres Mal scheiterte. Doch auch im Erbe deutscher Musik kam kein weiterer Band mit Bach’schen Kompositionen heraus. Es dauerte bis Ende der 1980er Jahre, bis sich neue Pläne einer C. P. E. Bach-Gesamtausgabe39 konkretisierten, nun im englischsprachigen Raum. ____________ 38
39
Carl Philipp Emanuel Bach, Vier Orchestersinfonien mit zwölf obligaten Stimmen dem Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen gewidmet, hrsg. von Rudolf Steglich, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1942 (= Das Erbe deutscher Musik, 1. Reihe [Reichsdenkmale], Bd. 18, 2. Band der Abteilung Orchestermusik). An dieser Stelle unberücksichtigt bleibt die von Darrel Berg betreute sechsbändige, bei Garland erschienene Faksimile-Ausgabe Carl Philipp Emanuel Bach, The Collected Works for Solo Keyboard, New York, London 1985.
Editionen der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs
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Zwischen 1989 und 1995 erschienen vier Bände40 der Carl Philipp Emanuel Bach Edition / Ausgabe, mit Rachel W. Wade als Editionsleiterin und Eugene Helm als Herausgeber.41 Die Konzeption sah zehn besetzungsbezogene Rubriken vor: I II III IV V VI VII VIII IX X
Solo Keyboard Musik Concertos and Sonatinas Chamber Music with a Leading Keyboard Part Solo Sonatas for Wind or String Instruments Trio Sonatas Other Chamber Music Symphonies Works for Solo Voice(s) Major Choral Works Choral Works for Special Occasions
Vermutlich aus finanziellen und organisatorischen Gründen geriet die Ausgabe schnell ins Stocken und kam schließlich nicht über die allerersten Anfänge hinaus. Zwischenzeitlich hatte sich jedoch eine neue Ausgabe konstitutiert, die nun endlich finanziell auf sichere Füße gestellt werden konnte.42 Hieß sie zu Beginn Carl Philipp Emanuel Bach: The Collected Works, so wurde der Titel noch vor Erscheinen des ersten Bandes in The Complete Works geändert.43 Träger dieser Ausgabe – im Folgenden abgekürzt als CPEB:CW – ist das Packard Humanities Institute mit Sitz in Los Altos (Kalifornien). Die Editionsleitung mit Paul Corneilson als „Managing Editor“ befindet sich in Cambridge (Massachusetts). Sie arbeitet eng mit dem Bach-Archiv Leipzig, der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (Projekt Bach-Repertorium) sowie der Harvard University zusammen. Als „General Editors“ wirken Darrell Berg (verantwortlich für Klaviermusik), Peter Wollny (Kammer- und Orchestermusik) und Ulrich Leisinger (Vokalmusik). Die Ausgabe gliedert sich in acht Reihen: ____________ 40
41
42 43
Bd. I/24: Sonaten für Tasteninstrument H 176–178, 189, 192, 211–213, hrsg. von Claudia Widgery, Oxford 1989; Bd. II/15: Konzerte für Tasteninstrument H 448 und 454, hrsg. von Elias N. Kulukundis und Paul G. Wiley II, Oxford 1989; Bd. II/23: Sonatinas H 451 u. H 452, hrsg. von Paul G. Wiley II und Claudia Widgery, Oxford 1992; Bd. I/18: Sonaten für Tasteninstrument H 40, 43, 46–49, 51, hrsg. von David Schulenberg, Oxford 1995. 1989 hatte Eugene Helm den Thematic Catalogue of the Works of Carl Philipp Emanuel Bach, New Haven und London, herausgebracht und damit für die Ausgabe eine gegenüber dem Wotquenne-Verzeichnis aktualisierte Werkübersicht geschaffen. Die Planungen reiften in den Jahren 1998/1999. 2000 nahm die Ausgabe ihre Arbeit auf. Siehe dazu auch Paul Corneilson, The C. P. E. Bach Edition and the Future of Scholarly Editions, in: Music Reference Services Quarterly 8 (2001), S. 27–37.
294 I II III IV V VI VII VIII
Wolfram Enßlin Keyboard Music Chamber Music Orchestral Music Oratorios and Passions Choral Music Songs and Vocal Chamber Music Theoretical Works Supplement
Nach dem Stand April 2013 umfasst der Plan der Gesamtausgabe 112 Bände, von denen seit 2005 die Hälfte erschienen ist.44 Nahezu paritätisch sind die Bände auf Instrumental- und Vokalmusik verteilt. Hinzu kommen eine kommentierte Ausgabe des Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, Faksimile-Ausgaben der wichtigsten überlieferten Textbücher, ein Band mit der Rekonstruktion der bedeutenden Bach’schen Porträtsammlung sowie Quellen- und Schreiberkataloge. Die Quellenlage für eine Gesamtausgabe hatte sich 1999 mit dem Wiederauffinden der musikalischen Bibliothek der Sing-Akademie zu Berlin in Kiew durch ein von Christoph Wolff geleitetes Forscherteam von der Harvard University und die Rückführung nach Berlin 2001 fundamental verbessert. Wesentliche Bach’sche Quellen kamen somit wieder zum Vorschein. Gerade der Bereich von Bachs Hamburger Vokalmusik war damit zwar nicht komplett, so doch weitgehend verfügbar und rekonstruierbar.45 Erst nach diesem ungeheuren Quellenzuwachs konnten sich die Herausgeber ein zuverlässiges Bild von Bachs Werkbestand machen. Es stellte sie aber auch vor neue grundlegende Herausforderungen. Denn es ergab sich die Notwendigkeit zu definieren, welche Vokalkompositionen in CPEB:CW Eingang finden sollten.46 Dieses Problem hängt mit dem Bach’schen Werkbegriff und Werkverständnis zusammen.47 Bach unterschied klar zwischen Werken für Hamburg und solchen, die er für eine Rezeption über Hamburg hinaus, vor allem für die Nachwelt gedacht hatte und die er auch zum Teil drucken ließ.48 Diese Werke enthalten ____________ 44 45
46 47
48
Das ambitionierte Ziel, bis zum Jubiläumsjahr 2014 die Ausgabe abgeschlossen zu haben, wurde zwar nicht erreicht. Ein Ende ca. 2020 erscheint jedoch realistisch. Über deren Bestand von Werken der gesamten Bach-Familie siehe Wolfram Enßlin, Die BachQuellen der Sing-Akademie zu Berlin, Bd. 1: Katalog, Bd. 2: Historischer Überblick, Abbildungen, Register (= Leipziger Beiträge zur Bach-Forschung, Bd. 8.1 und 8.2), Hildesheim [u. a.] 2006. Es ist ein Problem, das hauptsächlich Bachs Hamburger Vokalmusik betrifft. Siehe dazu Wolfram Enßlin, Der Werkbegriff bei Carl Philipp Emanuel Bach und die Konsequenzen bei der Erstellung seines Vokalwerkverzeichnisses, in: Denkströme 5 (2010), S. 103– 118. Dazu gehören beispielsweise die Oratorien Israeliten in der Wüste, die Passions-Cantate und Auferstehung und Himmelfahrt Jesu.
Editionen der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs
295
ausschließlich eigene Musik. Ein instruktives Beispiel hierfür ist die dem Doppelchörigen Heilig Wq 217 vorangestellte Ariette „Herr, wert, dass Scharen der Engel dir dienen“. Als Bach 1776 erstmals das Heilig aufführte, und zwar im Rahmen der Michaelismusik Es erhub sich ein Streit, ging dem Heilig eine gleichnamige von Bach bearbeitete Ariette von Georg Anton Benda voraus. Als Bach Wq 217 1778/1779 in Druck brachte, sah er sich zu einer Eigenvertonung der Ariette veranlasst. Der größte Teil seiner Hamburger Vokalmusik, die er als Figuralmusik im Rahmen der Gottesdienste in den fünf Hamburger Hauptkirchen aufführte (Passionen, Prediger-Einführungsmusiken, Quartalsmusiken, Kantaten im Kirchenjahr), war im besten Sinne Gebrauchsmusik, die nur für die Hamburger Gottesdienstbesucher bestimmt war und häufig allein zu einem ganz bestimmten Anlass erklungen ist. Bach trennte bei der Zusammenstellung dieses Repertoires nicht minutiös zwischen fremden und eigenen Werken. So finden sich alle denkbaren Schattierungen, von unbearbeiteten über substantiell bearbeiteten fremden Werken über Pasticci, entweder mit ausschließlich fremden Werken oder auch mit eigenen Sätzen versehen, bis hin zu Bearbeitungen eigener Werke bzw. Neukompositionen. Als eine der dringlichsten Aufgaben und großen Herausforderungen der Ausgabe kristallisierte sich für den Bereich der Vokalmusik die Ermittlung der verwendeten Vorlagen und die Beschreibung der Bach’schen Eingriffe heraus. Man entschied sich, sämtliche Pasticci in der Ausgabe zu berücksichtigen und diese Werke vollständig zu edieren. Das „Komponieren“, d. h. das Zusammenstellen der Sätze unterschiedlicher Herkunft, egal ob fremd oder eigen, wird als schöpferischer Akt verstanden. Dadurch wird diesen Kompositionen Werkcharakter zugestanden. Von den 21 von Bach aufgeführten Passionen fallen 19 in die Rubrik der Pasticci, zwei hingegen in die Rubrik Bearbeitung eines fremden Werkes. Da aber gerade diese zwei Werke von Homilius, die Markus-Passion HoWV I.10 (1770 aufgeführt) sowie die Lukas-Passion HoWV I.5 (1775 aufgeführt), die Vorlage für spätere Passionen Bachs bildeten, entschloss man sich, das vollständige Repertoire der 21 Passionen gleichberechtigt zu edieren. Ebenso entschied man sich letztlich, sämtliche nachweislichen Quartalsmusiken als Repertoire herauszubringen, obgleich darunter Musiken waren, die von Bach nur sehr geringfügig bearbeitet worden waren.49 ____________ 49
Siehe dazu die tabellarische Übersicht in Wolfram Enßlin, „Mit Ostern fange ich mit 2 neuen Jahrgängen an“. Aspekte zu Carl Philipp Emanuel Bachs Hamburger Kantatenschaffen, in: Wilhelm Friedemann Bach und die protestantische Kirchenkantate nach 1750, hrsg. von Wolfgang Hirschmann und Peter Wollny (= Forum Mitteldeutsche Barockmusik, Bd. 1), Beeskow 2012, S. 230f.
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Falls man sich nicht für die Edition eines kompletten Repertoires wie in den beiden genannten Fällen der Passionen und Quartalsmusiken entscheidet, besteht die generelle Schwierigkeit darin zu evaluieren, ab welchem Bearbeitungsgrad in der Kategorie Bearbeitung eines fremden Werkes die Eingriffe Bachs als substantiell genug erachtet werden, dass diese bearbeitete Komposition Aufnahme in den zu edierenden Werkekanon Bachs finden soll.50 Eine endgültige Lösung, wie beispielsweise mit der Kantate Die mit Tränen säen von Carl Friedrich Fasch editorisch umgegangen wird, für die Bach nur ein Rezitativ komponierte, bzw. mit dem Te Deum von Carl Heinrich Graun, für die Bach drei Trompeten und Pauken hinzukomponierte,51 wurde bis zum Abfassen dieser Zeilen noch nicht gefunden. Für das Darstellungsproblem verschiedener Fassungen eines Werks sehen die Richtlinien von CPEB:CW unterschiedliche Lösungsansätze vor. So können mehrere Fassungen gleichberechtigt im Haupttext stehen (vom Magnificat wurde, in zwei getrennten Bänden, sowohl die frühe Berliner als auch die spätere Hamburger Version ediert). Wurden hingegen einzelne Sätze getrennt voneinander und zu unterschiedlichen Zeiten von Bach revidiert, so soll die späteste vollständige Fassung den Hauptnotentext bilden und einzelne Sätze unmittelbar danach oder im Anhang separat angegeben werden. Es besteht auch die Möglichkeit, bei kleineren Veränderungen Ossia-Passagen in einer Fußnote auf der jeweiligen Seite einzufügen. Die Ausgabe versucht dadurch, flexibel auf die konkrete Quellensituation und den Grad der Unterschiede der jeweiligen Fassungen eingehen zu können. In jedem Fall soll vermieden werden, durch Vermischung unterschiedlicher Quellen und Lesarten eine hypothetisch „beste“ Fassung zu rekonstruieren.
____________ 50
51
Für das 2014 erschienene Vokalwerkeverzeichnis – Carl Philipp Emanuel Bach. Thematischsystematisches Verzeichnis der musikalischen Werke Teil 2: Vokalwerke (BR-CPEB), bearbeitet von Wolfram Enßlin und Uwe Wolf unter Mitarbeit von Christine Blanken (= BachRepertorium. Werkverzeichnisse zur Musikerfamilie Bach, Bd. III/2), Stuttgart 2014 – galt folgendes Kriterium: Eingang in das Vokalwerkeverzeichnis fanden bearbeitete Fremdwerke dann, wenn Bach durch Hinzukomponieren von neuen Sätzen oder neuen Stimmen substantiell den Notentext verändert hat. Eingriffe wie beispielsweise Änderungen in der Instrumentation oder im Melodieverlauf reichen jedoch hierfür nicht aus. Diese Werke werden in Bd. 3 (Notenbibliothek) behandelt. Im NV 1790 werden die zusätzlichen Stimmen zum Graun’schen Te Deum unter „Einige vermischte Stücke“ aufgelistet (S. 66), während die Fasch-Kantate in der Rubrik „Von verschiedenen Meistern“ enthalten ist, mit dem Zusatz „worinn ein Rezitativ von C. P. E. B.“ (S. 89). Bei einer weiteren Kantate von Fasch (Harre auf Gott), die ebenfalls diesen Zusatz enthält, hat Bach darüber hinaus noch eine Arie bislang unbekannter Provenienz hinzugefügt.
Editionen der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs
III.
297
Einzelbeispiel Sonate f-Moll Wq 57.6 / H 173 aus der Sammlung „Für Kenner und Liebhaber“, Band III
Bach komponierte seine Klaviersonate f-Moll Wq 57.6 / H 173 seinem Clavierwerkeverzeichnis von 177252 bzw. seinem Nachlassverzeichnis von 1790 zufolge 1763 in Berlin und veröffentlichte sie 1781 im dritten Band seiner im Selbstverlag erschienenen Klaviersammlung „für Kenner und Liebhaber“. Es existiert keine autographe Handschrift mehr; die überlieferten handschriftlichen Quellen werden als Druckabschriften gewertet. Für alle nachfolgenden Editionen war der Druck von 1781 die editionsrelevante Quelle. Die Ausgaben fallen jedoch sehr unterschiedlich aus, und dies weniger aus zeitgeschichtlichen, sondern vielmehr aus „ideologischen“ Gründen.53 Nur bei der Ausgabe im Rahmen von CPEB:CW durch Christopher Hogwood handelt es sich um eine historisch-kritische Ausgabe mit Quellenbeschreibung und -bewertung sowie kritischem Apparat. Am nächsten kommt ihm diesbezüglich Schenker, der in Fußnoten strittige Stellen behandelt, Vorschläge zu Auszierungen macht und konkrete editorische Entscheidungen erläutert. Seine eigenen Zusätze macht er ansonsten durch Klammerungen deutlich. Zum Teil legen die einzelnen Herausgeber in einem instruktiven Vorwort ihren editorischen Ansatz offen und begründen darin allgemein ihre Vorgehensweise.54 Die Sonate erschien mal im Rahmen einer vom Herausgeber zusammengestellten Sammlung,55 mal als Teil der von Bach getroffenen Auswahl für „Kenner und Liebhaber“.56 Wirft man einen Blick auf die Erscheinungsdaten der jeweiligen Ausgaben, so fallen sogleich zwei Schwerpunkte ins Auge: 1862/1863 mit den Ausgaben von Hans von Bülow, E. F. Baumgart und Aristide Farrenc sowie um die Jahrhundertwende mit den Ausgaben von Hugo ____________ 52
53 54
55 56
Das zum Teil von Bach selbst, zum Teil vom Kopisten Anon. 307 geschriebene Klavierwerkeverzeichnis liegt im Bestand der Sing-Akademie zu Berlin (D-B SA 4261); die Sonate ist als Nr. 122 aufgelistet; das Faksimile des Verzeichnisses findet sich in Christoph Wolff, Carl Philipp Emanuel Bachs Verzeichnis der Clavierwerke von 1733 bis 1772, in: Über Leben, Kunst und Kunstwerke: Aspekte musikalischer Biographie. Johann Sebastian Bach im Zentrum, Leipzig 1999, S. 229–235. Vgl. die Einzelnachweise der acht Ausgaben in Anhang 2. Dies geschieht ausführlich in den Ausgaben 2a bzw. b (Hans von Bülow), 3 (E. F. Baumgart), verkürzt in 5 (Hugo Riemann); Ausgabe 6a bzw. b (Carl Krebs) konzentriert sich auf die Darstellung der Ausführung der Verzierungen. Schenker verweist in seiner Ausgabe (7) in der Frage der Grundsätze, die ihn bei dieser Ausgabe geleitet haben, auf seine in der Universal-Edition bald danach erschienene Abhandlung Ein Beitrag zur Ornamentik als Einführung zu Ph. Em. Bachs Klavierwerken mitumfassend auch die Ornamentik Haydns, Mozarts, Beethovens etc., Wien und London 1903; neue revidierte und vermehrte Auflage, Wien und London 1908. Ausgaben 2a/b, 4, 5, 7. Ausgaben 3, 6a/b und natürlich 8.
298
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Riemann (1894), Carl Krebs (1895) und Heinrich Schenker (1902). Die in den Verlagen Peters und Breitkopf & Härtel erschienenen Ausgaben von Bülow und Krebs wurden mehrfach aufgelegt bzw. leicht revidiert neu gestochen, jedoch ohne eine prinzipielle Neuausrichtung. Die untersuchten Ausgaben lassen sich in zwei „Lager“ einteilen: auf der einen Seite diejenigen Ausgaben, die den von Bach gedruckten Notentext allenfalls mit geringfügigen Zusätzen, Korrekturen und Veränderungen übernahmen (Farrenc, Baumgart, Krebs, Schenker, Hogwood), auf der anderen Seite diejenigen, die Bachs Druck in die damalige Gegenwart „übersetzten“ und „einrichteten“ (Bülow57 und Riemann). Aufschlussreich sind die Vorworte der beiden nahezu zeitgleich entstandenen Editionen von Bülow und Baumgart. Bülow war von der Notwendigkeit einer „Bearbeitung“ der herauszugebenden Werke überzeugt, „in dem Sinne einer Übersetzung aus der Klaviersprache des 18ten in die des 19ten Jahrhunderts, aus dem Clavichordischen in das Pianofortische“.58 Bei dieser Bearbeitung sei er „einem ziemlich gewissenhaften und andauernden Studium des Geistes des Komponisten […] gefolgt“.59 Die Bearbeitung sah wie folgt aus: Ausfüllung der häufig gar zu mageren Begleitung durch passende Mittelstimmen, Verkittung mancher bedenklich aphoristischen Pausenlücke, belebende Kolorierung einzelner flüchtig skizzenhafter Umrisse, endlich sorgfältig detaillierte Vortragsbezeichnung – darauf beschränkt sich meine Zutat, in der ich stets nach Analogie derjenigen Stellen, wo der Meister seine Praxis im vollstimmigeren Satze zur Anwendung bringt, zu retouchieren getrachtet habe.60
Bülow hatte sich dafür entschieden, die meisten Manieren beizubehalten und „durch vorschriftsmäßige Ausschreibung verschiedener ihrer komplizierten stenographischen Zeichen die Lesarbeit des Spieler zu klären und zu erleichtern.“61 Zudem habe er in „melodischer und auch in harmonischer Beziehung […] keine zweifelhaften Verbesserungen“ vorgenommen, in rhythmischer Hin____________ 57
58 59 60 61
Bereits das Titelblatt weist darauf hin, dass es sich um eine Bearbeitung von Bülow handelt. – Bülow als Herausgeber bzw. Bearbeiter Bach’scher Werke wurde bereits mehrfach in wissenschaftlichen Aufsätzen thematisiert: Nicholas Cook, The Editor and the Virtuoso, or Schenker versus Bülow, in: Journal of the Royal Musical Association 116/1 (1991), S. 78–95; Regula Rapp, „Soll ich nach dem Manne der Tagesmode forschen …“ Die C.-P.-E.-BachHerausgeber Hans von Bülow und Johannes Brahms, in: Carl Philipp Emanuel Bach. Musik für Europa. Bericht über das Internationale Symposium vom 8. März bis 12. März 1994 im Rahmen der 29. Frankfurter Festtage der Musik an der Konzerthalle „Carl Philipp Emanuel Bach“ in Frankfurt (Oder), hrsg. von Hans-Günter Ottenberg (= Carl-Philipp-Emanuel-BachKonzepte, Sonderband 2), Frankfurt (Oder) 1998, S. 506–517. Vorwort Bülow (Ausgabe 2a), S. 3. Ebd. Ebd. Ebd., S. 4
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sicht jedoch „hier und da zugunsten einer minder steifen Bewegung der Bässe wie der Begleitungsfiguren nachgeholfen.“62 Die Eingriffe konnten so weit gehen, dass Bülow Takte hinzufügte, um manche abrupte musikalische Abfolge bei Bach zu entschärfen. Immerhin wies er im Vorwort darauf hin: der zweite Satz [der f-Moll-Sonate] enthielt kurz vor dem Eintritte des dritten Teils, der Rückkehr des Hauptmotivs in F dur, eine ziemlich wundersame Ellipse oder Aposiopese, die mir zu kantig erschien, als daß sie nicht hätte vermittelt werden sollen. Nach dem Sextakkorde von C moll pp trat F dur forte ein.63
Notenbeispiel 1a: 2. Satz, T. 24–28, Originalausgabe.
Notenbeispiel 1b: 2. Satz, T. 26–29, Ausgabe Bülow.
Baumgart vertrat eine Bülow gegenüber diametral entgegengesetzte Auffassung. Ihm ging es um „eine treue Wiedergabe des Originals“ sowie darum, „dass der Unterzeichnete sich kein anderes Verdienst in Anspruch zu nehmen hat, als das einer kritisch sorgfältigen Collation, der Verbesserung offenbarer Druckfehler und hier und da einer bequemeren Anordung unwesentlicher Din____________ 62 63
Ebd. Ebd.
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ge“.64 Ziel war es, mit einer solchen Edition „geschichtlich bedeutsame Werke wieder zugänglicher machen zu wollen, und zwar für Solche, die sie in ihrer ursprünglichen Gestalt kennen zu lernen ein Interesse, oder auch eine Pflicht haben.“65 Deshalb verzichtete er bewusst auf Ergänzungen von Vortragsbezeichnungen und die harmonische Ausfüllung. Es lag nahe, durch Hinzusetzung von Vortrags-Bezeichnungen, die sich ja auch als hinzugefügte hätten kenntlich machen lassen, dem Verständniss zu Hülfe zu kommen. Gleichwohl schien es besser, alle solche Zuthaten zu unterlassen. Sie hätten doch nur die Meinung eines Einzelnen dargestellt, neben welcher häufig andere Auffassungen mindestens gleich berechtigt sein konnten […]. Eben so haben wir alle harmonische Ausfüllung vermieden, die von manchem an die moderne orchestrale Fülle der Klavier-Behandlung Gewöhnten voraussichtlich sehr vermisst werden wird. Wo Bach – nach seiner Weise – massenhaftes Accordwesen haben will, hat er es hingeschrieben; wo es nicht steht, will er es auch nicht haben. 66
Bülows Ansatz kritisierte Baumgart keineswegs. Er und Bülow vertraten nur andere Ziele: Für seinen Zweck [d. h. die Werke dem Publikum genießbar zu machen] war eine Bearbeitung, wie er sie gegeben, förderlich, ja vielleicht nöthig; für den unsern wäre sie ein Fehler gewesen.67
Entspricht die bei Breitkopf & Härtel von Krebs herausgebrachte Urtextausgabe im Wesentlichen derjenigen von Baumgart, nahm sich Riemann als Bearbeiter gegenüber Bülow in einigen Aspekten zurück; in einigen Punkten geht seine Ausgabe jedoch über die Bülow’sche noch hinaus. Einerseits überfrachtete Riemann die Ausgabe mit Artikulations-, Phrasierungs- und Dynamikangaben in viel stärkerem Maße als Bülow, andererseits veränderte Riemann weit weniger die Noten und füllte keine Akkorde auf. Die Überfrachtung des Notenbilds wird durch Riemanns analytische Verdeutlichung der Periodengliederung noch verstärkt. Während in der Originalausgabe durchgehend Artikulationsstriche verwendet wurden, die Bülow als Staccatopunkte übersetzte, bot Riemann gleich drei unterschiedliche Zeichen dafür an: Keile, Staccatopunkte sowie Akzente mit Staccatopunkten. ____________ 64 65 66 67
Vorwort Baumgart (Ausgabe 3), S. 16. Ebd. Ebd., S. 4. Ebd., S. 16.
Editionen der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs
Notenbeispiel 2a: 1. Satz, T. 1–11, Originalausgabe.
Notenbeispiel 2b: 1. Satz, T. 1–8, Ausgabe Bülow.
Notenbeispiel 2c: 1. Satz, T. 1–10, Ausgabe Riemann.
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Zwei besonders strittige Stellen weist der erste Satz der Sonate in den Takten 53f. bzw. 57f.68 auf. Die Bach’sche Originalausgabe enthält folgenden Notentext:
Notenbeispiel 3a: 1. Satz, T. 52–60, Originalausgabe.
Baumgart und Krebs übernahmen vermeintlich penibel den Notentext aus der Bach’schen Originalausgabe. In T. 53f. zeichneten hingegen Farrenc, Bülow, Riemann und Schenker an drei Stellen statt eines einfachen b ein bb vor. Stellvertretend hierfür sei Bülows Ausgabe zitiert:
Notenbeispiel 3b: 1. Satz, T. 50–57, Ausgabe Bülow. ____________ 68
Schon Schenker bezeichnete sie in Fußnote 2 auf S. 68 als „sehr umstrittene und viel commentierte Stelle“. Forkel war in seinem Musikalischen Almanach näher auf diesen Teil eingegangen: „Sie haben vielleicht diejenige Stelle im zweyten Theil des ersten Allegro nicht schön gefunden, wo die Modulation ins As moll, Fes dur, und von da auf eine etwas harte Art wieder zurück ins F moll geht. Ich muß gestehen, daß ich sie, außer ihrer Verbindung mit dem Ganzen betrachtet, eben so wenig schön gefunden habe. Aber wer findet auch wohl die harten, rauhen und heftigen Aeußerungen eines zornigen und unwilligen Menschen schön? Ich bin sehr geneigt zu glauben, daß Bach, dessen Gefühl sonst überall so außerordentlich richtig ist, auch hier von keinem unrichtigen Gefühl geleitet sey, und daß unter solchen Umständen die erwähnte harte Modulation nichts anders ist, als ein getreuer Ausdruck dessen, was hier ausgedrückt werden sollte und mußte.“ Johann Nicolaus Forkel, Musikalischer Almanach für Deutschland auf das Jahr 1784, Leipzig 1783, Nachdruck Hildesheim 1974, S. 38.
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Auf diese Stelle bezog sich Bülow in seinem Vorwort: „Die andere Kühnheit stand im Durchführungstheile des ersten Satzes: ein stark-kakophones Anakoluth, welches eventuell als Nachlässigkeit hätte ausgelegt werden können“.69 In T. 57f. hingegen entschied sich nur Farrenc in beiden Takten für die Verwendung eines bb, Schenker allein in T. 58. Bülow und Riemann verzichteten gänzlich darauf.
Notenbeispiel 3c: 1. Satz, T. 54–59, Ausgabe Farrenc.
Schenker vermutete an beiden Stellen einen Notierungsfehler.70 Ob Notierungsfehler oder bewusster kakophoner Anakoluth, die Lösung mit der Verwendung von bb in den genannten Takten entspricht den Vorgaben Bachs. Denn bei genauerem Hinsehen des Originaldrucks sind zwei unterschiedliche Notierungsweisen für b zu erkennen. Ein kleines, „reguläres“ b sowie ein „großes“ b.
Notenbeispiel 3d: 1. Satz, T. 533–4, Originalausgabe.
Dieses große b steht nun für bb. Bach hatte die Beibehaltung von großen b in dieser Sonate explizit in einem Brief vom 1. Mai 1781 an Breitkopf gefordert: „Die in der F moll Sonate im ersten Allegro vorkommenden großen b müßen ____________ 69 70
Vorwort Bülow (2a), S. 4. „Der Autor oder Copist hat bb offenbar zu notieren vergessen, genau wie 5 und 4 Takte vorher.“ Ausgabe 7, S. 68, Fußnote 2.
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Wolfram Enßlin
groß bleiben.“71 Von allen älteren Ausgaben hat somit nur Farrenc, ohne weiteren Kommentar, diese beiden Stellen korrekt wiedergegeben.72 Durch ein Versehen sind auch im Gesamtausgabenband im Notentext die Notierungen mit „kleinem“ b stehen geblieben. Dieses Versehen ist in der Addenda- und Corrigenda-Liste auf der Homepage der Gesamtausgabe bereinigt worden.73 Die behandelten Ausgaben 2–7 zeigen die ganze Bandbreite an möglichen Editionsansätzen. Von der fast an ein Faksimile heranreichenden Wiedergabe des Originaldrucks (Baumgart, Krebs, weitgehend Farrenc) über eine Edition mit für den Leser erkennbaren und erklärten Herausgeberzusätzen (Schenker) bis hin zur „Übersetzung“ des originalen Notentextes in den jeweiligen Epochenstil mit weitreichenden Eingriffen (Bülow) und zusätzlicher Überfrachtung des Notentextes durch analytische Zeichengebung (Riemann). Während Baumgarts Ausgabe beispielsweise ohne Nachahmer blieb und wohl in der breiten Öffentlichkeit kaum rezipiert wurde, war Bülows Ausgabe prägend für viele Generationen von Pianisten, die sich mit C. P. E. Bach beschäftigen, ob „Kenner“ oder „Liebhaber“. Bis 1980 wurde Bülows interpretierende Bearbeitung in der „Edition Peters“ immer wieder aufgelegt. In ihrer Langlebigkeit und öffentlichen Rezeption kam an sie nur die Krebs’sche Urtext-Ausgabe heran, die, mit einem kleinen Revisionsbericht durch HoffmannErbrecht versehen, ebenfalls mehrfach nachgedruckt wurde (zuletzt 1985) und heute noch lieferbar ist, in ihrer Verbreitung aber wohl nicht an die Bülow’sche heranreichte.
Literaturverzeichnis Briefe von Carl Philipp Emanuel Bach an Johann Gottlob Immanuel Breitkopf und Johann Nikolaus Forkel, hrsg. von Ernst Suchalla, Tutzing 1985 Burney, Charles: Carl Burney’s der Musik Doctors Tagebuch seiner Musikalischen Reisen, Dritter Band. Durch Böhmen, Sachsen, Brandenburg, Hamburg und Holland. Aus dem Englischen übersetzt, Hamburg 1773, Nachdruck hrsg. von Richard Schaal, Kassel [u. a.] 1959 Carl Philipp Emanuel Bach. Briefe und Dokumente. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Ernst Suchalla, 2 Bde., Göttingen 1994 Carl Philipp Emanuel Bach. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke Teil 2: Vokalwerke (BR-CPEB), bearbeitet von Wolfram Enßlin und Uwe Wolf unter Mitarbeit von Christine Blanken (= Bach-Repertorium. Werkverzeichnisse zur Musikerfamilie Bach, Bd. III/2), Stuttgart 2014 ____________ 71 72
73
Briefe und Dokumente (wie Anm. 25), Dok. 402, S. 882. Es konnten im Rahmen dieser Studie nicht alle Druckabschriften dahingehend überprüft werden, ob die Kopisten die Unterscheidung von großem und kleinem b erkannten und übernahmen. So wurden zwei Quellen stichprobenartig ausgewählt: Johann Samuel Carl Possin übernahm in seiner Druckabschrift die Bach’sche Notierungsweise (D-B SA 4190), während Carl Friedrich Christian Fasch an den besagten Stellen bb notierte (D-B SA 4260). http://www.cpebach.org/cpeb/toc/toc-I-4-1.html.
Editionen der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs
305
Clark, Stephen L.: C. P. E. Bach as a Publisher of his Own Works, in: Carl Philipp Emanuel Bach. Musik für Europa. Bericht über das Internationale Symposium vom 8. März bis 12. März 1994 im Rahmen der 29. Frankfurter Festtage der Musik an der Konzerthalle „Carl Philipp Emanuel Bach“ in Frankfurt (Oder), hrsg. von Hans-Günter Ottenberg (= Carl-Philipp-Emanuel-BachKonzepte, Sonderband 2), Frankfurt (Oder) 1998, S. 199–211 Cook, Nicholas: The Editor and the Virtuoso, or Schenker versus Bülow, in: Journal of the Royal Musical Association 116/1 (1991), S. 78–95 Corneilson, Paul: The C. P. E. Bach Edition and the Future of Scholarly Editions, in: Music Reference Services Quarterly 8 (2001), S. 27–37 Corneilson, Paul: C. P. E. Bach and the Challenge of Breaking into the Canon, in: Die Tonkunst 8 (2014), S. 15–24 Daub, Peggy: The Publication Process and Audience for C. P. E. Bach’s Sonaten für Kenner und Liebhaber, in: J. S. Bach, the Breitkopfs and Eighteenth-Century Music Trade (= Bach Perspectives 2 [1996]), S. 65–83 Enßlin, Wolfram: Die Bach-Quellen der Sing-Akademie zu Berlin, Bd. 1: Katalog, Bd. 2: Historischer Überblick, Abbildungen, Register (= Leipziger Beiträge zur Bach-Forschung, Bd. 8.1 und 8.2), Hildesheim [u. a.] 2006 Enßlin, Wolfram: Der Werkbegriff bei Carl Philipp Emanuel Bach und die Konsequenzen bei der Erstellung seines Vokalwerkverzeichnisses, in: Denkströme 5 (2010), S. 103–118 Enßlin, Wolfram: „Mit Ostern fange ich mit 2 neuen Jahrgängen an“. Aspekte zu Carl Philipp Emanuel Bachs Hamburger Kantatenschaffen, in: Wilhelm Friedemann Bach und die protestantische Kirchenkantate nach 1750, hrsg. von Wolfgang Hirschmann und Peter Wollny (= Forum Mitteldeutsche Barockmusik, Bd. 1), Beeskow 2012, S. 221–243 Enßlin, Wolfram: Vom Clavierwerke-Verzeichnis zum Bach-Repertorium. Die Verzeichnisse der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs, in: Die Tonkunst 8 (2014), S. 25–38 Enßlin, Wolfram und Uwe Wolf: Carl Philipp Emanuel Bach. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke, Teil 2: Vokalwerke (BR-CPEB) (= Bach-Repertorium. Werkverzeichnis zur Musikerfamilie Bach, Bd. III/2), Stuttgart 2014 Forkel, Johann Nicolaus: Musikalischer Almanach für Deutschland auf das Jahr 1784, Leipzig 1783, Nachdruck Hildesheim 1974, S. 38 Helm, Eugene: Thematic Catalogue of the Works of Carl Philipp Emanuel Bach, New Haven, London 1989 Helm, Eugene: The Editorial Transmission of C. P. E. Bach’s Music, in: Early Music 17 (1989), S. 32–41 Hoffmann-Erbrecht, Lothar: Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bachs Nürnberger Verleger, in: Die Nürnberger Musikverleger und die Familie Bach. Materialien zu einer Ausstellung des 48. Bach-Fests der Neuen Bach-Gesellschaft, hrsg. von Willi Wörthmüller, Nürnberg 1973, S. 5–10 Ottenberg, Hans-Günter: Die Klaviersonaten Wq 55 im Verlage des Autors. Zur Praxis des Selbstverlags bei Carl Philipp Emanuel Bach, in: Carl Philipp Emanuel Bach. Beiträge zu Leben und Werk, hrsg. von Heinrich Poos, Mainz [u. a.] 1993, S. 21–39 Rapp, Regula: „Soll ich nach dem Manne der Tagesmode forschen …“ Die C.-P.-E.-BachHerausgeber Hans von Bülow und Johannes Brahms, in: Carl Philipp Emanuel Bach. Musik für Europa. Bericht über das Internationale Symposium vom 8. März bis 12. März 1994 im Rahmen der 29. Frankfurter Festtage der Musik an der Konzerthalle „Carl Philipp Emanuel Bach“ in Frankfurt (Oder), hrsg. von Hans-Günter Ottenberg (= Carl-Philipp-Emanuel-BachKonzepte Sonderband 2), Frankfurt (Oder) 1998, S. 506–517 Schenker, Heinrich: Ein Beitrag zur Ornamentik als Einführung zu Ph. Em. Bachs Klavierwerken mitumfassend auch die Ornamentik Haydns, Mozarts, Beethovens etc., Wien, London 1903, neue revidierte und vermehrte Auflage Wien, London 1908 Verzeichnis des musikalischen Nachlasses des verstorbenen Capellmeisters Carl Philipp Emanuel Bach, Hamburg 1790 (= NV 1790), Nachdruck hrsg. von Rachel Wade unter dem Titel Catalogue of Carl Philipp Emanuel Bach’s Estate, New York [u. a.] 1981 von Hase, Hermann: Carl Philipp Emanuel Bach und Joh. Gottl. Im. Breitkopf, in: Bach-Jahrbuch 8 (1911), S. 86–104 Wade, Rachel W.: Autorisierte und nicht autorisierte Ausgaben der Musik von C. P. E. Bach, in: Carl Philipp Emanuel Bach. Musik für Europa. Bericht über das Internationale Symposium
306
Wolfram Enßlin
vom 8. März bis 12. März 1994 im Rahmen der 29. Frankfurter Festtage der Musik an der Konzerthalle „Carl Philipp Emanuel Bach“ in Frankfurt (Oder), hrsg. von Hans-Günter Ottenberg (= Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Konzepte, Sonderband 2), Frankfurt (Oder) 1998, S. 291–305 Wiermann, Barbara: Carl Philipp Emanuel Bach: Dokumente zu Leben und Wirken aus der zeitgenössischen Hamburgischen Presse (1767–1790) (= Leipziger Beiträge zur Bachforschung, Bd. 4), Hildesheim [u. a.] 2000 Wolff, Christoph: Carl Philipp Emanuel Bachs Verzeichnis der Clavierwerke von 1733 bis 1772, in: Über Leben, Kunst und Kunstwerke: Aspekte musikalischer Biographie. Johann Sebastian Bach im Zentrum, Leipzig 1999, S. 217–235 Wotquenne, Alfred: Thematisches Verzeichnis der Werke von Carl Philipp Emanuel Bach (1714– 1788), Leipzig 1905, Nachdruck 1964, 1972, 1980, 1988
Anhang 1 Zu Bachs Lebzeiten erschienene, chronologisch sortierte Einzeldrucke, wenn nicht anders angegeben von ihm autorisiert (ohne Sammelpublikationen, Almanache etc.). Burney: Autobiographie C. P. E. Bachs mit Angaben gedruckter Werke, in: Burney’s Tagebuch, Bd. 3, S. 198–209. Werkverzeichnis Wq 111
Kurztitel
Verleger/Ort
Jahr
Bemerkungen
Menuett
C. P. E. Bach
1731
Wq 48
1744
Burney (3)
1745 1751
Burney (4) Burney (5)
Wq 25
Cembalokonzert
1752
Burney (6)
Wq 63
Probestücke
1753
Burney (7)
Wq 254
Versuch I
Balthasar Schmid / Nürnberg Johann Ulrich Haffner / Nürnberg B. Schmid / Nürnberg Witwe B. Schmid / Nürnberg Witwe B. Schmid / Nürnberg Im Verlage des Autors / Berlin Im Verlage des Autors / Berlin
1742
Wq 11 Wq 161
6 Preußische Sonaten 6 Württembergische Sonaten Cembalokonzert 2 Triosonaten
Kupferstich von Bach selbst vorgenommen, Burney (1) Burney (2)
1753
Wq 81
12 kleine Stücke für Flöte/Violine und Clavier Gellert Oden Sinfonie e-Moll
Georg Ludewig Winter / Berlin
1758
Gedruckt bei C. F. Henning, Burney (7) Burney (12)
G. L. Winter / Berlin Witwe B. Schmid / Nürnberg G. L. Winter / Berlin
1758 1759
Burney (11) Burney (14)
1760
Burney (13), dort 1759 datiert
Wq 49
Wq 194 Wq 177 Wq 50
6 Sonaten mit veränderten Reprisen
307
Editionen der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs Werkverzeichnis Wq 14 Wq 51
Kurztitel
Verleger/Ort
Jahr
Bemerkungen
G. L. Winter / Berlin G. L. Winter / Berlin
1760 1761
Burney (15) Burney (16)
Wq 199
Cembalokonzert Fortsetzung von 6 Sonaten Oden mit Melodien
Arnold Wever / Berlin
1762
Wq 255
Versuch II
Im Verlage des Autors / 1762 Berlin
Wq 52
G. L. Winter / Berlin
1763
Wq 132 Wq 158 Wq 106 Wq 107
Zweite Fortsetzung von 6 Sonaten Sonate f. Flöte solo Triosonate Sonatine I Sonatine II
gedruckt bei Breitkopf in Leipzig; einzelne Lieder verstreut zuerst in anderen Sammlungen publiziert, Burney (18) Gedruckt bei G. L. Winter, Burney (17) Burney (19)
G. L. Winter / Berlin G. L. Winter / Berlin G. L. Winter / Berlin G. L. Winter / Berlin
1763 1763 1764 1764
Wq 108
Sonatine III
G. L. Winter / Berlin
1764
Wq 195
G. L. Winter / Berlin
1764
G. L. Winter / Berlin
1765
Burney (25)
Breitkopf / Leipzig
1766
G. L. Winter / Berlin
1766
G. L. Winter, Berlin
1766
Burney (23), dort 1765 datiert Burney (26), dort 1765 datiert Burney (28)
G. L. Winter / Berlin G. L. Winter / Berlin
1766 1768
Burney (27) Burney (29)
Hummel / Amsterdam F. Schönemann / Hamburg
1770 1770
Burney (30) Burney (32)
Wq 43
Anhang Gellert Oden Clavierstücke verschiedener Art 6 leichte Claviersonaten Kurze und leichte Clavierstücke I Der Wirt und die Gäste Phillis und Tirsis Kurze und leichte Clavierstücke II 6 Damensonaten 12 kleine Stücke für Flöte/Violine und Clavier 6 Cembalokonzerte
Burney (20) Burney (22), dort 1765 datiert Burney (22), dort 1765 datiert Burney (21)
Burney (33)
Wq 196
Cramer Psalmen
Wq 238
Die Israeliten in der Wüste
Im Verlage des Autors / 1772 Hamburg Im Verlage des Autors / 1774 Leipzig Im Verlage des Autors / 1775 Hamburg
Wq 112 Wq 53 Wq 113 Wq 201 Wq 232 Wq 114 Wq 54 Wq 82
gedruckt bei Breitkopf
308
Wolfram Enßlin
Werkverzeichnis Wq 89
Kurztitel
Verleger/Ort
Jahr
Bemerkungen
6 Klaviertrios
1776
Wq 90
3 Klaviertrios
Wq 91
4 Klaviertrios
Wq 55
Kenner und Liebhaber I Doppelchöriges Heilig Kenner und Liebhaber II 4 OrchesterSinfonien Sturm Gesänge I
Robert Bremner / London Im Verlage des Autors / Leipzig Im Verlage des Autors / Leipzig Im Verlage des Autors / Leipzig Im Verlage des Autors / Leipzig Im Verlage des Autors / Leipzig Engelhardt Benjamin Schwickert / Leipzig Johann Heinrich Herold / Hamburg Im Verlage des Autors / Leipzig J. H. Herold / Hamburg
unklar, ob autorisierte Ausgabe gedruckt bei Breitkopf gedruckt bei Breitkopf gedruckt bei Breitkopf gedruckt bei Breitkopf gedruckt bei Breitkopf
Wq 217 Wq 56 Wq 183 Wq 197 Wq 57 Wq 198 Wq 58 Wq 239 Wq 59 Wq 60 Wq 204 Wq 61 Wq 203 Wq 240 Wq 200
Kenner und Liebhaber III Sturm Gesänge II Kenner und Liebhaber IV Klopstocks Morgengesang Kenner und Liebhaber V Sonate 2 Litaneien Kenner und Liebhaber VI Neue Melodien für Hamburger Gesangbuch Auferstehung und Himmelfahrt Jesu Neue LiederMelodien
Im Verlage des Autors / Leipzig Im Verlage des Autors / Leipzig Im Verlage des Autors / Leipzig Breitkopf / Leipzig Niels Schiørring/C. G. Proft / Kopenhagen Im Verlage des Autors / Leipzig Heroldsche Buchhandlung / Hamburg
1776 1777 1779 1779 1780 1780 1780 1781 1781 1783 1784 1785 1785 1786 1787 1787
Breitkopf / Leipzig
1787
Christian Gottfried Donatius / Lübeck
1789
gedruckt bei Breitkopf gedruckt bei Breitkopf gedruckt wohl bei Breitkopf gedruckt bei Breitkopf gedruckt bei Breitkopf gedruckt bei Breitkopf gedruckt bei A. F. Stein gedruckt bei Breitkopf gedruckt bei G. F. Schiebes
Druck wohl nicht unter Aufsicht Bachs, jedoch mit dessen Einverständnis
Editionen der Werke Carl Philipp Emanuel Bachs
309
Anhang 2 Übersicht der in Kapitel 3 berücksichtigten Ausgaben der Sonate f-Moll Wq 57/6:74 1. SONATA III. in: CLAVIER-SONATEN | NEBST | EINIGEN RONDOS | FÜRS FORTEPIANO | FÜR KENNER UND LIEBHABER, | SR. EXCELLENZ | DEM HERRN | FREYHERRN VON SWJETEN | UNTERTHAENIG ZUGEEIGNET | UND COMPONIRT | VON | CARL PHILIPP EMANUEL BACH. | DRITTE SAMMLUNG. | LEIPZIG, | IM VERLAGE DES AUTORS. | 1781., S. 30–38. 2a. SONATA I. F moll. in: Sechs ausgewählte | SONATEN | für Klavier allein | von | Carl Philipp Emanuel Bach | bearbeitet und mit einem Vorwort | herausgegeben von HANS von BÜLOW. | [l.:] HEFT I. (N.o 1–3) Pr. 1 2/3 Thlr. | N.o 1, in Fmoll. Pr. 20 Ngr. | […] Leipzig u. Berlin, im Bureau de Musique de C. F. Peters. | LONDON, J. J. EWER & Co. | 4380–85 [Sonate f-Moll mit Pl.-Nr. 4380, S. 6–15, jede Sonate mit eigener Paginierung, Vorwort datiert mit 1862, in mehreren Auflagen erschienen] 2b. Neue revidierte und mit Fingersätzen versehene Ausgabe 1928, Wiederabdruck 1945 und 1980: Sechs | Klavier-Sonaten | von | C. PH. EM. BACH | herausgegeben | von | HANS VON BÜLOW | Neu revidierte Ausgabe | 8858 | LEIPZIG | C. F. PETERS. [EDITION PETERS Nr. 276], S. 6–16 (Ausgabe durchpaginiert). 3. SONATA III. in: CARL PHILIPP EMANUEL BACH’S | CLAVIER-SONATEN | RONDOS UND FREIE FANTASIEN | FÜR KENNER UND LIEBHABER. | NEUE AUSGABE VON DR. E. F. BAUMGART. | IN SECHS HEFTEN à 1 2/3 THLR. […] | SONATEN: | Nr. 12 in F-moll (Heft III Nr. 3). 10 Ngr. […] | LEIPZIG. | VERLAG VON F. E. C. LEUCKART | (CONSTANTIN SANDER). (Heft III Nr. 3), S. 36–43 (Vorwort datiert 1863), Pl.-Nr. F. E. C. L. 1850. 4. Sonate VI. Berlin, 1763 in: 1758–1773. | SIX SONATES | pour le | CLAVECIN | Par | CH. PH. EMMANUEL BACH. | (5me – RECUEIL.) | Ces sonates se trouvent dans la collection en six livre que l’auteur a dédiée aux | connaisseurs et amateurs (für Kenner und Liebhaber); Leipzig, 1779 à 1787. Les | 4 premières appartiennent au 1er livre; les 5e et 6e au 3 livre. | PUBLIE PAR A. FARRENC. -- PARIS, 1863. | T. d. T. (11) 5., S. 230–237; enthalten in: LE | TRÉSOR DES PIANISTES | 4me LIVRAISON. […] PARIS. | [l.:] ARISTIDE FARRENC, […] || LONDRES | CRAMER, REALE ET VOOD, 201 | SCHOTT ET Co, 159, […] 1863 [r.:] C. PHILIPP, EDITEUR DE MUSIQUE | […] LEIPZIG | BREITKOPF ET HARTEL […]. 5. SONATE Fmoll. (1781.) in: C. Ph. Em. Bach | ausgewählte | Klavierkompositionen. | Mit Fingersatz und Phrasierungsbezeichnung | von | Dr. Hugo Riemann. | STEINGRÄBER VERLAG, LEIPZIG. […] 501 [1894], S. 47–53. 6a. Sonata III. in: URTEXT | KLASSISCHER MUSIKWERKE | HERAUSGEGEBEN AUF VERANLASSUNG UND UNTER VERANTWORTUNG ǀ DER AKADEMIE DER KÜNSTE IN BERLIN | CARL PHILIPP EMANUEL BACH | KLAVIERWERKE | Die sechs Sammlungen von Sonaten, Freien Phantasien und Rondos | für Kenner und Liebhaber | […] ____________ 74
Nicht greifbar war die bei F. S. Lischke Ende des 18. Jahrhunderts erschienene Einzelausgabe der f-Moll-Sonate (Berlin, Pl.-Nr. 1838).
310
Wolfram Enßlin
Dritte Sammlung […] | BREITKOPF & HÄRTEL LEIPZIG, S. 32–39 (Vorwort datiert 1895), Pl.-Nr. A. A. 24. 6b. Revidierter Nachdruck: Sonata III. in: Carl Philipp Emanuel Bach | Die sechs Sammlungen von Sonaten, | Freien Fantasien und Rondos | für Kenner und Liebhaber | Urtextausgabe herausgegeben von Carl Krebs | Nach dem Erstdruck neu durchgesehen von | Lothar Hoffmann-Erbrecht […] Dritte Sammlung […] | VEB BREITKOPF & HÄRTEL MUSIKVERLAG | LEIPZIG, S. 32 –39 (Revisionsbericht datiert 1953), Pl.-Nr. A. A. 24.; Wiederabdruck 1968 mit der Verlagsnummer EB 4401, Nachdruck 1981 (Leipzig) und 1985 (Wiesbaden). 7. Unter 8. in: KLAVIERWERKE | VON | PHILIPP EMANUEL BACH. | NEUE | KRITISCHE AUSGABE | VON | HEINRICH SCHENKER. | „UNIVERSAL-EDITION“ | ACTIENGESELLSCHAFT | IN WIEN. […], S. 66–75 (Vorwort datiert 1902), Pl.-Nr. U. E. 548. 8. Sonata III in F Minor Wq 57/6 in: Clavier-Sonaten nebst einigen Rondos | fürs Fortepiano für Kenner und Liebhaber | Dritte Sammlung Wq 57 (= CPEB:CW I/4.1 „Kenner und Liebhaber“ Collections I, hrsg. von Christopher Hogwood), Los Altos (California) 2009, S. 122–129.
Armin Raab
Editionen der Werke Joseph Haydns
Unter den Komponisten, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit Gesamtausgaben bedacht wurden, fehlt Joseph Haydn (1732–1809) – eine Folge der veränderten Rezeption, durch die er bald nach seinem Tod zunehmend in den Schatten Mozarts und Beethovens geraten war. Der erste Versuch einer Haydn-Gesamtausgabe wurde erst 1907 unter der Leitung von Eusebius Mandyczewski (1857–1929) bei Breitkopf & Härtel in Leipzig unternommen. Bis 1933 erschienen elf Bände.1 1950 startete die ein Jahr zuvor ins Leben gerufene Haydn Society (Boston und Wien) unter Leitung von Jens Peter Larsen (1902–1988) und H. C. Robbins Landon (1926–2009) eine Fortführung, die es bis 1951 auf vier Bände brachte.2 Die Gründung des Joseph Haydn-Instituts in Köln 1955 schuf schließlich die Voraussetzungen für die ab 1958 erscheinende historisch-kritische Ausgabe Joseph Haydn Werke. Sie wurde zunächst von Larsen als dem Gründungsleiter des Instituts geprägt, dann über drei Jahrzehnte von dessen Nachfolger Georg Feder (1927–2006). Mittlerweile (2015) liegen 104 Bände im G. Henle Verlag vor, 114 sollen es insgesamt werden. Geplant ist ferner, die Gesamtausgabe durch eine neue Edition von Haydns Briefen und ein neues Werkverzeichnis zu ergänzen. In Konkurrenz zur Gesamtausgabe sind ab den 1960er Jahren zahlreiche Einzelausgaben und „Gesamtausgaben“ bestimmter Gattungen erschienen, die, wie insbesondere die Edition der Sinfonien durch Landon, weite Verbreitung gefunden haben.3 ____________ 1 2 3
Joseph Haydns Werke. Erste kritisch durchgesehene Gesamtausgabe. – Zählt man den Doppelband mit den Jahreszeiten (VI/VII der Serie 16) einfach, kommt man auf nur zehn Bände. Joseph Haydn. Kritische Gesamtausgabe / The Complete Works. Critical Edition. Wissenschaftliche Leitung / General Editor Jens Peter Larsen, Boston [u. a.] 1950f. Vgl. dazu auch Armin Raab, Gesamtausgaben, in: Das Haydn-Lexikon, hrsg. von Armin Raab, Christine Siegert und Wolfram Steinbeck, Laaber 2010, S. 268–272, und ders., Rezeption durch Edition – Wie die Philologie das Haydn-Bild des 20. Jahrhunderts veränderte, in: Joseph Haydn im 21. Jahrhundert. Bericht über das Symposium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Internationalen Joseph Haydn Privatstiftung Eisenstadt und der Esterházy Privatstiftung vom 14. bis 17. Oktober 2009 in Wien und Eisenstadt, hrsg. von Christine Siegert, Gernot Gruber und Walter Reicher, Tutzing 2013, S. 399–416. – Die nachfolgenden Ausführungen decken sich in einzelnen Teilen (zwangsläufig) mit diesen beiden Artikeln. Dort auch weitere Literaturangaben.
312
I.
Armin Raab
Die Haydn-Überlieferung
Die beiden Versuche einer Haydn-Gesamtausgabe ab 1907 bzw. 1950 scheiterten vor allem an ungesicherter Finanzierung. Doch wäre eine Fertigstellung auch sonst kaum durchführbar gewesen, weil in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch kein hinreichender Überblick über die komplexe Haydn-Überlieferung möglich war. (Für die erschienenen Bände spielte das keine Rolle, denn die Quellenlage der darin enthaltenen Werke ist relativ einfach.) Nur etwa ein Drittel von Haydns umfangreichem Schaffen ist durch autographe Partituren4 überliefert, der weit größere Teil ausschließlich durch Abschriften und Drucke, wobei zu unterscheiden ist zwischen authentischen und nicht-authentischen Quellen, also einerseits autornahen Abschriften und autorisierten Drucken (Originalausgaben, für die Haydn selbst die Stichvorlage lieferte), andererseits autorfernen Abschriften und Drucken, die ohne Verbindung zu Haydn und teils auch räumlich weit entfernt von seinen Wirkungsstätten entstanden. Für eine Edition sind bei der Mehrzahl der nicht autograph überlieferten Werke Kopistenabschriften die Hauptüberlieferungsträger. Erst für die späteren Werke spielen auch Originalausgaben eine Rolle. Rezeptionsgeschichtlich gesehen sind allerdings bei einzelnen Gattungen Drucke schon in Haydns frühen Jahren von essentieller Bedeutung. Die ersten Ausgaben erschienen zwar fern von Wien und beruhen auf Abschriften, die ohne Haydns Zutun Verbreitung fanden, trugen aber wesentlich dazu bei, ihn schon in jungen Jahren europaweit berühmt zu machen. Zu denken ist dabei vor allem an die Veröffentlichung der unter den Opuszahlen 1 und 25 bekannten frühen Streichquartette bei Louis-Balthazar de La Chevardière (1730–1812) in Paris und bei Johann Julius Hummel (1728–1798) in Amsterdam. „Schon seine ersten Quatros, welche um das Jahr 1760 bekannt wurden, machten allgemeine Sensation“, erinnerte sich der Lexikograph Ernst Ludwig Gerber (1746–1819) noch 1790.6 Erst nach 1780, als sich der Musikdruck auch in Wien etablierte, trat Haydn ____________ 4
5
6
Haydns Autographe – in aller Regel Partituren – sind Reinschriften mit vereinzelten kompositorischen Änderungen. Skizzen sind nur zu wenigen Werken erhalten; am umfangreichsten zum Oratorium Die Schöpfung, in Joseph Haydn Werke von Annette Oppermann als Faksimile mit Übertragung und Kommentar ediert (Reihe XXVIII, Bd. 3, München 2010). Alle Opuszahlen von Werken Haydns gehen nicht auf ihn, sondern auf Verleger zurück (wobei ein Werk, wenn es in mehreren Verlagen erschien, oft unterschiedliche Opuszahlen erhielt). Bei den Streichquartetten hat sich die Verwendung der Opuszahlen (in Anführungszeichen) eingebürgert, weil sie die Gliederung in Opera zu sechs Einzelwerken besser wiedergeben als die durchgehende Zählung Hobokens (vgl. Anthony van Hoboken, Joseph Haydn. Thematischbibliographisches Werkverzeichnis, Bd. 1–3, Mainz 1957, 1971, 1978). Ernst Ludwig Gerber, Artikel „Haydn“, in: Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler, Bd. 1, Leipzig 1790, Sp. 611.
Editionen der Werke Joseph Haydns
313
selbst mit Verlegern in Verbindung. Dabei verkaufte er seine Werke nach Möglichkeit parallel nach Wien, Paris und London. Die beiden wesentlichen Probleme der Überlieferung resultieren daraus, dass Haydn der wohl berühmteste Komponist seiner Zeit war. Zum einen ist wegen der weiten Verbreitung seiner Werke die Zahl der Quellen, vor allem der abschriftlichen, oftmals kaum zu überblicken. Zum anderen wurden ihm schon zu Lebzeiten viele Kompositionen fälschlich zugeschrieben – teils guten Glaubens, teils mit voller Absicht, da sie sich unter seinem Namen besser verkaufen ließen. So wurden nach heutigem Erkenntnisstand 80 Streichquartette und 184 Sinfonien zu Unrecht unter Haydns Namen in Umlauf gebracht; bei den Messen gibt es sogar über zweihundert mit der unzutreffenden Etikettierung „Haydn“ (die sich allerdings vereinzelt auf seinen jüngeren, insbesondere als Komponisten von Kirchenmusik angesehenen Bruder Michael bezieht). Erste Schneisen in dieses Dickicht der Überlieferung schlug der dänische Haydn-Forscher Jens Peter Larsen 1939 mit seiner epochemachenden Dissertation7 und 1941 mit der Faksimile-Ausgabe von Haydns Werkkatalogen, die ein zentrales Instrument der Echtheitskritik sind.8 Für den ersten dieser Kataloge, den Haydn ab 1765 führte, hat sich in der Haydn-Forschung die Bezeichnung „Entwurf-Katalog“ eingebürgert, für den zweiten, 1805 von Haydns Diener und persönlichem Hauptkopisten Johann Elßler angelegt, der Name „HaydnVerzeichnis“.9 (Anschaulicher ist der originale Titel, der gleichsam eine der Ursachen für das Dilemma der Fehlzuschreibungen andeutet: „Verzeichniß / aller derjenigen Compositionen welche / ich mich beyläufig erinnere von mei- / nem 18ten bis in das 73ste Jahr / verfertiget zu haben.“) Larsen lenkte in seinen Publikationen den Blick auf die Provenienz der Quellen. Ob eine Abschrift aus Haydns Umkreis stammt oder aus Norddeutschland, ob ein Druck in Wien gleichsam unter seinen Augen herauskam oder beispielsweise in Amsterdam, kann entscheidend für die Glaubwürdigkeit nicht nur des Notentextes, sondern sogar der Autorschaft sein. So sind in der Tat einige der berühmtesten „unechten“ Werke in räumlich weiter Entfernung zuerst aufgetaucht (und vermutlich auch entstanden). Beispielsweise kamen die sechs Streichquartette „Opus 3“ (mit der bis heute beliebten „Serenade“, dem langsamen Satz von op. 3 Nr. 5) durch einen Druck von Antoine Bailleux ____________ 7 8
9
Jens Peter Larsen, Die Haydn-Überlieferung, Kopenhagen 1939. Drei Haydn Kataloge in Faksimile. Mit Einleitung und ergänzenden Themenverzeichnissen, hrsg. von Jens Peter Larsen, Kopenhagen 1941; Neuausgabe: Three Haydn catalogues / Drei Haydn Kataloge. Second Facsimile Edition with a Survey of Haydn’s Œuvre (= Thematic Catalogues, hrsg. von Eleanor McCrickard, Bd. 4), New York 1979. In die Faksimile-Ausgabe ist zudem das Verzeichnis der Sammlung des mit Haydn befreundeten Franz Bernhard Ritter von Keeß aufgenommen.
314
Armin Raab
(um 1720 bis um 1798) in Paris ans Licht, die sechs Divertimenti Hob. III:41– 46, deren letztem Johannes Brahms das Thema seiner Variationen über ein Thema von Joseph Haydn entnahm, durch eine singuläre Abschrift aus Zittau, die sich heute in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden befindet. Mit Larsen hielten zudem Papieruntersuchungen (insbesondere die Klassifizierung von Wasserzeichen) und die Identifizierung von Schreiberhänden Einzug in die Haydn-Forschung. Was allerdings noch fehlte, um seine Erkenntnisse für eine Gesamtausgabe fruchtbar zu machen, war eine systematische Erfassung aller weltweit verstreuten Haydn-Quellen.
II.
Œuvres complètes
Dass es bis ins 21. Jahrhundert dauerte, ehe eine Haydn-Gesamtausgabe fertiggestellt werden konnte, ist umso erstaunlicher, als es schon zu Lebzeiten des Komponisten mehrere als „Gesamtausgaben“ bezeichnete Reihen gab. Sie beschränkten sich allerdings auf merkantil vielversprechende Teilbereiche seines Schaffens.10 1.
Breitkopf & Härtel
Im Juni 1799 kündigte der Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel eine „vollständige, geschmackvolle und äußerst wohlfeile Ausgabe der sämmtlichen Werke“ Haydns an – mit der Einschränkung, dass es eine Veröffentlichung „vorerst seiner Klavierkompositionen“ sein würde.11 Das erste Heft sollte noch im gleichen Sommer erscheinen. Bis 1806 kamen dann insgesamt zwölf Cahiers dieser Oeuvres de J. Haydn (so der Umschlagtitel) bzw. Oeuvres Complettes de Joseph Haydn (so die Titelkupfer) heraus; sie enthalten Klaviertrios, Klaviersonaten, Klavierstücke, Lieder sowie mehrstimmige Gesänge mit Klavierbegleitung, dazu vereinzelt fremde Bearbeitungen wie die Klaviersonaten Hob. XVI:24–26 mit hinzugesetzter Violinstimme. Haydn nahm Anteil an dem Projekt12 und sah Listen mit Incipits der zur Veröffentlichung vorgesehenen Werke durch, um deren Echtheit zu bestätigen. In einem Vorwort zu Cahier I versicherte er, dafür zu sorgen, „dass in diese Sammlung nichts aufgenommen ____________ 10
11 12
Die folgende Übersicht nach Materialien des Joseph Haydn-Instituts und den Angaben bei Hoboken, Joseph Haydn (wie Anm. 5; zu den Sammelausgaben vgl. vor allem Bd. 3). – Vgl. auch Armin Raab, Überlieferung, Textkritik und Edition der Werke Joseph Haydns, in: editio 18 (2004), S. 89–103. Allgemeine Musikalische Zeitung 1 (1799), Intelligenz-Blatt 14, Sp. 69. Näheres bei Hermann von Hase, Joseph Haydn und Breitkopf & Härtel. Ein Rückblick bei der Veranstaltung der ersten vollständigen Gesamtausgabe seiner Werke, Leipzig 1909, S. 16–19.
Editionen der Werke Joseph Haydns
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werde, was bisher unrechtmäßig meinen Namen geführt hat“. Die Notentexte überprüfte er nicht, stellte aber einzelne Vorlagen zur Verfügung (so ist die Veröffentlichung der Mehrstimmigen Gesänge Hob. XXVb:1–4, XXVc:1–9 in Cahier VIII eine Originalausgabe). Muster für die Oeuvres Complettes de Joseph Haydn waren, worauf in der Vorankündigung eigens hingewiesen wurde, die im selben Verlag ab 1799 veröffentlichten Oeuvres Complettes de Wolfgang Amadeus Mozart, die es auf 47 Hefte mit über 200 Kompositionen brachten. Auch hier waren als Serie I die „Klaviersachen“ erschienen, bald folgten in den Serien II und III Vokalwerke, Sinfonien und Kammermusik. Eine solche Erweiterung wurde auch bei der Haydn-Ausgabe begonnen: In derselben Aufmachung wie die Oeuvres Complettes de Joseph Haydn (Querformat; Typendruck) brachte das Leipziger Verlagshaus ab 1802 sieben (vorwiegend späte) Messen Haydns in Partitur heraus (sechs Bände bis 1808, einen siebten Band erst 1823). Einzelne Exemplare dieser Partituren sind mit einem Umschlag überliefert, der den Sammeltitel Oeuvre de J. Haydn trägt.13 Einige der Messen-Partituren sind Originalausgaben, das gilt auch für manche der weiteren in diesen Jahren bei Breitkopf & Härtel gedruckten späten Vokalwerke Haydns. Mehrere davon erschienen parallel als Partitur und als Klavierauszug, die meisten mit einer zusätzlichen Textunterlegung. Den Anfang machten 1801 und 1802 die Originalausgaben der Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze und des Oratoriums Die Jahreszeiten – erstere erweitert um einen italienischen Text, letztere um einen französischen bzw. einen englischen (zwei parallele Ausgaben). Es folgten das Te Deum (lateinisch und deutsch) und der Chorsatz Der Sturm (deutsch und italienisch). 1803 erwarben Breitkopf & Härtel von Haydn die Druckplatten der Schöpfung (die er zunächst in Wien im Selbstverlag veröffentlicht hatte) für eine Titelauflage.14 1803 und 1804 kam eine Auswahlausgabe mit einigen von Haydns zahlreichen Bearbeitungen schottischer Volkslieder heraus.15 Haydns letzte Oper, Orfeo ed Euridice, wurde 1806 als Klavierauszug (mit italienischem und deutschem Text) und im folgenden Jahr als Partitur (italienisch) herausgegeben; das war besonders ungewöhnlich, denn Opern wurden zu dieser Zeit normalerweise nicht gedruckt. 1809 folgte mit lateinischem und deutschem Text der Chor ____________ 13
14 15
Siehe die Exemplarbeschreibungen von Karin Breitner, Katalog der Sammlung Anthony van Hoboken in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Bd. 9: Joseph Haydn. Vokalmusik (Hob. XX/2–XXXI), Tutzing 1991, S. 30, 32, 34 und 38, Einträge 1432, 1435, 1441, 1443 und 1445. Im Werkverzeichnis hat Hoboken die sieben Bände unter den „Collections“ verzeichnet; vgl. Hoboken, Joseph Haydn (wie Anm. 5), Bd. 3, S. 58. In diesem Fall hatte schon die von Haydn selbst organisierte Erstausgabe einen zusätzlichen englischen Text. Unterlegt sind deutsche Übersetzungen; die originalen englischen Texte sind jedoch separat abgedruckt.
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Armin Raab
Insanae et Vanae Curae / Des Staubes eitle Sorgen, eine geistliche Kontrafaktur des Sturmchors aus dem Oratorium Il Ritorno di Tobia. Nach Haydns Tod kamen 1810 noch zwei Sammlungen von geistlichen und weltlichen Kanons hinzu. All diese Veröffentlichungen sind Georg August Griesinger (1769– 1845) zu verdanken, der seit 1799 als Mittelsmann für Breitkopf & Härtel in Wien wirkte. Seine Briefe an den Verlag, in denen er regelmäßig von den Begegnungen mit Haydn berichtete, sind eine wichtige Quelle der Forschung.16 Griesinger wurde Haydns erster Biograph; die von Breitkopf & Härtel 1810 zunächst in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung und noch im gleichen Jahr in Buchform gedruckten Biographischen Notizen über Joseph Haydn sind offenbar gezielt als flankierende Maßnahme zu den Notenausgaben konzipiert. Auch die einzige Originalausgabe eines Haydn’schen Instrumentalwerks verdankt der Verlag Griesingers Initiative: Er überredete Haydn, die beiden Sätze des unvollendeten Streichquartetts „op. 103“ 1806 zur Veröffentlichung freizugeben. Neben den von Griesinger vermittelten Ausgaben später Werke erschienen bei Breitkopf & Härtel als Nachdrucke u. a. 1803 das schon 1767 komponierte Stabat mater und 1806–1808 sechs der Londoner Sinfonien (Hob. I: 93, 94, 99, 101, 103 und 104), ebenfalls jeweils in Partitur. Anders als bei jenen Ausgaben, für die Haydn selbst Vorlagen zur Verfügung stellte, sind die Partituren der Sinfonien Spartierungen, also nach Stimmensätzen erstellt, die abschriftlich oder als Druck im Handel waren. 2.
Lehmann
Bereits einige Wochen vor Breitkopf & Härtel hatte ein anderer Leipziger Verleger „Haydns Werke in einer vollständigen Ausgabe“ angekündigt.17 (In der oben zitierten Vorankündigung von Breitkopf & Härtel wird daher eigens vor einer Verwechslung mit diesem Konkurrenzunternehmen gewarnt.) Allerdings kamen die Oeuvres de J. Haydn von Christian Friedrich Lehmann über fünf Bände mit Werken für Klavier nicht hinaus. Jedes dieser 1799 bis 1801 erschienenen Cahiers besteht aus drei Heften, von denen in Cahier I–IV jeweils das erste Heft drei Klaviersonaten, das zweite ein Klavierstück bzw. eine Variationenreihe (in Cahier IV die umfangreichere Sonate Hob. XVI:49) und das dritte drei (in Cahier IV zwei) Klaviertrios enthält. In den drei Heften des Ca____________ 16
17
Das nur fragmentarisch überlieferte Material ist am umfassendsten ediert bei Otto Biba (Hrsg.), „Eben komme ich von Haydn …“. Georg August Griesingers Korrespondenz mit Joseph Haydns Verleger Breitkopf & Härtel 1799–1819, Zürich 1987. Allgemeine Literatur-Zeitung 15 (1799), Nr. 40, Intelligenzblatt vom 30. März 1799, S. 318; zitiert nach Hoboken, Joseph Haydn (wie Anm. 5), Bd. 3, S. 55.
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hier V finden sich Lieder.18 Angeblich hatte Lehmann sich um Mitwirkung Haydns bemüht, von ihm jedoch keine Antwort erhalten.19 3.
Pleyel
Für einen völlig anders gearteten Markt, nämlich die Musikmetropole Paris, eine Hochburg des Musikverlagswesens, konzipierte Haydns Schüler Ignaz Pleyel (1757–1831) seine Sammelausgaben. Als Komponist ebenso erfolgreich wie sein ehemaliger Lehrer, hatte er den Musikverlag ursprünglich gegründet, um seine eigenen Werke besser vermarkten und sich gegen Fehlzuschreibungen schützen zu können.20 1801/1802 brachte Pleyel die sechsbändige Collection complette des Sonates de Piano d’Haydn heraus, ebenfalls mit Klaviersonaten, Klaviertrios und Klavierstücken. Weit größere Bedeutung erlangte seine Collection complette des quatuors d’Haydn in Stimmen, veröffentlicht 1801 in erster Auflage mit 80 Quartetten, 1802/1803 in einer zweiten mit 82 (erweitert um die mittlerweile erschienenen beiden Quartette „Opus 77“ Hob. III:81 und 82) und schließlich 1806 als Auflage mit 83 Quartetten (erweitert um das fragmentarische „Opus 103“ Hob. III:83). Die Ausgabe wurde nicht nur wegen der persönlichen Verbindung zwischen Autor und Verleger lange als authentisch angesehen und wirkte kanonbildend – zum einen, weil Pleyel im beigefügten Catalogue thématique de tous les quatuors d’Haydn (unzutreffenderweise) angibt, dieser sei von Haydn durchgesehen und chronologisch geordnet worden („avoués par l’Auteur et classés selon l’ordre dans lequel ils ont paru“), zum andern, weil Elßler diese Liste 1805 beim Ausschreiben des entsprechenden Abschnitts im „Haydn-Verzeichnis“ als Vorlage benutzte. So wurden die in der Sammlung Pleyels enthaltenen sechs unechten Quartette des „Opus 3“, die fremden Bearbeitungen Hob. III:9 und 11 (ursprünglich Divertimenti für vier Streicher und zwei Hörner Hob. II:21 und 22) und das Arrangement der Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze21 gleichsam von Haydn passiv autorisiert. (Die Erkenntnis, dass Haydn nicht 83, sondern 68 Streichquartette geschrieben hat, setzte sich erst mit der Gesamtausgabe des JosephHaydn-Instituts allmählich durch.) Richtungweisend waren die von Pleyel etablierten Taschenpartituren mit Werken verschiedener Komponisten, darunter zwei Reihen mit Werken ____________ 18 19 20 21
Ebd., S. 56. Hase, Haydn und Breitkopf & Härtel (wie Anm. 12), S. 19. Rita Benton, Pleyel as Music Publisher. A Documentary Sourcebook of Early 19th-Century Music, Stuyvesant 1990, S. XIII. Dieses erschien parallel zur originalen Orchesterfassung 1787 bei Artaria und stammt wohl von Haydn selbst. Es ist aber von der Faktur her kein echtes Streichquartett. Mit gutem Grund wurde es später bei Artaria nicht in die Sammelausgabe der Quartette aufgenommen (s. u.).
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Haydns. Die Oeuvres d’Haydn en Partitions / Simphonies enthielten vier der Londoner Sinfonien, die Œuvres d’Haydn en Partitions / Quatuors 30 Streichquartette. Es handelt sich dabei durchweg um Spartierungen von Stimmen, die in Drucken oder Abschriften aus Kopistenbüros auf dem Markt waren. Sie waren nicht für Aufführungen (die im Falle der Sinfonien weiterhin vom Konzertmeister unter Benutzung einer mit Stichnoten versehenen Direktionsstimme geleitet wurden), sondern zum Studium der Werke gedacht, wie Griesinger am 23. Oktober 1802 nach Leipzig berichtet: „Pleyel hat eine sehr elegante Taschenausgabe in 8vo von Haydns Quartetten veranstaltet. Zu welchem Zweke glauben Sie wohl? Die Dilettanten und Kenner steken sie zu sich und lesen in den Concerten nach.“22 Haydn lobte die Ausgabe seines Schülers außerordentlich: „einen neuen beweiß deines Fleißes erhielte ich vor kurzem […] mit 3 quartetten und einer Sinfonia in Es in taschen format, schöneres und prächtigeres kan man nicht mehr sehen, der himmel belohne deine bemühungen, du vergrösserst dadurch mein und dein Musicalisches Talent!“23 Parallel zu Pleyel veröffentlichte auch der Pariser Verleger Pierre Le Duc (1755–1826) Partituren von Sinfonien Haydns. Seine Sammlung Partition Des Symphonies d’Haydn Ouvrage Proposé par Souscription, eröffnet 1801 mit Sinfonie Hob. I:57, brachte es auf immerhin 27 Nummern.
III.
Weitere Sammelausgaben bis zum Ende des 19. Jahrhunderts
Im Laufe des 19. Jahrhunderts reduzierte sich die Rezeption der Musik Haydns auf wenige Gattungen oder gar einzelne Werke: eine kleine Gruppe von Sinfonien (insbesondere die zwölf Londoner, teils auch die sechs Pariser Sinfonien, die alle seit den Erstausgaben kontinuierlich nachgedruckt worden waren), sämtliche (!) Streichquartette, einzelne Klaviersonaten (nicht zuletzt für Unterrichtszwecke) und schließlich die zwei Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten. Von den Sinfonien hatten mehrere Verlage bereits zu Haydns Lebzeiten Sammlungen in Stimmen begonnen, die zunächst noch ein breites Spektrum – einschließlich früherer Werke – abdeckten. Beim Verlag Artaria in Wien erschienen ab 1785 28 Sinfonien, bei John Bland (um 1750 bis um 1840) in London ab 1782 12 Sinfonien, bei William Forster (1739–1808) ebenda in un____________ 22 23
Biba (Hrsg.), „Eben komme ich von Haydn …“ (wie Anm. 16), S. 169. Joseph Haydn. Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen. Unter Benützung der Quellensammlung von H. C. Robbins Landon hrsg. von Dénes Bartha, Kassel [u. a.] 1965, S. 415.
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terschiedlichen Sammlungen insgesamt 37, bei Jean-Georges Sieber (1738– 1822) in Paris 53 und bei Nikolaus Simrock (1751–1832) in Bonn 37. Auch die erwähnten frühen Partituren von Le Duc weisen noch eine hohe Bandbreite des Repertoires auf, ebenso wie die Partitur-Sammlung A Compleat Collection of Haydn, Mozart, and Beethoven’s Symphonies von Cianchettini e Sperati in London, die Hob. I:91, 69, 92, 83, 41, 85, 70, 45, 66, 44, 57, 51, 90, Ia:14, 53, 64, 71 und 75 enthält. Für die weitere Entwicklung mit ihrer Verengung des Repertoires auf die späten Werke aber sind Veröffentlichungen bezeichnend wie die der Partituren von zehn Londoner Sinfonien zuzüglich Hob. I:85 und 88 bei Bote & Bock in Berlin 1839. Breitkopf & Härtel brachten 1854 eine Neuausgabe der 1806– 1808 gedruckten Partituren von sechs Londoner Sinfonien heraus und ergänzten ab dem folgenden Jahr die noch fehlenden sechs Londoner Sinfonien (außerdem Hob. I:86 und 88), schließlich gegen Ende des Jahrhunderts Hob. I:82, 85, 92 und als einziges früheres Werk Hob. I:45, die damals längst berühmte Abschiedssinfonie. Da ist es wohl als bewusste Repertoire-Erweiterung anzusehen, wenn der Verlag Rieter-Biedermann (Winterthur und Leipzig) in den 1870er Jahren die Ausgabe Sinfonien von Joseph Haydn. Revidirt von Franz Wüllner herausbrachte, die mit Hob. I:46, 92, 90, 84, 73 und 78 keine einzige der Londoner und nur eine der Pariser Sinfonien enthält. Eine Sonderstellung in der Rezeption nehmen die Streichquartette ein: Sie waren schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts in mehreren Sammlungen im Wesentlichen vollständig (als Stimmendrucke) verfügbar. Diese „Gesamtausgaben“ wurden möglich, weil auch die einzelnen Quartett-Opera schon früh gedruckt vorlagen, die ersten fünf Werkgruppen in Ausgaben, die auf kursierenden Abschriften beruhten, ab den sechs Quartetten „Opus 33“ dann in von Haydn selbst veranlassten Originalausgaben. (In jedem Fall folgten den Erstausgaben zahlreiche Nachdrucke.) Die beiden vermutlich kurz nach Haydns Tod erstellten Quartett-Sammelausgaben von Artaria und Jean-Jérôme Imbault (1753– 1832) beginnen mit den ersten „eigentlichen“ Streichquartetten „Opus 9“. Die fünfsätzigen Quartettdivertimenti aus den 1750er Jahren sind weggelassen, ebenso das Arrangement der Sieben letzten Worte. Somit kommt Artaria auf 58, Imbault auf 56 Quartette (gegenüber Artaria ohne das Einzelquartett „Opus 42“ und ohne das fragmentarische „Opus 103“). Durchgesetzt aber hat sich der (wie oben erläutert teils fragwürdige) „große“ Kanon mit den 83 Quartetten, wie man ihn schon zu Haydns Lebzeiten bei Pleyel (s. o.), um ein Quartett erweitert bei Sieber24 und schließlich im 1800 ____________ 24
Zuzüglich des frühen Quartettdivertimentos, das Hoboken als Divertimento unter Hob. II:6 eingeordnet hat und das später von der Forschung „op. 1 Nr. 0“ getauft wurde.
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von Franz Anton Hoffmeister (1754–1812) und Ambrosius Kühnel (um 1770 bis 1812) gegründeten Bureau de musique findet.25 In letzterem allerdings wuchs der Bestand erst allmählich: Ab 1802 erschienen zunächst die eigentlichen Quartette; erst nachdem Carl Friedrich Peters (1779–1827) den Verlag übernommen hatte, wurden die frühen Divertimenti, das unechte „Opus 3“ und die Sieben letzten Worte hinzugefügt, so dass die Ausgabe schließlich 1840 die bekannte Anzahl von 83 Quartetten erreichte. Diese Ausgabe hat wesentlich den Werkbestand gefestigt, zumal auf ihr die erste „vollständige“ Partiturausgabe 1840–1845 im Verlag Trautwein, die bis heute weit verbreitete PetersStimmenausgabe26 und die (in verschiedenen Neuauflagen mehrfach redigierten) Eulenburg-Taschenpartituren beruhen. Auch in anderen Gattungen spielte der Verlag C. F. Peters gegen Ende des 19. Jahrhunderts für die Haydn-Pflege eine besondere Rolle, etwa durch die von Alfred Dörffel (1821–1905) herausgegebenen Lieder sowie den Band Violinsonaten, der neben Haydns einzigem Werk in der Besetzung Klavier und Violine (im Werkverzeichnis Hobokens als Klaviertrio Hob. XV:32 eingeordnet) fremde Bearbeitungen aus Haydns Zeit von Klaviersonaten und den Streichquartetten enthält.27 (Aufgrund dieser Ausgabe ist der Irrtum, Haydn habe eine Reihe von Violinsonaten geschrieben, bis heute – verständlicherweise vor allem unter Geigern – verbreitet.) Schöpfung und Jahreszeiten wurden von Anfang an durch gedruckte Partituren verbreitet. Dabei hatte die Schöpfung (in Haydns Selbstverlag bzw. der Titelauflage von Breitkopf & Härtel) in Paris Konkurrenz durch die 1800 bzw. 1801 erschienenen Ausgaben von Sébastien Érard (1752–1831) und von Pleyel, auch wenn diese das Werk in bearbeiteter Form (mit französischem bzw. mit französischem und italienischem Text) enthalten. Für die Originalausgabe der Jahreszeiten konnten Breitkopf & Härtel eine solche Situation verhin____________ 25
26
27
Verlagsgeschichte und Verlagsangaben sind recht kompliziert. Die ersten Stimmenhefte erschienen mit der Angabe „à Vienne, chez Hoffmeister et Comp. / à Leipzig, au Bureau de musique“, spätere dann nur unter „à Leipzig, au Bureau de musique“, „à Leipzig, au Bureau de musique / d’A. Kühnel“, „à Leipzig chez A. Kühnel, / Bureau de musique“ und schließlich „Leipzig, au Bureau de musique de C. F. Peters“ (vgl. Hoboken, Joseph Haydn [wie Anm. 5], Bd. 3, S. 44f.). Spätere Auflagen der älteren Hefte erhielten eine aktualisierte Verlagsangabe. Joseph Haydn. Sämtliche 83 Quartette. Bd. 1 und 2: 30 berühmte Quartette, Bd. 3: Quartette 31–50, Bd. 4: Quartette 51–83, Frankfurt [u. a.] o. J. (erschienen in diversen Auflagen mit wechselnden Verlagsorten). Joseph Haydn. Sonaten für Violine und Klavier, Edition Peters Nr. 190 (Hob. XV:32, Hob. XVI:24, 25, 26, 43, 15, Hob. III:82, 81). Später kam im selben Verlag eine „Neue Ausgabe“ an Violinsonaten heraus, die neben den bereits in der alten Ausgabe erschienenen Hob. XV:32 und XVI:43 die drei Klaviertrios Hob. XV:17, 31 und 38 – beruhend auf zeitgenössischen Ausgaben ohne Violoncellostimme – enthält (Joseph Haydn. Sonaten für Violine und Klavier, hrsg. von Karl-Heinz Köhler, Leipzig 1962, Edition Peters Nr. 9017).
Editionen der Werke Joseph Haydns
321
dern.28 Durchgesetzt haben sich bei beiden Oratorien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die Breitkopf- und die Peters-Partituren auf Basis der Originalausgaben.
IV.
Zwei Ansätze zu einer historisch-kritischen Ausgabe
Breitkopf & Härtel hatten durch die Oeuvres Complettes und den Druck zahlreicher Partituren vor allem von Vokalwerken Haydns in den Jahren nach 1800 Pionierarbeit geleistet. Zudem war das Leipziger Verlagshaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum führenden „Gesamtausgaben-Verlag“ aufgestiegen, in dem u. a. die Werke Bachs, Beethovens, Mozarts und Schuberts in entsprechenden repräsentativen Editionen vorlagen. Somit erscheint es konsequent, dass hier der erste Versuch einer, wie es im Titel heißt, „kritisch durchgesehenen“ Haydn-Gesamtausgabe angesiedelt wurde. Aus einer Ankündigung, die der Verlag 1907 veröffentlichte,29 erfährt man, dass das Vorhaben eigentlich schon 1892 präsentiert werden sollte und dass dafür unter anderem Johannes Brahms seine „wärmste Fürsprache“ in Aussicht gestellt hatte. Doch nahmen die bibliographischen Vorarbeiten von Eusebius Mandyczewski, der für die Leitung gewonnen wurde, mehr Zeit in Anspruch als erwartet. Die Ankündigung zählt über zwanzig renommierte Persönlichkeiten auf, die ihre Mitarbeit zugesagt hatten, darunter die Musikwissenschaftler Guido Adler, Hermann Kretzschmar, Adolf Sandberger, Arnold Schering und Max Seiffert. Im Zusammenhang mit den elf bis 1933 erschienenen Bänden trat dann allerdings keiner der Genannten in Erscheinung. Die in Werkserien gegliederte Ausgabe wandte sich zunächst nicht etwa den in der Haydn-Rezeption nach damaligem Stand vernachlässigten Werken zu, sondern suchte die bereits etablierten Gattungen zu vervollständigen. Schon 1907 erschienen die ersten drei Bände der Serie 1 mit den Sinfonien Hob. I:1– 40. Die „textkritische Redaktion“30 oblag dem Dirigenten und Komponisten Felix von Weingartner (1863–1942). Nach einer längeren, auch kriegsbedingten Unterbrechung wurde die Ausgabe erst in den 1920er Jahren fortgesetzt. Karl Päsler (1863–1942) legte die drei Bände mit Klaviersonaten vor (Serie 14), ____________ 28
29 30
Der Verlagsvertrag verpflichtete Haydn, dafür zu sorgen, dass keine Abschriften in Umlauf kamen; Wiedergabe des Vertrags in Joseph Haydn. Die Jahreszeiten. Oratorium 1799–1801. Text von Gottfried van Swieten, hrsg. von Armin Raab, München 2007 (= Joseph Haydn Werke, Reihe XXVIII, Bd. 4), S. X. Durch Veröffentlichung der Originalausgabe in einer deutschfranzösischen und deutsch-englischen Fassung konnten Breitkopf & Härtel auch den internationalen Markt abdecken. Abgedruckt 1909 bei Hase, Haydn und Breitkopf & Härtel (wie Anm. 12), S. 61–63. So die Formulierung von Eusebius Mandyczewski im Vorwort des ersten Bandes, S. VIII.
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Mandyczewski die Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten (Serie 16), ersteres ediert ausschließlich nach der im Selbstverlag Haydns erschienenen Originalausgabe, letzteres sowohl nach der verlagsseitig stark bearbeiteten Leipziger Originalausgabe als auch nach dem von Haydn selbst benutzten Aufführungsmaterial, wie es an sich ebenso für die Schöpfung zur Verfügung gestanden hätte.31 1932 bzw. 1933 erschienen dann noch einmal zwei Bände: Max Friedlaender (1852–1934) gab die Lieder mit Klavierbegleitung heraus (Serie 20), der Leipziger Musikwissenschaftler Helmut Schultz (1904–1945), der nach dem Tod von Mandyczewski die Editionsleitung übernommen hatte, einen vierten Band mit Sinfonien (Hob. I:41–49). Die alte Gesamtausgabe ist qualitativ recht uneinheitlich. Namentlich die ersten drei Bände genügen „nicht den berechtigten Forderungen an eine kritische Ausgabe“.32 Hier war bereits die Quellenauswahl problematisch: Soweit nicht Autographe zur Verfügung standen, lautet die entsprechende Angabe im Revisionsbericht nämlich oftmals lapidar: „Partiturabschrift aus dem Besitz von Carl Ferdinand Pohl“. (Pohl, Vorgänger Mandyczewskis als Archivar der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, hatte im Zusammenhang mit der Arbeit an seiner großen Haydn-Monographie33 etliche Werke aus beliebigen, ihm zufällig zugänglichen Stimmenabschriften spartieren lassen.) Dennoch wurden diese frühen Bände forschungsgeschichtlich prägend, und zwar durch die drei thematischen Listen, die ihnen Mandyczewski beigab. Er unterschied dabei zwischen den (nach damaligem Kenntnisstand) 104 zweifelsfrei echten Werken einerseits und den „Symphonien, die fälschlich Joseph Haydn zugeschrieben werden“, sowie „zweifelhaften Symphonien“ andererseits. Die Liste der authentischen Sinfonien ist chronologisch geordnet, und zwar nach dem ersten Auftauchen in der Überlieferung (als „terminus ante quem“ für die Entstehung), die beiden anderen Listen nach Tonarten. Anthony van Hoboken über____________ 31
32
33
Es wird erst in den drei neuesten Ausgaben der Schöpfung berücksichtigt: Franz Joseph Haydn. Die Schöpfung / The Creation. Full Score / Partitur. A New Performing Edition Edited from the Composer’s Own Performance Materials by / Eine neue praktische Ausgabe, hrsg. von A. Peter Brown, Oxford [u. a.] 1995; Joseph Haydn. Die Schöpfung / The Creation. Oratorium für Solostimmen, Chor und Orchester / Oratorio for Solo Voices, Chorus and Orchestra. Hob. XXI:2, hrsg. von Klaus Burmeister, Frankfurt/Main [u. a.] 2003; Joseph Haydn. Die Schöpfung. Oratorium. 1798. Text von Gottfried van Swieten, hrsg. von Annette Oppermann (= Joseph Haydn Werke, Reihe XXVIII, Bd. 3), München 2008. So Jens Peter Larsen im Vorwort des ersten erschienenen Bandes der Ausgabe der Haydn Society (Serie I, Bd. 9), hrsg. von H. C. Robbins Landon, Boston [u. a.] 1950, S. III. (Dasselbe Vorwort ist auch abgedruckt in Serie XXIII, Bd. 1, Messen No. 1–4, hrsg. von Carl Maria Brand, Boston [u. a.] 1951.) Wenn Larsen dagegen Päslers Edition der Klaviersonaten als „eine in jeder Hinsicht gelungene Ausgabe“ einstuft, entspricht dies nicht der Bewertung, die diese Edition heute erfährt. Carl Ferdinand Pohl, Joseph Haydn, Bd. 1, Berlin 1875, Leipzig 21878; Bd. 2, Leipzig 1882, Bd. 3 (fertiggestellt von Hugo Botstiber), Leipzig 1927.
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nahm die chronologische Liste als Werkzählung in die Gruppe I seines Werkverzeichnisses (unter Hinzufügung der Sinfonia concertante als I:105 sowie erst später bekannt gewordener früherer Werke als I:106–108).34 Dies war eine problematische Entscheidung, denn notgedrungen gibt die Liste nur ansatzweise eine Werkchronologie wieder. (Da Hoboken die Einzelwerke in seinen Werkgruppen chronologisch anordnet, wird die Liste der Sinfonien von Benutzern des Verzeichnisses regelmäßig als streng chronologisch missverstanden.) So gehören z. B. die Nummern 37 und 72 zu den frühesten Sinfonien, während die Nummern 12 und 13 eher am Ende des ersten Drittels der Aufstellung ihren Platz haben sollten. Die späteren Bände der alten Gesamtausgabe sind von weit höherer Qualität. Als Indiz dafür mag man alleine schon den zunehmenden Umfang der Revisionsberichte und Vorworte ansehen. Dennoch wurden sie „in weitem Ausmaß als revisionsbedürftig“35 betrachtet. Die Gesamtausgabe der Haydn Society schloss zwar inhaltlich insofern an die alte Ausgabe an, als man nur Bände in Angriff nahm, die dort noch nicht erschienen waren. Dennoch, so hielt Jens Peter Larsen in seinem programmatischen Vorwort zur Reihe fest, „wurde es für richtig gehalten, unsere Gesamtausgabe nicht als eine Fortsetzung, sondern als eine neue vollständige Ausgabe anzulegen, die jedoch, nach Vereinbarung mit den Originalverlegern, einige wenige Bände der älteren Ausgabe übernehmen wird“.36 Dies waren zum einen die bereits von Schultz (der 1945 im Alter von 41 Jahren noch in den letzten Kriegstagen fiel) vorbereiteten Sinfonien Hob. I:50–57, zum anderen die von Carl Maria Brand edierten frühen Messen.37 Zwei Bände mit den sechs Pariser Sinfonien Hob. I:82–87 wurden für die Ausgabe von H. C. Robbins Landon neu erarbeitet. Ähnlich wie bei der alten Gesamtausgabe waren bereits weitere Bände in Vorbereitung, die dann später wiederum in das Nachfolgeprojekt integriert wurden. Im Subskriptionsaufruf der Haydn Society sind entsprechend die „wissenschaftlichen Bearbeiter“ den Werkgruppen zugeordnet (s. u.) – neben weiteren, deren Arbeit aber offenbar nicht vorankam. Im Planungskomitee findet man außer Larsen, Landon und Brand auch Friedrich Blume (1893–1975), eine zentrale Gestalt der deutschen Musikwissenschaft in den Nachkriegsjahren, Präsident der Gesellschaft für Musikforschung 1947–1962, Herausgeber der Enzyklopädie Die ____________ 34
35 36 37
Die unechten und die zweifelhaften Sinfonien stellte Hoboken ohne Differenzierung unter den unechten Werken zusammen, die sich ohne klare Grenzziehung an die echten Stücke anschließen. Larsen, Vorwort (wie Anm. 32), S. IV. Ebd. Brand war für diese Aufgabe ausgewählt worden, weil er sich in seiner 1935 eingereichten Dissertation (erschienen als Die Messen von Joseph Haydn, Würzburg-Aumühle 1941) als erster umfassend mit Haydns Vertonungen des Ordinarium missae beschäftigt hatte.
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Musik in Geschichte und Gegenwart. Durch Blume erhielt das überwiegend international angelegte Projekt auch eine gewichtige deutsche Komponente.
V.
Gesamtausgabe des Joseph Haydn-Instituts
An der Gründung des Joseph Haydn-Instituts 1955 war eine Reihe bedeutender Forscher beteiligt; einige davon hatten bereits an dem Projekt der Haydn Society mitgewirkt. Auf der Gründungsakte des Trägervereins finden sich die Unterschriften von Larsen, Hoboken (der damals schon seit etlichen Jahren an seinem Haydn-Werkverzeichnis arbeitete), Landon, Blume und dem Industriellen Günter Henle (1899–1979), der das neue Gesamtausgabenprojekt in seinen eben erst gegründeten Musikverlag aufnahm. Larsen wurde wissenschaftlicher Leiter des Instituts, Blume übernahm den Vorsitz des Trägervereins. Die Ansiedlung der Forschungseinrichtung in Köln, einem Ort, der in keinerlei Verbindung zur Biographie Haydns steht, war mehr oder weniger Zufall. Man hatte bei mehreren Kommunen angefragt und einzig von hier unverzüglich die Zusage für eine dauerhafte Unterstützung erhalten. Bis heute zahlt die Stadt die Miete für die Arbeitsräume. Das Institut wird (nach wechselnden Förderungsmodellen) derzeit aus Bundes- und Landesmitteln über die Union der deutschen Akademien der Wissenschaften finanziert; etwa zehn Prozent des Gesamthaushalts steuert die Republik Österreich bei. Aufgabe des Instituts sollte in einem ersten Schritt die Erfassung aller Haydn-Quellen sein. Zu diesem Zweck baute man zwei einander ergänzende Karteien auf – eine „Stammkartei“, geordnet nach Werken (echten wie fälschlich zugeschriebenen), und eine nach Bibliotheken bzw. nach Verlagen sortierte „Quellenkartei“. Auf den Stammkarten sind neben einigen Grundinformationen alle zum jeweiligen Werk bekannt gewordenen Quellen angeführt; zu jedem dieser Einträge existiert eine Quellenkarte mit weiteren Daten. Pionierarbeit als Betreuerin dieser Datensammlung leistete über viele Jahre Irmgard Becker-Glauch, die erste Wissenschaftlerin, die nach der Institutsgründung angestellt wurde. Für den Aufbau der Kartei in den Gründerjahren des Instituts waren zahlreiche, oft längere Reisen nötig, um das Material vor Ort zu sichten. Die Karteien werden bis heute laufend ergänzt; mittlerweile sind über 40.000 Karten zusammengekommen, die kürzlich für eine Quellendatenbank digital aufbereitet wurden. Für die Arbeit der Gesamtausgabe wurden bis heute über 370.000 Filmaufnahmen und Digitalisate der wichtigsten Quellen erworben. In der Institutsbibliothek wird zudem die gesamte Literatur zu Haydn gesammelt.
Editionen der Werke Joseph Haydns
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Bei Gründung des Instituts hatte man im Trägerverein noch die Vorstellung, dass sich die Arbeit auf das Sammeln und Bereitstellen des Materials sowie eine behutsame Redaktion der Editionen beschränken würde. Diese sollten nach Möglichkeit von etablierten Spezialisten erarbeitet werden. Tatsächlich konnten in den Anfangsjahren in rascher Folge mehrere Bände von externen Herausgebern erscheinen, die wohl teils bereits für die Ausgabe der Haydn Society vorbereitet worden waren (jedenfalls sind die Namen der Editoren im Subskriptionsaufruf jener Ausgabe schon den entsprechenden Werkgruppen zugeordnet). Das betrifft namentlich den zuerst erschienenen Band von Joseph Haydn Werke mit den Messen Nr. 5–8, für den Landon als Hauptherausgeber zeichnete,38 weiterhin die Bände mit Kanons (herausgegeben von Otto Erich Deutsch, XXXI, 1959), der Oper La canterina (Dénes Bartha, XXV/2, 1959), dem frühen Oratorium Il ritorno di Tobia (Ernst Fritz Schmid, XXVIII/1, 1961) und der ersten Folge der Bearbeitungen schottischer Volksliedmelodien (Karl Geiringer, XXXII/1, 1961). Bald aber zeigte sich, dass es oft sinnvoller war, die Edition von Bänden zur Gänze im Institut zu erstellen; entsprechend wurde die Zahl der Stellen auf drei, später sogar fünf hauptamtliche Wissenschaftler aufgestockt (allerdings wurde 1997 eine dieser Stellen wieder eingespart).39 Dementsprechend erschienen bereits früh auch intern erarbeitete Bände, etwa mit den Barytontrios (Hubert Unverricht, XIV/3 und 4, 1958) oder der Orchesterfassung der Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze (Unverricht, XXVIII/2, 1959). Doch konnte und wollte man auf die Kompetenz externer Herausgeber auch in den späteren Jahren nicht verzichten; über die Jahrzehnte waren insgesamt 54 interne wie externe Editoren am Projekt beteiligt. Wesentlichen Anteil an der Änderung des Konzepts hatte Georg Feder. Er kam 1958 als Assistent Larsens ans Institut, erarbeitete gemeinsam mit diesem die Editionsrichtlinien und wurde 1960 sein Nachfolger als wissenschaftlicher Leiter. Bis zu seinem Ruhestand 1990 prägte Feder die Gesamtausgabe. Schon früh sorgte er auch für einen entscheidenden inhaltlichen Kurswechsel, der besonders die Quellenbewertung betraf. Larsens Auswahl an Quellen für die Ausgabe der Haydn Society ebenso wie für die ab 1958 erscheinenden ersten Bände von Joseph Haydn Werke gründete primär auf der äußeren Beurteilung der Überlieferung, auf der räumlichen und zeitlichen Nähe der Quellen zu ____________ 38
39
Joseph Haydn. Messen Nr. 5–8, hrsg. von H. C. Robbins Landon in Verbindung mit Karl Heinz Füssl und Christa Landon (= Joseph Haydn Werke, Reihe XXIII, Bd. 2), München [u. a.] 1958. – Erst 1992 und 1999 wurde Brands Ausgabe der frühesten Messen durch Reihe XXIII, Bd. 1a/b in der neuen Gesamtausgabe ersetzt. Eine Zusammenstellung aller früheren wie heutigen Mitarbeiter findet man auf der Homepage des Joseph Haydn-Instituts (www.haydn-institut.de).
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Haydn. Larsen hatte beobachtet, dass sich autornahe Abschriften in bestimmten historischen Sammlungen finden, naturgemäß etwa bei den Musikalien aus dem Besitz von Haydns langjährigen Dienstherren, den Fürsten Esterházy (Széchényi Nationalbibliothek Budapest), aber auch in der Fürnberg-Sammlung (Schloss Keszthely, ebenfalls in Ungarn), ferner in bestimmten böhmischen und ungarischen Klosterbibliotheken. Die Auswahl primär nach Provenienz wurde in der Ausgabe der Haydn Society ebenso praktiziert wie bei vielen später in Konkurrenz zum Haydn-Institut entstandenen Editionen Landons – und gemessen am Verfahren der alten Gesamtausgabe zur Zeit Mandyczewskis war dies zweifellos ein Fortschritt. Doch Feder ging einen entscheidenden Schritt weiter. Zum wichtigsten Instrument für die Bewertung der Quellen wurde eine auf Basis von Leitfehlern erstellte Filiation. Die Provenienz blieb zwar ein Kriterium für die Auswahl der zu kollationierenden Quellen (aus in manchen Fällen über hundert, insbesondere Abschriften), deren Bedeutung für die Edition sich aber durch die Position im Stemma erweisen musste. Dabei kann die Filiation den Stellenwert von Abschriften relativieren, die man zunächst für hochrangig hätte halten können, weil sie von Kopisten aus Haydns Umkreis zu stammen schienen. (Inzwischen weiß man, dass einige dieser vermeintlich in Haydns Auftrag arbeitenden Schreiber Wiener Berufskopisten waren, die Abschriften kommerziell verbreiteten.) Die Filiation mündet in unterschiedliche editorische Verfahren, je nachdem, ob sich unter den verfügbaren Quellen ein Autograph oder eine autorisierte Abschrift, autornahe oder lediglich autorferne Quellen befinden. So kann der Edition eine einzige Quelle zu Grunde liegen, wenn beispielsweise alle weiteren von dieser abhängig sind oder falls – was bei Haydn allerdings äußerst selten vorkommt – tatsächlich nur eine Quelle vorhanden ist.40 In der Regel muss man jedoch selbst dann, wenn ein Autograph zur Verfügung steht, Abschriften oder Frühdrucke als Nebenquellen heranziehen. Diese können Ergänzungen und Änderungen überliefern, die Haydn etwa in Aufführungsstimmen oder in Stichvorlagen vornahm. Hat man gar von einem Werk ausschließlich autorferne Abschriften oder Drucke zur Verfügung, muss man für die Edition mehrere gleichberechtigte Quellen heranziehen, die sämtliche Hauptzweige des Stemmas repräsentieren.41 ____________ 40
41
Ein Beispiel ist das Violoncellokonzert C-Dur Hob. VIIb:1; es ist in einer einzigen Abschrift überliefert, die erst 1961 entdeckt wurde. Die Abschrift stammt nicht aus Haydns Umkreis, doch kann anhand des „Entwurf-Katalogs“ belegt werden, dass es sich um ein echtes Werk handelt. Dies wird im Detail in den Editionsrichtlinien der Ausgabe dargestellt, von denen zunächst mehrere interne Fassungen existierten, ehe sie 1967 sowie in einer aktualisierten Version 2000 in Sammelausgaben mit Richtlinien verschiedener Musikergesamtausgaben veröffentlicht wurden. Vgl. Editionsrichtlinien musikalischer Denkmäler und Gesamtausgaben, im Auftrag der
327
Editionen der Werke Joseph Haydns
Eine Konsequenz der diversen Verfahren ist die Einführung von zwei unterschiedlichen diakritischen Zeichen für Ergänzungen von Dynamik und Artikulationsbezeichnungen: Stammen sie aus Nebenquellen (oder, im Fall mehrerer gleichberechtigter Quellen, aus einer Minderheit der Quellen), stehen sie in runden Klammern; eckige Klammern kennzeichnen dagegen reine Herausgeberergänzungen. Ist die Hauptquelle ein Autograph oder eine andere authentische Partitur, werden zusätzlich noch spitze Klammern eingesetzt. Sie stehen auf der mittleren Linie eines Systems und zeigen an, dass die Stimme im entsprechenden Abschnitt in der Quelle nicht ausgeschrieben, sondern durch ein colla parte angewiesen ist (häufig etwa col Basso im System der Viola oder col Violino I in dem der zweiten Violine oder der Flöte). Wie bereits die beiden Vorgängerprojekte (und Gesamtausgaben generell) ist Joseph Haydn Werke in Werkreihen gegliedert. Dies entspricht dem Ordnungsprinzip des Hoboken-Verzeichnisses – allerdings stimmen die Gruppierungen (von Werkgruppe I abgesehen) nicht überein. Obwohl Hoboken zu den Gründern der Ausgabe gehörte, versuchte man offenbar nicht, sich auf eine gemeinsame Gliederung zu einigen.42 JHW
Werke
Hob.
I II III
Sinfonien (18 Bände, darunter ein Doppelband) Sinfonia concertante Konzerte für Streichinstrumente und für Blasinstrumente (3 Bände) Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze, Orchesterfassung Tänze und Märsche Concerti mit Orgelleiern Notturni mit Orgelleiern Mehrstimmige Divertimenti (2 Bände) Trios für Blas- und Streichinstrumente Streichduos Streichtrios (2 Bände)
I43 I:105 VIIa–g
IV V VI VII VIII IX X XI
XX/1 A VIII, IX VIIh II:25–32 II IV VI V
__________
42
43
Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Georg von Dadelsen (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 22), Kassel [u. a.] 1967, S. 81–98 bzw. Editionsrichtlinien Musik, hrsg. von Bernhard Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000, S. 123–143. Die Gruppierung von Joseph Haydn Werke beruht auf jener der Haydn-Society-Ausgabe. Hobokens Werkgliederung ist in vieler Hinsicht problematisch, was aber hier nicht näher erörtert werden kann. Die Werke aus Hobokens Gruppe Ia (Ouvertüren) sind in Joseph Haydn Werke teils der jeweiligen Oper zugeordnet, teils als Sinfonie identifiziert.
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Armin Raab
JHW
Werke
Hob.
XII XIII XIV XV XVI
Streichquartette (6 Bände) Werke mit Baryton Barytontrios (5 Bände) Konzerte für Tasteninstrumente (2 Bände) Concertini und Divertimenti für Klavier mit Begleitung Klaviertrios (3 Bände) Klaviersonaten (3 Bände) Klavierstücke / Werke für Klavier zu vier Händen Stücke für das Laufwerk Verschiedene Kirchenmusik (3 Bände)
III X, XII XI XVIII XIV
XVII XVIII XIX/XX XXI XXII XXIII XXIV XXV XXVI XXVII XXVIII XXIX XXX XXXI XXXII
Messen (6 Bände, darunter ein Doppelband) Deutsche Singspiele (2 Bände) Italienische Opern (13 Bände, darunter 3 Doppelbände und ein Dreifachband) Arien, Szenen und Ensembles mit Orchester (4 Bände) Kantaten, Chöre, Schauspielmusiken (3 Bände) Oratorien (4 Bände, darunter 2 Doppelbände und ein Dreifachband) Lieder und Gesänge mit Begleitung des Klaviers (2 Bände) Mehrstimmige Gesänge Kanons Volksliedbearbeitungen (5 Bände)
XV XVI XVII; XVIIa XIX XX, XXIIa–b, XXIII XXII XXIX XXVIII XXIVa, b, XXXIc XXX, XXIVa XX/2, XXI XXVIa XXV XXVII XXXI
Innerhalb der einzelnen Serien werden die Werke nach Möglichkeit chronologisch angeordnet. Dies erforderte vor allem für die Sinfonien grundlegende neue Forschungen.44 Die Liste von Mandyczewski bzw. Hoboken konnte alleine schon deswegen nur annähernd chronologisch sein, weil sich die Entstehungszeit vieler Sinfonien allenfalls vage bestimmen lässt. Die Gesamtausgabe trägt diesem Umstand Rechnung, indem sie Bänden mit exakt datierbaren Sinfonien (z. B. Band I/3, Sinfonien 1761–1763) solche mit Werken an die Seite stellt, die sich lediglich einem bestimmten Zeitraum zuordnen lassen (z. B. ____________ 44
Sonja Gerlach, Die chronologische Ordnung von Haydns Sinfonien zwischen 1774 und 1782, in: Haydn-Studien II/1 (1969), S. 34–66; dies., Joseph Haydns Sinfonien bis 1774. Studien zur Chronologie, in: Haydn-Studien VII/1–2 (1996), S. 1–287.
Editionen der Werke Joseph Haydns
329
Band I/2, Sinfonien um 1761–1765), wobei es zu zeitlichen Überschneidungen kommen kann. In den Vorworten und Kritischen Berichten 45 der Ausgabe wird der Echtheitsdiskussion viel Raum gegeben. So finden sich besonders in den Bänden mit Divertimenti (VIII/1 und 2), mit Tänzen und Märschen (V) und mit der zweiten Folge der Arien (XXVI/2) ausführliche Zusammenstellungen der Haydn in den entsprechenden Gattungen fälschlich zugeschriebenen Werke. Werke zweifelhafter Echtheit, bei denen die Autorschaft Haydns nicht ganz auszuschließen ist, werden im Anhang eines Bandes wiedergegeben.46 Insgesamt betrifft dies aber nur 42 (zudem oft kurze) Kompositionen – angesichts des Gesamtumfangs von Haydns Schaffen einerseits und der großen Anzahl von Fehlzuschreibungen andererseits eine sehr schmale Grauzone der Authentizität. Ziel der Ausgabe ist die Wiedergabe eines authentischen Notentextes – aber „mit den für notwendig erachteten Berichtigungen und Ergänzungen“, wie es in den Bemerkungen Zur Gestaltung der Ausgabe heißt, die jedem Band vorangestellt sind. Gemeint sind damit Modernisierungen der Notationsweise, etwa durch eine Partituranordnung, die der heute gebräuchlichen angenähert ist, die Verwendung von modernen Schlüsseln statt Sopran-, Alt- und Tenorschlüssel in den Singstimmen, Auflösung von Abbreviaturen und (diakritisch gekennzeichnete) Vervollständigung der Bezeichnung von Dynamik und Artikulation. Diese Vervollständigung erfolgt äußerst zurückhaltend, sie soll nicht die Klangintention, sondern die Schreibintention Haydns rekonstruieren. Folglich werden Parallelstellen nicht aneinander angeglichen; auch in der Partiturvertikalen werden etwa die von Haydn generell weniger bezeichneten Bläser nicht mechanisch an die Streicherstimmen angepasst, selbst wenn die Stimmführung identisch ist. In den frühen Jahren der Ausgabe verfuhr man mit Ergänzungen zunächst großzügiger. So wurde oft forte als Anfangsdynamik hinzugefügt – unnötigerweise, denn nach den aufführungspraktischen Gepflogenheiten des 18. Jahrhunderts ist automatisch forte zu spielen, wenn am Satzbeginn keine Dynamik vorgeschrieben wird.47 Fehler der Überlieferung, vor allem falsche Noten, werden berichtigt. Geschieht dies durch eine Emendation, wird diese nur im Kritischen Bericht er____________ 45 46
47
Die Kritischen Berichte wurden zunächst als separate Hefte in kleinerem Format publiziert; ab 1980 sind sie in den Notenband integriert. So in V: Tänze und Märsche, VIII/2: Bläserdivertimenti, IX: Trios für Blas- und Streichinstrumente, XV/2: Klavierkonzerte, XVI: Concertini und Divertimenti, XVII/1: Klaviertrios, XVIII/1: Klaviersonaten, XXI: Flötenuhrstücke, XXIII/1a: Messen. Ausnahmsweise sind zweifelhaften Werken auch ganze Bände gewidmet, so bei den Streichtrios (XI/2) und dem Singspiel Die Feuersbrunst (XXIV/3). Beispiele finden sich etwa in den Bänden I/4, I/6 und I/7.
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wähnt; bei Konjekturen weisen in den neueren Bänden der Ausgabe zusätzlich Fußnoten beim Notentext auf den Quellenbefund hin. Im Fall einer nicht lösbaren Crux – wenn sich etwa für offenkundig falsche Töne keine klare Verbesserung finden lässt – werden in einer Fußnote musikalisch mögliche Alternativen vorgeschlagen. Notwendig sind solche Eingriffe, weil Joseph Haydn Werke – wie alle Mitte des 20. Jahrhunderts gestarteten Komponisten-Gesamtausgaben – den Anspruch erhebt, Wissenschaft und Praxis gleichermaßen zu dienen, der edierte Notentext also unmittelbar aufführungstauglich sein muss. Dies bedingte eine Reihe von Kompromissen, die man heute so nicht mehr eingehen würde, denn es haben sich nicht nur die Ansprüche an eine Edition, sondern auch die Bedürfnisse der Praxis verändert. (So wird von Musikern, die an historischer Aufführungspraxis interessiert sind, mittlerweile oft die historische Partituranordnung mit Blechbläsern und Pauken in den obersten Systemen statt in der Mitte einer Akkolade gewünscht.) Für die Vermittlung an die Musikpraxis spielen die sogenannten praktischen Ausgaben eine wichtige Rolle, die ohne (oder mit reduziertem) kritischen Apparat und im Falle der Werke mit Klavier mit Fingersätzen erscheinen, ansonsten aber den Notentext der Gesamtausgabe unverändert wiedergeben.48 Praktische Ausgaben von Klavierwerken und Stimmen der Streichquartette bringt der G. Henle Verlag selbst heraus, Aufführungsmaterial von Orchester- und großbesetzten Vokalwerken erscheint auf Basis eines Lizenzvertrages beim Bärenreiter-Verlag in Kassel. Dort kamen auch Taschenpartituren von Streichquartetten und einzelnen Sinfonien heraus, dazu in etwas größerem Format Studienpartituren von einzelnen Konzerten und von den Messen. Mittlerweile baut der Henle-Verlag eine eigene Studien-Edition auf, in der (teils als Ersatz der inzwischen vergriffenen Bärenreiter-Taschenpartituren) bisher u. a. die Klaviersonaten, Streichquartette und Oratorien erschienen sind. Zum Aufführungsmaterial der Vokalwerke bei Bärenreiter gehören neben Dirigierpartituren und Stimmen auch Klavierauszüge. In den italienischen Opern wird dabei zusätzlich ein sangbarer deutscher Text unterlegt. – Eine Reihe von Werken ist erst durch Joseph Haydn Werke vollständig zugänglich geworden, neben den Opern insbesondere die 126 Barytontrios und die mehr als 400 Volksliedbearbeitungen. Neben der Gesamtausgabe gibt das Haydn-Institut seit 1965 in unregelmäßiger Abfolge auch die Haydn-Studien heraus. Die Schriftenreihe versammelt Aufsätze zu quellenkundlichen und werkgeschichtlichen Fragen ebenso wie zum Kontext von Haydns Schaffen. Hier erscheinen auch eine Haydn-Biblio____________ 48
Einen aktuellen Überblick über das Aufführungsmaterial zu den Gesamtausgabenbänden findet man auf der Homepage des Haydn-Instituts (www.haydn-institut.de).
Editionen der Werke Joseph Haydns
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graphie (bislang fünf Folgen) und Berichte über vom Institut (mit-)veranstaltete Kongresse.
VI.
Konkurrierende Editionen
Joseph Haydns Musik ist im heutigen Musikleben keineswegs primär durch die historisch-kritische Ausgabe des Haydn-Instituts vertreten. Etliche der im Handel erhältlichen Sammel- wie Einzelausgaben gehen nach wie vor auf Veröffentlichungen aus dem 19. Jahrhundert oder der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Darüber hinaus entstanden aber auch parallel zu Joseph Haydn Werke mehrere neuere „Gesamtausgaben“ einzelner Gattungen, namentlich von Streichquartetten, Sinfonien, Klavierwerken und Messen – eine verblüffende Parallele zur Situation um 1800. Viele dieser Ausgaben sind H. C. Robbins Landon zu verdanken. Seine Verdienste als Haydn-Forscher sind vielfältig: Gründer der Haydn Society, Gründungsmitglied des Joseph Haydn-Instituts, Verfasser einer umfangreichen Monographie zu den Sinfonien,49 Herausgeber der Briefe Haydns 1959 in englischer Übersetzung (die von ihm dafür zusammengetragene Materialsammlung wurde Grundlage der originalsprachigen Briefedition von Dénes Bartha),50 Verfasser mehrerer Haydn-Biographien vom populärwissenschaftlichen Taschenbuch über Bildbände bis zur monumentalen fünfbändigen Dokumentarbiographie,51 Gründer und Herausgeber des Haydn Yearbook (1962– 1998, 22 Bände), zu dem er selbst viele Artikel beitrug. Kaum überschaubar ist auch die Anzahl seiner Haydn-Editionen, mit denen er oftmals der Gesamtausgabe einen Schritt voraus war. Besondere Verbreitung erlangte die Ausgabe aller Sinfonien als Philharmonia-Taschenpartituren (sowohl in Einzelausgaben als auch zusammengefasst in zwölf Bänden).52 Auch die Ausgaben der Klaviertrios53 und (gemeinsam mit Reginald Barrett-Ayres) der Streichquartette54 beim Musikverlag Doblinger in Wien werden bis heute viel benutzt. Landon ____________ 49 50 51 52
53
54
H. C. Robbins Landon, The Symphonies of Joseph Haydn, London 1955. H. C. Robbins Landon, The Collected Correspondence and London Notebooks of Joseph Haydn, London 1959. (Zur Ausgabe von Bartha vgl. Anm. 23.) H. C. Robbins Landon, Haydn. Chronicle and Works, Bd. 1–5, London 1976ff. Joseph Haydn. Kritische Ausgabe sämtlicher Symphonien, hrsg. von H. C. Robbins Landon, Wien 1963–1967. Die Sinfonien Hob. I–50 zunächst beim Verlag Doblinger, Wien, in der Reihe Diletto musicale. Joseph Haydn. Klaviertrios. Erste Kritische Gesamtausgabe. Nach den Autographen, frühen Abschriften und Erst- bzw. Frühdrucken hrsg. von H. C. Robbins Landon, Wien [u. a.], 1970– 1977 (45 Einzelhefte in der Reihe Diletto musicale). Joseph Haydn. Streichquartette. Urtext-Ausgabe, hrsg. von Reginald Barrett-Ayres und H. C. Robbins Landon, Wien 1982–1987 (Doblingers Studienpartituren).
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hatte zudem für mehrere Opern noch vor deren Erscheinen in der Gesamtausgabe Aufführungsmaterial erarbeitet; es wurde für die Ersteinspielungen unter Antal Dorati verwendet und stand dann über Jahre hinweg als Leihmaterial beim Bühnenverlag Alkor-Edition in Kassel zur Verfügung. (Inzwischen ist es größtenteils durch neues Material auf Basis von Joseph Haydn Werke ersetzt worden.) Hinzu kommen zahlreiche Erstausgaben kleinerer Werke. All diese Projekte wurden in erstaunlich kurzer Zeit fertiggestellt und haben ganz wesentliche Verdienste für die Wiederbelebung Haydn’scher Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – oft genug allerdings um den Preis voreiliger Entscheidungen. So perpetuiert die Anordnung der Sinfonien nach den Nummern in Hobokens Werkverzeichnis dessen Entscheidung, die chronologisch nicht stimmige Zählung Mandyczewskis zu übernehmen (die in der Folge wiederum unreflektiert zum Ordnungsprinzip mehrerer Gesamteinspielungen der Sinfonien wurde). Die Auswahl der Quellen erfolgte oft nach sehr subjektiven Kriterien. Landons editorische Entscheidungen sind zwar von musikalischem Sachverstand geprägt, philologisch aber nicht verlässlich.55 Zudem edierte er einige Werke, die von den Wissenschaftlern des Haydn-Instituts längst als unecht eingestuft worden waren.56 Bei den Klaviersonaten gibt es in Konkurrenz zur Edition Georg Feders in der Haydn-Gesamtausgabe (bzw. der auf deren Basis bei Henle erschienenen praktischen Ausgabe) gleich drei durchaus ernstzunehmende Alternativen mit wissenschaftlichem Anspruch. Sie erlangten schon allein deswegen Bedeutung, weil die Kritischen Berichte ausgerechnet zu den entsprechenden Bänden von Joseph Haydn Werke (XVIII) lange Zeit ausstanden bzw. noch immer fehlen, obwohl die Sonaten schon 1966 (3. Folge) bzw. 1970 (1. und 2. Folge) erschienen waren.57 Um diese Zeit lag die ebenfalls dreibändige (in späteren Auflagen auf vier Bände aufgeteilte) Edition der Sonaten von Christa Landon (1921–1977) bei der Universal-Edition in Wien (Wiener Urtext-Ausgabe) bereits vor;58 der Kritische Bericht folgte allerdings erst nach dem Tod der Ver____________ 55
56
57
58
Vgl. die Auseinandersetzung mit Landons Edition in: Joseph Haydn. Sinfonien um 1777–1779, hrsg. von Stephen C. Fisher und Sonja Gerlach, München 2002 (= Joseph Haydn Werke, Reihe I, Bd. 9), S. 243f., 263 und besonders 272f. Vgl. z. B. Divertimento Hob. II:D22 (in der Reihe Diletto musicale als Nr. 86), Cassatio Hob. deest (Diletto musicale Nr. 66), Divertimento Hob. II:G9 (Diletto musicale Nr. 85), Motetto de venerabili sacramento Hob. XXIIIc:5, Wien [u. a.] 1996, Libera. Responsorium ad absolutionem Hob. XXIIb:1, Motetto „O coelitum beati“ Hob. XXIIIa:G9, Cardiff 1984. Kurz nach dem Tod des Herausgebers erschien der Kritische Bericht zur ersten Folge (Joseph Haydn. Klaviersonaten. 1. Folge, hrsg. von Georg Feder †. Kritischer Bericht, München 2007); die beiden weiteren – auf Basis des von ihm hinterlassenen Materials – sind in Vorbereitung. Joseph Haydn. Sämtliche Klaviersonaten. Nach Autographen, Abschriften und Erstdrucken revidiert von Christa Landon, 3 Bde., Wien 1963–1966.
Editionen der Werke Joseph Haydns
333
fasserin.59 Mittlerweile wird diese Edition durch eine von Ulrich Leisinger revidierte Neuausgabe ersetzt.60 1995 legte Miklós Dolinszky beim Verlag Könemann alle Klavierwerke Haydns in einer ebenfalls auf eigener Recherche der Quellen basierenden Ausgabe vor.61 Ältere Sammelausgaben findet man weiterhin vor allem bei der Edition Peters. Neben der oben genannten Stimmenausgabe von 83 Streichquartetten sind die Ausgaben der Klaviertrios (Friedrich Hermann) und der Klaviersonaten (Carl Adolf Martienssen 1937, laut Vorwort auf Basis der Ausgabe Karl Päslers) zu nennen. In den letzten Jahren hat der Verlag begonnen, einige dieser Ausgaben durch philologisch anspruchsvollere zu ersetzen. So tritt bei den Streichquartetten an die Stelle der im Notentext durch spätere Zutaten überlasteten alten Ausgabe, die die (echten wie unechten) Quartette zudem in einer den Opus-Kontext aufhebenden Reihenfolge präsentiert, eine Neuausgabe, bei der jeweils ein Band ein Sechser-Opus in Stimmen und zusätzlich in Partitur enthält.62 Beim selben Verlag sind in den letzten Jahren auch verschiedene Einzelausgaben mit teils umfangreichen kritischen Berichten erschienen, so die Schöpfung,63 die Jahreszeiten64 und zwei der späten Messen.65 Sämtliche Messen, verschiedene kleinere Kirchenmusikstücke und die Schöpfung wurden in den letzten Jahren sukzessive beim Carus-Verlag vorgelegt, der ja seit jeher einen Programmschwerpunkt bei der Kirchenmusik hat.66 ____________ 59
60
61 62
63 64
65
66
Joseph Haydn. Sämtliche Klaviersonaten. Kritische Anmerkungen. Nach Autographen, Abschriften und Erstdrucken herausgegeben von Christa Landon, Wien 1982. – Christa Landon, Ehefrau von H. C. Robbins Landon, kam 1977 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Joseph Haydn. Sämtliche Klaviersonaten / The Complete Piano Sonatas / L’intégrale des sonates pour piano. […] Nach den Quellen herausgegeben von Christa Landon, revidiert von Ulrich Leisinger, Wien 2009ff. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsausgabe der Verlage Schott Music und Universal Edition. Joseph Haydn. Sämtliche Klavierwerke. Complete Piano Works. Œuvres complétes pour le piano. Urtext, hrsg. von Miklós Dolinszky, 4 Bde., Budapest 1995. Joseph Haydn. 6 String quartets / 6 Streichquartette. Opus 20. Hoboken III:31–36. Urtext, hrsg. von Simon Rowland-Jones, wissenschaftlicher Mitarbeiter David Ledbetter, London [u. a.] 2002ff. – Erschienen sind bislang die unter den Opuszahlen 20, 33, 50, 54/55, 64 und 71/74 bekannten Quartette. Zur Problematik der Ausgabe vgl. die Rezension von William Drabkin in: Music & Letters 85 (2004), H. 1, S. 155–159. Vgl. Anm. 31. Joseph Haydn. Die Jahreszeiten / The Seasons. Oratorium für Solostimmen, Chor und Orchester / Oratorio for Solo Voices, Chorus and Orchestra. Hob. XXI:3, hrsg. v. Werner Seyfried, Frankfurt/Main [u. a.] 2009. Joseph Haydn. Missa B-Dur „Harmoniemesse“. Hob. XXII:14, hrsg. von Klaus Burmeister, Frankfurt/Main 1998. – Joseph Haydn. Missa in Angustiis „Nelson-Messe / Nelson Mass“, für Solostimmen, Chor, Orchester und Orgel. Hob. XXII:11, hrsg. von Klaus Burmeister, Frankfurt/Main 2000. Die Messen erschienen zunächst in Einzelausgaben (Dirigierpartitur und Aufführungsmaterial), dann als Studienpartituren im Schuber (Stuttgart 2009). Ursprünglicher Titel (im Schuber teils geändert), Herausgeber und Erscheinungsdatum: Missa brevis in F Hob. XXII:1 (Willi Schulze, 1978); Missa brevis Sancti Joannis de Deo Hob. XXII:7 (Schulze, 1980), Missa brevis in
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Anspruch und Qualität der Ausgaben sind, dem Trend bei allen großen Musikverlagen entsprechend, im Laufe der Jahre gestiegen. Einige der früheren Ausgaben beruhen erkennbar auf Joseph Haydn Werke, andere aber sind auf einer gegenüber der Gesamtausgabe deutlich besseren Quellenbasis erarbeitet; das betrifft insbesondere die von Wolfgang Hochstein vorgelegte Paukenmesse. Diese Situation ist allerdings eine Ausnahme. Normalerweise wären neue konkurrierende Ausgaben selbst dann, wenn sie sich in einzelnen editorischen Entscheidungen oder im gesamten Konzept von Joseph Haydn Werke unterscheiden, ohne die Quellenforschungen, die seit Jahrzehnten im Joseph HaydnInstitut betrieben wurden, gar nicht möglich gewesen. Eine besondere Art von „Konkurrenz“ entsteht der Gesamtausgabe durch die Veröffentlichung von Haydn fälschlich zugeschriebenen Werken. So kann man die seit Jahrzehnten als unecht erkannte „Kindersinfonie“ Hob. II:47 noch immer selbst bei renommierten Verlagen wie Schott und Heinrichshofen als Werk Haydns erwerben. Auch in der Breitkopf Partitur-Bibliothek (Nr. 4905) lag das harmlose Werk über Jahrzehnte unter der Autorangabe Joseph Haydn vor. In neueren Auflagen wurde sie zu Leopold Mozart geändert, der den Untersuchungen von Sonja Gerlach zufolge der wahre Autor sein dürfte.67 Die Haydn-Forschung muss sich leider nicht nur mit diesen meist schon zu Haydns Lebzeiten etablierten Fehlzuschreibungen auseinandersetzen; es kommen immer wieder neue „Ausgrabungen“ hinzu. So wurde beispielsweise eine Messe, die in den überlieferten Abschriften nicht nur Vaclav Pichl (dem mutmaßlichen Autor), sondern auch sowohl Wolfgang Amadeus Mozart als auch Joseph Haydn zugeschrieben wird, unter dem Namen des letzteren vom Schweizer Verlag Kunzelmann mit großem propagandistischem Aufwand als Neuentdeckung präsentiert – und dies, obwohl Wissenschaftler des Joseph__________
67
G-Dur. Rorate coeli desuper Hob. XXII:3 (Schulze, 1982), Missa G-Dur Sancti Nicolai Hob. XXII:6 (Volker Kalisch, 1982), Schöpfungsmesse. Missa solemnis B-Dur Hob. XXII:13 (Kalisch, 1984), Missa Cellensis in C. Mariazeller Messe Hob. XXII:8 (Andreas Ballstaedt, Kalisch, 1986), Missa in Angustiis. Nelson-Messe Hob. XXII:11 (Wolfgang Hochstein, 1990), Missa in tempore belli. Paukenmesse Hob. XXII:9 (Hochstein, 1993), Missa in honorem B. V. M. in Es. Große Orgelsolomesse Hob. XXII:4 (Christoph Großpietsch, 2007), Missa Sancti Bernardi von Offida in B. Heiligmesse Hob. XXII:10 (Andreas Traub, 2007), Missa in B. Theresienmesse Hob. XXII:12 (Hochstein, 2007), Missa in B. Harmoniemesse Hob. XXII:14 (Traub, 2007), Missa Cellensis in honorem B. V. M. Große Mariazeller Messe. Cäcilienmesse Hob. XXII:5 (Leonhard Riedel, 2008). Verschiedene kleinere Kirchenmusikwerke, die in Joseph Haydn Werke noch nicht erschienen sind, wurden bei Carus von Armin Kircher herausgegeben, Die Schöpfung 2012 von Wolfgang Gersthofer. Sonja Gerlach, Textkritische Untersuchungen zur Autorschaft der „Kindersinfonie“ Hoboken II:47*, in: Opera incerta. Echtheitsfragen als Problem musikwissenschaftlicher Gesamtausgaben. Kolloquium Mainz 1988. Bericht, hrsg. von Hanspeter Bennwitz [u. a.] (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 11 [1991]), Mainz 1991, S. 153–188.
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Haydn-Instituts schon im Vorfeld der Veröffentlichung darauf hingewiesen hatten, dass diese Fehlzuschreibung seit Jahrzehnten als solche bekannt ist.68 Der Verlag Amadeus gar hat nach wie vor die berüchtigte Fälschung der Sechs Sonaten für Clavier […] Herausgegeben und ergänzt von Winfried Michel (Winterthur 1995) im Programm. Der „Herausgeber“ hat diese Stücke auf Basis der im „Entwurf-Katalog“ verzeichneten Incipits sechs verschollener Klaviersonaten Haydns (Hob. XVI:2a–e, g) komponiert und damit sogar H. C. Robbins Landon hinters Licht geführt.69 Was die Situation der Überlieferung und Herausgabe von Werken Joseph Haydns anbelangt, ist offenbar das 18. Jahrhundert nicht so weit entfernt, wie man annehmen sollte.
Literaturverzeichnis Bartha, Dénes (Hrsg.): Joseph Haydn. Gesammelte Briefe und Aufzeichnungen. Unter Benützung der Quellensammlung von H. C. Robbins Landon, Kassel [u. a.] 1965 Benton, Rita: Pleyel as Music Publisher. A Documentary Sourcebook of Early 19th-Century Music, Stuyvesant 1990 Biba, Otto (Hrsg.): „Eben komme ich von Haydn …“. Georg August Griesingers Korrespondenz mit Joseph Haydns Verleger Breitkopf & Härtel 1799–1819, Zürich 1987 Brand, Carl Maria: Die Messen von Joseph Haydn, Würzburg-Aumühle 1941 Breitner, Karin: Katalog der Sammlung Anthony van Hoboken in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Bd. 9: Joseph Haydn. Vokalmusik (Hob. XX/2–XXXI), Tutzing 1991 Drabkin, William: Rezension von Joseph Haydn. 6 String Quartets / 6 Streichquartette. Opus 20. Hoboken III:31–36. Urtext, hrsg. von Simon Rowland-Jones, London [u. a.] 2002ff. in: Music & Letters 85 (2004), H. 1, S. 155–159 Drei Haydn Kataloge in Faksimile. Mit Einleitung und ergänzenden Themenverzeichnissen, hrsg. von Jens Peter Larsen, Kopenhagen 1941; Neuausgabe: Three Haydn Catalogues / Drei Haydn Kataloge. Second Facsimile Edition with a Survey of Haydn’s Œuvre (= Thematic Catalogues, hrsg. von Eleanor McCrickard, Bd. 4), New York 1979 Editionsrichtlinien musikalischer Denkmäler und Gesamtausgaben, im Auftrag der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Georg von Dadelsen (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 22), Kassel [u. a.] 1967 Editionsrichtlinien Musik, hrsg. von Bernhard Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000 Gerber, Ernst Ludwig: Artikel „Haydn“, in: Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler, Bd. 1, Leipzig 1790, Sp. 609–612 Gerlach, Sonja: Die chronologische Ordnung von Haydns Sinfonien zwischen 1774 und 1782, in: Haydn-Studien II/1 (1969), S. 34–66 ____________ 68
69
Joseph Haydn. Missa solemnis für 4-stg. gem. Chor, Soli, Streicher, 2 Oboen, 2 Trompeten, Pauken und Basso continuo, hrsg. von Friedrich Hägele und Mario Schwarz, Adliswil 2003. Näheres dazu bei: Armin Raab, Vermarktung einer Fehlzuschreibung, in: Haydn-Studien VIII/3 (2003), S. 293–295. Michel legte Kopien einer angeblich auf einem Dachboden gefundenen „alten Abschrift“ vor; Landon erklärte die Sonaten wegen der Übereinstimmung mit dem Incipit zunächst für echt. Vgl. dazu Horst Walter, Eulenspiegeleien um Haydn. Der „Notenfund“ von Münster, in: Haydn-Studien VI/4 (1994), S. 313–317.
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Armin Raab
Gerlach, Sonja: Textkritische Untersuchungen zur Autorschaft der „Kindersinfonie“ Hoboken II:47*, in: Opera incerta. Echtheitsfragen als Problem musikwissenschaftlicher Gesamtausgaben. Kolloquium Mainz 1988. Bericht, hrsg. von Hanspeter Bennwitz [u. a.] (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 11 [1991]), Mainz 1991, S. 153–188 Gerlach, Sonja: Joseph Haydns Sinfonien bis 1774. Studien zur Chronologie, in: Haydn-Studien VII/1–2 (1996), S. 1–287 Hase, Hermann von: Joseph Haydn und Breitkopf & Härtel. Ein Rückblick bei der Veranstaltung der ersten vollständigen Gesamtausgabe seiner Werke, Leipzig 1909 Hoboken, Anthony van: Joseph Haydn. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis, Bd. 1–3, Mainz 1957, 1971, 1978 Landon, H. C. Robbins: The Symphonies of Joseph Haydn, London 1955 Landon, H. C. Robbins: The Collected Correspondence and London Notebooks of Joseph Haydn, London 1959 Landon, H. C. Robbins: Haydn. Chronicle and Works, Bd. 1–5, London 1976ff. Larsen, Jens Peter: Die Haydn-Überlieferung, Kopenhagen 1939 Pohl, Carl Ferdinand: Joseph Haydn, Bd. 1, Berlin 1875, Leipzig 21878; Bd. 2, Leipzig 1882, Bd. 3 (fertiggestellt von Hugo Botstiber), Leipzig 1927 Raab, Armin: Vermarktung einer Fehlzuschreibung, in: Haydn-Studien VIII/3 (2003), S. 293–295 Raab, Armin: Überlieferung, Textkritik und Edition der Werke Joseph Haydns, in: editio 18 (2004), S. 89–103 Raab, Armin: Gesamtausgaben, in: Das Haydn-Lexikon, hrsg. von Armin Raab, Christine Siegert und Wolfram Steinbeck, Laaber 2010, S. 268–272 Raab, Armin: Rezeption durch Edition – Wie die Philologie das Haydn-Bild des 20. Jahrhunderts veränderte, in: Joseph Haydn im 21. Jahrhundert. Bericht über das Symposium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Internationalen Joseph Haydn Privatstiftung Eisenstadt und der Esterházy Privatstiftung vom 14. bis 17. Oktober 2009 in Wien und Eisenstadt, hrsg. von Christine Siegert, Gernot Gruber und Walter Reicher, Tutzing 2013, S. 399–416 Walter, Horst: Eulenspiegeleien um Haydn. Der „Notenfund“ von Münster, in: Haydn-Studien VI/4 (1994), S. 313–317
Ulrich Leisinger
Zur Editionsgeschichte der Werke von Wolfgang Amadé Mozart
Bei seinem frühen Tod am 5. Dezember 1791 hinterließ Wolfgang Amadé Mozart etwa 600 vollendete Kompositionen und nicht weniger als 150 Fragmente, die zum Teil nur wenige Takte umfassen, zum Teil aber nahezu abgeschlossene Kompositionen oder Einzelsätze darstellen. Zu diesem Zeitpunkt waren deren Autographe mit wenigen Ausnahmen noch vorhanden; diese sind zu großen Teilen bis heute erhalten geblieben und bilden die wichtigsten Quellen für den vom Komponisten autorisierten Text seiner Werke. Bei der Bestimmung des genauen Werkbestandes erweist sich das bekannte Köchelverzeichnis (KV), das in seiner ersten Auflage (Leipzig 1862) 626 Werke im Hauptteil anführt, wegen der fehlenden Definition des Werkbegriffes bei Mozart, wegen Lücken und fehlerhafter Zuschreibungen, die auch in den Folgeauflagen nicht vollständig behoben sind, als problematisch. Die Geschichte der Edition von Mozarts Werken, die bereits 1764 mit den ersten Druckveröffentlichungen von Kompositionen des damals gerade Achtjährigen einsetzt, durchläuft mehrere, sich zum Teil überlappende Phasen. Wegen der in frühen Druckausgaben gegenüber den Autographen zu beobachtenden Varianten ist die Frage der Autorisation der zu Lebzeiten (und kurz nach dem Tode des Komponisten) erschienenen Editionen von großer Bedeutung. Wichtige Marksteine in der Geschichte der Mozart-Edition sind die ersten großen Sammlungen seiner Werke um 1800, die trotz entsprechender Titel den Anspruch einer Gesamtausgabe nicht ernsthaft verfolgt haben; die gleichzeitigen Bemühungen des Verlagshauses André in Offenbach um die systematische Herausgabe von bislang unveröffentlichten Werken aus dem Nachlass; die bei Breitkopf & Härtel erschienene Edition Wolfgang Amadeus Mozart’s Werke. Kritisch durchgesehene Gesammtausgabe, die im Wesentlichen zwischen 1876 und 1883 erstellt wurde und heute gerne als „Alte Mozart-Ausgabe“ (AMA) bezeichnet wird; die Neue Mozart-Ausgabe (NMA), die nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeitet wurde, sowie Urtextausgaben anderer Verleger. Eine digitale Mozart-Edition ist in Vorbereitung.
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Ulrich Leisinger
Aufgrund historischer Gegebenheiten sind für verschiedene Gattungen Besonderheiten der Quellenüberlieferung zu berücksichtigen. So weicht die Überlieferungssituation für Kirchenmusik und Oper grundsätzlich von der von Kammermusik (im Sinne des 18. Jahrhunderts) ab. Obwohl Mozart-Editionen bestimmter Teilrepertoires über die ganze Welt verbreitet sind, bleiben quellenkritische Ausgaben weiterhin fast ausschließlich auf Verlage im deutschen Sprachgebiet beschränkt. Einen Seitenweg der Editionsgeschichte bilden Faksimileausgaben; diesen liegen meist Autographe zugrunde, seltener Erstdrucke oder andere Quellen. Ein weitgehend unerforschtes Gebiet sind die zahlreichen Bearbeitungen des 18. und 19. Jahrhunderts, wobei bislang sogar unklar bleibt, wie viele Bearbeitungen Wolfgang Amadé Mozart selbst vorgenommen hat. Bekannte Beispiele sind die vom Komponisten stammenden Einrichtungen der Bläserserenade à 8 c-Moll KV 388 als Streichquintett KV 406, der Fuge c-Moll für zwei Klaviere KV 426 für Streicher KV 546 (erweitert um eine langsame Einleitung) sowie Klavierauszüge zu einzelnen Opernarien. Diesen stehen zahlreiche, teilweise musikalisch durchaus attraktive Beispiele wie Bearbeitungen von Opern für Harmoniemusik oder von Bläsermusiken für Streicher gegenüber, deren Autorschaft bis heute nicht oder nicht abschließend wissenschaftlich geklärt werden konnte. Trotz einzelner bekannter Werke zweifelhafter Echtheit, z. B. der Symphonie concertante für Holzbläser und Orchester KV 297b, stellen Echtheitsfragen kein schwerwiegendes Problem für die Edition von Mozarts Gesamtschaffen dar.
I.
Die Verbreitung von Mozarts Werken durch Handschriften und Drucke bis zu seinem Tod
Bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte die Verbreitung von Musikalien in Süddeutschland und Österreich überwiegend durch handschriftliche Kopien, wohingegen die Drucküberlieferung eine untergeordnete Rolle spielte und weitgehend auf Musik für Tasteninstrumente beschränkt blieb. Gedruckte Musikalien waren teuer, da ihre Herstellung nicht durch Buchdrucker, sondern durch auf Kupferstich spezialisierte Kunst- und Landkartenstecher erfolgte. Hoher Preis und niedrige Auflagen bedingten sich gegenseitig. Eine nennenswerte Musikalienproduktion gab es in Süddeutschland in den 1740er und 1750er Jahren nur in Nürnberg; eine Alternative bildete allmählich der Druck mit beweglichen Typen, der seit etwa 1755 von Breitkopf in Leipzig wesentlich verbessert wurde. Er war aber weit verbreitet und wurde beispiels-
Zur Editionsgeschichte der Werke Mozarts
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weise auch von dem Augsburger Verleger Johann Jakob Lotter, bei dem Leopold Mozart 1756 seine im Eigenverlag erschienene Violinschule drucken ließ, verwendet. Anders sah die Situation in Paris, London und den Niederlanden aus, wovon sich die Mozarts auf der großen Westeuropareise von 1763 bis 1766, auf der Leopold die Wunderkinder Wolfgang und Maria Anna („Nannerl“) präsentierte, ein Bild machen konnten. Leopold erkannte die Bedeutung von Druckerzeugnissen zu Werbezwecken und ließ insgesamt vier Sammlungen von Klaviersonaten avec Accompagnement seines Sohnes in Paris (KV 6–7, KV 8–9), London (KV 10–15) und Den Haag (KV 26–31) mit Widmungen an hochstehende weibliche Gönner stechen; hinzu kommen zwei Variationenreihen für Klavier auf holländische Themen (KV 24–25). In den gleichen Kontext gehört auch der bekannte Kupferstich von Jean-Baptiste Delafosse nach Louis Carrogis de Carmontelle, der den siebenjährigen Mozart am Klavier mit seiner fünf Jahre älteren Schwester und dem Vater beim Musizieren zeigt. Üblicherweise wurden Werke durch Abschriften verbreitet; auf der Westeuropareise lancierte Leopold Mozart auf diese Weise einige Werke, darunter den sogenannten Gallimathias musicum KV 32, den Mozart 1766 anlässlich der Installation von Wilhelm V. Batavus von Oranien-Nassau als Erbstatthalter der Niederlande komponiert hatte. Auch Klöster, wie etwa das Benediktinerstift Lambach, die man auf Reisen besuchte, erhielten gelegentlich Kopien geeigneter Werke für ihre Musikaliensammlungen. Mit der Weitergabe von Partituren der Mailänder Karnevalsoper Lucio Silla KV 135 an Angehörige des Hauses Habsburg verfolgte Leopold den Zweck, seinem Sohn frühzeitig eine Festanstellung außerhalb Salzburgs zu verschaffen. Insgesamt scheint Leopold aber die Weitergabe von Werken seines Sohnes restriktiv gehandhabt zu haben; selbst im Salzburger Dom sind nur vergleichsweise wenige Werke – und zwar nur in Abschrift, nicht im Autograph – vorhanden; die originalen Partituren und Stimmensätze behielt Leopold in der Familie. Sieht man von zwei Liedern (KV 52–53) ab, die 1768 – wiederum auf einer Reise – als Beilagen zu einer Wiener Monatsschrift erschienen sind und von denen eines die Klavierbearbeitung einer Arie aus dem kleinen Singspiel Bastien und Bastienne KV 50 ist, so setzt die Verbreitung von Musikalien durch den Druck erst wieder auf der großen Reise nach Mannheim und Paris ein, die Wolfgang zwischen 1777 und 1779 in der Hoffnung unternahm, aus dem Salzburger Hofdienst ausscheiden zu können. Mozart schrieb sechs Sonaten für Klavier und obligate Violine (KV 301–306) für die Kurfürstin Elisabeth Augusta von der Pfalz; der Druck konnte – bezeichnend für die begrenzten Möglichkeiten zur Veröffentlichung von Musikalien in Deutschland – erst nach der
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Ulrich Leisinger
Abreise aus Mannheim in Paris realisiert werden. Die Bedeutung, die Mozart diesem Druck beimaß, zeigt sich daran, dass er ihm erneut die Opuszahl 1 zuwies. Auf der Pariser Reise gelang es Mozart nur noch, drei Serien von Variationen (KV 179, 180 und 354) im Druck zu veröffentlichen; weitere Werke, die Sonaten KV 309–311 und das Klaviertrio (Divertimento) B-Dur KV 254, die er offenbar bei seiner Abreise bei dem aus Böhmen stammenden Verleger François-Joseph Heina zurückließ, sind erst mit mehrjähriger Verzögerung erschienen. Interessanterweise unternahm auch Leopold Mozart zu dieser Zeit von Salzburg aus Versuche, Werke seines Sohnes vor Ort stechen zu lassen. Als Experiment wurden die Klaviervariationen auf ein Thema aus La fiera di Venezia von Antonio Salieri KV 180 ausgewählt; allerdings hat sich kein einziges Exemplar des auf acht Seiten (Titel und sieben Notenseiten) angelegten Druckes erhalten. Mozarts Versuche, seine Werke durch den Druck bekannt zu machen, intensivierten sich nach der Übersiedlung nach Wien im Jahre 1781, begünstigt durch die erfolgreichen Versuche von Artaria & Co. sowie von Anton Huberty und Christoph Torricella, den Notenstich dort zu etablieren. Anders als bei Beethoven hat sich eine Zählung der Werke nach Opuszahlen nicht eingebürgert; es lässt sich aber auch für Mozart eine kontinuierliche Reihe von Opuszahlen von op. 2 bis op. 19 für autorisierte Drucke der Wiener Jahre ermitteln.1 Bezeichnenderweise hat Mozart dabei nur die Sonaten des Pariser op. 1 als vollgültig anerkannt; sein op. 2, nun bei Artaria erschienen, besteht ebenfalls aus sechs Sonaten für Klavier und Violine (KV 377–380 und KV 296). Die möglicherweise von Heina ohne Mozarts Zustimmung vergebenen Opusnummern 3 und 4 wurden erneut belegt.2 Kleinere Werke, etwa Klaviervariationen, sind in der Regel ohne Opuszahl erschienen. Wie bei Joseph Haydn muss Artaria als Mozarts Hauptverleger der Wiener Zeit angesehen werden; daneben hat sich Mozart zeitweise auch anderer Drucker bedient: Geschäftsbeziehungen bestanden – jeweils konzentriert auf die Jahre 1785 bis 1788 – zu Franz Anton Hoffmeister und Christoph Torricella in Wien sowie seit 1786 zu Heinrich Philipp Boßler in Speyer. In geringem Umfang konnte Mozart Drucke auch auf dem englischen Markt durch den befreundeten Musiker Stephen Sto____________ 1
2
Vgl. dazu Gertraut Haberkamp, Die Erstdrucke der Werke von Wolfgang Amadeus Mozart, 2 Bde., Tutzing 1986, Textband, S. 428. – Kleinere Unstimmigkeiten ergeben sich daraus, dass Artaria die bei anderen Verlagen mit Opuszahlen erschienenen Werke teils ignoriert, teils wie das bei Torricella erschienene op. 7 erst nachträglich in seiner Zählung berücksichtigt hat. Ein Pariser „op. 2“ kann nicht nachgewiesen werden; es bleibt unklar, ob ein weiterer (Heina-) Druck verloren gegangen ist oder ob etwa dieser die Variationen KV 179, 180 und 354 als Mozarts op. 2 betrachtete.
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race platzieren, der im Frühjahr 1787 mit seiner Schwester Nancy, Mozarts erster Susanna in Le nozze di Figaro, nach England zurückgekehrt war und einen Vorrat an neuen Wiener Musikalien mit sich führte. Rechnet man die 1792 bei Artaria erschienenen Drucke noch hinzu, so sind in Mozarts Wiener Jahren allein 70 Klavier- und Kammermusikwerke bei dort ansässigen Verlegern erschienen. Diese Ausgaben sind ausnahmslos Stimmendrucke und umfassen beinahe seine gesamte Produktion dieser Jahre. Hinzuzurechnen sind noch ab 1789 eine Reihe von Liedern sowie zahlreiche Klavierauszüge von Tänzen. Die Ausgaben erlebten zum Teil eine Vielzahl an Neuauflagen in rascher Folge, die ungeachtet der geringen Auflagenhöhen (Artaria beispielsweise druckte selten mehr als 50 Exemplare nach, um die Lagerbestände überschaubar zu halten) von seiner Beliebtheit als Komponist zeugen. Dass unter den Instrumentalwerken die Klavierkonzerte weitgehend ausgespart blieben, dürfte nicht auf mangelndes Publikumsinteresse zurückzuführen sein; vielmehr trug Mozart zeitlebens Sorge, Werke, die für den eigenen Konzertgebrauch oder den seiner Schülerinnen vorgesehen waren, nicht zirkulieren zu lassen. Trotz der großen Bedeutung der Druckausgaben darf auch der Wiener Handel mit geschriebenen Musikalien nicht vernachlässigt werden; hier steht die Officin von Johann Baptist Traeg (1747–1805) an erster Stelle, der seit 1781 einen erfolgreichen Handel mit Abschriften und Drucken betrieb und ab 1785 auch regelmäßig Werke Mozarts anbot. Mozart hat Johann Traeg und dessen Kopisten selbst für Abschriften herangezogen; die Zusammenarbeit intensivierte sich um 1790, sodass davon auszugehen ist, dass auch die von Traeg im August 1792 in Abschriften angebotenen Werke – darunter neben kleineren Stücken sechs Messen, verschiedene Konzerte und 15 Sinfonien – auf Quellen aus Mozarts Nachlass zurückgehen. Traegs bekannter Sortimentskatalog von 1799 bietet schließlich ein erstaunliches Spektrum an Werken Mozarts in Abschriften, Wiener (Original-)Drucken und auswärtigen Nach- und Erstdrucken. Wegen der hohen Kosten für den Notenstich und der Bevorzugung von Stimmendrucken für größer besetzte Werke wurden Kirchenkompositionen und Opern in Wien bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht im Druck veröffentlicht. Der Markt für größere Sakralwerke war in Mozarts Wiener Zeit wegen der josephinischen Reformen des Kirchenwesens ohnehin stark eingeschränkt (bei Haydn und Mozart ist im Josephinischen Jahrzehnt eine auffällige Zurückhaltung bei der Komposition von Kirchenmusik zu beobachten). Die Verbreitung vollständiger Opern erfolgte in erster Linie durch die jeweiligen Opernhäuser und durch professionelle Kopistenbüros. Der Komponist dürfte an der weiteren Verbreitung seiner Werke in der Regel nicht beteiligt gewesen
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sein und auch finanziell keinen Vorteil daraus gezogen haben. Abschriften der frühen Opern Mitridate KV 87 (1770) und Lucio Silla KV 135 (1772) wurden – bis zum Brand des Opernhauses im Februar 1776 – durch das Teatro Regio Ducal (unmittelbarer Vorläufer des Teatro alla Scala) in Mailand angefertigt, was aber nicht zur Wiederaufnahme dieser Werke an anderen Bühnen führte. In Wien wurden Kopien vollständiger Opern vom Theatralkopisten Wenzel Sukowaty vertrieben. Privatpersonen konnten auch auf die Angebote bei Laurenz Lausch oder Johann Traeg zurückgreifen, haben davon aber hauptsächlich für Einzelnummern Gebrauch gemacht. Eine wichtige Rolle nahm auch der Kontrabassist und Musikalienhändler Anton Grams in Prag ein, bei dem nicht nur böhmische Adlige Opernpartituren bestellten, sondern auch Opernhäuser in Norddeutschland und Skandinavien. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass von Mozarts Schaffen zum Zeitpunkt seines Todes im Wesentlichen die kleiner besetzten Instrumentalwerke und die Opern der Wiener Jahre – letztere in Abschrift, z. T. auch im gedruckten Klavierauszug – bekannt waren. Fast alle zu Lebzeiten erschienenen Erstausgaben gehen auf Vorlagen zurück, die den Verlegern durch Mozart selbst zur Verfügung gestellt wurden. Die Zahl der zu Lebzeiten im Druck erschienenen Werke zweifelhafter Echtheit ist bemerkenswert gering.3 Dass Mozart die Drucklegung seiner Werke wichtig war, zeigt sich daran, dass es eine ganze Reihe von Kompositionen gibt, bei denen die Druckausgaben zusätzliche dynamische Angaben, Vortragsbezeichnungen und Verzierungen aufweisen, die in den Autographen fehlen. Klavierwerke sind in der Regel gegenüber den Autographen (und wenigen nachweisbaren autorisierten Abschriften) stark ausgeziert; Mozart wollte offenbar für den anonymen Markt aufführungspraktische Angaben bereitstellen, die er für den Eigengebrauch oder in einer Unterrichtssituation nicht hätte schriftlich fixieren müssen. Dass diese Präzisierungen auf den Komponisten zurückgehen, ist für einzelne Werke wie die Sonaten KV 331 (Artarias op. 6.1) und KV 457 (bei Artaria mit der Fantasie c-Moll als op. 11 erschienen) durch autographe Quellen belegt und für weitere Kompositionen in hohem Maße wahrscheinlich. Mozart hat aber die Drucklegung seiner Werke nicht konsequent überwacht. Aus Carl Friedrich Cramers Magazin der Musik erfahren wir, dass er diese Aufgabe unter anderem seiner Schülerin Josefa Auernhammer überlassen hat: ____________ 3
Sonate für Klavier zu vier Händen C-Dur KV 19d, Erstdruck Paris: Roullede, um 1788; Sonate für Klavier und Violine D-Dur KV deest, Erstdruck London: J. Bland, nach 1780 (nicht bei Haberkamp, Die Erstdrucke [wie Anm. 3]); in beiden Fällen könnte es sich immerhin um Jugendwerke aus der Zeit um 1765 handeln.
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Die Mad. Aurnhammer ist eine ausgemachte Meisterin im Klavier, worin sie auch Stunden giebt […]. Sie ist es, die viele Sonaten und variirte Arietten von Mozart bei Hrn. Artaria zum Stich besorgt und durchgesehen hat.4
Selbst vom Autograph unmittelbar abhängige Quellen berücksichtigen Mozarts genaue, zum Teil idiosynkratische Notation nicht konsequent. Die Originalausgaben, vor allem die bei Artaria, Bossler und Heina, enthalten zum Teil gravierende Notenfehler und sind, selbst wenn man große Zurückhaltung bei der technisch aufwändigen Korrektur von Stichfehlern postuliert, mit Blick auf die Positionierung von dynamischen Zeichen und Artikulationsangaben notorisch unzuverlässig. Merkwürdig erscheint heute, dass auch offenkundige Notenfehler bei Neuauflagen nicht verbessert wurden. Bei der Beurteilung des Quellenwertes der frühen Ausgaben kommt erschwerend hinzu, dass gerade Artaria bei Werken Mozarts (und Haydns) auch vereinzelt unautorisierte Vorlagen heranzog und wohl eine Reihe von Klavierarrangements selbst vornehmen ließ, um die starke Nachfrage nach „neuen“ Klavierwerken befriedigen zu können.
II.
Ausgaben von Mozarts Werken zwischen 1791 und 1805 und die frühen „Gesamtausgaben“
Artaria hatte 1779 ein Privileg auf seine Erzeugnisse erhalten. Obwohl es nach 10 Jahren nicht verlängert wurde, hinderte dies den Verleger nicht daran, auch weiterhin ein „C[um] P[rivilegio] S[uae] C[aesareae] M[aiestatis]“ auf den Titelseiten seiner Ausgaben anzugeben. Das Privileg unterband zwar Nachdrucke in den habsburgischen Erblanden; die im Druck erschienenen Werke, insbesondere die leicht verkäuflichen Klavierwerke, wurden aber schon zu Lebzeiten, verstärkt nach Mozarts Tod, rasch nachgestochen, vor allem in Amsterdam und in Deutschland. Wichtige Nachdrucker waren Johann Michael Götz in Mannheim und Johann Julius Hummel in Amsterdam und Berlin; diese Tendenz verstärkte sich um 1800 durch Verlage wie Simrock in Bonn, das Bureau de Musique von Hoffmeister & Kühnel in Wien und Leipzig (seit 1814 C. F. Peters). Besonderer Beliebtheit erfreuten sich Klavierauszüge von Einzelnummern aus Opern und Klaviervariationen. Die Opernarrangements dürfen trotz ihrer Vielzahl – bis 1830 sind durch das Répertoire International de Sources Musicales (RISM) mehr als 1000 Einzeldrucke nachgewiesen – im Folgenden ver____________ 4
Carl Friedrich Cramer, Magazin der Musik, 2. Jahrgang, 2. Teil, Hamburg 1787, S. 1274.
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nachlässigt werden, da sie fast ausnahmslos nicht vom Komponisten stammen können und daher für die Edition von Mozarts Werken als Quellen im 20. und 21. Jahrhundert keine Rolle mehr spielen. Die lange Reihe von Klaviervariationen (im Original und in Bearbeitung) bei Artaria wurde unter anderem von Johann Carl Friedrich Rellstab in Berlin, von Johann Anton André in Offenbach und von Robert Birchall in London aufgegriffen. Eine naheliegende Folge dieser Entwicklung waren erste Bemühungen um größere Sammlungen von Werken;5 die Initiative hierzu ging jedoch von keinem der arrivierten Verlage aus, sondern von einem Modeverleger, Johann Peter Spehr in Braunschweig, der das Magasin de Musique „auf der Höhe“ leitete, ähnlich wie bei Haydn, wo der kleine Leipziger Verleger C. F. Lehmann etwa zeitgleich eine Marktlücke witterte. Zwischen 1797 und 1799 sind bei Spehr insgesamt „6 Lieferungen in XXX Nummern“ als Collection complette de tous les œuvres pour le Fortepiano de Mozart erschienen. Hierbei handelte es sich ausschließlich um Nachstiche, wobei sich auch einzelne Werke, die Mozart in den gedruckten Vorlagen fälschlich zugeschrieben waren, eingeschlichen haben. Die Initiative übernahm nun das renommierte Verlagshaus Breitkopf & Härtel, das sich nach dem Eintritt von Gottfried Christoph Härtel in den Verlag im Jahre 1795 nach finanziell kritischer Lage zu konsolidieren begann. Von großer Tragweite war die Gründung der Allgemeinen musikalischen Zeitung, für 50 Jahre das wichtigste Musikperiodikum im deutschen Sprachraum, die Härtel konsequent als Sprachrohr für seine Verlagserzeugnisse nutzte. 1798 wurden die Œuvres complettes de W. A. Mozart begonnen, 1799 die Œuvres complettes de Joseph Haydn (in 12 Heften) und ab 1803 die Œuvres complettes de Muzio Clementi (in 13 Heften). Die Œuvres complettes de W. A. Mozart waren auf drei Serien angelegt, außer „Klaviersachen“, die zwischen 1798 und 1806 in insgesamt 17 Heften vorgelegt wurden, sollten gemäß eines Subskriptionsaufrufs als Serie II „Partituren größerer Werke als: Opern, Cantaten, Kirchenstücke etc.“ und als Serie III „Musik für mehrere Instrumente in Stimmen, als: Sinfonien, Concerte, Quintetten, Quartetten etc.“ erscheinen. Zwar dominieren bei den Klavier- und Kammermusikwerken auch hier die Nachdrucke; das Verlagshaus war zeitweilig aber auch ernsthaft bemüht, Erstausgaben anzubieten. Man wandte sich – allerdings erst nach dem Erscheinen der ersten Hefte – an die Witwe, zu der seit 1795 lose Geschäftsbeziehungen (unter anderem durch den Verleger Johann Philipp von Thonus, bei dem Constanze Mozart das Klavierkonzert C-Dur KV 503 ihres verstorbenen Mannes im Eigen____________ 5
Für eine Übersicht und den Inhalt der einzelnen Ausgaben vgl. KV6, Anhang D, S. 915–937.
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verlag veröffentlicht hatte) bestanden, und erhielt von ihr auch für die folgenden Hefte neues Material, darunter zahlreiche Lieder und Kanons sowie einzelne fragmentarische Klavierwerke der Wiener Jahre, die Breitkopf & Härtel – höchstwahrscheinlich durch August Eberhard Müller, Thomaskantor in Leipzig, selbst Komponist und enger externer Mitarbeiter des Verlages – vervollständigen ließen. Der Verlag konnte sich aber nicht entschließen, den Nachlass Mozarts anzukaufen; nachdem er ein Ultimatum verstreichen ließ, verkaufte Constanze Mozart den vollständigen Nachlass um die Jahreswende 1799/1800 an den jungen Verleger Johann Anton André aus Offenbach, der sie persönlich in Wien aufgesucht hatte. Breitkopf & Härtel, die sich schon davon überzeugt hatten, dass sich keine für das Verlagsprogramm relevanten Werke aus der Wiener Zeit mehr im Besitz der Witwe befanden, glaubten, den Ausfall des Mozart-Nachlasses durch Erschließung anderer Quellen ausgleichen zu können. Hierzu zählte – nachdem schon zuvor der Musikalienbesitz des Barons Thaddäus von Dürniz, der offenbar einige Werke in originalen Quellen aus der Zeit um 1775 besaß, herangezogen worden war – Mozarts Schwester Maria Anna („Nannerl“), die zwar nur wenige Werke, darunter verschiedene Kompositionen aus der frühesten Jugend ihres Bruders, für das Editionsvorhaben bereitstellen konnte, dafür aber dem Verlag über den Salzburger Domkapellmeister Luigi Gatti Zugang zu den noch intakten Musikalienbeständen des Salzburger Doms verschaffte.6 Breitkopf & Härtel stellten hohe Ansprüche an die zu veröffentlichenden Kompositionen und schlossen die Jugendwerke Mozarts, mit Ausnahme der bereits im Druck erschienenen Kompositionen, kategorisch aus.7 Der Verlag beobachtete den Markt genau und gliederte dementsprechend die wenigen nach 1800 in Wien erstmals veröffentlichten Klavierwerke (darunter die Fantasie d-Moll KV 397 und die Sonaten KV 545 und 576) noch umgehend in die Œuvres complettes ein. Durch äußerst günstige Subskriptionsbedingungen – ein Nachlass von 50 Prozent auf den Ladenpreis bei Subskription sowie großzügige Rabatte für Kommissionäre – konnten Breitkopf & Härtel mit den Œuvres complettes eine marktbeherrschende Stel____________ 6
7
Vgl. Christoph Grosspietsch, Mozart aus Gattis Händen? Geplante Frühdrucke nach Salzburger Quellen, in: Keine Chance für Mozart. Fürsterzbischof Hieronymus Colloredo und sein letzter Hofkapellmeister Luigi Gatti (1740–1817). Symposiumsbericht, hrsg. von Eva Neumayr und Lars Laubhold (= Veröffentlichungen zur Salzburger Musikgeschichte, Bd. 10), Lucca 2013, S. 297–342. Die ablehnende Haltung gegenüber den Jugendwerken eines Komponisten entsprach dem Zeitgeist. Sie lässt sich sehr deutlich auch in Johann Nikolaus Forkels Schrift Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802, beobachten, die entgegen der heutigen Bewertung eigentlich keine selbständige Biographie, sondern ein Begleitbuch zur Ausgabe Œuvres complettes de Jean Sebastien Bach im Bureau de musique von Hoffmeister & Kühnel darstellt und die Auswahl des dort veröffentlichten Repertoires maßgeblich mitbestimmt hat.
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lung einnehmen. Allerdings war es wegen der Herstellung im Typendruck für den Verlag auch notwendig, die benötigte Stückzahl im Voraus genau einschätzen zu können. Da die Typen weiterverwendet werden sollten, mussten – anders als beim Plattendruck – spätere Folgeauflagen vollständig neu gesetzt werden, was mindestens bei Cahier I der Œuvres complettes auch der Fall war. Der Gewinn aus dieser Verlagsunternehmung wurde allerdings dadurch geschmälert, dass die Chemische Druckerei in Wien zwischen 1804 und 1812 – bei nahezu gleicher Anordnung – alle 17 Hefte in Lithographie nachdruckte; bei Simrock erschienen zwischen 1803 und 1807 24 Hefte, die sich gleichfalls fast vollständig aus den Œuvres complettes speisten und denen mit einiger Verzögerung (um 1833/1834) noch vier weitere Hefte folgten. Auf Breitkopf & Härtels Œuvres complettes basieren auch die Ausgabe Saemtliche Werke für das Clavier mit und ohne Begleitung von W. A. Mozart in 38 Heften bei S. A. Steiner in Wien (ca. 1818), die dann an Tobias Haslinger überging und das Muster für dessen Ausgabe der Beethoven’schen Klavierwerke bildete, sowie entsprechende Serien bei Ignaz Joseph Pleyel (ab ca. 1815) und später bei Madame Launer (ab 1839) in Paris. Die Werkauswahl der Œuvres complettes erhielt damit – einschließlich diverser Fehlzuschreibungen – bis zum Erscheinen der Alten Mozart-Ausgabe geradezu kanonischen Status. Als höchst erfolgreich erwiesen sich auch die Ausgaben der Klavierkonzerte in Serie III des Editionsunternehmens von Breitkopf & Härtel. In rascher Folge sind dort zwischen 1800 und 1804 20 Klavierkonzerte erschienen, es fehlen nur die Salzburger Konzerte KV 175, KV 242 (für zwei bzw. drei Klaviere) und KV 246; allerdings findet sich darunter nur eine einzige Erstausgabe, nämlich die des Konzerts in C-Dur KV 467, das mit der Ankündigung „nach Mozarts Originalhandschrift zum erstenmale herausgegeben“ veröffentlicht wurde. Die Erwartungen Breitkopf & Härtels an die Publikation von Kirchenmusikwerken dürften sich hingegen eher nicht erfüllt haben. Zwar war 1800 mit der Erstveröffentlichung des sagenumwobenen Requiems KV 626 ein echter Coup gelungen; auf zwei Messendrucke im Jahre 1803 (KV 257 und KV 317) folgte 1812 aber nur noch eine einzige weitere Messe (KV 259).8 Der Versuch, Opern in Partitur auf den Markt zu bringen, blieb gleichfalls zunächst auf Don Giovanni (1801) beschränkt; Così fan tutte folgte erst deutlich später (1810). ____________ 8
Wegen der zunehmenden Bedeutung von deutschen Vokaltexten im Gottesdienst veröffentlichte der Verlag mehrere Kontrafakturen aus Vokalwerken, drei Hymnen nach Chören aus der Schauspielmusik zu Thamos, König in Ägypten KV 345 (KV Anh. 121–123; 1804) und sieben Kantaten (KV Anh. 124–130; 1812–1820), deren Sätze aus Vespern, Litaneien, Kantaten und Messen zusammengestellt waren. Diese insgesamt weitverbreiteten Arrangements sind allerdings nicht den Œuvres complettes zuzurechnen.
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Ebenso wurde die Ankündigung, auch Quartette und Quintette zu veröffentlichen, nicht konsequent verfolgt. Obwohl Breitkopf & Härtel das Projekt breit aufgestellt hatten, war eine echte Gesamtausgabe sicherlich nicht beabsichtigt. Der Verlag behielt die Absatzchancen stets im Blick, was sich schon an den gewählten Publikationsformen ablesen lässt: Musik für den Haus- und Konzertgebrauch wurde in Stimmen publiziert. Partituren blieben auf die Gattungen Kirchenmusik und Oper beschränkt; man erwartete, dass die jeweiligen Institutionen dann die Aufführungsmaterialien selbst herstellen würden. Bemerkenswert ist, dass man ein wesentlich größeres Repertoire sichtete als letztlich in die Ausgabe einging. Beleg hierfür ist ein systematisches Verzeichnis, das beim Verlag angefertigt wurde und die Incipits der Werke mit Hinweisen auf Quellenbesitzer (einschließlich des eigenen Verlagsarchivs) enthält.9 Das wenig gewürdigte Verzeichnis stellt einen der wichtigsten Vorläufer für das Köchelverzeichnis dar. Über die Editionspraxis der Œuvres complettes ist wenig bekannt. Der Verlag begnügte sich weitgehend damit, leicht verfügbare Quellen heranzuziehen. Auch dort, wo – wie bei der Erstausgabe der Klaviersuite KV 399 in Cahier VI der Œuvres complettes – nachweislich autographe Quellen für die Edition zur Verfügung standen, wurde auf editorische Eingriffe – wie die Hinzufügung von Vortragsbezeichnungen – nicht vollständig verzichtet. Der Verlag legte für die Zeit ungewöhnlich großen Wert auf korrekte Ausgaben und unterzog die zum Abdruck vorgesehenen Quellen gründlicher Prüfung durch seine Verlagskorrektoren; tatsächliche oder vermeintliche Fehler wurden dabei konsequent eliminiert.10 Die Korrektoren schossen dabei gelegentlich über das Ziel hinaus; die Ausgabe enthält überdies auch einige Vortragsbezeichnungen, deren Herkunft nicht mehr zu eruieren ist. Durch die zahlreichen Nachdrucke des 19. Jahrhunderts wurden diese (mutmaßlich unautorisierten) Lesarten weit verbreitet und wirken zum Teil bis heute nach. Zwar besteht auch bei den 11 zwischen 1803 und 1807 veröffentlichten, verhältnismäßig dünnen Heften des Bureau de Musique von Hoffmeister & Kühnel ein hoher Grad an Übereinstimmung, doch benutzte das ebenfalls in Leipzig ansässige Verlagshaus nicht die Œuvres complettes als alleinige Quelle, sondern griff insbesondere auf die schon von Hoffmeister in Wien veröf____________ 9
10
Das Original ging im Zweiten Weltkrieg verloren, doch haben sich zwei Abschriften davon – aus dem Besitz der Mozart-Forscher Otto Jahn und Ludwig Ritter von Köchel – in der Staatsbibliothek zu Berlin bzw. der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien erhalten. Ähnliche Bemühungen sind um diese Zeit auch bei Johann Julius Hummel in Amsterdam und Berlin, bei Hoffmeister & Kühnel in Leipzig und – mit Abstrichen – auch bei Simrock in Bonn zu beobachten.
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fentlichten Ausgaben zurück. Die Selbständigkeit des Unternehmens belegt auch die von Hoffmeister & Kühnel seit 1801 publizierte „vollständige Prachtausgabe von W. A. Mozarts Original- und arrangierten Quartetten und Quintetten für die Violin“; diese bildete die Initialzündung für weitere Sammeleditionen von Kammermusik bei Artaria (ab 1807) sowie bei verschiedenen französischen Verlegern, beginnend mit Ignaz Pleyel, der schon seit 1801 sämtliche Quartette Joseph Haydns herausgegeben hatte.
III.
Die Mozart-Ausgaben des Verlages André in Offenbach
Der 1774 in Offenbach durch Johann André (1741–1799) gegründete Musikverlag entwickelte sich innerhalb kurzer Zeit zu einem der erfolgsreichsten Unternehmen im deutschen Sprachgebiet; zu den Schwerpunkten des Verlagsprogramms gehörte Orchestermusik, die von Wiener Musikverlagen nur zurückhaltend bedient wurde: Mit Ausnahme von zwei Sinfonien (KV 385 und 319) war zu Mozarts Lebzeiten kein Orchesterwerk in Wien gedruckt worden. André reagierte damit auf die zunehmende Anzahl an privaten Liebhaberkonzerten und öffentlichen Konzertvereinigungen. Schon früh rückte auch Mozart in sein Blickfeld: Zwischen 1792 und 1795 legte Johann André neben einigen kleineren Werken Erstausgaben von sieben Sinfonien – darunter die Linzer Sinfonie KV 425 und die Trias von 1788, bestehend aus KV 543, 550 und 551 – sowie sechs Klavierkonzerte (KV 449, 456, 238, 459, 537, 466) vor. Der Erwerb des vollständigen Mozart-Nachlasses (unter Zurücklassung der Fragmente, die sich einer Vervollständigung zu entziehen schienen) war eine der ersten Aufgaben, die Johann Anton André (1775–1842), der den Verlag nach dem Tod seines Vaters im Sommer 1799 übernommen hatte, verwirklichte. Es gelang ihm dabei, sich gegen den Verlag Breitkopf & Härtel, den Constanze Mozart favorisiert hatte, durchzusetzen. Der Nachlass war nicht ganz vollständig: An großen Werken fehlten u. a. die Autographe zur Entführung aus dem Serail KV 384 und zu Le nozze di Figaro KV 492. Auch hatte Mozart nicht von allen Gelegenheits- und Auftragswerken die Handschriften behalten. Der Ankauf des Mozart-Nachlasses bedeutet eine grundlegende Zäsur in der Geschichte der Mozart-Editionen: Die Autographe waren hiermit dem Markt und dem Zugriff anderer Verleger entzogen. Die seit Mozarts Tod zu beobachtende rasche Folge an Erstausgaben flaute infolgedessen – abgesehen von der Produktion des Verlages André – merklich ab; die Verleger waren nach dem Ausfall der zentralen Überlieferung auf die Streuüberlieferung angewiesen. Wiener Verleger konnten bis etwa 1805 noch einzelne Quellen aus Privatbesitz
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rekrutieren; wegen der großen Nachfrage wurden zunehmend auch Fragmente von Klaviermusik vervollständigt (darunter die Fantasie c-Moll KV 396, das Menuett D-Dur KV 355 und der Sonatensatz g-Moll KV 312). André war einer der Ersten, die die Lithographie im Notendruck einsetzten. Er nutzte sein Monopol – entsprechend dem von seinem Vater entwickelten Verlagsprofil – anfangs, indem er zahlreiche bis dahin unveröffentlichte Orchesterwerke herausgab. Hierzu gehörten die Klavierkonzerte KV 246, 482, 488 und 491, die Hornkonzerte KV 447 und KV 495, die Symphonie concertante für Violine, Viola und Orchester KV 364, das Violinkonzert KV 211, das Fagottkonzert KV 191 sowie verschiedene konzertante Einzelsätze (KV 261 und 269, KV 315, KV 373), ferner die Prager Sinfonie KV 504 und der Musikalische Spaß KV 522 (die heute ungleich berühmtere Kleine Nachtmusik KV 525 ist erst 1827 erschienen). André begann auch mit der Herausgabe von Kammermusik; mit den Streichquartetten KV 168–173 und dem Oboenquartett KV 370 kam es auch hier zu Erstausgaben. Ungleich größer ist die Zahl an Neuausgaben von bereits andernorts erschienenen Werken. André übernahm dabei meist die Opuszahlen der Vorgänger; wo diese fehlten und für erstmals erschienene Werke führte er neue Opuszahlen ein, die mit op. 82 beginnen und lückenlos bis op. 116 (Violinsonate F-Dur KV 547: 1810) reichen. Als Qualitätskriterium verwendete er schon bei den ersten Ausgaben den Vermerk édition faite d’après la partition en manuscrit (Konzerte op. 82: 1800 = KV 503, 595, 491, 482, 488, 467), wobei manuscrit wörtlich im Sinne von „eigene Hand des Komponisten“ zu verstehen ist. Zu dieser Formulierung finden sich zahlreiche Varianten, etwa Édition d’après le manuscrit original (op. 98.2 = Violinkonzert D-Dur KV 211: 1802) oder Edition d’après l’original de l’auteur (op. 90 = Bläserdivertimenti KV 213, 240, 252, 253 und 270). André verwendete die Bezeichnung gelegentlich aber auch missbräuchlich, etwa bei der Stimmenausgabe der Ouvertüre zu Le nozze di Figaro (Plattennummer 2265: 1805), für die das Autograph sicherlich nicht zur Verfügung stand. Ob er die Autographe tatsächlich auch überall dort als Stichvorlage verwendete, wo bereits fremde oder eigene ältere Druckausgaben erschienen waren, ist noch zu untersuchen. Die Bedeutung der Ausgaben Andrés für die Erschließung von Mozarts Schaffen steht außer Frage; der wirtschaftliche Erfolg dürfte aber den Erwartungen nicht entsprochen haben: Die Anzahl der erhaltenen Exemplare von den Klavierkonzerten in Andrés Ausgabe steht weit hinter der der Ausgabe Breitkopf & Härtels zurück; von den fünf Violinkonzerten, für die die Opuszahl 98 und die Plattennummern 1514–1518 reserviert waren, ist nur ein einziges, das Konzert D-Dur KV 211, als op. 98.2 tatsächlich erschienen. Auch
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geplante Sammlungen von Liedern, Gesängen und Kanons (Plattennummern 1520–1522) wurden offenbar nicht realisiert. André verwendete viel Zeit auf die Sichtung von Mozarts Nachlass und plante, nachdem er bereits 1805 das eigenhändige Werkverzeichnis des Komponisten nach dem Original publiziert hatte, die Herausgabe eines chronologisch geordneten Verzeichnisses der bis 1784 entstandenen Kompositionen. Die Fertigstellung des Kataloges zog sich aber wegen der mit den Mitteln der Zeit nicht lösbaren Chronologieprobleme hin; beim Tode Andrés im Jahre 1842 war er nicht publikationsreif. Der Elan erlahmte um 1810, möglicherweise infolge der Franzosenkriege. Um diese Zeit trennte sich André auch von einigen Autographen, die er deswegen für entbehrlich hielt, weil die Werke schon vor 1800 bei anderen Verlegern erstmals erschienen waren und er kurz nach der Jahrhundertwende Neuausgaben in seinem eigenen Verlag herausgebracht hatte. Johann Andreas Stumpff (1769–1846), ein aus Thüringen stammender Instrumentenbauer, der sich 1790 in London niedergelassen hatte, erwarb von André den größten Teil von Mozarts Wiener Kammermusik für Streicher und weitere Werke wie die Fantasie und Sonate c-Moll KV 475 und 457. Einträglicher als Orchesterwerke waren für den Verlag jedenfalls die Bearbeitungen Mozart’scher Werke für den Hausgebrauch, darunter Klavierarrangements aller Art und Auswahlausgaben der beliebtesten Nummern und Potpourris nach den großen Opern für zwei Flöten oder zwei Violinen. Andrés Interesse an Mozart erlosch aber nie vollständig. André, selbst Violinist und Komponist, begann, sich auch für Mozarts Schaffenweise zu interessieren, und veröffentlichte die Fragmente des Singspiels Zaide KV 344 (1838) und der Messe c-Moll KV 427 (1840); diese enthielten aber jeweils nur die von Mozart vollständig hinterlassenen Sätze. Historisch bedeutsam ist seine Ausgabe der Ouvertüre zu Die Zauberflöte in Partitur „in genauer Übereinstimmung mit dem Manuscript des Komponisten, so wie er solches entworfen, instrumentiert und beendet hat“, bei der er die im Autograph deutlich erkennbaren Schichten (Hauptstimmen vs. Füllstimmen) durch einen Zweifarbendruck voneinander abhob (Plattennummer 5200: 1829); methodisch reizvoll war sein Versuch, aus Kenntnis von Mozarts „Entwurfspartitur“ des Requiems, die er sich kopieren ließ, auch für die dort nicht enthaltenen Teilsätze Kyrie und Requiem Mozarts Hauptstimmensatz zu rekonstruieren (Plattennummer 5018: 1827) oder vielmehr, wie wir heute aus der Kenntnis der André nicht zugänglichen „Ablieferungspartitur“ wissen, zu „konstruieren“. Nach dem Übergang des Verlags an Carl August André, der 1839, d. h. schon einige Jahre vor dem Tod Johann Anton Andrés erfolgte, wurden die
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Mozart-Autographe noch einmal intensiv für die Neuausgabe von Mozarts Klaviermusik und die Sonaten für Violine und Klavier genutzt, wie aus Lesartenvergleichen hervorgeht. Carl August André gewährte Musikern wie Felix Mendelssohn Bartholdy Zugang zu einigen Autographen und überließ ihm z. B. leihweise die Jupiter-Sinfonie, worüber dieser in einem Brief an Ignaz Moscheles vom 7. März 1845 berichtete. Die Versuche der Familie André, den Mozart-Nachlass geschlossen an eine öffentliche Bibliothek zu verkaufen, führten trotz zäher Verhandlungen nicht zum Erfolg, sodass 1854 der noch vorhandene Bestand unter den erbberechtigten Parteien per Los verteilt wurde. Die damalige königliche Bibliothek zu Berlin konnte 1873 den Erbteil zweier Brüder erwerben und im Laufe der Zeit weitere Autographe durch Schenkungen und Ankäufe an sich bringen. Im Vergleich zu den Aktivitäten des Hauses André kommt den Editionen anderer Verleger in der Zeit zwischen 1810 und 1850 in editionshistorischer Sicht nur ein geringer Stellenwert zu. Dabei dürfte die Gesamtzahl aller Mozart-Drucke bis dahin bereits mehr als 3.500 verschiedene Ausgaben umfasst haben.11 Wie im Zusammenhang mit den Œuvres complettes von Breitkopf & Härtel beschrieben, bildete sich ein Kernrepertoire im Bereich der Klavier- und Kammermusik heraus, das zwar gepflegt, aber weder mit quellenkritischen noch mit innovativen Ausgaben bedacht wurde. Zu beobachten ist in diesem Zeitraum ein stärkeres Engagement französischer Verleger, wohingegen Mozarts Musik bis 1800 in Frankreich keine nennenswerte Rolle gespielt hatte. Großer Beliebtheit erfreuten sich weiterhin Klavierauszüge der großen Opern, wobei sich zu den Traditionsverlagen auch neuere Verleger wie Karl Ferdinand Heckel in Mannheim (gegründet 1821) oder Weidle in Berlin (gegründet 1838) gesellten. Nur allmählich setzten sich Partiturdrucke durch. Am Anfang dieses Prozesses standen die großen Opern, angefangen mit Don Giovanni (Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1801), gefolgt von Idomeneo (Bonn: Simrock, 1805), Le nozze di Figaro (Paris: Magasin de Musique, um 1808), La clemenza di Tito (Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1809), Così fan tutte (Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1810), Die Entführung aus dem Serail (Bonn: Simrock, 1813), Die Zauberflöte (Bonn: Simrock, 1814). Weite Verbreitung erlangten Pariser Ausgaben aller „großen“ Opern, die J. Frey ab etwa 1820 vertrieb. Alle übrigen Bühnenwerke blieben zunächst, mit Ausnahme weniger Einzelarien, ungedruckt. Die ____________ 11
Das Répertoire des Sources Musicales verzeichnet sie in Band A/I/6 unter den Nummern M 4041 bis M 7483 (vgl. auch die Addenda und Corrigenda in A/I/13, S. 89–169); hinzuzurechnen sind auch die Editionen in Sammeldrucken des 18. und 19. Jahrhunderts.
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Opernausgaben waren für einen internationalen Markt bestimmt; ihnen war der Text meist zweisprachig, gelegentlich sogar dreisprachig (italienisch, deutsch, französisch) in singbarer Gestalt unterlegt.12 Bei anderen Gattungen blieben Partituren die Ausnahme: Francesco Cianchettini und der Cellist Sperati veröffentlichten zwischen 1807 und 1809 insgesamt 27 Sinfonien in Partitur, darunter drei von Beethoven, sechs von Mozart und 18 von Joseph Haydn. Im Bereich der Kammermusik oder der Klavierkonzerte setzten sich Partituren nur langsam ab der Jahrhundertmitte durch. Ein selbständiges Projekt, zu dem es auf dem Kontinent kein Gegenstück gibt, war Vincent Novellos erfolgreiche Reihe Mozart’s Masses in Einrichtungen für Singstimmen und Orgel; von den insgesamt 18 Nummern sind aber fast die Hälfte unterschoben. Der wenig bekannte Musikpädagoge und Verleger Philip Cipriani Hambly Potter gab zwei Serien mit Klaviermusik Mozarts heraus, erst eine Auswahlausgabe Chefs d'œuvre de Mozart. A new & correct edition of the piano forte works, with & without acc[ompanimen]ts (London: Coventry, 1835/1836), dann eine erweiterte Edition in 9 Bänden unter dem Titel Mozart. An entirely new, and complete edition of the Piano Forte works, with and without Accomp[animen]ts of this celebrated composer (London: Coventry, um 1848), wobei er offenbar auch auf die damals in England verfügbaren Autographe zurückgriff. Textkritisch haben sich weniger die Musikverleger als die Dirigenten mit den Werken Mozarts auseinandergesetzt. Am bemerkenswertesten ist Robert Schumanns Aufsatz Über muthmaßliche corrumpirte Stellen in Bach’schen, Mozart’schen und Beethoven’schen Werken,13 der völlig zu Recht auf eine widersinnige Taktdopplung im langsamen Satz der g-Moll-Sinfonie KV 550 hinwies und den Irrtum – ohne das Autograph überhaupt gesehen zu haben – richtig auf eine unverstandene Korrektur zurückführte. Das Thema beschäftigte Schumann weiter; dies geht aus einem Brief an Franz Brendel vom 8. August 1847 hervor, in dem er insbesondere auf Textprobleme in Mozarts Requiem hinwies. Im selben Schreiben regte Schumann an, dass Verleger Änderungen, die sie in ihren Neuausgaben klassischer Meister gegenüber den Originalen vorgenommen haben, dokumentieren sollten. Auch der oben bereits angeführte Brief von Mendelssohn an Moscheles vom 7. März 1845 enthält Bemerkungen zu Korrekturen, die Mozart im Autograph der Jupiter-Sinfonie vorgenommen hatte. ____________ 12 13
Bei Klavierauszügen kommen hingegen auch Ausgaben vor, die den Text nur in der jeweiligen Landessprache und nicht in der Originalsprache enthalten. Erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 15 (1841), S. 149–151.
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IV.
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Die Alte Mozart-Ausgabe
In der Zeit zwischen der Erbteilung und der faktischen Zerstreuung des Mozart-Nachlasses bei André gelang es Ludwig Ritter von Köchel, sein bis heute – freilich in mehrfach revidierter Form – verwendetes Chronologisch-thematisches Verzeichnis sämtlicher Tonwerke Wolfgang Amadé Mozarts nebst Angabe der verlorengegangenen, angefangenen, zweifelhaften und unterschobenen Kompositionen (Leipzig 1862) abzuschließen, wobei er auch die im Besitz der Familie André verwahrten Handschriften knapp beschrieb. Mit dem Köchelverzeichnis stand der Öffentlichkeit erstmals eine – nach dem Stand der Zeit – vollständige und verlässliche Übersicht über Mozarts Gesamtschaffen zur Verfügung. Dabei zeigte sich, dass zwar zahlenmäßig die Mehrzahl der Werke Mozarts bereits erschienen, umfangsmäßig aber weit weniger als die Hälfte des Gesamtschaffens erschlossen war. Große Lücken bestanden für die Werke der Salzburger Zeit, insbesondere auf dem Gebiet der Oper, der Kirchenmusik (einschließlich der sogenannten Epistelsonaten) und bei Genres, die im 19. Jahrhundert kaum noch gepflegt wurden wie Divertimento und Serenade. Zudem waren – wie oben gesehen – auch zu vielen bekannten Werken bis dahin nur Stimmendrucke und keine Partituren erschienen. Köchel war der Überzeugung, „ein großer Genius [könne] nicht würdiger geehrt werden, als durch eine correcte Ausgabe seiner sämtlichen Werke“. Er stiftete daher einen beträchtlichen Teil seines Vermögens als Grundstock für eine Gesamtausgabe der Werke Wolfgang Amadé Mozarts. Die Ausgabe Wolfgang Amadeus Mozart’s Werke. Kritisch durchgesehene Gesammtausgabe, die erstmals das Prädikat einer historisch-kritischen Gesamtausgabe verdient, ist dann in der erstaunlich kurzen Zeit von sieben Jahren zwischen 1876 und 1883 bei Breitkopf & Härtel erschienen; ein Supplement, das vor allem größere Fragmente und einzelne Werke enthielt, von denen Köchel nur das Incipit kannte, aber keine Quelle nachweisen konnte, wurde weitgehend zwischen 1886 und 1889 erarbeitet (mit einzelnen Nachträgen bis 1910). Köchel, der 1877 starb, sollte den Abschluss des Projekts ebenso wie die maßgeblich beteiligten Editoren Franz Espagne (1828–1878), der als Bibliothekar der Königlichen Bibliothek in Berlin an einer Schaltstelle saß, und der als Beethoven-Forscher noch heute bekannte Karl Gustav Nottebohm (1817–1882) nicht mehr erleben. Als Vorbild diente die seit 1850 bestehende Ausgabe der Werke Johann Sebastian Bachs durch die hierfür gegründete Bach-Gesellschaft, die als Editionsprojekt Maßstäbe gesetzt hatte und beim gleichen Verlag erschien. Diese stand vor einer ungleich schwierigeren Quellensituation, da nur ein Bruchteil der Bach-Autographe erhalten geblieben ist. Anders als die Bach-Ausgabe, die
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jährlich einen in sich geschlossenen Band vorlegte und dabei das Gesamtschaffen unsystematisch abarbeitete, folgte die Alte Mozart-Ausgabe der systematischen Übersicht von Mozarts Schaffen aus dem Köchelverzeichnis, ordnete die 23 Werkgruppen Köchels aber pragmatisch in 23 Serien neu an. Hinzugefügt wurde eine Serie XXIV für „Wiederaufgefundene, unbeglaubigte und unvollendete Werke“. Die Edition bemühte sich – stärker als dies für einige Editoren der Bach-Ausgabe galt – um Quellentreue, etwa hinsichtlich der Notation von Vorschlagsfiguren; es finden sich erste Ansätze zu einer typographischen Differenzierung von Herausgeberzutaten, etwa durch die Einklammerung von im Original fehlenden Tempoangaben. Wo die Autographe zur Verfügung standen, ist die Editionsleistung meist nicht zu beanstanden; im Revisionsbericht werden auffällige Korrekturen, insbesondere Streichungen mitgeteilt. Aus Bequemlichkeit und mangels Verfügbarkeit erfolgte der Stich allerdings nicht nach den Autographen selbst; in vielen Fällen verließ man sich auf die von Köchel zu Studienzwecken zusammengetragene Sammlung von Partiturabschriften, die aber von den damit beauftragten Kopisten nicht immer zuverlässig erstellt worden waren. Die Edition kann unter diesen Umständen naheliegenderweise nicht besser als die jeweilige Stichvorlage sein. Die Revisionsberichte erfüllen ihre Aufgabe nur in Hinsicht auf die Dokumentation der zugrunde gelegten Quellen. Die Beschreibung der Quellen geht selten, etwa bei einzelnen Bühnenwerken, über die Angaben im Köchelverzeichnis hinaus; nur ausnahmsweise wurden mehr als eine Quelle konsultiert. Die Verzeichnisse der Lesarten sind selektiv und beschränken sich (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) meist auf Tonhöhenfehler und auf Hinweise zur Instrumentation. Artikulationsfragen oder Divergenzen zwischen den Quellen werden grundsätzlich nicht berührt. Der Revisionsbericht zu den gut 2.000 Notenseiten der Jugendopern bis Il re pastore KV 208 umfasst damit nicht mehr als 56 Seiten, von denen noch fast ein Fünftel auf die Zusammenfassung der Opernhandlungen entfällt, die per se keine editorische Leistung sind. Besonders spärlich sind die wichtigen Gattungen Sinfonik und Klavierkonzerte sowie die Kammer- und Klaviermusik dokumentiert, da sich der Revisionsbericht hier in einer tabellarischen Übersicht über die Quellen erschöpft. Der besondere Wert der Ausgabe besteht darin, das Gesamtschaffen Mozarts unter vergleichbaren Editionsbedingungen vollständig und in beeindruckend kurzer Zeit vorgelegt zu haben. Die Ausgabe wurde gründlich Korrektur gelesen, und das Druckbild des Leipziger Traditionsverlags genügte höchsten Ansprüchen. Die Herausgeber – in erster Linie zu nennen sind Gustav Nottebohm und Paul Graf von Waldersee, der 1905 aufgrund der Erfahrungen mit der Gesamtausgabe die zweite Auflage des Köchelverzeichnisses besorgte –
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haben der Frage nach der Authentizität der Werke große Bedeutung beigemessen und schlecht beglaubigte Kompositionen, zu denen weder ein Autograph noch eine verlässliche dokumentarische Echtheitsbestätigung vorlag (das betrifft z. B. das Violinkonzert KV 268 und die Sinfonien KV 75, 76, 81, 96, 96 und 97), mit berechtigter Vorsicht dem Supplement zugewiesen. Die im Zuge der Edition eingeführte Zählung der Werke innerhalb der Werkgruppen wirkt bis in die heutige Zeit nach, wenn etwa von der Sinfonie Nr. 40 (= KV 550) oder vom Klavierkonzert Nr. 23 (= KV 488) die Rede ist. Ähnlich wie die Œuvres complettes am Anfang des 19. Jahrhunderts hat die Pionierleistung der Alten Mozart-Ausgabe das Mozart-Bild für mehr als 50 Jahre maßgeblich geprägt. Breitkopf & Härtel hatten durch eine Doppelpaginierung der Notenseiten von vornherein eine Weiterverwendung in Einzelausgaben im Auge. Diese bildeten den Grundstock für die sogenannte Orchesterund für die Partiturbibliothek; auch wurden im großen Stil Aufführungsmaterialien – Stimmen und Klavierauszüge – erstellt, was dem Verlag mindestens im deutschsprachigen Raum wieder eine marktbeherrschende Stellung verschaffte. Obgleich beispielsweise die von niemand Geringerem als Johannes Brahms vorgenommene Edition von Mozarts Requiem im Rahmen der Alten MozartAusgabe in der Darstellungsform richtungsweisend ist, indem sie die Schriftanteile Mozarts in der „Ablieferungspartitur“ durch Beischriften von den Ergänzungen Franz Xaver Süßmayrs unterscheidet, dürfte die bedeutendste editorische Leistung des 19. Jahrhunderts außerhalb der Gesamtausgabe erfolgt sein: Der Berliner Klavierpädagoge Ernst Rudorff (1840–1916), der im Rahmen der Gesamtausgabe unter anderem die Konzerte für ein Blas- oder Streichinstrument und Orchester in einer vorbildlichen Edition herausgegeben hatte, brachte 1885 beim Verlag Litolff in Braunschweig eine kommentierte Ausgabe von Mozarts Sonaten und Phantasien: Akademische Ausgabe in zwei Bänden heraus, die in Fußnoten auf den Notenseiten zahlreiche Varianten dokumentiert und von einer genauen Auseinandersetzung mit den Quellen zeugt. Diesen quellenkritischen Ansätzen auf dem Weg zur modernen „UrtextAusgabe“ stehen auf dem Gebiet der Klavier- und Kammermusik zahlreiche zeitgenössische Interpretationsausgaben einzelner Werke, häufig mit dem Titelzusatz „instruktive Ausgabe“, gegenüber. Zu den Verlagen, die sich mit unterschiedlichen Konzepten gegen Breitkopf durchzusetzen versuchten, gehörte Ernst Eulenburg in Leipzig (gegründet 1874), der sich nach Übernahme der Verlage von A. H. Payne (Leipzig) und E. Donajowski (London) ab 1894 auf Taschenpartituren spezialisierte; zu den kritischen Ausgaben, die in der Darstellungsform modernen Ansprüchen noch immer genügen, zählt die Taschenpartitur von Le nozze di Figaro (hrsg. von
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Hermann Abert, Revisionsbericht von Rudolf Gerber; Leipzig, ca. 1926). Eine Neuerung waren die Vorworte, die sich teils Fragen der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte widmeten, teilweise musikwissenschaftliche Analysen der edierten Werke enthielten. Die Taschenpartituren decken heute mit mehr als 130 Titeln große Teile der Kammermusik, der marktgängigen Orchesterwerke und ausgewählte Vokalkompositionen ab. Offenbar erst mit den Taschenpartituren setzten sich Taktangaben in Partiturausgaben allmählich durch. Der Verlag C. F. Peters, der lange an praktischen Ausgaben festhielt und sich dabei neben Breitkopf & Härtel durchaus behaupten konnte, gab seit Ende der 1930er Jahre nicht nur neue Partiturausgaben von Klavierkonzerten heraus, sondern versuchte auf dem Opernsektor – über die weitverbreiteten Klavierauszüge hinaus – Fuß zu fassen. Um 1941 kamen Le nozze di Figaro, Don Giovanni und Così fan tutte in quellenkritischen Prachtausgaben (Georg Schünemann/Kurt Soldan) heraus; die fortschreitende Kriegsgefahr führte zur Verlagerung der Autographe aus Berlin und brachte das Projekt vorzeitig zum Erliegen.
V.
Die Neue Mozart-Ausgabe
Dass die Alte Mozart-Ausgabe konzeptionelle Schwächen aufwies und – 70 Jahre nach ihrer Entstehung – in Teilen der Revision bedurfte, war spätestens 1937 mit dem Erscheinen der dritten, von Alfred Einstein neu bearbeiteten Auflage des Köchelverzeichnisses für jedermann deutlich geworden. Die Frage einer Neuausgabe von Mozarts Werken wurde 1940 auf einer Arbeitstagung des damaligen Zentralinstituts für Mozartforschung in Salzburg (heute Akademie für Mozart-Forschung), das seit 1927 die bedeutendsten Mozartforscher der Welt vereinigte, diskutiert. Es darf auch nicht verschwiegen werden, dass der Stiftung Mozarteum der förmliche Auftrag zur Schaffung einer neuen Gesamtausgabe 1941 von Adolf Hitler persönlich erteilt wurde. Zur Umsetzung kam es infolge der Kriegsereignisse nicht. Bei Kriegsende stand die MozartForschung vor der erschütternden Situation, dass fast ein Drittel der MozartAutographe der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek aus der Verlagerung nach Schlesien nicht zurückgekehrt war und dass auch die nach Südwestdeutschland ausgelagerten Bestände wegen des ungeklärten Status von Berlin nicht dorthin zurückgebracht wurden, sondern nur in Depots in Tübingen und Marburg benutzt werden konnten. Erst 30 Jahre später hob sich der Schleier: Die verschollen geglaubten Berliner Autographe kamen mit wenigen Ausnah-
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men Ende der 1970er Jahre in der Biblioteka Jagiellońska in Kraków unversehrt zum Vorschein; der Erste Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei Edward Gierek führte 1977 bei einem Staatsbesuch in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik die Autographe der Zauberflöte KV 620, der Jupiter-Sinfonie KV 551 und der Messe c-Moll KV 427 als Gastgeschenke mit sich.14 Die Diskussion um eine neue Ausgabe von Mozarts Werken wurde 1951 bei einer wissenschaftlichen Tagung in Salzburg wieder aufgenommen; in der Folge wurde zunächst eine Revision der Alten Mozart-Ausgabe erwogen, zumal die originalen Stichplatten des Verlages Breitkopf & Härtel den Krieg unbeschädigt überstanden hatten. Es setzte sich aber schließlich der Bärenreiter-Verlag mit Karl Vötterle an der Spitze durch, der aus wissenschaftlichen wie aus Verlagsinteressen eine grundsätzliche Neuausgabe gefordert hatte. Als Herausgeber fungierte die Internationale Stiftung Mozarteum. Zum Editionsleiter wurde Ernst Fritz Schmid (1900–1960) bestellt, zur Deckung der Kosten wurde die Stiftung „Pro Mozart“ gegründet. Im März 1954 legte Schmid einen ersten Entwurf der Editionsrichtlinien vor. Diese Editionsrichtlinien wurden im November 1955 revidiert und lagen mit geringfügigen Modifikationen der gesamten Neuen Mozart-Ausgabe zugrunde,15 auch wenn die Auslegung der Richtlinien – abhängig in erster Linie von der Persönlichkeit der jeweiligen externen Bandbearbeiter – keineswegs stets in allen Details einheitlich gehandhabt wurde. Wie in den großen Musikergesamtausgaben des 20. Jahrhunderts üblich, wurde die Edition mit einem sehr geringen Stab an fest angestellten Mitarbeitern durchgeführt; die Mehrzahl der Bände wurde an externe Bearbeiter vergeben. Die Edition wurde finanziell zu erheblichen Teilen aus öffentlichen Mitteln (zuletzt u. a. durch die Union der Akademien der Wissenschaften in Mainz und die Mozart-Städte Augsburg, Salzburg und Wien) sowie durch gemeinnützige Stiftungen (zuletzt das Packard Humanities Institute in Los Altos/California) gefördert. Das aus 101 Notenbänden bestehende Hauptkorpus wurde bis zum Mozartjahr 1991 erarbeitet. 2007 wurde offiziell das Ende der Neuen Mozart-Ausgabe gefeiert; die letzten Nacharbeiten (NMA X/31/4: Nachträge; NMA X/35, Abt. 1: Addenda und Corrigenda; NMA X/35, Abt. 2: Indices) liegen zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Beitrags noch ____________ 14
15
Eine Rückgabe der insgesamt 300.000 Bestandseinheiten umfassenden „Berlinka“ scheiterte bislang an der grundsätzlich unterschiedlichen völkerrechtlichen Bewertung durch die deutsche und polnische Regierung. Diese ist im hiesigen Kontext irrelevant, da die Originalhandschriften der Forschung uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Vgl. zuletzt den Abdruck in: Editionsrichtlinien Musik, im Auftrag der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000, S. 249–279.
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nicht vor. Die Neue Mozart-Ausgabe umfasst insgesamt 127 Bände, darunter 121 Notenbände mit insgesamt 23.000 Notenseiten und 103 separat gedruckte Kritische Berichte mit 8.000 Seiten.16 Als Grundprinzipien wurde für die Neue Mozart-Ausgabe in den Vorworten der Einzelbände festgehalten: Die Neue Mozart-Ausgabe (NMA) bietet der Forschung auf Grund aller erreichbarer Quellen – in erster Linie der Autographe – einen wissenschaftlich einwandfreien Text, der zugleich die Bedürfnisse der Praxis berücksichtigt. Zu jedem Notenband erscheint gesondert ein Kritischer Bericht, der die Quellenlage erörtert, abweichende Lesarten oder Korrekturen Mozarts festhält sowie alle sonstigen Spezialprobleme behandelt. […] Von verschiedenen Fassungen eines Werkes oder Werkteiles wird dem Notentext grundsätzlich die als endgültig zu betrachtende zugrunde gelegt. Vorformen bzw. Frühfassungen und ggf. Alternativfassungen werden im Anhang wiedergegeben. […] Mit Ausnahme der Werktitel, der Vorsätze, der Entstehungsdaten und der Fußnoten sind sämtliche Zutaten und Ergänzungen in den Notenbänden gekennzeichnet. […]
Die philologischen Ansprüche an die Edition wurden weitgehend eingelöst; der Notentext ist nahezu frei von offenkundigen Fehlern. Als grundsätzlich tragfähig haben sich die folgenden Entscheidungen erwiesen: die Zurückhaltung bei freien Ergänzungen, die Forderung nach Verbesserung offenbarer Fehler der Vorlagen. In Hinsicht auf die Notation und die Aufführungspraxis im 20. Jahrhundert sind die folgenden Entscheidungen plausibel: Modernisierung der Partituranordnung (gegenüber der von Mozart überwiegend verwendeten „italienischen“ Partituranordnung, bei der Violinen und Viola am Kopf der Notenseite stehen) und der Schlüssel bei Gesangsstimmen, die Notierung transponierender Instrumente gemäß den Vorlagen (wohingegen die Neue Bach-Ausgabe transponierende Blechblasinstrumente und Pauken in die Grundtonart des Stückes transponiert hat) und die Ausnotierung von Abbreviaturen, insbesondere das Ausschreiben der von Mozart vor allem in Reprisen verwendeten Kurzform „Da Capo X Täckt“, wobei „X“ für die Zahl der zu wiederholenden Takte steht. Bewährt hat sich auch die ausgiebig diskutierte Differenzierung zwischen Punkten und Strichen bei Artikulationsangaben (deutliche Punkte stehen bei Mozart fast ausschließlich bei Tonwiederholungen im Sinne eines Portato), auch wenn schon Mozarts Zeitgenossen in Dru____________ 16
Zu einer Kritik an der Neuen Mozart-Ausgabe „von außen“ vgl. Johannes Kepper, Musikedition im Zeichen neuer Medien. Historische Entwicklung und gegenwärtige Perspektiven musikalischer Gesamtausgaben (= Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik, Bd. 5), Norderstedt 2011, S. 100–103.
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cken und Handschriften häufig unterschiedslos nur eines der Zeichen verwendet haben.17 Eine behutsame Normalisierung der Balkensetzung und die vorgenommenen typographischen Differenzierungen, um Herausgebereingriffe kenntlich zu machen, erweisen sich im Prinzip als praxisnah. Einschränkungen sind dahingehend zu machen, dass die Verwendung dynamischer Angaben in nicht-kursiver Brotschrift (anstelle eines an den historischen Vorbildern orientierten Spezialfonts), die allzu komplexe Abstufung von szenischen Angaben bei Bühnenangaben (abhängig davon, ob sie im Autograph oder dem originalen Libretto stehen oder freie Herausgeberzutat sind) und die Größenabstufung, insbesondere bei vom Herausgeber ergänzten Artikulationspunkten, vom Benutzer intuitiv nicht immer erfassbar sind. Die insgesamt spärlichen Hinweise zur Aufführungspraxis, etwa zur Realisierung von Vorschlagsnoten, Ornamenten, Fermaten und Eingängen oder die Realisierung des Generalbasses in Secco-Rezitativen der Bühnenwerke sowie die Ergänzung von im Original nicht vorhandenen Akzidentien sind von Spezialisten mitunter harsch kritisiert worden, aber auch vom Nichtfachmann eindeutig als Vorschläge des Herausgebers erkennbar. Die Vorworte zur Neuen Mozart-Ausgabe sind vergleichsweise ausführlich gehalten. Der Schwerpunkt der Vorworte liegt auf der Werkgeschichte, häufig gibt es auch eine Einzelkritik problematischer Textstellen. Die Quellenlage wird meist nur kursorisch dargestellt und das Verhältnis der einzelnen Quellen zueinander kaum erörtert. Eine kritische Prüfung älterer Bände, wie sie für Nachdrucke einzelner Gesamtausgaben immer wieder notwendig wurde, zeigt jedoch, dass viele der durch Fakten nicht belegbaren Spekulationen inzwischen überholt sind. Eine wesentliche Einschränkung bedeuten Versäumnisse bei der Erstellung der Kritischen Berichte, deren Notwendigkeit nicht von allen Herausgebern erkannt wurde. Durch den vermeintlichen oder tatsächlichen Druck, möglichst viele Notenbände als Gradmesser für das Fortschreiten der Edition vorzulegen, wurde die editionspraktische Grundregel, die Kritischen Berichte gleichzeitig mit den Notenbänden abzuschließen, hintangestellt. Die Einheit aus Notentext und Kritischem Bericht, die den Musikergesamtausgaben des 20. Jahrhunderts als Idee zugrunde liegt, wurde damit durchbrochen.18 Die Berichte wurden schließlich mit jahrzehntelanger Verzögerung nachgeliefert, zu großen Teilen auch erst nachträglich vollkommen neu erstellt, wodurch seit 1991 erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen gebunden wurden. Diese Nachteile wer____________ 17
18
Vgl. Die Bedeutung der Zeichen Keil, Strich oder Punkt bei Mozart. Fünf Lösungen einer Preisfrage, hrsg. von Hans Albrecht, Kassel 1957, sowie Paul Mies, Die Artikulationszeichen Punkt und Strich bei Mozart, in: Die Musikforschung 11 (1958), S. 428–455. Zu dieser Frage vgl. grundsätzlich Georg Feder, Musikphilologie. Eine Einführung in die musikalische Textkritik, Hermeneutik und Editionstechnik, Darmstadt 1987, S. 143.
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den auch dadurch nicht aufgewogen, dass bei der Erstellung der Kritischen Berichte die bislang unzugänglichen Autographe aus Kraków berücksichtigt werden konnten und die Abweichungen gegenüber dem publizierten Notentext (glücklicherweise häufig beschränkt auf Fragen der typographischen Differenzierung) in Listen mitgeteilt werden. Im Vergleich hierzu bewegt sich die Kritik am Notentext und an den Editionsprinzipien auf hohem Niveau. Aufgrund der großen Zahl an überlieferten Autographen und ihrer guten Lesbarkeit gibt es für einen Großteil des Gesamtschaffens keine gravierenden Editionsprobleme. Die Autographe erweisen sich als nahezu fehlerfrei: Mozart hat sich nur gelegentlich in Hilfslinien geirrt und eigentlich notwendige Akzidentien bei Modulationen vergessen, seltener führen unvollständig ausgeführte Korrekturen durch das Nebeneinander von Lesart post correcturam in einer Stimme und Lesart ante correcturam in einer anderen zu Satzfehlern (gehäuft tritt dieses Problem im Autograph des Klavierkonzerts c-Moll KV 491 auf). Inkonsistenzen finden sich vorrangig bei der Notation gleichartiger Stellen sowie bei der Artikulation paralleler, aber nicht zur selben Zeit notierter Stimmen. Die im Vergleich etwa zur Überlieferungssituation bei Joseph Haydn gute Ausgangslage hat aber dazu geführt, dass systematische Quellenstudien vernachlässigt wurden: Der Wert von Wasserzeichenstudien, wie sie in der Bach-Forschung seit den 1950er Jahren intensiv genutzt wurden, wurde erst in der Schlussphase der Neuen Mozart-Ausgabe erkannt (NMA X/33, Abt. 2: Wasserzeichenkatalog, Alan Tyson, 1992); ein Schreiberkatalog wurde nie erstellt,19 und die Forschungen zur Schriftchronologie, die Anfang der 1960er Jahre spektakuläre Neuerkenntnisse (insbesondere durch die Scheidung der Schriftanteile von Wolfgang Amadé und Leopold Mozart in den bis etwa 1772 komponierten Werken) mit sich brachte, kamen 1995 mit dem Tod des langjährigen Editionsleiters Wolfgang Plath zum Erliegen. Dementsprechend fehlte auch eine fundierte Handreichung, wie editorisch beim Ausfall der zentralen Überlieferung zu verfahren sei. Kritik an der Edition einzelner Werke, die das Verdienst der Edition als Ganzes nicht schmälert, war damit programmiert: Hierzu gehört beispielsweise die sogenannte Linzer Sinfonie KV 425, deren Autograph verschollen ist. Der Edition in NMA IV/11/7 wurde 1971 eine Stimmenabschrift zugrunde gelegt, die Mozart selbst an den Hof in Donaueschingen vermittelt hatte. Neuere Forschungen haben gezeigt, dass diese Abschrift eine nur mäßig zuverlässige Wiener Handelskopie ist, die Mozart weitergereicht hatte; eine wesentlich bessere Quelle hätte in Form einer von Leopold Mozart überwachten Stimmenabschrift von Salzbur____________ 19
Zur Bedeutung und Ergiebigkeit des Themas vgl. Dexter Edge, Mozart’s Viennese Copyists, Diss. University of Southern California, Los Angeles 2001.
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ger Kopisten, die offenbar das von Wolfgang übersandte Autograph verwenden konnten, zur Verfügung gestanden, die als Besitz der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg überdies vor Ort greifbar gewesen wäre.20 Die Entscheidung, bei Werken, die in mehreren Fassungen überliefert sind, nach dem Prinzip der Fassung letzter Hand zu verfahren, wurde keineswegs durchgängig eingelöst. Anders als bei Johann Sebastian Bach und seinen Söhnen kommen Revisionen eigener Werke bei Mozart ohnehin nur selten vor und dann meist in Form von Hinzufügungen oder dem Austausch ganzer Sätze (z. B. KV 382 als 1782 neukomponiertes Finale zum Klavierkonzert D-Dur KV 175 von 1773). Schwieriger gestalten sich kleinere Überarbeitungen des Notentextes, wie sie etwa bei den zu Lebzeiten erschienenen Klavierwerken anzutreffen sind (siehe oben, S. 338ff.). In einigen Fällen, insbesondere in der Anfangszeit der Neuen Mozart-Ausgabe, wurden aber die Erstausgaben bei der Erstellung des Notentextes gar nicht berücksichtigt; wo dies dennoch geschehen ist, wurde häufig auf die Angabe des verwendeten Exemplars verzichtet. Dies ist insofern problematisch, als die Arbeiten von Gertraut Haberkamp gezeigt haben, dass sich von vielen Erstdrucken unterschiedliche, aber nirgends als solche gekennzeichnete Auflagen unterscheiden lassen, die durchaus auch Abweichungen im Notentext aufweisen können. Diese resultieren meist nicht daher, dass für Neuauflagen Verbesserungen an den Druckplatten vorgenommen wurden. Vielmehr waren speziell die in Wien von Artaria verwendeten Platten sehr empfindlich; Plattenrisse haben daher häufig den Neustich einzelner Platten erfordert. Im Falle der Fantasie und Sonate c-Moll KV 475 und 457 enthält beispielsweise schon die dritte Auflage nur noch eine einzige Platte der ersten Auflage. Einem Exemplar dieser und der Folgeauflagen, auch wenn sie auf den ersten Blick Erstausgaben zu sein scheinen, kommt somit kein höherer Quellenwert als anderen Nachstichen zu. Auch wenn es gute Gründe dafür geben mag, auf eine Kontamination von Quellen zu verzichten, wäre eine Auswertung der Erstdrucke im Kritischen Bericht unverzichtbar gewesen. In der Neuen Mozart-Ausgabe zeigt sich aber deutlich eine grundsätzliche Bevorzugung der autographen Lesarten gegenüber denen der – wie gesehen – manchmal problematischen, insgesamt aber sicherlich unterschätzten Erstdrucke. Bei der ursprünglich auf gerade einmal 15 Jahre angesetzten Bearbeitungsdauer wurde das Fehlen verlässlicher Grundlagenforschungen unterschätzt; die ____________ 20
Cliff Eisen, New Light on Mozart’s “Linz” Symphony, in: Journal of the Royal Musical Association 113 (1988), S. 81–96. Die Argumentation der Neuen Mozart-Ausgabe basiert auf der Studie des Bandherausgebers Friedrich Schnapp, Neue Mozart-Funde in Donaueschingen, in: Neues Mozart-Jahrbuch 2 (1942), S. 211–223.
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für große Teile des Repertoires eindeutige Quellenlage bot auch keine ausreichende Hilfestellung für die besonderen methodischen Probleme der Opernedition, die aber auch andere Gesamtausgaben für Musik des 18. Jahrhunderts vor erhebliche Probleme stellen. Hauptgrund ist ein pragmatischer Werkbegriff der Opernpraxis, der von den latent nachwirkenden Vorstellungen des 19. Jahrhunderts vom „autonomen“ Kunstwerk abweicht. Ein Verständnis für die Vorstellung, dass eine Oper ein Work in progress ist und dass das Autograph nicht alle Änderungen und Präzisierungen widerspiegeln kann, die im Laufe einer Opernproduktion vorgenommen und vom Komponisten mindestens sanktioniert wurden, hat sich erst in der Schlussphase der Edition entwickelt. Ebenso wurde die Existenz der Originalstimmensätze zu einigen Wiener Opern (Die Entführung aus dem Serail, Le nozze di Figaro, Don Giovanni, Così fan tutte) erst spät bekannt; ihre Deutung erweist sich überdies als schwierig, da diese Stimmensätze über lange Zeit – bis weit nach Mozarts Tod – in Gebrauch waren und nur unvollständig überliefert sind (meist fehlen die originalen Vokalstimmen, da auch die italienischen Opern im 19. Jahrhundert in deutscher Übersetzung gegeben wurden). Eine saubere Trennung von Werkfassungen konnte aus Umfangsgründen (Don Giovanni, La finta giardiniera) oder schon wegen des fehlenden Zugangs zum Autograph (Idomeneo, Le nozze di Figaro) nicht vorgenommen werden. Hier bilden die Editionen im Rahmen der Neuen Mozart-Ausgabe einen Kompromiss, der in der Diskussion der Experten mindestens soviel Zuspruch wie Ablehnung erfahren hat. Parallel zur Neuen Mozart-Ausgabe haben sich mehrere Urtext-Verlage auch der Musik Mozarts zugewendet. Diese sind vor allem die Wiener UrtextEdition, ein Kooperationsprojekt zwischen der Universal-Edition Wien und dem Verlag Schott in Mainz (seit 1973), sowie der 1948 in Duisburg gegründete G. Henle-Verlag (München), dessen erstes Verlagsprodukt eine wissenschaftliche Ausgabe der Mozart’schen Klaviersonaten war. Beide Unternehmen wenden sich vornehmlich der Klavier- und Kammermusik zu; der G. Henle-Verlag hat durch eine Kooperation mit Breitkopf & Härtel in den jüngsten Jahren sein Repertoire in Richtung konzertanter Musik erweitert, wobei die Partituren und Aufführungsmaterialien im Verlag Breitkopf & Härtel erscheinen (und dabei die älteren Ausgaben schrittweise ablösen), Klavierauszüge hingegen beim G. Henle-Verlag. Beide Urtext-Verlage bemühen sich um eine starke Einbindung der musikalischen Praxis; den wissenschaftlichen Editoren stehen Experten der historisch-informierten Aufführungspraxis beratend zur Seite, die ausführliche Hinweise zur Interpretation geben. Dem Bedürfnis der Praxis entsprechend werden in Werken mit oder für Klavier auch Fingersätze angeboten. Anders als bei der Neuen Mozart-Ausgabe, deren Textteile aus-
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schließlich auf Deutsch publiziert werden, sind alle Textteile dieser Ausgaben mehrsprachig gehalten, was die internationale Akzeptanz erheblich fördert. Das Gebiet der Kirchenmusik hat der Carus-Verlag Stuttgart durch kritische Neuausgaben besetzt, nachdem eine Kooperation mit der Neuen MozartAusgabe vom Bärenreiter-Verlag zum Mozart-Jahr 2006 aufgekündigt wurde. Trotz des Renommees, das die wissenschaftlichen Gesamtausgaben des Akademien-Programms genießen, hat die Neue Mozart-Ausgabe nur auf einzelnen Gebieten, vor allem dem auch finanziell lukrativen der Oper, eine ähnliche Marktführerschaft wie seinerzeit die Alte Mozart-Ausgabe erreicht. Der Hauptgrund ist darin zu sehen, dass die Erstellung von Einzelausgaben und Aufführungsmaterialien nur schleppend erfolgte und bei Klavier- und Kammermusik praktische Gesichtspunkte (wie günstige Wendestellen) nicht immer berücksichtigt sind. Psychologisch interessant ist die Beobachtung, dass zwar inzwischen viele Käufer das „Urtext“-Label als Qualitätsmerkmal schätzen, gleichzeitig aber auf praktische Aspekte, etwa Fingersätze, ungern verzichten wollen. Dies ist durch den unveränderten Nachdruck der Neuen MozartAusgabe aber nicht zu erreichen.
VI.
Ausblick: Mozart-Edition im Zeitalter des digitalen Bildes und der digitalen Edition
Am Beginn des 21. Jahrhunderts stehen traditionelle und historisch-informierte Musikpraxis, die sich im 20. Jahrhundert erbitterte Kämpfe geliefert haben, weitgehend friedlich nebeneinander. Die geschichtlich bedingte Vorstellung, es müsse zu jedem Werk genau einen verbindlichen Notentext geben, den es genau umzusetzen gelte, ist allmählich der Erkenntnis gewichen, dass es nicht nur eine Pluralität der Interpretationen, sondern auch eine der ihnen zugrunde liegenden Texte geben kann. Dies hebt die Forderung der Musikpraxis nach verlässlichen Notentexten nicht auf; diese schließt den Anspruch ein, dass die vom Editor vorgelegte Musik unmittelbar spielbar, also nicht nur „fehlerfrei“, sondern auch in sich konsistent ist (was ein Minimum an Angleichung, insbesondere bei gleichzeitig erklingenden Stimmen, und Ergänzungen, etwa der Dynamik, wo sie ohne triftigen Grund in einzelnen Stimmen fehlt, erfordert). Die Aufführenden sind aber mehr und mehr bereit, Quellen selbst zu studieren, wobei sie für Hilfestellungen, wie sie nur der mit der Materie vertraute Fachmann leisten kann, dankbar sind (wenn auch manchmal nur, um sich an ihnen zu reiben). Zwar ist die Beschaffung von Kopien der Originalquellen heute
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verhältnismäßig leicht möglich; eine große Rolle kommt aber inzwischen Faksimile-Ausgaben zu.21 Die ersten Reproduktionen von Mozart-Autographen im Faksimile wurden durch die Erfindung der Lithographie möglich und reichen dementsprechend bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Mehrere Publikationen aus der Zeit um 1830 – darunter die Mozart-Biographien von Georg Nikolaus Nissen (Leipzig 1828) und Johann Aloys Schlosser (Prag 1828) oder die Zeitschrift Apollo’s gift, or, The musical souvenir for MDCCCXXX22 – enthalten einzelne Seiten im Faksimile; ebenso sind einigen Exemplaren der Pariser Opernausgaben von Frey Faksimile-Seiten (aus nicht zugehörigen Werken) beigebunden.23 Typisch für diese Publikationen ist, dass die Vorlagen nicht nach ihrer Aussagekraft, sondern ausschließlich nach ihrer Zugänglichkeit gewählt wurden. Der Illustrationscharakter ändert sich mit der Erfindung des Lichtdrucks, dem Vorläufer des heutigen Offset-Verfahrens. Das erste umfangreiche Faksimile eines Mozart-Werks ist Mozarts Requiem. Nachbildung der Originalhandschrift Cod. 17561 der K. K. Hofbibliothek in Wien in Lichtdruck.24 Ein hochwertiges frühes Faksimile ist auch die Wiedergabe des Klaviertrios E-Dur KV 542 nach dem im Besitz der Preußischen Staatsbibliothek befindlichen Autograph im Drei-Masken-Verlag (München, 1921). Das erste Faksimile im echten Mehrfarbendruck dürfte Mozarts Ave verum KV 618 in der Ausgabe des österreichischen Bundesministeriums für Unterricht (Wien 1956) sein. Diesen und weiteren bibliophil ausgestatteten Faksimiles stehen seit dem Mozart-Gedenkjahr 1956 auch preiswerte Arbeitsausgaben gegenüber, die in Papier- und Druckqualität erhebliche Abstriche vornehmen. Hierzu gehören auch die wenigen Wiedergaben von Originaldrucken etwa bei Collection Dominantes (Courlay: Anne Fuzeau). oder Performers’ Facsimiles (New York). Während in Mittel____________ 21
22 23
24
Für eine nahezu vollständige Übersicht der für den Handel bestimmten Faksimileausgaben Mozart’scher Werke bis ca. 1991 vgl. Ulrich Konrad, Mozarts Schaffensweise. Studien zu den Werkautographen, Skizzen und Entwürfen, Göttingen 1992, S. 501–504. Eine handliche Bibliographie für die seither erschienenen Faksimile-Ausgaben fehlt; das Angebot bei OMI (Old Music & Incunabula), die auf den Vertrieb von Faksimiles spezialisiert sind, bietet hierfür einen unvollkommenen Ersatz (http://www.omifacsimiles.com). Hrsg. von Muzio Clementi und Johann Baptist Cramer, London 1830. Zur Problematik der Wiedergabetreue (früher) Faksimilereproduktionen vgl. Albi Rosenthal, Facsimiles as Sources of Error, in: A Bach Tribute. Essays in Honor of William H. Scheide, hrsg. von Paul Brainard und Ray Robinson, Kassel 1993, S. 205–207, deutsch als Faksimiles als Fehlerquellen, in: Quellenstudien I: Gustav Mahler – Igor Strawinsky – Anton Webern – Frank Martin, hrsg. von Hans Oesch (= Veröffentlichungen der Paul-Sacher-Stiftung, Bd. 2), Winterthur 1991, S. 235–241. Hinzuzufügen ist, dass – vor Erfindung der Photographie – eine verderbbare Vorlage für die Einrichtung des Lithographiesteins benötigt wurde, sodass die Autographe händisch übertragen werden mussten, was notwendigerweise zu Verzerrungen führt. Hrsg. und erläutert von Alfred Schnerich, Wien: Gesellschaft für Graphische Industrie Wien, [1913].
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europa in vielen Bibliotheken noch immer die Sorge vor unkontrollierter Nutzung (bis hin zum Missbrauch) durch Dritte herrscht und die Weitergabe und Veröffentlichung von Musikalien als Bilder dementsprechend restriktiv gehandhabt wird, haben vor allem Bibliotheken im anglo-amerikanischen Raum im großen Stil die in ihren Beständen befindlichen Mozart-Autographe im Faksimile vorgelegt; nach ihrem Verständnis befinden sich die Autographe Mozarts in the public domain, da die Schutzfristen gemäß Urheberrechtsgesetz längst abgelaufen sind. Seit den Vorbereitungen auf das Mozart-Jahr 2006 ist – gefördert durch digitale Aufnahme- und Reproduktionstechniken, die hochwertige Farbwiedergaben ermöglichen – wieder eine Tendenz zu bibliophilen, mitunter entsprechend hochpreisigen Ausgaben zu erkennen. Zu nennen sind beispielsweise die Faksimile-Ausgaben des sogenannten Nannerl-Notenbuchs,25 des Klavierkonzerts A-Dur KV 488 (München 2005), der „großen“ g-Moll-Sinfonie KV 550 (Eigenverlag der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 2009) oder der Jupiter-Sinfonie (Kassel 2005), wobei die beiden Letzteren durch einen entsprechenden Randschnitt eine Anmutung des Originals anstreben, diese aber schon aufgrund der nicht-originalen Anlage der Bindung (die Originale sind auf Einzelbögen notiert) und der abweichenden haptischen Qualität des Papiers nicht erreichen können. Hinzuweisen ist auch auf das ehrgeizige Projekt des Packard Humanities Institutes Mozart’s Operas in Facsimile (Los Altos/California 2005–2009), durch das alle autographen Teile der sogenannten „sieben großen Opern“ (von Idomeneo bis La clemenza di Tito) mit separaten Kommentarbänden, die unter anderem Faksimilewiedergaben der zugehörigen Originallibrettos enthalten, erschlossen werden, nachdem bislang nur Die Zauberflöte (Leipzig und Kassel 1979) und Don Giovanni (Paris 1967) verfügbar waren. Als Spezialfälle der Faksimileausgabe hervorzuheben sind The Librettos of Mozart Operas26 und die von Ulrich Konrad im Rahmen der Neuen Mozart-Ausgabe edierten Bände Fragmente (NMA X/30/3) und Skizzen (NMA X/30/4), wobei Letzterer mit seiner Kombination aus Faksimile und Übertragung mit dem Deutschen Musikeditionspreis 2003 ausgezeichnet wurde. Eine weiterhin zunehmende Rolle wird die Online-Präsentation von musikalischen Quellen spielen, wobei stellvertretend für Musikhandschriften auf die Julliard School of Music und die Morgan Library & Museum (beide New York),
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Denkmäler der Musik in Salzburg. Faksimile-Ausgaben, Bd. 16, München 2010. Hrsg. von Ernest Warburton; 7 Bde., New York 1992.
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für Opernlibretti auf die Biblioteca Nazionale Braidense (Mailand) verwiesen sei.27 Im Zeichen der digitalen Erschließung steht auch die Digitale MozartEdition (DME), die schrittweise von der Internationalen Stiftung Mozarteum und dem Packard Humanities Institute in Los Altos (California) erarbeitet wird und nahtlos an die Neue Mozart-Ausgabe (NMA) anschließt. Ziel des auf eine Laufzeit von wenigstens 15 Jahren angelegten Nachfolgeprojekts ist es, Mozarts Schaffen über das Internet weltweit allen an der Musik des Komponisten Interessierten kostenfrei zur Verfügung zu stellen. Die Digitale Mozart-Edition wendet sich an höchst unterschiedliche Gruppen von Nutzern, unter anderem an Herausgeber, Forscher und Ausführende (und zwar sowohl an Berufsmusiker wie an Amateure). Eine wesentliche Erweiterung bedeutet die Aufbereitung zentraler Inhalte für den musikwissenschaftlichen, an der Musik Mozarts interessierten Laien. Inhaltlich basiert die neue digitale Edition auf dem als vorbildlich geltenden Notentext der Neuen Mozart-Ausgabe. Sie wird aber langfristig nach den Vorstellungen der Internationalen Stiftung Mozarteum und des Packard Humanities Institutes weder im Notentext noch im Erscheinungsbild mit den gedruckten Bänden der Neuen Mozart-Ausgabe identisch sein. Durch die Flexibilität digitaler Formate können alternative Fassungen in Zukunft dynamisch angeboten werden. Damit ist der Vergleich zwischen verschiedenen Fassungen oder die Rekonstruktion von Kompositionsstadien wesentlich leichter als bisher möglich. Es steht zu erwarten, dass damit den Bedürfnissen der musikalischen Praxis, für die es einen besonderen Reiz darstellt, alternative Fassungen auszuprobieren (wenn auch manchmal nur aus Gründen des Marketings), gedient werden kann. Mit digitalen Mitteln ist es im Prinzip auch möglich, nicht-autorisierte, aber rezeptionshistorisch bedeutsame Werkfassungen anzubieten, deren Herstellung sich im traditionellen Notendruck schon aus Kostengründen verbietet. Zu denken wäre beispielsweise an die Prager Fassung von Le nozze di Figaro (1786) oder an eine (mutmaßlich Prager) Fassung von La finta giardiniera mit deutschem Text und erweiterter Bläserbesetzung. In diesem Rahmen wäre aber sogar eine Auseinandersetzung mit Richard Strauß’ Einrichtung von Idomeneo (1931) nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Im Unterschied zu den Editionsprinzipien des 20. Jahrhunderts, die wie die Neue Mozart-Ausgabe eine Edition des „Werkes“ angestrebt haben, stünden hier pragmatisch Quelleneditionen im Vordergrund. Der Notentext einer digitalen Edition kann an den jeweils aktuellen Forschungsstand ange____________ 27
Vgl. http://www.juilliardmanuscriptcollection.org; http://www.themorgan.org; ttp://www.braidense.it.
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passt werden, wenn neue Quellen verfügbar sind oder sich neue Hinweise auf deren Quellenwert ergeben. Wichtige Aspekte der Digitalen Mozart-Edition, die über die Möglichkeiten herkömmlicher Druckausgaben hinausgehen, sind 1. Eine Verknüpfung der Edition mit Abbildungen der zugrunde liegenden Quellen; 2. Die Integration der Kritischen Berichte in die Edition; 3. Wahlmöglichkeiten der Darstellung durch den Benutzer. Darüber hinaus werden die Datenbanken des Mozart-Institutes an der Internationalen Stiftung Mozarteum – Quellen, Literatur, Briefe und Dokumente – für wissenschaftliche und private Recherchen im World-Wide-Web frei zur Verfügung stehen. Inzwischen sind bereits neben dem Bibliothekskatalog der Bibliotheca Mozartiana der Libretto-Katalog (Mozart-Libretti bis etwa 1850) und große Teile der Briefe und Dokumente aus dem Besitz der Internationalen Stiftung Mozarteum online verfügbar.28 Als einen wichtigen Zwischenschritt zwischen Neuer Mozart-Ausgabe und Digitaler Mozart-Edition hat die Internationale Stiftung Mozarteum die digitalisierte Neue Mozart-Ausgabe als NMA Online am 11. Dezember 2005 in Salzburg öffentlich bekannt gemacht.29 Die digitalisierte NMA ermöglicht als erste aktuelle kritische Musikergesamtausgabe unter http://dme.mozarteum.at den unmittelbaren Zugriff auf jedes Werk und auf jeden Einzelsatz. Dieser ist für den privaten, wissenschaftlichen und pädagogischen Gebrauch kostenfrei; Einschränkungen unterliegen nur die im Rahmen der Neuen Mozart-Ausgabe veröffentlichten Faksimile-Seiten, da die Rechte hieran in der Regel bei den jeweiligen Quellenbesitzern liegen; Notentext und Kritischer Bericht können gleichzeitig angezeigt werden. Such- und Druckfunktionen erleichtern den Gebrauch gegenüber der gedruckten Neuen Mozart-Ausgabe wesentlich. Täglich werden Zugriffe von 2.500–3.000 Nutzern registriert, die auch in Gegenden ansässig sind, wo die Neue Mozart-Ausgabe als Printedition nicht ohne Weiteres greifbar ist. Für die praktische Nutzung wurden inzwischen zu fast allen Werken Audiodateien integriert, die auch etwa von einem Drittel der Besucher der Website aufgerufen werden. Die freie Verfügbarkeit der Neuen Mozart-Ausgabe zu Studienzwecken hat im Übrigen nicht zu den vom Bärenreiter-Verlag befürchteten Umsatzeinbußen geführt und kann sich damit als ein tragfähiges Modell für die Zukunft der Musikergesamtausgaben erweisen. ____________ 28 29
Vgl. http://dme.mozarteum.at. Vgl. Christoph Großpietsch, Franz Kelnreiter und Ulrich Leisinger: NMA Online. Die Neue Mozart-Ausgabe im Internet, in: Forum Musikbibliothek 28 (2007), S. 27–36.
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Literaturverzeichnis Albrecht, Hans (Hrsg.): Die Bedeutung der Zeichen Keil, Strich oder Punkt bei Mozart. Fünf Lösungen einer Preisfrage, Kassel 1957 Berke, Dietrich: Philologie, in: Mozart-Handbuch, hrsg. von Silke Leopold unter Mitarbeit von Jutta Schmoll-Barthel und Sara Leffe, Laaber 2005, S. 676–691 Cramer, Carl Friedrich: Magazin der Musik, 2. Jahrgang, 2. Teil, Hamburg 1787 Edge, Dexter: Mozart’s Viennese Copyists, Diss. University of Southern California, Los Angeles 2001 Editionsrichtlinien Musik, im Auftrag der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000 Eisen, Cliff: New Light on Mozart’s “Linz” Symphony, in: Journal of the Royal Musical Association 113 (1988), S. 81–96 Feder, Georg: Musikphilologie. Eine Einführung in die musikalische Textkritik, Hermeneutik und Editionstechnik, Darmstadt 1987 Forkel, Johann Nikolaus: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802 Grosspietsch, Christoph: Mozart aus Gattis Händen? Geplante Frühdrucke nach Salzburger Quellen, in: Keine Chance für Mozart. Fürsterzbischof Hieronymus Colloredo und sein letzter Hofkapellmeister Luigi Gatti (1740–1817). Symposiumsbericht, hrsg. von Eva Neumayr und Lars Laubhold (= Veröffentlichungen zur Salzburger Musikgeschichte, Bd. 10), Lucca 2013, S. 297–342 Großpietsch, Christoph, Franz Kelnreiter und Ulrich Leisinger: NMA Online. Die Neue MozartAusgabe im Internet, in: Forum Musikbibliothek 28 (2007), S. 27–36 Haberkamp, Gertraut: Die Erstdrucke der Werke von Wolfgang Amadeus Mozart, 2 Bde., Tutzing 1986 Kepper, Johannes: Musikedition im Zeichen neuer Medien. Historische Entwicklung und gegenwärtige Perspektiven musikalischer Gesamtausgaben (= Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik, Bd. 5), Norderstedt 2011 Konrad, Ulrich: Mozarts Schaffensweise. Studien zu den Werkautographen, Skizzen und Entwürfen, Göttingen 1992 Leisinger, Ulrich: Methoden und Ziele der Digitalen Mozart-Edition, in: Mozart-Jahrbuch 2013, Kassel [u. a.] 2014, S. 43–64 Mies, Paul: Die Artikulationszeichen Punkt und Strich bei Mozart, in: Die Musikforschung 11 (1958), S. 428–455 Rosenthal, Albi: Facsimiles as Sources of Error, in: A Bach Tribute. Essays in Honor of William H. Scheide, hrsg. von Paul Brainard und Ray Robinson, Kassel 1993, S. 205–207, deutsch als Faksimiles als Fehlerquellen, in: Quellenstudien I: Gustav Mahler – Igor Strawinsky – Anton Webern – Frank Martin, hrsg. von Hans Oesch (= Veröffentlichungen der Paul-SacherStiftung, Bd. 2), Winterthur 1991, S. 235–241 Schnapp, Friedrich: Neue Mozart-Funde in Donaueschingen, in: Neues Mozart-Jahrbuch 2 (1942), S. 211–223
Bernhard R. Appel
Zur Editionsgeschichte der Werke Ludwig van Beethovens. Ein Überblick
Beethoven selbst war zeitlebens um eine sorgfältige Publikation seiner Kompositionen bemüht. Dabei war er nicht nur bestrebt, der Öffentlichkeit authentische und verlässliche Werktexte zu übergeben. Die publizistische Situierung seiner Ausgaben durch die Festlegung von Werktiteln, Widmungsformulierungen und die Zuweisung von Opusnummern (bzw. deren bewusste Unterdrückung bei einigen Variationswerken und Indrucken von Liedern) war ihm nicht minder wichtig. Nicht selten nahm er auf Bearbeitungen Einfluss, die parallel zu seinen Opera erschienen. Seine kalkulierte Wahl von Musikverlegern sowie die mit Erscheinungsdaten und Erscheinungsorten verknüpften pekuniären Konsequenzen zeugen überdies von einem auch unternehmerisch orientierten Publikationsverhalten, das allerdings nicht frei von Zufälligkeiten war. Dass sich nicht alle Erwartungen Beethovens erfüllten, darunter vor allem sein Wunsch nach fehlerfreien Originalausgaben, ist oft selbstverschuldet: Korrekturlesend den Publikationsprozess sorgfältig und konsequent zu begleiten, war seine Sache nicht. Schon zu Lebzeiten des Komponisten führte das hohe, aus heutiger Sicht „europäisch“ zu nennende Interesse an seinen Werken zu Überlegungen, bereits erschienene Kompositionen in Sammeleditionen oder Gesamtausgaben neu vorzulegen.1 Im Juni 1803 regte Gottfried Christoph Härtel an, Beethoven möge sich mit den Verlegern seiner bisher erschienenen Klavierwerke rechtlich und finanziell einigen, um diese in einer Sammelausgabe erneut bei Breitkopf & Härtel zu veröffentlichen, worauf dann zukünftig alle weiteren Klavierwerke in eben dieser Reihe und ausschließlich dort erscheinen könnten.2 Wohl vor dem Hintergrund dieses Vorschlags verkündete der damals erst ____________ 1
2
Max Unger, Zu Beethovens Plan einer Ausgabe seiner sämtlichen Werke, in: Neue Zeitschrift für Musik 80 (1913), S. 449f. Einen Überblick mit dem Schwerpunkt Haslinger gibt Otto Erich Deutsch, Beethovens gesammelte Werke. Des Meisters Plan und Haslingers Ausgabe, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 13 (1930/31), S. 60–79. Ludwig van Beethoven, Briefwechsel. Gesamtausgabe, hrsg. von Sieghard Brandenburg, Bde. 1–6, München 1996, Bd. 7 (Register), München 1998, hier: Brief Nr. 141 vom 2. Juni 1803. Nachfolgend abgekürzt zitiert als BGA mit nachfolgender Briefnummer.
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22-jährige Komponist im Oktober 1803 im Kontext einer Erklärung wider die unrechtmäßige Verbreitung einiger seiner Werke, dass er sich gelegentlich öffentlich über eine von ihm geplante revidierte Sammlungsausgabe seiner Werke für Klavier und Violine äußern werde.3 Diese Ankündigung blieb ebenso uneingelöst wie alle nachfolgenden – entweder von Beethoven selbst oder von einigen seiner Verleger angeregten – Sammelpublikationen zu einzelnen Gattungsbereichen. Anfang August 1810 schlug Beethoven dem bereits genannten Leipziger Verleger Gottfried Härtel vor, eine „authentisirte Auflage“ seiner „sämtlichen Werke“ zu veranstalten.4 Härtel konnte sich angesichts kaum lösbarer Rechtsfragen auf das Vorhaben nicht einlassen: Alle damaligen Rechteinhaber bereits erschienener Werke hätten dazu ihre Einwilligung geben müssen.5 Auch mit Wiener Verlegern trat der Komponist in Verhandlungen. Das Verlagshaus Steiner und Compagnie knüpfte an den Plan einer Gesamtausgabe den Vorschlag, dass sämtliche von Beethoven zukünftig zu erwartenden Kompositionen ebenfalls und ausschließlich bei Steiner erscheinen sollten. 1816 beriet sich Beethoven mit Anton Diabelli über die Konditionen einer erneuten Verlagsofferte zur Herausgabe sämtlicher erschienener und zukünftig erscheinender „ClavierSachen“.6 Im Brief vom 15. Februar 1817 schlug Beethoven dem Bonner Verleger Peter Joseph Simrock vor, seine Sämtlichen Werke herauszugeben und mit der Klaviermusik zu beginnen: „Es wäre ein in mancher Hinsicht erklekliches Unternehmen, da so viele Fehlervolle Ausgaben meiner Werke in der welt herum spazieren –“.7 Am 28. November 1820 beteuerte er gegenüber Nikolaus Simrock, eine Edition seiner sämtlichen Werke läge ihm sehr am Herzen.8 Die Hoffnung, sich mit Simrock diesbezüglich zu einigen, währte bis Frühjahr 1823.9 ____________ 3 4 5 6
7 8 9
Brief vom 23. Oktober 1803 an den Verlag Breitkopf & Härtel (BGA 166). BGA 464. Im folgenden Brief vom 21. August 1810 (BGA 465) bringt Beethoven die Anfrage erneut in Erinnerung. BGA 469. Brief Diabellis vom 22. August 1816 (BGA 960). Trotz brieflicher Nennung des Verlegernamens Hoffmeister ist unklar, wer das Angebot unterbreitet hat. Siehe hierzu den Kommentar zu diesem Brief in BGA 960. BGA 1084. BGA 1418. Noch in einem etwa im Februar 1823 abgefassten Entwurf eines Briefs von Beethoven an Nikolaus Simrock ist beiläufig von der Herausgabe sämtlicher Werke die Rede. Vgl. Ludwig van Beethovens Konversationshefte, hrsg. im Auftrag der Deutschen Staatsbibliothek von KarlHeinz Köhler, Grita Herre und Dagmar Beck, Bd. 1–10, Leipzig 1968–1993, hier: Bd. 3, S. 90f. sowie den Kommentar zu Beethovens Brief vom 10. März 1823 an N. Simrock in BGA 1607. Beethovens Konversationshefte werden nachfolgend als BKh mit anschließender Bandzählung zitiert.
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Maurice Schlesingers um 1821/1822 vorgebrachte Absicht, sämtliche Streichquartette vorzulegen, lehnte Beethoven jedoch in einem Brief an Schott ab, weil dies einer geplanten vollständigen Gesamtausgabe seiner Werke schaden würde.10 Schließlich wurde Schott vorübergehend zum Wunschpartner für eine komplette Werkausgabe. Im Brief vom 22. Januar 1822 forderte der Komponist seinen Mainzer Verleger auf, „wohl einmal darüber nachzudenken, denn beßer es geschieht jezt von mir als nach meinem Tode“. Beethoven würde jedes Werk revidieren und zu jeder Gattung ein neues Werk beisteuern, heißt es in diesem Brief weiter.11 Bernhard Schott scheint in seiner verschollenen Antwort das Angebot abgelehnt zu haben,12 worauf sich Beethoven am 5. Juni 1822 mit einer ähnlich lautenden Anfrage an Carl Friedrich Peters in Leipzig wandte: Näher als […] alles andere liegt mir die Herausgabe meiner Sämmtlichen Werke sehr am Herzen, da ich selbe in meinen Lebzeiten besorgen mögte, wohl manche Anträge erhielt ich, allein es gab Anstände, die kaum von mir zu heben waren, und die ich nicht erfüllen wollte und konnte, ich würde die ganze Herausgabe in 2 auch möglich in 1 oder 1 ½ Jahr mit den nöthigen Hülfsleistungen […] besorgen, ganz redigiren und zu jeder Gattung Composition ein neues Werk liefern, Z. B. zu den Variation ein neues Werk Variationen, zu den Sonaten ein neues Werk Sonaten und so fort, zu jeder Art worin ich etwas geliefert habe, ein neues Werk, und für alles zusammen verlangte ich Zehn Tausend Gulden C. Münze im 20 fl Fuß.13
Mutmaßlich um diese Zeit entwarf Beethoven Richtlinien für eine revidierte Gesamtausgabe seiner Werke, die allerdings über Präliminarien nicht hinausgekommen ist.14 Matthias Artaria plante um die Jahreswende 1823/1824 eine Sammelausgabe zunächst nur mit Klavierwerken, die anschließend auf andere Werkgruppen (Variationen, Klaviertrios, Symphonien) ausgedehnt werden sollte, wobei auch hier jede Serie durch ein neu zu komponierendes Werk bereichert werden sollte.15 Der mit Beethoven befreundete Klavierbauer Johann Andreas Streicher schlug 1824 eine Gesamtausgabe nach dem Muster der Haydn- und Mozart-Gesamtausgabe der Klavierwerke vor: Beethoven solle bereits vorliegende Werke in Hinblick auf die gegenwärtigen Errungenschaf____________ 10 11 12 13 14
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Emil Platen, Beethovens letzte Streichquartette und der Verleger Maurice Schlesinger, in: Bonner Beethoven-Studien, Bd. 10, Bonn 2012, S. 69–110, hier S. 71–73. Brief Beethovens vom 22. Januar 1822 an Schott (BGA 1925). Vgl. hierzu BGA 2022. BGA 1468. Das Fragment gebliebene, etwa um 1822 wohl für einen Verleger bzw. als Konzept einer Annonce verfasste Dokument (D-BNba; HCB Mh 58) wurde von Max Unger veröffentlicht: Beethoven über eine Gesamtausgabe seiner Werke. Nachbildung eines unbekannten Schriftstücks aus dem Beethovenhaus mit Erläuterungen (= Veröffentlichungen des Beethovenhauses in Bonn, Bd. 1), Bonn 1920. BKh 5, S. 73f.
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ten des Klavierbaus revidieren und zugleich weitere Neukompositionen hinzuzufügen.16 Der bereits um 1821/1822 abgewiesene Pariser Verleger Maurice Schlesinger ließ indes nicht locker. Bei seinem Besuch in Wien im September 1825 verhandelte er erneut mit Beethoven. Seine geplante Gesamtausgabe sollte mit den Trios, Quatuors und Quintuors beginnen, worauf dann die Klavierwerke folgen sollten.17 Bei einem Besuch in Wien 1826 zeigte auch Maurice Schlesingers Vater, der Berliner Verleger Adolph Martin Schlesinger, Interesse an einer Gesamtausgabe. Schlesinger und Schott planten 1825/1826 gemeinschaftlich eine Gesamtausgabe auf Subskriptionsbasis, worauf Tobias Haslinger (seinerzeit noch Mitinhaber von Steiners Musikverlag) zusammen mit Breitkopf und Peters ein ähnliches Großunternehmen anregte. Nach Beethovens Tod stellte sich die Frage nach Sammeleditionen oder gar nach einer kompletten Werkausgabe neu. Tobias Haslinger ließ bereits ab 1821 eine nahezu vollständige kalligraphische Abschrift sämtlicher erreichbarer Werke Beethovens herstellen.18 Diese Abschriften bildeten die Grundlage für die von Haslinger unmittelbar nach Beethovens Tod initiierte und dem Erzherzog Rudolph gewidmete „Gesamtausgabe“. Der im Dezember 1828 veröffentlichten Pränumerations-Anzeige zur geplanten Ausgabe Sämmtlicher Werke von L. van Beethoven (Mit Angabe der Tempobezeichnungen nach Mälzl’s Metronom) ist zu entnehmen, dass in vierzehntägigem Abstand einzelne Lieferungen vorgesehen waren.19 Als Redakteure werden die „in Beethoven’s Werke eingeweihten Kunstgenossen“ und dessen Freunde Carl Czerny, Ignaz Schuppanzigh und Carl Holz genannt. Geplant waren 21 Serien, von denen aber nur neun, im Übrigen auch noch unvollständig in insgesamt 13 Bänden ____________ 16 17 18
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Brief Johann Andreas Streichers vom 5. September 1824 (BGA 1870). BKh 8, S. 106 und S. 101. Sie wurde schließlich von Beethovens Gönner Erzherzog Rudolph aufgekauft und gelangte später ins Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Über die Abschriftensammlung informiert erstmals eine anonyme Zeitungsnotiz (Wien. Uebersicht des Monats December in der Allgemeinen musikalischen Zeitung, 24. Jg., Nr. 4 (23. Januar 1822), Sp. 65f. Die 51 Bände (ca. 4.000 Bogen = 16.000 Seiten) umfassende Abschrift wurde von einem Kopisten namens Schwarz in vierjähriger Arbeit erstellt. Die Titelblätter gestaltete der Kalligraph Warsow. Beigegeben ist ein „systematisch-thematisch-chronologisch geordneter Registerband“. Außerdem ist eine autograph notierte Erklärung Beethovens beigebunden, welche die Authentizität der Werkabschriften bestätigt. Am 19. Februar 1823 wird in der Allgemeinen musikalischen Zeitung ergänzend berichtet, dass die Abschriften um zwei weitere Folianten angewachsen seien und dass die gesamte Sammlung möglicherweise nach England verkauft werde. Die schließlich insgesamt 61 Bände umfassenden Abschriften erwarb 1823 Erzherzog Rudolph, der sie dann der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien vererbte. Vgl. Deutsch, Beethovens gesammelte Werke (wie Anm. 1), S. 66. Siehe auch Alexander Weinmann, Tobias Haslingers „Gesamtausgabe der Werke Beethovens“, in: Beiträge zur Beethoven-Bibliographie. Studien und Materialien zum Werkverzeichnis von Kinsky-Halm, hrsg. von Kurt Dorfmüller, München 1978, S. 269–279.
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(1828 bis ca. 1845) im Druck erschienen sind. Immerhin enthält das Editionsfragment nahezu 70 Werke. Dass das ehrgeizige Unternehmen scheiterte, lag vor allem daran, dass Haslinger von den Rechteinhabern von Originalausgaben (Simrock, Artaria, Breitkopf & Härtel, Schlesinger und Schott) keine Abdruckrechte erwerben konnte.20 Nach Beethovens Tod verselbständigte sich die Publikationsgeschichte seiner Werke unkoordiniert, weshalb sie heute kaum noch überschaubar ist. Bis ins 20. Jahrhundert konnten zahlreiche Werke, Bearbeitungen und Fragmente aus dem Nachlass veröffentlicht werden; schon zu Lebzeiten an entlegenen Stellen publizierte Stücke wurden wiederentdeckt und nachgedruckt, und diverse Verleger bemühten sich um Sammelpublikationen, vor allem im Bereich der kleinen Besetzungen. Hier lag das – großen Gewinn versprechende – Publikumsinteresse. Bis etwa 1860 boten viele Verleger Beethovens Werke in erschwinglichen Ausgaben an. Unter dem Vollständigkeit und Authentizität suggerierenden und vielfach gebrauchten Reihentitel Collection complète waren nahezu alle Werkbereiche in kürzester Zeit verfügbar. Gründliche Untersuchungen hierzu sowie zur Flut postum erschienener Arrangements fehlen allerdings weitgehend. Im Folgenden kann nur ein lückenhafter Überblick über Werkausgaben geboten werden; die zahllosen Arrangements bleiben dabei ausgeblendet. Um 1827 brachte Maurice Schlesinger eine Collection Complète des Trios, Quatuors, Quintetti, composés Pour Instruments à Cordes als Stimmendruck heraus. 1828 startete Probst in Leipzig eine Collection complète des Sinfonies […] arrangées pour le Pianoforte à quatre mains par Charles Czerny (9 Hefte), die teilweise mit Haslinger in Wien abgestimmt war und die von Franz Philipp Dunst übernommen wurde. Der geschäftstüchtige, in Frankfurt a. M. ansässige Verleger Dunst eröffnete mit seiner Verlagsgründung gleich mehrere Reihen. Zwischen 1828 und den frühen 1830er Jahren legte er eine Collection Complète des Œuvres pour le Pianoforte seul vor. Die zur gleichen Zeit erscheinende Collection Complète des Œuvres pour le Piano-Forte avec accompagnement de Violon ou Violoncelle, ou Flûte enthält auch Bearbeitungen, etwa die der Serenade für Streichtrio op. 8 in ein klavierbegleitetes Bratschen-Notturno (op. 42) und die der Horn-Sonate op. 17 für eine alternative Streicherbesetzung (Violine bzw. Violoncello). Zwischen 1834 und ca. 1836 erschienen unter dem Titel Collection complète des Concerts lithographierte Ausgaben von drei Klavierkonzerten (opp. 15, 19, 37) und dem Tripelkonzert op. 56, die – wie der Untertitel (Partition ou Pianoforte seul) hervorhebt – ____________ 20
Hierzu Deutsch, Beethovens gesammelte Werke (wie Anm. 1), S. 64.
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sowohl als Studienpartitur als auch als Aufführungsstimme für den Pianisten gedacht sind. Während eine Gesamtausgabe sämtlicher Werke noch auf sich warten ließ, wurden einzelne Werksegmente bzw. Gattungsbereiche in mehreren konkurrierenden Sammel-Editionen vorgelegt. Insbesondere vollständige Ausgaben der Klaviersonaten weckten das Interesse der Verleger,21 weil sie zum Kernbestand anspruchsvoller Hausmusik gehörten und hohe Absatzzahlen versprachen. Bereits in den 1830er Jahren brachte Ignaz Moscheles in London eine Complete Edition der Klavierwerke Beethovens heraus (Cramer & Co., London). In Deutschland legte er einzelne Sonaten (bei Meyer und bei Spehr, beide in Braunschweig, sowie bei Cranz, Hamburg) und schließlich 1858 erneut eine komplette Ausgabe der 32 Klaviersonaten vor (Hallberger, Stuttgart). Mit den keinesfalls nur auf Klaviersonaten beschränkten Herausgebern Ignaz Moscheles,22 Carl Czerny und Franz Liszt waren angesehene Pianisten editorisch am Werk, die mit Beethoven noch in persönlicher Verbindung gestanden hatten. In deren Klaviersonaten-Ausgaben finden sich Metronomzahlen, Fingersätze und Pedalangaben und ergänzte bzw. regulierte dynamische Angaben und agogische Bezeichnungen, wobei Franz Liszt der in dieser Beziehung zurückhaltendste Editor war.23 Besonders geschäftstüchtig war der in Wolfenbüttel ansässige Verleger Ludwig Holle, der wegen seiner Nachdrucke bei seinen Berufskollegen recht unbeliebt und in zahlreiche Rechtshändel verwickelt war. Um 1850 begann Holle unter dem Titel Erste vollständige Gesamtausgabe unter Revision von Franz Liszt und C. Geissler eine Massenpublikation, die einen wesentlichen Teil des Beethoven’schen Gesamtwerks enthielt. Klavierwerke solo und für vier Hände standen im Mittelpunkt. Die Symphonien erschienen in Klavierauszügen zu zwei und vier Händen, desgleichen Klavierauszüge der beiden Messen und des Oratoriums Christus am Ölberge. Auch Sämmtliche Lieder waren verfügbar. Zwischen ca. 1857 und 1861 erschienen Sämmtliche 17 Quartette für Violinen, Bratsche und Violoncell von Ludwig van Beethoven. Erste vollständige Gesammtausgabe unter Revision von Franz Liszt. Enthaltend 10 Hefte Partitur, die Holle über Kommissionspartner europaweit und in ____________ 21
22 23
William Newman, A Chronological Checklist of Collected Editions of Beethoven’s Solo Piano Sonatas Since His Own Day, in: Notes. Quarterly Journal of the Music Library Association 33 (1976/77), S. 503–530. Vgl. hierzu: Alan Tyson, Moscheles and His “Complete Edition” of Beethoven, in: The Music Review 25 (1964), S. 136–141. Bernhard Stockmann, Die Interpretationsausgaben der Klaviersonaten Beethovens, in: Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress Bonn 1970, hrsg. von Carl Dahlhaus u. a., Kassel, Basel [u. a.] 1971, S. 590–592.
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den USA anbieten konnte.24 Die Streichquartette erschienen in Partitur, aber auch in Bearbeitungen für Klavier solo (arrangiert von Friedrich Wilhelm Markull, 1816–1887). Auch Sämtliche Duos für Klavier und Violine, Trios für Streich- und Blasinstrumente sowie Klavierbearbeitungen großer Orchesterwerke warf Holle serienweise auf den Markt. In Offenbach druckte André sämtliche Klaviersonaten, Kühnel in Leipzig brachte eine Auswahl von Gesängen mit Begleitung des Klaviers heraus, und C. F. Peters (Leipzig) kooperierte mit Haslinger (Wien) bei seinen Partiturausgaben der Klavier- und Violin-Concerte.
I.
Ludwig van Beethoven’s Werke. Vollständige kritisch durchgesehene überall berechtigte Ausgabe (Leipzig, Breitkopf & Härtel 1862–1865, 1888)
Den hier nur grob umrissenen unkoordinierten editorischen Unternehmungen war kein nachhaltiger editorischer Erfolg beschieden. Die bereits erwähnte, um die Jahreswende 1828/1829 von Tobias Haslinger begonnene Gesamtausgabe beispielsweise wurde um 1845 abgebrochen. Mit der Gründung der Bach-Gesellschaft (1850), die als Hauptziel eine vollständige Edition der Werke J. S. Bachs anstrebte, begann das Zeitalter der historisch-kritischen Musiker-Gesamtausgaben.25 1858 wurde die deutsche Händel-Gesellschaft gegründet, die dasselbe Ziel für ihren Protagonisten verfolgte. Die Initiative zur ersten Beethoven-Gesamtausgabe26 (1862–1865, 1888) ging dagegen von einem Verlag aus: Breitkopf & Härtel in Leipzig, der seit Beginn der Denkmäler- und Gesamtausgaben eine führende Rolle einnahm. Der Start der ersten Beethoven-Gesamtausgabe wurde von einem sozial- und kulturgeschichtlichen Kairos getragen, bei dem mehrere Faktoren glücklich zusammentrafen: Erstens erreichte die Beethoven-Rezeption um die Mitte des 19. Jahrhunderts einen Gipfelpunkt,27 zweitens konnte der Leipziger ____________ 24
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Angaben im Titel: Wolfenbüttel, Druck und Verlag von L. Holle. Paris, A. Bohné, Rue de Rivoli 170. London, G. Augener and Co. Newgate Street and 4a Tottenham Court Road. New York, Th. Hagen 5 and 7 Mercer Street. Kopenhagen, C. Plenge. Amsterdam, Seiffardt’sche Buchhandlung. Einen Überblick gibt der Artikel Dietrich Berkes Denkmäler und Gesamtausgaben in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Sachteil, Bd. 2, Kassel [u. a.] 1995, Sp. 1109–1155. Ludwig van Beethoven’s Werke. Vollständige kritisch durchgesehene überall berechtigte Ausgabe. Nachfolgend als AGA (Alte Gesamtausgabe) abgekürzt. Obwohl der offizielle Titel der Druckausgabe das Wort nicht benutzt, hat sich die Bezeichnung „Gesamtausgabe“ durchgesetzt. Otto Jahn konstatierte, dass sich die innerhalb eines Jahres im Musikhandel vertriebenen Werke Beethovens mit allen übrigen im gleichen Zeitraum verkauften Musikalien die Waage
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Verlag die Rechte der andernorts erschienenen Werke größtenteils an sich bringen, drittens erlaubte der Einsatz der neuen Schnellpressen die Herstellung kostengünstiger Druckauflagen, und viertens versprach der Abschluss der Gesamtausgabe noch vor Erlöschen der Schutzfrist in Preußen (Ende 1867) einen erheblichen Wettbewerbsvorteil für den Verlag.28 Die drei bis heute tragenden Fundamente der Beethoven-Philologie – Biographik, Quellenerschließung und Werkedition – wurden in den Jahren 1850 bis 1880 gelegt, wobei die Gesamtausgabe als zentrales Vorhaben Quellenforschungen sowohl voraussetzte als auch umgekehrt anregte und förderte. Mit dem 1851 bei Breitkopf & Härtel anonym erschienenen Thematischen Verzeichniss sämtlicher im Druck erschienener Werke Ludwig van Beethovens war ein erster Überblick über das gedruckte Gesamtwerk und zugleich ein Nachweis der jeweiligen Verleger gegeben.29 Gustav Nottebohm (1817–1882) veröffentlichte 1868, nach Abschluss des Hauptkorpus der Gesamtausgabe, ein erweitertes Werkverzeichnis,30 das bis 195531 führend blieb. Nottebohm ge____________
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halten; vgl. Otto Jahn, Beethoven und die Ausgabe seiner Werke, in: Die Grenzboten 1 (1864), S. 271ff., 296ff., 341ff., zitiert nach dem aktualisierten Wiederabdruck in: Ders., Gesammelte Aufsätze über Musik, Leipzig 1866, S. 271–337, hier S. 284. Innerhalb der Staaten des Deutschen Bundes herrschte eine verwirrende Partikulargesetzgebung. Während die in Sachsen verlegten Werke Beethovens ebendort bis 1874 geschützt waren, galt die Schutzbestimmung in Preußen nur bis 1867; vgl. hierzu Oskar von Hase, Breitkopf & Härtel. Gedenkschrift und Arbeitsbericht, 2. Bd.: 1828 bis 1918, Leipzig 41919, S. 332–334. Thematisches Verzeichniss sämmtlicher im Druck erschienener Werke Ludwig van Beethovens, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1851. Herausgeber war Johann Baptist Geissler und nicht G. Nottebohm, wie gelegentlich zu lesen ist. Die drei Teile erschließen Werke mit und ohne Opuszahl und erfassen in einem Anhang ein Verzeichnis der Beethoven zugeschriebenen Werke sowie eine Auswahlbibliographie (Bücher und Schriften) und eine Übersicht zu bildlichen Darstellungen des Komponisten (Bildnisse, Abbildungen, Büsten, Medaillons). Die Kompositionen werden auch noch durch ein systematisches, nach Gattungen bzw. Besetzungen geordnetes Werktitel-Register, die Vokalkomposition durch alphabetisch geordnete Incipits der Singtexte erschlossen. Die Angaben zu den Kompositionen enthalten lediglich Verlegerhinweise, Verkaufspreise und Angaben zu Bearbeitungen und erfassen quasi den seinerzeit zugänglichen Musikalienmarkt. Entstehungsdaten und sonstige Angabe zu den Quellen fehlen. Thematisches Verzeichniss der im Druck erschienenen Werke von Ludwig van Beethoven, 2. vermehrte Auflage, zusammengestellt und mit chronologisch-biographischen Anmerkungen versehen von G. Nottebohm, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1868. Das Verzeichnis übernimmt die Gliederung der ersten anonym erschienen Ausgabe, allerdings ergänzt um Zusätze und Berichtigungen, ein Chronologisches Register, ein Verzeichnis der Widmungsträger und schließlich ein Sach- und Namen-Register. Neu ist vor allem, dass Nottebohm über Entstehungszeiten der Werke und Daten zur Uraufführung informiert, sowie Angaben zu Druckausgaben und Bearbeitungen mitteilt und auch die seinerzeit bekannte autographe und abschriftliche Überlieferung erfasst. Nicht erfasst werden nach wie vor „ungedruckte Werke, […] vergriffene Ausgaben und alle Stücke, welche nur als Beilagen zu Zeitschriften, in Büchern u. s. w. erscheinen sind“ (Vorwort, S. III). Im Kopftitel der Einzelwerke wird auf die jeweilige Serien-Nummer der Breitkopf & Härtel-Gesamtausgabe Bezug genommen, was zur Kanonisierung der AGA zusätzlich beiträgt. Nottebohm betont ausdrücklich (Vorwort, S. III), dass er sowohl von der Arbeit an der Gesamtausgabe als auch vom Rat Otto Jahns profitiert hat.
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bührt überdies das Verdienst, den eminenten biographischen, schaffenschronologischen und werkgenetischen Erkenntniswert der Skizzen erfasst und ab ca. 1865 den Weg zu deren methodischer Erschließung gewiesen zu haben.32 Mit der Skizzenforschung begründete Nottebohm einen eigenen Seitenzweig der Beethoven-Philologie.33 Dabei verband er mit der Erforschung der reichen Überlieferung an Skizzen und Entwürfen drei Erkenntnisziele. Erstens kann mit Hilfe der Skizzen „die genaue Compositionszeit sehr vieler Werke, die Zeit, in der sie begonnen und beendigt wurden, bestimmt werden“, zweitens lassen sich aus Fragmenten und abgebrochenen Vorhaben die „künstlerischen Absichten Beethovens“ ersehen, und drittens „gewähren sie bis auf einen gewissen Punkt einen Blick in Beethoven’s Werkstätte“.34 Zwar vermögen Skizzen „manchen Vorgang in Bezug auf Entstehung, Erfindung, Gestaltung u. dgl. [zu] enthüllen“, Auskünfte über die „Genesis“ und die „organische Bildung“ eines Werkes vermögen sie jedoch nicht zu geben.35 Alexander Wheelock Thayer (1817–1897) bot mit seinem Chronologischen Verzeichniss der Werke Ludwig van Beethoven’s (Berlin 1865) eine biographisch orientierte Gesamtschau des Schaffens und legte außerdem eine maßstabsetzende dreibändige Biographie vor (1866, 1872, 1897), die von Hermann Deiters ins Deutsche übersetzt36 und schließlich von anderen, u. a. von Hugo Riemann, zu Ende geführt wurde. Ein vom 20. November 1861 datierter Subskriptionsaufruf von Breitkopf & Härtel stellte das Konzept der geplanten Gesamtausgabe (AGA) vor und ersuchte zugleich die Besitzer editorisch relevanter Quellen (Autographe, überprüfte Abschriften, Erstdrucke) um Unterstützung.37 Der Aufforderung folgte ____________ 31
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Georg Kinsky, Das Werk Beethovens. Thematisch-bibliographisches Verzeichnis seiner sämtlichen vollendeten Kompositionen, nach dem Tode des Verfassers abgeschlossen und hrsg. von Hans Halm, München 1955. Die Skizzenforschung wird eröffnet durch Gustav Nottebohm, Ein Skizzenbuch von Beethoven beschrieben und in Auszügen dargestellt, Leipzig [1865]. Nottebohm beschreibt darin das heute unter dem Namen „Keßlersches Skizzenbuch“ bekannte Notierungsbuch. Es galt für ausgemacht, dass „Skizzen, Entwürfe, unvollendete Bruchstücke aus früher Zeit […] zur Herausgabe in einer Gesammtausgabe [der Werke] keineswegs geeignet sind“; vgl. Jahn, Beethoven und die Ausgabe seiner Werke (wie Anm. 27), S. 301f. Die früheste Hervorhebung der Skizzenbücher Beethovens hinsichtlich ihres philologischen Erkenntniswerts stammt aus der Feder Jahns; siehe ebd., S. 332f. Gustav Nottebohm, Zweite Beethoveniana, nachgelassene Aufsätze, hrsg. von Eusebius Mandyczewski, Leipzig 1887, S. VII. Gustav Nottebohm, Ein Skizzenbuch (wie Anm. 32), S. 7f. Ludwig van Beethoven’s Leben von Alexander Wheelock Thayer. Nach dem Originalmanuscript deutsch bearbeitet [von Hermann Deiters], 3 Bde., Berlin 1866, 1872, 1879. U. a. in der Niederrheinischen Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler 9 (1861), Nr. 49 vom 7. Dezember 1861, S. 392; Wiederabdruck, jedoch ohne den sonst mitveröffentlichten Editionsplan in: von Hase, Breitkopf & Härtel (wie Anm. 28), S. 324f. – In der Allgemeinen musikalischen Zeitung, Neue Folge 1 (1863), Nr. 6 vom 4. Februar 1863, Sp. 115f. folgte ein
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u. a. Johannes Brahms, der den Verlegern am 7. April 1862 eine überprüfte Abschrift von Beethovens Klaviersonate As-Dur op. 110, die er vom Hamburger Verleger Cranz bekommen hatte, zur Verfügung stellte.38 Neben Privatbesitzern von handschriftlichen Quellen unterstützten vor allem öffentliche Sammlungen die Editionsarbeit: vornehmlich das Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien (an dem Nottebohm 1864/1865 als Archivar tätig war), die Königliche Bibliothek zu Berlin (an der Franz Espagne als Bibliothekar arbeitete) und schließlich der Wiener Verlag Artaria (der einen großen Teil des musikhandschriftlichen Beethoven-Nachlasses besaß). Bereits Anfang 1862 lagen mehrere Nummern-Lieferungen zu einzelnen Serien der AGA vor.39 Die gattungshierarchisch angelegte Werkgliederung in Serien, an deren Spitze die Symphonien und an deren Ende Lieder und Liedbearbeitungen stehen, bildet den beethovenspezifischen Werkkanon ab. (Serien werden in römischen Ziffern, die Einzellieferungen in arabischen Zahlen angegeben.) I: II: III: IV: V: VI: VII: VIII: IX: X: XI: XII: XIII: XIV: XV: XVI: XVII: XVIII: XIX: XX: XXI: XXII:
Symphonien für großes Orchester (Nr. 1–9) Orchester-Werke (Nr. 10–17) Ouverturen für Orchester (Nr. 18–28) Werke für Violine und Orchester (Nr. 29–31) Kammermusik für fünf und mehr Instrumente (Nr. 32–36) Streichquartette (Nr. 37–53) Trios für Violine, Bratsche und Violoncello (Nr. 54–58) Blasinstrumente (Nr. 59–64) Pianoforte und Orchester (Nr. 65–73) Pianoforte-Quintett und -quartette (Nr. 74–78) Trios für Pianoforte, Violine und Violoncello (Nr. 79–91) Pianoforte und Violine (Nr. 92–103) Pianoforte und Violoncello (Nr. 105 [!]–111) Pianoforte und Blasinstrumente (Nr. 112–119) Pianoforte zu vier Händen (Nr. 120–123) Klaviersonaten (Nr. 124–161) Variationen für das Pianoforte (Nr. 162–182) Kleinere Stücke für das Pianoforte (Nr. 183–202) Kirchenmusik (Nr. 203–205) Dramatische Werke (Nr. 206–207) Cantaten (Nr. 208–209) Gesänge mit Orchester (Nr. 210–214)
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weiterer Aufruf des Verlags „An die Besitzer von Original-Handschriften und vom Autor revidierten Abschriften Beethoven’scher Werke“. Vgl. Max Kalbeck, Johannes Brahms, Bd. I/2, Berlin 1904, S. 464. Die Abschrift gelangte als Teil des Brahms-Nachlasses in den Besitz der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Siehe hierzu den anonym erschienenen, mutmaßlich von Ludwig Bischoff geschriebenen Artikel Beethoven’s Werke. Neue Ausgabe von Breitkopf und Härtel, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 10 (1862), Nr. 6, 8. Februar 1862, S. 41–43. In diesem Zusammenhang werden beiläufig die Mitarbeiter Julius Rietz, Carl Reinecke, Ernst Friedrich Richter, Ferdinand David, Moritz Hauptmann und Otto Jahn erwähnt (S. 42).
Zur Editionsgeschichte der Werke Beethovens XXIII: XXIV: XXV:
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Lieder und Gesänge mit Begleitung des Pianoforte (Nr. 215–256) Lieder mit Pianoforte, Violine und Violoncello (Nr. 257–263) Supplement (Gesang-Musik und Instrumental-Musik) (Nr. 264–309)
Die hybride Systematik der Seriengliederung des Hauptkorpus (I–XXIV) lässt mehrere Ordnungskriterien erkennen, in denen sich quantitative und qualitative Gesichtspunkte überlagern. Die Serien I bis XVIII enthalten „reine“ Instrumentalwerke,40 die folgenden Serien XIX bis XXIV Vokalmusik. Die der Gliederung innewohnende Wertungshierarchie bzw. das Gattungsgefälle – zu Anfang die monumentale Symphonik, gefolgt von Konzerten und der Kammermusik bis hin zur Kleingattung des klavierbegleiteten Lieds und zu den bloßen Lied-Arrangements – wurde in ihrer Grundstruktur in vielen späteren Gesamtausgaben anderer Komponisten übernommen, selbst dort, wo das Gliederungsprinzip den Gattungspräferenzen der Komponisten offenkundig zuwiderläuft. In der Gliederung spiegelt sich die rezeptionsgeschichtliche Wertung des gesamten Œuvres nach Gattungen und kanonisiert zugleich deren Wertigkeit. Schon die einheitliche Editionsform der AGA in Partituren ist als editionsund rezeptionsgeschichtlicher Fortschritt zu bewerten, wenn man bedenkt, dass sinfonische oder vokalsinfonische Werke, aber auch Ensemblewerke bis zum Erscheinen der AGA überwiegend nur in Stimmen und/oder in Klavierarrangements erreichbar waren. Die Partitur, welche das Ganze darstellt, wie der Componist es im Geiste trug und niederschrieb bürgt dafür, dass der Musiker lesend innerlich lebendig reproducirt oder beim Einstudiren und Ausführen in klarer Uebersicht gegenwärtig hält.41
Editorisch orientiert sich die Ausgabe an den Methoden der klassischen Philologie. Sie war bemüht, sämtliche erreichbare Quellen – autographe Werkhandschriften, überprüfte Abschriften, von Beethoven selbst benutzte Aufführungsstimmen und Originalausgaben zu beschaffen und auf dieser Basis die Textkonstitution vorzunehmen.42 Eine von verschiedenen Schreibern (darunter auch Nottebohm) Anfang 1862 für den Verlag Breitkopf & Härtel intern erarbeitete ____________ 40
41 42
Das Reinheitsprinzip wird freilich durch die vokalen Komponenten der 9. Symphonie op. 125 (I/9), der Musik zu Goethes Egmont op. 84 (II/12) und der Chorfantasie op. 80 (IX/71) durchbrochen. Jahn, Beethoven und die Ausgabe seiner Werke (wie Anm. 27), S. 305. Selmar Bagge, Die neue Beethoven-Ausgabe und ihre musikalischen Ergebnisse, in: Allgemeine musikalische Zeitung, Neue Folge 1 (1863), Nr. 19, 6. Mai 1863, Sp. 333–336 und Nr. 20, 13. Mai 1863, Sp. 349–354, Neue Folge 2 (1864), Nr. 36, 7. September 1864 Sp. 607–610 und Nr. 37, 14. September 1864, Sp. 623–626, hier: Nr. 20, Sp. 353; Jahn, Beethoven und die Ausgabe seiner Werke (wie Anm. 27), S. 306. Bagge und Jahn waren Mitarbeiter der AGA.
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Übersicht lässt dieses Bemühen um eine möglichst vollständige Quellenerfassung erkennen.43 Die in der unglaublich kurzen Zeit zwischen 1862 und 1865 erschienene Edition vermeidet im Titel44 aus gutem Grund die Bezeichnung „Gesamtausgabe“, denn ihr Ziel war nicht Vollständigkeit im Hinblick auf das gesamte, bis dato teilweise noch unveröffentlichte Œuvre, sondern eine pragmatische Vollständigkeit im Sinne der Verfügbarkeit des Bekannten:45 Innerhalb von nur vier Jahren erschienen 30 Folio-Bände mit über 13.000 Druckseiten. Die Bände sind in 24 Serien nach Gattungen gegliedert und enthalten 262, von 1 bis 263 [!] durchnummerierte46 Werke (siehe oben). Zu den in Partituren veröffentlichten Kompositionen der AGA wurde auch das Aufführungsmaterial hergestellt und separat vertrieben,47 denn in der aufführungspraktischen Nutzung lag das Kerninteresse des kolossalen Verlagsunternehmens. Die Herausgeber der einzelnen Bände bzw. der darin enthaltenen Werke bleiben durchweg ungenannt. Es wirkten – soweit wir wissen – angesehene Musiker und Fachleute mit. Mit Ausnahme Franz Espagnes (1828–1878), Bibliothekar der Königlichen Bibliothek zu Berlin, und des Altphilologen Otto Jahn (1813–1869) waren die Editoren im Hauptberuf Komponisten und Musiker. Die Edition war demnach eine Angelegenheit musikalischer Praktiker, wie auch die Ausgabe vornehmlich an den Praktiker gerichtet ist. Für die sinfonischen, konzertanten und vokalsinfonischen Werke war der Leipziger Gewandhausdirigent, Komponist und Cellist Julius Rietz (1812–1877) zuständig. Als editorischer Mitarbeiter der Bach- und Händelausgaben und als Herausgeber von Symphonien Haydns und der Konzertarien Mozarts galt er als maßgebli____________ 43
44 45
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Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien; Nachlass Gustav Nottebohm, ohne Signatur. Das 32 Seiten umfassende Verzeichnis Beethoven’s Werke | Anfang | 1862 | bei Breitkopf & Härtel ist nach den Abteilungen und Serien der Gesamtausgabe gegliedert und enthält die Tabellen-Spalten „Werktitel | Originalverleger | Autographen im Besitz von | v. Beethoven revidirte Copien im Besitz von | Alte Ausgaben | Bemerkungen“. Die dort befindlichen Eintragungen stammen von mehreren Schreibern. Ludwig van Beethoven’s Werke. Vollständige kritisch durchgesehene überall berechtigte Ausgabe. Mit Genehmigung aller Originalverleger. Im Subskriptionsaufruf (siehe Anm. 37, S. 324) heißt es hierzu: „V o l l s t ä n d i g soll sie werden, indem sie alle B e e t h o v e n s c h e n W e r k e , auch die vielen jetzt schon seit Jahren vergriffenen und minder bekannten, sowie eine Anzahl noch gar nicht veröffentlichter umfasst […].“ Gleichwohl heißt die Ausgabe im heutigen Fachjargon „Alte Gesamtausgabe“, da der 1888 nachgereichte Supplement-Band bis dato noch unveröffentlichte Werke nachlieferte und die Ausgabe für die damalige Zeit „Vollständigkeit“ beanspruchen konnte. Beim Übergang von Serie XII (Werke für Pianoforte und Violine) zu Serie XIII (Werke für Pianoforte und Violoncello) wurde die Werknummer 104 versehentlich ausgelassen. Diese vom Verlag festgelegten Werknummern verlaufen unabhängig von der offiziellen Opus-Zählung und erfassen alle Werke, auch die, welche keine offizielle Opus-Nummer besitzen. Jahn, Beethoven und die Ausgabe seiner Werke (wie Anm. 27), S. 305.
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che editorische Autorität seiner Zeit. Einer Ausführung Selmar Bagges48 zufolge benutzte Rietz für die Edition der 4. Symphonie op. 60 die autographe Partitur, eine überprüfte Partiturabschrift, zeitgenössische handschriftliche Aufführungsstimmen sowie einen Haslinger-Nachdruck der Stimmen-Originalausgabe. Das ist ein Quellenkorpus, mit dem auch eine moderne Edition zu operieren hätte. In der jüngst im Rahmen der Neuen Beethoven-Gesamtausgabe erschienenen historisch-kritischen Edition der 3. und 4. Symphonie hält die Herausgeberin Bathia Churgin im Vorwort49 fest, dass die AGA mit der Edition von Rietz (1862) bis in die 1990er Jahre als die vertrauenswürdigste galt und noch immer die Beste unter den älteren Ausgaben ist und für viele Neuauflagen bis in die jüngste Zeit eine Art Bezugstext darstellt. Aus heutiger Sicht ist an Rietz’ Edition zu kritisieren, dass sie sehr zur Vereinheitlichung der Bogensetzung sowie agogischer und dynamischer Angaben neigt, worin sich die kaum von Selbstzweifeln oder textkritischen Skrupeln angefochtene Kapellmeisterpraxis des 19. Jahrhunderts spiegelt. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass diese robusten Editoren-Praktiker vom Schlage Julius Rietz’ sich in einer ungebrochenen Beethoven-Aufführungstradition wähnten. Für die Kammermusik war der Leipziger Gewandhaus-Konzertmeister und Violinlehrer des Leipziger Konservatoriums Ferdinand David (1810–1873) verantwortlich. Die Edition der Klavierwerke oblag dem Dirigenten, Komponisten und Pianisten Carl Reinecke (1824–1910). Der Leipziger Universitätsmusikdirektor und Thomaskantor Ernst Friedrich Richter (1808–1879), der in Wien und Basel tätige Konservatoriumslehrer, Komponist und Musikschriftsteller Selmar Bagge (1823–1896) und Franz Espagne waren für die Lieder und die großen Vokalwerke zuständig.50 Die AGA wurde außerdem von Fachleuten unterstützt, die man als Vertreter der noch jungen Musikwissenschaft betrachten kann: Otto Jahn51 und Gustav Nottebohm, der sich um die Standortermittlung von Quellen bemühte52 sowie – wie bereits erwähnt – parallel zur laufenden Edition das 1851 anonym erschienene Beethoven-Werkverzeichnis überarbeitete und 1868, drei Jahre nach Abschluss des 30-bändigen Hauptteils der Gesamtausgabe, ebenfalls bei Breitkopf & Härtel in einer zweiten Auflage ____________ 48 49 50 51 52
Bagge, Die neue Beethoven-Ausgabe (wie Anm. 42), Nr. 20, Sp. 353. Beethoven Werke, Abteilung I: Sinfonien, Bd. 2, hrsg. von Bathia Churgin, München 2013, S. X. Jahn, Beethoven und die Ausgaben seiner Werke (wie Anm. 27), S. 307. Bereits 1853 gab Jahn bei Breitkopf & Härtel, Leipzig [u. a.] Beethovens Leonore in der zweiten Fassung von 1806 im Klavierauszug heraus. Hierzu gehört etwa der Aufsatz von Gustav Nottebohm, Von Beethoven’s Hand corrigirte Orchesterstimmen, im Besitz der Ges. d. Musikfreunde, in: Deutsche Musik-Zeitung 3 (1862), Nr. 27, S. 215f. Der Aufsatz wurde in den Beethoveniana nicht wieder abgedruckt.
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vorlegte53. Mit Ausnahme von Bagge, Espagne, Jahn und Nottebohm waren die übrigen mitwirkenden Editoren in oder in der Nähe des Verlagsorts Leipzig ansässig. Vor dem Hintergrund der AGA und auf der Basis solider Untersuchungen handschriftlicher und gedruckter Quellen reflektierten Nottebohm und Jahn editorische Methoden und Probleme und prägten damit wesentlich zugleich auch die Musikphilologie. Otto Jahn zufolge waren alle Herausgeber „mit gründlicher musikalischer Bildung“ ausgestattet. Sie besaßen eine „bis ins Einzelste dringende Vertrautheit mit Beethoven“, verfügten über ein „allgemein ästhetisches Verständniß“ sowie über „Takt und Instinct für das Richtige, Gewissenhaftigkeit im Beobachten und Feststellen der Ueberlieferung“ und bewiesen „wissenschaftliches Interesse an der methodischen Lösung jeder einzelnen Aufgabe“.54 Im April 1864 (!) wurde dem Buchhandel der Abschluss der BeethovenGesamtausgabe mitgeteilt,55 und Otto Jahn berichtete in einem umfangreichen, in den Grenzboten erschienenen Artikel56 über diese Ausgabe. Auch Selmar Bagge,57 1863/1864 Mitarbeiter der AGA, hat über die Edition öffentlich reflektiert (1864). Von den Editionsarbeiten kündete ferner ein während der Entstehungszeit der AGA publizierter Artikel aus der Feder Nottebohms.58 Da Revisionsberichte entgegen den Ankündigungen Otto Jahns nicht veröffentlicht worden sind (siehe unten) und das hierfür bereits erarbeitete Material offenbar verloren gegangen ist, geben vornehmlich diese Reflexionen einen Einblick in die editorische Praxis. Am Beispiel der Symphonien und der Edition der beiden Messen klassifiziert Bagge die in der Überlieferung typischerweise auftretenden Textfehler, versucht ihre Ursachen zu erklären (wobei gelegentlich auch Beethoven als Urheber namhaft gemacht wird) und illustriert sie und andere fragwürdige Textstellen mit Beispielen. Auch das stets schwer lösbare Problem der Angleichung von Parallelstellen ist ihm als besondere Herausforderung präsent (Sp. 336, 352). Die editorisch vereinheitlichte Partituranordnung (Holzbläser, Blechbläser, Streicher) in Orchesterwerken begrüßt Bagge als erhebliche Leseerleichterung (Sp. 353). Das Stichbild wird in der AGA modernisiert: So wird beispielsweise in Fagottstimmen der häufige Wechsel in den Tenor-Schlüssel vermieden, paarig geführte Bläserstimmen ____________ 53 54 55 56 57 58
Siehe Anm. 30. Jahn, Beethoven und die Ausgabe seiner Werke (wie Anm. 27), S. 307. Von Hase, Breitkopf & Härtel (wie Anm. 28), S. 327. Der Band mit Beethovens Bearbeitungen schottischer, irischer und walisischer Lieder wurde allerdings noch nachgeliefert. Siehe Anm. 27. Bagge, Die neue Beethoven-Ausgabe (wie Anm. 42). Nottebohm, Von Beethoven’s Hand corrigirte Orchesterstimmen (wie Anm. 52), S. 215f.
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werden durch A-due-Notierung übersichtlicher und klarer notiert. Kurz: Die AGA präsentiert ein modernes editorisches Konzept, das auf andere vergleichbare Werkausgaben normierend einwirkte. Ursprünglich war geplant, die AGA mit Revisionsberichten zu versehen, was jedoch aus nicht bekannten Gründen unterblieb: Bagge wie nach ihm auch Jahn berichteten, dass die Herausgeber 1863 (also vor Abschluss der Edition) beabsichtigten, „Revisionsapparate“ vorzulegen.59 Jahn wies ebenfalls inmitten der Editionsarbeiten (1864) darauf hin, dass „kritische Supplementhefte“ zu den Notenbänden bereits vorbereitet seien, die „genaue Auskunft über alle einschlägigen Fragen“ geben sollten. Es ist sorgsam verzeichnet worden, welche Autographe, Abschriften, Originaldrucke jedesmal vorgelegen haben; über ihre Beschaffenheit und Bedeutung, über den Gebrauch, welcher davon gemacht worden ist, über alles was dabei merkwürdig erscheinen konnte, ist das Nöthige angemerkt, einzelne Stellen, welche in irgend einer Beziehung kritisches Interesse bieten, sind notiert worden. Dadurch ist reichhaltiges Material gesammelt, welches in zweckmäßiger Redaction Aufschluß und Belehrung über alle Fragen der Kritik geben, die Lesarten sicher stellen kann, ohne doch durch einen Ballast überflüssiger Varianten zu ermüden und zu verwirren.60
Otto Jahn – von Haus aus klassischer Philologe und Archäologe – reflektierte in diesem Zusammenhang über die Notwendigkeit, Bedingungen und Methoden der musikalischen Textkritik und lieferte dabei maßgebliche Texte zur methodischen Grundlegung der Musikphilologie.61 Obgleich wir kaum Detailkenntnisse über die Arbeitsweise haben, arbeiteten die Editoren auf hohem Niveau. Spuren der editorischen Arbeiten an der AGA sind erhalten geblieben. Das Beethoven-Archiv Bonn akquirierte 1928, im zweiten Jahr nach seiner Gründung,62 aus dem Verlagsarchiv von Breitkopf & Härtel ca. 75 Kollationsexemplare bzw. Herstellungsvorlagen, die der AGA als Editionsgrundlage dienten.63 ____________ 59 60 61 62
63
Ebd., Nr. 20, Sp. 353. Jahn, Beethoven und die Ausgabe seiner Werke (wie Anm. 27), S. 330. Ebd., S. 308–313. Sieghard Brandenburg, Sammeln und Bewahren – Edieren und Auswerten. Aus der Gründungszeit des Beethoven-Archivs, in: Bonner Beethoven-Studien, Bd. 5, Bonn 2006, S. 71–93, hier: S. 87. Überliefert sind Kollationsexemplare zu folgenden Opera: 2, 3/2, 4, 6, 8, 20, 22, 27, 29, 31/2 und 3, 32, 33, 36, 46, 49, 52, 54, 56–58, 62, 65, 66, 73, 81a, 81b, 87–90, 93, 94, 97–99, 102, 104, 107, 108, 110, 111, 119, 123, 132, 135, 137 und zu folgenden Werken ohne Opuszahlen: 6, 10, 15 (Fassung für Klavier), 27, 45, 46, 47, 51, 55, 57, 65, 68, 74, 82, 108, 117, 123, 124, 126, 127, 129, 132, 133, 134, 140, 145, 148, 149, 150, 154. Einige der genannten Exemplare sind unvollständig. Einige Stichvorlagen und Korrekturabzüge zur AGA aus dem Verlagsbestand Breitkopf & Härtels sind im Sächsischen Staatsarchiv, Leipzig überliefert (Bestand 21081 Breitkopf & Härtel). Frau Dr. Thekla Kluttig danke ich für diesen Hinweis.
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Abb. 1a: Titelblatt der Ausgabe Quatuor pour 2 Violons, Alto & Violoncelle Composé & Dédié à Son Altesse Monseigneur le Prince Nicolas de Galitzin Lieutenant-Colonel de la Garde de Sa Majesté Impériale de toutes les Russies par Louis van Beethoven. Partition. Œuvre posthume. Œuvre 132. No. 15 des Quatuors. […] Berlin, chez. Ad. Mt. Schlesinger, […] Paris, chez Maurice Schlesinger. 2.e Édition correcte [PN: S. 1447.]; [um 1833/ 1834] (Bonn, Beethoven-Haus, Signatur: C 132/6).
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Abb. 1b: Seite 26 des Kollationsexemplars mit Eintragungen Ferdinand Davids für die Edition des Werks im Rahmen der Alten Gesamtausgabe. Aufschrift auf dem Außentitel oben mit Blei: Nach der or.[iginalen] P.[artitur] u. von Beeth. corrigirten Stimmen revidirt FD [= Ferdinand David]; oben rechts mit Tinte: B 51.
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Diese Kollationsexemplare tragen handschriftliche Eintragungen der Herausgeber Selmar Bagge, Ferdinand David, Otto Jahn, Gustav Nottebohm, Carl Reinecke, Ernst Friedrich Richter und Julius Rietz. Trotz qualitativer Schwankungen und ohne die Editionen im Einzelnen geprüft zu haben, darf man der AGA wohl generell eine hohe textkritische Sorgfalt bescheinigen. Exemplarisch lässt sich dies anhand der Ausgabe der späten Streichquartette op. 132 und op. 135 aufzeigen. Ferdinand David stützte seine Edition des A-MollQuartetts op. 132 sowohl auf die autographe Partitur (heute: D-B, Mus. ms. autogr. Beethoven Mend.-Stift. 11) als auch auf die von Beethoven überprüften Stimmenabschriften (heute: D-BNba, NE 275) (vgl. Abb. 1a/b, oben S. 384f.). Zur Drucklegung des Streichquartetts F-Dur op. 135 hatte Beethoven seinem Verleger Maurice Schlesinger vier Einzelstimmen geliefert, die er selbst aus seinem Partiturautograph abgeschrieben hatte (heute: D-BNba, Slg. H. C. Bodmer, HCB BMh 6/46). Dem Komponisten unterliefen fatale Abschreibfehler, die großenteils in die 1827 postum erschienene Pariser Originalausgabe von Maurice Schlesinger und in die Berliner Parallelausgabe von Adolph Martin Schlesinger (beide Male Stimmen und Partitur) eingegangen sind. Auch in der wenige Jahre später erschienenen „2.e Édition correcte“ blieben gravierende Fehler stehen. Unter anderem führten zwei überzählige Takte, die Beethoven in die Abschrift der Stimme zu Violino I (4. Satz) fälschlich eingebracht hat, zu Verwirrungen. Erst die 1864 erschienene AGA konnte den Fehler berichtigen, weil F. David den 4. Satz der autographen Partitur kollationiert hat (heute: D-B, Mus. ms. autogr. Beethoven 19b) (vgl. Abb. 2a/b, unten S. 388f.). Im zeitlichen Umfeld und in den Jahren nach Abschluss der AGA wurden verschiedene, meist kleinere Kompositionen Beethovens aufgefunden oder wiederentdeckt; sie wurden 1888 in einem Supplementband zusammengefasst. Neben einer umfangreichem Beethoven-Biographie, die allerdings durch Alexander Wheelock Thayers monumental angelegte Lebensbeschreibung in den Schatten gestellt wurde, legte Ludwig Nohl (1831–1885) u. a. auch zwei Briefbände zu Beethoven vor, die beide mit kleineren kompositorischen Fundstücken angereichert sind. In Nohls erstem, im Jahre 1865 erschienenen Band64 sind acht kompositorische Erstveröffentlichungen65 eingestreut. Die 1867 von Nohl vorgelegte Edition Neuer Briefe enthält weitere zehn Erstausgaben von Werken Beethovens, darunter die berühmte Bagatelle a-Moll WoO 59, die unter der populären Bezeichnung Albumblatt für Elise weltweit Verbreitung ____________ 64 65
Briefe Beethovens: mit einem Facsimile, hrsg. von Ludwig Nohl, Stuttgart 1865. Musikalische Scherze und kleine Gelegenheitskompositionen (WoO 101, 174, 179, 189, 194, 198, 205a und 205i).
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gefunden hat.66 Nohl wollte dieses Stück in die AGA aufgenommen wissen, doch das Hauptcorpus war bereits abgeschlossen; der Fund kam demnach zu spät. 1888 schließlich wurde von Eusebius Mandyczewski (1857–1929)67 ein 31. Band als Supplement der AGA nachgeliefert, den sein 1882 verstorbener Amtsvorgänger Gustav Nottebohm schon vorbereitet hatte. Erst darin wurde das Albumblatt als Nr. 35 aufgenommen. Es erschien danach in einer Ausgabe für den praktischen Gebrauch innerhalb einer Sammlung mit dem Titel Kleinere Stücke für das Pianoforte. Naturgemäß durchbricht dieser als Serie XXV fortgezählte Supplementband (1888) die Gattungsgliederung der zuvor erschienenen Hauptbände. Die Werke dieses Nachtragsbandes sind auf zwei Gruppen (Gesang-Musik und Instrumental-Musik) mit 22 bzw. 24 Werkeinheiten aufgeteilt, die sich mit der Zählung von 264 bis 309 an die Verlags-Nummerierung der früheren Bände anschließen bzw. diese fortführen. Das Supplement bietet ausnahmslos Kompositionen, die Beethoven selbst nicht mit Opusnummern versehen hat. Zu einem erheblichen Teil handelt es sich um Erstveröffentlichungen von Werken, die oft kurz zuvor erst aufgefunden worden waren (z. B. die beiden Kaiser-Kantaten WoO 87 und 88, die 1884 bekannt wurden). Wirkliche Vollständigkeit der Werkausgabe wurde auch mit dem Supplementband nicht erreicht. So fehlt – um nur ein Beispiel zu nennen – Beethovens eigene Bearbeitung der Großen Fuge op. 134 für Klavier zu vier Händen. Ohne explizite Bezugnahme auf die AGA aber mit Fortführung der verlagsinternen Zählung (Nr. 310) erschien 1890 bei Breitkopf & Härtel das Klavierkonzert Es-Dur WoO 4. Im selben Jahr gliederte Guido Adler unter der Nr. 311 einen Klavierkonzertsatz in D-Dur an, der jedoch später als Kopfsatz eines 1802 entstandenen und 1809 veröffentlichten Klavierkonzerts des Prager Komponisten Johann Josef Rösler (1771–1813) identifiziert werden konnte.68 Die erst 1940 von Georg Schünemann herausgegebenen 23 Volksliedbearbeitungen WoO 158 erhielten die Verlagsnummern 312 bis 334; sie ergänzen ebenfalls implizit die AGA. Durch die 1865 offiziell abgeschlossene und 1888 mit einem Supplementband ergänzte Gesamtausgabe konnte das Verlagshaus Breitkopf & Härtel seinen publizistischen Vorsprung nutzen und den Markt mit preisgünstigen prak____________ 66
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Neue Briefe Beethovens: nebst einigen ungedruckten Gelegenheitscompositionen und Auszügen aus seinem Tagebuch und seiner Lektüre, hrsg. von Ludwig Nohl, Stuttgart 1867. Der Band enthält Erstveröffentlichungen von WoO 35, 59, 106, 158, 167, 170, 199, 200, 205d und Hess 171. Er war Schüler Gustav Nottebohms sowie ein Freund von Johannes Brahms und ab 1887 in der Nachfolge Carl Ferdinand Pohls Archivar der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Als Herausgeber der Schubert-Ausgabe erwarb er sich große Verdienste. Hans Engel, Der angebliche Beethovensche Klavierkonzertsatz, in: Neues Beethoven-Jahrbuch, Bd. 2, Augsburg 1925, S. 167–182.
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Abb. 2a: Titelblatt der Ausgabe Quatuor pour 2 Violons, Alto & Violoncelle Composé & Dédié à son ami Jean Wolfmeier par Louis van Beethoven. Partition. Œuvre posthume. […] Œuv. 135. No. 16 des Quatuors. […] Berlin, chez. Ad. Mt. Schlesinger, […] Paris, chez Maurice Schlesinger. 2.e Édition correcte [PN: S. 1448.]; [um 1833/34] (Bonn, BeethovenHaus, Signatur: C 135/6).
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Abb. 2b: Seite 29 des Kollationsexemplars mit Eintragungen Ferdinand Davids für die Edition des Werks im Rahmen der Alten Gesamtausgabe. Aufschrift auf dem Außentitel oben mit Rötel: der 2te u. 4te Satz nach dem or. mnscpt. [= Original-Manuskript] corrigiert; oben rechts in Tinte: B 52; darunter mit Blei: alle 4 Sätze nach des Autors selbst ausgeschriebenen Stimmen [revidiert].
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tischen Ausgaben und Bearbeitungen, die sich auf die AGA stützten, versorgen. Die Konkurrenz löste ihrerseits Erfolg versprechende Werkbereiche, wie etwa die Klaviersonaten, aus dem Gesamtœuvre heraus und veranstaltete ebenfalls preisgünstige praktische Ausgaben (Collection Litolff, Edition Peters,69 Ludwig Holle in Wolfenbüttel).70 Breitkopf reagierte seinerseits mit der 1877 begonnenen Volksausgabe von Werken der Klassik und Romantik, die erheblich zur Verbreitung der Klaviersonaten beigetragen hat. Für die zweibändige, von zahlreichen editorischen Eingriffen geprägte Sonatenausgabe (Volksausgaben 35 und 36, 1878) war Carl Reinecke zuständig. Die instruktiven Ausgaben, für deren autoritativen Anspruch die Prominenz und pianistische Kompetenz der Herausgeber einzustehen hatte, verunklarten jedoch den Werktext und lösten erst um die Jahrhundertwende Gegenreaktionen aus. Trotz höchster Ansprüche, denen Gesamtausgaben sich per definitionem zu stellen haben, sind auch sie fehleranfällig. Schon 1876 artikulierte Nottebohm herbe Kritik an der AGA. Der Glaube an „eine durchaus correcte und echte Ausgabe der Werke Beethoven’s gehört noch ins Reich der Fabel“, nicht wenige Fehler seien stehengeblieben oder gar erst hinzugekommen.71 In einem umfangreichen Aufsatz legte Nottebohm eine Fehlerliste vor, die heute nicht allein wegen der Fundstellennachweise, sondern wegen ihrer Systematik der Textdefekte sowie hinsichtlich des editorischen Umgangs mit einzelnen Textproblemen Interesse verdient. Nottebohm führt Beispiele überwiegend aus Klavierwerken an und bezieht gelegentlich Streichquartette und große Werke wie den Fidelio, das Violinkonzert oder die Klavierphantasie op. 77 ein. Er gruppiert die ermittelten Defekte in sieben Kategorien, die in vorliegendem Beitrag nicht weiter diskutiert werden können, aber wenigstens genannt zu werden verdienen, weil sie einen wesentlichen systematischen und methodischen Beitrag innerhalb der Geschichte der Musikphilologie leisten.72 ____________ 69 70
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Emil Breslaur, Die Peters-Ausgabe der Mozart- und Beethoven’schen Klavierwerke, in: Der Klavierlehrer 17 (1894), S. 29–32. Die mit Ignaz Moscheles um 1853/1854 beginnenden zahlreichen Editionen der Klaviersonaten sind bei Oppermann im Anhang aufgelistet und werden dort im Hauptteil diskutiert. Vgl. Annette Oppermann, Musikalische Klassiker-Ausgaben des 19. Jahrhunderts. Eine Studie zur deutschen Editionsgeschichte am Beispiel von Bachs Wohltemperiertem Clavier und Beethovens Klaviersonaten (= Abhandlungen zur Musikgeschichte, Bd. 10), Göttingen 2001, S. 313 und passim. Gustav Nottebohm, Zur Reinigung der Werke Beethoven’s von Fehlern und fremden Zuthaten, in: Allgemeine musikalische Zeitung, Neue Folge 11 (1876), Nr. 21, Sp. 321–327, Nr. 22, Sp. 337–343, Nr. 23, Sp. 353–360, Nr. 24, Sp. 369–373, Nr. 25, Sp. 385–391, Nr. 26, Sp. 401– 407, Nr. 30, Sp. 365–471, Nr. 31, Sp. 481–487, Nr. 32, Sp. 497–501, Nr. 33, Sp. 513–516, hier Nr. 21, Sp. 321. 1. Ungenaue Bezeichnungen: a. Versetzungszeichen betreffend, b. Doppelschlagszeichen betreffend, 2. Schreibfehler, 3. Verschiedene Lesarten, 4. Lesefehler, 5. Vermeintliche Verbesserungen, 6. Druckfehler, 7. Zweifelhafte Stellen.
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An die autoritative Leipziger Gesamtausgabe knüpft eine unübersehbare Flut praktischer Ausgaben an. Der bereits oben genannte Leipziger Geiger Ferdinand David gab in Hinblick auf die praktische Verwendung die ViolinSonaten, Klaviertrios, Streichquartette und das Violinkonzert heraus und arrangierte Cello-Werke für Violine.73 Die Ausgaben erschienen etwa ab 1868 fortfolgend und blieben bis um 1900 für die Musikpraxis bestimmend. David stützt sich im Wesentlichen auf die Editionsergebnisse der AGA, an der er mitgearbeitet hatte, nimmt aber die Violinpartien davon auf charakteristische Weise aus: Sie werden nicht selten regelrecht bearbeitet. Während der Tonsatz nahezu unangetastet bleibt, werden Artikulation und Bogensetzung geändert (Beethovens überlange Bögen werden unterteilt), Stricharten und Fingersätze werden ergänzt. Diese Eingriffe sind Maßnahmen des versierten und selbstsicheren Praktikers, der seine frühe Aufführungserfahrung durchaus in Beethovens Lebzeiten verwurzelt wusste. (David war von 1823 bis 1825 Schüler Louis Spohrs.)
II.
Sonaten-Edition
In der Geschichte der Beethoven-Editionen haben sich zahlreiche Werkpräferenzen herausgebildet, die nicht zuletzt marktstrategischen Interessen der Verleger folgen. Bis heute werden sämtliche Klaviersonaten nicht nur als Nachdrucke bewährter Editionen auf den Markt gebracht, sondern in praktischen Neuausgaben editorisch immer wieder neu erarbeitet. Schon im 19. Jahrhundert standen vom Gesamtwerk aus betrachtet die Klavierwerke und damit die Sonaten im Mittelpunkt des editorischen Interesses.74 Als einer der ersten versah der mit Beethoven gut bekannte Pianist und Komponist Ignaz Moscheles (1794–1870) seine Sonaten-Editionen im Rahmen von Hallberger’s Pracht-Ausgaben der Classiker Beethoven, Clementi, Haydn, Mozart in ihren Werken für Pianoforte allein (Stuttgart 1858) mit „Instruktiven Bemerkungen“. Moscheles bietet einerseits Kommentare – kurze ausdrucksästhetische Charakterisierungen, formanalytische „Zergliederungen“ der Sonatensätze und aufführungspraktische Verstehenshilfen: Italienische Satzund Tempobezeichnungen sind ins Deutsche übersetzt, Tempoangaben mit Metronomzahlen versehen, weitere Vortragsbezeichnungen, Fingersätze und Pedalangabe sind ergänzt und manche authentische Interpretationsangabe ist ____________ 73
74
Clive Brown, Ferdinand David’s Editions of Beethoven, in: Performing Beethoven, hrsg. von Robin Stowell (= Cambridge Studies in Performance Practice, Bd. 4), Cambridge 1994, S. 117–149. Nottebohm, Zur Reinigung (wie Anm. 71), Nr. 30, Sp. 469.
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getilgt worden. Andererseits bereitet Moscheles den Notentext editorisch auf, um ihn an die aktuellen Fortschritte im Klavierbau anzupassen. Schon im Jahre 1862 wurde diskutiert, ob angesichts der erweiterten Klaviaturen diejenigen Beethoven’schen Klavierwerke, die den Beschränkungen der ehemaligen Fünf-Oktaven-Klaviere unterworfen waren, editorisch verändert werden sollten.75 Im Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung (Stuttgart) erschienen in der Reihe Instructive Ausgabe Klassischer Klavierwerke die Klaviersonaten, aber auch andere Klavierwerke (Variationen, Bagatellen, Einzelwerke) in fünf Sammelbänden, daneben die Einzelwerke auch in äußerst preisgünstigen Einzelheften. In die Redaktion des 4. und 5. Bandes in der 2. Auflage der Klaviersonaten (enthaltend op. 53 bis 129) wurde Hans von Bülow einbezogen, der die Ausgabe mit „erläuternden Anmerkungen für Lehrende und Lernende versah“.76 Er galt zu jener Zeit als herausragender Beethoven-Kenner. Bülows Edition der Klavierwerke war jedoch auch nicht frei von editorischen und sachlichen Irrtümern. So stufte er 1878 das Rondo G-Dur op. posth. 129 (Die Wut über den verlorenen Groschen) als Spätwerk Beethovens ein und kommentierte es demgemäß.77 Das 1945 wieder aufgefundene Autograph zeigte hingegen, dass es sich um ein frühes Werk aus den 1790er Jahren handelt. Obwohl praktische Ausgaben keine Kritischen Berichte enthielten, bemühte sich die instruktive Ausgabe um eine Differenzierung zwischen authentischem Werktext (im Normalstich), gekennzeichneten Herausgebereingriffen (Kleinstich und Klammerung) und Aufführungskommentaren (in Fußnoten). Hinzu kamen noch formanalytische Kürzel, die dem Interpreten die Satzstruktur ____________ 75
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E. N. (Chiffre für Emil Naumann?), Ueber wünschenswerthe Aenderungen in vielen Claviercompositionen Mozart’s und Beethoven’s, in: Deutsche Musik-Zeitung 3 (1862), Nr. 1, S. 4. Der Autor „-t-“ (man darf hinter dieser Chiffre G. Nottebohm vermuten) nahm dieses Thema auf: Sind „Aenderungen in vielen Claviercompositionen Mozart’s und Beethoven’s“ der erweiterten Claviatur wegen wirklich unbedingt „wünschenswerth“?, in: Deutsche Musik-Zeitung 3 (1862), Nr. 20, S. 153–155 und Nr. 21, S. 161f. Der Autor plädiert für eine editorische Belassung der authentischen Lesarten und möchte plausible, „wünschenswerthe“ Änderungen der „Discretion des Spielers überlassen“ (S. 155). Ludwig van Beethoven. Sonaten und andere Werke, 5 Bde.: Bd. 1–3 (op. 2–51) unter Mitwirkung von Immanuel Faisst bearbeitet von Sigmund Lebert, Bd. 4 und 5 (op. 53–129) bearbeitet von Hans von Bülow; 2. Aufl.: Bd. 1 (10 Sonaten op. 2–14), Bd. 2 (10 Sonaten op. 22–49). Daran anschließend: Beethovens Werke für Piano solo von op. 53 an in kritischer und instruktiver Ausgabe mit erläuternden Anmerkungen für Lehrende und Lernende von Hans von Bülow, Zweiter Teil, Stuttgart und Berlin: Edition Cotta 1872, 1891/1892; Bd. 3: Variationen, Rondo’s und dergl. bis op. 51 und ohne Opuszahl; Bd. 4: Sonaten und andere Werke op. 53–90; Bd. 5: Sonaten und andere Werke Op. 101–129. Da diese Ausgabe, wie der Titel ausweist, an den Konservatorien in Wien und Stuttgart und an der neuen Akademie der Tonkunst in Berlin als Unterrichtsausgaben eingeführt waren, besaßen sie starke Wirkkraft. Siehe hierzu Heinz von Loesch, Die Wut über den verlorenen Groschen: „Gemütlicher Witz“ oder Zeichen der „Entfremdung“?, in: Bonner Beethoven-Studien, Bd. 8 (2009), S. 77–88.
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erschließen sollen.78 Die Herausgebereingriffe beschränkten sich nicht nur auf Dynamik, Agogik und Pedalangaben, sondern berührten auch den Tonsatz: Beispielsweise werden für Hände mit kleiner Griffspanne Vorschläge gemacht, welche Noten entfallen können. Im privaten, freilich von persönlichen Animositäten gefärbten Gespräch soll Clara Schumann sich 1895 „verdrießlich“ über die Editionspraxis Hans von Bülows geäußert haben. Die Ausgabe von Bülow enthalte Vortragsbezeichnungen, die Beethoven gar nicht hingeschrieben habe. Eine solche Mache müsse den Schülern entzogen werden. Für ordentliche Musiker sei eine solche Ausgabe geradezu unbrauchbar. In Bülow’s Spiel sei Beethoven geradezu verballhornt erschienen.79
Die Bezeichnung „Instruktive Ausgabe“ war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein editorisches Gütesiegel, für das namhafte Musiker-Editoren einstanden. Die große und durchaus auch positive Wirkung der instruktiven Ausgaben im Sinne einer musikalischen Volksbildung sollte man nicht unterschätzen. Akademieausgabe 1898 veröffentlichte die Königliche Akademie der Künste in Berlin eine von willkürlichen Herausgeberzusätzen freie Ausgabe der Klaviersonaten.80 Herausgeber der drei Bände, in der 38 Sonaten und Sonatinen (also auch die frühen Sonaten) enthalten sind, war der philologisch versierte Dozent der Königlichen Musikhochschule zu Berlin, Carl Krebs (1857–1937). Seine Edition enthält Revisionsberichte, in denen entstehungsgeschichtliche Hinweise gegeben, die editorischen Quellengrundlagen (Autographe, Originalausgaben, Frühdrucke etc.) benannt und Lesarten in Auswahl aufgelistet sind. Krebs enthielt sich instruktiver Zusätze, berichtigte lediglich Überlieferungsfehler und kennzeichnete die an einigen Stellen notwendig scheinenden Ergänzungen (Legatobögen, Vorzeichen, dynamische Angaben) durch eckige Klammern. An die Stelle der in instruktiven Ausgaben gegebene Belehrung, Bearbeitung und Kommentierung trat das Bemühen um eine kritische Konstitution des Notentextes.81 Die Urtext-Edition von Krebs markiert zwar eine editorische Trendwende, blieb aber editionsgeschichtlich und aufführungspraktisch fol____________ 78 79 80
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HS: Hauptsatz; SS: Seitensatz; RG: Rückgang; ÜG: Übergang; SchlS: Schlußsatz, DS: Durchführungssatz. Ferdinand Schumann, Erinnerungen an Clara Schumann, in: Neue Zeitschrift für Musik 84 (1917), S. 88. Siehe hierzu generell: August Naubert, Neue Ausgaben älterer Werke von Germer und die „Ausgabe klassischer Musikwerke im Urtext“ veranlaßt von der Königlichen Akademie der Künste zu Berlin, in: Der Klavier-Lehrer 18 (1895), S. 153–155, 165–168. Vgl. Oppermann, Musikalische Klassiker-Ausgaben des 19. Jahrhunderts (wie Anm. 70), S. 282.
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genlos. Die Praxis der instruktiven Ausgabe war durch die Akademieausgabe keinesfalls beendet. Im Gegenteil: Vor allem Klavierpädagogen lehnten den vermeintlich irritierend kargen Urtext ab und insistierten weiterhin auf instruktiv angereicherten Ausgaben. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden instruktive Ausgaben obsolet. An ihre Stelle traten sogenannte „Urtext-Ausgaben“, die sowohl textkritische Standards einzuhalten bemüht sind als auch praxisorientierte Aufführungshilfen (z. B. Fingersätze oder Ausführungskommentare zu Verzierungen) bieten, deren editorische Leitprinzipien aber weniger klar und eindeutig sind, als das Qualitätssiegel „Urtext“ dies suggeriert. Die Auseinandersetzung um Begriff und Sache des „Urtextes“82 flammt bezeichnenderweise bis heute immer wieder auf, weil sich die Frage, was unter dieser Editionsform zu verstehen ist, nicht verbindlich klären lässt, da nahezu jede Edition auf individuelle Weise den Begriff für sich einzulösen versucht. Heinrich Schenkers „Erläuterungsausgaben“ In den Jahren 1913 bis 1920 veröffentlichte Heinrich Schenker (1868–1935) vier der späten Klaviersonaten in sogenannten „Erläuterungsausgaben“,83 die ____________ 82
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Auswahlbibliographie: Hellmuth von Hase, Über den Gebrauch der Bezeichnung „UrtextAusgabe“, in: Musikhandel 3 (1952), S. 43; Günter Henle, Über die Herausgabe von Urtexten, in: Musica 8 (1954), S. 377–380; Paul Bleier, Urtext-Ausgaben – erwünscht und unerwünscht, in: Neue Zeitschrift für Musik 119 (1958), S. 741f.; Josef Müller-Marein, Wie „ur“ ist ein Musik-Urtext? Die Klassiker-Ausgaben und die Bemühungen des Henle-Verlages, in: Die Zeit 5 (1950), Nr. 50, 12. Dez. 1958, S. 5; Georg Feder und Hubert Unverricht, Urtext und Urtextausgaben, in: Die Musikforschung 12 (1959), S.432–454; Hubert Unverricht, Das Urtextproblem im Werk Ludwig van Beethovens, in: Slovenská Hudba 14 (1970), S. 41–52; Carl Dahlhaus, Urtextausgaben, in: Neue Zeitschrift für Musik 134 (1973), H. 6, S. 334; Karl Heinz Füssl, Urtext-Ausgaben: Probleme und Lösungen, in: Österreichische Musikzeitschrift 28 (1973), S. 510–514; Christoph-Hellmut Mahling, Urtextausgabe – Kritische Ausgabe. Voraussetzung für „richtige“ Interpretation?, in: Vom Notenbild zur Interpretation. Konferenzbericht der 5. Wissenschaftlichen Arbeitstagung, Blankenburg/Harz, 1. bis 3. Juli 1977 (= Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation von Instrumentalmusik im 18. Jahrhundert, Bd. 6/2), Blankenburg/Harz 1978, S. 26–30; Hans-Joachim Schulze, Bach im Urtext zwischen Wissenschaft und Praxis, in: ebd., S. 39–42; Ludwig Finscher, Gesamtausgabe – Urtext – Musikalische Praxis. Zum Verhältnis von Musikwissenschaft und Musikleben, in: Musik – Edition – Interpretation. Gedenkschrift Günter Henle, München 1980, S. 192–198; Paul Badura-Skoda, Das Problem „Urtext“, in: Musica 40 (1986), S. 222–228; Michael Querbach, Der konstruierte Ursprung. Zur Problematik musikalischer Urtext-Ausgaben, in: Neue Zeitschrift für Musik 149 (1988), S. 15–21; Martin Bente, Ermittlung und Vermittlung. Zum Begriff „Urtext“, in: Österreichische Musikzeitschrift 46 (1991), S. 528–531; Dietrich Berke, Urtext zwischen Wissenschaftsanspruch und Praxisnähe, in: ebd., S. 531–535; Peter Gülke, Beethoven-UrtextAusgaben – Editionen und Werbesprüche, in: Das Orchester 10 (1997), S. 32–35; Jochen Reutter, Urtext auf den Punkt gebracht, in: Wiener Urtext. 25 Jahre [Wien 1997]. Die Bezeichnung „Erläuterungsausgabe“ findet sich auf dem Umschlagtitel. Der für alle Einzelhefte identische Innentitel lautet: Die letzten fünf Sonaten von Beethoven. Kritische Ausgabe mit Einführung und Erläuterung von Heinrich Schenker, Wien und Leipzig: Universal-Edition.
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sich trotz der begrifflichen Nähe zur „Instruktiven Ausgabe“ als deren editorisches Gegenkonzept verstehen. Die editionsgeschichtliche Bedeutung der ersten in dieser Reihe erschienenen Sonate (op. 109) besteht darin, dass Schenker die autographe Handschrift in die Ausgabe einbezog und sie als maßgebliche Quelle editorisch exponierte. Zu Recht kann man Schenker als Begründer jener Editionsform bezeichnen, die nach 1945 als praxisbezogene Urtext-Ausgabe Karriere machte und schließlich das Ende der sogenannten instruktiven Ausgaben einläutete. In den Erläuterungsausgaben zu op. 110 und 111 bezog Schenker sogar Skizzenmaterial mit ein. Sie zielten nicht bloß auf einen zuverlässigen Notentext, der Beethovens Komposition getreu wiedergeben sollte, sondern beabsichtigten darüber hinaus, dem Benutzer der Ausgaben den musikalisch-schöpferischen Geist, der in den Werken waltet, zu vermitteln. „Schenker tritt zugleich als Musikphilologe und -pädagoge auf“,84 was ihn wiederum mit Editoren instruktiver Ausgaben verbindet. Wer aber eine sorgfältig mittels eines Kritischen Apparats begründete Edition erwartet, wird auch von Schenker enttäuscht. Statt solide Textkritik aufzubieten erging sich der Herausgeber in extensiven, mit missionarischem Eifer vorgetragenen Analysen, in die tendenziöse Überlieferungsbefunde aus autographen Quellen eingestreut sind. Nebenbei werden die instruktiven Ausgaben einiger, zum Teil bitter befehdeter Herausgeber (Hans von Bülow, Carl Reinecke, Karl Klindworth) unmusikalischer Eingriffe und der editorischen Willkür bezichtigt. Auch die um hermeneutische Deutung bemühten „Affektschwatzer“, worunter Schenker Persönlichkeiten wie Hermann Kretzschmar, Paul Bekker, Hans von Bülow und Hugo Riemann zählte, gehörten zu seinen bekämpften Gegnern. Vielsagend ist bereits die quantitative Relation zwischen Notentext und Erläuterung in Schenkers Editionen. Während der Notentext der Klaviersonate op. 109 insgesamt 19 Seiten umfasst (S. 3–21), beansprucht die „Einführung“ (S. 22–57) 36 Seiten. Schenker bemühte alle ihm erreichbaren Quellen, vom autographen Arbeitsmanuskript über Abschriften bis hin zu Originalausgaben, ohne sie jedoch textkritisch aufzubereiten. Sofern Skizzen, Entwürfe und andere Vorstadien des Werks greifbar waren, hat Schenker auch diese kursorisch mit einbezogen. Fingersätze ergänzte er selbst, nahm aber auch die wenigen originalen Applikaturen in seine Ausgabe auf. Dabei stützte er sich vor allem ____________
84
Entgegen der durchweg beibehaltenen Titelangabe „fünf“ erschienen nur vier Sonaten jeweils in einzelnen Heften: op. 109 (1913), op. 110 (1914), op. 111 (1915), op. 101 (1920/21). Aus nicht bekannten Gründen fehlt die sogenannte Hammerklaviersonate op. 106, eben jenes Werk, das die größten philologischen Probleme aufwirft. Bis heute diskutiert wird die darin enthaltene Crux a/ais (im 1. Satz, T. 224–226). Hermann Wetzel in der Rezension von Schenkers Ausgabe der Sonate op. 109, in: Die Musik, 13 (1910/11), H. 12, S. 363.
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auf „das Autograph“ Beethovens, das ihm als geradezu sakrosankte und deshalb autoritative Quelle galt.85 Beethovens idiographische Notation, seine „Schreibart“, begreift Schenker als Indikator eines „tonkörperlichen Denkens“. Graphologische Besonderheiten der Werkstatthandschrift, die im Druck nicht reproduzierbar sind, liefern dem lesenden Auge gewissermaßen Kommentare zur Geistigkeit des Textes. Das „Steigen und Fallen der Linien“ wird im Duktus der Handschrift sinnfällig unterstrichen, „das tiefsinnige Spiel der Balken“ kündet „dem Auge, was im Inneren der Töne vorgeht“, und „die geheimnisvolle Beredsamkeit der Bogen“ klärt das Bild „wohlgepflegter und gesättigter Gerechtigkeit im Gefüge der Teile und des Ganzen“. Sprechend ist Schenker zufolge auch die Behalsungsrichtung der Noten und das „Register der Pausen“, das aufgrund seiner notationellen Lückenhaftigkeit das Wesentliche umso deutlicher hervortreten lässt. Diese aufschlussreichen Nuancen von Werkstatthandschriften sind in den Druckausgaben nach Meinung Schenkers der „Gleichgültigkeit der Stecher“ und „Korrektoren“ zum Opfer gefallen.86 Doch nicht wenige der von Schenker hervorgehobenen Notationseigentümlichkeiten sind bedingte Reflexe auf aktuelle Schreibsituationen (z. B. auf den verfügbaren Notationsschreibraum, die aktuelle Textdichte, Korrekturausweichungen usw.) und damit zufällige Erscheinungen, denen man keine tiefgründenden geistigen Aussagen oder subtile Botschaften zuschreiben kann. Der Schenker-Schüler Oswald Jonas gab 1972 die Erläuterungsausgabe von Beethovens vier Klaviersonaten erneut heraus.87 Die Neuausgabe ist jedoch kein bloßer Reprint, sondern hinsichtlich des Kommentarteils gründlich purgiert: Getilgt wurde Schenkers Polemik gegen die zu seiner Zeit im Gebrauch befindlichen instruktiven Ausgaben und gegen bestimmte Beethoven-Literaten sowie Schenkers zeitpolitisch motivierte Sottisen.88 ____________ 85
86 87
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Die vornehmlich in der deutschsprachigen Beethoven-Forschung anzutreffende emphatische Redeweise vom Autograph scheint auf Schenker zurückzugehen. Mit Autograph ist – entgegen dem eigentlichen Wortsinn (nämlich Eigenschrift des Komponisten, worunter alles fällt, was von ihm selbst geschrieben ist: Skizze, Entwurf, Notizzettel, Brief, Arbeitspartitur) – jenes Arbeitsmanuskript gemeint, in dem der Werktext in seiner authentischen, angeblich reinsten Form vorliegt. Das Autograph wird in diesem verengten Sinne als Offenbarungsquelle eines Werks verstanden, auf die alle editorischen Heilserwartungen gerichtet sind. Dieser problematische Begriffsgebrauch, in dem sich eine bestimmte philologische Erkenntnisblindheit gegenüber nichtlinear verlaufenden, vertrackten kompositorischen Prozessen widerspiegelt, wurde erstmals von Lewis Lockwood kritisch thematisiert (On Beethoven’s Sketches and Autographs: Some Problems of Definition and Interpretation, in: Acta musicologica 42 [1970], S. 32–47). Erläuterungs-Ausgabe der Sonate A-Dur op. 101, Wien 1921, Vorbemerkung zur Einführung, S. 19f. Ludwig van Beethoven: Die letzten Sonaten. Op. 101, op. 109, op. 110, op. 111. Kritische Einführung und Erläuterung von Heinrich Schenker, hrsg. von Oswald Jonas, Wien: Universal Edition 1972. Vgl. hierzu Hellmut Federhofers Rezension der Neuausgabe in: Die Musikforschung 27 (1974), S. 383.
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Weite Verbreitung fand die in hohen Stückzahlen von der Wiener Universal-Edition vertriebene vierbändige Gesamtausgabe Sämtlicher Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven, die – wie es im Titel heißt – von Heinrich Schenker „nach Autographen und Originalen rekonstruiert“ sind.89 Diese (nach Schenkers Tod von Erwin Ratz revidierten) Bände90 bieten im Gegensatz zu den „Erläuterungsausgaben“ einen nüchternen, nur in äußerst spärlichen Fußnoten editorisch kommentierten Notentext. Schenkers einstiges missionarisches Anliegen ist nicht einmal mehr in Ansätzen zu erkennen. Urtext-Ausgabe nach 1950 Während im 19. Jahrhundert der Name eines renommierten Musikers für die editorische Qualität zu bürgen hatte, gilt nach 1950 der Hinweis auf eine Urtext-Ausgabe als editorisches Gütemerkmal. Das anfangs rigide verfochtene, jedoch stets umstrittene, Urtext-Konzept91 wird in der jüngsten praxisorientierten Editorik aufgeweicht, freilich ohne den hohen Anspruch auf höchste Textverlässlichkeit aufzugeben. Dies geschieht durch Doppeleditionen, wobei die eine Stimme den editorisch begründeten „Urtext“ (mit ergänzten Fingersätzen) liefert und die andere die instruktive Bearbeitung eines renommierten Praktikers als spielpraktische Alternative offeriert.92 Urtext-Editionen sind durch die gewachsenen Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis und durch den Orientierungsbedarf praktischer Musiker (darunter nicht wenige leistungsstarke Laien) offenkundig in Zugzwang geraten. Für Interpretationsfragen, die sich aufgrund der Diskrepanzen zwischen alten und modernen Musikinstrumenten, aber auch aus der historischen Ferne, der partiellen Fremdheit und wegen des Deutungsspielraums von Notentexten ergeben, hält die historische Aufführungspraxis wenn nicht Antworten, so doch Vorschläge bereit. So bietet beispielsweise eine jüngere Gesamtausgabe von Beethovens Klaviersonaten93 neben dem in Urtext-Ausgaben üblicherweise reduzierten Kritischen Apparat ____________ 89
90
91 92
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Sämtliche Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven. Nach den Autographen rekonstruiert von Heinrich Schenker, Wien: Universal-Edition, Bd. I (op. 2/1–10/3), Bd. II (op. 13–28), Bd. III (op. 31/1–57) 1923, Bd. IV (op. 78–111) 1926. Ludwig van Beethoven. Klaviersonaten. Nach den Autographen und Erstdrucken rekonstruiert von Heinrich Schenker. Neue Ausgabe revidiert von Erwin Ratz, Wien: Universal-Edition, Bd. I [ca. 1945], Bd. II: [1946], Bd. III: [ca. 1947] und Bd. IV [ca. 1947]. Gliederung und Inhalt der Bände sind identisch mit der zuvor genannten Ausgabe. Vgl. Anm. 82. Vgl. z. B. Ludwig van Beethoven. Sonaten für Klavier und Violoncello, hrsg. von Jens Dufner, Fingersatz der Klavierstimme von Ian Fountain. Mit zusätzlicher bezeichneter Violoncellostimme von David Geringas, München [2009]. Beethoven. The 35 Piano Sonatas, hrsg. von Barry Cooper, Fingersatz von David Ward, 2 Bde., London: Associated Board of the Royal School of Music 2007.
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auch noch detaillierte aufführungspraktische Hinweise, deren didaktische Ausrichtung an eine im selben Verlag erschienene Vorgängerausgabe94 anschließt, ohne diesen Zusammenhang explizit zu benennen. Diese Hinweise erstrecken sich auf Besonderheiten historischer Tasteninstrumente und erläutern die spielpraktische Bedeutung performativer Angaben (Pedalgebrauch, Tempo und Metronomangeben, Dynamik, Bögen und Artikulation, Verzierungen, Wiederholungen etc.). Die dem Klaviersatz beigegebenen Applikaturen sind, sofern sie nicht in den Werkquellen selbst anwesend sind, aus aufführungspraktischen Traktaten bzw. Schulen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts (z. B. Carl Philipp Emanuel Bach, Daniel Gottlieb Türk, Muzio Clementi, Johann Nepomuk Hummel) abgeleitet. Allerdings fehlen aus leicht einsehbaren Gründen bei den fünf letzten Klaviersonaten Fingersatzangaben vollständig: Wer diese pianistischen Hürden bewältigen kann, bedarf keines applikativen Nachhilfeunterrichts. Sogar die textkritischen Einzelanmerkungen sind mit aufführungspraktischen Ratschlägen durchsetzt. Diese Ratschläge fußen aber nicht wie in den instruktiven Ausgaben auf der künstlerischen Autorität eines namhaften Interpreten, sondern auf historisch hergeleiteten, jedoch nicht immer wirklich gesicherten Einsichten. In Barry Coopers Klaviersonaten-Ausgabe gehören zu jeder Sonate ausführliche editorische Bemerkungen, die begründete Ratschläge zu vielen problematischen Passagen bieten, wo entweder der Notentext oder seine Interpretation in irgendeiner Weise mehrdeutig ist. Diese Hinweise enthalten notwendigerweise ein subjektives Element, und die Interpreten haben das Recht, die Meinungen des Herausgebers zu übergehen, wenn sie dafür hinreichende Gründe haben.95
Jedem Band liegt als zusätzliche Orientierungshilfe eine CD bei. Sie enthält Klangbeispiele zu den Sonaten, die auf historischen bzw. auf modernen Klavieren gespielt sind. Zugleich bieten die an „Interpreten, Lehrer, Studenten und Wissenschaftler“ gerichteten CDs „klingende Einführungen in die herausragenden Eigenschaften“ der Edition (Booklet-Text). In den genannten Ausgaben wird gewissermaßen der editorische Spagat zwischen Urtext- und instruktiver Ausgabe versucht, die einst als unvereinbare Gegensätze galten. Was einst als „historische Aufführungspraxis“ bezeichnet wurde, gewann demnach in der „historisch informierten Aufführungspraxis“ eine aufschlussreiche Nuance: Der im Attribut „historisch“ verborgene aufklärerische positi____________ 94
95
Beethoven. Sonatas for Pianoforte, Phrasierung, Fingersatz etc. von Harold Craxton, Kommentare von Donald Francis Tovey, London: Associated Board of the Royal School of Music 1931. In England und in den USA fand diese Edition weithin Verbreitung. Beethoven. The 35 Piano Sonatas (wie Anm. 93), Bd. 1, S. 18.
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vistische Anspruch wurde durch das postmoderne „informiert“ abgemildert. Eine „historisch informierte Editionspraxis“, die den überlieferten Notentext durch aufführungspraktische Hinweise anreichert, darf man allerdings getrost als instruktive Ausgabe bezeichnen: Auch die Interpreten-Editoren des 19. und 20. Jahrhunderts beriefen sich in ihren erläuternden Werkausgaben nicht weniger auf historische Kategorien als die „historisch informierenden“ Editoren der Gegenwart. Für die einen bürgte die Kontinuität der Aufführungstradition, in die sie sich selber gestellt sahen, für das rechte interpretatorische Wissen, für die anderen tritt an die Stelle einer beargwöhnten Tradition eine historisch rekonstruierte, manchmal angestrengt reanimierte Interpretationspraxis.
III.
Georg Kinskys und Hans Halms Werkverzeichnis
1955 erschien das erste, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Beethoven-Werkverzeichnis, das Georg Kinsky (1882–1951) begonnen und Hans Halm (1898–1965) nach Kinskys Tod abgeschlossen hat. Georg Kinsky, Experte für Musikbibliographie und Instrumentenkunde, und Hans Halm, Direktor der Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in München, waren befreundet. Das seinerzeit konzeptionell vorbildliche Werkverzeichnis enthält allerdings nur unvollständige Angaben zu Skizzen. Werkpläne und Fragmente sind ganz unberücksichtigt geblieben. Das Verzeichnis erfasst 138 Opusnummern und 205 Werke ohne Opuszahl. 1978 erschien als Ersatzlösung für eine anstehende Revision des Werkverzeichnisses der von Kurt Dorfmüller herausgegebene Band Beiträge zur Beethoven-Bibliographie.96 Er enthält Abhandlungen und Spezialuntersuchungen zu Druckausgaben sowie eine Liste von Addenda und Corrigenda zum Werkverzeichnis. Ein gründlich überarbeiteter, in seiner Erschließungstiefe erheblich erweiterter Werkkatalog ist im Herbst 2014 erschienen.97 Hess-Supplemente Der Schweizer Fagottist und Forscher Willy Hess (1906–1997) begann ab 1931 jene Werke, Fassungen und die von Beethoven nicht publizierten Kom____________ 96 97
Beiträge zur Beethoven-Bibliographie. Studien und Materialien zum Werkverzeichnis von Kinsky-Halm, hrsg. von Kurt Dorfmüller, München 1978. Ludwig van Beethoven. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis, bearbeitet von Kurt Dorfmüller, Norbert Gertsch und Julia Ronge, unter Mitarbeit von Gertraut Haberkamp und dem Beethoven-Haus Bonn. Revidierte und wesentlich erweiterte Neuausgabe des Werkverzeichnisses von Georg Kinsky und Hans Halm, München 2014.
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positionen zu erfassen, die in der AGA noch nicht verzeichnet und zumeist auch noch nicht postum veröffentlicht worden waren. Hess betrieb anfangs keine eigene Quellenforschung, sondern stützte sich auf Ergebnisse anderer, vor allem auf diejenigen Gustav Nottebohms. Schon während seiner Berliner Studienjahre kopierte Hess fleißig Unbekanntes und Unentdecktes aus Beethovens kompositorischer Hinterlassenschaft. Doch ging es ihm nicht nur um Neuentdeckungen, sondern auch um Sondierung des Überlieferten: Unterschobene Spreu galt es vom Weizen zu trennen. Einen ersten Überblick der in der AGA fehlenden Werke legte Hess 1928 im Schweizerischen Jahrbuch für Musikwissenschaft vor.98 Ein erweiterter zweiter Katalog erschien 1937,99 dem 1939 ein Addendum100 folgte. Ein drittes, nunmehr selbständiges Verzeichnis wurde 1953 in italienischer Sprache publiziert.101 Der vierte und wirkmächtigste Katalog von Hess erschien 1957: Verzeichnis der nicht in der Gesamtausgabe veröffentlichten Werke Ludwig van Beethovens (Wiesbaden: Breitkopf & Härtel). Darin werden 335 mehr oder weniger abgeschlossene Kompositionen Beethovens aufgeführt und 66 unterschobene bzw. zweifelhafte Werke benannt. Die von Hess gebrauchte Nummerierung der gelisteten Kompositionen fand Eingang in die Verweis- und Zitatpraxis der Forschung. Mit dem Desiderata-Verzeichnis war ein ehrgeiziges editorisches Programm vorgegeben: Zwischen 1959 und 1971 brachte Willy Hess im Alleingang 14 Bände heraus, die im Wesentlichen die von ihm aufgelisteten Werke, Fassungen und Fragmente enthalten. Wie der Reihentitel102 erkennen lässt, verstand Hess seine Nachtragsedition als Fortführung des 1888 erschienenen Supplementbandes zur AGA, zumal Hess’ Ergänzungsbände ebenfalls bei Breitkopf & Härtel, dem Verleger der AGA, erscheinen konnten. Das ambitionierte EinMann-Unternehmen war mit der vom Bonner Beethoven-Archiv ab 1961 her____________ 98 99 100 101 102
Willy Hess, Beethovens Werke und ihre Gesamtausgabe, in: Schweizerisches Jahrbuch für Musikwissenschaft 5 (1928), S. 163–188. Welche Werke Beethovens fehlen in der Breitkopf & Härtelschen Gesamtausgabe?, in: Neues Beethoven-Jahrbuch 7 (1937), S. 104–130. Welche Werke Beethovens fehlen in der Breitkopf & Härtelschen Gesamtausgabe? Erster Nachtrag, in: Neues Beethoven-Jahrbuch 9 (1939), S. 75–79. Le opere di Beethoven e la loro edizione completa. Traduzione di G. Biamonti, Rom 1953. Beethoven. Supplemente zur Gesamtausgabe hrsg. von Willy Hess, Bd. I: Mehrstimmige italienische Gesänge ohne Begleitung (1959), Bd. II: Gesänge mit Orchester (1960), Bd. III: Werke für Soloinstrumente und Orchester 1 (1960), Bd. IV: Werke für Orchester (1961), Bd. V: Lieder und Gesänge mit Klavierbegleitung, Kanons und musikalische Scherze (1962), Bd. VI: Kammermusik für Streichinstrumente (1963), Bd. VII: Kammermusik für Blasinstrumente, Kammermusik für Bläser und Streicher, Werke für ein mechanisches Laufwerk (1963), Bd. VIII: Original-Klavierauszüge eigener Werke (1964), Bd. IX: Klavierwerke. Kammermusikwerke mit Klavier (1965), Bd. X: Werke für Soloinstrumente und Orchester 2 (1969), Bd. XI: Dramatische Werke 1 (1967), Bd. XII: Dramatische Werke 2: Leonore in der Urfassung von 1805 (1967), Bd. XIII: Dramatische Werke 3: Leonore in der 2. Fassung von 1806 (1970), Bd. XIV: Volksliedbearbeitungen. Nachträge und Berichtigungen (1971).
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ausgegebenen Neuen Beethoven-Gesamtausgabe bedauerlicherweise nicht koordiniert. James Green übersetzte den Hess-Katalog von 1957 ins Englische und überarbeitete ihn gleichzeitig, indem er Fehler berichtigte und Informationen ergänzte oder aktualisierte.103 Außerdem bietet Green einen Appendix mit verschollenen Werken und eine Liste mit nicht vollendeten Werkprojekten. In zwei weiteren Appendizes werden unterschobene Werke und Volksliedbearbeitungen behandelt. Eine Konkordanz zu verschiedenen anderen Katalogen rundet das Buch ab.
IV.
Die Neue Beethoven-Gesamtausgabe
Nach den geistigen, sozialen, politischen und materiellen Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erwuchs in der noch jungen Bundesrepublik Anfang der 1950er Jahre eine musikeditorische Aufbruchsstimmung. Karl Vötterle, Inhaber des Bärenreiter Verlags, sah die „Stunde der Gesamtausgabe“ gekommen, die nun auch für Beethoven schlug. Die AGA war knapp hundert Jahre zuvor abgeschlossen worden. 1956 beschloss die Landesregierung von NordrheinWestfalen die Finanzierung einer neuen Beethoven-Gesamtausgabe104 und übertrug diese Arbeit dem Bonner Beethoven-Haus, wo sie 1959 von Joseph Schmidt-Görg begründet wurde; der erste Gesamtausgabenband erschien 1961 im Verlag G. Henle. Im Vorfeld der Neuen Beethoven-Gesamtausgabe (NGA) legte Paul Mies 1957 eine systematische Bestandsaufnahme textkritischer Probleme bei der Werk-Überlieferung vor.105 Zwar wird das Buch mit einer Darlegung über Ausgabetypen bei Original- und Frühdrucken eröffnet, in den nachfolgenden Kapiteln liegt der Schwerpunkt jedoch auf den Schreib- und Notierungsgepflogenheiten des Komponisten im akzidentellen Notationsbereich (Dynamik, Phrasierung, Tempo- und Vortragsbezeichnungen). Eine breite, alle wesentlichen Gattungsbereiche erfassende Beispielsammlung fächert diese Fragen systematisch auf. Zum Schluss werden „bemerkenswerte Einzelfälle“ idiographischer Notierungsweisen beschrieben. Die Beziehung zwischen handschriftlichem Notat und seiner drucktechnischen Umsetzung steht dabei im Mittel____________ 103 104
105
James F. Green, The New Hess Catalog of Beethoven’s Works Edited, Updated and Translated From the Original German With a New Foreword, West Newbury (VT) 2003. Joseph Schmidt-Görg, Die besonderen Voraussetzungen zu einer Kritischen Gesamtausgabe der Werke Ludwig van Beethovens, in: Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Wien. Mozartjahr 1956, Graz, Köln 1958, S. 548f. Paul Mies, Textkritische Untersuchungen bei Beethoven (= Veröffentlichungen des Beethovenhauses in Bonn, IV. Reihe: Schriften zur Beethovenforschung, Bd. 2), München, Duisburg 1957.
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punkt. Da Mies im Hinblick auf „Urtext-Ausgaben“ auch die Lösung editorischer Probleme diskutiert, liefert seine Untersuchung unausgesprochen auch Orientierungslinien für die vier Jahre später begonnene Neue BeethovenGesamtausgabe. Im selben Kontext stehen Hubert Unverrichts textkritische Untersuchungen über die Beziehungen zwischen authentischen handschriftlichen Quellen und Originalausgaben.106 Den editorischen Anspruch der NGA setzte Schmidt-Görg sehr hoch an: Das wissenschaftliche Ziel der neuen Gesamtausgabe muß sein: sämtliche Werke Beethovens, soweit wir sie heute kennen, so vorzulegen, daß das einzelne Werk Beethovens letzte Absicht wiedergibt, den kritischen Bericht aber so abzufassen, daß alle, auch die kleinsten Durchstreichungen und Änderungen festgehalten werden, so daß man mit Hilfe des kritischen Berichts die Originalhandschrift bzw. eine überprüfte Kopistenabschrift oder den Originaldruck, kurz alle benützten Vorlagen genau rekonstruieren könnte.107
Anfangs hoffte man, das Projekt in etwa 10 Jahren realisieren zu können. Der sich erheblich dehnende, zum Teil schleppende Fortgang der auch heute noch nicht ganz abgeschlossenen NGA sowie der anfängliche Verzicht auf das zeitgleiche Erscheinen der Kritischen Berichte in Verbindung mit den zugehörigen Notenbänden wurde in der Forschung mehrfach und zu Recht beklagt. Im Nachhinein erscheint es billig, Planungs- und organisatorische Defizite sowie blauäugigen editorischen Optimismus aufzurechnen. Die großen philologischen Hürden, denen eine historisch-kritische Ausgabe sich zu stellen hat, wurden anfangs zweifellos unterschätzt. Und auch heute noch gilt, dass jedes Werk Beethovens mit besonderen editorischen Problemen behaftet ist, die nicht routinemäßig gelöst werden können. Ungeachtet dieser Hürden, die immer wieder zu zeitlichen Verzögerungen geplanter Publikationstermine führen, bieten die aktuell im Rahmen der NGA in Arbeit befindlichen Werkeditionen eine konkurrenzlose philologische Erschließungstiefe, die allein schon die Fortführung des Projekts rechtfertigt. Nikolaus Harnoncourt glaubt, dass es „bei Beethoven keine endgültige Urtextausgabe geben“ kann, und begründet dies mit der spezifischen Arbeitsweise des Komponisten.108 Wann immer dieser sich mit autographen Partituren, Kopistenabschriften und handschriftlichen Stimmenexzerpten und mit Druckfassungen eines seiner Werke befasst hat, korrigierte und veränderte er ____________ 106 107 108
Hubert Unverricht, Die Eigenschriften und die Originalausgaben von Werken Beethovens in ihrer Bedeutung für die moderne Textkritik, Kassel 1960. Joseph Schmidt-Görg, Die besonderen Voraussetzungen (wie Anm. 104), S. 549. „Es gibt keinen Urtext bei Beethoven“. Nikolaus Harnoncourt über die Schwierigkeiten der „Neunten“, über Tempi und andere Fragen der Beethoven-Interpretation. Ein Gespräch mit Max Nyffeler, in: Neue Zeitschrift für Musik 163 (2002), Heft 3, S. 43–56, hier: S. 46.
Zur Editionsgeschichte der Werke Beethovens
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den Notentext. Diese Inkonsistenzen authentischer Quellen sind selbst für die überragenden und häufig edierten Werke Beethovens editorisch nicht endgültig bzw. definitiv zu beseitigen. Wo eine offene Werküberlieferung vorliegt, kann auch eine historisch-kritische Edition keinen völlig gesicherten, verbindlichen Werktext liefern. Die Beethoven-Philologie ist und bleibt zu weiten Teilen ein infiniter Prozess, dem sich jede Forschergeneration neu zu stellen hat. Der Blick des jeweils heutigen Editors und Musikers ist nicht identisch mit dem Leserblick des historischen Subjekts, des Komponisten. Wir sind, anders als Bach, Haydn, Mozart, Beethoven etc., mit außerordentlich unterschiedlicher Musik befaßt und deshalb auf genauere Texte angewiesen als sie. Die einst selbstverständlich-unbefragte Authentizität bedarf heute spezifischer Bestimmungen. Jeder Notentext führt einen je eigenen Kometenschweif verlorengegangener Selbstverständlichkeiten bei sich, denen die größte aufführungspraktische Gewissenhaftigkeit nur partiell beikommt. Wenn wir den einen und einzigen Urtext tatsächlich hätten, hätten wir das Werk als musikalische Realität und Wirkungszusammenhang im Sinne der durch das Präfix „ur-“ prätendierten Authentizität dennoch keineswegs – und werden es so nie haben. Zur Rechenschaft über das, was Ausgaben vermögen, gehört auch, was sie nicht vermögen, gehört auch, zu akzeptieren, daß vielleicht unendliche Mühe an die Sicherung eines Textstandes gewendet werden muß, welcher am Ende sich kaum unterscheidet von dem zuvor bekannt gewesenen. Doch selbst dann wäre die Mühe nicht umsonst. Es bei großer Musik genau zu wissen, entspricht nur der bei solcher Arbeit unerläßlichen Prämisse, daß es bei Komponisten vom Range Beethovens Kleinigkeiten nicht gibt, daß man sich Entscheidungen über die Relevanz von Details nicht aussuchen und nicht schwer genug machen kann und die Frage nach dem hörbaren „Unterschied“ tunlichst draußen hält. Daß man ihn oft kaum wahrnimmt, mindert den Wert der editorischen Arbeit nicht.109
Literaturverzeichnis Bagge, Selmar: Die neue Beethoven-Ausgabe und ihre musikalischen Ergebnisse, in: Allgemeine musikalische Zeitung, Neue Folge 1 (1863), Nr. 19, 6. Mai 1863, Sp. 333–336 und Nr. 20, 13. Mai 1863, Sp. 349–354; Neue Folge 2 (1864), Nr. 36, 7. September 1864, Sp. 607–610 und Nr. 37, 17. September 1864, Sp. 623–626 Churgin, Bathia: Exploring the Eroica. Aspects of the New Critical Edition, in: Haydn, Mozart and Beethoven: Studies in the Music of the Classical Period. Essays in Honour of Alan Tyson, hrsg. von Sieghard Brandenburg, Oxford 1998, S. 181–211. Brown, Clive: Ferdinand David’s Editions of Beethoven, in: Performing Beethoven, hrsg. von Robin Stowell, Cambridge 1994, S. 117–149 Czerny, Carl: Bemerkungen zum richtigen Vortrage Beethoven’scher Sinfonien, in: Neue Wiener Musik-Zeitung 2 (1853), Nr. 15, 14. April 1853, S. 56–60.
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Gülke, Beethoven-Urtext-Ausgaben (wie Anm. 82), S. 35.
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Deutsch, Otto Erich: Über die bibliographische Aufnahme von Originalausgaben unserer Klassiker, in: Beethoven-Zentenarfeier Wien, 26. bis 31. März 1927. Internationaler musikhistorischer Kongreß, Wien 1927, S. 268–272 Deutsch, Otto Erich: Beethovens gesammelte Werke. Des Meisters Plan und Haslingers Ausgabe, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 13 (1930/31), S. 60–79 Frimmel, Theodor von: Art. Werke, in: Th. Frimmel: Beethoven Handbuch, 2. Bd., Leipzig 1926, S. 419–429 Gülke, Peter: Beethoven-Urtext-Ausgaben – Editionen und Werbesprüche, in: Das Orchester 10 (1997), S. 32–35 Hagedorn, Volker: 236 Takte gelöscht. Jonathan Del Mars spektakuläre Neuausgabe aller neun Sinfonien Beethovens, in: Die Zeit 56 (2001), Nr. 18, 26. April 2001, S. 44 Herttrich, Ernst: Art. Beethoven-Gesamtausgabe, in: Das Beethoven-Lexikon, hrsg. von Heinz von Loesch und Claus Raab, Laaber 2008, S. 90–101 Jahn, Otto: Beethoven und die Ausgaben seiner Werke, in: Ders., Gesammelte Schriften über Musik, Leipzig 1866, S. 271–337 Krebs, Carl: Vorwort zur Urtextausgabe der Klaviersonaten Beethovens, hrsg. von der Preußischen Akademie der Künste, Leipzig 1898 Lühning, Helga: Edition und Werkvorstellung. Beethoven als Herausgeber seiner eigenen Werke, in: editio 21 (2007), S. 69–89 Mies, Paul: Quellenbewertung bei den Werken Ludwig van Beethovens. Allgemeine Bemerkungen und Beispiele aus den Klaviertrios op. 70, in: Beethoven-Jahrbuch 4 (1962), S. 72–84 Nottebohm, Gustav: Zur Reinigung der Werke Beethoven’s von Fehlern und fremden Zuthaten, in: Allgemeine musikalische Zeitung, Neue Folge 11 (1876), Nr. 21, Sp. 321–327, Nr. 22, Sp. 337–343, Nr. 23, Sp. 353–360, Nr. 24, Sp. 369–373, Nr. 25, Sp. 385–391, Nr. 26, Sp. 401– 407, Nr. 30, Sp. 365–471, Nr. 31, Sp. 481–487, Nr. 32, Sp. 497–501, Nr. 33, Sp. 513–516 Oppermann, Annette: Musikalische Klassiker-Ausgaben des 19. Jahrhunderts. Eine Studie zur deutschen Editionsgeschichte am Beispiel von Bachs „Wohltemperiertem Clavier“ und Beethovens Klaviersonaten (= Abhandlungen zur Musikgeschichte, Bd. 10), Göttingen 2001 Schmidt-Görg, Joseph: Die besonderen Voraussetzungen zu einer Kritischen Gesamtausgabe der Werke Ludwig van Beethovens, in: Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongress Wien. Mozartjahr 1956, hrsg. von Erich Schenk, Graz, Köln 1958, S. 548–550 Staehelin, Martin: Zur Bedeutung der Quellenarbeit in der Beethoven-Forschung, in: Quellenforschung in der Musikwissenschaft, in Verbindung mit Wolfgang Rehm und Martin Ruhnke hrsg. von Georg Feder (= Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 15), Wolfenbüttel 1982, S. 105–119 Spiro, Friedrich: Ueber eine Revision der Beethoven-Gesamtausgabe, in: Report of the Fourth Congress of the International Musical Society London 1911, London 1912, S. 372–376 Stockmann, Bernhard: Die Interpretationsausgaben der Klaviersonaten Beethovens, in: Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongress, Bonn 1970, hrsg. von Carl Dahlhaus u. a., Kassel 1971, S. 590–592 Unger, Max: Zu Beethovens Plan einer Ausgabe seiner sämtlichen Werke, in: Neue Zeitschrift für Musik 80 (1913), S. 449f. Unger, Max: Beethoven über die Gesamtausgabe seiner Werke. Nachbildung eines unbekannten Schriftstücks aus dem Beethovenhaus mit Erläuterungen (= Veröffentlichungen des Beethovenhauses in Bonn, Bd. 1), Bonn 1920 Unverricht, Hubert: Die Eigenschriften und die Originalausgaben von Werken Beethovens in ihrer Bedeutung für die moderne Textkritik, Kassel 1960
Joachim Veit, Frank Ziegler
Zur Idee und Geschichte einer Weber-Gesamtausgabe
Eine Gesamtausgabe der musikalischen Werke Carl Maria von Webers blieb lange Zeit ein uneingelöster Wunsch. Hundert Jahre mussten nach Webers Tod vergehen, bevor ein solches Vorhaben gestartet wurde, das allerdings aufgrund äußerer Umstände (Inflation, Krieg) bald zum Erliegen kam. Erst in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts wurde erneut eine Weber-Gesamtausgabe (im Folgenden WeGA) in Angriff genommen, die zum 200. Todestag des Komponisten 2026 ihren Abschluss finden soll. Der Weg bis zu diesem Vorhaben ist nachfolgend skizziert (Kap. I–V), bevor in einem weiteren Abschnitt Zielsetzungen und Methoden der WeGA umrissen werden (Kap. VI). Der abschließende Teil geht auf das Spannungsfeld zwischen „klassischer“ Philologie „auf dem Papier“ und digitalen Formen ein, mit deren Herausforderungen sich die Ausgabe zu Beginn des neuen Jahrtausends konfrontiert sieht (Kap. VII).
I.
„Sehr gut ist es wenn solche Unternehmungen unterblieben …“ – Verlagsrecht contra Gesamtausgabe nach 1826
Die Idee einer vollständigen Ausgabe der musikalischen Werke Carl Maria von Webers wurde offenbar erstmalig 1828, nur zwei Jahre nach dem Tod des Komponisten, angesprochen. In einem Brief von Webers Berliner Hauptverleger Adolph Martin Schlesinger an Carl Friedrich Peters in Leipzig vom 30. September heißt es im Hinblick auf den Vorschlag einer gemeinschaftlichen Beethoven-Edition von vier Verlagen als Entgegnung auf eine entsprechende vom Verleger Philipp Dunst in Frankfurt/Main angekündigte Ausgabe: Die Beethovenschen Werke sind in verschiedenen Handlungen verlegt und daher vieler Eigenthum. Wir vier haben also ebensowenig das Recht als der Dunst, uns das Eigenthum Anderer anzumaßen und herauszugeben und wir würden in den Augen der Welt und der Betheiligten ebensowohl als Nachdrucker dastehn, als der Dunst, abgesehen davon, daß dadurch die rechtmäßigen Verleger noch doppelt benachtheiligt würden, und die sodann mit Recht auch über unsern Verlag herfallen würden. Als ich vor zwei Jahren in Wien war machte mir schon Herr v Beethoven den Vor-
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Joachim Veit, Frank Ziegler
schlag, seine Werke in einer neuen von ihm aufs Neue durchgesehnen und erweiderte[n] Ausgabe herauszugeben, und forderte dafür 4000 Stück Ducaten. Ich erklärte mich dazu bereit wollte ihm auch das Honorar zahlen, wenn er mir zuvor von allen Eigenthümern die schriftliche Erlaubniß dazu verschaffe. – Sehr gut ist es wenn solche Unternehmungen unterblieben, weil sonst kein Verleger sicher ist, daß ein Komponist oder deren Erben, sich nochmals Honorar verschaffen, und die bereits verkauften Werke unter dem Titel Oeuvres complet[s] herausgeben. Frau v. Weber im Einverständniß mit Herrn Hofrath Winkler hatte auch schon solche Idee, und bot es mir, als Hauptverleger der Weberschen Kompositionen, an, worauf ich erwiederte, daß Sie kein Recht habe, die bereits als Eigenthum verkauften Kompositionen, nochmals zu verkaufen.1
Auf das entsprechende Ansinnen der Witwe Weber hatte Schlesinger bereits am 16. Juli 1828 unmissverständlich reagiert: Nicht wenig erstaunte mich Ihr Schreiben vom 11t d., in welchem Sie mir mein von Ihrem seeligen Gatten erkauftes Eigenthum nochmals zum Kauf anbieten, und zwar zugleich mit Werken welche das rechtmäßige erkaufte Eigenthum andrer Handlungen, namentlich Peters, Simrok und Andrae, sind; schon aus diesem letzterem Grunde könnte ich auf das Unternehmen nicht eingehen, da Sie ebenso wenig wie über mein Eigenthum über das Eigenthum jener Handlungen disponiren können; Herr v. Weber hat uns seine Kompositionen nicht für eine bestimmte Zeit, sondern für immer verkauft, und in den meisten Contracten steht sogar ausdrücklich bemerkt, daß er sie für uns, und unsere Erben cedire.2 Daß Sie meine Dame, der Gesetze unkundig; ist sehr glaublich, daß aber auch Herr Hofrath Winkler, mir dergleichen Vorschläge macht, muß mich sehr befremden;3 ich ersuche Sie ihr projectirtes Unternehmen aufzugeben, da ich im Gegentheil wenn irgen[d] jemand es machen sollte, gerichtliche Hülfe in Anspruch nehmen, und öffentlich gegen den Nachdrucker auftreten werde, wie es von Seiten der übrigen beeinträchtigten Handlungen wahrscheinlich ebenfalls geschehen wird. Daß in
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3
Frankfurt, Archiv des Verlages Robert Lienau, Briefentwurf im Kopierbuch Schlesinger 1826– 1833, S. 353–355. Caroline von Weber ließ den Gedanken allerdings nicht gänzlich fallen; noch fast zwanzig Jahre später, im Frühjahr 1847, wandte sie sich in dieser Angelegenheit am Giacomo Meyerbeer und fragte diesen: „Lieb wäre mir es indeßen doch auch zu erfahren, ob der Familie des Verstorbenen Componisten das Recht eine Gesamtausgabe zu veranstalten zukömt, oder ob der Verleger das Recht dazu hat, welcher die meisten Werke des Componisten verlegt hat?“; Original in Stiftelsen Musikkulturens främjande (Schweden), Nydahl Collection, Nr. 6277. Inzwischen dachte, wie die Witwe schreibt, auch Heinrich Schlesinger (Sohn und Nachfolger des Verlagsgründers) an „eine gesamt Ausgabe von Webers Werken“. In einem Brief Schlesingers vom 4. August 1828 (wie Anm. 1, S. 342f.) an den Dresdner Theatersekretär Karl Gottfried Theodor Winkler, der (neben anderen) als juristischer Vormund der Witwe eingesetzt war, heißt es in derselben Sache: „Ich sah mich durch Ihr früheres Schreiben veranlaßt ja sogar verpflichtet, Ihnen aus einander zu setzen daß Sie zur Herausgabe einer vollständigen Ausgabe der Weberschen Werke kein Recht hätten nicht bloß mein Eigenthumsrecht sondern auch das, mehrerer anderer Handlungen zu verletzen, und enthält mein Brief irgend herbe Ausdrücke so nehme ich sie gern zurück. Mein Sohn welcher in einigen Tagen nach Dresden reist, wird das Vergnügen haben, Ihnen seine Aufwartung zu machen, und diese Sache näher mit Ihnen zu besprechen.“
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Wien ein Nachdruck der Klavier Compositionen angekündigt, ist zwar wahr, doch hoffe ich, wird dem noch vorgebeugt werden; übrigens werden nicht Sie noch Ihre Kinder hierdurch beeinträchtiget, sondern hauptsächtlich nur ich und die meinigen.4
Schlesingers Ärger kam nicht von ungefähr. Als Rechteinhaber für eine Großzahl der Werke Webers5 sah er sich gerade nach dem frühen Tod des Komponisten mit einer Flut von Nachdrucken konfrontiert, die er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen suchte.6 Den Begriff der Œuvres complets als Werbe-Etikett nutzte beispielsweise der im Brief an die Witwe erwähnte Wiener Verlag M. J. Leidesdorf (mit der Einschränkung Composées pour le Pianoforte seul), der 1828 eine zweibändige Sammlung der Weber’schen Klaviermusik auf den Markt brachte,7 auf die Schlesinger mit folgendem Brief an die „Herrn Sauer & Leidesdorf Wien“ vom 29. Mai 1828 reagierte: Zu meinem größten Befremden erfahre ich daß Sie sich nicht mit dem mir bereits nachgestochenen Eigenthum begnügen, sondern nun auch sämmtliche Werke Webers, unter dem Titel Oeuvres de Weber p. le Pfte. herausgeben wollen, da dies eine neue Beeinträchtigung meines Eigenthums ist wie Sie es recht wohl wissen so verfehle ich nicht Ihnen hiermit anzuzeigen daß ich in einigen Tagen ein Circular an sämtliche Handlungen Oestreichs erlasse worin ich dasselbe erklären und meine Erklärung auch zur Ausführung bringen werde, wie es der hies. Buch.[händler] Hr. [Theodor] Enslin wegen Nachdruck seines Verlages in Oestreich gethan hat. Derselbe erklärte nämlich, daß wenn sich nicht sämtliche Buchhandlungen Oestreichs verbinden den Nachdruck seines Verlages nicht zu verkaufen, er die besten Werke die in Oestreich gedruckt sind nachdrucken und zu wohlfeilen Preisen verkaufen würde.8
Während sich Vater Adolph Martin Schlesinger vehement für die Etablierung eines Verlagsrechts in den deutschen Ländern einsetzte, war der im Ausland agierende Sohn Maurice Schlesinger daran nicht gebunden. Er konterte die Leidesdorf’sche Sammlung 1829–1831 mit einem ehrgeizigen Unternehmen ____________ 4 5
6 7
8
Briefentwurf im Kopierbuch Schlesinger 1826–1833 (wie Anm. 1), S. 341f. Vgl. dazu zusammenfassend Frank Ziegler, Verschollene Dokumente zu Carl Maria von Webers Vertragsabschlüssen mit Adolph Martin Schlesinger, in: Weberiana. Mitteilungen der Internationalen Carl-Maria-von-Weber-Gesellschaft e. V., H. 23 (2013), S. 77–97. Vgl. auch Friedemann Kawohl, Urheberrecht der Musik in Preußen (1820–1840) (= Quellen und Abhandlungen zur Geschichte des Musikverlagswesens, Bd. 2), Tutzing 2002. Bd. 1 mit Variationen und Vortragsstücken (VN: 1050–1063), Bd. 2 mit den vier Sonaten (VN: 1077–1080); Exemplare: u. a. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (D-B), N. Mus. 9757-1.2. Briefentwurf im Kopierbuch Schlesinger 1826–1833 (wie Anm. 1), S. 311; es folgte am 16. Juni 1828 das im Brief angesprochene „Circular“, das an die Wiener Verlage Haslinger, Artaria, Czerny, Diabelli, Mechetti und Mollo gesandt wurde (ebd., S. 324–329).
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seines Pariser Verlages: der dreibändigen Ausgabe Collection complète des Œuvres composés pour le Piano-Forte par Ch. M. de Weber,9 die in ihren insgesamt zehn Heften nicht nur Originalwerke für Klavier zu zwei oder vier Händen, Kammermusik mit Klavier sowie die drei konzertanten Werke für Klavier und Orchester, sondern auch Bearbeitungen (u. a. mehrere Ouvertüren für Klavier zu vier Händen) und Divertissements über Themen Webers von fremder Hand enthielt. Ambitioniert war das Projekt, da es ursprünglich nicht nur bereits publizierte Werke, sondern auch Erstveröffentlichungen enthalten sollte; in diesem Sinne schrieb Maurice Schlesinger am 4. August 1829 an seinen Bruder Karl in Berlin: Alles was Weber außerdem geschrieben für Piano ist mir nothwendig, und sollte Mme Weber noch einige Manuscripte haben so zahle ich gern meinen Theil. Ich bitte Dich also um die schnellste und genaueste Nachricht was Weber geschrieben, damit ich den Catalogue Thematique drucken lassen kann der höchstnöthig ist, und die Lieferungen einzurichten weiß, es wird bestimmt 1. Lieferung per Monath von jedem dieser Werke erscheinen. Ich rechne also hier auf Deine Pünktlichkeit […].10
Doch auch mit der nochmaligen Erinnerung vom 31. August: „so hoffe ich durch Deine Schnelligkeit und Inteligenz wirst Du mir […] noch einige Manuscripte von Webers Nachlaß verschaffen so daß die Ausgabe interessanter wird“,11 hatte Maurice Schlesinger keinen Erfolg – es blieb bei der Neuausgabe bereits bekannter Werke.12 Den Gedanken der Herausgabe unpublizierter Werke aus dem Nachlass griff erst zehn Jahre später das Berliner Verlagshaus Schlesinger mit seiner Reihe von sechs „Nachgelassenen Werken“ auf, die 1839/1840 erschienen.13 ____________ 9
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Verlagsnummern nicht fortlaufend, sondern teils die Platten älterer Einzelpublikationen einbezogen; Exemplare u. a. Bibliothèque nationale de France, Département de la musique (F-Pn), D. 6132–6135. D-B, in: N. Mus. Nachl. 95. Ebd. auch der Brief vom 24. August 1829 an denselben Empfänger mit dem Hinweis: „Ich rechne mit Gewisheit darauf daß Du mir alles was ich Dir von Webers Werken verlangt auf’s schnellste sendest. 2 Lieferungen sind bereits gestochen die 3t im Werden“. Ebd.; laut diesem Brief waren zu diesem Zeitpunkt die drei ersten Hefte (= Bd. 1) gestochen. Erschienen ist der erste Band allerdings erst am 19. September; vgl. den Brief von Maurice an Karl Schlesinger vom selben Tag (ebd.), in dem es weiter heißt: „Was Weber betrifft so habe ich Vaters Adresse mit darauf setzen lassen da er als Eigenthümer der meisten Werke volles Recht auf Publication der sämmtlichen Werke hat. Die Ausgabe ist wundervoll und wird Dir Freude machen.“ Eine vergleichbare Edition mit mindestens 32 Ausgaben legte Ignaz Moscheles um die Jahrhundertmitte bei Chappell in London vor: C. M. von Weber’s Piano Forte Works, edited by J. Moscheles (nur in Nr. 1 mit dem Zusatz Complete Edition). Auch hier handelt es sich nur zum Teil um Originalfassungen (Sinfonie Nr. 2 WeV M.3 in Stimmen, N. W. 2: Romanza siciliana WeV N.3 in Stimmen, N. W. 6: Grablied WeV B.2 in Partitur), teils um Klavierauszüge (N. W. 3 und 5: Einlagen in den Freybrief WeV D.1, N. W. 4: Quintett aus Rübezahl WeV C.4, jeweils bearb. von Friedrich Wilhelm Jähns). Die Publikation „Nachgelassener Werke“ Webers setzten Trautwein in Berlin (N. W. 7) und vor allem Peters in Leipzig (N. W. 8–15) fort.
Zur Idee und Geschichte einer Weber-Gesamtausgabe
II.
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Sogenannte „Weber-Gesamtausgaben“ ab 1857
Eine weitere Auswahlausgabe, die (ohne Einschränkung auf eine bestimmte Werkgruppe) als Erste rechtmässige Gesammtausgabe angepriesen wurde, legte 1857/1858 der Musikdirektor Heinrich Wilhelm Stolze aus Celle im Verlag von Ludwig Holle in Wolfenbüttel in drei Bänden vor,14 ergänzt um verschiedene verkaufsfördernde Subskribenten-Beilagen.15 Um die Rechtmäßigkeit der Ausgabe entbrannte ein heftiger juristischer Streit: Holle leitete sie daraus ab, dass 1856, also dreißig Jahre nach dem Tod Webers, dessen Kompositionen Allgemeingut und somit frei zum Nachdruck seien,16 während Heinrich Schlesinger, der Sohn von Adolph Martin Schlesinger und seit dessen Tod 1838 Inhaber des Verlages, sich auf preußisches Recht berief, nach welchem der „Schutz zu Gunsten der Werke derjenigen Autoren, welche vor dem Bundesbeschlusse vom 9. November 1837 verstorben sind, noch bis zum 9. November 1867 in Kraft“ blieb.17 Zwar konnte Schlesinger gegen Holle, der sein Unternehmen außerhalb Preußens führte, nicht direkt vorgehen, doch überzog er alle preußischen Buch- und Musikalienhändler, die die HolleAusgaben im Sortiment hatten, mit Klagen.18 Einer der Betroffenen, Nicolaus Gustav Mertens aus Berlin, wehrte sich mit seiner Streitschrift Ueber Nachdruck.19 Anders als an der problematischen Rechtmäßigkeit störte sich aber ____________ 14
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Bd. 1 Werke für Klavier zu zwei Händen in 29 Heften (inklusive mehreren entsprechenden Ouvertüren-Arrangements von fremder Hand), Bd. 2 Werke für Klavier zu vier Händen in 14 Heften und einem Nachtrag (ebenso mit diversen Arrangements), Bd. 3 in 4 Heften: Klavierauszüge von Freischütz, Preciosa, Euryanthe und Oberon; VN: 371–413 sowie 227, 337, 340, 392, 395, Exemplare: u. a. D-B, Mus. Kw 181 (nur in Auswahl). Dazu gehörten die Schrift Carl Maria von Weber’s Biographie und Characteristik von Heinrich Döhring und ein Verzeichniss von Weber’s sämmtlichen Compositionen, von ihm selbst bis zum Jahre 1823 aufgesetzt (nach dem entsprechenden Verzeichnis, das erstmals erschienen war in: Hinterlassene Schriften von Carl Maria von Weber, hrsg. von Theodor Hell, d. i. Karl Gottfried Theodor Winkler, Dresden, Leipzig 1828, Bd. 3, S. 158–172) sowie eine anonyme Porträt-Graphik. Vgl. die Subskriptions-Einladung, als Beilage im Bd. 1, Heft 1 (Exemplar wie Anm. 14). Vgl. Hermann Kaiser, Die preußische Gesetzgebung in Bezug auf Urheberrecht, Buchhandel und Presse, Berlin 1862, S. 7; mit der Einschränkung (S. 7f.), dieser Bundesbeschluss habe „nur auf solche Werke Anwendung, welche zur Zeit noch im Umfange des ganzen Bundesgebietes durch Gesetze oder Privilegien gegen Nachdruck oder Nachbildung geschützt sind“. Die ältere 30-jährige Schutzfrist war Inhalt des Gesetzes zum Schutze des Eigenthums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung vom 11. Juni 1837; vgl. ebd., S. 43. Vgl. das von Friedrich Wilhelm Jähns zusammengestellte Material (Aktenstücke, Zeitungsausschnitte etc.) in D-B, Weberiana Cl. IX, Kasten 1, Nr. 1. Schlesinger ging ebenso gegen einige Weber-Ausgaben des Verlages Litolff in Braunschweig vor. G. Mertens, Ueber Nachdruck, mit Rücksicht auf C. M. von Weber’s Clavier-Compositionen Erste rechtmäßige Gesammtausgabe redigirt und corrigirt von H. W. Stolze. Eine Skizze aus der Tagesgeschichte, Berlin 1857.
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offenbar niemand an der irreführenden Titulierung als Gesammtausgabe, wurde doch auch von Stolze und Holle nur ein relativ kleines Segment des Weber’schen Schaffens gewürdigt, gemischt in Originalversionen oder Arrangements von fremder Hand. Dies änderte sich auch nicht, als Robert Lienau, seit 1864 Inhaber des Verlagshauses Schlesinger, nach Ablauf aller Rechte an Webers Kompositionen Ende 1867 selbst an die Publikation einer Weber-Gesammt-Ausgabe dachte. Lienau wandte sich in dieser Angelegenheit an Julius Rietz, der die Möglichkeit zur Herausgabe noch unveröffentlichter Werke Webers aus dessen noch in Familienbesitz befindlichem Werkarchiv sondieren sollte, und dieser bestätigte den Verleger in seinen Ansichten: Hr. [Max Maria] von W.[eber] hat mir ein von Herrn Musikdirektor Jähns angefertigtes Verzeichnis der Nachlaßsachen C. M. v. Webers eingehändigt, und ich bin ganz Ihrer Meinung nach Einsicht desselben,20 daß Sie nicht all die unbedeutenden Kleinigkeiten, unfertigen Stücke, die später für andere Zwecke verwendeten und umgearbeiteten – sondern eine strenge Auswahl drucken und verlegen; 40 Jahre nach dem Tode des Komponisten wird, wie ich fürchte, nur ein sehr kleiner Teil des Nachlasses Interesse erregen. Lassen Sie sich also durch J.[ähns] nicht berücken; ich werde Herrn v. W. zu überzeugen suchen, daß dem Ruhme seines Vaters mit der Publikation dieser Bagatellen ein schlechter Dienst geschieht […].21
So blieb es auch diesmal bei einer Auswahledition, teils in Originalfassungen, teils in Bearbeitungen, freilich der bis dahin mit elf vorgelegten Bänden umfangreichsten.22 Die Ausgabe startete im Frühjahr 1869; redaktionelle Mitarbeiter waren u. a. Carl Reinecke und Ernst Rudorff (Klavierwerke), Friedrich Wilhelm Jähns (Klaviersonaten sowie 2. Klavierkonzert im Arrangement zu vier Händen, Lieder), Friedrich Gustav Jansen (1. Klavierkonzert und Konzert____________ 20
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Rietz urteilte demnach nicht nach Kenntnisnahme der Originalquellen im Nachlass, sondern lediglich anhand der Liste. Seine Stellungnahme ist umso unverständlicher, als er sich aus dem Familiennachlass eigens eine größere Anzahl von Werken Webers hatte kopieren lassen; dieser Sammelband befindet sich heute in Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Musikabteilung (D-Dl), Mus. 4689-M-1. Herbert Zimmer, Julius Rietz als Herausgeber Weberscher Werke, in: Deutsche Musikkultur 2 (1937/1938), S. 272. Bandübersicht in: Friedrich Wilhelm Jähns, Carl Maria von Weber in seinen Werken. Chronologisch-thematisches Verzeichniss seiner sämmtlichen Compositionen, Berlin 1871, S. 479; Exemplare: u. a. D-B, Mus. Kw 180. Ein angekündigter Bd. 12 mit „Concertarien“ (vgl. u. a. Schlesingers Berliner Musik-Zeitung Echo, Jg. 18, Nr. 23 vom 3. Juni 1868, S. 188) erschien nicht. Nicht alle Bände sind mit dem Reihentitelblatt „C. M. v. WEBER’S WERKE. | Gesammt-Ausgabe […]“ versehen; Jähns zählte deshalb in seinen handschriftlichen Nachträgen zum Weber-Werkverzeichnis (D-B, Weberiana Cl. IX, Kasten 3, Nr. 1, Bl. 238) noch drei weitere Schlesinger-Ausgaben für Klavier zu vier Händen als zu dieser Reihe gehörig: als Bd. 12 die Sinfonien (PN: 5140 bzw. S. 2319, erschienen 1873), als Bd. 13 und 14 die Reihe „C. M. v. WEBER’S | Werke für Blas-Instrumente | im Arrangement | für Piano zu vier Händen.“ (PN: S. 6804–6812, erschienen 1874/1875).
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stück für Klavier im Arrangement zu vier Händen) sowie Carl Baermann (Klarinettenwerke). Zusammenfassend muss man feststellen, dass der Begriff „Gesamtausgabe“ in Bezug auf Weber das gesamte 19. Jahrhundert hindurch lediglich als verkaufsförderndes Werbe-Argument gebraucht wurde. Weder stand das Gesamtwerk des Komponisten im Blickfeld, noch bemühte man sich um die generelle Publikation der Originalfassungen; an deren Stelle traten oftmals Arrangements für bzw. mit Klavier (zu zwei oder vier Händen). Zudem handelte es sich auch editorisch stets um Interpretationsausgaben im Sinne der Zeit, nicht um Rekonstruktionen eines autornahen Textes.
III.
Ein „vaterländisches Denkmal“ als „Ehrenpflicht“ – der Torso der ersten Weber-Gesamtausgabe
Erst im 20. Jahrhundert setzte ein Umdenken ein; so beklagte Leopold Hirschberg 1916, dass Weber längst das hätte „zuteil werden müssen, was den anderen großen Tonsetzern gespendet ward: eine Gesamtausgabe seiner Werke, auch der u n g e d r u c k t e n “.23 Hirschberg bemühte sich vor allem, unbekannte Werke Webers publik zu machen;24 in der „Subskriptions-Einladung“ zu seinem anlässlich des 100. Todestages von Weber 1926 zusammengestellten Reliquienschrein heißt es: […] die Fülle seiner Schöpfungen war so gewaltig, daß nicht alle Werke veröffentlicht und bekannt geworden sind. Eine stattliche Anzahl Manuskripte und Entwürfe – 80 Stücke, darunter nicht die unwesentlichsten! – blieben auf diese Art der Nachwelt verborgen.25
Im Vorfeld des Weber-Jubiläums 1926 wurde schließlich die erste tatsächlich als Gesamtausgabe intendierte, allerdings Fragment gebliebene Weber-Edition auf den Weg gebracht. Im Mai 1925 war in München die „Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums (Deutsche Aka____________ 23 24
25
Leopold Hirschberg, Ungedruckte Bühnenmusiken und Gesangswerke Webers, in: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt, 1916, Nr. 22 (29. Mai). Vgl. Reliquienschrein des Meisters Carl Maria von Weber, hrsg. von Leopold Hirschberg, Berlin, Hamburg, Leipzig 1927, darin S. 165f. auch eine Liste älterer Weber-Veröffentlichungen des Herausgebers. Exemplar in: D-B, DMS 205696/1. Hirschberg wertete für seine Veröffentlichungen die Sammlung Weberiana von Friedrich Wilhelm Jähns aus; er begnügte sich weitgehend mit einer Wiedergabe der von Jähns gesammelten Werke und Fakten, selbst die von Hirschberg publizierten Klavierauszüge stammen in der Regel von Jähns. Wissenschaftliche Eigenleistungen sind in den Hirschberg-Publikationen kaum auszumachen.
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Joachim Veit, Frank Ziegler
demie)“ gegründet worden; gleichzeitig trat erstmals deren Abteilung IIIb (Musik) zusammen. Hans Joachim Moser von der Universität Heidelberg brachte den Gedanken einer kritischen Weber-Gesamtausgabe in die Debatte ein und wurde von der gesamten Sektion und dem Präsidium zum Editionsleiter bestellt.26 Ganz aus dem Geist der Zeit stilisierten Moser und der Geschäftsführer der Musiksektion Adolf Sandberger unter ausdrücklichem Hinweis auf die antinapoleonischen Körner-Vertonungen Leyer und Schwert und die „Nationaloper“ Freischütz Weber zu jenem Komponisten, der „an entscheidenden Punkten der vaterländischen Kunstbewegung als siegreicher Stoßtruppführer in die Bresche getreten“ sei. In seiner Herkunft und seinen Lebensstationen vereine Weber „wie kaum ein zweiter in sich die wechselnden Anlagen der deutschen Einzelstämme zu einer gesamtdeutschen Persönlichkeit“.27 Moser griff also die nationale Verklärung des Komponisten auf, die bereits die Weber-Literatur des späten 19. Jahrhunderts bestimmt hatte, und bediente gleichzeitig jenes nationalistische Denken, das Deutschland wenige Jahre später in die Katastrophe führen sollte. Im separat gedruckten Subskriptionsaufruf wird die Gesamtausgabe denn auch zum „vaterländischen Denkmal“ stilisiert, das zu unterstützen eine „Ehrenpflicht für jede deutsch-gesinnte Körperschaft“ und „jeden ernsthaften Musikfreund“ sei. Die Disposition der Gesamt-Edition stellte man im Subskriptionsaufruf wie auch einer Notiz in der Zeitschrift Die Musik vor28 und setzte dabei auch auf „klingende Namen“. Geplant waren sechs Serien: 1. Kirchenwerke (Messen, Offertorien), Kantaten, Festmusiken; Bearbeiter: Rudolf Schulz-Dornburg, Gerhard von Keußler, Alfred Sittard, Hermann Zilcher, 2. Dramatische Werke; Bearbeiter: Alfred Lorenz, Ludwig Schiedermair, Hermann Abert, Franz von Hoeßlin, Hans Pfitzner, Richard Strauss, Hermann Wolfgang von Waltershausen, Hans Hoffmann, 3. Werke mit Orchester; Bearbeiter: Siegmund von Hausegger, Max von Schillings, Richard Wetz, Karl Hasse, 4. Gesangsmusik ohne Orchester; Bearbeiter: Fritz Stein, Hans Joachim Moser, Karl Mayer, 5. Kammermusik; Bearbeiter: Karl Klingler, 6. Klavierwerke; Bearbeiter: Wilhelm Kempff, Walter Georgii, Walter Lampe.
Geplant waren laut Subskriptionsaufruf „ungefähr vierundzwanzig Bände, deren mindestens einer alljährlich erscheinen wird“; und erstaunlich schnell ____________ 26
27 28
Vgl. das von Hans Joachim Moser und Adolf Sandberger im Mai 1926 verfasste Geleitwort zu: Carl Maria von Weber. Musikalische Werke, 2. Reihe: Dramatische Werke, Bd. I: Jugendopern, Augsburg 1926, S. V. Vgl. ebd. Vgl. Die Musik. Monatsschrift, hrsg. von Bernhard Schuster, Jg. 18, H. 9 (Juni 1926), S. 714.
Zur Idee und Geschichte einer Weber-Gesamtausgabe
413
legte man tatsächlich die ersten Bände vor: Im Augsburger Verlag Dr. Benno Filser erschienen 1926 bzw. 1928 die Bände I und II der 2. Reihe Dramatische Werke, herausgegeben von Alfred Lorenz bzw. Willibald Kaehler; außerdem als Vorarbeit zum Messenband (Reihe 1, Bd. I) eine Separatausgabe der Jugendmesse (Missa solenne) durch Constantin Schneider.29 Anders als die rein nominellen „Gesamtausgaben“ des 19. Jahrhunderts setzte man gerade zum Start des Projekts auf die Publikation bislang ungedruckter, weniger bekannter Frühwerke. Die Bände 2/I und 2/II enthalten die vollständigen Opern Peter Schmoll und seine Nachbarn sowie Silvana, flankiert von den Fragmenten aus dem Waldmädchen und Rübezahl. Dies lag einerseits in der chronologischen Anlage der Einzelreihen begründet, der zunächst auch der Erscheinungsverlauf der Ausgabe folgen sollte. Möglicherweise führte aber auch die recht „übersichtliche“ Quellensituation bei den genannten Werken, die eine zügige Bearbeitung garantierte, zu dieser Auswahl. Tatsächlich war jeweils nur eine authentische Vorlage (im Falle der Waldmädchen- und Rübezahl-Fragmente) bzw. neben dem Autograph noch ein Teilautograph (beim Peter Schmoll) bekannt. Im einzigen komplexeren Fall, der Silvana, wo neben dem (fragmentarischen) Autograph noch drei Partiturabschriften für Aufführungen in verschiedenen Bühnen-Fassungen (Frankfurt/ Main 1810, Berlin 1812, Dresden 1818) in die Argumentation einbezogen wurden, entstand – trotz Wiedergabe zweier nachträglich ausgetauschter Arien und einer späteren Revision in Anhängen – in der Ausgabe eine ahistorische Mischfassung, die zwar weitgehend eine „Fassung letzter Hand“ zu rekonstruieren versuchte, an diesem Prinzip aber sowohl hinsichtlich der musikalischen Nummern als auch der gesprochenen Dialoge keineswegs durchgehend festhielt;30
____________ 29
30
Vgl. Grosse Messe in E-Dur für Soli, gemischten Chor, Orchester und Orgel von Carl Maria von Weber (Salzburg 1802), nach der Originalpartitur im Städtischen Museum zu Salzburg erstmalig hrsg. von Constantin Schneider, Augsburg, Köln 1926. Auf der Inhalts-Seite findet sich der Hinweis: „Das Werk erscheint später mit gleichem Wortlaut in der Gesamtausgabe der musikalischen Werke Webers (unter Leitung von Hans Joachim Moser) in der I. Reihe – Kirchenwerke und Kantaten – Bd. I (Messen).“ Der Klavierauszug dieser Messe, bearbeitet von Carl Blessinger, erschien 1827 ebenso bei Filser. Die Fassungs-Mischung scheint auch dadurch begünstigt, dass man zwar Webers letzte Werkfassung (Dresden 1818) darstellen wollte, aber als Herstellungsvorlage für den Druck eine Partiturabschrift wählte, die Friedrich Wilhelm Jähns 1871 teils nach dem fragmentarisch überlieferten Autograph von 1808/1810, teils nach der Partiturabschrift für die Frankfurter Uraufführung 1810 hatte kopieren lassen: D-B, Weberiana Cl. IV A, Bd. (= Nr.) 2. Kaehler datierte diese Abschrift fälschlich mit 1877; vgl. Carl Maria von Weber. Musikalische Werke, 2. Reihe: Dramatische Werke, Bd. II, Augsburg 1928, S. XIV.
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Joachim Veit, Frank Ziegler
die Ouvertüre wurde sogar in einer nicht werk-immanenten Fassung wiedergegeben.31 Dem Anspruch einer modernen Gesamtausgabe werden die Ausgaben nur bedingt gerecht; so findet man etwa nur sehr oberflächliche Beschreibungen der Quellen; statt dessen wurde auf die entsprechenden Passagen des bereits mehr als ein halbes Jahrhundert alten Weber-Werkverzeichnisses von Friedrich Wilhelm Jähns von 1871 verwiesen. Alfred Lorenz bekannte im Band 2/I sogar: „Eigene Forschungen zur Auffindung neuer Quellen zu machen, war mir bei der Kürze der Zeit leider unmöglich“.32 Die als „Revisionsbericht“ überschriebenen editorischen Rechenschaftslegungen weisen in den Vorbemerkungen und Variantenverzeichnissen zwar auf grundlegende Probleme der Quellenüberlieferung und zahlreiche Varianten und Lesarten hin, lassen aber grundsätzlichere Überlegungen zu einer spezifischen Quellentypologie bei Weber, zur Beziehung der Quellen untereinander und deren Wertigkeit für die Edition sowie zu aufführungspraktischen Problemen vermissen. Dort, wo von der alten Gesamtausgabe benutzte Materialien inzwischen verloren gegangen sind,33 erlauben die Angaben keine detaillierte Rekonstruktion des Quellenbefunds. Bemerkenswert – auch in ihrer inkonsequenten Handhabung – sind immerhin einige editorische Details: So werden in den Revisionsberichten zu den Bänden 2/I und 2/II ausgewählte Materialien, die zur Genese der Werke gehören, vollständig wiedergegeben (Briefe, Tagebucheinträge, Theaterzettel, Pressedokumente). Im Falle des Rübezahl werden die im Breslauischen Erzähler publizierten Texte der Szenen 1 bis 12 des I. Akts komplett abgedruckt,34 während als Ersatz für das verlorene Buch zu Peter Schmoll eine von Jähns verfasste ausführliche Inhaltsangabe der Romanvorlage von Carl Gottlob Cramer abgedruckt ist. Dies alles zeigt ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit der umfassenden Dokumentation des Überlieferten. ____________ 31
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34
Weber arrangierte die Silvana-Ouvertüre 1822 im Zuge ihrer Wiederverwendung als Eröffnungsmusik zum Festspiel Den Sachsen-Sohn vermählet heute (anlässlich der Nachfeier der Vermählung von Prinz Johann von Sachsen mit Prinzessin Amalie Auguste von Bayern). Diese Version erklang nie bei einer Silvana-Aufführung auf dem Theater, ist innerhalb der OpernEdition also deplatziert. Vgl. das Vorwort vom Mai 1926 zu: Carl Maria von Weber. Musikalische Werke, 2. Reihe, Bd. I (wie Anm. 26), S. VI. An derselben Stelle bekannte Lorenz, dass die bibliographischen Vorermittlungen von Hans Hoffmann in Kiel erbracht wurden. Dies betrifft lediglich zwei von Ludwig K. Mayer für seine Preciosa-Edition benutzte Dresdner Partituren, die seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen sind; vgl. Carl Maria von Weber. Musikalische Werke, 2. Reihe: Dramatische Werke, Bd. III: Preciosa, Braunschweig 1939, S. 73. Das komplette handschriftliche Textbuch mit autographen Eintragungen Webers war dem Herausgeber (Willibald Kaehler) offensichtlich noch nicht bekannt; vgl. D-B, Mus. ms. autogr. C. M. v. Weber WFN 6 (3).
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Was sonstige editorische Grundsätze betrifft, so haben die Ausgaben „die Orthographie Webers beibehalten“ – eine Bemerkung, die nicht allzu wörtlich zu verstehen ist,35 die sich allerdings nicht nur auf die unterlegten Texte, sondern auch auf die Instrumentenvorsätze bezieht. Im Gegensatz zu älteren Gesamtausgaben sind hier alle Bände mit einer durchlaufenden Taktzählung (eingetragen alle zwei Takte unter dem System) versehen und erleichtern so die Orientierung. Trotz vieler stillschweigender Korrekturen sind Herausgeberzusätze in der Regel durch eckige Klammern gekennzeichnet (im Peter Schmoll als gerade und kursive Klammern),36 allerdings bleiben Bogensetzung und Artikulation davon ausgenommen. Dagegen ist im Revisionsbericht zu Rübezahl vermerkt, dass die ergänzten Bögen „durch schwächeren Druck als solche gekennzeichnet“ seien37 – eine Unterscheidung, die im Notentext allerdings kaum nachvollziehbar ist. Erstaunlicherweise sind in Recitativo und Arietta des Kurt im Rübezahl (und nur dort!) sogar die Seitenzahlen (und -wechsel) des Originalmanuskripts in der Partitur in eckigen Klammern vermerkt.38 Nach dem zügigen Vorlegen der beiden Startbände kam die Ausgabe bald ins Stocken: Der Verlag Filser ging 1929 infolge der Weltwirtschaftskrise in die Insolvenz. Die Suche nach einem neuen Verlagspartner zog sich lange hin; er wurde schließlich mit Litolff in Braunschweig gefunden,39 der 1939 die Schauspielmusik zu Preciosa als dritten Band vorlegte, deren Einrichtung Ludwig K. Mayer eigentlich bereits 1932 abgeschlossen hatte.40 Neben der „Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums | Deutsche Akademie München (Abteilung für deutsche Musik)“ zeichnete nun auch das Berliner „Staatliche Institut für deutsche Musikforschung“ für das Projekt verantwortlich. Editionsleiter Moser machte zu Beginn des Revisionsberichts des neuen Bandes auf eine stärkere Orientierung der Edition an der autographen Vorlage aufmerksam: ____________ 35
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37 38 39 40
Vgl. Carl Maria von Weber. Musikalische Werke, 2. Reihe, Bd. I (wie Anm. 26), S. XVI (Waldmädchen) bzw. S. XIX (Peter Schmoll), Bd. II, S. VI (Rübezahl). In der Angabe zu Peter Schmoll heißt es dazu auch, dass „der Gebrauch der großen und kleinen Anfangsbuchstaben, sowie die Interpunktionen im modernen Sinne revidiert worden“ seien. Der nachfolgend erwähnte Preciosa-Band (vgl. Anm. 33) verwendet neben eckigen auch runde Klammern sowie gepunktete Bögen oder crescendo-Gabeln, ohne dass deren Bedeutung erläutert würde; vgl. dazu Frank Ziegler in WeGA, Serie III, Bd. 9, Mainz 2000, S. 249f. Carl Maria von Weber. Musikalische Werke, 2. Reihe, Bd. II (wie Anm. 30), S. VI. Ebd., S. 5–7. Obwohl die Seitenzahlen erst mit „[13]“ beginnen, sind weder im vorausgehenden Geisterchor Nr. 3 noch im folgenden Quintett korrespondierende Zahlen vermerkt. Die Herstellung (Stich und Druck) lag weiterhin, wie bereits bei den ersten Bänden, bei der Leipziger Firma Oscar Brandstetter. Vgl. die Datierung des Vorworts in: Carl Maria von Weber. Musikalische Werke, 2. Reihe, Bd. III (wie Anm. 33), S. VII.
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Joachim Veit, Frank Ziegler
Während in den Bänden unserer Gesamtausgabe neben der Feststellung des Urtextes durch die gekennzeichnete Ergänzung fehlender dynamischer Zeichen usw. auch auf die Erfordernisse der Praxis sparsam Rücksicht genommen wurde, ist diesmal – einem Wunsch aus dem Mitgliederkreise der Deutschen Akademie entsprechend – einzig auf denkbar nahen Anschluß an das Autograph gesehen worden und nur in der Zugabe versehentlich ausgelassener Versetzungszeichen und in der Verbesserung offenbarer Schreibfehler des Komponisten das Notwendigste geschehen. So gibt unsere Partitur […] obendrein vielerlei Beiträge zur Schaffenspsychologie des Meisters.41
Inwieweit dies nur eine Probeedition darstellen oder zu einer generell stärkeren formalen Orientierung der gesamten Edition an den überwiegend handschriftlichen Vorlagen führen sollte, kann man nur mutmaßen, denn mit dem Band 2/III kam das Projekt zum Erliegen – der bald nach dessen Erscheinen begonnene Zweite Weltkrieg bedeutete für die erste kritische Weber-Gesamtausgabe das Aus.
IV.
Gescheiterte Planungen für eine Gesamtausgabe nach 1945
Anfang der 1950er Jahre versuchte der Weber-Forscher und Publizist Hans Schnoor in Abstimmung mit Moser das Projekt nochmals aufleben zu lassen, hatte freilich zunächst in erster Linie eine Edition der Briefe und Tagebücher Webers im Blick. Da der Bärenreiter-Verlag Interesse signalisiert hatte, kam es am 30. März 1954 in Köln zu einem Treffen Schnoors und Mosers mit dessen Direktor Karl Vötterle und dem Cheflektor Richard Baum,42 bei dem ein neues Herausgebergremium (Moser, Schnoor, Wilhelm Virneisel und als Vertreterin der Familie Mathilde von Weber43) eingesetzt und offenbar auch eine neue Ausgaben-Gliederung für die musikalischen Werke beschlossen wurde. Demnach sollte es nun zwölf Serien geben:44 ____________ 41 42
43
44
Vgl. ebd., S. 73. Vgl. Eveline Bartlitz, „… so wird nach u. nach doch Gesamtausgabe“. Ein Blick auf Ideen und Versuche einer Brief-Gesamtausgabe Carl Maria von Webers im 19. und 20. Jahrhundert, in: Weberiana. Mitteilungen der Internationalen Carl-Maria-von-Weber-Gesellschaft e. V., Heft 23 (2013), S. 113f., sowie den Aktenvermerk zur genannten Besprechung in: D-B, N. Mus. Nachl. 126a = Nachlass Hans Schnoor, in Ordner 54. Die Weber-Urenkelin wurde von Schnoor erst nachträglich darüber in Kenntnis gesetzt; vgl. seinen Brief an Mathilde von Weber vom 18. Juni 1954, D-B, N. Mus. Nachl. 126a = Nachlass Hans Schnoor, in Ordner 51. Vgl. den Plan zur „Gesamtausgabe der Werke von C. M. von Weber“ in D-B, N. Mus. Nachl. 126a = Nachlass Hans Schnoor, in Ordner 62; dort findet sich auch eine abweichende Gliederung in zwölf Bände (anschließend an die beiden Filser-Bände von 1926/1928), die Schnoor im Januar 1954 zusammengestellt hatte.
Zur Idee und Geschichte einer Weber-Gesamtausgabe
417
Bühnenwerke (Bd. 1 Das Waldmädchen, Bd. 2 Peter Schmoll und Rübezahl, Bd. 3 Silvana, Bd. 4 Abu Hassan, Bd. 5 Preciosa, Bd. 6 Freischütz, Bd. 7 Die drei Pintos, Bd. 8 Euryanthe, Bd. 9 Oberon, Bd. 10 Bühnenmusiken und Einlagen für fremde Werke) II. Orchesterwerke (Bd. 1 Sinfonien, Bd. 2 Ouvertüren, Einzelwerke, Harmoniemusik; dann die konzertanten Werke: Bd. 3 für Streicher, Bd. 4 für Bläser, Bd. 5 für Klavier) III. Kammermusik IV. Werke für Klavier zu vier Händen V. Werke für Klavier zu zwei Händen VI. Kirchenmusik VII. Chorwerke mit Begleitung VIII. Chorwerke a capella IX. Mehrstimmige Gesänge und Duette X. Einzel-Arien mit Orchesterbegleitung XI. Lieder mit Klavierbegleitung XII. Lieder mit Gitarren- oder sonstiger Instrumentalbegleitung I.
Im Oktoberheft 1954 der Zeitschrift Musik im Unterricht annoncierte Bärenreiter „Neue Gesamtausgaben“ aus seinem Verlag, darunter auch: „Carl Maria von Weber Musikalische Werke. Herausgegeben von Professor Dr. Hans Joachim Moser“. Doch daraufhin meldete der Verlag C. F. Peters Widerspruch an: Er hatte 1940 den Verlag Litolff übernommen und leitete daraus seinen Anspruch auf die Weiterführung der Ausgabe ab – diese Auseinandersetzungen, aber auch andere Probleme, besonders der zunehmend schwierige Zugang zu den Quellen (sie lagen überwiegend östlich der deutsch-deutschen Grenze, die Edition wurde in der jungen Bundesrepublik geplant) führten schließlich zur „Kapitulation“ aller Beteiligten. Bereits am Neujahrstag 1956 berichtete Schnoor Mathilde von Weber: Vor rund eindreiviertel Jahren fing es so hoffnungsvoll […] an. Dann schlief alles wieder ein. Moser und ich waren uns im Klaren darüber, daß die Dinge beim Bärenreiter stets so langsam laufen, wenn nicht gerade ein Bach- oder Mozartjahr bevorsteht. Tatsache ist ja nun, dass die ausgezeichnete Waltershausensche Ausgabe der Oberon-Partitur […] druckreif ist; sie liegt beim Kasseler Verlag und wartet auf den Stecher.45 ____________ 45
D-B, 55 Nach 50 = Nachlass Mathilde von Weber, in: 1.1 (diverse Korrespondenz). Laut einem Brief von Hans Schnoor an Kurt Dorfmüller vom 17. Dezember 1963 war allerdings nicht Waltershausen, sondern Philippine Schick „die eigentliche Urheberin der verdienstvollen Revision der Partitur des Oberon auf Grund der Fotokopien, die in den zwanziger Jahren den Herausgebern der Weber-Gesamtausgabe, den Herren Professor Sandberger und Professor Moser, aus Leningrad zur Verfügung gestellt worden waren“; D-B, N. Mus. Nachl. 126a = Nachlass Hans Schnoor, in Ordner 7. Die vorbereitete Ausgabe blieb ungedruckt; Moser schrieb am 17. September 1962 an Schnoor: „Waltershausens Revision und die auf meine Veranlassung sr.
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Joachim Veit, Frank Ziegler
Und Hans Joachim Moser klagte im Schreiben an Schnoor vom 17. September 1962: das Versacken und Versanden der Webergesamtausgabe ist eine kl. Tragödie und große nationale Schmach […]. Und Vötterle ist ja, obwohl er die Filserschen Restbestände besitzt, wieder leise davon abgekommen, sie fortzusetzen. Da wird nun wohl eine neue Generation kommen müssen, ich bin jetzt 73.46
Doch für diese nachfolgende Generation hatten sich zugleich die Arbeitsbedingungen erheblich verschlechtert – zumindest was die bis dahin geplante deutsch-deutsche Zusammenarbeit betraf. Seit August 1961 hatte der Bau der Berliner Mauer den Zugang zur Deutschen Staatsbibliothek in Berlin (Ost) für die „westlichen“ Wissenschaftler erschwert. Dort befand sich aber seit 1956 der Nachlass Webers, der nach dem Tod Mathilde von Webers gemäß testamentarischer Verfügung der Staatsbibliothek „als Leihgabe“ überlassen worden war. Webers Ururenkel Hans-Jürgen Freiherr von Weber (Hamburg) schloss am 14. Dezember 1956 einen Dauerleihvertrag mit der Bibliothek ab, der u. a. auch die schon von Max Maria von Weber gewünschte Regelung enthielt, dass die Bestände nach dem Erlöschen einer männlichen Erbfolge Eingang in die Sammlungen der Deutschen Staatsbibliothek (vormals Königlichen bzw. Preußischen Staatsbibliothek) finden sollten.47 Dies geschah – von wenigen, in Familienbesitz in Hamburg verbliebenen Autographen abgesehen – auf andere Weise genau dreißig Jahre später im Weber-Jubiläumsjahr 1986: Hans-Jürgen von Weber nutzte die Jubiläumsfeierlichkeiten in Berlin (Ost), um die dort verwahrten Teile des Familiennachlasses in eine Schenkung umzuwandeln und so der Bibliothek, die schon 1961 ein „Carl-Maria-vonWeber-Zimmer“ eingerichtet hatte, indirekt nahezulegen, aus diesem Geschenk wissenschaftliches Kapital zu schlagen. Immerhin wurde aus Anlass dieser Übergabe innerhalb der Handschrifteninventare der Deutschen Staatsbibliothek als Band 9 das von Eveline Bartlitz bearbeitete Carl-Maria-vonWeber-Autographenverzeichnis vorgelegt; außerdem publizierte Bartlitz nach diesen Quellen und im Auftrag der Bibliothek eine Sammlung von 100 Briefen Webers an seine Braut Caroline Brandt48 und demonstrierte damit eindrücklich, welcher Schatz hier zu heben war. ____________
46 47 48
Zt. aus Leningrad beschaffte Photocopie des Autogr. schlummern friedlich in der Staatsb. München“; D-B, N. Mus. Nachl. 126a = Nachlass Hans Schnoor, in Ordner 51. Vgl. Anm 45. Vgl. dazu Eveline Bartlitz, Carl Maria von Weber. Autographenverzeichnis (= Deutsche Staatsbibliothek. Handschrifteninventare, Bd. 9), Berlin 1986, S. 39. Mein vielgeliebter Muks. Hundert Briefe Carl Maria von Webers an Caroline Brandt aus den Jahren 1814–1817, Berlin 1986.
Zur Idee und Geschichte einer Weber-Gesamtausgabe
V.
419
Das Weber-Jubiläumsjahr 1986 als Ausgangspunkt für eine neue Weber-Gesamtausgabe
Andererseits wies das Jubiläumsjahr 1986 sehr deutlich auf die bestehenden Probleme hin: Gewürdigt wurde Weber ausgiebig auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ – in der DDR durch Festaufführungen in Berlin (u. a. mit einer Neueinstudierung der Euryanthe) sowie zwei wissenschaftliche Konferenzen in Dresden, deren zweite unter dem bezeichnenden Titel: „Carl Maria von Weber – das Erbe als Anregung für die Gegenwart“ stattfand, während in der BRD eine Tagung in Webers Geburtsort Eutin das provokative Motto: „Weber – jenseits des Freischütz“ trug.49 Gemeinsamkeiten gab es kaum. Dennoch war es dieses Jubiläum, das letztlich auf beiden Seiten der Idee einer wissenschaftlichen Gesamtausgabe neuen Auftrieb gab. Im Westen hatte Ludwig Finscher schon im Vorfeld Möglichkeiten zur Einrichtung einer Weber-Ausgabe in den Gremien der Konferenz der Akademien der Wissenschaften erörtert und damit eine Reaktion auf seine Feststellung im Eutiner Festvortrag 1986 vorweggenommen: Eine Weber-Philologie, die aus einer zum Teil chaotischen Überlieferung authentische Werktexte für Wissenschaft und Praxis herausfiltert, gibt es weder in den beiden deutschen Staaten noch in England oder den USA.50
Aber auch im Osten begann der damalige Leiter der Musikabteilung der Staatsbibliothek, Wolfgang Goldhan, Möglichkeiten für eine Werkausgabe zu sondieren. Gleichzeitig bemühte sich am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn Gerhard Allroggen um die Einrichtung einer Forschungsstelle zur Herausgabe der Briefe und Schriften, die Anfang 1988 im Hinblick auf die Briefausgabe von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligt wurde. In den vorausgehenden Verhandlungen über die Publikation dieser Briefe im Mainzer Verlag von B. Schott’s Söhnen brachte der damalige Lektor Lothar Friedrich die Pläne Ludwig Finschers wieder ins Gespräch und drängte ____________ 49
50
Vgl. hierzu das Programmheft Carl-Maria-von-Weber-Tage der DDR 1986 Berlin / Dresden, hrsg. vom Rat der Stadt Dresden, Dresden 1986 sowie die beiden Tagungsberichte: Carl Maria von Weber und der Gedanke der Nationaloper. 2. Wissenschaftliche Konferenz zum Thema „Dresdner Operntraditionen“ 1986, hrsg. von Günther Stephan und Hans John (= Schriftenreihe der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“, 10. Sonderheft), Dresden 1987, und Weber – Jenseits des „Freischütz“. Referate des Eutiner Symposiums 1986 anläßlich des 200. Geburtstages von Carl Maria von Weber, hrsg. von Friedhelm Krummacher und Heinrich W. Schwab (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 32), Kassel 1989. Die Referate der zweiten Dresdner Tagung wurden in den Beiträgen zur Musikwissenschaft, Jg. 30, Heft 1/2 (1988) veröffentlicht. Tagungsbericht Eutin (wie Anm. 49), S. 1.
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auf ein umfassenderes, die Werkausgabe mit einschließendes Editionsunternehmen.51 So wandte sich Allroggen an Wolfgang Goldhan, und durch Vermittlung des Hamburger Ururenkels Hans-Jürgen von Weber kam es am 1. Dezember 1987 zu einem ersten Treffen in Lübeck, bei dem deutlich wurde, welche Hürden einer deutsch-deutschen Zusammenarbeit unter den politischen Gegebenheiten im Wege standen. Goldhan war es schließlich zu verdanken, dass unter dem Deckmantel der Internationalität im Februar 1988 ein international besetztes Kuratorium gegründet werden konnte, dem Vertreter der Länder angehörten, auf deren Territorium Weber vor allem gewirkt hatte: der damaligen beiden deutschen Staaten, Großbritannien und der Tschechoslowakei. Es wurden nationale Arbeitsstellen gegründet, die die Arbeiten koordinieren sollten und für die Publikation der Notenbände wurde eine Zusammenarbeit des VEB Deutschen Verlags für Musik Leipzig mit Oxford University Press ins Auge gefasst.52 Im Juni des folgenden Jahres fand in Dresden eine erste Arbeitstagung statt, bei der ein allererster Entwurf von Editionsrichtlinien zur Berliner Ausgabe der Werke Carl Maria von Webers beraten, Allroggen und Goldhan zu Editionsleitern und Finscher und John Warrack als Mitglieder eines Beirats gewählt wurden. Über die verlegerische Betreuung wurde keine abschließende Festlegung getroffen.53 Im darauf folgenden Jahr wurden Anträge auf eine entsprechende Förderung auf den Weg gebracht: Gedacht war in Berlin an die Übernahme von Mitarbeitern der „Forschungsstelle 19. Jahrhundert“, in Detmold/ Paderborn an zwei über die Mainzer Konferenz der Akademien der Wissenschaften zu finanzierende Mitarbeiter – die Konzentration auf eine deutschdeutsche Zusammenarbeit schien zwischenzeitlich akzeptiert. Durch den für alle überraschenden Fall der Mauer stand das geplante Projekt allerdings vor einer völlig neuen Situation. Die Berliner Arbeitsstelle drohte drastischen Sparmaßnahmen zum Opfer zu fallen, was schließlich auch in Detmold das Aus bedeutet hätte. Nur durch intensive Bemühungen, besonders von Seiten der Konferenz der Akademien in Mainz,54 durch das Engagement des mit den weiteren Verhandlungen betrauten Detmolder Editionsleiters und durch die Bereitschaft der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Berliner Arbeitsstelle bis zur Übernahme in die Akademienfinanzierung weiter zu fördern, ____________ 51 52 53 54
Brief von Lothar Friedrich an Gerhard Allroggen vom 19. Dezember 1986, Archiv der WeGA. Von der Deutschen Staatsbibliothek (DSB) gedrucktes Protokoll der Gründungsversammlung vom 18. Februar 1988 durch Wolfgang Goldhan, Berlin 1988, Archiv der WeGA (8 S.). Dies geht wiederum aus einem von der DSB gedruckten Protokoll hervor, Berlin 1989, Archiv der WeGA (4 S.). Mit nicht nachlassender Energie kümmerten sich Günter Brenner als Generalsekretär und Hanspeter Bennwitz als für die musikwissenschaftlichen Ausgaben zuständiger Koordinator um eine Lösung der komplexen Probleme.
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gelang die Rettung des Unternehmens, für das ein Editionsplan erstellt worden war, der vorsah, bis zu Webers 200. Todesjahr 2026 sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher, Schriften und ein neues Werkverzeichnis zu publizieren. Erfreulicherweise wurde dabei von den ersten Planungen an berücksichtigt, dass gerade bei Weber die Zusammengehörigkeit von kompositorischem und schriftstellerischem bzw. in Textform überliefertem Erbe sehr eng ist und nur eine alle Teile umfassende Ausgabe die Voraussetzungen schafft, um die vielfältigen Aspekte seines Wirkens zu dokumentieren und Verflechtungen zwischen Werk und Wirken zu verdeutlichen.
VI.
Der Start der neuen Weber-Gesamtausgabe (WeGA): Richtlinien der Edition
Anfang 1993 konnten zwei Berliner Mitarbeiterstellen von der Mainzer Akademie übernommen werden; in Detmold gelang dies Mitte 1996 mit zunächst nur einer Mitarbeiterstelle; die ursprünglich geplante zweite wurde erst 2009 bewilligt. Trotz der von Finscher konstatierten deplorablen Situation der Weber-Philologie war das junge Unternehmen bereits 1998 in der Lage, mit Webers beiden Dresdner Messen den ersten – bewusst eine unbekanntere Seite des Komponisten in den Mittelpunkt stellenden – Band der Werkausgabe vorzulegen.55 Vorausgegangen war eine intensive Diskussion der neu erarbeiteten Editionsrichtlinien sowohl im internen Kreis als auch mit Vertretern des Verlags sowie mit Kollegen der Neuen Robert-Schumann-Ausgabe und der JohannesBrahms-Gesamtausgabe. Anhaltspunkte für ein eigenes Regelwerk boten nicht nur der von Georg von Dadelsen herausgegebene Band Editionsrichtlinien musikalischer Denkmäler und Gesamtausgaben56 oder die Richtlinien der jüngeren Ausgaben, sondern insbesondere die Auseinandersetzungen mit den Umbrüchen, die sich in der germanistischen Edition seit den 1970er Jahren vollzogen hatten. Stellvertretend können hier die Veröffentlichungen von Gunter Martens, Hans Zeller und Siegfried Scheibe genannt werden.57 Die dort zu ____________ 55 56
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Carl Maria von Weber. Sämtliche Werke, Serie I, Bd. 2: Kirchenmusik, hrsg. von Dagmar Kreher, Redaktion: Joachim Veit und Frank Ziegler, Mainz 1998. Editionsrichtlinien musikalischer Denkmäler und Gesamtausgaben, im Auftrag der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Georg von Dadelsen (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 22), Kassel [u. a.] 1967. Methodische Hilfe bot daneben Georg Feder, Musikphilologie. Eine Einführung in die musikalische Textkritik, Hermeneutik und Editionstechnik, Darmstadt 1987. Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller, München 1971; Siegfried Scheibe, Waltraud Hagen, Christel Laufer und Uta
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Joachim Veit, Frank Ziegler
beobachtende Betonung der „Historizität der Texte“, der Gleichwertigkeit der je historisch gültigen Fassungen und der streng den autorisierten Quellen folgenden Wiedergabe der Texte und vollständigen Verzeichnung der Varianten prägte den Entwurf der Richtlinien der Weber-Ausgabe; damit rückte die Konzeption ab von der Idee einer rekonstruierenden „Werk“-Ausgabe (im Sinne eines „fiktiven Werkideals“) und verfolgte das Ziel einer diesen germanistischen Editionstheorien analogen „Text“-Edition, die der Variabilität der Überlieferung Rechnung trägt und deren offenkundige Probleme nicht verschweigt. Erheblicher Wert wurde in den 1994 in einer ersten Auflage veröffentlichten Richtlinien58 auf die historische Einbettung der Notentexte gelegt. Die minutiöse Darstellung der Werkgeschichte wird durch Einbeziehung von Aspekten der postumen Rezeption dieser Texte – zumindest dort, wo diese Aufgabe angesichts des Umfangs der Überlieferung zu leisten ist – auch zu einer Textgeschichte ausgeweitet, die bis in die jüngste Gegenwart führt. Für die Notentexte selbst gilt die Maxime, dass sie der jeweils als Repräsentant für eine historisch gültige Fassung gewählten Hauptquelle so treu wie irgend möglich folgen und dass trotz aller notwendigen Eingriffe des Herausgebers die originale Vorlage noch möglichst deutlich „durchscheinen“ soll. Um dies zu gewährleisten, wurde ein doppeltes Klammersystem eingeführt: Eckige Klammern bezeichnen Zusätze der Herausgeber, runde dagegen Ergänzungen nach anderen autorisierten Quellen – solche Ergänzungen sollen aber nur dort angebracht werden, wo sie „den Intentionen des Haupttextes entsprechen, d. h. dort offensichtlich ebenfalls mitgedacht, aber nicht notiert sind, sei es aus Nachlässigkeit, aus Platzgründen oder wegen der unterschiedlichen Funktion der Quelle“, keinesfalls aber dürfen „verschiedene Fassungen des Werkes aus unterschiedlichen historischen Zusammenhängen ineinander gearbeitet werden“.59 Zur „Durchsichtigkeit“ des Textes sollen auch die in Abwandlung von der Gesamtausgabe der Werke Joseph Haydns übernommenen Zeichen zur Markie____________
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Motschmann, Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie, Berlin 1988. Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe (WeGA). Editionsrichtlinien für die Notenbände, 1. Auflage, Detmold, Juni 1994, Redaktion: Joachim Veit, Frank Ziegler (maschr. vervielfältigt). Den 86-seitigen Richtlinien ist im Anhang ein Stichwortverzeichnis beigegeben, das auf die in Paragraphen gegliederten Ausführungen verweist und so eine rasche Orientierung für die Bandherausgeber ermöglichen soll. Ein Auszug dieser Richtlinien nach den späteren Überarbeitungen vom Oktober 1997 und Juni 1999 findet sich in: Editionsrichtlinien Musik, hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000, S. 361–404. WeGA, Editionsrichtlinien, 2. Auflage, § 101 und 101A, zitiert nach Editionsrichtlinien Musik (wie Anm. 58), S. 367. In der Vorbemerkung heißt es dazu: „Bei der Arbeit an der Edition dient die Kombination verschiedener Quellen aus einer historischen Schicht lediglich dazu, verborgene Textschichten einer Hauptquelle sichtbar zu machen […]. Diese […] müssen in der Edition als solche erkennbar bleiben“ (ebd., S. 365).
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rung von colla-parte-Ergänzungen beitragen (die verdeutlichen, dass manche Einträge zur Artikulation oder Dynamik nur durch eine Stimme „belegt“ sind), ebenso die Winkelzeichen, mit denen Passagen gekennzeichnet werden, die im Original nur durch Buchstaben- oder Zahlenverweise (bzw. come-sopra-Hinweise) auf frühere Abschnitte notiert sind. Auch die Kürzelformen für Tonrepetitionen oder Tremoli werden in der Edition in der Regel nicht aufgelöst und Analogie-Ergänzungen von Dynamik, Artikulation oder Phrasierungen nur sparsam vorgenommen.60 Die enge Anlehnung an die Vorlage betrifft konsequenterweise auch die Partituranordnung, die in der Regel nach der Hauptquelle übernommen ist. Dabei erleichterte Webers Beschränkung auf wenige Modelle diese Entscheidung, mit der im Übrigen nahezu durchgängig die Hörner in den Holzbläsersatz eingeordnet werden – eine Form, die sich noch bei Wagner findet und die die Struktur des musikalischen Satzes oft besser widerspiegelt als die moderne Anordnung.61 Mit all diesen Maßnahmen und den behutsamen Herausgeber-Eingriffen entsteht ein Text, der sich an vielen Stellen gegen eine rasche und eindeutige Interpretation sperrt – bewusst will diese Art der Wiedergabe eines nicht geglätteten Notentextes den Blick in die und die Auseinandersetzung mit den Bemerkungen des Kritischen Berichts fördern, denn erst beides zusammen macht im Verständnis der WeGA den „edierten Text“ aus. Auf zwei Arbeitstagungen der Bandherausgeber 1995 in Detmold und 1998 in Berlin wurden die Editionsgrundsätze weiter diskutiert und Einzelaspekte (z. B. die oft verwirrende Art der eher als Phrasierungsanweisung zu verstehenden, teils Pausen überbrückenden Bogensetzung Webers und seine Unterscheidung von Strich und Punkt) vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen und von Erkenntnissen anderer Ausgaben behandelt.62 Dies führte 1997 zur Veröffentlichung von Addenda und Corrigenda zur 1. Auflage der Editionsrichtlinien für die Notenbände und 2008 zu einer kumulierten Neufassung, die über die Homepage der ____________ 60
61 62
Zu den genannten Details vgl. Editionsrichtlinien Musik (wie Anm. 58), S. 388–390. Takt- oder Halbtaktrepetitionen werden dagegen ohne Kennzeichnung aufgelöst und in der Regel auch nicht vermerkt – letztlich eine Inkonsequenz, die als Zugeständnis unter die übrigen Maßnahmen der Modernisierung des Satzbildes (wie etwa bei der ausführlich diskutierten Frage der Schlüsselung) fällt. Vgl. hierzu Joachim Veit, Zur Frage der Partituranordnung bei Weber, in: Weber-Studien, Bd. 3, Mainz 1996, S. 201–221. Bei beiden Arbeitstagungen wirkte u. a. Michael Struck von der Brahms-Gesamtausgabe mit, an der zweiten nahmen auch Bernhard R. Appel (Robert-Schumann-Ausgabe), Klaus Henning Oelmann (Grieg-Gesamtausgabe) und Egon Voss (Wagner-Gesamtausgabe) teil. Die Protokolle der Veranstaltungen wurden als Arbeitshefte Nr. 1 (1996) und Nr. 2 (1999) in interner maschr. Vervielfältigung vorgelegt.
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Joachim Veit, Frank Ziegler
WeGA im PDF-Format zugänglich war.63 Änderungen bzw. Ergänzungen betrafen jedoch lediglich Details, die grundsätzliche Ausrichtung der Ausgabe blieb unverändert. Wesentliche Ziele der Edition sollten zudem die Transparenz editorischer Entscheidungen und eine möglichst bequeme Nutzung des Kritischen Apparats sein. Mit Hilfe von Sternchen-Anmerkungen zu besonderen Problemen des Notentextes, durch Einrückungen und unterschiedliche Schriftgrößen im Varianten- und Lesartenverzeichnis, die Vergabe von Anmerkungs-Kategorien und durch sprechende Symbole (z. B. → als Zeichen für Ergänzungen auf der Basis der danach mit Kürzel aufgelisteten Quellen oder als Zeichen für Angaben, die zwischen zwei Systemen stehen, aber offensichtlich als für beide geltend intendiert sind) oder durch Schriftauszeichnungen sollte eine rasche Orientierung in diesen Verzeichnissen erleichtert werden.64 Zur größeren Transparenz trug besonders die jeweilige Integration eines umfassenden und kommentierten Abbildungsanhangs bei.
VII.
Digitale Editionsmodelle als Ergänzung oder Erweiterung der „klassischen“ Edition – Philologie im Wandel?
Die Fragen des bequemen Zugangs zu den Anmerkungen und der Transparenz der Edition waren es schließlich, die 2003 bei der Edition des Kammermusikbandes mit Klarinette (Serie VI, Bd. 3) – im Anschluss an eine Examensarbeit zu dieser Thematik65 – dazu führten, dass in einem eigenen einjährigen DFGProjekt „Digitale Musikedition“ die Möglichkeiten eines rechnergestützten und Faksimiles der Quellen einbeziehenden Kritischen Berichts geprüft und erstmals im Bereich der Kritischen Musikeditionen eine digitale Edition von Webers Klarinettenquintett als Begleit-CD-ROM der Druckversion vorgelegt werden konnte. Diese Edi-ROM war der Ausgangspunkt eines anschließenden DFG-Projekts zur Entwicklung generischer Werkzeuge für digitale Musikeditionen und wurde später durch eine Neufassung auf Basis offener Standards ____________ 63
64 65
Die Version von 1997 war wiederum für den internen Gebrauch vervielfältigt worden, die von Markus Bandur überarbeitete Version von 2008 ist augenblicklich nicht mehr als PDF auf der Homepage (www.weber-gesamtausgabe.de) zugänglich, da 2015 eine webbasierte Neufassung veröffentlicht wird. In späteren Bänden wurden Grausatz oder graue Unterlegung sowohl im Notensatz als auch im Verzeichnis zur weiteren Differenzierung von Einträgen genutzt. Ralf Schnieders, Neue Medien in der Editionswissenschaft. Die Problematik des kritischen Berichts bei der Edition musikalischer Werke, dargestellt am Beispiel des Klarinettenquintetts von Carl Maria von Weber. Schriftliche Hausarbeit vorgelegt im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt für die Sekundarstufe I und II in Musik, Detmold 2002.
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ersetzt.66 Mit der zunächst von Ralf Schnieders und Johannes Kepper vorgelegten digitalen Edition konnte der Beweis dafür erbracht werden, dass eine solche, alle einschlägigen Faksimiles einbeziehende Form des Varianten- und Lesartenverzeichnisses die Transparenz und Benutzbarkeit der Edition erheblich verbessert. Die WeGA ist dennoch im Bereich der Werkedition nicht den Weg einer kompletten Umstellung künftiger Kritischer Berichte auf eine digitale Variante gegangen, da seitens des Verlags ein entsprechendes Interesse fehlte. Vielmehr werden nur jene Bände in einer – zusätzlichen – digitalen Variante vorgelegt, die editorisch von besonderem Interesse sind. Dies war der Fall bei den konzertanten Werken mit Klarinette, die 2010 von Frank Heidlberger als Bd. 6 der Serie V vorgelegt wurden und gleichzeitig in einer von Benjamin Wolff Bohl, Daniel Röwenstrunk und Joachim Veit erarbeiteten digitalen Edition des DFGProjekts Edirom erschienen. Für die Edition von Webers Freischütz, dessen digitale Variante in Eigenregie der Mitarbeiter der WeGA nicht möglich gewesen wäre, hat sich der glückliche Umstand ergeben, dass anhand dieses Werkes ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Projekt zur Erprobung einer genuin digitalen Edition durchgeführt werden kann, das unabhängig von der WeGA arbeitet und dessen Ergebnisse die Beschränkungen der Papieredition drastisch deutlich machen werden, zumal in dieser Edition die seit 2013 existierende Online-Version der Edirom-Software genutzt werden kann, mit der auch Aktualisierungen von Inhalten und Tools möglich geworden sind.67 Der Einfluss der Digitalisierung auf die Arbeit der Editoren und die Gestalt künftiger Editionen ist noch kaum wirklich absehbar. Neben einer dank durchgängiger Integration von Quellenabbildungen erheblich größeren Transparenz editorischer Entscheidungen, der Integration von Fassungen oder auch BezugsMaterialien jeglicher Art (weitgehend) ohne Umfangsbeschränkung oder der durch Filterungen bzw. Verknüpfungen herstellbaren Flexibilität der Darstellung ist es vor allem das veränderte Verständnis der Erfassung von musikalischen oder Wort-Texten, welches das Editionswesen radikal verändern wird ____________ 66
67
Publiziert mit Copyright der WeGA im Jahr 2008. Zum Vergleich von alter und neuer Version vgl. Daniel Röwenstrunk, Die digitale Version von Webers Klarinettenquintett. Ein Vergleich der Edirom-Versionen 2004 und 2008, in: Digitale Edition zwischen Experiment und Standardisierung. Musik – Text – Codierung, hrsg. von Peter Stadler und Joachim Veit (= Beihefte zu editio, Bd. 31), Tübingen 2009, S. 61–78. Näheres siehe http://www.freischuetz-digital.de. Es handelt sich dabei um ein auf drei Jahre befristetes Gemeinschaftsprojekt des Instituts für Musikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt, der International Audio Laboratories Erlangen, des Instituts für Informatik der Universität Paderborn und des Musikwissenschaftlichen Seminars Detmold/Paderborn.
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Joachim Veit, Frank Ziegler
und eine engere Zusammenarbeit von Projekten, aber auch der Kulturwissenschaften insgesamt nahelegt. Die Einführung menschen- und maschinenlesbarer Codierungsstandards der internationalen Text und Music Encoding Initiatives erlaubt ein inhaltliches Auszeichnen von Texten oder Musik und dabei auch die Integration von Varianten und Lesarten in diese Codierung, aus der die multiplen Darstellungsmöglichkeiten des Textes bzw. der Musik erst in einem zweiten, in der Regel die Reichhaltigkeit der im Code gespeicherten Informationen nicht komplett wiedergebenden Schritt erfolgen. Die Codierung wird so zukünftig zum Dreh- und Angelpunkt der Bemühungen des Editors, sie wird zugleich offen bleiben für immer tiefere bzw. andere Aspekte einbeziehende Formen der Auszeichnung eines „Textes“, dessen Identität im Fluss bleibt.68 Die WeGA griff diese Möglichkeiten, die erst parallel zum laufenden Editionsvorhaben entwickelt wurden, im Bereich der Musikedition nur zögernd auf – im Bereich der zu edierenden Textteile allerdings von Anfang an mit Beharrlichkeit und Konsequenz, aber erst seit wenigen Jahren auch mit dem notwendigen technischen Knowhow.69 Sämtliche Briefe, Tagebücher, Schriften und Rezeptionsdokumente werden im Standard der Text Encoding Initiative (TEI) erfasst und kommentiert.70 Die mit bescheidenen Mitteln erstellte eigene Website der Ausgabe versucht diese Texte in ihrer inneren Verknüpfung und in ihren vielfältigen Bezügen (auch auf die Werkausgabe) nach und nach zugänglich zu machen und stützt sich dabei, soweit bereits möglich, auf Normdaten oder standardisierte (teils eigene) Vokabulare.71 Seit der offiziellen Freischaltung der Homepage im Mai 2011 ist ein Großteil der zu publizierenden Texte bereits in Vorabfassungen zugänglich. Korrekturen, Anreicherungen und Verknüpfungen dieser Texte erfolgen in den kommenden Jahren in mehreren modular konzipierten Schritten. Auch diese Freigabe einer noch „unfertigen Edition“ bzw. die Möglichkeit des Einblicks in die Werkstatt der Editoren und ____________ 68
69
70
71
Zu diesem Aspekt vgl. insbesondere das Themenheft Perspektiven digitaler Musikedition der Zeitschrift Die Tonkunst 5 (2011), S. 283–325 bzw. den Tagungsbericht Digitale Edition zwischen Experiment und Standardisierung (wie Anm. 66) oder die Hinweise auf der Homepage der Music Encoding Initative (http://www.music.encoding.org). Dies war möglich durch die Einstellung des Mitarbeiters Peter Stadler, der zuvor im DFGProjekt Edirom gearbeitet hatte und neben seiner musikwissenschaftlichen auch eine Ausbildung in Computerlinguistik absolviert hatte. Die Richtlinien der TEI sind publiziert auf http://www.tei-c.org, die korrespondierenden, darauf aufbauenden Richtlinien zur Einrichtung der Texte der WeGA auf http://www.webergesamtausgabe.de. Vgl. http://www.weber-gesamtausgabe.de. Genutzt wird neben der gemeinsamen Normdatei (GND) ein eigenes System zur Vergabe von Identifikationsnummern für nicht in der GND erfasste Personen und Werke. Nähere Informationen finden sich auf der Homepage in den Rubriken „Projektbeschreibung“ und „Editionsrichtlinien“.
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ihre Fortschritte gehört zu den neuen, sicherlich nicht unproblematischen Wegen, die sich im digitalen Zeitalter auftun. Bisher nicht verwirklicht ist eine engere Verknüpfung zwischen Text- und Werkausgabe (die exemplarisch im Freischütz-Digital-Projekt sichtbar werden soll). Die innerhalb der WeGA geplante digitale Version des Werkverzeichnisses wird erstmals die engen Verknüpfungen der diversen Quellensorten umfassend verdeutlichen. Manche Entscheidung, die innerhalb des Horizonts der gedruckten Werkausgabe getroffen wurde, wäre vermutlich im Lichte heutiger digitaler Möglichkeiten anders ausgefallen. Die doppelte Bestimmung der Werkausgabe „für Wissenschaft und Praxis“ hat an einigen Stellen zu Kompromissen geführt, die durch flexible Auswahlmöglichkeiten im digitalen Medium vermeidbar wären. So war bei den Bühnenwerken entschieden worden, Textbücher dort, wo sie in Zusammenhang mit der Hauptquelle der musikalischen Edition gebracht werden können, in den Haupttext zu integrieren, um gewissermaßen die aufführungspraktische Situation zu simulieren.72 Dadurch wird jedoch der unterschiedliche Textstatus von Aufführungstext und Libretto verwischt, und Konflikte (speziell bei Bühnenanweisungen) mussten in Kauf genommen werden. Bei den Schauspielmusiken ließ sich diese Leitlinie einerseits durch die Umfangsbeschränkung des Bandes, andererseits durch Probleme bei der Bestimmung von Textfassungen, die nachweislich mit der Weber’schen Musik in Verbindung standen, nicht durchhalten. Um auf die Wiedergabe der Kontexte nicht zu verzichten, sind hier die entsprechenden Szenen im Anhang ediert worden.73 Ähnlich wurden z. B. auf den Chorsatz gemischt besetzter Werke bezogene alternative Fassungen nur in der Reduktion auf die betroffenen Stimmen abgedruckt,74 ebenso veränderte oder nachträgliche Instrumentalstimmen abweichender Fassungen zum Teil separat einzeln wiedergegeben.75 Eine digitale Edition böte in all diesen Fällen die Möglichkeit der getrennten Publikation jeweils vollständiger Versionen von Text oder Musik, erlaubte aber auch die Veranschaulichung der Beziehungen unter Beachtung von Statusdifferenzen der Quellensorten, wie dies neuerdings im OPERA-Projekt verwirklicht wird.76 ____________ 72 73 74 75 76
Dies gilt für die bereits erschienenen Opern Silvana (Serie III, Bd. 3a–c) und Abu Hassan (Serie III, Bd. 4) oder die Schauspielmusik zu Preciosa (Serie III, Bd. 9). WeGA Serie III, Bd. 10a; dagegen sind in Bd. 10b die Dialoge als integrale Teile der Edition publiziert, da die erhaltenen Libretti im direkten Zusammenhang mit der Komposition stehen. Vgl. z. B. WeGA Serie I, Bd. 2 (Offertorium Gloria et honore), S. 284f., Serie II, Bd. 3 (L’Accoglienza), S. 99–102, Serie III, Bd. 3c (Silvana), S. 614, 633–636. So z. B. in WeGA Serie II, Bd. 1 (Der erste Ton), S. 92–96 oder in Serie III, Bd. 3c (Silvana), S. 579f. und 598. Giambattista Casti. Antonio Salieri. Prima la musica e poi le parole. Divertimento teatrale in un atto, hrsg. von Thomas Betzwieser und Adrian La Salvia (= Opera. Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen, Bd. 1), Kassel 2013.
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Andererseits lässt sich feststellen, dass digitale Editionen auch auf die analogen Geschwister zurückwirken.77 So werden komplette Wiedergaben etwa von Briefen, Aufführungsbesprechungen oder Rezensionen inzwischen unter Verweis auf die digitale Publikation weitgehend vermieden. Bedeutsamer sind aber Versuche einer klareren Strukturierung der Varianten- und Lesartenverzeichnisse im Hinblick auf eine raschere Auswertbarkeit durch die Leser der Bände. Dies betraf in der WeGA die Vergabe von „Kategorien“ innerhalb der Anmerkung, von Auszeichnungen durch Groß- oder Kleinsatz, kursive oder halbfette Hervorhebungen und unterschiedlichste Formen der Einbeziehung von Grausatz oder grauer Unterlegung.78 Solche didaktischen Hilfsmittel können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Transparenz, die die digitale Edition ermöglicht, im analogen Medium nicht – oder nur mit hohen Kosten verbunden – erreichbar ist. Es kann daher als sicher gelten, dass angesichts der Anforderungen an Transparenz und bequeme Nutzbarkeit (aber auch Weiterverwertbarkeit von Ergebnissen) künftige Editionen digitale sein werden und die Hybridität allenfalls in der Herstellung eines für die Praxis bequemeren Partitur- und Stimmenausdrucks bestehen wird – wobei selbst in dieser Frage nicht das letzte Wort gesprochen ist. Die WeGA wird bis zu ihrem projektierten Ende im Jahr 2026 am gedruckten Band festhalten und parallel dazu einzelne Editionen auch digital vorlegen. Ob aber nicht doch in den verbleibenden zwölf Jahren der digitale Anteil wachsen und die Aufgaben der Printedition verändern wird, kann angesichts der immer rascheren Innovationszyklen kaum vorausgesagt werden. Mit Sicherheit werden aber neue Editionsparadigmen auch aus der jetzt erscheinenden Weber-Ausgabe mittelfristig einen bloßen Baustein der umfassenderen Geschichte der Weber-Editionen machen und die papierenen Denkmäler in das verwandeln, was sie laut Georg von Dadelsen idealerweise sein sollen: ein Anfang, mit dem die Diskussionen um ein Werk erst beginnen.79 In diesem Sinne wird „Abgeschlossenheit“ kein Kriterium künftiger digitaler Editionen mehr sein können. ____________ 77 78 79
Vgl. dazu Joachim Veit, Es bleibt nichts, wie es war – Wechselwirkungen zwischen digitalen und „analogen“ Editionen, in: editio 24 (2010), S. 37–52. Beispielhaft hierfür können folgende Bände genannt werden: Serie III, Bd. 4 und 11b, Serie V, Bd. 6, Serie VI, Bd. 1, 2 und 3. Georg von Dadelsen, Friedrich Smends Ausgabe der h-moll-Messe von J. S. Bach, in: Die Musikforschung 12 (1959), S. 315ff., wiederabgedruckt in: Über Bach und anderes. Aufsätze und Vorträge 1957–1982, hrsg. von Arnold Feil und Thomas Kohlhase, Laaber 1983, S. 18– 40; Zitat dort S. 39 („die Diskussion ist mit der Neuausgabe eines Werkes nicht abgeschlossen, sie soll vielmehr erst beginnen. Ganze Arbeit zu leisten und dennoch einzugestehen, daß diese Arbeit erst ein Anfang ist: das scheint uns die schwerste Forderung an den Editor“).
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Ausgaben Œuvres complets composées pour le Pianoforte seul par Ch. M. de Weber, Wien: M. J. Leidesdorf, 2 Bde., 1828 Collection complète des Œuvres composés pour le Piano-Forte par Ch. M. de Weber, Paris: Maurice Schlesinger, 3 Bde. (= 10 Hefte), 1829–1831 C. M. von Weber’s Piano Forte Works, edited by J. Moscheles, London: Chappell, in mindestens 32 Heften, ca. 1850 Compositionen von Carl Maria von Weber. […] Erste rechtmässige Gesammtausgabe, revidirt und corrigirt von H. W. Stolze, Wolfenbüttel: L. Holle, 3 Bde. (= 48 Hefte), 1857/58 C. M. v. Webers Werke. Gesammtausgabe, Berlin: Schlesinger, 11 Bde., 1869/70 Reliquienschrein des Meisters Carl Maria von Weber, hrsg. von Leopold Hirschberg, Berlin, Hamburg, Leipzig: Morawe & Scheffelt 1927 Carl Maria von Weber. Musikalische Werke, 2 Bde. bei Filser, Augsburg (1926/28), 1 Bd. bei Litolff, Braunschweig (1939), danach nicht weitergeführt Carl Maria von Weber. Sämtliche Werke, Mainz: Schott, 1998ff.
Literaturverzeichnis Bartlitz, Eveline: Carl Maria von Weber. Autographenverzeichnis (= Deutsche Staatsbibliothek. Handschrifteninventare, Bd. 9), Berlin 1986 Bartlitz, Eveline (Hrsg.): Mein vielgeliebter Muks. Hundert Briefe Carl Maria von Webers an Caroline Brandt aus den Jahren 1814–1817, Berlin 1986 Bartlitz, Eveline: „… so wird nach u. nach doch Gesamtausgabe“. Ein Blick auf Ideen und Versuche einer Brief-Gesamtausgabe Carl Maria von Webers im 19. und 20. Jahrhundert, in: Weberiana. Mitteilungen der Internationalen Carl-Maria-von-Weber-Gesellschaft e. V., Heft 23 (2013), S. 99–118 Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe (WeGA). Editionsrichtlinien für die Notenbände, 1. Auflage, Detmold, Juni 1994, Redaktion: Joachim Veit, Frank Ziegler (maschr. vervielfältigt), Überarbeitungen Oktober 1997 und Juni 1999 Carl Maria von Weber und der Gedanke der Nationaloper. 2. Wissenschaftliche Konferenz zum Thema „Dresdner Operntraditionen“ 1986, hrsg. von Günther Stephan und Hans John (= Schriftenreihe der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“, 10. Sonderheft), Dresden 1987 Digitale Edition zwischen Experiment und Standardisierung. Musik – Text – Codierung, hrsg. von Peter Stadler und Joachim Veit (= Beihefte zu editio, Bd. 31), Tübingen 2009 Editionsrichtlinien Musik, hrsg. von Bernhard R. Appel u. Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000 Hinterlassene Schriften von Carl Maria von Weber, hrsg. von Theodor Hell, d. i. Karl Gottfried Theodor Winkler, Dresden, Leipzig 1828, Bd. 1–3 Jähns, Friedrich Wilhelm: Carl Maria von Weber in seinen Werken. Chronologisch-thematisches Verzeichniss seiner sämmtlichen Compositionen, Berlin 1871 Kaiser, Hermann: Die preußische Gesetzgebung in Bezug auf Urheberrecht, Buchhandel und Presse, Berlin 1862 Kawohl, Friedemann: Urheberrecht der Musik in Preußen (1820–1840) (= Quellen und Abhandlungen zur Geschichte des Musikverlagswesens, Bd. 2), Tutzing 2002 Mertens, Gustav: Ueber Nachdruck, mit Rücksicht auf C. M. von Weber’s Clavier-Compositionen. Erste rechtmäßige Gesammtausgabe redigirt und corrigirt von H. W. Stolze. Eine Skizze aus der Tagesgeschichte, Berlin 1857 Perspektiven digitaler Musikedition. Themenheft der Zeitschrift Die Tonkunst 5 (2011), S. 283–325 Röwenstrunk, Daniel: Die digitale Version von Webers Klarinettenquintett. Ein Vergleich der Edirom-Versionen 2004 und 2008, in: Digitale Edition zwischen Experiment und Standardisierung. Musik – Text – Codierung, hrsg. von Peter Stadler und Joachim Veit (Beihefte zu editio, Bd. 31), Tübingen 2009, S. 61–78
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Schnieders, Ralf: Neue Medien in der Editionswissenschaft. Die Problematik des kritischen Berichts bei der Edition musikalischer Werke, dargestellt am Beispiel des Klarinettenquintetts von Carl Maria von Weber. Schriftliche Hausarbeit vorgelegt im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt für die Sekundarstufe I und II in Musik, Detmold, 2002 Veit, Joachim: Zur Frage der Partituranordnung bei Weber, in: Weber-Studien, Bd. 3, Mainz 1996, S. 201–221 Veit, Joachim: Es bleibt nichts, wie es war – Wechselwirkungen zwischen digitalen und „analogen“ Editionen, in: editio 24 (2010), S. 37–52 Weber – Jenseits des „Freischütz“. Referate des Eutiner Symposiums 1986 anläßlich des 200. Geburtstages von Carl Maria von Weber, hrsg. von Friedhelm Krummacher und Heinrich W. Schwab (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 32), Kassel 1989 Ziegler, Frank: Verschollene Dokumente zu Carl Maria von Webers Vertragsabschlüssen mit Adolph Martin Schlesinger, in: Weberiana. Mitteilungen der Internationalen Carl-Maria-vonWeber-Gesellschaft e. V., H. 23 (2013), S. 77–97 Zimmer, Herbert: Julius Rietz als Herausgeber Weberscher Werke, in: Deutsche Musikkultur 2 (1937/38), S. 268–275
Links http://www.edirom.de http://www.freischuetz-digital.de http://music-encoding.org http://tei-c.org http://www.weber-gesamtausgabe.de
Walther Dürr, Michael Kube, Michael Raab
Vom Erlafsee zur Gesamtausgabe. Die Ausgaben der Werke Franz Schuberts
I.
Von Schubert selbst betreute oder veranlasste Drucke
Im Jahr 1922 stellte Otto Erich Deutsch die Frage nach dem „ersten Lied“ Schuberts, genauer, was darunter zu verstehen sei: das erste komponierte Lied, das zuerst aufgeführte, das als erstes gedruckte oder aber das als erstes „Werk“ gedruckte. Aus seinen Überlegungen ergab sich ihm eine zunächst erstaunliche Reihenfolge, in der dem 1821 in Kommission erschienenen Erlkönig (D 328) sowohl Hagars Klage (D 5) von 1811 als erstes (erhaltenes) Lied sowie drei zwischen 1817 und 1820 in Almanachen und Zeitschriften erschienene Lieder vorangestellt werden. Als erstes „Lied“ im eigentlichen Sinne fügte er noch das 1814 entstandene Gretchen am Spinnrade (D 118) hinzu. Seine Publikation trägt folgerichtig (und Aufmerksamkeit heischend) den Titel Franz Schubert. Fünf erste Lieder.1 Natürlich ist Deutschs Auflistung „fünf erster Lieder“ cum grano salis zu nehmen, doch sind damit mehrere wichtige Punkte oder Stadien der DruckGeschichte zu Schuberts Lebzeiten angesprochen. Schon früh, dem Druck vorausgehend und anfangs noch parallel dazu, zirkulierten zahlreiche Werke Schuberts in Abschriften; als prominentes Beispiel sei Die Forelle genannt. Ebenfalls früh erfolgten dann die ersten Veröffentlichungen in Periodika, also in Almanachen und Zeitschriften (später auch in speziellen Sammeldrucken). Die ersten Werke erschienen dann zunächst in Kommission, gefolgt von der „normalen“ Inverlagnahme seiner Werke. Im Frühjahr 1817 sandte Schubert eine Abschrift des gerade entstandenen Erlkönig an Breitkopf & Härtel in Leipzig mit der Anfrage, dieses Werk in Verlag zu nehmen. Die Rücksendung erfolgte wohl mehr oder weniger kommentarlos, pikanterweise zunächst an einen anderen Komponisten gleichen Namens.2 Und ebenfalls erfolglos war im Jahr zuvor die an Goethe gerichtete ____________ 1 2
Otto Erich Deutsch, Franz Schubert. Fünf erste Lieder, Wien 1922. Vgl. Otto Erich Deutsch (Hrsg.), Schubert. Die Dokumente seines Lebens (= Neue SchubertAusgabe, Bd. VIII, 5), Kassel 1964, S. 51. Schuberts Brief ist nicht erhalten; die Tatsache ist
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Walther Dürr, Michael Kube, Michael Raab
Bitte geblieben, für die Pläne einer Veröffentlichung der Lieder ein gutes Wort einzulegen, von denen er eine Probe – ausschließlich Goethe-Lieder – dem Schreiben von der Hand Josef von Spauns beigelegt hatte. Teile dieser Reinschrift – sowie zahlreicher weiterer – sind erhalten. Sie belegen, dass in Wien (und auch außerhalb)3 zu dieser Zeit in verschiedenen privaten und (halb-)öffentlichen Zirkeln und Vereinen häufig Werke Schuberts aufgeführt wurden. Es handelte sich dabei vornehmlich um Vokal- und Kammermusik, aber auch um kirchenmusikalische Werke, und im Juni und August 1820 gelangten sogar Bühnenwerke, Die Zwillingsbrüder (D 647) und Die Zauberharfe (D 644), zur Aufführung.4 Das Jahr 1818 brachte einen ersten verlegerischen Erfolg. Im Mahlerischen Taschenbuch für Freunde interessanter Gegenden, Natur- und Kunst-Merkwürdigkeiten der Österreichischen Monarchie wurde das Gedicht Am Erlafsee des Freundes Johann Mayrhofer gedruckt. Es wurde „begleitet“ von einem illustrierenden Stich und Schuberts kurz zuvor (eigens hierfür)5 entstandener Vertonung. Die Liedbeilage Erlafsee (D 586) ist damit Schuberts erste gedruckte Veröffentlichung. Es folgten 1820 das Lied Widerschein (D 639) in W. G. Becker’s Taschenbuch zum geselligen Vergnügen6 und das (zu diesem Zeitpunkt schon recht bekannte und in Abschriften weit verbreitete) Lied Die Forelle (D 550) in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode im Verlag von Anton Strauss. Weitere Kontaktversuche zu Wiener Verlegern waren nicht von Erfolg gekrönt; überliefert ist der Ausspruch des Verlegers Domenico Artaria „Schülerarbeit nehme ich nicht“, als Schubert ihm ein frühes Streichquartett angeboten hatte.7 So ist es letztlich der Initiative der Freunde Schuberts zu verdanken, dass seine ersten Werke in Kommission erscheinen konnten. Leopold von ____________
3
4 5 6 7
nur bekannt durch den an den Verlag gerichteten Antwortbrief des gleichnamigen Dresdner Komponisten, der sich dagegen verwahrte, „dergleichen Machwerk“ komponiert zu haben. Vgl. hierzu ausführlich Walther Dürr, Vom Bittsteller zum Umworbenen, in: Schubert Handbuch, hrsg. von Walther Dürr und Andreas Krause, Kassel, Stuttgart 1997, S. 66–76, hier S. 67. In Graz wurde in einem Konzert des Steyermärkischen Musikvereins (20. April 1820) eine „neue Ouverture“ Schuberts (wohl D 648) gespielt. Es handelte sich dabei um die erste Aufführung eines Werkes Schuberts außerhalb Wiens. Vgl. Till Gerrit Waidelich, Franz Schubert. Dokumente 1817–1993, Bd. 1: Texte (= Veröffentlichungen des Internationalen Franz Schubert Instituts, Bd. 10, 1), Tutzing 1993, Dok. 27. Vgl. ebd., Dok. 28 und 43 und passim. Der Almanach erschien zu Anfang des Jahres 1818 (angezeigt am 24. Januar 1818), das Liedautograph ist mit „September 1817“ datiert. Der Hauptverlagsort dieses von Friedrich Kind herausgegebenen Almanachs war interessanterweise Leipzig. Heinrich Kreißle von Helborn, Franz Schubert, Wien 1865, S. 267. Es handelte sich mit aller Wahrscheinlichkeit um das Streichquartett D 74 aus dem Jahr 1813. Schubert war zu dieser Zeit noch Schüler Salieris.
Die Ausgaben der Werke Schuberts
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Sonnleithner und Anselm Hüttenbrenner ließen im April 1821 den Erlkönig auf eigene Kosten stechen und unter der (von Schubert bestimmten) Opuszahl 1 bei Diabelli in Kommission erscheinen. Der (Verkaufs-)Erfolg gab ihnen Recht; von den Einnahmen dieses ersten Heftes konnten Stich und Druck der folgenden Hefte bezahlt werden. Ebenfalls in Kommission erschienen 1821 die Liederhefte op. 1 bis 7 und Ende 1822 op. 12 bis 14. Sie wurden zunächst bei den zahlreichen Privatkonzerten mit Werken Schuberts verkauft und waren etwas später wohl auch bei Diabelli erhältlich. Dabei sind nur die Hefte op. 1 bis 7 ausdrücklich als „in Kommission“ erschienen bezeichnet; dieser Vermerk fehlt bei den späteren Liederheften wie auch bei den im November 1821 publizierten Tänzen op. 9 sowie der Fantasie op. 15 und der Walzer op. 18 vom Februar 1823. Den zehn Lieder-Heften ist aber gemeinsam, dass sie in den frühesten Druckstadien auf der Rückseite meist sogenannte „Kontroll-Vermerke“ tragen, über deren Authentizität und Sinn lange Unklarheit herrschte.8 Als erste Werke „in Eigenthum“ der Verleger kamen 1822 das Liederheft op. 8, die Variationen op. 10 und die Vokalquartette op. 11 heraus. Letztere schienen dem Verleger relativ risikolos zu verkaufen, bei op. 10 mag die Widmung an Beethoven für die Inverlagnahme ausschlaggebend gewesen sein. Um das Liederheft op. 8 in der gewünschten Form verlegen zu können, musste Diabelli die Rechte an dem darin enthaltenen Lied Erlafsee beim Originalverleger Strauss erwerben. Bemerkenswert daran ist, dass Schubert offenbar schon zu diesem Zeitpunkt seine Wünsche gegenüber dem Verleger durchsetzen konnte.9 Im Lauf des Jahres 1822 und zu Beginn des folgenden Jahres hat Schubert die bis dahin erschienenen und in Auftrag gegebenen Werke in zwei Etappen an Diabelli verkauft. Diese Veräußerung der „Platten und Rechte“ geschah hinter dem Rücken der Freunde Schuberts – die darüber zumindest enttäuscht gewesen sein dürften; sie brachte Schubert nach deren Aussagen etwa 800 Gulden Konventionsmünze ein. Die abweichende Erscheinungsfolge und die unterschiedliche Gestaltung des Impressums deuten auf gewisse Reibungen im Geschäftsablauf mit dem Verlag hin. Eine noch deutlichere Sprache sprechen in dieser Hinsicht zwei Briefe Schuberts an Cappi & Diabelli, in denen er sich über die Erscheinungsweise der Werke und die Abrechnungsmodalitäten be____________ 8
9
Vgl. hierzu Ernst Hilmar, Abschließendes zum Thema Paraphe, in: Schubert durch die Brille. Mitteilungen 29 (Juni 2002), S. 29–33; Thomas Aigner, Sinn und Zweck von Paraphe und Kontrollnummer, in: Schubert durch die Brille. Mitteilungen 30 (Januar 2003), S. 111–114; sowie die teils gegenteilige Position Ulrich Drüners in: Otto Haas. Catalogue 40, London 2003, S. 15–17. Zu Schuberts klaren Vorstellungen über die Zusammensetzung seiner Liederpublikationen vgl. Dürr, Vom Bittsteller zum Umworbenen (wie Anm. 2), S. 68f.
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schwerte.10 Offenbar bewog ihn dies, nach einem anderen Verleger Ausschau zu halten: Schon im Jahr 1822 stand Schubert in Kontakt mit Sauer & Leidesdorf, bei dem im Januar des folgenden Jahres der Walzer D 971 in der Sammlung Carnaval erschien. Im Brief vom 8. April 1823 teilte Schubert Diabelli schließlich mit, er sei „mit einem anderen Kunsthändler in ein dauerndes Verhältnis getreten“.11 Tatsächlich hatte er Sauer & Leidesdorf vertraglich die Lieferung einer bestimmten Anzahl von neuen Werken zugesagt, die in den Jahren 1823/1824 unter den Opuszahlen 20 bis 30 auch sämtlich erschienen. Den Anfang machte im April 1823 das Liederheft op. 20. 1824 kam der Zyklus Die schöne Müllerin op. 25 (in drei zeitlich weit auseinanderliegenden Lieferungen, was Schuberts Unmut erregte) heraus,12 und im September endlich auch das erste Streichquartett a-moll (D 804). Es ist im Titel stolz als „op. 29 No. 1“ bezeichnet; unter dieser Opusnummer erschienen jedoch keine weiteren Quartette.13 Die Publikation in Periodika und Sammeldrucken hatte Schubert auch mit der Herausgabe seiner Werke in „richtigen“ Musik-Verlagen nicht aufgegeben; er ließ auf diese Art auch in den folgenden Jahren regelmäßig einzelne Lieder und Klavierstücke erscheinen. Zahlreiche Lieder wurden in Strauss’ Wiener Zeitschrift als Beilagen veröffentlicht, und auch in den zu bestimmten Anlässen herausgegebenen Sammlungen mit Titeln wie Carnaval, Halt’s enk z’samm, La Guirlande (alle bei Sauer & Leidesdorf), Terpsichore (Mechetti) oder Musikalisches Angebinde (Müller) war Schubert vertreten. Zwischen 1817 und 1828 erschienen so insgesamt 35 Werke. Gut die Hälfte davon waren Lieder, die alle in den Jahren 1827/1828 von Diabelli aufgekauft und wiederveröffentlicht wurden.14 Diese Werke stellten zudem schon 1825 eine Brücke zur Wiederaufnahme der Geschäftsbeziehungen Schuberts zu Diabelli dar. Zwar war noch im Jahr 1824 in der Sammlung Vaterländischer Künstlerverein ein Beitrag Schuberts erschienen.15 Da Planung und Komposition noch in das Jahr 1822 fallen, stellt ____________ 10 11 12
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Vgl. Briefe vom 21. Februar 1823 und vom 8. April 1823 in: Deutsch, Schubert. Dokumente (wie Anm. 2), S. 185 und 188. Ebd., S. 188. In einem Brief im August 1824 schreibt Schubert an Moritz von Schwind: „zum Teufel hinein! Mit den Müllerliedern gehts auch so langsam, alle 4tel Jahr wird ein Heft gezöt’t [herausgebracht]“ (zitiert nach Deutsch, Schubert. Dokumente [wie Anm. 2], S. 255). Zu Schuberts Lebzeiten erschien kein weiteres Quartett; als nächstes größeres Kammermusikwerk wurde wenige Wochen vor Schuberts Tod das Klaviertrio op. 100 gedruckt. Das Trio op. 99 wurde von Diabelli bis 1836 zurückgestellt! Dies mag vielleicht schon als Hinweis auf Diabellis Rolle als Hauptverleger Schuberts in den Jahren nach 1830 verstanden werden. Der zweite Teil der Sammlung Vaterländischer Künstlerverein war die erste eigene Publikation Diabellis nach der Übernahme des Verlages. Als erster Teil waren 1823 noch im Vorgängerver-
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dies keine neue Kontaktaufnahme oder gar eine Wiederaufnahme der Geschäftsbeziehungen zwischen Schubert und Diabelli dar. Diese erfolgte wohl erst mit der Veröffentlichung des Liedes Die Forelle im Januar 1825, das Diabelli vom Erstverleger Strauss erwerben musste. Das Lied erschien zunächst in der Reihe Philomele, erst zwei Jahre später wurde die (offenbar freigehaltene) Opuszahl 32 hinzugefügt. Im Lauf des Jahres 1825 hatten sich die Beziehungen Schuberts zu Diabelli damit normalisiert,16 doch ließ Schubert seine Werke inzwischen bei mehreren Wiener Verlegern erscheinen. Wurden bei Diabelli zwischen Juni und September mehrere Kirchenmusikwerke (op. 45 bis 48) gedruckt, so erhielten Cappi & Co. mehrere Instrumentalwerke (Tänze op. 33, Ouvertüre op. 34), und Anton Pennauer publizierte neben den Liedern op. 43 und 31 auch die erste Grande Sonate für Klavier op. 42. Im Jahr 1826 kommen als weitere Verleger Domenico Artaria (Gesänge nach Scott op. 52, zweite Klaviersonate op. 53) und Thaddäus Weigl (Lieder op. 57, 58) hinzu und 1827 zuletzt Tobias Haslinger, der zweite große Verleger Wiens, bei dem auch Werke Beethovens erschienen waren. Haslinger veröffentlichte Schuberts op. 77 bis 81 und im Todesjahr auch den Zyklus Winterreise op. 89. 1828 schließlich erschien das erste Werk Schuberts außerhalb Wiens, noch dazu ein großes Instrumentalwerk: Heinrich Albert Probst in Leipzig druckte das Es-Dur-Klaviertrio (D 929) als op. 100 und übernahm zugleich einige Lieder (publiziert als op. 101).17 Auch zu den Verlagen Schott in Mainz und Peters in Leipzig hatte Schubert mittlerweile erfolgreich Kontakte aufgebaut. Wie einige Briefe belegen, waren beide Firmen an der Inverlagnahme mehrerer Werke interessiert; Schuberts Tod verhinderte jedoch die Ausführung der Pläne und die Aufnahme konkreter Geschäftsbeziehungen. Am Ende seines Lebens hatte Schubert das erreicht, was für ihn als Ziel schon am Anfang gestanden hatte. Seine Werke wurden in allen wichtigen Wiener Verlagen und auch in Leipzig (bei Probst) gedruckt; weitere ausländische Verleger waren an seinen Werken interessiert. Schubert war damit endgültig „vom Bittsteller zum Umworbenen“ geworden.18 Zu Schuberts Lebzeiten sind 100 Drucke mit Opuszahlen veröffentlicht worden (120, wenn die Drucke des Jahres 1829 dazugerechnet werden, deren ____________
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lag Cappi & Diabelli Beethovens 33 Veränderungen über einen Walzer op. 120, die sogenannten Diabelli-Variationen, erschienen. Ein äußeren Zeichen ist auch das Erscheinen von op. 19 in diesem Jahr, das von Diabelli wohl nicht nur wegen des Ausbleibens der Zustimmung durch den Widmungsempfänger Goethe zurückgestellt worden war. Zur Vergabe der Opuszahlen vgl. Ernst Hilmar, Authentische Opuszahlen in Schuberts Werk?, in: Schubert durch die Brille. Mitteilungen 18 (Januar 1997), S. 8–13. Vgl. den Titel bei Dürr, Vom Bittsteller zum Umworbenen (wie Anm. 2).
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Drucklegung Schubert in einigen Fällen wohl noch selbst eingeleitet hatte), mit insgesamt ungefähr 400 Werken (nach Deutsch-Nummern) war damit nahezu die Hälfte seines Schaffens im Druck erschienen. Allerdings handelte es sich dabei in der Hauptsache um die „kleineren“ Werke, vornehmlich Lieder und Klavierwerke. Von den ihm so wichtigen größeren Kammermusik-Werken wie dem Streichquintett, dem Oktett, den Streichquartetten u. a. lag nur das a-MollQuartett op. 29 im Druck vor.19 Auch von den Klaviersonaten waren nur zwei publiziert worden (op. 42 und 53), dagegen keine seiner Sinfonien und Opern. Die Festlegung Schuberts als Liederkomponist, der er selbst in den Publikationen der Jahre 1828/1829 mit zunehmendem Erfolg entgegenzuwirken versuchte, wird durch die weitere Druckgeschichte noch bestätigt, hier vor allem durch das Wirken Anton Diabellis. (Michael Raab)
II.
Frühe postume Ausgaben Schubert’scher Werke
In unmittelbarem Zusammenhang mit Schuberts Tod am 19. November 1828 wurden von verschiedenen, dem Komponisten seit langem verbundenen Wiener Verlagen Anzeigen veröffentlicht, in denen auf seinen Nachlass und auf Publikationspläne aufmerksam gemacht wird. Das beginnt in der Wiener Zeitung vom 20. Dezember 1828 mit einem Hinweis des Verlegers Tobias Haslinger auf „vierzehn noch ganz unbekannte Gesänge“,20 die als Schwanengesang (D 957/965 A) dann allerdings erst um den 1. Mai 1829 erschienen sind.21 Am letzten Tag in Schuberts Todesjahr, dem 31. Dezember 1828, meldete sich in derselben Wiener Zeitung der Verleger Josef Czerny mit dem Hinweis, er habe „aus der Verlassenschaft des leider! zu früh verstorbenen genialen Tonsetzers Franz Schubert, 18 Gesänge und 1 Quartett für Streich-Instrumente in E-Dur mit Verlagsrecht, käuflich an sich gebracht“, sie würden „noch im Laufe des Jahres 1829 im Drucke erscheinen“.22 Tatsächlich erschienen bei Czerny 1829 vierzehn Gesänge;23 1830 folgten noch vier weitere.24 Hinzu kamen das sogenannte Forellenquintett D 667 (April/Mai 1829, op. 114), die Klaviersonate in ____________ 19 20 21 22 23
24
Dies vermutlich nur, weil Schubert dies zur Bedingung seines Wechsel zu Sauer & Leidesdorf gemacht hatte. Vgl. Waidelich, Franz Schubert. Dokumente 1817–1993 (wie Anm. 3), S. 458. Angezeigt in den Wiener Zeitung am 4. Mai 1829. Vgl. Waidelich, Franz Schubert. Dokumente 1817–1993 (wie Anm. 3), S. 466. Es handelt sich um die Liederhefte op. 110 (Januar; Lied D 594), op. 111 (Februar; drei Lieder D 189, 395, 391), op. 112 (März; drei mehrstimmige Gesänge, D 985, 986, 232), op. 117 (Juni; Lied D 149), op. 118 (Juni; sechs Lieder D 221, 233, 234, 248, 270, 247). Op. 126 (Januar; Lied D 134), op. 131 (November; drei Lieder D 141, 148, 23).
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A-Dur D 664 (September 1829, op. 120), zwei Streichquartette in Es-Dur und E-Dur D 87 und 353 (März 1830, op. 125) und endlich das Streichquartett in d-Moll D 810 (Februar 1831, ohne Opuszahl). Das sind alle in der Anzeige genannten Werke sowie einige darüber hinaus, die Czerny zum Teil bereits noch von Schubert selbst (wie das Forellenquintett und das d-Moll-Quartett) oder nachträglich von dem Nachlassverwalter Ferdinand Schubert erhalten haben mochte. Auffällig ist, dass sie – wie die Opuszahlen zeigen – einen ziemlich einheitlichen Block bilden und tatsächlich in rascher Folge erschienen sind (1844 ging der Verlag an A. O. Witzendorf über,25 der – allerdings erst 1865 – das Adagio e Rondo concertante D 487 herausbrachte). Zwischen die bei Czerny erschienenen Werkgruppen schieben sich noch drei Opera die, ebenfalls 1829, der Verlag M. J. Leidesdorf veröffentlicht hat: die Opera 115, 116 und 119.26 Die Formulierung der Anzeige in der Wiener Zeitung bei dem zuerst erschienenen Opus 116 erinnert an die von Josef Czerny, ist jedoch nicht so auffällig: Sie entspricht den üblichen Ankündigungen Schubert’scher Werke, vermeidet den Hinweis auf den Nachlass – gibt aber folgenden Zusatz: „In Kurzem folgen mehrere neue Lieder dieses Tonsetzers […]; ferner mehrere Instrumental-Compositionen, welche […] von nun an in M. J. Leidesdorf’s Verlagshandlung in einer ununterbrochenen Folgenreihe publiciert werden.“27 Die angekündigten Instrumentalwerke sind bei Leidesdorf freilich nicht mehr herausgekommen: 1835 verkaufte er den Verlag – und damit auch die Rechte und Manuskripte der noch unveröffentlichten Kompositionen Schuberts in seinem Besitz – an den Konkurrenz-Verlag Anton Diabelli & Co. Dieser hatte die Ankündigungen Haslingers, Czernys und Leidesdorfs in einer Notizen überschriebenen Mitteilung im Wiener Allgemeinen Musikalischen Anzeiger vom 6. Februar 1830 noch überboten (wenn der Text nicht unmittelbar von den Verlegern herrührt, dann ist er von ihnen doch mindestens angeregt, denn er geht auf detaillierte Verlagsinformationen zurück): Die hiesige Kunsthandlung Diabelli et Comp. hat den gesammten Nachlaß der Franz Schubert’schen Compositionen an sich gekauft. In diesem Nachlasse sollen, dem Vernehmen nach, noch gegen 300 Lieder von verschiedenem Umfange sich befinden. Wie wünschenswerth müßte es nicht den zahlreichen Verehrern dieses genialen ____________ 25 26 27
Alexander Weinmann, Verlagsverzeichnis Giovanni Cappi bis A. O. Witzendorf (= Beiträge zur Geschichte des Alt-Wiener Musikverlages II, 11), Wien 1967, S. XIII. Op. 115 (Juni; drei Lieder D 917, 260, 410), op. 116 (April; Lied D 159), op. 119 (Oktober; Lied D 943). Vgl. Franz Schubert. Dokumente 1801–1830. Erster Band. Texte [nach gedruckten Quellen]. Addenda und Kommentar, hrsg. von Ernst Hilmar (= Veröffentlichungen des Internationalen Franz Schubert Instituts 10/II), Tutzing 2003, S. 378.
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Tonsetzers seyn, eine gleichartig ausgestattete Gesammtausgabe seiner so sehr zerstreut erschienenen Werke zu besitzen! Und dieß ist eine Erörterung, welche jetzt nicht zum ersten Mahle ausgesprochen wird, da wir uns erinnern, daß sich schon auswärts eine beachtenswerthe Stimme darüber hat vernehmen lassen.28
Der Verlag hatte in der Tat am 29. November 1829 von Ferdinand Schubert „sämtliche Lieder für eine Singstimme mit Begleitung des Piano-Forte von der Composition meines Bruders“ erworben, darüber hinaus noch die Klavier- und Kammermusik; ausgenommen waren die Opern, die mehrstimmigen Gesänge, die Sinfonien und Ouvertüren sowie die Messen.29 Eine „Gesamtausgabe“ ist daraus zwar nicht geworden, doch hat der Verlag in den Jahren 1830–1850, neben zahlreichen geistlichen und Instrumentalwerken,30 unter dem Sammeltitel Franz Schubert’s nachgelassene musikalische Dichtungen insgesamt 147 ____________ 28 29
30
Waidelich, Franz Schubert. Dokumente 1817–1993 (wie Anm. 3), S. 570. Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde, hrsg. von Otto Erich Deutsch, Leipzig 21966, S. 445–447. Ferdinand Schubert verkaufte die Rechte (und einen großen Teil der Manuskripte) offenbar, ohne sich mit den Miterben abgesprochen zu haben; dies hat er, wie Deutsch meint, Anfang 1830 nachgeholt (vgl. ebd., S. 447–449), vielleicht aber auch erst bedeutend später. Bei den ausgeschlossenen Werken nannte Ferdinand auch die „Oratorien“ und „die Kantaten für ein ganzes Orchester“ – doch ist nicht ganz klar, was er darunter verstand; die „Osterkantate“ Lazarus (D 689) jedenfalls war dem Verlag ebenso überlassen worden wie eine Ouvertüre in D-Dur (vermutlich D 590 „im italienischen Stile“), das deutsche Stabat mater (D 383) – von Ferdinand als „Oratorium“ bezeichnet – und die Kantate zum Geburtstag des Sängers Johann Michael Vogl (D 666, bei Ferdinand „Cantate“); vgl. hierzu Ferdinand Schuberts Verzeichniß der 1839 noch ungedruckten Kompositionen seines Bruders, in: Aus Franz Schubert’s Leben, in: Neue Zeitschrift für Musik 10 (1839), S. 139. Bei der folgenden Liste ist zu bedenken, dass der Stich eines Werkes oft sehr viel früher vorbereitet war (und dementsprechend die Opuszahl vergeben wurde), als der Erscheinungstermin vermuten lässt. Verzeichnet werden sämtliche bei Diabelli & Co. erschienenen Opera (d. h. nicht mehr die seit 1851 von seinem Nachfolger C. A. Spina allein betreuten): op. 113, Sechs Antiphonen D 696 (März 1829); op. 121, Deux Marches Caractéristiques D 968 B (Dezember 1829); op. 127, Zwanzig Walzer D 146 (Februar 1830); op. 128, Kantate zu Ehren von Josef Spendou D 472 (Juni 1830); op. 132, Der 23. Psalm D 706 (März 1832); op. 136, Mirjams Siegesgesang D 942 (ca. 1839); op. 137, Drei Sonatinen für Violine und Klavier D 384, 385, 408 (1836); op. 138, Rondo in D für Klavier zu 4 Händen D 608 (Dezember 1834); op. 140, Sonate in C für Klavier zu 4 Händen D 812 (Dezember 1837); op. 142, 4 Impromptus D 935 (April 1839); op. 143, Sonate in a D 784 (April 1839); op. 144, Allegro in a für Klavier zu 4 Händen D 947 (April 1840); op. 145, Adagio und Rondo D 505/506 (Ostern 1848); op. 147, Sonate in H D 575 (Mai 1846); op. 148, Klaviertrio „Notturno“ D 897 (Dezember 1846); op. 149, Salve Regina D 811 (Oktober 1850); op. 150, Graduale D 184 (ca. 1843); op. 152, Fuge in e D 952 (Dezember 1848); op. 153, Salve Regina D 676 (März 1845); op. 154, Hymnus an den heiligen Geist D 948 (Juni 1849); op. 159, Fantasie in C für Violine und Klavier D 934 (1850); op. 160, Variationen in e für Flöte und Klavier D 802 (April 1850); op. 161, Streichquartett in G D 887 (November 1851); op. 162, Sonate in A für Violine und Klavier D 574 (Ende 1851). Hinzu kommen die mehrstimmigen Gesänge op. 133, Gott in der Natur D 757 (November 1839); op. 134, Nachthelle D 892 (Mitte 1839); op. 135, Ständchen D 920 (Anfang 1840); op. 139, Gebet D 815 (Anfang 1840); op. 146, Des Tages Weihe D 763 (Januar 1842); op. 151, Schlachtlied D 912 (ca. 1845); op. 155, Trinklied aus dem 16. Jahrhundert D 847 (Juni 1849); op. 156, Nachtmusik D 848 (1849); op. 157, Am Geburtstage des Kaisers D 748 (Juni 1849); op. 158, Kantate zum Geburtstage des Sängers Johann Michael Vogl D 666 (1849).
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Lieder (von den in der Anzeige erwähnten „noch gegen 300“ Liedern) in 50 Heften herausgebracht – damit waren dann etwa zwei Drittel des Schubert’schen Liedschaffens im Druck erschienen. Die Hefte, auf die Diabellis Nachfolger Spina noch drei mit Opuszahlen bezeichnete folgen ließ – op. 165, 172 (beide 1865) und 173 (1867) mit insgesamt 17 Liedern – ähneln in Umfang und inhaltlicher Gestaltung den von Schubert selbst herausgegebenen Heften: Jedes enthält auf zwischen 10 und 20 gestochenen Seiten meist drei, manchmal auch vier Lieder, oft auch nur einen einzigen umfangreichen Gesang.31 Man wählte dabei zunächst Lieder, die man für bedeutsam hielt oder von denen man sich einen Verkaufserfolg versprach. Bezeichnend ist dabei, dass am Anfang fünf Hefte stehen, die ausschließlich Ossian-Gesänge enthalten. Im Kreise der Schubert-Freunde hielt man sie hoch in Ehren und war vermutlich enttäuscht, dass der Komponist selbst keinen einzigen davon herausgegeben hatte (obwohl es doch in Josef von Spauns zweifellos im Einverständnis mit Schubert formuliertem Brief an Goethe vom 17. April 1816 noch geheißen hatte, der Komponist wolle 8 Hefte mit Liedern zum Druck geben,32 darunter zwei mit Ossian-Gesängen, welche „sich vor allen auszeichnen“). Leopold von Sonnleithner berichtet darüber 1867 in einem Reumütigen Bekenntnis: Anton Diabelli suchte aus den Manuskripten des Nachlasses „diejenigen auszuwählen, welche ihm als für einen größeren Kreis anziehend erschienen und daher bei der Herausgabe einen größeren Absatz hoffen ließen. Dabei wurde ich denn auch öfters zu Rate gezogen“.33 Wie bei Schubert sind in diesen Heften oft Lieder eines einzigen Dichters zusammengestellt: Heft 1–5 Ossian (James MacPherson); Heft 11 und 22 Johann Mayrhofer; Heft 13 Ernst Schulze; Heft 15 Franz von Schlechta; Heft 26 und 27 Carl Gottfried von Leitner; Heft 28 Friedrich Gottlieb Klopstock; Heft 31 Friedrich von Matthisson; Heft 47 Johann Wolfgang von Goethe. Eine besondere Rolle spielten dabei – außer den Ossian-Gesängen – die Goethe- und die Leitner-Lieder: Der Verleger und seine Berater hatten im Falle der GoetheLieder in Heft 47 solche aufgenommen, die als Reinschrift in dem zweiten der beiden von Schubert 1816 im Manuskript zusammengestellten Hefte mit Goe____________ 31 32 33
Heft 1, 3, 5 (Ossian), Heft 6, 8, 12 (Schiller), Heft 16 (Friedrich Schlegel), Heft 26 (Leitner), Heft 32 (Johann Mayrhofer), Heft 43 (Goethe), Heft 46 (Matthäus von Collin). Vgl. oben, S. 431f. und Anm. 2. Schubert. Die Erinnerungen (wie Anm. 29), S. 511; zur Auswahl und Zusammenstellung der „Nachlaßlieferungen“ vgl. Walther Dürr, Franz Schuberts nachgelassene musikalische Dichtungen. Zu Diabellis „Nachlaßlieferungen“ und ihrer Ordnung, in: Festschrift Wolfgang Rehm zum 60. Geburtstag, hrsg. von Dietrich Berke und Harald Heckmann, Kassel [u. a.] 1989, S. 214–225.
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the-Liedern von 1816 enthalten und bis dahin noch nicht gedruckt waren;34 von Leitner hingegen – der Dichter war Schubert durch die ihm seit seinem Besuch in Graz im September 1827 nahestehende Marie von Pachler empfohlen worden – hatte bereits der Komponist selbst vier Lieder zum Druck gegeben; in den beiden Heften 26 und 27 fand man nun alle noch fehlenden. Für diese große Liederausgabe hatte der Verlag sämtliche ihm erreichbaren Lieder in Originalhandschriften oder Abschriften gesammelt und sorgfältig archiviert. Johann Wolf, der in den 1860er Jahren zuständige Archivar, hat auf den Originalmanuskripten (von den Abschriften hat sich kaum eine erhalten) Vermerke zu den Quellen angebracht, auch umfangreiche Querverweise auf ähnlich klingende Liedtitel gegeben und die Lieder (nicht die Manuskripte) gezählt.35 Kopien waren – als Vorlage für die geplanten Drucke – dann notwendig, wenn die Originale entweder zu viele Korrekturen enthielten und damit nur schwer zu lesen waren, wenn sie transponiert werden mussten, weil sie für die Mehrzahl der Käufer zu hoch lagen (das gilt vor allem für die Lieder von 1815 und 1816) oder wenn die Verleger in den Notentext redaktionell eingegriffen haben. Im Allgemeinen sind die bei Diabelli erschienenen Ausgaben sehr vertrauenswürdig, doch schien es dem Verleger – oder Schuberts an der Vorbereitung der Edition beteiligten Freunden – manchmal notwendig, einem von Schubert ohne Vorspiel niedergeschriebenen Lied eine Klaviereinleitung voranzustellen36 und bei mehreren unterschiedlichen ihm zugänglichen Autographen die – nach dem damals vorherrschenden Ideal einer „kritischen ____________ 34
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In Nachlass 47 finden sich die Lieder Nachtgesang (D 119), Der Rattenfänger (D 255), Wer kauft Liebesgötter (D 261), jeweils aus dem zweiten Heft mit Goethe-Liedern, sowie Prometheus (D 674). Zwei weitere Lieder (D 321 und 120) aus diesem Heft waren bereits in Nachlass 20 und 25 erschienen. Nach Abschluss der Nachlasslieferungen waren nur noch drei Lieder aus dem zweiten Goethe-Lieder-Heft ungedruckt, die Diabelli wahrscheinlich für kaum geeignet hielt: Das Bundeslied (D 258) und Der Gott und die Bajadere (D 254), erschienen zuerst 1887 bei Weinberger & Hofbauer, Wien, und Nur wer die Sehnsucht kennt (D 321), zuerst in der Alten Gesamtausgabe. Von den beiden Heften, über die Spaun an Goethe schrieb (Deutsch, Dokumente, S. 40, vgl. Anm.2): „Die ersten beiden [Hefte] (wovon das erste als Probe beiliegt) enthalten Dichtungen Euer Excellenz“, war sicher nur das erste für Goethe bestimmt. Vgl. hierzu Otto Erich Deutsch, Schuberts zwei Liederhefte für Goethe. Ein Rekonstruktionsversuch, in: Die Musik 21 (1928/29), Heft 1, S. 31–37, und Walther Dürr, Aus Schuberts erstem Publikationsplan: zwei Hefte mit Liedern von Goethe, in: Schubert-Studien. Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum Schubert-Jahr 1978, hrsg. von Franz Grasberger und Othmar Wessely, Wien 1978, S. 43–56. In den Kritischen Berichten der Neuen Schubert-Ausgabe findet man die genauen Angaben; eine zusammenfassende Studie dazu ist in Vorbereitung. In Schuberts Zeit wurden solche Vorspiele, wenn nötig, wohl improvisiert; was man in Diabellis Ausgaben findet, entsprach sicher weitgehend der üblichen Praxis, sollte nur im Improvisieren ungeübten Musikliebhabern den Weg weisen; vgl. hierzu die Vorworte der Liederbände der Neuen Schubert-Ausgabe, jeweils S. XIV (Bd. 1–5, 8–11, 14) bzw. XII (Bd. 6f., 12f.).
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Ausgabe“ – für jede Passage „beste“ auszuwählen.37 Vor allem aber bemühte man sich, die Gedichttexte dem literarischen Geschmack der Herausgeber anzupassen. Das betraf zunächst die Ossian-Gesänge: Man war sich in Schuberts Freundeskreis seit jeher bewusst, dass Edmund de Harolds Übersetzung – eine alte „Scharteke“, die Anton Holzapfel seinem Freund geschenkt hatte – „miserabel“ sei, und dass der Komponist „dieses ziemlich dicke Buch später wahrscheinlich verworfen“ habe.38 Für die Erstausgaben wurde der Harold’sche Text daher revidiert und die Musik diesem angepasst – freilich ohne dass die Übersetzung dabei wesentlich gewonnen hätte.39 In anderen Fällen – vor allem im Hinblick auf die Vertonungen Franz von Schlechtas, der auch zu Schuberts Freundeskreis zählte – nahm man Rücksicht auf Textrevisionen durch den Dichter.40 Dabei änderte sich dann gelegentlich selbst das Textincipit: So beginnt Schuberts Lied Widerschein (D 639) in dem nach Schuberts Autograph herausgegebenen Erstdruck (als Beilage zu W. G. Beckers Taschenbuch zum geselligen Vergnügen) mit „Fischer harrt am Brückenbogen“, in Diabellis Nachlasslieferung 15 mit „Tom lehnt harrend an der Brücke“. Bereits unmittelbar nach Schuberts Tod hatte Heinrich Probst in Leipzig eine Ausgabe mit vier Liedern als op. 101 herausgebracht.41 Da mutet es überraschend an, dass Nachdrucke Schubert’scher Werke, die nicht bei den Originalverlegern und ihren Nachfolgern herauskamen, zunächst äußerst selten blieben. Offenbar wussten die Originalverleger ihre Rechte gut zu verteidigen. Erst nach Spinas Tod (1857) häuften sich Neuausgaben, insbesondere bei den Verlagen Friedrich Wilhelm Arnold (Elberfeld), Justus Eduard Böhme (Hamburg) und Breitkopf & Härtel (Leipzig).42 Bemerkenswert sind dabei eine Sammlung Ausgewählte Gesänge (50 Lieder) bei Arnold sowie Lieder und ____________ 37
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Vgl. hierzu etwa die Erstausgabe von Der Taucher D 77 (Nachlasslieferung Heft 12), in: Neue Schubert-Ausgabe, Lieder, Bd. 6, Kassel [u. a.] 1969, Nr. 10, sowie Vorwort, S. XVI–XVIII und den separaten Kritischen Bericht, Tübingen 1972, S. 67f. Schubert. Die Erinnerungen (wie Anm. 29), S. 69. Vgl. hierzu in: Neue Schubert-Ausgabe, Lieder, Bd. 11, S. 90–104, Die Nacht (D 534 = Nachlasslieferung Heft 1) mit den Änderungen durch den Verleger, S. 298–302, sowie in Lieder, Bd. 7, S. 105–118, Lodas Gespenst (D 150 = Nachlasslieferung 3) mit den Änderungen durch den Verleger im separaten Kritischen Bericht zu diesem Band, Tübingen 1977, S. 108– 112. Vgl. hierzu Walther Dürr, Der literarische Text als Parameter eigenen Rechts, in: Der Text im musikalischen Werk. Editionsprobleme aus musikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Sicht, hrsg. von W. Dürr, Helga Lühning u. a. (= Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd. 8), Berlin 1998, S. 98–112, hier S. 101–105. Es handelte sich um die vier Lieder Im Frühling (D 882), Trost im Liede (D 546), Der blinde Knabe (D 833), Wandrers Nachtlied (D 768); sie waren zuvor sämtlich bereits in Almanachen erschienen. Handbuch der musikalischen Literatur oder allgemeines systematisch geordnetes Verzeichniss gedruckter Musikalien, hrsg. von Adolph Hofmeister, Bd. 6, Leipzig 1868, für Anfang 1860 bis Ende 1867, S. 117, 250, 432f., 512.
442
Walther Dürr, Michael Kube, Michael Raab
Gesänge. Band I (auf den jedoch kein zweiter mehr folgte): 30 Lieder v. Göthe bei Breitkopf & Härtel – ein erster Versuch einer nach Dichtern geordneten Liedausgabe, der aber zunächst folgenlos blieb. In den 1860er und zu Beginn der 1870er Jahre erschienen dann gleichsam explosionsartig nicht nur Einzelausgaben, sondern auch Sammlungen, die auf Vollständigkeit Wert legten, indem sie sämtliche bis dahin im Druck erschienenen Kompositionen nach Gattungen zusammenfassten.43 Das hatten zuvor auch die Originalverleger nicht leisten können. Da erschienen – z. T. unter Angabe der Herausgeber – Gesamtausgaben der Lieder bei Breitkopf & Härtel in Leipzig (8 Bände),44 bei Ludwig Holle in Wolfenbüttel (6 Bände, revidiert von Louis Winkler und Heinrich Sattler),45 bei Litolff in Braunschweig (10 Bände),46 bei Senff in Leipzig (20 Bände, revidiert von Julius Rietz).47 Sammlungen für Klavier zu vier Händen erschienen bei Litolff und bei Breitkopf & Härtel,48 solche für Klavier allein bei Hofmeister in Leipzig sowie bei Litolff und Holle.49 Besondere Bedeutung erlangten hier allerdings die bei C. F. Peters herausgekommenen Ausgaben – sie sind, in Neuauflagen und Neuausgaben, weitgehend noch heute in Gebrauch: Chorgesangwerke (3 Bände, hrsg. von Alfred Dörffel),50 Lieder und Gesänge für eine Singstimme (6 Bände), Sämmtliche neun ViolinQuartette, Sämmtliche Sonaten für Pianoforte (2 Bände, hrsg. von Louis Köhler), Sämmtliche Tänze für Pianoforte. In ihrer Anordnung folgen die meisten dieser Ausgaben ihren Vorlagen – sie richten sich nach den Opusnummern und den Nachlassheften der Lieder. Eine Ausnahme machen hier nur die Liederbände der Peters-Ausgabe – und dies ist bedeutsam, da die 1871 gewählte Ordnung51 bis heute die Rezeption der Schubert’schen Lieder prägt. Der erste Band, bezeichnet als Schubert-Album, sollte so etwas wie eine repräsentative Auswahlausgabe darstellen; er vereinigte die drei Zyklen und 22 – später auf 34 erweiterte – seinerzeit beliebteste Lieder. In jedem folgenden Band wurde dann wieder unter allen Lied-Opera und Nachlass-Heften eine Auswahl getrof____________ 43 44 45 46 47 48 49
50 51
Handbuch der musikalischen Literatur (wie Anm. 42), Bd. 7, Leipzig 1876, für Anfang 1868 bis Ende 1873, S. 416–442 (!). Lieder und Gesänge für 1 Singstimme mit Pianoforte. Neue revidirte Ausgabe. Lieder, Gesänge und Balladen für 1 Singstimme mit Pianoforte. Sämmtliche Lieder und Gesänge für 1 Singstimme mit Pianoforte. Sämmtliche Gesänge für 1 Singstimme mit Pianoforte. Kompositionen für Pianoforte zu 4 Händen (2 Bde., Litolff); Pianoforte-Werke zu 4 Händen. Neue Ausgabe (2 Bde., Breitkopf). Sämmtliche Original-Kompositionen für Pianoforte (5 Bde., Hofmeister), Sämmtliche KlavierKompositionen (4 Bde., revidiert von Friedrich Wilhelm Markull, Holle = Bd. 7–10 „von Schubert’s sämmtlichen Werken“), Sonaten für Pianoforte (Nr. 1–10, Litolff). Band 1 für gemischten Chor, Band 2 für Männerchor, Band 3 für Frauenchor. Vgl. hierzu Arnold Feil und Walther Dürr, Kritisch revidierte Gesamtausgaben von Werken Franz Schuberts im 19. Jahrhundert, in: Musik und Verlag. Karl Vötterle zum 65. Geburtstag, hrsg. von Richard Baum und Wolfgang Rehm, Kassel [u. a.] 1968, S. 268–278, hier S. 273f.
Die Ausgaben der Werke Schuberts
443
fen, so dass bis heute die Angabe eines Bandes der Peters-Ausgabe auch eine Aussage darüber enthält, wie bekannt oder beliebt das in Frage stehende Lied zum Zeitpunkt der Ausgabe wohl war. Frühzeitig beauftragte der Verlag den seit Mitte der 1870er Jahre bekannten Oratoriensänger Max Friedlaender mit einer Revision der Ausgabe, der die Ordnung jedoch unverändert ließ. Bis 1885 erschienen die sechs Bände neu, ergänzt noch 1885 um zwei Hefte mit 20 bis dahin unveröffentlichten Liedern.52 1887 wurde diese Sammlung noch um 30 Lieder erweitert und zählt seither als Band 7 der Liedausgabe bei Peters.53 Während sämtliche bis dahin erschienenen Ausgaben – einschließlich der sechs ersten Peters-Bände – sich auf Ausgaben der Originalverleger stützten, zog Friedlaender für seinen siebenten Band handschriftliche Vorlagen heran – in einigen Fällen Autographe in seinem Besitz, vorwiegend aber Abschriften, entweder die von Schuberts Jugendfreund Albert Stadler, damals ebenfalls in Friedlaenders Besitz, oder die aus der Sammlung WitteczekSpaun, damals im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien.54 Damit wurde der Weg bereitet für eine wirkliche „Gesamtausgabe“ der Werke Franz Schuberts. (Walther Dürr)
III.
Franz Schubert’s Werke. Kritisch durchgesehene Gesammtausgabe
Doch ist es nicht allein diesen ersten Versuchen einer an die Bedürfnisse der musikalischen Praxis angepassten und nur wenige Gattungen umfassenden Werkschau geschuldet, dass sich der Verlag Breitkopf & Härtel spätestens Anfang der 1880er Jahre mit der grundsätzlichen Frage einer Schubert-Gesamtausgabe auseinandersetzte. Vielmehr sind die Überlegungen im Kontext der zu jener Zeit noch laufenden oder bereits abgeschlossenen Projekte zu sehen, mit denen das Œuvre mehrerer Komponisten als vollständige, „kritisch durchgesehene“ Ausgabe nicht nur im ordentlichen Neustich, sondern auch in repräsentativer äußerer Form vorgelegt wurde – dazu zählen (ohne nachträgliche Supplemente) u. a. die Ausgaben der Werke von Johann Sebastian Bach (1851–1899), Georg Friedrich Händel (1858–1894), Ludwig van Beethoven ____________ 52 53 54
Nachgelassene (bisher ungedruckte) Lieder für eine Singstimme mit Pianofortebegleitung […] revidirt und herausgegeben von Max Friedlaender, Leipzig (C. F. Peters), o. J. Schubert-Album. Sammlung der Lieder für eine Singstimme mit Pianofortebegleitung […] revidiert von Max Friedlaender, Leipzig (C. F. Peters), o. J. Zu diesen Abschriften vgl. Walther Dürr, Franz Schuberts Werke in Abschriften: Liederalben und Sammlungen (= Neue Schubert-Ausgabe VIII, 8: Quellen II), Kassel [u. a.] 1975, S. 25–30 (zu Stadler) und 69–111 (zu Witteczek-Spaun).
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Walther Dürr, Michael Kube, Michael Raab
(1862–1868), Frédéric Chopin (1878–1880), Felix Mendelssohn (1874–1877), Wolfgang Amadeus Mozart (1877–1883) und Robert Schumann (1879–1893). In diesem Zusammenhang steht auch die in einem Brief vom 9. Juni 1883 an Carl Ferdinand Pohl (1819–1887), den Archivar und Bibliothekar der Gesellschaft der Musikfreunde, geäußerte Bitte um Auskunft über die ihm zugänglichen handschriftlichen Schubert-Quellen; besonders bemerkenswert erscheint dabei die Aussage, die teilweise noch vollkommen unbekannten, aber auch umfangreichen Opern und Singspiele nicht stechen zu wollen, sondern (wohl mit Blick auf die als zu gering erachtete Nachfrage) nur auf Verlangen in Kopiatur herstellen zu lassen: Hiermit erlauben wir uns die Anfrage, ob wohl die Gesellschaft der Musikfreunde uns für die Zwecke der Vorerwägung einer Ausgabe von Franz Schubert’s sämmtlichen Werken Ihr gedrucktes und abschriftliches Material zur Verfügung zu stellen bereit sein würde. Es würde sich zunächst […], wie szt. bei Mozart geschehen, um eine Eintheilung des zugänglichen Materials handeln; auf besonderer Beilage geben wir an, was wir selbst in Händen haben. Leider ist aus dem Nottebohm’schen Katalog nicht zu ersehen, in wie weit die angeführten ungedruckten Werke erhalten sind oder nicht. Die noch ungedruckten dramatischen Werke würden wohl nicht zu veranschlagen, sondern im Falle des Zustandekommens einer soliden Ausgabe in Abschrift bereit zu halten sein. 55
Nahezu gleichzeitig hatte sich Nikolaus Dumba (1830–1900), ein in seinem Wirken für die Kulturgeschichte Wiens vielfach unterschätzter Mäzen und Sammler von Schubert-Autographen,56 am 1. Juni 1883 an den in Leipzig ansässigen Verlag gewandt und offenbar selbst eine Gesamtausgabe vorgeschlagen, wie aus der – schon recht konkrete ökonomische Faktoren benennenden – Antwort hervorgeht: Am Schlusse Ihrer werthen Zuschrift erwähnen Sie, daß Sie Gelegenheit ergreifen würden, mit uns betreffs eines Schubert-Unternehmens Rücksprache zu nehmen. Wir müssen Ihnen bekennen, daß wir seit Jahren den Gedanken, eine Ausgabe der Werke Schubert’s der Mozart’s an die Seite zu setzen, hin und her erwogen haben. Es würde uns eine Herzensfreude sein, uns einem derartigen Unternehmen widmen zu können, aber so gern wir auch mit einiger Opferfreudigkeit in größere Unterneh-
____________ 55
56
Brief von Breitkopf & Härtel an Carl Ferdinand Pohl vom 9. Juni 1883, Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig, Bestand Breitkopf & Härtel, Sig. 270, Bl. 301. – Vgl. auch Peter Schmitz, Johannes Brahms und der Leipziger Musikverlag Breitkopf & Härtel (= Abhandlungen zur Musikgeschichte, Bd. 20), Göttingen 2009, besonders S. 286–317 (Kapitel 5.4: Ein Produkt des „Wiener Brahms-Kreises: Die Schubert-Gesamtausgebe, hier S. 291). Freilich behandelt Schmitz vornehmlich die Rolle von Brahms, nicht aber die Vorgeschichte, die Durchführung und den Abschluss der Ausgabe selbst. Zu Nikolaus Dumba vgl. Elvira Konecny, Die Familie Dumba und ihre Bedeutung für Wien und Österreich, Wien 1986, sowie Norbert Rubey, Nicolaus Dumba. Porträt eines Mäzens (Katalog), Wien 1997.
Die Ausgaben der Werke Schuberts
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mungen hineingehen, so muß doch für das Wagnis eine gewisse Grenze geboten sein, und das, was wir zusetzen, darf nicht so bedeutend sein, daß wir im übrigen im gesunden Betriebe unseres Geschäftes wesentliche Beschädigung erfahren. Auch bei Mozart hat die Erwägung lange Zeit in Anspruch genommen und nur durch jugendlichen Enthusiasmus des verehrungswürdigen, inzwischen heimgegangenen Dr. Ludwig Ritter von Köchel ist es uns möglich geworden, an die Unternehmung selbst zu gehen dadurch, daß derselbe die Summe von M: 30.000,– für das Unternehmen beisteuerte. Auch so waren noch unsererseits bedeutende Opfer nöthig, von denen wir nicht wissen können, ob der größere Theil derselben in der Zukunft einmal wieder getilgt werden kann. […] Fände sich ein neuer Köchel, so würden wir unsererseits uns zu dem Wagnis bezüglich Schubert’s entschließen, denn wir können allerdings versichern, daß wir es für unsere schönste Lebensaufgabe machen würden, derartig würdige und für alle Zukunft wertvolle Ausgaben zu veranstalten. […] Wüßten Sie in der Sache einen guten Rath zu ertheilen, oder selbst mit fördernd einzutreten, so wäre uns das eine große Freude.57
Die bemerkenswerte Schnelligkeit, mit der in den kommenden sechs Monaten das Projekt bis hin zu einer ersten Ankündigung und dem Aufruf zur Subskription inhaltlich disponiert, verlegerisch kalkuliert und strukturell etabliert wurde, deutet noch heute eine glückliche Konstellation an, bei der verschiedene Interessen sich wechselseitig durchdrangen; zudem befanden sich weite Teile des vielfach noch ungedruckten kompositorischen Nachlasses bereits im Besitz von Nikolaus Dumba bzw. ergänzend dazu im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Welch entscheidende Rolle Dumba in dieser Phase sich konkretisierender Planungen sowohl als Sammler wie auch als renommierte Wiener Persönlichkeit zukam, zeigt ein Brief vom 14. Juli 1883, in dem einerseits Fragen der zur Verfügung stehenden Quellen diskutiert, andererseits aber auch hinsichtlich der Subventionierung Anstöße gegeben werden – etwa durch die modern anmutende Gründung eines heute so genannten Trägervereins: Ihr werther Brief vom 12. Juli war uns eine unverhoffte Freude, wir hatten nicht zu hoffen gewagt, dass ein so warmer Verehrer Schuberts bereits nach demselben Ziele zu wirke, das wir anstreben; nun hören wir von Ihnen, dass Sie einen reichen Schatz von Werken in der Urhandschrift des Componisten gesammelt, dass Sie selbst bereit sind zu der Ausgabe beizusteuern und auch vom Unterrichtsministerium die Zusage einer ausgiebigen Subvention erhalten haben. Das Unternehmen ist freilich ein sehr grosses; ausser nicht unbeträchtlichem Opfer und Wagemuth bedarf es noch eines besonderen Segens für diese Arbeit eines halben, wenn nicht ganzen Jahrzehntes. Es wird nicht ganz leicht sein, sich zunächst ein vorläufiges Bild vom Umfang einer solchen Ausgabe zu machen. Der Zahl der Werke nach übertrifft ja die Schaffens____________ 57
Brief von Breitkopf & Härtel an Nikolaus Dumba vom 11. Juni 1883, Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig, Bestand Breitkopf & Härtel, Sig. 270, Bl. 400–402.
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Walther Dürr, Michael Kube, Michael Raab
thätigkeit Franz Schubert’s die aller andren Componisten […]. Bei Schubert würde eine Subvention von M 20.000 [ge]nügen[,] uns zur Unternehmung zu bestimmen. […] Sie haben wohl die rechte Bahn gewiesen, indem Sie a[uf] die Begründung einer Gesellschaft hinwiesen, durch deren Mitwirke[n] das Werk zu Stande gebracht werden könnte. So h[at] Domcapellmeister F. X. Haberl in Regensburg einen Palestri[na-]Verein begründet, dessen ausschliesslicher Zweck die Ermöglichu[ng] einer Ausgabe der Werke Palestrina’s ist. Wäre es Ihne[n] möglich unter Zuhilfenahme einer solchen Vereinigung den obigen Betrag zu garantiren, zur Hälfte als Subvention[,] zur Hälfte als Subscription, so würden wir das Weitere [auf] das eigene Wagnis nehmen. Wir bemühen uns nunmehr sofort, eine wirkliche [Ver]anschlagung zu ermöglichen, erbitten zu dem Zweck von d[er] Gesellschaft der Musikfreunde deren Schubert-Material, [viel]leicht können wir auch nach Ihrer Heimkehr von Ih[nen] [ei]n Verzeichnis der Werke erhalten, welche in Ihrem Besitze [s]ind; das Erschienene besorgen wir, soweit es nicht schon in unserem Besitze ist.58
Vor den abschließenden Gesprächen, die im November 1883 für den Verlag von Oscar Hase in Wien geführt wurden, war es offenbar schon zu einer endgültigen Entscheidung gekommen. So trat Breitkopf & Härtel am 30. Oktober an Johannes Brahms mit der vertraulichen Bitte heran, eine geeignete Person „für die Beteiligung an der Redaktion“ vorzuschlagen bzw. sich selbst an der Ausgabe zumindest mit der Herausgabe der Sinfonie in C (D 944) zu beteiligen.59 Bereits einen Tag später empfahl Brahms den zu seinem weiteren Wiener Kreis zählenden Eusebius Mandyczewski, der nicht nur ein „sehr guter Schüler“ des gerade erst verstorbenen Nottebohm (1817–1882) – dieser hatte 1874 das grundlegende Thematische Verzeichniss der im Druck erschienenen Werke von Franz Schubert mit einer zusätzlichen Liste der noch unveröffentlichten Kompositionen herausgegeben – sei, sondern auch ein „vortrefflicher und gebildeter junger Mann.“60 Tatsächlich bewährte sich Mandyczewski insofern, als er nicht nur die Last der gesamten Redaktion trug, sondern darüber hinaus für zahlreiche Serien und Bände selbst als Herausgeber verantwortlich zeichnete. Daneben wurden zu diesem frühen Zeitpunkt auch alle anderen Herausgeber bestimmt, so dass die entsprechenden Namen wie auch die der ____________ 58 59
60
Brief von Breitkopf & Härtel an Nikolaus Dumba vom 14. Juli 1883, Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig, Bestand Breitkopf & Härtel, Sig. 271, Bl. 668–670. Brief von Breitkopf & Härtel an Johannes Brahms vom 30. Oktober 1883, zitiert nach: Johannes Brahms im Briefwechsel mit Breitkopf & Härtel, hrsg. von Wilhelm Altmann, Berlin 1920 (= Briefwechsel Bd. XIV), S. 350f. (Nr. 336), hier S. 351. – Zitiert auch in der kursorischen, keine Archivbestände berücksichtigenden Darstellung von Arnold Feil (I. Die Gesamtausgabe von Breitkopf & Härtel) in dem Beitrag von Arnold Feil und Walther Dürr, Kritisch revidierte Gesamtausgaben (wie Anm. 51), S. 268–273. Brief von Johannes Brahms an Breitkopf & Härtel vom [31.] Oktober 1883, zitiert nach: Johannes Brahms im Briefwechsel mit Breitkopf & Härtel (wie Anm. 59), S. 351f. (Nr. 337), hier S. 352.
Die Ausgaben der Werke Schuberts
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übergeordneten „Editionsleitung“ in der entscheidenden Verlagsankündigung genannt werden konnten: Das Redaktionswerk kommt im Wesentlichen in Wien selbst zur Ausführung; als Redaktoren daselbst sind gewonnen: Johannes Brahms, Ignaz Brüll, Anton Door, Julius Epstein, J. N. Fuchs, Joseph Gänsbacher, Jos. Hellmesberger, Eduard Kremser, Eusebius Mandyczewski; auch hat sich in Wien unter dem Vorsitze von Nicolaus Dumba ein Comité gebildet, welchem neben den Redaktoren noch Eduard Hanslick und C. F. Pohl angehören […].61
Hinsichtlich der zeitlichen Planung muss allerdings noch heute der angekündigte Zeitraum für die Herausgabe der 21 Serien umfassenden und auf insgesamt 39 Bände angelegten Ausgabe überraschen. Vom Verlag noch zuvor als die „Arbeit eines halben, wenn nicht ganzen Jahrzehntes“ bezeichnet, findet sich in der Ankündigung ein angesichts des zu bewältigenden Umfangs erstaunlich kurzer, absehbar nicht einzuhaltender Rahmen: „Franz Schubert’s Werke werden von 1884 bis 1888 in einer vollständigen, gleichmässigen Ausgabe erscheinen, welche sowohl die bisher gedruckten als die vorhandenen noch unveröffentlichten Werke umfassen wird […].“62 Nicht verwunderlich erscheint daher auch hinsichtlich der Erscheinungsweise eine Bemerkung in der Besprechung des 1886 ausgegebenen Bandes mit der Oper Fierrabras, in der von der „langsam und immer langsamer sich entwickelnde[n] SchubertGesammtausgabe“ die Rede ist.63 Ein aufmerksamerer Beobachter hätte freilich bemerkt, dass sich die Ausgabe – wie von Anfang an geplant – in ihren ersten Jahren vor allem jenen Gattungen zuwandte, die trotz zahlreicher Ausgaben nicht oder nur unzureichend erschlossen waren. In der ersten Ankündigung der Ausgabe heißt es entsprechend, zunächst sollten „die bisher vernachlässigten Gebiete […] berücksichtigt werden“.64 Das hinter diesen Worten stehende Konzept einer systematischen Bandplanung lässt sich heute noch der Übersicht der einzelnen Serien entnehmen, für die nicht nur ein einzelner Bearbeiter verantwortlich zeichnete, sondern die auch sukzessiv herausgegeben ____________ 61
62 63 64
Franz Schubert’s Werke. Erste kritisch durchgesehene Gesammtausgabe, in: Mitteilungen von Breitkopf & Härtel in Leipzig 19 (März 1884), S. 457–459, hier S. 458 (der namentlich nicht gezeichnete Text ist datiert auf „am Todestage F. Schubert’s 1883“). Von den in diesem Zusammenhang genannten Redaktoren (Herausgebern der einzelnen Serien) schied jedoch zu einem derzeit nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt der als Chormeister des Wiener Männergesangvereins tätige und später als Kenner des „Wiener Volksgesanges“ bekannte Eduard Kremser (1838–1914) aus. – Für die Übersendung von Xerokopien sowie weiterer Hinweise habe ich Andreas Sopart (Breitkopf & Härtel, Archiv) herzlich zu danken. Ebd., S. 457f. Friedrich Spiro, Besprechung des Bandes Fierrabras (Serie 15, Bd. 6) in der Rubrik Vom Musikalienmarkt, in: Allgemeine Musik-Zeitung 15 (1888), S. 11. Franz Schubert’s Werke (wie Anm. 61), S. 458.
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Walther Dürr, Michael Kube, Michael Raab
wurden. So erschienen zunächst die Orchesterwerke und die gesamte Klavierkammermusik, gefolgt von der Kirchenmusik, den Werken für Klavier, der Kammermusik für Streicher und den gemischten Gesängen. Parallel dazu wurde die umfangreiche Serie der Bühnenwerke erarbeitet; den Abschluss des Hauptkorpus bildete die Serie der Lieder (vgl. darüber hinaus die Übersicht über die Anlage, den Gesamtumfang und die Erscheinungsweise der Alten Schubert-Gesamtausgabe in der Tabelle unten auf S. 449): Orchesterwerke Klavierkammermusik Kirchenmusik Klavierwerke Kammermusik für Streicher Gemischte Gesänge Bühnenwerke Lieder
1884–1886 1886 1887–1888 1888–1889 1889–1890 1891–1892 1886–1893 1894–1895
Brahms und Fuchs Brüll Mandyczewski Epstein Mandyczewski Gänsbacher und Mandyczewski Fuchs Mandyczewski
Ferner war von Anfang an die Erstellung von Revisionsberichten vorgesehen, die zu den einzelnen Serien gleichsam als Beihefte erschienen.65 Sie bilden den „kritischen Apparat“ der Ausgabe, weisen allerdings eine höchst unterschiedliche Qualität und Informationsdichte auf. Während etwa die Quellen der umfangreichen Serie XV (Dramatische Werke) auf nur zwei (!) Seiten in äußerster Kürze lediglich gelistet werden, finden sich nahezu durchgehend zu allen anderen veröffentlichten Kompositionen Bemerkungen, die über frühere Lesarten oder gar von Schubert gestrichene Passagen in weiträumigen Notenbeispielen Auskunft geben. Die notwendige Datenerhebung erfolgte durch ein Formblatt, das von Seiten des Verlages entworfen und gedruckt wurde, wie aus einem Schreiben vom 15. Januar 1884 an Mandyczewski hervorgeht: Für die späteren Revisionsberichte werden die beifolgenden Bogen von Vortheil sein, deren Ausfüllung gleich bei Redaktion jedes einzelnen Werkes stattfinden würde. Wir senden zunächst 50 Exemplare, stellen aber weitere sofort zur Verfügung.66 ____________ 65
66
Der im Nachdruck der Alten Schubert-Gesamtausgabe (New York 1965) vorgelegte Bd. 19 (Editor’s Commentary on the Critical Edition) täuscht über die tatsächliche Erscheinungsweise hinweg, von der nurmehr die mit jeder Serie neu ansetzenden Seitenzahlen zeugen; vgl. hierzu auch die von der Bayerischen Staatsbibliothek München unter www.digitale-sammlungen.de verfügbar gemachte Digitalisierung. Brief von Breitkopf & Härtel an Eusebius Mandyczewski vom 15. Januar 1884, Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig, Bestand Breitkopf & Härtel, Sig. 278, Bl. 427–429. – Zuvor war es bereits zu einem Entwurf der „generellen Redaktionsbestimmungen“ gekommen, bei denen man sich die bereits bei anderen Gesamtausgaben gesammelten Erfahrungen zunutze machte. Dazu wandte sich der Verlag am 29. November 1883 in erster Linie an Brahms: „In der Anlage beehren wir uns Ihnen einen ersten Entwurf der [generellen] Redaktions[bestim-
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Die Ausgaben der Werke Schuberts Serie I Serie II Serie III Serie IV Serie V
Sinfonien (2 Bde.) Ouvertüren Oktette Streichquintett Streichquartette
1884/1885 1886 1889 1890 1890
Serie VI Serie VII
1890
Serie VIII Serie IX Serie X Serie XI Serie XII Serie XIII Serie XIV Serie XV Serie XVI Serie XVII
Streichtrio Klavierquintett, -quartett, -trio (2 Bde.) Klavier und ein Instrument Klavier zu vier Händen Klaviersonaten Klavierstücke Klaviertänze Messen (2 Bde.) Kleinere Kirchenmusik Dramatische Werke (7 Bde.) Männerchor Gemischter Chor
Serie XVIII
Frauenchor
Serie XIX
Kantaten für 2–3 Stimmen
Serie XX Serie XXI
Lieder (10 Bde.) Supplement Revisionsbericht
Brahms Fuchs Mandyczewski Mandyczewski Hellmesberger/ Mandyczewski Mandyczewski
1886 1886 1888 1888 1888 1889 1887 1888 1886–1893 1891 1892
Brüll Brüll Door Epstein Epstein Epstein Mandyczewski Mandyczewski Fuchs Mandyczewski Gänsbacher/ Mandyczewski 1891 Gänsbacher/ Mandyczewski 1892 Gänsbacher/ Mandyczewski 1894/1895 Mandyczewski 1897 Mandyczewski 1897 Mandyczewski
Tabelle: Übersicht über Anlage und Erscheinungsverlauf der Alten Schubert-Gesamtausgabe (AGA)
Ein solcher Bogen, der den Besitzer eines Autographs oder einer Abschrift bzw. das benutze Exemplar einer Druckausgabe nachweist, aber auch „Bemerkungen über das Resultat der Revision, wichtige Varianten, ungelöste Zweifel etc.“ umfassen sollte, hat sich für die von Gänsbacher in Serie 17 herausgegebene Kantate zu Ehren von Josef Spendou (D 472) erhalten (vgl. die Abbildung auf S. 450f.); das hier Eingetragene wurde in den gedruckten Revisionsbericht indes nicht aufgenommen. ____________ mungen] für die Schubert-Ausgabe zu überreichen. Wir fügen die [gleichartigen] Bestimmungen der bisherigen Gesammtausgaben bei, [aus welchen jene Bestimmungen eklek-] [tisch entnommen] sind. Es sind zum Theil [letzte] Exemplare, welche wir […] nach Einsichtnahme gelegentlich wieder zurück hätten“, Brief von Breitkopf & Härtel an Johannes Brahms vom 29. November 1883, Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig, Bestand Breitkopf & Härtel, Sig. 276, Bl. 458–460.
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Walther Dürr, Michael Kube, Michael Raab
Abb.: Der von Joseph Gänsbacher für die Serie 17, Nr. 2 ausgefüllte doppelseitige Revisionsbogen zum Autograph der Kantate zu Ehren von Josef Spendou (D 472). – Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig, Bestand Breitkopf & Härtel, Sig. 6820.
Die Ausgaben der Werke Schuberts
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Walther Dürr, Michael Kube, Michael Raab
Hinsichtlich der Quellenbewertung und der weiteren Editionsgrundsätze geben die Revisionsberichte freilich nur vergleichsweise spärlich Auskunft. Dies betrifft auch die kaum mehr als eine halbe Seite umfassenden Allgemeinen Bemerkungen, nach denen für diese Ausgabe „in erster Reihe die Handschriften des Componisten massgebend“ waren, alternativ die von Schubert selbst besorgten, zumindest aber zeitgenössischen Drucke. „Die grösste Vorsicht erheischte die Benützung späterer Drucke, alter Abschriften u. dgl.“ Entsprechend konsequent verfolgte Mandyczewski wenigstens bei der Herausgabe der Lieder ein offenes und damit erstaunlich modernes Konzept der Edition, das nicht auf eine Fassung letzter Hand abzielt, sondern die unterschiedlichen, jeweils in sich abgeschlossenen Werkstadien dokumentiert. Bedauerlicherweise erläuterte Mandyczewski dieses Verfahren nicht im Rahmen der Ausgabe selbst, sondern nur in einem Brief an Brahms, in dem er seinen grundsätzlichen Standpunkt (hinsichtlich der Edition) wie auch seine pragmatische Umsetzung (hinsichtlich des anstehenden Revisionsberichts) in unnötiger Selbstbescheidung als „Excurs“ bezeichnet: Wir staunen über die große Zahl seiner Lieder, aber wir bedenken dabei noch gar nicht, daß er die meisten derselben zwei, drei ja auch viermal vollständig niedergeschrieben hat, jedesmal vorwärts schreitend. […] Und wenn ein Stück das erste mal fertig ist – aber fertig muß es sein! – dann wird es im Ganzen noch einmal überlegt, und, was zu ändern ist, nicht etwa gestrichen, sondern das Ganze noch einmal niedergeschrieben, und dabei sowohl in größeren Zügen als auch – und das ganz besonders – im Einzelnen umgestaltet. […] Die Änderungen betreffen bald Tempo und Vortrag, bald (damit zusammenhängend) auch Textart [recte: Taktart], so daß man sieht, wie sich die ganze Idee von dem Werke in ihm klärt, bald die Contouren von Melodie und Rhythmus, bald die Modulation und mithin, ich möchte sagen, die Vertheilung von Licht und Schatten, bald die Stimmlage, Claviersatz und sonstige technische Dinge. Oft ist eine solche Änderung gering, steht aber an so entscheidender Stelle, als ob sie ein Lehrer verlangt hätte. Der Umstand, daß alle diese Stücke immer fix und fertig sind, kommt meinem Bestreben, die Liederserie auch praktisch brauchbar zu machen, sehr zu gute. Man kann eben diese Stücke entweder so oder so singen. Viele dieser Änderungen könnte man mit Worten im Revisionsbericht darlegen; aber plastisch stehen sie da doch nicht vor Augen und ich muß den Bericht in dem gegen 600 Lieder erwähnt werden sollen, so viel ich kann, einschränken, sonst werdens zwei dicke Bände, die todt sind. Was praktisch zu brauchen ist, kommt in den Hauptband. Der Bericht ist mehr für das Bibliographische, für das Historische und rein Technische.67
____________ 67
Brief von Eusebius Mandyczewski an Johannes Brahms vom 19. Juli 1893, zitiert nach Karl Geiringer, Johannes Brahms im Briefwechsel mit Eusebius Mandyczewski, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 15 (1932/33), S. 337–370, hier S. 359.
Die Ausgaben der Werke Schuberts
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Während die Durchführung des Projekts in den versierten Händen von Mandyczewski ruhte, ist doch der anfängliche Einfluss von Johannes Brahms auf die Disposition der Ausgabe nicht gering zu schätzen. Dies betrifft vor allem den Umgang mit einigen Jugendwerken und den Fragment gebliebenen Kompositionen. So stand Brahms, zum Herausgeber der Serie I (Sinfonien) bestimmt, der Veröffentlichung der frühen Sinfonien reserviert gegenüber und wollte sie lediglich im Verborgenen „mit Pietät bewahrt“ wissen.68 Keine Aufnahme fanden hingegen einige der frühen Streichquartette wie auch der einzeln überlieferte, als Sonate bezeichnete Satz in B-Dur für Klaviertrio (D 28). Zu groß waren offenbar die Vorbehalte gegenüber diesen formal wie satztechnisch noch nicht vollständig ausgereiften Kompositionen aus den Jahren 1811/1812. Mandyczewski beschrieb das für die Streichquartette angewandte Verfahren mit recht knapp gefassten Worten im Revisionsbericht: „Nicht Alles, was Schubert in dieser Gattung schuf, hat sich erhalten; nicht Alles, was sich erhalten hat, mochte veröffentlicht werden.“69 Geradezu diametral entgegengesetzt und doch wiederum konsequent mutet die von Brahms betriebene Entscheidung an, die Sinfonie in h (D 759), die Unvollendete, nicht wie ursprünglich vorgesehen in einen geplanten Supplementband unter all die anderen Entwürfe und Fragmente (gleich welcher Gattung und Besetzung) zu subsumieren, sondern die beiden vollendeten Sätze in das Hauptkorpus aufzunehmen (Serie I, Bd. 2). Dass er sich mit dieser ästhetisch motivierten Einschätzung des Werkes durchsetzte, hatte allerdings weitreichende Konsequenzen für die Disposition des gesamten Projekts: Der zunächst als eigenständige Serie vorgesehene Supplementband wurde vollständig aufgegeben, nur eine Auswahl der damals bekannten Fragmente und Entwürfe erschien in den Bänden der jeweiligen Serie.70 Eine der schwerwiegenden Folgen dieses Entschlusses war es aber auch, ____________ 68
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70
Vgl. hierzu den Brief von Johannes Brahms an Breitkopf & Härtel vom 26. März 1884, zitiert nach: Johannes Brahms im Briefwechsel mit Breitkopf & Härtel (wie Anm. 59), S. 353: „Daß ich keine besondere Freude habe, den Druck dieser Sinfonien zu besorgen, habe ich Ihnen nicht verhehlt. Ich meine, derartige Arbeiten oder Vorarbeiten sollten nicht veröffentlicht werden, sondern nur mit Pietät bewahrt und vielleicht durch Abschriften mehreren zugänglich gemacht werden. Eine eigentliche und schönste Freude daran hat doch nur der Künstler, der sie in ihrer Verborgenheit sieht und – mit welcher Lust – studiert! Verzeihen Sie recht sehr; es wird mir ja im allgemeinen widersprochen, also braucht Sie der kleine Mißklang nicht zu stören.“ Franz Schubert’s Werke. Kritisch durchgesehene Gesammtausgabe. Revisionsbericht, Leipzig 1897, S. 52. Ferner heißt es über die 1811 entstandene, zwischen den Gattungen stehende Ouvertüre für Streichquintett (D 8): „Die Neigung zum Orchestermässigen, in Schubert’s Natur wie in seiner Musikübung begründet, zeugte auch 1811 die ,Quintett-Ouverture‘ und 1812 die ,Quartett-Ouverture‘ […]. Von ihrer Veröffentlichung wird indessen abgesehen, da sie weder mit den Ouverturen, noch mit den Quartetten, und am allerwenigsten mit dem Quintett (Ser. IV) in logischen Zusammenhang zu bringen sind.“ Brief von Johannes Brahms an den Verlag Breitkopf & Härtel vom 22. November 1884, zitiert nach: Johannes Brahms im Briefwechsel mit Breitkopf & Härtel (wie Anm. 59), S. 361 (Nr. 349): „Ihrem […] Vorschlag, auch die nur aus 2 Sätzen bestehende H moll-Symphonie in die erste
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Walther Dürr, Michael Kube, Michael Raab
dass die bereits bekannten sinfonischen Fragmente wie auch der von Brahms als „bloße Curiosität“71 bezeichnete Partiturentwurf der Sinfonie in E (D 729) unveröffentlicht blieben (und erst nach weiteren knapp 130 Jahren im Rahmen der Neuen Schubert-Ausgabe im Druck erschienen). Das Supplement (1897) wurde auf diese Weise zu einem wirklichen Ergänzungsband, in dem neben einigen weiteren fragmentarischen oder unvollendeten Werken (besonders aus dem Bereich der Klaviermusik) neu aufgefundene oder inzwischen als gesichert geltende Kompositionen aus allen Gattungen und Besetzungen vorgelegt wurden. Noch bis 1960 befasste sich Otto Erich Deutsch (1883–1967) in der Nachfolge seines erstmals 1951 erschienenen Thematic Catalogue72 mit der Konzeption eines weiteren Supplements mit zunächst 120 Nummern, von denen er allerdings bei der Einreichung des Manuskripts an Breitkopf & Härtel „23 unwichtige Nummern“ aussonderte, weil diese „entweder verschollen oder nicht erreichbar sind, oder weil ich sie als Fragmente von instrumentalen Werken ausgelassen habe. Die Fragmente von vokalen Werken möchte ich bringen.“73 Zum Stich der vorgesehenen zwei Bände kam es freilich nicht mehr. (Michael Kube) In der Tat dachte Deutsch später, diese Bände könnten vielleicht in eine neue Gesamtausgabe eingehen, an die im „Zeitalter der Gesamtausgaben“ ja doch auch zu denken war. Das traf sich mit Überlegungen, die in Kassel Wolfgang Rehm und in Tübingen Walter Gerstenberg anstellten. Rehm „ergriff die Initiative“. Anlässlich der Mozart-Tagung in Salzburg im Januar 1963 lud er Deutsch und Gerstenberg zu einem Schuberttreffen ein, „und zwar ins Café Bazar – und tatsächlich wurde dort die ,Neue Schubert-Ausgabe‘ beschlossen als konsequente Fortsetzung des großen Programms von Musikergesamtausga____________
71
72 73
Serie aufzunehmen, konnten wir selbst nur zustimmen. Der Ordnung halber haben wir Herrn Mandyczewski davon Mitteilung gemacht, der, mit dem Vorschlag sich vollkommen einverstanden erklärend, noch die Frage aufwirft, ob es nicht wohl zweckmäßig sei, alle Werke der 22. Serie gleich in die betr. Hauptserie einzureihen, mithin jene Serie fallen zu lassen. Im Grunde genommen ließe sich dagegen wohl nichts einwenden; denn es ist nur folgerichtig, daß, wenn ein unvollständiges Werk einmal in der Hauptserie einverleibt wird, auch mit den übrigen in gleicher Weise zu verfahren ist.“ Wortlaut von Johannes Brahms, zitiert in einem Brief von Breitkopf & Härtel an Eusebius Mandyczewski vom 30. Dezember 1884, Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig, Bestand Breitkopf & Härtel, Sig. 288, Bl. 605–608. Otto Erich Deutsch, Schubert. Thematic Catalogue of All His Works in Chronological Order, London 1951. Vgl. hierzu die aus den Jahren 1955 und 1960 stammenden maschinenschriftlichen Listen sowie den Brief von Otto Erich Deutsch an Breitkopf & Härtel vom 2. Juni 1960, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv, N. Mus. Nachl. 10, 144; als Dauerleihgabe bei der Editionsleitung der Neuen Schubert-Ausgabe, Tübingen.
Die Ausgaben der Werke Schuberts
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ben des Bärenreiter-Verlages“.74 Am 19. November 1963 wurde hierfür ein Trägerverein gegründet (die Internationale Schubert-Gesellschaft mit Sitz in Tübingen)75 und am 1. Mai 1965 nahm die Editionsleitung der Neuen Schubert-Ausgabe in Tübingen und Wien die Arbeit auf. Die Ausgabe versteht sich dabei in einem doppelten Sinn als „offen“: Soweit die Quellen dies zulassen, will sie einerseits dem Forscher Kompositionsprozesse offenlegen (indem sie Entwürfe, Frühfassungen und die Auflösung von Autorkorrekturen mitteilt), sie will andererseits aber auch dem Musiker in vollständig abgedruckten Parallelfassungen, in Fußnoten und ossia-Systemen […] alternative Lesarten zur Verfügung stellen, aus denen er den Text erst selbst gewinnt, den er gestalten will.76
Denn der geschriebene oder gedruckte musikalische Text bietet jeweils nur einen Näherungswert, ihr Zeichencode „tradiert sich in Wiedergabe-, in SpielRegeln, erschließt sich nicht selten erst im musikalischen Kontext“. Dem will die Neue Schubert-Ausgabe Rechnung tragen.77 (Walther Dürr)
Literaturverzeichnis Aigner, Thomas: Sinn und Zweck von Paraphe und Kontrollnummer, in: Schubert durch die Brille. Mitteilungen 30 (Januar 2003), S. 111–114 Deutsch, Otto Erich: Franz Schubert. Fünf erste Lieder, Wien 1922 Deutsch, Otto Erich: Schuberts zwei Liederhefte für Goethe. Ein Rekonstruktionsversuch, in: Die Musik 21 (1928/29), Heft 1, S. 31–37 Deutsch, Otto Erich: Schubert. Thematic Catalogue of All His Works in Chronological Order, London 1951 Deutsch, Otto Erich (Hrsg.): Schubert. Die Dokumente seines Lebens (= Neue Schubert-Ausgabe, Bd. VIII, 5), Kassel 1964 Drüner, Ulrich: Otto Haas. Catalogue 40, London 2003, S. 15–17 Dürr, Walther: Franz Schuberts Werke in Abschriften: Liederalben und Sammlungen (= Neue Schubert-Ausgabe VIII, 8: Quellen II), Kassel [u. a.] 1975 Dürr, Walther: Aus Schuberts erstem Publikationsplan: zwei Hefte mit Liedern von Goethe, in: Schubert-Studien. Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum SchubertJahr 1978, hrsg. von Franz Grasberger und Othmar Wessely, Wien 1978, S. 43–56 ____________ 74
75 76
77
Zitiert nach Arnold Feil, Zur Entstehungsgeschichte der Neuen Schubert-Ausgabe, in: Festschrift Wolfgang Rehm zum 60. Geburtstag am 3. September 1989, Kassel [u. a.] 1989, S. 227– 233, hier S. 226. Ebd.; die Gesellschaft wurde am 21. Januar 1964 in das Vereinsregister eingetragen (S. 227). Zitiert nach Editionsrichtlinien Musik, hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000, Kapitel Neue Schubert-Ausgabe, S. 287–304, hier S. 289. Walther Dürr, Musikphilologie und musikalische Praxis: Die Neue Schubert-Ausgabe, in: Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz 1949–1989, Mainz, Stuttgart 1989, S. 569–580, hier S. 569.
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Walther Dürr, Michael Kube, Michael Raab
Dürr, Walther: Franz Schuberts nachgelassene musikalische Dichtungen. Zu Diabellis „Nachlaßlieferungen“ und ihrer Ordnung, in: Festschrift Wolfgang Rehm zum 60. Geburtstag, hrsg. von Dietrich Berke und Harald Heckmann, Kassel [u. a.] 1989, S. 214–225 Dürr, Walther: Vom Bittsteller zum Umworbenen, in: Schubert Handbuch, hrsg. von Walther Dürr und Andreas Krause, Kassel, Stuttgart 1997, S. 66–76 Dürr, Walther: Der literarische Text als Parameter eigenen Rechts, in: Der Text im musikalischen Werk. Editionsprobleme aus musikwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Sicht, hrsg. von W. Dürr, Helga Lühning u. a. (= Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd. 8), Berlin 1998, S. 98–112 Editionsrichtlinien Musik, hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000 Feil, Arnold und Dürr, Walther: Kritisch revidierte Gesamtausgaben von Werken Franz Schuberts im 19. Jahrhundert, in: Musik und Verlag. Karl Vötterle zum 65. Geburtstag, hrsg. von Richard Baum und Wolfgang Rehm, Kassel [u. a.] 1968, S. 268–278 Feil, Arnold: Zur Entstehungsgeschichte der Neuen Schubert-Ausgabe, in: Festschrift Wolfgang Rehm zum 60. Geburtstag am 3. September 1989, Kassel [u. a.] 1989, S. 227–233 Ferdinand Schuberts Verzeichniß der 1839 noch ungedruckten Kompositionen seines Bruders, in: Aus Franz Schubert’s Leben, in: Neue Zeitschrift für Musik 10 (1839), S. 139 Franz Schubert’s Werke. Erste kritisch durchgesehene Gesammtausgabe, in: Mitteilungen von Breitkopf & Härtel in Leipzig 19 (März 1884) Franz Schubert’s Werke. Kritisch durchgesehene Gesammtausgabe. Revisionsbericht, Leipzig 1897 Franz Schubert. Dokumente 1801–1830. Erster Band. Texte [nach gedruckten Quellen]. Addenda und Kommentar, hrsg. von Ernst Hilmar (= Veröffentlichungen des Internationalen Franz Schubert Instituts 10/II), Tutzing 2003 Geiringer, Karl: Johannes Brahms im Briefwechsel mit Eusebius Mandyczewski, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 15 (1932/33), S. 337–370 Handbuch der musikalischen Literatur oder allgemeines systematisch geordnetes Verzeichniss gedruckter Musikalien, zweiter Ergänzungsband, hrsg. von Adolph Hofmeister, Leipzig 1834 Hilmar, Ernst: Authentische Opuszahlen in Schuberts Werk?, in: Schubert durch die Brille. Mitteilungen 18 (Januar 1997), S. 8–13 Hilmar, Ernst: Abschließendes zum Thema Paraphe, in: Schubert durch die Brille. Mitteilungen 29 (Juni 2002), S. 29–33 Johannes Brahms im Briefwechsel mit Breitkopf & Härtel, hrsg. von Wilhelm Altmann, Berlin 1920 (= Briefwechsel Bd. XIV) Konecny, Elvira: Die Familie Dumba und ihre Bedeutung für Wien und Österreich, Wien 1986 Kreißle von Helborn, Heinrich: Franz Schubert, Wien 1865 Rubey, Norbert: Nicolaus Dumba. Porträt eines Mäzens (Katalog), Wien 1997 Schmitz, Peter: Johannes Brahms und der Leipziger Musikverlag Breitkopf & Härtel (= Abhandlungen zur Musikgeschichte, Bd. 20), Göttingen 2009 Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde, hrsg. von Otto Erich Deutsch, Leipzig 21966 Spiro, Friedrich: Besprechung des Bandes Fierrabras (Serie 15, Band 6) in der Rubrik Vom Musikalienmarkt, in: Allgemeine Musik-Zeitung 15 (1888), S. 11 Waidelich, Till Gerrit: Franz Schubert. Dokumente 1817–1993, Bd. 1: Texte (= Veröffentlichungen des Internationalen Franz Schubert Instituts, Bd. 10, 1), Tutzing 1993 Weinmann, Alexander: Verlagsverzeichnis Giovanni Cappi bis A. O. Witzendorf (= Beiträge zur Geschichte des Alt-Wiener Musikverlages II, 11), Wien 1967
Christian Martin Schmidt
„… erst nach jahrelangem Warten“: Zur Herausgabe der musikalischen Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy1
I.
Voraussetzungen
1.
Vorbehalte des Komponisten gegenüber dem Druck seiner Werke
a.
Mendelssohns Respekt vor der Drucklegung
Die grundsätzliche Zurückhaltung, die Mendelssohn der Drucklegung seiner Kompositionen gegenüber in allen Gattungen an den Tag legte, hat mehrere Gründe. Allgemein ist eine fast übergroße Selbstkritik zu konstatieren, die ihn schon im Schaffensprozess dazu veranlasste, seine Kompositionen immer wieder zu überarbeiten, seine – wie er selbst diagnostizierte – „Revisionskrankheit“. Sie ließ ihn in vielen Fällen davor zurückschrecken, seine Werke der durch die Veröffentlichung festgeschriebenen Endgültigkeit zu überantworten; Eduard Devrient erinnert sich der wiederholten Äußerung des Komponisten: „Ich habe einen heillosen Respect vor dem Druck, ich muß darum so lange an meinen Sachen corrigiren, bis ich’s nicht mehr besser zu machen weiß.“2 Doch in zahlreichen Fällen glaubte er nicht zu der gewünschten Perfektion gelangt zu sein und ließ die entsprechende Komposition ungedruckt liegen. Das gilt neben vielen anderen für die groß angelegte Festmusik MWV D1,3 die 1828 zur Feier des 300. Geburtstags von Albrecht Dürer komponiert ____________ 1
2 3
Der vorliegende Text beruht in wesentlichen Teilen auf Vorarbeiten von Ralf Wehner; siehe insbesondere Ralf Wehner und Friedhelm Krummacher, Felix (Jacob Ludwig) Mendelssohn, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 11, Kassel, Stuttgart 2004, Sp. 1542–1642; Ralf Wehner, „… wegen einer künftigen Ausgabe sämmtlicher Werke“. Die Leipziger Ausgaben der Kompositionen von Felix Mendelssohn Bartholdy, in: Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen, hrsg. von Stefan Keym und Katrin Stöck (= Kongressbericht Leipzig 2008), Bd. 3, Leipzig 2011, S. 124–135; Felix Mendelssohn Bartholdy. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke, hrsg. von Ralf Wehner (= Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, Serie XIII, Bd. 1A), Wiesbaden [u. a.] 2009 [im Folgenden als Werkverzeichnis zitiert]. Eduard Devrient, Meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy und Seine Briefe an mich, Leipzig 1869, S. 192. Zu den MWV-Nummern siehe Werkverzeichnis (wie Anm. 1) oder www.saw-leipzig.de/mwv.
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wurde und die erst in diesen Tagen ans Licht der Öffentlichkeit getreten ist,4 dies gilt aber gleichermaßen – wie unten5 näher auszuführen sein wird – sowohl für die zwischen 1829 und 1830 entstandene Sinfonie d-Moll MWV N15, die sogenannte Reformations-Sinfonie, als auch für die Sinfonie A-Dur MWV N16, die sogenannte Italienische, die Mendelssohn 1833 in erster Fassung vollendete und 1834 in Teilen tiefgreifend revidierte. b.
Gattungsmäßige Differenzierung
Die Vorbehalte Mendelssohns gegenüber der Drucklegung seiner Werke betraf insbesondere diejenigen Gattungen, in denen er durch seine kompositorische Produktion nicht allein einen hohen Kunstanspruch zu realisieren trachtete, sondern die er gleichermaßen als geeignetes Mittel zur Pflege des geselligen Umgangs ansah. Davon betroffen sind insbesondere Kompositionen geringerer Dimension wie Kanons, Sololieder, Klavierstücke, aber auch einige kurze Orgelwerke. Mit ihnen erfüllte er bereitwillig soziale Verpflichtungen wie Präsente zu Geburtstagen, Hochzeiten und Geburten oder brachte seinen Dank für eine erwiesene Wohltat zum Ausdruck. Häufig stellen diese „Autogramme“ Abschriften dar, die der Komponist zuweilen aus eigenem Antrieb verfertigte, zuweilen aber auch, um Wünschen nach Albumblättern oder Stammbucheintragungen nachzukommen. Solche Geschenke waren ganz und gar persönlich gemeint und nicht für die Öffentlichkeit, schon gar nicht für einen Druck bestimmt. Diese persönliche Zweckbestimmung geht besonders deutlich und in mehreren Facetten aus dem Schicksal des Sololiedes MWV K95 hervor, das Mendelssohn auf einen Text von Marianne von Willemer6 verfasste und das in drei Fassungen mit jeweils unterschiedlichem Titel vorliegt: „Die Freundin“, „Lied der Freundin“ und „Mit getrockneten Blumen“. Anlass für die Komposition dieses Liedes war der Geburtstag von Marie Bernus am 13. Juli 1837. Am Vortag trug Cécile Mendelssohn Bartholdy in das gemeinsam mit ihrem Ehemann geführte Tagebuch der Hochzeitsreise ein: „Nachmittags suche ich in Göthes Gedichten ein passendes für M[arie]’s morgenden Geburtstag. Felix componirt es und ich mache schnell ein Kränzchen dazu. Das Ganze wandert ____________ 4 5 6
Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, Serie VII, Bd. 1, hrsg. von Annette Thein und Birgit Müller, Wiesbaden [u. a.] 2012. Siehe unten, Abschnitt III.3b. Dem Erkenntnisstand seiner Zeit entsprechend hielt Mendelssohn bei allen Gedichten von Marianne von Willemer, die Goethe in seinen West-östlichen Divan aufgenommen hatte, diesen für den Verfasser.
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am andern Morgen!“7 Damit knüpfte das junge Paar direkt an die Begleitumstände an, mit denen Marianne von Willemer ihren Text verbunden hatte, als sie ihn für Goethes Geburtstag am 28. August 1825 dichtete; sie versah das Manuskript mit einem Blumenkränzlein. Allerdings begnügte sich Mendelssohn nicht mit der am 12. Juli niedergeschriebenen Fassung, sondern unterzog die Komposition am folgenden Tag – wie üblich – einer gründlichen Revision und ersetzte den Titel „Die Freundin“ durch „Lied der Freundin“. Begleitet von dem Hinweis Mit einem Blumenkranz und den ineinander verschlungenen Initialen C (= Cécile) und F (= Felix) M B als Autorangabe wurde diese Reinschrift Marie Bernus überreicht. Neun Jahre später, als Mendelssohn das Lied am 24. Juli 1846 in dritter Fassung in das Gästebuch von Anna Emilia Georgi eintrug, erinnerte er sich dieser Geste, fügte dem Autograph ein Blumensträußchen bei und verwies darauf nun sogar mit dem Titel des Liedes: Die „getrockneten Blumen“ haben sich bis heute erhalten.8 Tritt im vorangehenden Beispiel namentlich der private Charakter der Liedkomposition hervor, so akzentuiert Mendelssohn im folgenden Dokument seine generelle Abneigung gegen den Druck solcher Kunstprodukte und warnt den Empfänger eindringlich vor jeder Form der Veröffentlichung. Am 14. Oktober 1842 schreibt er an Constantin von Tischendorf, der ihm den Text zu dem Lied „Lieben und Schweigen“ MWV K113 hatte zukommen lassen: Zur Herausgabe oder Facsimilierung des kleinen Liedchens, welches ich ihnen schrieb, kann ich meine Einwilligung nicht geben, da ich es ganz u. gar für Sie gemacht habe, und durchaus nicht für eine öffentliche Bekanntmachung. Ich bitte Sie daher niemals zu einer solchen die Hand zu bieten.9
c.
Konsequenzen
Die Folgen, welche sich aus der beschriebenen Haltung des Komponisten hinsichtlich der Publikation seiner Werke ergaben, werden bei der Gattung Sololied besonders klar erkennbar: Einerseits führte seine freigiebige Geschenkpraxis hier zu einer übergroßen Menge von Quellen und Fassungen, welche die heutige editorische Aufarbeitung vor besondere Probleme stellt; andererseits verhielt sich Mendelssohn hinsichtlich der Drucklegung von Liedern extrem restriktiv: Von den annähernd 130 bekannten Kompositionen der ____________ 7 8 9
Felix und Cécile Mendelssohn Bartholdy, Das Tagebuch der Hochzeitsreise, hrsg. von Peter Ward Jones, Zürich, Mainz 1997, S. 90. Sie können im Freien Deutschen Hochstift Frankfurt/M., Beutler Nachlass, wo das Autograph aufbewahrt wird, bewundert werden. Zitiert nach den Versteigerungskatalogen von Otto Haas, London, Katalog 1 (1936), lot 221 bzw. Katalog 7 (1938), lot 109.
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Gattung10 erschienen zu seinen Lebzeiten lediglich 56. Dies aber charakterisiert die spezifische Überlieferung des kompositorischen Werks von Mendelssohn insgesamt, von dem letztlich nur ein kleiner Teil in autorisierter Form veröffentlicht ist. Beim Tode von Mendelssohn im November 1847 waren neben rund 30 kleineren Stücken ohne Zählung nur 70 mit Opuszahlen ausgezeichnete Werke bzw. Werkgruppen erschienen. Die Lieder op. 71 (MWV K120, K119, K126, K116, K124 und K125) befanden sich bereits im Druck, die Sechs Kinderstücke für Klavier op. 72 (MWV U171, U170, U164, U169, U166 und U168) hatte der Komponist ebenso noch für die Publikation vorbereitet wie das Lauda Sion für Soli, Chor und Orchester MWV A24, das dann im Folgejahr unter der schon nicht mehr autorisierten Opuszahl 73 erschien. 2.
Publikation aus dem Nachlass
Nach Mendelssohns Tod achtete seine Witwe Cécile streng darauf, dass den Intentionen ihres verstorbenen Mannes hinsichtlich von Veröffentlichungen Folge geleistet wurde, und betonte im Jahre 1848: Soll aber hierbei im Sinne meines Ehemannes gehandelt werden, so kann eine weitere Herausgabe nur mit strenger und gewissenhafter Auswahl vorgenommen werden. Nicht wenige seiner Compositionen sind niemals für die Öffentlichkeit oder für die Herausgabe bestimmt gewesen; er schrieb dieselben meist nur aus innerem Drange als Ergebniß und Thatsache seines stets regen innern Kunstlebens, ohne Rücksicht und Absicht auf künftige Veröffentlichung, zu welcher er sich überhaupt schwer, in der Regel aber erst nach jahrelangem Warten entschloß.11
Um diesen Maximen gerecht werden zu können, wurde ein Gremium aus Verwandten und befreundeten Kollegen einberufen, das darüber befand, welche Kompositionen aus dem Nachlass zum Druck freigegeben werden konnten und in welcher Reihenfolge dies geschehen sollte. Diesem „Editionsbeirat“ gehörten neben Cécile und Mendelssohns Bruder Paul die Musiker Ferdinand David, Ignaz Moscheles, Moritz Hauptmann und Julius Rietz sowie der Jurist Heinrich Conrad Schleinitz an. Zu einer der folgenreichsten (Fehl-)Entscheidungen des Gremiums gehörte der Beschluss, die Reihe der Opuszahlen, die der Komponist seinen Werken gegeben hatte, bei den künftigen Veröffentlichungen an 72 anschließend fortzusetzen, mithin eine nichtautorisierte Zählung einzuführen. Diese erfolgte in zwei Etappen: 1848–1852 wurden die Opuszahlen bis ____________ 10 11
Siehe Werkverzeichnis (wie Anm. 1), Werkgruppe K. Zitiert nach Rudolf Elvers, Felix Mendelssohn Bartholdys Nachlaß, in: Das Problem Mendelssohn, hrsg. von Carl Dahlhaus (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 41), Regensburg 1974, S. 35–46, das Zitat S. 38f.
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100 vergeben, dann 1867–1873 – nun ohne Beteiligung von Cécile, die 1853 verstorben war – die Opuszahlen bis 121. Ralf Wehner konstatiert zu Recht: In der neueren Forschung besteht mittlerweile Konsens darüber, daß diese postum vergebenen Opuszahlen auf Dauer nicht aufrechterhalten werden können. Zu sehr widerspiegeln sie die Beurteilungsweise des 19. Jh., die keine Probleme darin sah, Werkfassungen zu kompilieren, Titel und Satzbezeichnungen zu verändern, willkürliche Zusammenstellungen von Einzelstücken zu Zyklen vorzunehmen (op. 75–77, 81, 84–86, 88, 99, 100, 102, 104, 120) oder nur Teile von Werken zu veröffentlichen. Die Reihenfolge der Entstehung, die bei den originalen Opuszahlen zumindest annähernd nachvollziehbar war, wird völlig ignoriert. Hohe Opuszahlen suggerieren Spätwerke, obwohl Stücke wie op. 101, 105, 106, 110 oder 119 der Jugendzeit entstammen. In den wenigsten Fällen erschienen die Werke in Fassungen, die Mendelssohn in dieser Form gutgeheißen hatte. So sollten selbst populär gewordene Stücke wie die „Italienische“ Symph., um nur ein prägnantes Beispiel herauszugreifen, in der jetzt bekannten Form nicht veröffentlicht, sondern noch einmal einer Revision unterzogen werden, die in diesem Falle nur für die letzten drei Sätze stattgefunden hat.12
II.
Die früheste Idee einer Gesamtausgabe und die beiden ersten Leipziger Werkausgaben
1.
„… wegen einer künftigen Ausgabe sämmtlicher Werke“ (1834)
Am 17. Oktober 1834 brachte der Verlag Breitkopf & Härtel Mendelssohn gegenüber erstmals die Idee einer vollständigen Ausgabe aller Werke zur Sprache: Gern gönnen wir dem p Betzhold13 ein gutes Werk, doch würden wir es nicht gern sehen, wenn dadurch die Reihe Ihrer Werke in unserem Verlage unterbrochen würde. Später, wenn es gilt, eine vollständige Ausgabe aller Werke zu liefern, und auch sonst wohl, macht es dann gar viele Schwierigkeiten, die oft zu unübersteiglichen Hindernissen werden, und heute selbst giebt es noch keine vollständige und würdige Ausgabe Beethoven’scher Werke, bloß weil er das Eigenthumsrecht seiner Werke mehrern Verlegern gab. Wir hoffen in Ihrem nächsten Brief hierüber ein paar freundliche Worte zu hören. Fänden wir darin die Versicherung, daß wir künftig auf alle Ihre Werke – versteht sich ohne Nachtheil für Sie – Anspruch machen dürfen, so sollte uns dies unendlich erfreuen.14
____________ 12 13 14
Wehner und Krummacher, Felix (Jacob Ludwig) Mendelssohn (wie Anm. 1), Sp. 1560. Friedrich Wilhelm Betzhold, Verleger in Elberfeld. Brief von Breitkopf & Härtel an Mendelssohn vom 17. Oktober 1834. Bodleian Library, University of Oxford, Signatur MS. M. Deneke Mendelssohn d. 29, Green Books III-286.
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Auch Mendelssohn hatte seine Werke von mehreren Verlagen publizieren lassen, so beispielsweise – um auch den zweitwichtigsten Verlag zu nennen – bei N. Simrock in Bonn, dem er sämtliche Lieder ohne Worte und beide Oratorien anvertraute. Als Hauptverleger des Komponisten muss dennoch mit weitem Abstand Breitkopf & Härtel gelten, der damit auch die ökonomische Legitimation besaß, ein derart umfangreiches Projekt anzuvisieren. So fand denn der Komponist in seinem Antwortschreiben vom 15. November 1834 auch die erbetenen „freundlichen Worte“, hielt sich aber hinsichtlich des Gesamtausgabenplans, der als solcher gar nicht angesprochen wird, merklich zurück: Nun habe ich noch auf den Punct wegen des Liederheftes welches Hr. Betzhold ankündigt zu antworten. Ich wußte dies nicht, und hatte ihm früher nur ganz im Allgemeinen zugesagt ihm ein Heft Lieder zur Herausgabe zu schicken, wenn ich wieder eins hätte. Dies ist aber nicht der Fall und um so mehr wundert es mich, daß er Compositionen ankündigt, die nicht componirt sind. Für Ihre sehr freundlichen Anerbietungen bei dieser Gelegenheit danke ich Ihnen herzlich und bin sehr erfreut über diesen Beweis Ihrer Güte. Ich gestehe Ihnen, daß mich immer eine gewisse Scheu zurückhält, von meinen Sachen allzuviel anzubieten, und wenn ich mehreres habe, was ich zu gleicher Zeit herausgegeben wünsche, oder kurz nach einander, so dachte ich immer es möchte einem Verleger zu viel werden und gab es einem andern, weil mir nichts unangenehmer ist als mit meinen Compositionen lästig zu fallen, oder einen refus zu bekommen. Drum ist mir es doppelt lieb, daß Sie mir sagen, daß beides nicht der Fall sein werde und wenn ich etwas Neues herausgebe werde ich gewiß mit Freuden Sie eher als jeden andern fragen, ob Sie es bei sich erscheinen lassen wollen, und mich herzlich freuen wenn Sie es bejahen.15
Schließlich erwähnte Mendelssohn den Gesamtausgabenplan, den er nun konkret bei Namen nennt, auch der Familie in Berlin gegenüber. Am 1. Dezember 1834 schrieb er an seine Mutter: Breitkopf & H. haben mir jetzt kürzlich erklärt, sie wollten alles von mir kaufen, was ich herausgeben wollte, und zwar wegen einer künftigen Ausgabe sämmtlicher Werke (klingt das nicht höchst vornehm?) und sind durch eine Ankündigung eines andern Verlegers, wie sie mir schreiben, sehr gekränkt worden.16
Auffällig an diesem Projekt, das zwischen dem Verlag und Mendelssohn danach nicht mehr thematisiert wurde, ist zunächst, dass bei Breitkopf & Härtel ein solches Editionskonzept bereits erwogen wurde, bevor gut fünfzehn Jahre ____________ 15
16
Brief vom 15. November 1834 an Breitkopf & Härtel. Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Breitkopf & Härtel-Archiv. Abgedruckt in: Felix Mendelssohn Bartholdy. Briefe an deutsche Verleger, hrsg. von Rudolf Elvers, Berlin 1968, S. 39–41, das Zitat S. 40f. Brief vom 1. Dezember 1834 an die Mutter. Music Division, The New York Public Library for the Performing Arts, Astor, Lenox and Tilden Foundations, Signatur *MNY++ MendelssohnBartholdy, Felix, letter No. 213.
Zur Herausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy
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später mit der Bach-Edition die erste große Welle von Komponisten-Gesamtausgaben einsetzte. Und bemerkenswert ist darüber hinaus, dass als Gegenstand des Projekts nicht ein großer Meister der Vergangenheit, sondern ein zeitgenössischer, gerade erst 25-jähriger Komponist ins Auge gefasst wurde, dessen Ruhm sich noch nicht zu voller Blüte entfaltet hatte. 2.
Felix Mendelssohn Bartholdy’s Werke. Kritisch durchgesehene Ausgabe (1874–1877)
Die erste umfassende Mendelssohn-Werkausgabe fügt sich in beinahe jeder Hinsicht nahtlos in die vorangehende Entwicklung der von ihm selbst, der Familie, den Freunden und Kollegen sowie dem Hauptverlag verantworteten Entwicklung der Veröffentlichung seines kompositorischen Œuvres ein. Sie stellt gewissermaßen den Schluss- und Höhepunkt dieser Entwicklung dar. Breitkopf & Härtel war das Verlagshaus, das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahezu konkurrenzlos in der Organisation und Herstellung von Musiker-Gesamtausgaben profiliert hatte. Es passte also lückenlos in das Verlagskonzept, wenn das Leipziger Unternehmen mit der zwischen 1874 und 1877 erschienenen Mendelssohn-Ausgabe jenen Plan Wirklichkeit werden ließ, den man bereits vierzig Jahre zuvor mit dem Komponisten erörtert hatte. Julius Rietz fungierte als Herausgeber und führte damit das Vermächtnis des nur um wenige Jahre älteren Komponisten, mit dem er lange Jahre befreundet war, getreulich fort. Rietz war Dirigent, Komponist und Kompositionslehrer und besaß keine editorische Kompetenz im heutigen Sinne. Die Hauptarbeiten, beispielsweise die Herstellung der Stichvorlagen, konkrete philologische Entscheidungen bezüglich des musikalischen Details oder die Korrekturlesungen, oblagen also den Mitarbeitern des Verlages. Die Verantwortung von Rietz, der ja bereits dem oben erwähnten, von der Witwe des Komponisten eingerichteten „Editionsbeirat“ angehörte, bestand hauptsächlich in der Festlegung des inhaltlichen Rahmens, d. h. in der Entscheidung, welchen Status die Ausgabe haben solle und welche Werke in sie aufzunehmen seien. Diesbezüglich wurde mit dem Verlag Konsens erzielt, dass man – gegen den Trend der Zeit – keine Gesamtausgabe wie etwa die seit 1850 ebenfalls bei Breitkopf & Härtel erscheinende Bach-Edition, sondern eine Auswahlausgabe vorlegen wolle, die sich ausschließlich auf die bereits zuvor im Druck erschienenen Kompositionen beschränkte. Diese Reduktion des philologischen Anspruchs lässt sich an der Tatsache ablesen, dass man – wiederum im Unterschied zu der Bach-Edition – generell auf einen Kritischen Bericht verzichtete und nur in Ausnahmefällen
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andere Quellen als die Erstdrucke zu Rate zog. Rietz und der Verlag schrieben damit genau die „editorial policy“ fort, die in dem „Editionsbeirat“ nach 1847 für richtig gehalten wurde: Die Ausgabe von 1874–1877, die häufig genug und fälschlich Alte Gesamtausgabe genannt wird, war keineswegs von der Intention getragen, das kompositorische Gesamtwerk Mendelssohns vorzulegen, und hieß dementsprechend zurückhaltend Felix Mendelssohn Bartholdy’s Werke. Kritisch durchgesehene Ausgabe. Freilich liest sich das in den Verlagsprospekten weit weniger bescheiden. So druckte Breitkopf & Härtel eine mit 1. August 1874 datierte „Einladung zur Subscription auf die Erste kritisch durchgesehene Gesammtausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy“; und in einem erneuten Subskriptionsaufruf, der im Januar 1878 im „Verzeichniss des Musikalienverlages von Breitkopf & Härtel in Leipzig“ erschien, wurde behauptet: Diese würdige Gesammtausgabe der Werke Felix Mendelssohn Bartholdy’s, welche in musikwissenschaftlichem Werthe wie auch in äusserer Ausstattung, in Preis und Erscheinungsweise sich unserer grossen Beethoven-Ausgabe eng anschliesst, hat so ungetheilte Anerkennung gefunden, dass sie eines Wortes der Empfehlung von Seiten der Verleger nicht bedarf; dieselbe ist, nunmehr vollendet, die e i n z i g e v o l l s t ä n d i g e A u s g a b e der Werke des grossen Componisten. – Jede Serie, jedes Werk, jede Nummer und jede Stimme wird auch einzeln zum Preise von 30 Pf. für den Bogen abgegeben. Die Gesammtausgabe ist daher dazu angethan, in ihren Einzelausgaben in alle Poren des Volkes einzudringen.17
Sachliche Probleme wirft allerdings weniger diese einigermaßen irreführende Werbestrategie des Verlages als vielmehr die Tatsache auf, dass dieser und Julius Rietz die editorischen Entscheidungen, die bereits nach Ableben des Komponisten von jenem „Editionsbeirat“ getroffen worden waren, unbeirrt fortschrieben. Man unternahm also keinen Neuanfang, sondern setzte die gewohnte Praxis der Herausgabe der Kompositionen Mendelssohns unverändert fort: Weiterhin blieb es bei der Kompilation unterschiedlicher Werkfassungen, der willkürlichen Zusammenstellung von Einzelstücken zu Zyklen, der Publikation von Werkteilen – sieht man einmal ab von Details wie Eingriffen in die Titelgebung der Werke oder die Benennung einzelner Sätze. Trotz dieser inhaltlichen Vorbehalte bleibt die eminente Leistung, die Breitkopf & Härtel mit der ersten Mendelssohn-Werkausgabe vollbracht hat, unbestritten. Innerhalb von nur vier Jahren lagen die von Anfang an projektierten 36 Bände vor, die nicht weniger als 13.000 Stichplatten erfordert hatten. Die 157 Nummern wurden in 19 Serien vorgelegt, die ihrerseits in vier Werkgruppen (Orchester-Werke mit vier, Kammer-Musik mit drei, Pianoforte-Musik mit ____________ 17
Mitteilung von Dr. Andreas Sopart, Archiv des Verlages Breitkopf & Härtel, Wiesbaden.
Zur Herausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy
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fünf und Gesangsmusik mit sieben Serien) zusammengefasst wurden. Neben einer Präsentationsform, deren Bände in Sarsenet eingeschlagen waren, brachte der Verlag zugleich eine billige Ausgabe in rot kartonierten Bänden heraus. Die Ausgabe von 1874–1877 erwies sich als unglaublicher, vor allem langlebiger Erfolg bezüglich der Rezeption Mendelssohnscher Werke, der teilweise bis an die Schwelle zum 21. Jahrhundert wirkt. Sie stellte einen quasi sakrosankten, unantastbaren Notentext zur Verfügung, der nicht nur mehrere Male als Ganzes nachgedruckt wurde,18 sondern praktisch die Basis für alle Folgeausgaben und für alle Aufführungen Mendelssohnscher Werke legte. Ob es gesammelte Werke im Rahmen der Leipziger Edition Peters waren oder Teilausgaben von Klavierwerken, Orchesterwerken oder Liedern in anderen Verlagen (Litolff, Steingräber, Eulenburg u. a.), sie alle gingen letztlich – auch wenn sie nochmals revidiert wurden – auf den Notentext der „Alten Gesamtausgabe“ und damit auf Julius Rietz zurück. Kompositionen, die außerhalb dieses Werkkorpus erschienen – schon 1880 war ein unbekanntes Jugend-Streichquartett publiziert worden19 –, blieben und bleiben außerhalb des öffentlichen Bewusstseins.20
3.
Die Leipziger Ausgabe der Werke Felix Mendelssohn Bartholdys (1959–1977)
Mit der zweiten Welle der Publikation von Gesamtausgaben, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland einsetzte,21 wandte sich das Interesse der Editoren mit Felix Mendelssohn Bartholdy nun auch einem Komponisten zu, dessen ideologisch motivierte Verfemung im Dritten Reich ihren Höhepunkt erreicht hatte und dessen Werke lediglich in einer unvollständigen und methodologisch defizienten Sammelausgabe vorlagen, die nur fälschlich und aus fehlgeleiteter Gewohnheit „Gesamtausgabe“ genannt wurde. Mit anderen Worten: Dass die Mängel der Rietz-Ausgabe in wachsendem Maße wahrgenommen wurden, hatte seinen Grund insbesondere darin, dass die politische Situation dem Werk Mendelssohns in der musikalischen Praxis wieder den ihm angemessenen Stellenwert einzuräumen erlaubte und man auch in der Musikwissenschaft – wenngleich zögerlich – die Wiedergutmachung an einem großen deutschen Komponisten immer mehr als zwingende Notwendigkeit empfand. Zunächst allerdings hatte die akademische Disziplin in der Bundesrepublik ____________ 18
19 20 21
Nachdrucke in den 1960er Jahren: so 1966 in Wiesbaden (von Breitkopf & Härtel selbst) sowie in Farnborough (Hampshire), England 1967/1968 (Gregg) und auch bei Edwin F. Kalmus in New York (freundliche Mitteilung von Ralf Wehner). Das 1823 komponierte Quartett Es-Dur für zwei Violinen, Viola und Violoncello MWV R18 (freundliche Mitteilung von Ralf Wehner). Wehner, „… wegen einer künftigen Ausgabe sämmtlicher Werke“ (wie Anm. 1), S. 129. Zu den Gründen dafür siehe Vorwort des Herausgebers in: Editionsrichtlinien musikalischer Denkmäler und Gesamtausgaben, im Auftrag der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Georg von Dadelsen, Kassel [u. a.] 1967, S. 7–16, insbesondere S. 7.
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„Das Problem Mendelssohn“22 aufzuarbeiten, während Musikwissenschaftler in der DDR bereits Ende der 1950er Jahre aus dem wachsenden Bedarf der Praxis den Schluss zogen, dass ein Mendelssohn gewidmetes Editionsprojekt dringend erforderlich sei. So schrieb Karl-Heinz Köhler 1959: Die Nachfrage nach diesen Werken wuchs in den letzten Jahren stark an, und nicht immer schienen es berufene Hände, die nach Aufführung oder Publikation drängten, so daß es dringend geboten schien, diese Bestrebungen in Bahnen zu lenken, die dem Ansehen Mendelssohns gerecht werden. Es war daher vor etwa zwei Jahren ein Hauptanliegen der Musikabteilung der Deutschen Staatsbibliothek, mit dem derzeit in Basel lebenden Urenkel des Meisters in freundschaftlichem Einvernehmen diese Probleme zu erörtern. […] Hugo von M endelssohn, der an dem Werk seines Urgroßvaters starkes Interesse zeigt, rief vor etwa einem Jahr die Internationale Felix M endelssohn-Gesellschaft ins Leben, die den Charakter eines Mendelssohn-Forschungsinstitutes annahm und ihren Sitz in Basel hat. Der Aktuar dieser Gesellschaft, Herr Max F. Schneider, nahm im vergangenen Jahr die konkreten Gespräche und Verhandlungen mit der Deutschen Staatsbibliothek auf, und seit Oktober 1958 liegt eine Vereinbarung zwischen beiden Instituten und dem Deutschen Verlag für Musik, Leipzig, vor.23
Das erste Konzept dieser neuen Mendelssohn-Ausgabe verstand sich als ein vorläufiges, was dadurch kenntlich gemacht wurde, dass die ersten seit 1960 erschienenen Bände ohne Serien- und Bandnummern gedruckt wurden. Wie Frieder Zschoch, der damals für die Gesamtausgaben zuständige Lektor des Deutschen Verlags für Musik, bezeugt, wollte man „hierdurch die spätere Einordnung in eine neue Gesamtausgabe erleichtern“.24 Doch legte man sich auch inhaltliche Beschränkungen auf und wandte sich in erster Linie dem weithin unbekannten Frühwerk Mendelssohns zu. Das geht aus der ebenfalls von Zschoch25 mitgeteilten Planung von zunächst 15 Bänden hervor: Band 1 Band 2 Band 3 Band 4
Sinfonien I–VII Sinfonien VIIIa, VIIIb, IX Sinfonien X–XIII Konzert für 2 Klaviere und Orchester E-Dur
____________ 22 23
24
25
So hieß der Kongress, den Carl Dahlhaus 1972 in Berlin organisierte und dessen wissenschaftliche Resultate in Das Problem Mendelssohn (wie Anm. 11) gedruckt wurden. Karl-Heinz Köhler, Der unbekannte junge Mendelssohn. Einige Bemerkungen zu den unveröffentlichten Jugendkompositionen Felix Mendelssohn Bartholdys, in: Musik und Gesellschaft 9 (1959), S. 2, Hervorhebungen original. Frieder Zschoch, Zur neuen Mendelssohn-Ausgabe, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Leipziger Ausgabe 128, Nr. 20 (23. 5. 1961), Beilage Der Musikalienhandel, Nr. 5, S. 18f., das Zitat S. 19. Ebd., S. 18f.
Zur Herausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy Band 5 Band 6 Band 7 Band 8 Band 9 Band 10–15
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Konzert für 2 Klaviere und Orchester As-Dur Konzert für Klavier und Streichorchester a-Moll Konzert für Violine und Streichorchester d-Moll und Konzert für Violine, Klavier und Streichorchester d-Moll Kompositionen für Klavier und Orgel Kammermusikwerke verschiedener Besetzung Vokalwerke einschließlich der bisher unveröffentlichten Singspiele
Ende der sechziger Jahre entschloss man sich, das Konzept in das einer Gesamtausgabe zu überführen, für deren Erwerb 1967 durch einen Subskriptionsaufruf geworben wurde. Von nun an erschienen die Bände mit Serien- und Bandnummern; und dass jetzt auch Werke, die von Mendelssohn zum Druck freigegeben worden waren, in die aktuelle Editionsarbeit einbezogen wurden, belegte das Erscheinen der Streichquartette op. 12 und 13 bzw. op. 44 in den Jahren 1976 bzw. 1977. Die anderen acht Bände der Ausgabe dagegen entsprachen noch dem ursprünglichen Konzept, so die der 12 Jugendsinfonien MWV N1 bis N12 (zwischen 1965 und 1972), die der beiden Doppelkonzerte für Klavier und Orchester MWV O5 und O6 (1960 und 1961), die des Konzerts für Violine und Streichorchester d-Moll MWV O3 (1973); an Vokalwerken waren 1966 die Komische Operette Die beiden Pädagogen MWV L2 und 1977, dem letzten Jahr, in dem vollständige Bände vorgelegt wurden, das Te deum MWV B15 von 1826 erschienen. Dass die Leipziger Ausgabe der Werke Felix Mendelssohn Bartholdys nach 1977 zum Erliegen kam, aber wohl bereits schon zuvor zum Scheitern verurteilt war, lag letztlich an den politischen Umständen, die sich – wie bei allen Unternehmungen der DDR – unweigerlich auch auf die kulturellen Aktivitäten niederschlugen. Dagegen konnten auch die besten Bemühungen von Einzelpersonen innerhalb und außerhalb des Deutschen Verlags für Musik nur wenig ausrichten. Bestand bei jenem Vertragsabschluss 1958 noch die Hoffnung, das als so dringend notwendig erachtete Projekt in Kooperation zwischen Ost und West, etwa ähnlich wie die Neue Bach- und die Hallische Händelausgabe, ins Werk setzen zu können, so machte der Bau der Berliner Mauer 1961 solch optimistische Erwartungen endgültig zunichte. Abgeschnitten war die Kommunikation zur internationalen Fachwelt, verwehrt war auch die direkte Einsicht in die so weit verstreuten Mendelssohn-Quellen, soweit sie im westlichen Ausland, namentlich in Oxford, New York oder auch im Mendelssohn-Archiv der Berliner Staatsbibliothek (West) aufbewahrt wurden. Diese Beschränkung schlug sich nicht nur auf den Editionsplan, sondern auch auf den Umfang und die Ausführlichkeit des Kritischen Apparats in den Einzelbänden nieder, der
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kaum den Standards zeitgleicher Gesamtausgaben in der Bundesrepublik, etwa der Mozart- oder Schönberg-Ausgabe, Genüge tun konnte.
III.
Die Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy (seit 1992)
1.
Konzeptionelle und organisatorische Grundlagen
Die 1992 begonnene dritte Leipziger Mendelssohn-Ausgabe wird von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig herausgegeben, von der an dieser Akademie eingerichteten Forschungsstelle erarbeitet und von Breitkopf & Härtel verlegerisch betreut. Die ersten Notenbände des Langzeitprojekts, dessen Abschluss für 2047 geplant ist, erschienen 1997. Die Ausgabe setzt sich zum Ziel, sämtliche erreichbaren Werke, Quellen, Schriften (insbesondere Briefe) und Dokumente des künstlerischen Schaffens von Felix Mendelssohn Bartholdy in wissenschaftlich angemessener Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Als historisch-kritische Ausgabe will sie der Forschung und der musikalischen Praxis gleichermaßen dienen. Im Vordergrund stehen naturgemäß die musikalischen Werke Mendelssohns, deren Edition bis 2030 abgeschlossen sein soll. Bei ihnen sind nicht nur die fertigen Kompositionen mit all ihren Fassungen, sondern auch die Dokumente des Entstehungsprozesses, d. h. Skizzen bzw. Entwürfe, sowie die unabgeschlossenen Kompositionen, d. h. Fragmente, zu berücksichtigen. Von den etwa 80 geplanten Notenbänden sind gegenwärtig 32 erschienen. Daneben kommt den bildnerischen Werken, vornehmlich Zeichnungen und Aquarellen, eine große und bislang kaum beachtete Bedeutung zu; sie dürfen – will man ein umfassendes Bild des Künstlers Mendelssohn gewinnen – nicht unveröffentlicht bleiben. Für die angemessene wissenschaftliche Aufarbeitung auch der musikalischen Werke ist darüber hinaus die zuverlässige Edition der Korrespondenz und die der Schriften unabdingbare Voraussetzung. Ein Werkverzeichnis, dessen erste Fassung im Jubiläumsjahr 2009 erschienen ist,26 soll dazu beitragen, die rasche Erschließung des Gesamtwerks zu fördern. 2.
Disposition und inhaltliche Editionsgrundsätze
In der Serien- bzw. Bandeinteilung sowie in der zeitlichen Disposition der zu edierenden Kompositionen schließt sich die neue Mendelssohn-Ausgabe, die sich als erste wirklich Gesamtausgabe nennen darf, an die vorangehende Leip____________ 26
Werkverzeichnis (wie Anm. 1).
Zur Herausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy
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ziger Ausgabe der Werke Felix Mendelssohn Bartholdys an. So werden die dort zwischen 1960 und 1977 vorgelegten Werke erst zu einem späteren Zeitpunkt überarbeitet werden; die im Grundsatz beibehaltene Seriengliederung erfährt die folgende Erweiterung: Serie I Orchesterwerke Serie II Konzerte und Konzertstücke Serie III Kammermusikwerke Serie IV Klavier- und Orgelwerke Serie V Bühnenwerke Serie VI Geistliche Vokalwerke Serie VII Weltliche Vokalwerke Serie VIII Skizzen und Fragmente, die den in den Serien I bis VII veröffentlichten Werken nicht zugeordnet werden können; zusammenhängende Skizzenkonvolute Serie IX Bearbeitungen und Instrumentationen Serie X Zeichnungen und Aquarelle Serie XI Briefe, Schriften und Tagebücher Serie XII Dokumente zur Lebensgeschichte Serie XIII Werkverzeichnis
Hinsichtlich der Editionsprinzipien sowie der Anlage der Kritischen Berichte wird den aktuellen Standards, die sich in den wissenschaftlichen Gesamtausgaben der letzten Jahrzehnte herausgebildet haben, Rechnung getragen. Dies bezieht sich namentlich auf das Postulat, dass alle Herausgeberentscheidungen – sei es im Notentext selbst, sei es im Kritischen Bericht – kenntlich und dem kritischen Benutzer nachvollziehbar gemacht werden. Darüber hinaus entspricht die neue Gesamtausgabe im Gegensatz zu älteren Konzeptionen von Werkeditionen der heute weithin akzeptierten Überzeugung, dass alle Stationen des Entstehungsprozesses einerseits und der vom Komponisten persönlich verantworteten Verbreitung der Kompositionen andererseits zum Werk selbst gehören. Dem Bereich des Entstehungsprozesses zuzurechnen sind beispielsweise Skizzen, Entwürfe, Fragmente und unterschiedliche Fassungen, dem der Verbreitung namentlich die Arrangements größerer Besetzung für Klavier zu zwei oder vier Händen. 3.
Fallbeispiele
a.
Bearbeitungen für Klavier
Mendelssohn gehört der ersten Komponistengeneration an, für die es selbstverständlicher Usus war, von Orchesterwerken oder größer besetzten Chorwerken auch Bearbeitungen für Klavier zu zwei oder (mehrheitlich) vier Händen zu verfertigen und drucken zu lassen. Dabei wusste er sehr genau zu unter-
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scheiden, ob es sich um eigenständige Arrangements für den häuslichen Gebrauch im bürgerlichen Wohnzimmer, denen er größere gestalterische Aufmerksamkeit zuwandte, oder um bloße Klavierauszüge zum Zweck der Einstudierung handelte. Ersteres trifft beispielsweise auf die Arrangements von drei der vier Konzert-Ouvertüren (op. 21, 26 und 32 – bei op. 27 war Breitkopf & Härtel dem Komponisten zu dessen großem Verdruss zuvorgekommen) oder auch auf das vierhändige, in Teilen auch zweihändige Arrangement der Schauspielmusik zu Shakespeares Sommernachtstraum op. 61 zu. Für das Oratorium Elias op. 70 hingegen fertigte Mendelssohn lediglich einen Klavierauszug zu zwei Händen an (nur für die rein instrumentale Ouvertüre liegt auch ein vierhändiges Arrangement vor), in dem der Tonsatz an vielen Stellen so reduziert ist, dass er keinen vollständigen Überblick über das original Komponierte erlaubt, sondern lediglich für die Einstudierung der Vokalstimmen geeignet erscheint. Interessanterweise bestand der Komponist dem Verlag gegenüber in den allermeisten Fällen darauf, dass die Klavier-Bearbeitung beider Arten (zugleich mit den Orchesterstimmen) vor der Partitur veröffentlicht wurde. Bezüglich der Schauspielmusik zu Ein Sommernachtstraum op. 61 beispielsweise schreibt er am 10. Dezember 1843 an Breitkopf & Härtel: „Sind Sie mit einem Honorar von 100 Friedr d’or für Clavier-Auszug und Partitur einverstanden? Doch wäre mir es freilich lieb, wenn die Partitur um ein Bedeutendes später als der Auszug erschiene“.27 Bei der Konzert-Ouverture zu Shakespeares Sommernachtstraum op. 21 führte Mendelssohns Neigung, den Partiturdruck zu verzögern, sogar zu einer außergewöhnlich deutlichen Kritik in der Presse. Der Rezensent der Stimmenausgabe, die im September 1832 erschienen war, schrieb am 26. Dezember des Jahres in der Allgemeinen musikalischen Zeitung: Wie sollte es aber dem besten Traumdeuter möglich seyn, Träume zu deuten oder von einem Nachtraume zu berichten, ob er dem Vortraume gleiche und wie [sie] sich zu einander verhalten, wenn ihm statt lebendiger Bilder nur einzelne Gliedmaassen unter einander geschüttelt vorgehalten werden? Mit zwey Worten: K e i n e P a r t i t u r ! Da geht es nicht.28
Mendelssohn reagierte im November 1833 dem Verlag gegenüber auf diese Vorwürfe, und erst im März 1835 sah die so lang ersehnte Partitur der ja immerhin schon im August 1826 vollendeten Ouvertüre das Licht der Öffentlichkeit. ____________ 27 28
Original in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt, Breitkopf & Härtel Archiv. Abgedruckt in: Mendelssohn Bartholdy, Briefe an deutsche Verleger (wie Anm. 15), S. 135f. Allgemeine Musikalische Zeitung 34 (1832), Sp. 863f., das Zitat Sp. 864.
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Mendelssohn also betrachtete die Klavierarrangements als ein besonders probates Mittel, um seine Kompositionen in der interessierten Öffentlichkeit zu verbreiten, und diese Haltung war gut begründet in einer Zeit, in der Aufführungen größerer Dimension – sei es von Orchesterwerken, sei es von großen Chorwerken mit Orchester – eher rar waren. Andere sind ihm darin gefolgt. Brahms z. B. hat zum gleichen Zweck von allen Orchesterkompositionen und sämtlichen Kammermusikwerken ohne Klavier (außer dem Klarinettenquintett op. 115) solche Bearbeitungen für Klavier zu vier Händen oder für zwei Klaviere hergestellt. Es liegt also auf der Hand, dass diese Arrangements unverzichtbarer Teil der ästhetischen Existenz der Werke waren und es als selbstverständlich hätte gelten müssen, sie in die Gesamtausgaben der in Frage stehenden Komponisten aufzunehmen. Das aber war bei den großen Musikereditionen, die in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen, nicht der Fall: In puristischer Konzentration auf das individuelle, abgeschlossene Kunstwerk in seiner einmaligen Originalgestalt schloss man die Nebenfassungen, auf welche die Autoren selbst so viel Wert gelegt hatten, von der Publikation aus. Weder in der genannten Rietz-Ausgabe der Mendelssohn’schen Komposition noch etwa in der zwischen 1926 und 1928 von Hans Gál und Eusebius Mandyczewski veröffentlichten Brahms-Gesamtausgabe fanden die Klavierbearbeitungen Platz. Diese einseitige Editionspraxis der Gesamtausgaben hat sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend geändert: Alle vom Komponisten selbst verantworteten Fassungen gelten als Teil des Werkganzen und werden in anderen Komponisteneditionen ebenso wie in der Mendelssohn-Gesamtausgabe erneut veröffentlicht. b.
Fassungen der Orchesterwerke
Doch stellen sich bei jedem Komponisten die Probleme neu und andersartig. Dies trifft ganz besonders auf die spezifische musikhistorische Situation zu, in der Mendelssohn sich befand und die ihn aufgrund seines permanenten Perfektionsdruckes dazu führte, den ästhetischen Anspruch des autonomen, ein für allemal abgeschlossenen Kunstwerks in ganz unterschiedlichen Graden der Vollendung zu realisieren. Davon legen die unterschiedlichen Fassungen zahlreicher Werke Zeugnis ab, aber auch die Tatsache, daß der Komponist selbst viele abgeschlossene Kompositionen nicht der Veröffentlichung für wert hielt. Dies lässt sich an der neuen Gattung Konzert-Ouvertüre ebenso deutlich zeigen wie bei den Sinfonien. Den vier Konzert-Ouvertüren von Mendelssohn kommt musikhistorisch eine ganz besondere Bedeutung zu. Sie stellen nicht nur die ersten eigenstän-
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digen Ouvertüren-Kompositionen dar, die nichts mehr einleiten, sondern signalisieren als Ausgangspunkt einer neuen Gattung den Aufbruch zur großen romantischen Instrumentalmusik. Unter den vier Werken der Gattung nimmt die erste, die Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum op. 21 MWV P3 von 1826, in mehrfacher Weise eine Ausnahmeposition ein. Ganz exzeptionell ist einerseits die Tatsache, dass bei ihr die gattungsmäßige Funktion und die ästhetische Existenz gedoppelt wurde: Sie ist als op. 21 ein selbständiges, in sich geschlossenes Konzertstück, in der gleichnamigen Schauspielmusik op. 61 MWV M13 von 1842/1843 dagegen der Kopfsatz eines mehrteiligen und umfangreichen Werkzyklus. Andererseits steht die Sommernachtstraum-Ouvertüre unter den Werken der Gattung insofern allein, als sie nur in einer einzigen Fassung vollendet wurde. Ganz im Gegenteil zu den meisten anderen seiner Werke verzichtete Mendelssohn hier auf jede weitere Überarbeitung. Bei den anderen Ouvertüren hingegen war der Komponist rasch mit der ersten, abgeschlossenen Fassung unzufrieden und machte sich an zum Teil drastische und langwierige Revisionen, bevor er die Kompositionen zum Druck freigab. Bei Die Hebriden op. 26 MWV P7 und dem Märchen von der schönen Melusine op. 32 MWV P12 waren die Frühfassungen schon seit längerem bekannt und standen dem Studium von Mendelssohns Überarbeitungspraxis, ja seiner Revisionswut offen. Bei Meeresstille und glückliche Fahrt op. 27 MWV P5 indes wusste man zwar von einer Frühfassung, die auch zur Aufführung gelangt war; ihr Inhalt aber blieb im Dunkeln. Erst in jüngster Zeit sind im Rahmen der Vorbereitung der Gesamtausgabe zwei Partitur-Abschriften ans Licht getreten, bei denen alles dafür spricht, dass sie den vollständigen Text der Frühfassung bieten. Anders gelagert ist das Problem der permanenten Selbstkritik Mendelssohns bei den Sinfonien, denn hier handelte es sich nicht um eine Innovation des Komponisten, sondern um eine eingeführte, ja durch die Werke Beethovens „belastete“ Gattung hohen ästhetischen Anspruchs. Mendelssohn hat insgesamt 16 Kompositionen der Gattung geschrieben.29 Nur zwei indes hat er selbst veröffentlicht und mit einer Opuszahl versehen: Die c-Moll-Sinfonie op. 11 MWV N13 und die a-Moll-Sinfonie op. 56 („Schottische“) MWV N18. Es gibt bei ihm also kein integrales und autorisiertes Corpus dieser Gattung, wie es uns etwa in den Sinfonien von Beethoven, Brahms und Bruckner begegnet oder wie es bei Mendelssohn in anderen Gattungen, etwa bei den vier Konzert-Ouvertüren, vorliegt. Heutzutage allerdings sind zwei weitere Opuszahlen für Sinfonien Mendelssohns gebräuchlich: 90 für die Italienische MWV ____________ 29
Drei Fragmente und die Sinfonie-Kantate Ein Lobgesang op. 52 nicht mitgerechnet.
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N16 und 107 für die Reformations-Sinfonie MWV N15. Beide wurden bei den postumen Erstdrucken im 19. Jahrhundert durch die Herausgeber hinzugefügt. Dass sie nicht der Chronologie ihrer Entstehung entsprechen können, liegt auf der Hand. Noch sehr viel später, nämlich erst innerhalb jener Leipziger Ausgabe der Werke Felix Mendelssohn Bartholdys, wurden die zwölf Jugendsinfonien MWV N1 bis N12 veröffentlicht – in einer Zeit also, in der man nicht mehr geneigt war, neue, d. h. unautorisierte Opuszahlen einzuführen. Sie können im vorliegenden Zusammenhang außer Acht bleiben, weil sie unverkennbar den Charakter von Studienwerken aufweisen. Mit der c-Moll-Sinfonie für großes (oder – wie Mendelssohn sagte – „ganzes“) Orchester, die am 31. März 1824 in erster Fassung vorlag, war die Schwelle von der eher privaten Jugendsinfonie zur „öffentlichen“ Sinfonie erreicht. Zwar nummerierte sie der Komponist zunächst noch im Anschluss an die vorangehenden Streichersinfonien mit XIII, gab ihr später aber den Namen Première Sinfonie (beim Erstdruck der Stimmen 1834 Berlin) und verlieh ihr die Opuszahl 11. Bereits am 15. November 1824 war die Komposition in Berlin uraufgeführt worden; für die von Mendelssohn selbst geleitete Aufführung am 25. Mai 1829 in London aber ersetzte er das Minuetto durch eine Orchesterbearbeitung des Scherzos aus dem Oktett op. 20. Beide Fassungen wurden noch zu Lebzeiten des Komponisten gedruckt, allerdings jeweils nur in Stimmen bzw. in Ausgaben für Klavier zu vier Händen. Die Partitur – und das bestätigt die oben erwähnte Zurückhaltung des Komponisten in dieser Hinsicht – erschien erst 1854 postum. Mit der c-Moll-Sinfonie war der Rahmen abgesteckt, in dem sich der Entstehungs- und Veröffentlichungsprozess der weiteren Sinfonien (wie der meisten Werke) Mendelssohns entfalten sollte: intensive Überarbeitungs- und Revisionstätigkeit des Komponisten, Fassungen unterschiedlicher Beschaffenheit, Publikationstätigkeit bei unterschiedlichen Verlagen und an verschiedenen Orten, Aufführungsaktivität in vielen Orten und Ländern. Man mag die Revisionswut, die Mendelssohn seinen Sinfonien für großes Orchester angedeihen ließ, auch mit dem hohen ästhetischen Anspruch, der der Gattung seit Beethoven eigen war, in Zusammenhang bringen, doch spricht die Tatsache, dass diese Produktionsweise Mendelssohns, die sich in immer neuen Korrekturen und Überarbeitungen äußerte, in nahezu allen Gattungen zu beobachten ist, eher dafür, dass auch hier von einem durch Beethoven ausgeübten Druck gar nicht oder allenfalls in der Weise die Rede sein kann, dass er mit einer individuellen Neigung Mendelssohns – der unerbittlichen Selbstkritik – übereinkam und sie verstärkte.
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Die zweite Sinfonie für großes Orchester, die Mendelssohn in Angriff nahm und abschloss, steht in d-Moll, läuft heute unter Nr. 5, trägt die Opuszahl 107 und wird Reformationssinfonie genannt. Sie entstand zwischen Herbst 1829 und dem 12. Mai 1830, wurde aber für die Uraufführung am 15. November 1832 in Berlin gründlich überarbeitet. In späteren Jahren distanzierte sich Mendelssohn in drastischen Worten von dem Werk, so in einem Brief vom 11. Februar 1838 an Julius Rietz: „Die Reformations-Symphonie kann ich gar nicht mehr ausstehen, möchte sie lieber verbrennen als irgend eines meiner Stücke: soll niemals herauskommen […].“ Diese negative Einschätzung hatte zur Folge, dass das Werk unter seinen Sinfonien am spätesten (1868) gedruckt wurde und Werknummer sowie Opuszahl, die bei dieser Gelegenheit verliehen wurden, am weitesten vom chronologischen Ort abweichen. Die dritte Sinfonie für großes Orchester, die Mendelssohn in Angriff nahm und abschloss, steht in A-Dur, läuft heute unter Nr. 4, trägt die Opuszahl 90 und wird Italienische genannt. Sie bietet den Sonderfall, dass eine vollständige 1. Fassung vorliegt, die Mendelssohn im März 1833 abschloss, dann aber verwarf und sich im Sommer 1834 an eine Überarbeitung machte, die sich allerdings nur auf die Sätze II bis IV bezog. Den Grund für den Verzicht auf die sehr wohl geplante Überarbeitung des 1. Satzes nennt er in einem Brief vom 26. Juni 1834 an Ignaz Moscheles: Nur das erste Stück habe ich nicht dazu geschrieben, denn wenn ich da mal drüber komme, so fürchte ich, ich muß vom 4ten Takt an das ganze Thema verändern, und somit ziemlich das ganze erste Stück, wozu ich aber jetzt keine Zeit habe.30
So ist einleuchtend, warum der Komponist nie eine Drucklegung der Komposition erwog: Die eine Fassung – sie erschien postum 1851 und bekam die Opuszahl 90 – hielt er für unbefriedigend, die andere – sie wurde erst 2001 veröffentlicht – blieb ohne Kopfsatz unvollendet. Die Arbeit an der Sinfonie Nr. 3 in a-Moll op. 56, die Schottische genannt wird, kam nach zahlreichen früheren Skizzen und Entwürfen am 20. Januar 1842 zum Abschluss. Das Werk, das der Königin Victoria von England gewidmet ist, gelangte am 3. März 1842 in Leipzig sogleich zur Uraufführung und wurde auch rasch gedruckt. Wieder ging 1842 das Arrangement für Klavier zu vier Händen voraus, die Orchesterstimmen und die Partitur folgten 1843. Zwar könnte man bei sehr genauem Hinsehen auch bei dieser Sinfonie von zwei Fassungen sprechen, denn die (nicht autographen) Aufführungsmaterialien zu dem Londoner Konzert am 13. Juni 1842 offenbaren eine beträchtliche Menge früherer Lesarten des musikalischen Textes. Doch sind diese Diffe____________ 30
Album Moscheles, University of Leeds, Leeds University Library, Brotherton Collection.
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renzen keineswegs vergleichbar mit denen etwa zwischen den Fassungen der A-Dur-Sinfonie. Auffällig ist auch die Tatsache, dass Mendelssohn zwischenzeitlich die Zählung der Sinfonie als „no. 2“ in Betracht zog, denn diese Nummerierung findet sich auf dem autographen Titelblatt der Stichvorlage für den deutschen Erstdruck des Klavierarrangements, der im Dezember 1842 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig erschien. Letztendlich aber ließ er diese Werknummer in der Reihe seiner Symphonien31 aus. Trotz all dieser Besonderheiten kann man davon sprechen, dass der Weg von der Komposition zur Publikation bei op. 56 als einziger Sinfonie Mendelssohns „normal“ oder geradlinig verlief, ähnlich also wie später bei allen Sinfonien von Brahms. 4.
Editionsformen
Skizzen, Entwürfe, Fragmente, Fassungen vielfältiger Art – all diese unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Kompositionen Mendelssohns bedeuten eine besondere Herausforderung für die Arbeit der Gesamtausgabe und stellen die differenzierende Hermeneutik der Quellen, die den editorischen Entscheidungen vorangehen muss, ebenso wie die editorische Pragmatik vor besonders schwierige Aufgaben. Sie eröffnen aber auch die Chance, hinsichtlich unfertiger oder unvollendeter Kompositionen modellhafte Verfahrensweisen der Edition zu entwickeln. Um dem jeweiligen Status der Quellen innerhalb der Werkgenese bei der Veröffentlichung gerecht zu werden, macht die Mendelssohn-Gesamtausgabe von drei Editionsformen Gebrauch, die aufgrund der in der Arnold SchönbergGesamtausgabe erstmals angewandten Verfahren weiterentwickelt wurden: die Werkedition, die Inhaltsedition und die Quellenedition. Die Werkedition betrifft die vollendeten Werke sowie die ihnen gleichzustellenden Fassungen und Fragmente. Diese Editionsform stellt das Ergebnis der umfassenden philologischen Sichtung und Interpretation der Quellentexte durch den Herausgeber dar. Abweichungen von der Hauptquelle werden entweder durch die Kennzeichnung im Notentext (eckige Klammern oder Strichelung, Fußnoten), durch die Erläuterung im Kritischen Bericht oder – in besonders gravierenden Fällen – durch beides angezeigt. Darüber hinaus gelten für die Werkedition ähnlich wie in anderen aktuellen Gesamtausgaben folgende Prinzipien: Die Partitur und die Notation entsprechen den heute gültigen Regeln; die Schlüsselung der Vokalstimmen wird der heute üblichen Praxis an____________ 31
Es ist unwahrscheinlich, dass bereits Mendelssohn die Sinfonie-Kantate Ein Lobgesang op. 52 als Sinfonie Nr. 2 ansah, wie es heute gängig ist; belegt ist diese Nummerierung jedenfalls erst in postumen Ausgaben. Viel naheliegender ist die Annahme, dass der Komponist die Lücke der Zählung im Hinblick auf die A-Dur-Sinfonie ließ.
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geglichen; Orthographie und Silbentrennung verbaler Texte werden den heutigen Regeln angepasst, doch bleiben originale Lautfolge und charakteristische Wortformen gewahrt; die Instrumente werden durchweg mit italienischen Namen bezeichnet, bei den Vokalstimmen dagegen werden entweder deutsche (deutscher oder lateinischer Text) oder englische Bezeichnungen (englischer Text) verwendet. Die Inhaltsedition hält sich eng an den Text der in Frage stehenden Quelle. Korrigiert werden lediglich offenkundige Fehler im diastematischen Bereich (z. B. bei Parallelstimmen), ergänzt bzw. getilgt werden unzweifelhaft fehlende bzw. überzählige Zeichen (z. B. Pausen, Bogenanfänge oder -fortsetzungen bei Akkoladenwechsel). In der Darbietungsform dagegen wird der Notentext – etwa bezüglich der Stielrichtung, der Platzierung von dynamischen und Artikulationszeichen, des Untersatzes etc. – den gegenwärtig gültigen Stichregeln angeglichen. Bei der Quellenedition ist die Wiedergabe des Quellentextes diplomatisch, nicht aber stets zeilengetreu. Zeilenwechsel im Original wird durch geeignete Zusatzzeichen angezeigt. Zutaten des Herausgebers (vor allem Schlüssel) stehen in eckigen Klammern. Leersysteme des Originals entfallen in aller Regel.
Ausgaben Felix Mendelssohn Bartholdy’s Werke. Kritisch durchgesehene Ausgabe von Julius Rietz. Leipzig: Breitkopf & Härtel 1874–1877 Leipziger Ausgabe der Werke Felix Mendelssohn Bartholdys. Leipzig: VEB Deutscher Verlag für Musik 1960–1977 Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy. Herausgegeben von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Wiesbaden [u. a.]: Breitkopf & Härtel 1997ff.
Literaturverzeichnis Briefe von Felix Mendelssohn-Bartholdy an Ignaz und Charlotte Moscheles, hrsg. von Felix Moscheles, Leipzig 1888, Nachdruck Walluf, Nendeln 1976 Devrient, Eduard: Meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy und Seine Briefe an mich, Leipzig 1869 Editionsrichtlinien musikalischer Denkmäler und Gesamtausgaben, im Auftrag der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Georg von Dadelsen, Kassel [u. a.] 1967 Elvers, Rudolf: Felix Mendelssohn Bartholdys Nachlaß, in: Das Problem Mendelssohn, hrsg. von Carl Dahlhaus (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 41), Regensburg 1974, S. 35–46 Köhler, Karl-Heinz: Der unbekannte junge Mendelssohn. Einige Bemerkungen zu den unveröffentlichten Jugendkompositionen Felix Mendelssohn Bartholdys, in: Musik und Gesellschaft 9 (1959), S. 2 Mendelssohn Bartholdy, Felix: Briefe an deutsche Verleger, hrsg. von Rudolf Elvers, Berlin 1968
Zur Herausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy
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Mendelssohn Bartholdy, Felix und Cécile: Das Tagebuch der Hochzeitsreise, hrsg. von Peter Ward Jones, Zürich, Mainz 1997 Wehner, Ralf: Felix Mendelssohn Bartholdy. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke (= Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, Serie XIII, Bd. 1A), Wiesbaden [u. a.] 2009 Wehner, Ralf: „… wegen einer künftigen Ausgabe sämmtlicher Werke“. Die Leipziger Ausgaben der Kompositionen von Felix Mendelssohn Bartholdy, in: Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen (= Kongressbericht Leipzig 2008), hrsg. von Stefan Keym und Katrin Stöck, Bd. 3, Leipzig 2011, S. 124–135 Wehner, Ralf und Friedhelm Krummacher: Artikel Felix (Jacob Ludwig) Mendelssohn, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 11, Kassel, Stuttgart 2004, Sp. 1542–1642 Zschoch, Frieder: Zur neuen Mendelssohn-Ausgabe, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Leipziger Ausgabe 128, Nr. 20 (23. 5. 1961), Beilage Der Musikalienhandel, Nr. 5, S. 18f.
Michael Beiche, Armin Koch, Ute Scholz
Die Editionen der Werke Robert Schumanns
I.
Überblick
Die Geschichte der Ausgaben des musikalischen Schaffens von Robert Schumann ist derzeit nur ansatzweise darstellbar, da bislang kaum Untersuchungen zum Inhalt und den Besonderheiten der unzähligen Ausgaben und Ausgabenreihen vorliegen, auch wenn es sich offenbar häufig um nicht mehr als bloße Nachdrucke früherer Editionen handelt. Nach einem allgemeinen Überblick sollen zwei Teilbereiche besonders fokussiert werden. Zum einen werden jene postumen Ausgaben in den Blick genommen, die Clara Schumann (mit-)verantwortete und die das Bild von Schumanns Kompositionen nachhaltig geprägt haben; zum anderen werden mehrere Ausgaben des Klavierwerks Album für die Jugend op. 68 verglichen. Beides zusammen soll einen Eindruck davon vermitteln, wie komplex die Ausgaben-Geschichte für Schumanns Werke ist. Nicht einzeln aufgeführt werden die postumen Erstausgaben.1 Eine Besonderheit der Überlieferung Schumann’scher Werke ist, dass der Komponist von nahezu jeder Originalausgabe ein Exemplar verwahrte – von größer besetzten Werken allerdings nur Partituren und/oder Klavierauszüge, darunter auch von ihm autorisierte Auszüge anderer Bearbeiter, aber keine Stimmen. Die bis Januar 1854 erschienenen Werke ließ Schumann zusammenbinden,2 in der Regel mit einem Vorsatzblatt, auf dem er Entstehungszeit und ____________ 1
2
Vgl. dazu insgesamt Margit L. McCorkle, Thematisch-Bibliographisches Werkverzeichnis (RSW), hrsg. von der Robert-Schumann-Gesellschaft, Düsseldorf unter Mitwirkung von Akio Mayeda und der Robert-Schumann-Forschungsstelle, München 2003, als Lizenzausgabe Mainz [u. a.] 2003 = Neue Robert-Schumann-Gesamtausgabe (im Folgenden RSA), Bd. VIII/6, Abschnitt III „Die Veröffentlichung der Werke“ in der Einleitung, S. 27*–35* sowie besonders Register VI: „Zeittafel – Erstveröffentlichung“, S. 923–931. Clara Schumann setzte dies fort und ließ die postum erschienenen Werke ihres Mannes in gleicher Weise wie Schumann selbst binden; vgl. Ute Bär, Erstdrucke – Widmungsexemplare – Handexemplare. Zum Bestand von Erstdrucken Schumannscher Werke im Robert-SchumannHaus Zwickau, in: Robert Schumann und die französische Romantik. Bericht über das 5. Internationale Schumann-Symposium der Robert-Schumann-Gesellschaft am 9. und 10. Juli 1994 in Düsseldorf. Akio Mayeda zum 60. Geburtstag gewidmet, hrsg. von Ute Bär (= Schumann Forschungen, Bd. 6), Mainz 1997, S. 249–264.
Die Editionen der Werke Robert Schumanns
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-ort vermerkte (bei größeren Werken auch Aufführungsdaten). Diese sogenannten Handexemplare, die sich heute im Robert-Schumann-Haus Zwickau befinden, haben aufgrund mancher handschriftlicher Eintragung Schumanns einen besonderen Wert für Editionsvorhaben und die Forschung überhaupt.3 Sie befanden sich, wie auch die meisten Kompositionsautographe, im Besitz von Clara Schumann und bildeten die Grundlage für die von ihr (mit-)verantworteten Editionen, welche aus diesem Grund besonderes Interesse verdienen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich größtenteils auf Editionen des deutschen Sprachraums, denn der Vergleich einzelner deutscher Originalausgaben mit solchen englischer und französischer Verlage, die Schumann zwar autorisierte, aber nicht überwachte und korrigierte, hat deutlich gemacht, dass es zumindest für das 19. Jahrhundert ausführlicher Untersuchungen bedürfte, um auch nur annähernd überblicksartige und zugleich differenzierte Aussagen zu den ausländischen Ausgaben machen zu können.4 Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass im Ausland vor allem Instrumental- und darunter insbesondere die Klavierwerke veröffentlicht wurden. Auch die Gruppe der nicht von Robert Schumann autorisierten Bearbeitungen und Arrangements seiner Werke wurde noch nicht hinreichend untersucht;5 sie ist allerdings eher von rezeptions- als editionsgeschichtlichem Interesse. Arrangements für kleine, hausmusikalische Besetzungen wurden verstärkt etwa ab Mitte der 1860er Jahre veröffentlicht, z. B. für Klavier und Violine das Album für die Jugend op. 68 1865 durch Baptiste von Hunyady (Leipzig: Schuberth & Co.) sowie die 1. und 4. Symphonie 1867 durch Friedrich Hermann (Leipzig: Breitkopf & Härtel).6 ____________ 3 4
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Ebd. – Außerdem bieten die Handexemplare Anhaltspunkte bei der Differenzierung von Platten- und Titelauflagen. Zu den französischen Originalausgaben und deren Abweichungen siehe vor allem Damien Ehrhardt, Der französische und der deutsche Erstdruck von Robert Schumanns Carnaval op. 9, in: Robert Schumann und die französische Romantik (wie Anm. 2), S. 205–217. Vgl. die entsprechenden Anzeigen in Musikalisch-literarischer Monatsbericht neuer Musikalien, musikalischer Schriften und Abbildungen, hrsg. von Friedrich Hofmeister [u. a.] (= „Hofmeisters Monatsberichte“, im Folgenden abgekürzt: HMB), Leipzig: C. F. Whistling 1829ff. Die digitalisierten Seiten der Monatsberichte werden von der Österreichischen Nationalbibliothek zur Verfügung gestellt (http://www.onb.ac.at/sammlungen/musik/16615.htm). Die Aufbereitung für den Zeitraum bis 1900 mit Suchmöglichkeiten erfolgt im Projekt Hofmeister XIX (http://www.hofmeister.rhul.ac.uk/2008/index.html). Die Ausgaben sind angezeigt in: HMB September, Oktober 1865, S. 150 sowie Januar 1867, S. 5, und HMB Februar 1867, S. 20. Zu den innerhalb der 30-jährigen Schutzfrist erschienenen Bearbeitungen siehe McCorkle, Werkverzeichnis (wie Anm. 1), Register X „Verzeichnis der postumen fremden Bearbeitungen“, S. 948–963. – Noch Alfred Dörffel (Thematisches Verzeichniss sämmtlicher im Druck erschienenen Werke Robert Schumann’s mit Angabe des Jahres ihres Entstehens nebst den bis auf die neueste Zeit gefertigten Arrangements, 4., verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig, New York [1868]) verzeichnet keines dieser Arrangements. Dagegen umfasst die Auflistung aller seinerzeit greifbaren Einzel-, Sammel- und Gesamtausgaben von Schumanns Werken bei František und Bohumil Pazdírek (Universal-Handbuch der
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Eine Untersuchung der Auflagenhöhe anhand überlieferter Stichbücher und der tatsächlichen Verbreitung einzelner Ausgaben steht gleichfalls noch aus. Die Geschichte der Ausgaben Schumann’scher Werke ist grundsätzlich in vier Zeiträume zu differenzieren: 1. Bis 1856, zu Schumanns Lebzeiten: Die in dieser Zeit erschienenen deutschen Ausgaben von Kompositionen wurden in der jeweiligen Gestalt und Form autorisiert und in der Regel vom Komponisten durchgesehen und korrigiert. Lediglich bei Vorabdrucken sowie vor allem bei den während seines Aufenthaltes in der Endenicher Heilanstalt erschienenen Werken ist nicht mehr detailliert nachweisbar, wie intensiv Schumann an den einzelnen Publikationen beteiligt war.7 Schumann hatte keinen Hauptverleger;8 die von ihm veröffentlichten Werke zeigen nicht zuletzt deshalb auch kein einheitliches Erscheinungsbild. 2. Von 1857 bis 1886, die 30 Jahre währende Schutzfrist9 nach dem Tod des Komponisten: Von dieser Schutzfrist nicht betroffen war die weiter unten eigens betrachtete Gesamtedition der Klavierwerke 1869/1870 durch den Moskauer Verlag Jürgenson, da zu dieser Zeit noch kein entsprechendes Abkommen zwischen den deutschen Staaten und Russland bestand. Während der Zeit des gesetzlichen Schutzes gab Clara Schumann zunächst den größten Teil der von ihrem Mann noch zur Veröffentlichung vorgesehenen Werke als Opera 136–144 sowie 147 und 148 aus dem Nachlass heraus. Danach versuchte sie einerseits durch die Veröffentlichung nur ausgewählter nachgelassener Werke die Rezeption zu steuern; so unterdrückte sie das Violinkonzert (WoO 1)10 sowie die 3. Violinsonate (WoO 2) und vernichtete die Fünf Romanzen für Violoncello und Klavier (Anhang E7) sowie das Autograph seines Arrangements der Bach’schen Cellosuiten (Anhang O2). Andererseits bemühte sie sich gemeinsam vor allem mit Johannes Brahms und dem ____________
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Musikliteratur aller Zeiten und Völker, Bd. 23, Paris, Wien [1904–1910]) bereits über mehr als 50 Seiten (S. 454–505). Vgl. z. B. Michael Struck, Vierzehn Arten, Schumann zu verfehlen. Von den Tücken der künstlerischen Interpretation seiner „späten“ Werke, in: Schumann im 20. Jahrhundert – Forschung, Interpretation, Rezeption. Beiträge der 18. Wissenschaftlichen Arbeitstagung zu Fragen der Schumann-Forschung, Zwickau 2005 (= Schumann-Studien 9), hrsg. von Ute Bär, Sinzig 2008, S. 228f. Vgl. McCorkle, Werkverzeichnis (wie Anm. 1), Register XII „Verzeichnis der Verleger und Zeitschriften“, S. 972–978. Vgl. zum Aspekt der Schutzfrist allgemein Annette Oppermann, Musikalische KlassikerAusgaben des 19. Jahrhunderts. Eine Studie zur deutschen Editionsgeschichte am Beispiel von Bachs „Wohltemperiertem Clavier“ und Beethovens Klaviersonaten (= Abhandlungen zur Musikgeschichte, Bd. 10), Göttingen 2001, vor allem S. 37f. Zur aktuellen Werkzählung vgl. McCorkle, Werkverzeichnis (wie Anm. 1).
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Verlag Breitkopf & Härtel – in Absprache mit den anderen Originalverlegern Schumanns – eine Gesammtausgabe des Schumann’schen Œuvres zu etablieren, auch im Bestreben, anderen Verlagen zuvorzukommen. Die ersten Lieferungen der heute allgemein als Alte Gesamtausgabe (AGA) bekannten Serie erschienen 1879. Aufgrund der großen Wirkung der von Clara Schumann (mit-)verantworteten Ausgaben sind die näheren Umstände ihrer Entstehung weiter unten ausführlich dargelegt, nicht zuletzt da die Ausgabe selbst keine Hinweise auf ihre Textgrundlagen und Editionsgrundsätze enthält. 3. Von 1887 an, nach Ablauf der Schutzfrist: Wie vorauszusehen und wie auch bei anderen Komponisten zu beobachten, erschienen nach Ablauf der Schutzfrist unzählige Ausgaben. Vor allem versuchten nunmehr Verlage neben „normalen“ Ausgaben Editionen zu etablieren, für die sie mit Etiketten wie „Kritisch revidiert“ sowie zugefügten Phrasierungen und Fingersätzen warben, so etwa Steingräber in Hannover (hrsg. von Hans Bischoff) und Litolff in Braunschweig (hrsg. von Conrad Kühner). Demgegenüber veröffentlichte Schuberth & Co. in Leipzig zur gleichen Zeit eine „Neue billige Volks-Ausgabe“ (hrsg. von Alexander Winterberger).11 Während die AGA 1887 schon nahezu vollständig vorlag, begannen die Verlage Pohle in Hamburg und Edition C. F. Peters in Leipzig nun ebenfalls mit umfassenden Werkausgaben. Eine Untersuchung dieser Editionen – vor allem der durchaus verbreiteten, ab 1887 erschienenen Peters-Ausgabe Sämmtlicher Werke – hinsichtlich ihrer Editionsgrundlagen, Korrektheit und Wirkung steht noch aus. Auch die von Clara Schumann im Verlag Breitkopf & Härtel herausgegebene Instruktive Ausgabe der Klavierwerke ihres Mannes erschien nach Ablauf der Schutzfrist. 4. Beginnend in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden zunehmend „Kritische“ oder „Urtext“-Ausgaben mit kurzen Kritischen Berichten veröffentlicht, die Auskunft über das Zustandekommen des Notentextes, seine Quellen und Herausgeberentscheidungen geben. Einige Beispiele von Klavierwerken sind weiter unten im letzten Abschnitt angeführt. Zu nennen sind vor allem die entsprechenden Ausgaben von Breitkopf & Härtel, der Edition Peters, des Henle Verlages sowie der Wiener Urtext Edition. Systematisch und umfassend ediert wurden und werden die Werke Schumanns unter Berücksichtigung ihrer Fassungen und Varianten sowie zugehörigen Skizzen und Entwürfen jedoch erst im Rahmen der bei Schott Music in ____________ 11
Vgl. HMB 1887.
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Mainz erscheinenden neuen historisch-kritischen Gesamtausgabe (Robert Schumann. Neue Ausgabe sämtlicher Werke = RSA). Sonderfälle stellen einige Klavierkompositionen dar, die Schumann selbst zu seinen Lebzeiten ausdrücklich in abweichenden Fassungen veröffentlicht hat.12 Sie waren bereits wenige Jahre nach Schumanns Tod Gegenstand unterschiedlicher Darstellungsversuche im Rahmen von Neuausgaben: Adolf Schubring setzte sich für „polyglottische“ Ausgaben ein, in denen Fassungsvarianten möglichst mit Ossia-Systemen, diakritischen Markierungen oder Bemerkungen im Notentext kenntlich gemacht werden sollten.13 1861/1862 erschienen entsprechende Editionen mit dem Untertitel „dritte Ausgabe“ bzw. „Troisième Edition“ im Verlag J. Schuberth & Co. (Leipzig, New York): Etudes en forme de Variations op. 13, 3ème Grande Sonate (Concert sans Orchestre) op. 14 sowie Die Davidsbündler op. 6.14 Im folgenden Jahr veröffentlichte Friedrich Hofmeister in Leipzig die Impromptus über ein Thema von Clara Wieck op. 5 in einer „Neue[n] Ausgabe mit einem Anhange, die Varianten der ersten Ausgabe enthaltend“.15 Gegen diese Veröffentlichungsformen wandte sich Johannes Brahms, da sie unübersichtlich seien oder eben eine Fassung in den Anhang verbannten, und schlug vor, „von einigen der frühern Schumannschen Werke zwei Ausgaben erscheinen zu lassen, die alte und neue Lesart, jede für sich.“16 Während zumindest einige Editionen der Klavierwerke des 19. Jahrhunderts schon einen – wenn auch aus heutiger Sicht rudimentären – Revisionsbericht enthalten (z. B. Hans Bischoffs Kritisch revidierte Ausgabe mit Fingersatz und Phrasierungsergänzungen, Hannover: Steingräber)17 und sich auf Originalquellen berufen, gibt es bei Ausgaben der Werke mit symphonischer und vo____________ 12
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Vgl. Ernst Herttrich, Schumanns frühe Klavierwerke und ihre späteren Fassungen, in: Schumann in Düsseldorf. Werke – Texte – Interpretationen. Bericht über das 3. Internationale Schumann-Symposion am 15. und 16. Juni 1988 im Rahmen des 3. Schumann-Festes, Düsseldorf, hrsg. von Bernhard R. Appel (= Schumann Forschungen, Bd. 3), Mainz [u. a.] 1993, S. 25–35. Vgl. dazu „DAS.“ [Dr. Adolf Schubring], Schumanniana. Nr. 9. Polyglottische Ausgaben von Schumann’s Op. 6, 13, und 14, in: Neue Zeitschrift für Musik 57 (1862), Nr. 2 (1. Juli), S. 13f., und für den Vergleich der Fassungen ders., Schumanniana Nr. 3. Neue Ausgaben von Schumann’schen Clavierwerken der ersten Periode, in: Neue Zeitschrift für Musik 54 (1861), Nr. 8 (15. Februar), S. 69f., sowie Nr. 9 (22. Februar), S. 78f. Op. 13, Anzeige der Ausgabe: HMB August 1861, S. 147; op. 14, Anzeige der Ausgabe: HMB Mai 1862, S. 87; op. 6, Anzeige der Ausgabe: HMB Juli 1862, S. 128. Anzeige der Ausgabe: HMB April 1863, S. 60. Brief von Johannes Brahms an Ernst Rudorff, [Wien], 13. März 1879 [Poststempel], gedruckt in: Johannes Brahms im Briefwechsel mit Karl Reinthaler, Max Bruch, Hermann Deiters, Friedrich Heimsoeth, Karl Reinecke, Ernst Rudorff, Bernhard und Luise Scholz, hrsg. von Wilhelm Altmann (= Johannes Brahms. Briefwechsel, Bd. 3), 2., durchgesehene und vermehrte Auflage, Berlin 1912, S. 175f., Zitat S. 176. Anzeige der Ausgabe: HMB Januar 1887, S. 10 und 20.
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kalsymphonischer Besetzung lange Zeit keinerlei ausdrücklichen Hinweis auf etwaige Revisionen oder die Editionsgrundlagen des jeweiligen Werkes. Stichproben deuten darauf hin, dass nicht die Originalausgaben, sondern die AGA oder die Peters-Ausgaben Anfang des 20. Jahrhunderts als Vorlage beispielsweise für die bis heute weitverbreiteten und ihrerseits weiterverwendeten Philharmonia- und Eulenburg-Taschenpartituren dienten. Ein Grund dafür war vermutlich, dass durch deren moderne Partituranordnung ein Nachstich leichter zu realisieren war. Gerade die Philharmonia-Partituren erschienen in unzähligen Auflagen und Lizenzausgaben. Sie waren auch noch Grundlage der Taschen-Partitur[en] mit Erläuterung bei Wilhelm Goldmann (GoldmannSchott), in deren Reihe die 3. Symphonie op. 97 (1981, hrsg. von Reinhard Kapp) und die 4. Symphonie op. 120 (1980, hrsg. von Egon Voss) veröffentlicht wurden. In diesen Ausgaben findet sich zumindest ein Abschnitt „Zur Überlieferung des Notentextes“, so dass immerhin die Grundlage der Ausgabe einigermaßen nachvollziehbar ist. Gleichwohl handelt es sich lediglich um Nachdrucke der Philharmonia-Ausgaben, wenn auch zumindest im Falle von op. 97 der Notentext „nach eingehendem Vergleich mit den Quellen […] vielfach korrigiert“ (S. 166) worden ist. Allerdings sind nur wenige Einzelheiten der Eingriffe und Abweichungen dokumentiert. Grundsätzlich wird auf eine in Vorbereitung befindliche „quellenkritische Ausgabe“ bei Breitkopf & Härtel in Leipzig verwiesen, die allerdings erst wesentlich später erschien. Ausführlicher fallen dagegen die kritischen Bemerkungen in der 1986 bei Eulenburg erschienenen Edition der 3. Symphonie aus, die Linda Correll Roesner herausgegeben hat. In den Jahren 1993 bis 2001 erschienen alle vier Symphonien Schumanns als kritische Neuausgaben im Verlag Breitkopf & Härtel (hrsg. von Joachim Draheim). Die Grundlage bildete wiederum allein die „Fassung letzter Hand“, also die jeweilige Originalausgabe, Herausgeberzusätze sind diakritisch kenntlich gemacht. Ein Bewusstsein für die Bedeutung unterschiedlicher, nicht gedruckter Fassungen von Werken über den Spezialistenkreis hinaus setzte sowohl in der Rezeptions- als auch in der Editionsgeschichte für Schumann, von wenigen Ausnahmen abgesehen, erst später ein als beispielsweise für Felix Mendelssohn Bartholdy. Einzig die Erstfassungen von Schumanns Andante und Variationen op. 46 (für zwei Klaviere, zwei Violoncelli und Horn gegenüber der Fassung des Originaldrucks für zwei Klaviere allein) sowie der 4. Symphonie op. 120 wurden bereits Ende des 19. Jahrhunderts in der AGA veröffentlicht, letztere jedoch nur, weil Brahms sich über Clara Schumanns ausdrücklichen
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Wunsch hinwegsetzte.18 Dabei ging es ihm nicht um den philologischen, sondern den ästhetischen Aspekt. Das zeigt sich sowohl an seiner Argumentation gegenüber der Witwe des Komponisten als auch daran, dass er versuchte, mittels einer Aufführung Überzeugungsarbeit zu leisten. Diese erfolgte im Oktober 1889 unter der Leitung von Franz Wüllner, der auch die Redaktion für den Druck übernahm. Während der Vorbereitungen kam es entgegen der Planung zu einer Reihe von Eingriffen, teils Übernahmen aus der Endfassung, die ursprünglich durch Kleinstich markiert werden sollten, was aber schließlich unterblieb.19 Die Partitur wurde im November 1891 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig als Anhang der AGA (Band I, 4a) veröffentlicht. Die Orchesterstimmen erschienen separat. Als Studienpartitur wurde diese Fassung im Oktober 1960 von Breitkopf & Härtel publiziert. Im Jahr 2003 gab Jon Finson die Fassung von 1841 nach dem Autograph wiederum bei Breitkopf & Härtel als Studienpartitur heraus. Herausgeberzusätze sind diakritisch kenntlich gemacht, auf eine Dokumentation der Korrekturen sowie eine genauere Quellenbeschreibung wurde jedoch verzichtet. Zudem muss bemerkt werden, dass sich die Fassung 1841 aufgrund diverser Schreibschichten im Autograph mit herkömmlichen Methoden und Techniken nicht konsistent rekonstruieren lässt. Nur am Rande erwähnt werden sollen an dieser Stelle die mehrfachen Versuche, Schumanns Instrumentation seiner Symphonien zu korrigieren.20 Sie finden vor allem in Gustav Mahlers Orchestrierung verstärkt Verbreitung, nicht zuletzt durch das verfügbare Leihmaterial der Universal Edition/Wien. Auch viele Lieder Schumanns sind in mehr als nur einer Fassung überliefert. Trotz der bereits 1914 veröffentlichten wissenschaftlichen Untersuchung der Lieder in ersten und späteren Fassungen durch Viktor Ernst Wolff21 und einiger Spezialstudien sind die frühen handschriftlichen Fassungen und Varianten beispielsweise von Vorabdrucken einzelner Lieder bislang weitgehend unbekannt geblieben. Zwar erfolgten weitere Hinweise in der 1971 von Arthur Komar bei W. W. Norton & Co. (New York, London) veröffentlichten Studienpartitur der Dichterliebe op. 48, in den von Hans Joachim Köhler kritisch ____________ 18
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Vgl. auch für das Folgende den Überblick bei Jon Finson, Vorwort zu Robert Schumann. Symphonie Nr. 4 d-moll op. 120. Erstfassung 1841 (= Breitkopf & Härtel Partitur-Bibliothek, Nr. 5265), Wiesbaden [u. a.] 2003, S. III–VII, besonders S. V–VII, und McCorkle, Werkverzeichnis (wie Anm. 1), besonders S. 508–510. Vgl. Finson, Vorwort (wie Anm. 18), S. Vf., sowie den zugehörigen Kritischen Bericht, S. 174–177. Vgl. z. B. Felix Weingartner, Ratschläge für Aufführungen klassischer Symphonien, Bd. II: Schubert und Schumann, Leipzig 1918, sowie die umfangreiche Studie über derartige Revisionen von Aher George Zlotnik, Orchestration Revisions in the Symphonies of Robert Schumann, 2 Bde., Ann Arbor 1972. Vgl. Viktor Ernst Wolff, Robert Schumanns Lieder in ersten und späteren Fassungen, Leipzig 1914.
Die Editionen der Werke Robert Schumanns
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revidierten Ausgaben der Edition Peters (Liederkreis op. 39, 1985; Dichterliebe op. 48, 1986) sowie insbesondere in den neuerdings von Kazuko Ozawa im Henle Verlag (München) herausgegebenen Urtextausgaben (Frauenliebe und Leben op. 42, 2002; Dichterliebe op. 48, 2005; Liederkreis op. 24, 2006; Liederkreis op. 39, 2010, mit den Fassungen von 1842 und 1850). Systematisch ediert werden Frühfassungen der Lieder jedoch erst im Rahmen der RSA. Hinsichtlich der Lieder Robert Schumanns und ihrer Ausgaben ist zudem auf ein besonderes Problem hinzuweisen, dem hier nicht weiter nachgegangen werden kann: In einigen Fällen wurde nicht nur der Notentext – teils stillschweigend – revidiert, sondern ebenso der Singtext, wodurch die Rezeptionsgeschichte massiv beeinflusst wurde. Die große Zahl von Einzel- und Sammelausgaben sowie Editionen einzelner Lieder im Rahmen von Sammlungen macht einen Überblick nahezu unmöglich.22 Daher soll hier nur das Soldatenlied (WoO 6) als Beispiel angeführt werden. Dessen außergewöhnlich große Verbreitung mit einer postum hinzugefügten Strophe wiesen die Herausgeber Kazuko Ozawa und Matthias Wendt im 2009 erschienenen Band der RSA nach.23 Während die Lieder in der AGA in der Reihenfolge der Opuszahlen gedruckt wurden – und damit zwar nicht die Entstehungs-, so doch die Veröffentlichungschronologie nachvollziehbar ist –, sind die Lieder in der von Alfred Dörffel bei der Edition Peters herausgegebenen dreibändigen Ausgabe von 188724 nach eigener Gewichtung angeordnet und teilweise ihrem OpusZusammenhang entrissen. So enthält der erste Band die Zyklen Myrthen op. 25, Liederkreis op. 39, Frauenliebe und Leben op. 42, Dichterliebe op. 48 sowie ausgewählte Lieder verschiedener Sammlungen. Unter dem Titel Textrevision zu Schumann’s Liedern erschien zur gleichen Zeit eine Zusammenstellung von Textabweichungen gegenüber den literarischen Vorlagen, die Max Friedlaender als Supplement zu dieser Edition herausgab. Verbreitung und Wirkung dieser Ausgabe, gerade auch in der nur wenig später erschienenen, von Friedlaender revidierten Variante,25 sind nicht zuletzt hinsichtlich ihrer Werkgewichtung wohl gar nicht hoch genug anzusetzen. Unter dem Einfluss der Nationalsozialisten wurde versucht, insbesondere die Heine-Vertonungen des ersten Bandes sowie den Namen des Herausgebers der Öffentlichkeit zu entziehen. Doch Versuche sowohl der Um- oder Neutextierung (mit ____________ 22 23 24 25
Vgl. Pazdírek, Universal-Handbuch (wie Anm. 6), wobei dieses wohlgemerkt nur die seinerzeit tatsächlich (noch) erhältlichen Ausgaben auflistet. RSA VI/6: Schumann, Robert: Lieder, Bd. 6, hrsg. von Kazuko Ozawa und Matthias Wendt, Mainz [u. a.] 2009, Teilband II, Kritischer Bericht, S. 430–449. Anzeige der Ausgabe: HMB Februar 1887, S. 113 und Oktober 1887, S. 499. Chronologie und Umstände der Entstehung der diversen Auflagen sind noch nicht geklärt.
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teilweise grotesken Vorschlägen) als auch einer neuen Anordnung wurden letztlich doch nicht in Editionen umgesetzt.26
II.
Die Gesamtausgabe der Klavierwerke bei Jürgenson in Moskau
Schon bevor in Deutschland eine Gesamtausgabe der Werke Robert Schumanns herausgegeben wurde, erschien 1869/1870 eine Gesamtausgabe seiner Klavierwerke in sechs Bänden im 1861 gegründeten Moskauer Verlag von Pjotr Iwanowitsch Jürgenson, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den bekanntesten und größten Musikverlagen Russlands gehörte. Mit dem Entstehen dieser ersten Gesamtausgabe der Klavierwerke Schumanns hat sich Olga Lossewa intensiv beschäftigt,27 auf deren Erkenntnissen die folgenden Ausführungen basieren. Diese erste Gesamtausgabe der Klavierwerke Robert Schumanns war eingebunden in ein 1863 begonnenes und bis 1873 währendes Projekt, in dem ferner die Gesamtausgaben der Klavierwerke von Felix Mendelssohn Bartholdy in fünf Bänden und Frédéric Chopins in sechs Bänden erschienen. Jede dieser drei Ausgaben, die sämtliche Klavierwerke zu zwei Händen eines der Komponisten enthielten, einschließlich jener mit Orchesterbegleitung, war jeweils die erste ihrer Art weltweit. Während es bei der Mendelssohn-Ausgabe keinen Herausgeber oder Redakteur gab – hier handelte es sich allein um Nachdrucke unterschiedlicher Vorlagen –, wurde die nachfolgende Schumann-Ausgabe von Nikolai Rubinstein und die sich daran anschließende Chopin-Ausgabe von Carl Klindworth revidiert. Ursprünglich beabsichtigte Jürgenson, Klindworth bereits mit der Gesamtredaktion der Schumann-Ausgabe zu beauftragen. Die____________ 26
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Vgl. vor allem Thomas Synofzik, „Urdeutsche Musik“ und jüdische „Lügenpoesie“. Zur Rezeption der Heine-Vertonungen Robert Schumanns, in: „Das letzte Wort der Kunst“. Heinrich Heine und Robert Schumann zum 150. Todesjahr, hrsg. von Joseph A. Kruse unter Mitarbeit von Marianne Tilch. In Zusammenarbeit mit Ulrike Gross und Bernhard R. Appel, Stuttgart, Kassel 2006, S. 389–406, besonders S. 397, sowie Matthias Wendt, Wie „Die alten, bösen Lieder“ zu „Rübezahl“ wurden. Zur Rezeption der Schumannschen Heine-Lieder im „Dritten Reich“, in: Übergänge. Zwischen Künsten und Kulturen. Internationaler Kongress zum 150. Todesjahr von Heinrich Heine und Robert Schumann, hrsg. von Henriette Herwig, Volker Kalisch, Bernd Kortländer, Joseph A. Kruse und Bernd Witte, Stuttgart, Weimar 2007, S. 141– 157. Zum Versuch, die Rezeption von Das Paradies und die Peri op. 50 durch die Unterlegung eines neuen Textes gezielt zu manipulieren, vgl. Gerd Nauhaus, Die Peri auf Abwegen. Zwickau anno 1943, in: Schumann im 20. Jahrhundert (wie Anm. 7), S. 161–176. Vgl. Olga Lossewa, Zur Geschichte der ersten Gesamtausgabe der Klavierwerke Robert Schumanns, in: Robert und Clara Schumann und die nationalen Musikkulturen des 19. Jahrhunderts. Bericht über das 7. Internationale Schumann-Symposion am 20. und 21. Juni 2000 im Rahmen des 7. Schumann-Festes, Düsseldorf, hrsg. von Matthias Wendt (= Schumann Forschungen, Bd. 9), Mainz [u. a.] 2005, S. 123–133.
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ser hatte aber in Anbetracht der Tatsache, dass Clara Schumann noch lebte, Bedenken gehegt, die Revision der Werke ihres Mannes vorzunehmen, und das Angebot abgelehnt.28 Möglicherweise hing Klindworths Ablehnung der Gesamtredaktion auch mit vertragsrechtlichen Bedenken zusammen, obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch keine Vereinbarung zwischen Russland und dem Norddeutschen Bund über gegenseitige Anerkennung von Urheberrechten gab. Über eine solche wurde seinerzeit verhandelt, und einen Monat vor Erscheinen des sechsten Bandes dieser Ausgabe berichteten mehrere Zeitungen, dass ein entsprechender Vertrag, zu dem es zu Jürgensons Lebzeiten letztlich aber nicht mehr kam, beabsichtigt sei.29 Wie aus den Anzeigen der einzelnen Bände hervorgeht, waren an der Nikolai und Anton Rubinstein gewidmeten Ausgabe neben Nikolai Rubinstein selbst auch Milij Balakirew, Eduard Langer, aber auch Carl Klindworth beteiligt. Welche Werke die einzelnen Musiker, die mit Ausnahme Balakirews alle zum Moskauer Konservatoriumskreis gehörten, redigiert haben, ist nicht überliefert. Bekannt ist lediglich, dass Balakirew das Klavierkonzert op. 54 für diese Ausgabe vorbereitet haben soll.30 Bei mehreren Fassungen eines Werkes wurde jeweils nur die zuletzt erschienene aufgenommen. Die Herausgeber bezogen sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf Originalausgaben der Schumann’schen Kompositionen bzw. auf solche Ausgaben, die sie dafür hielten, und übernahmen den Notentext einschließlich der Vortrags- und Metronombezeichnungen. Zusätzliche Fingersätze finden sich nicht. Wo sie vom Notentext der Originalausgaben abweichen, handelt es sich vornehmlich um Notationsvarianten. Darüber hinaus gibt es allerdings auch Ungenauigkeiten. Trotz einiger Unzulänglichkeiten war Jürgenson offenbar mit der Ausgabe sehr zufrieden. Kurz nach Abschluss der Edition informierte er Clara Schumann und muss ihr ein vollständiges Exemplar offeriert haben,31 denn Clara dankte dem Verleger am 23. Juni 1870 für ein entsprechendes Angebot und bestätigte am 12. Dezember den Erhalt der Sendung.32 Außerdem sprach Jürgenson offenbar vertragsrechtliche Fragen an, was in Anbetracht des beab____________ 28 29 30 31
32
Vgl. Brief von Jürgenson an Pjotr Tschaikowsky vom 21. November/3. Dezember 1881, zitiert nach Lossewa, Zur Geschichte (wie Anm. 27), S. 127. Vgl. ebd., S. 132. Olga Lossewa verweist auf einen diesbezüglichen, vermutlich am 8./20. Oktober 1869 geschriebenen Brief Balakirews an Jürgenson; vgl. ebd., S. 127. Die Briefe von Jürgenson an Clara Schumann sind verschollen. Auf den überlieferten Gegenbriefen hatte der Verleger aber Daten notiert, die sich wohl auf seine Antwortschreiben beziehen. Im Glinka-Museum Moskau sind sechs Briefe Clara Schumanns an Jürgenson überliefert; vgl. Lossewa, Zur Geschichte (wie Anm. 27), S. 130.
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sichtigten Urheberrechtsvertrages zwischen Russland und dem Norddeutschen Bund nicht verwundert. Über die Ausgabe selbst äußerte sich Clara Schumann positiv. Allerdings stellte sie einige Druckfehler fest, „die ich Ihnen nächsten Sommer, wo ich in Baden mehr Zeit zu gewinnen hoffe, gern näher bezeichnen will, wenn es Ihnen wünschenswerth erscheint insofern, diese noch corrigieren zu können in späteren Ausgaben“.33 Für die Korrektur erbat sich Clara am 2. Februar 1871 ein separates Exemplar. Am 11. Juni teilte sie dem Moskauer Verleger dann mit, dass sie mit der Korrektur unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus London begonnen habe. Sie musste aber feststellen, dass die Arbeit zuviel Zeit in Anspruch nahm, und bat daher Jürgenson, die Durchsicht jemand anderem zu übertragen. Jürgenson hatte in der Zwischenzeit offenbar bereits publik gemacht, dass eine Neuauflage der Ausgabe in Arbeit sei, die von Clara Schumann revidiert werde. Hierüber war sie, wie ihrem Brief vom 4. Juli 1871 an Jürgenson zu entnehmen ist, „höchst unangenehm überrascht“. Ihr Angebot, die vorhandenen Druckfehler zu korrigieren, sei nur im „Interesse der Werke“ erfolgt, sie wolle aber nicht, dass ihr Name diesbezüglich in der Öffentlichkeit erscheine. Für das Publikum „genügt ja eine kleine Entschuldigung, daß die Sache auf einem Mißverständnis beruht habe“.34 Offenbar hatte Jürgenson sie daraufhin erneut gebeten, die Durchsicht selbst vorzunehmen, denn in ihrem Brief vom 31. Juli 1871 bekräftigte Clara Schumann, sie sehe sich „außer Stande, die Correctur jetzt noch zu übernehmen“. Sie glaube, Jürgenson könne in Leipzig leicht einen guten Korrektor finden und es sei überhaupt besser, wenn die Durchsicht von einem guten Musiker ausgeführt werde. In späteren, zeitlich nicht datierbaren Auflagen35 wurden einzelne Veränderungen und Ergänzungen gegenüber der Erstauflage vorgenommen.
____________ 33 34 35
Zitiert nach ebd., S. 130f. Zitiert nach ebd., S. 131. Datiert ist nur die erste Auflage. Die zweite Auflage erschien Anfang der 1870er Jahre unter der Redaktion von Rubinstein und Balakirew.
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III.
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Die von Clara Schumann (mit-)verantworteten Editionen36
Am 11. November 1874 wandte sich der Verlag Breitkopf & Härtel wegen des Plans einer Gesamtausgabe nicht nur der Klavier-, sondern aller Werke Robert Schumanns an Clara Schumann: Unser Unternehmen der Mendelssohn-Ausgabe ist vielleicht schon zu Ihrer Kenntniß gekommen […]. Möchte es doch gelingen, in ähnlicher Weise eine SchumannAusgabe zu Stande zu bringen, ehe die Autorrechte auch an seinen Werken erlöschen! Das ist schon lange unser Wunsch. Später natürlich sind ansehnliche Gesammtausgaben nicht mehr möglich, da die Groschen-Editionen sich in den Weg stellen. Es würde uns sehr interessiren, einmal von Ihnen zu hören, wie Sie hierüber denken […].37
Ein Antwortschreiben Claras ist nicht überliefert. Nachdem sie im Frühjahr 1877 die Mitarbeit an einer Chopin-Gesamtausgabe abgelehnt hatte,38 sah sie sich erst im Frühsommer desselben Jahres durch das Angebot des englischen Musikverlages Novello, der ebenfalls eine Gesamtausgabe der Klavierwerke Robert Schumanns herausgeben wollte, wieder mit dem Projekt konfrontiert. Auf ihre diesbezügliche Mitteilung an Hermann Härtel antwortete dieser am 17. Mai ausführlich und erinnerte sie an das Angebot seines Verlages, eine Gesamtausgabe aller Werke ihres Mannes herausgeben zu wollen; ferner informierte er sie über die Handlungsweise des englischen Verlages im Allgemeinen. Hierdurch verunsichert suchte Clara am 19. Mai Rat bei Johannes Brahms: ____________ 36
37
38
Die folgenden Ausführungen nehmen u. a. Bezug auf Linda Correll Roesner, Brahms’s Editions of Schumann, in: Brahms Studies. Analytical and Historical Perspectives. Papers delivered at the International Brahms Conference Washington, DC, 5–8 May 1983, Oxford 1990, S. 253–282; Gerd Nauhaus, Brahms und Clara Schumann – Aspekte einer Lebens- und Arbeitspartnerschaft, in: Internationaler Brahms-Kongreß Gmunden 1997. Kongressbericht, hrsg. von Ingrid Fuchs (= Veröffentlichungen des Archivs der Gesellschaft für Musikfreunde in Wien, Bd. 1), Tutzing 2001, S. 377–391; Linda Correll Roesner, Brahms und die Schumann-Gesamtausgabe, in: „Neue Bahnen“. Robert Schumann und seine musikalischen Zeitgenossen. Bericht über das 6. Internationale Schumann-Symposion am 5. und 6. Juni 1997 im Rahmen des 6. Schumann-Festes, Düsseldorf, hrsg. von Bernhard R. Appel (= Schumann Forschungen, Bd. 7), Mainz [u. a.] 2002, S. 340–358; Helmut Loos, Clara Schumann als Editorin, in: Robert und Clara Schumann und die nationalen Musikkulturen des 19. Jahrhunderts (wie Anm. 27), S. 109–122; Michael Struck, Editor im Doppelspiegel. Johannes Brahms als Herausgeber fremder und eigener Werke, in: Musik und Musikforschung. Johannes Brahms im Dialog mit der Geschichte, hrsg. von Wolfgang Sandberger und Christiane Wiesenfeld, Kassel [u. a.] 2007, S. 185–206. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit MendelssohnArchiv, Signatur: Mus. Nachlaß K. Schumann (im Folgenden abgekürzt: Corr CS), Bd. III, Nr. 163. Vgl. Loos, Clara Schumann als Editorin (wie Anm. 36), S. 110f.
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Ich sagte Dir, daß Härtels mich neulich fragten [möglicherweise ist mündlich oder in heute verschollenen Briefen eine Gesamtausgabe der Werke Robert Schumanns zwischen 1874 und 1877 doch besprochen worden], ob ich wohl die Revision der Werke Roberts für später übernehmen würde, ohne jedoch irgendwie weiteres mit mir festzustellen. Nun kommt Novello und bittet mich eine Revision der Klavierwerke sofort für sie zu machen, und bewilligt mir dafür 1000 Taler. In der Meinung, daß dies Härtels durchaus keinen Eintrag tun könnte, um so weniger als sie ja erst in 9– 12 Jahren die Gesamtausgabe bringen wollten, ging ich auf die Offerte ein, erstens, weil mir wirklich daran lag, daß den furchtbar schlechten englischen Ausgaben39 gegenüber endlich eine korrekte erschiene, dann auch natürlich, weil doch das Honorar auch kein kleines ist, das man so mir nichts dir nichts von der Hand weist. Nun bekomme ich einige Zeilen von Novello, worin er sagt, er gibt mir die geforderte Summe von 1000 Talern, verlangt aber das Eigentumsrecht meines Namens für alle Länder. Darauf wollte ich nicht eingehen, ohne Härtels davon zu benachrichtigen, und schrieb an Raimund, ob sie sich nicht mit Novello darüber ins Vernehmen setzen wollten, ich dachte ihn zu vermögen, daß er auf seine Bedingung verzichtet, und einen Teil des mir zugesicherten Honorars dann tragen [würde], wofür sie dann ja die englische Ausgabe (übrigens nur der Klavier-Solo-Werke) zu ihrer Ausgabe benutzen könnten. Darauf bekomme ich beifolgenden Brief von Raimund40 und gestern besuchte mich Herr Hase, um mit mir darüber zu sprechen. Er sagt, die englische Ausgabe werde der ihren nicht schaden, aber sie bitten mich, Novello zu vermögen, daß er auf das alleinige Eigentumsrecht verzichte, und es heißen solle, er habe das Recht für alle Länder, aber Härtel ausgenommen, der sich dann in das Recht mit ihm teilen will und, erleide ich dadurch Schaden, mir das vergüten will.41
Clara äußerte im Folgenden ihren Unmut darüber, dass ihr von Seiten Breitkopf & Härtels nicht ein adäquates Angebot mit dem gleichen Honorar oder gar ein besseres gemacht worden sei. Andererseits fühlte sie sich dem Verlag offenbar verpflichtet und bat nun Brahms, ihr zu raten, wie sie sich verhalten solle. Dieser antwortete ihr noch im gleichen Monat aus Wien: Du wünschest mit Recht eine Gesamt-Ausgabe bei Härtels. Nun aber meine ich: alle andern Anerbieten sollten Dir nur dazu dienen, Dir Dein Verhältnis zu Härtels klarzumachen, namentlich auch das pekuniäre. Anträge wie der von Novello – das meine ich sicher – dürfen Dir keine weitere Bedeutung haben. – Wenigstens gewiß jetzt nicht und wie er vorliegt! […] Ich glaube gewiß, auch pekuniär schadest Du Dir,
____________ 39
40 41
Verschiedene Werke Robert Schumanns erschienen sowohl zu Lebzeiten des Komponisten als auch postum parallel zu den deutschen in englischen Verlagen. Auf welche Ausgaben sich Clara Schumanns Hinweis genau bezieht, ist nicht bekannt. Clara Schumann bezieht sich auf das Schreiben des Verlages vom 17. Mai 1877; Corr CS, Bd. III, Nr. 216. Clara Schumann – Johannes Brahms, Briefe aus den Jahren 1853–1896, hrsg. von Berthold Litzmann, Bd. II: 1871–1896, Leipzig 1927, S. 100f.
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wenn du nach mehreren Seiten siehst. […] Laß Novello einstweilen zappeln […]. Bei Härtels aber gehe mit allem Ernst, aber langsam und bedächtig voran.42
Nachdem Clara am 6. Juli 1877 Brahms mitgeteilt hatte, dass die Verhandlungen mit Breitkopf & Härtel stagnierten, schaltete sich dieser ein und informierte Clara darüber, was er Härtels schreiben wolle.43 Vermutlich auf Brahms’ Brief hin machte der Verlag Breitkopf & Härtel Clara Schumann das Angebot von 10.000 Reichsmark „für das ausschliessliche Eigenthum einer Gesamtausgabe der R. Schumann’schen Werke in Ihrer Redaction“.44 Clara willigte – nachdem sie die noch offenen Fragen mit dem englischen Verleger Novello geklärt hatte – ein und teilte dies Brahms am 20. August 1877 mit. Bereits am 29. Juli hatte sie ihn über das finanzielle Angebot Härtels informiert: „Ich will die Sache nun annehmen, aber Du mußt mir erst versprechen, alle Orchester- und Ensemble-Werke zu übernehmen und die Hälfte des Honorars, mindestens anzunehmen.“45 Letzteres wies Brahms in seiner Antwort vom August 1877 aber zurück.46 Nachdem im August 1877 die Entscheidung getroffen worden war, im Verlag Breitkopf & Härtel eine Gesamtausgabe der Werke Robert Schumanns erscheinen zu lassen, begann hierzu eine intensive Korrespondenz zwischen der Herausgeberin und dem Verlag. Die Briefe Clara Schumanns an den Verlag sind nicht überliefert. Einzelne Schreiben des Verlages an sie sind in ihrer Korrespondenz, die sich in der Staatsbibliothek Berlin befindet,47 erhalten, die Kopien aller Briefe des Verlages an sie, Johannes Brahms sowie die weiteren Mitarbeiter der AGA in den Kopierbüchern des Verlages. Diese werden bis heute als Depositum des Verlages Breitkopf & Härtel im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig aufbewahrt.48 Auskunft über die Revision der einzelnen Werke in der AGA gibt auch ein im Robert-Schumann-Haus Zwickau vorhandenes, aus dem Besitz Clara Schumanns stammendes durchschossenes Exemplar des Thematischen Verzeichnisses sämmtlicher im Druck erschienenen Werke Robert Schumann’s,49 in dem sie bei der Mehrzahl der Kompositionen den Prozess der Herausgabe im Rahmen der AGA und auch der späteren Instruktiven Ausgabe vermerkte.50 ____________ 42 43 44 45 46 47 48 49 50
Ebd., S. 104. Vgl. ebd., S. 115ff., und Loos, Clara Schumann als Editorin (wie Anm. 36). Brief von Breitkopf & Härtel an Clara Schumann vom 24. Juli 1877, Corr CS, Bd. III, Nr. 228. Clara Schumann – Johannes Brahms, Briefe (wie Anm. 41), S. 119f. Vgl. ebd., S. 120f. Vgl. Corr CS. Wir danken dem Verlag Breitkopf & Härtel für die Möglichkeit der Einsichtnahme in die Kopierbücher. Robert-Schumann-Haus Zwickau, Archiv-Nr.: 13392 – E2/A3. Vgl. Loos, Clara Schumann als Editorin (wie Anm. 36), S. 114.
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Hier notierte sie, wann und an wen sie nach der Erstdurchsicht durch den Verlagskorrektor Friedrich Brissler aus Berlin die späteren Herstellungsvorlagen verschickte, den Stand der Revisionsarbeiten und wann die Herstellungsvorlagen, deren letzte Durchsicht sie sich vorbehalten hatte, an den Verlag gingen. Die Angaben sind jedoch bei den einzelnen Werken im Detail sehr unterschiedlich ausgeführt und können keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Dennoch ist diese Quelle ein unverzichtbarer Baustein für die Entstehungsgeschichte der AGA und der Instruktiven Ausgabe. Die Alte Schumann-Gesamtausgabe erschien zwischen 1879 und 1893 in 14 Serien. Es handelt sich um eine reine Notenausgabe ohne jede Form einer kritischen Anmerkung. Die AGA ist keine historisch-kritische Ausgabe, denn sie weist ebenso wie die alten Gesamtausgaben anderer Komponisten keine historisch-kritischen Quellenvergleiche auf. Es fehlen Quellennachweise, Quellenbeschreibungen sowie die quellenkritische Aufarbeitung der Entstehungs-, Druck- und Rezeptionsgeschichte. Erwähnt wird nicht einmal die Quelle, nach der die einzelnen Werke ediert wurden. Hinzu kommt, dass Clara Schumann und Johannes Brahms verschiedene Spätwerke des Komponisten ganz bewusst nicht aufgenommen haben. Dazu gehören das 1853 komponierte Violinkonzert oder die ebenfalls Ende 1853 entstandene 3. Violinsonate. Diese Werke waren nach Auffassung der Herausgeber durch Schumanns Krankheit negativ beeinflusst, was zu der Vorstellung vom angeblichen Nachlassen der schöpferischen Kraft und der damit verbundenen Abwertung der Spätwerke beigetragen hat. Der größte Teil der Ausgabe war bis Ende 1886, dem Ablauf der 30 Jahre währenden Schutzfrist, erschienen. 1887 folgten die Werke, deren Verlagsrechte Breitkopf & Härtel zuvor nicht erworben hatte, 1891 die „Erstfassung“ von op. 120, 1893 schließlich ein Supplementband. Die Herausgabe der AGA erfolgte vornehmlich auf Grundlage der Originalausgaben der Werke Robert Schumanns, obwohl es im Verlagsvertrag unter Punkt 2 heißt: Die Frau Herausgeberin revidirt die sämmtlichen Werke auf Grund des ihr und den Verlegern erreichbaren kritischen Materials an Originalausgaben, Abschriften, Handschriften und dergl. für den Stich und, nach der von den Verlegern besorgten Plattencorrectur, für den Druck.51
Schumanns Handexemplare seiner eigenen Werke, in die er Korrekturen eingetragen hatte und die sich heute im Besitz des Robert-Schumann-Hauses ____________ 51
Historisches Archiv der Wiener Philharmoniker, Signatur: Sch/29b Nr. 1.
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Zwickau befinden, stellten für Johannes Brahms die wesentliche Quelle dar.52 Überhaupt sah Brahms wenige Schwierigkeiten bei der Herausgabe der Schumann’schen Werke. Schon im Mai 1877 – also noch vor Vertragsabschluss zwischen Clara Schumann und dem Verlag Breitkopf & Härtel – hatte er an Clara geschrieben: Bei Schumanns Werken kann ja, so viel ich denke und heute sehen kann, der gründlichste und gelehrteste Mann nicht viel Neues und Besonderes finden. Es liegt alles recht gut und vollständig vor.53
Ergänzend hierzu heißt es in seinem Brief vom August 1877 auch im Hinblick auf das Clara in Aussicht gestellte Honorar: Tätest Du bloß die nötige Arbeit daran, so wäre diese allerdings gut bezahlt – Du wirst Dir aber viel mehr Arbeit machen als nötig und als mit 10 000 Tlr. bezahlt wird!!! Bei den Orchester- und Chorsachen wüßte ich einstweilen nicht, was der Redakteur viel zu tun hat.54 Das Schwierige sind nur die ersten Klaviersachen, und namentlich die, welche Dein Mann zweimal herausgegeben hat. 55
Die Frage nach den für die AGA relevanten Quellen war auch noch später Gegenstand der Diskussion. So schrieb Johannes Brahms an Clara Schumann im Mai 1881: Daß gar so viel Mitarbeiter56 sind, möchte ich oft bedauern! Jeder Neue meint, recht viel arbeiten zu müssen! So auch Nn.57 Ich mag sein Heft nicht an Härtels schicken,58 da mir alle seine Korrekturen überflüssig (zum mindesten) scheinen. Schicke ich es ihm, zu nochmaliger Überlegung, das könnte den zarten Mann auch kränken oder beleidigen. Das Manuskript kann doch nur bisweilen maßgebend sein; wenn eben etwas zweifelhaft ist oder falsch etc. Sieh Dir seine Korrekturen an. Nicht eine einzige Stelle ist dabei, wo er unwidersprechlich recht hätte. Schumann hat ja die ____________ 52 53 54
55 56 57 58
Vgl. Clara Schumann – Johannes Brahms, Briefe (wie Anm. 41), S. 135. Ebd., S. 107. Die Schwierigkeiten und Probleme zeigten sich dann aber im Verlaufe der Edition der Orchesterwerke, worüber auch der Briefwechsel zwischen Clara Schumann, Johannes Brahms und dem Verlag Auskunft gibt; vgl. hierzu Loos, Clara Schumann als Editorin (wie Anm. 36), S. 119f. Ebd., S. 121. Zu den Mitarbeitern der AGA gehörten u. a. Woldemar Bargiel, Albert Dietrich, Julius Otto Grimm, Hermann Levi und Alfred Volkland. Im Original des Briefes (Corr CS, Briefe von Johannes Brahms, Bd. II, Nr. 190) steht „Dietrich“ statt des diskreten „Nn.“ Brahms’ Ausführungen beziehen sich auf die Herausgabe der Märchenerzählungen op. 132. Wie aus Claras durchschossenem Werkverzeichnis hervorgeht, hatte sie diese im April 1881 an Albert Dietrich geschickt, der das Autograph besaß und danach das Werk durchsah. Anschließend übersandte sie die revidierte Vorlage an Brahms zur Durchsicht; vgl. hierzu Nauhaus, Brahms und Clara Schumann (wie Anm. 36), S. 387.
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Stücke korrigiert, und im ganzen Heft ist nicht ein Stichfehler – folglich scheint mir doch klar, daß Sch. alle Sachen, die anders (aber nicht schlechter als im Manuskript) lauten, von ihm geändert sind. Deshalb können ja dieselben im Manuskript auch ganz gut und richtig sein, aber bei keiner Note ist ein zufälliger Fehler vom Kopisten oder Stecher anzunehmen.59
Aus diesen Zeilen wird ersichtlich, dass Brahms das Korrekturverhalten Schumanns nicht gut kannte. Schumann hat seine Korrekturen sehr unterschiedlich intensiv ausgeführt. So schrieb er bezüglich der Korrektur seiner Oper Genoveva op. 81 am 9. Juni 1851 an den Verlag C. F. Peters: „Die Durchsicht einer solchen Arbeit ist aber eine sehr zeitraubende, und obendrein für den Componisten sehr langweilige, weshalb ich um Ihre Nachsicht bitte.“60 Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Schumann innerhalb der Durchsicht von Abschriften oder Stichen z. B. im Bereich der GabelNotierungen keine korrigierenden Feinregulierungen vornahm. Zwar ergänzte oder strich er ganze Gabeln auch noch in der Stich-Phase, nahm aber niemals Kürzungen, Verlängerungen oder Verrückungen von Gabeln vor. Das jedoch bedeutet, dass auch in autorisierten Druckausgaben nicht immer kopfgenaue, eindeutige und widerspruchsfreie Gabelbezeichnungen vorliegen, wie sie der heutige Musiker erwartet. Gleiches trifft u. a. auch auf Pedalangaben zu, die Schumann offensichtlich mehr als Orientierung und weniger als verbindliche Aufführungsanweisung für den Interpreten ansah.61 Clara Schumann, die meist die letzte Entscheidung traf, sah die Dinge schließlich differenzierter und akzeptierte einen Teil der vorgenommenen Veränderungen. Schon am 3. Oktober 1879 schrieb sie an Brahms bezüglich der Revision in der AGA: Wozu revidieren wir, wenn wir nicht nach unserer Überzeugung Mißverständnisse beseitigen, fragliche Stellen berichtigen wollen? Andernfalls wäre ja jeder sonst geübte Korrektor genügend!62
Demnach war sie der Auffassung, in die Quellen eingreifen zu müssen und als „berufene Interpretin“ der Werke ihres Mannes Revisionen vornehmen zu dürfen.63 Und so verwundert es nicht, dass noch vor Abschluss der AGA mit
____________ 59 60 61 62 63
Clara Schumann – Johannes Brahms, Briefe (wie Anm. 41), S. 238f. Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Akzessions-Nr.: 90.5027/3. Vgl. RSA II/2/3: Violinsonaten op. 105 und 121; WoO 2; F.A.E.-Sonate, hrsg. von Ute Bär, Mainz [u. a.] 2000, S. 297. Clara Schumann – Johannes Brahms, Briefe (wie Anm. 41), S. 184. Vgl. auch Loos, Clara Schumann als Editorin (wie Anm. 36), S. 117.
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der Edition der oft mit dieser verwechselten Instruktiven Ausgabe64 der Klavierwerke Robert Schumanns begonnen wurde, an der Clara ohne Beteiligung von Johannes Brahms mit Unterbrechungen zwischen 1883 und 1886 gearbeitet hat.65 In diese Ausgabe konnte sie ihre eigenen interpretatorischen Ansichten direkt einfließen lassen. Wegen einer solchen Ausgabe hatte sich Clara Schumann 1880 an Breitkopf & Härtel gewandt, was aus einem Brief des Verlages vom 4. August an sie hervorgeht: In Ihrem werthen Schreiben vom 10. Juli, auf welches wir Ihnen bereits am 12. Juli eine vorläufige Antwort gaben, regten Sie eine praktische Ausgabe der Klavierwerke Robert Schumanns an, mit dem Bemerken, daß Sie bereit seien, den Fingersatz, sowie die erforderlichen Bezeichnungen etc. hinzuzufügen. Wir würden längst auf diese uns in hohem Grade interessierende Angelegenheit zurückgekommen sein, wenn es uns nicht an der näheren Bezeichnung Ihrer Adresse gefehlt hätte, die Sie uns freundlichst hatten mittheilen wollen. […] Wir wiederholen, daß es uns zur besonderen Freude gereichen wird, wenn Sie selbst eine praktische Ausgabe der Klavierwerke Ihres verewigten Herrn Gemahls vorbereiten wollten. Wir hatten diese Frage bereits erwogen und die Absicht, uns in gleicher Angelegenheit an Sie zu wenden, unterließen es aber noch, um nicht etwa den Fortgang der großen kritischen Gesammtausgabe zu stören. Wenn es Ihnen indessen aus irgend welchen Gründen wünschenswerth sein sollte, diese Arbeit schon jetzt gleichzeitig mit der großen Ausgabe in die Hand zu nehmen, so sind wir unsererseits damit vollständig einverstanden und sehen Ihren weiteren Nachrichten hierüber mit Interesse entgegen.66
Clara Schumann hatte sich entschlossen, vor der Instruktiven Ausgabe zunächst die Klavierwerke vollständig in der Gesamtausgabe erscheinen zu lassen, wie dem Schreiben des Verlags an sie vom 21. August 1880 zu entnehmen ist: „Die vereinbarte praktische Ausgabe der Pianofortewerke wird also erst nach Vollendung der betreffenden Gruppe der Gesamtausgabe aufgenommen werden“.67 Mit der Arbeit an der Instruktiven Ausgabe begann Clara Schumann 1883. Am 18. Januar übersandte der Verlag ein Exemplar der bereits in der AGA erschienenen Klavierwerke, „um schon unter der Hand mit der instruktiven Ausgabe beginnen zu können“.68 Über den Fortgang der Arbeiten gibt ebenso wie bereits für die AGA Claras durchschossenes Verzeichnis der Werke ihres ____________ 64
65 66 67 68
Der genaue Titel der Ausgabe lautet: Klavier-Werke von Robert Schumann. Erste mit Fingersatz und Vortragsbezeichnungen versehene Instructive Ausgabe. Nach den Handschriften und persönlicher Überlieferung herausgegeben von Clara Schumann. Vgl. Tirza Cremer, Clara Schumann als Herausgeberin der Instruktiven Ausgabe der Klavierwerke Robert Schumanns, unveröffentlichte Magisterarbeit (Würzburg 2009). Corr CS, Bd. IV, Nr. 52. Corr CS, Bd. IV, Nr. 58. Corr CS, Bd. IV, Nr. 217.
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Mannes Auskunft. Aufgrund des zeitlichen Abstandes zwischen dem Erscheinen der Werke in der AGA und in der Instruktiven Ausgabe lassen sich die entsprechenden Einträge gut den entsprechenden Ausgaben zuordnen. Der Briefwechsel zwischen Clara Schumann und dem Verlag enthält wie zur AGA wichtige Informationen über die Edition der einzelnen Werke. Die Arbeit an der Instruktiven Ausgabe zog sich bis 1886 hin. Diese Verzögerung ist auch durch Claras Arbeit an der Ausgabe der Jugendbriefe ihres Mannes bedingt. Nach deren Abschluss fragte der Verlag am 18. November 1885 bei ihr an, „ob wir nun wieder, nach Erledigung der Briefe, auf kräftige Förderung der instruktiven Ausgabe rechnen dürfen“.69 Das Erscheinen der Ausgabe war für Anfang 188770 geplant, was der Verlag Clara nochmals am 22. November 1886 mitteilte: Für jetzt ist, wie Sie ganz richtig bemerken, das Hauptgewicht auf die instructive Ausgabe zu legen, deren Fertigstellung bis Anfang nächsten Jahres uns überaus erwünscht wäre.71
Das Erscheinen der insgesamt sechs Bände umfassenden Ausgabe wurde im Dezember 188672 und im Januar 188773 angezeigt. Obwohl Clara Schumann den instruktiven oder „Schülerausgaben“, die 1837 mit der Bach-Ausgabe von Czerny eingeleitet worden waren, sehr kritisch gegenüberstand, veröffentlichte sie selbst eine solche Ausgabe der Werke ihres Mannes, wobei wohl auch hier „der Schutz der Authentizität der Schumannschen Gedanken eine entscheidende Triebfeder“ war.74 Vermutlich wollte sie dadurch eine didaktische Edition der Klavierwerke ihres Mannes in der Art, wie sie Hans von Bülow von Werken Bachs, Beethovens und Scarlattis herausgegeben hatte, verhindern. Im Unterschied zu solchen Ausgaben fügte sie nur äußerst selten nichtoriginale Vortragsbezeichnungen in die Ausgabe ein. „Diese sporadischen Zufügungen“, so Claudia de Vries, „basierten auf ihrer eigenen Spiel- und Unterrichtspraxis und ließen den originalen Notentext weitgehend unberührt […].“75 Dennoch unterscheidet sich die Instruktive Ausgabe, bei deren Edition Clara Schumann von ihrer ältesten Tochter Marie unterstützt wurde, in vieler____________ 69 70 71 72 73 74 75
Corr CS, Bd. IV, Nr. 355. In diesem Zusammenhang soll nochmals betont werden, dass Ende 1886 die 30 Jahre währende Schutzfrist für die Schumann’schen Kompositionen endete. Corr CS, Bd. V, Nr. 71. HMB Dezember 1886, S. 21. Signale für die musikalische Welt, 45. Jg., Nr. 3 (Januar 1887), S. 46. Claudia de Vries, Die Pianistin Clara Wieck-Schumann. Interpretation im Spannungsfeld von Tradition und Individualität (= Schumann Forschungen, Bd. 5), Mainz 1996, S. 284. Ebd., S. 282.
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lei Hinsicht von der AGA und den Originalausgaben der Werke Robert Schumanns. So sind Metronomzahlen sowie Tempohinweise verändert oder ergänzt und Fingersätze sowie zahlreiche Pedalangaben hinzugefügt. Allerdings stammen zahlreiche Eingriffe, die Clara noch bis Ende des 20. Jahrhunderts als Willkürlichkeiten vorgeworfen wurden, nicht von ihr, sondern von späteren Bearbeitern der Ausgabe wie Carl Reinecke und Wilhelm Kempff. Hierauf hat Marie Schumann bereits 1928 hingewiesen. Auf einem handgeschriebenen Einlageblatt in Clara Schumanns Handexemplar der Instruktiven Ausgabe, das sich im Besitz des Robert-Schumann-Hauses Zwickau befindet, teilte sie mit, dass wenige Jahre nach Clara Schumanns Tod die 1887 erschienene Erstauflage der Instruktiven Ausgabe als Volksausgabe erneut veröffentlicht wurde: Zu gleicher Zeit erschien bei Breitkopf u. Härtel unter dem selben Titel und unter derselben Nummer (623) eine Instructive Ausgabe, in welcher nicht nur die Fingersätze meiner Mutter, sondern auch die Schreibweise und die Vortragsbezeichnungen des Componisten verändert worden sind, auf eine Art, welche meine Mutter nicht gebilligt haben würde. Da sich beide Ausgaben frappant ähnlich sehen und nur bei sehr genauem Hinsehen das ganz klein gedruckte Clara Schumann auf ihrer Bearbeitung entdeckt wird, so ist das Publikum einer Täuschung ausgesetzt.76
IV.
Werke für Klavier solo
Wenn im Folgenden die Editionen von Schumanns Klavierwerken näher in Betracht gezogen werden, so ist eine solche Fokussierung vornehmlich zwei Tatsachen geschuldet. Zum einen war Schumann zunächst für fast ein Jahrzehnt, nämlich von November 1831 (Abegg-Variationen op. 1) bis September 1839 (Klaviersonate Nr. 2 g-Moll op. 22), als Komponist ausschließlich mit Klaviermusik publizistisch in Erscheinung getreten. Erst kurz vor den Nachtstücken op. 23 (Juni 1840) wurde mit dem Liederkreis op. 24 (Mai 1840) ein Werk Schumanns für Gesang veröffentlicht. Zum anderen erschienen (von wenigen Ausnahmen abgesehen) alle Klavierwerke zu seinen Lebzeiten, als letztes Werk die Gesänge der Frühe op. 133 (November 1855), bei denen Schumann allerdings „im Herbst 1854 bzw. Frühjahr 1855 offensichtlich nicht mehr zu präzisem Korrekturlesen in der Lage“ war.77 Schumann hat also den Druck aller Ausgaben mehr oder weniger inten____________ 76 77
Robert-Schumann-Haus Zwickau, Archiv-Nr.: 8694a – D1. Struck, Vierzehn Arten, Schumann zu verfehlen (wie Anm. 7), S. 228f.
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siv überwacht und hätte korrigierend eingreifen können.78 Von fünf Werken, namentlich aus seiner frühen Schaffensperiode, liegen überdies die teilweise bereits erwähnten autorisierten Neuausgaben aus den 1850er Jahren vor, von den Impromptus op. 5, den Davidsbündlertänzen op. 6 und den Kreisleriana op. 16 (alle 1850), den Symphonischen Etüden op. 13 (1852) und der Klaviersonate Nr. 3 f-Moll op. 14. Zu den Klavierstücken, die erst postum publiziert wurden, zählen u. a. der Kanon An Alexis Anhang F19 Nr. 8 (1858/1859), das Scherzo I aus der genannten 3. Klaviersonate op. 14 Anhang 1 und der ursprüngliche Finalsatz aus der 2. Klaviersonate op. 22 Anhang (beide von Johannes Brahms 1866 ediert), die gegen Clara Schumanns heftigen Widerstand veröffentlichten fünf zusätzlichen Variationen aus den Symphonischen Etüden op. 13 Anhang (ebenfalls von Brahms 1873 als „Suite de l’Oeuv. 13“),79 die Variationen Es-Dur über ein eigenes Thema Anhang F39 (1939), die Etüden in Form freier Variationen über ein Thema von Beethoven Anhang F25 (1976) sowie die fragmentarischen Variationen über ein Nocturne von Chopin Anhang F26 (1992). Eine entscheidende Zäsur in der Editionsgeschichte nicht nur der Klavierwerke Schumanns bildet, wie bereits mehrfach erwähnt, das Jahr 1887 mit dem Ende der Schutzfrist. Konnte Breitkopf & Härtel im Rahmen der 1879 begonnenen Gesamtausgabe in den beiden ersten Jahren die von ihnen schon früher verlegten opp. 9, 12, 15, 17, 21, 22 und 28 veröffentlichen, so musste der Verlag für diejenigen Klavierwerke, für die er selbst kein Eigentumsrecht besaß, Sonderabkommen treffen oder das Ende der Schutzfrist abwarten. Diese Werke erschienen dann, abgesehen von den erst 1893 von Brahms in einem Supplementband herausgegebenen Kompositionen, aber in rascher Folge in den Jahren 1885 und 1887. Während die Veröffentlichungen bis 1887 für heutige historisch-kritische Editionen relativ übersichtlich sind, setzt danach eine heute nicht mehr zu überschauende Flut von Ausgaben ein, weswegen nur einzelne Schlaglichter auf die Editionsgeschichte geworfen werden können. So bleiben die unzähligen Einzelausgaben ebenso unberücksichtigt wie solche Auswahlausgaben Schumann’scher Klavierwerke, die unter Titeln firmieren wie Sammlung auserlesener Werke als Band 10 der Reihe Unsere Meister (Leipzig: Breit____________ 78
79
Zu den Druckausgaben vgl. Kurt Hofmann, Die Erstdrucke der Werke von Robert Schumann (= Musikbibliographische Arbeiten, Bd. 6), Tutzing 1979, zu Schumanns Verlegern speziell S. IX–XXVII. Allerdings ist gerade bei den Klavierwerken die Anzahl der heute erhaltenen oder nachweisbaren Stichvorlagen, Korrekturabzüge usw. verschwindend gering. Roesner, Brahms’s Editions of Schumann (wie Anm. 36), S. 260–264; Damien Ehrhardt, Zur Genese der Symphonischen Etüden von Robert Schumann, in: Schumann Studien, Bd. 5, im Auftrag der Robert-Schumann-Gesellschaft Zwickau hrsg. von Gerd Nauhaus, Köln 1996, S. 41–54.
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kopf & Härtel 1877), Album. Beliebte Stücke (Leipzig: Peters 1888; mit Kompositionen aus nicht weniger als 12 Werken) oder Auswahl der besten Klavierwerke. Mit einer einführenden Studie von Dr. Richard Batka, biographischen Daten, zusammengestellt von Hedwig Neumayr u. 30 Abbildungen, Faksimiles u. dgl. (Wien, Leipzig: Universal Edition o. J.) in der Reihe Klassiker der Tonkunst. Gerade mit solchen Ausgaben sollte der im Bereich der Klaviermusik seinerzeit ungeheuer große Bedarf an entsprechender Literatur befriedigt werden, zumal beim Bürgertum, für das ein Klavier oder sogar ein Flügel als Statussymbol zum fast unabdingbaren Inventar einer Wohnung gehörte. Im Blick auf Schumanns Klavierwerke seien drei besondere Formen von Editionen eigens hervorgehoben, 1. Gesamtausgaben, 2. instruktive und/oder Phrasierungsausgaben sowie 3. Urtextausgaben. 1. In den bereits erwähnten Gesamtausgaben, der russischen von 1869/1870 sowie der AGA und der Instruktiven Ausgabe, sind die Werke nach Opuszahlen aneinandergereiht. Weitere Ausgaben wie die von Alfred Dörffel revidierte fünfbändige Ausgabe unter dem Titel Sämmtliche Clavierwerke (Leipzig: Peters 1887)80 oder Hans Bischoffs bereits zitierte Kritisch revidierte Ausgabe mit Fingersatz und Phrasierungsergänzungen (Hannover: Steingräber 1888; nochmals revidiert 1921/22 von Walter Niemann) ordnen die Werke nach anderen Kriterien an. Mit welchen divergierenden Einstellungen der Editionspraxis sich der Benutzer der jeweiligen Ausgaben konfrontiert sieht, wird auf eindringliche Weise deutlich, wenn Bischoff als Herausgeber in seiner „Vorbemerkung zur Gesamtausgabe“ zum einen betont, dass in den „jedem Band beigefügten Anmerkungen zur Textrevision“ u. a. „alle Abänderungen“ aufgelistet seien, zum anderen aber konstatiert: „Nur die völlig zwecklose summarische Pedalbezeichnung, welche am Anfang der meisten Stücke zu finden war, habe ich überall beseitigt.“ Wie Schumann jedoch selbst an einer Stelle bemerkt, habe er damit den „unausgesetzten Gebrauch“ des Pedals anzeigen wollen.81 2. Bei den instruktiven und/oder Phrasierungsausgaben ist natürlich in erster Linie die von Clara Schumann selbst veranstaltete Instruktive Ausgabe der ____________ 80
81
Vgl. Katalog der Edition Peters 1888, S. 153; zu Plattennummern und Nummern der Edition Peters vgl. Dan Fog, Zur Datierung der Edition Peters. Auf Grundlage der Grieg-Ausgaben, Kopenhagen 1990, S. 20. Zu der explizit unter den Namen Florestan und Eusebius herausgegebenen Originalausgabe der Klaviersonate Nr. 1 fis-Moll (Leipzig: Friedrich Kistner 1836) bemerkte Schumann: „Die Verfasser bedienen sich des Pedals fast in jedem Tacte, je nachdem es die Harmonieenabschnitte erheischen. Ausnahmen, wo sie wünschen, dass es gänzlich ruhen möchte, sind durch * bezeichnet; mit der alsdann folgenden Bezeichnung ,Pedale‘ tritt wiederum dessen unausgesetzter Gebrauch ein“ (S. 1, Fußnote).
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Klavierwerke ihres Mannes zu nennen, die weitaus weniger in den originalen Notentext eingreift als andere, mit gleichem oder ähnlichem Namen belegte Ausgaben, in denen erheblich mehr Veränderungen und Hinzufügungen welcher Art auch immer zu finden sind. Genau dies war dann aber wie oben erwähnt auch der Fall bei der bald nach Claras Tod auf der Grundlage der Instruktiven Ausgabe veranstalteten Volksausgabe, auf der die noch heute auf dem Markt präsente, u. a. von Wilhelm Kempff besorgte so genannte „Clara-Schumann-Ausgabe“ bei Breitkopf & Härtel basiert. Neben ähnlichen Ausgaben, beispielsweise der „Instruktive[n] Ausgabe“ von Alexis Hollaender (Berlin: Schlesinger 1887) oder der mit „instruktiven Erläuterungen versehen[en]“ Ausgabe von Otto Neitzel (Köln: Tonger 1887) sei namentlich Hugo Riemanns „Phrasierungsausgabe“ erwähnt, die unter dem Titel Schumann-Album. Ausgewählte Klavierwerke (Leipzig: Verlag der Musikalischen Universalbibliothek 1890) alle Stücke aus den Kinderszenen op. 15 und 23 Stücke aus dem Album für die Jugend op. 68 enthält. Denn Riemann nimmt hier, ausgehend von seiner besonderen Auffassung der Metrik, u. a. in vier Stücken von op. 68 (Nr. 1, 10, 18 und 40) überaus einschneidende Veränderungen vor, indem er die Taktstriche durchgehend um einen halben Takt versetzt. 3. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erscheinende Urtext-Ausgaben wollen mit der für den praktischen Gebrauch nötigen Vereinheitlichung und Modernisierung der musikalischen Orthographie einen authentischen Text bieten; Ausgaben wie die des darauf spezialisierten Henle-Verlags in München enthalten die Erläuterung: „nach Eigenschriften bzw. Autographen und Originalausgaben“. Im Übrigen ist die von Wolfgang Boetticher in den 1970/1980er Jahren herausgegebene und noch dezidiert mit Ausgewählte Klavierwerke in vier Bänden betitelte Urtext-Ausgabe durch die von Ernst Herttrich besorgte und 2010 fertiggestellte Ausgabe sämtlicher Kompositionen für Klaviersolo ersetzt worden. Für das Album für die Jugend op. 68 beispielsweise konkurrieren in heutiger Zeit gleich mehrere „Urtext-Ausgaben“: die von Ernst Herttrich (München: Henle 2007), welche die im selben Verlag erschienene ältere Ausgabe von Boetticher (1977) ablöste, sowie Ausgaben von Hans Joachim Köhler (Leipzig: Peters 1974), Klaus Rönnau (Wien: Wiener Urtext Edition 1979) und André Krust (Paris: Editions Henry Lemoine 1992).82 ____________ 82
In der letztgenannten Edition wird die in der Zweitausgabe in 43 verbesserte und damit korrekte Anzahl der Stücke fälschlicherweise wie folgt erklärt: „certaines Pièces qui ne comportaient pas de numérotation [in der Erstausgabe Nr. 21, 26 und 30] ont été numérotées“.
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Bei diesem Werk, einem der wohl populärsten Schumanns, stellen sich verschiedene Fragen, die aus der Editionsgeschichte resultieren und die für die heutige Editionspraxis relevant sind. Das betrifft allein schon den Titel dieses Werkes, da zwei unterschiedliche Titel existieren, von denen der eine (oben genannte) zwar der auch heute noch gängige ist und sich in allen frühen Ausgaben auf dem äußeren Umschlag befindet; dieser ist aber bei den meisten heutzutage greifbaren Exemplaren nicht mehr existent. Auf dem (in der Regel noch erhaltenen) Titelblatt mit der berühmten Lithographie von Ludwig Richter heißt es dagegen: 40 (wie in der Erstausgabe) bzw. (seit der zweiten Auflage) 43 Clavierstücke für die Jugend. Dieser Titel konnte sich in der Rezeptionsgeschichte des Werkes aber nicht durchsetzen, obwohl ihn Clara Schumann in die AGA und die Instruktive Ausgabe übernommen hatte. Zwei Momente sind für die Editionsgeschichte von op. 68 besonders charakteristisch: Einerseits ist es die ausufernde (und hier nicht weiter verfolgte) Praxis der Bearbeitungen entweder des Gesamtwerkes oder einer Auswahl bestimmter, meist besonders beliebter Stücke, die sich natürlich gerade im Fall von op. 68 aufgrund der Popularität, der Kürze und vornehmlich leichteren Spielbarkeit der Stücke anbietet. Andererseits sind Anzahl und Ausgestaltung der Ausgaben signifikant, und zwar schon zu Lebzeiten Schumanns. Nach der zu Weihnachten 1848 gedruckten Originalausgabe publizierte der Verlag J. Schuberth & Co. aufgrund der großen Nachfrage bereits im Dezember 1850 die „Zweite mit einem Textanhange [d. h. den erst hier angefügten Musikalischen Haus- und Lebensregeln] vermehrte Auflage“. Außerdem erschienen davor eine so genannte „Prachtausgabe“ und eine andere Ausgabe, in denen die beiden (sonst nur im Inhaltsverzeichnis vermerkten) Abteilungen „Für Kleinere“ und „Für Erwachsenere“ getrennt paginiert sind; darüber hinaus waren beide Abteilungen auch separat käuflich zu erwerben. Nach Schumanns Tod veranstaltete der geschäftstüchtige Verleger 1859 eine erneute, nunmehr „Dritte vermehrte Auflage“ mit dem Titel Album für die Jugend. 55 Clavierstücke für die Jugend, in der den beiden von Schumann her bekannten Abteilungen als dritte Abteilung „Für Gereiftere“ die gleichfalls von Schuberth verlegten Drei Klaviersonaten für die Jugend op. 118 hinzugefügt wurden. Gegen diese Vermarktungsstrategie verwahrte sich Clara Schumann in mehreren Briefen an den Verleger vehement, aber erfolglos. Schließlich beauftragte Schuberth 1867 Karl Klauser mit einer „Neue[n] Ausgabe progressiv geordnet und mit Fingersatz versehen“, in der die Reihenfolge der einzelnen Stücke teilweise verändert ist: So bildet nun die Nr. 40, Kleine Fuge, unter der neuen Überschrift Präludium und Fuge als vermeintlich schwerstes Stück den Schluss der Sammlung. Damit ist aber nach Bernhard
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R. Appels Ansicht Schumanns Jugendalbum „einer hausbackenen Klavierschule angenähert worden“.83 An drei Details seien einige Fragen demonstriert, mit welchen sich bisherige Editionen konfrontiert sahen und denen sich zukünftige Editionen unter Berücksichtigung aller vorliegenden Quellen zu stellen haben. Das eine Problem betrifft in Nr. 10, Fröhlicher Landmann, von der Arbeit zurückkehrend, die Bogensetzung in T. 1–4 in der von der linken Hand gespielten Melodie, für die in den untersuchten Editionen nicht weniger als sechs verschiedene Varianten gegeben werden, denen Diether de la Motte in einem Aufsatz eine weitere hinzufügt und gleichzeitig dezidiert urteilt: „Seine [Schumanns] Phrasierung in T. 1–2 ist unkorrekt und erscheint erst an der Parallelstelle T. 11–12 überzeugend auftaktig.“84 Die (im Faksimile zugängliche) Stichvorlage liefert freilich in diesem Punkt keinen eindeutigen Befund: Den ersten Bogen zieht Schumann vom c in T. +1 schwungvoll bis Ende T. 1, der zweite Bogen von Ende T. 1 endet kurz vor der Achtelnote auf a in T. 2, und der dritte Bogen reicht von diesem a bis zur dritten Viertelnote in T. 4. In diesem Sinne bietet die erwähnte Wiener Urtext Edition die der Stichvorlage am nächsten kommende Bogensetzung.
a) Erst- und Zweitausgabe Hamburg und New York 1848 bzw. Leipzig, Hamburg und New York 1850; AGA; Instruktive Ausgabe; Leipzig: Peters 1974 (Köhler); Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1993 (Draheim). b) „Dritte vermehrte Auflage“ Leipzig, Hamburg und New York 1859; „Neue Ausgabe“ Leipzig, New York 1867 (Klauser); „russische Gesamtausgabe“ Bd. 4 Moskau: Jürgenson 1870/1871 (Rubinstein). c) Wien: Wiener Urtext Edition 1979 (Rönnau); Paris: Editions Henry Lemoine 1992 (Krust). ____________ 83 84
Bernhard R. Appel, Robert Schumanns „Album für die Jugend“. Einführung und Kommentar. Mit einem Geleitwort von Peter Härtling, Zürich, Mainz 1998, S. 211. Diether de la Motte, „Sechs fröhliche Landmänner …“, in: Musik im Unterricht 59 (1968), S. 271–274, hier S. 272.
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d) Reutlingen: Edition Tonos o. J. (Otto Sonnen); München: Henle 1977 (Boetticher) sowie 2007 (Herttrich). e) Mainz: Schott 1997 (André Terebesi). f) Leipzig: Peters 1887 (Dörffel) sowie Neuausgabe 1921/22 (Niemann); Wien: UE 1992 (Ignaz Friedman, Neuausgabe Willy Klasen). g) de la Motte 1968; Riemann phrasiert in seiner Ausgabe (Leipzig: Verlag der Musikalischen Universalbibliothek 1890) wie in T. 11: angezeigt durch gestrichelte Bögen.
Beim zweiten Problem geht es um die Frage des Schlusses von Nr. 11, Sicilianisch. In der Stichvorlage notierte Schumann das Wort „Schluß.“ unterhalb von T. 16 in der seconda volta. In diesem Takt steht, das 3.–5. Taktachtel umfassend, der Dominantakkord von a-Moll, der Grundtonart des Stückes. Genau unterhalb der Bezeichnung „Schluß.“ befindet sich T. 24, jener letzte Takt des ersten Teiles (im 6/8-Takt) mit oktaviertem Schlusston auf e.85 In der Erstausgabe von 1848 erschien das Wort „Schluß“ unter T. 16 in der seconda volta (und Schumann sah sich keinesfalls dazu veranlasst, in seinem Handexemplar von op. 68 eine entsprechende Korrektur anzubringen). Fungiert in der zu Weihnachten 1849 vorliegenden „Prachtausgabe“ ebenfalls T. 16 als Schluss, so ist es in der 1850 erschienenen Zweitauflage T. 24. Ungeachtet dessen übernahm Clara Schumann in die AGA und in die Instruktive Ausgabe die Position des Schlusses aus der Originalausgabe, was noch in der von Kempff neu herausgegebenen Clara-Schumann-Ausgabe tradiert wird. Das Gleiche gilt für Boettichers frühere Urtextausgabe im Henle-Verlag und die von Köhler bei Peters. Die meisten anderen Herausgeber übernahmen dagegen die in der Zweitauflage zu findende Position, u. a. eben auch die neuere Urtextausgabe von Herttrich bei Henle. Als eklatantes Beispiel für die Problematik heutiger Editionspraxis, die sich explizit auf authentische oder autorisierte Quellen beruft, sei schließlich drittens noch auf die Passage T. 29–32 in Nr. 22, Rundgesang, rekurriert.86 Herttrich bringt in seiner Ausgabe lediglich den entsprechenden Vermerk im Kritischen Bericht an, dass die Stichvorlage an dieser Stelle „eine größere Abweichung“ aufweist, indem Schumann hier eigentlich eine Wiederholung der T. 4–8 geplant und notiert habe. Diese ursprünglich vorgesehene Version wird von Rönnau in der Wiener Urtext Edition als maßgebliche Fassung deklariert, ____________ 85
86
Vgl. Michael Beiche, Annotationen zur Werkgenese von Robert Schumanns Album für die Jugend op. 68, in: Schumann und Dresden. Bericht über das Symposion „Robert und Clara Schumann in Dresden – Biographische, kompositionsgeschichtliche und soziokulturelle Aspekte“ in Dresden vom 15. bis 18. Mai 2008, hrsg. von Thomas Synofzik und Hans-Günter Ottenberg (= Studien zum Dresdner Musikleben im 19. Jahrhundert, Bd. 1), Köln 2010, S. 29–46, hier S. 43–45. Vgl. ebd., S. 37–41.
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während die in der Originalausgabe abgedruckte und durch die gesamte Rezeptionsgeschichte hindurch überlieferte Fassung ,nur‘ als Ossia figuriert. Von der Stichvorlage her ist der Sachverhalt völlig eindeutig, und es muss von einem Versehen des Stechers ausgegangen werden, wobei allerdings nicht geklärt werden kann, wie Schumann auf diese Änderung des Notentextes reagierte: Anzunehmen ist, dass er diesen Irrtum bemerkt hat und ihn zumindest sanktionierte. (In diesem Fall wäre ohnehin zu fragen, warum in besagter Edition andere Abweichungen der Stichvorlage von der Originalausgabe vom Herausgeber nicht in ähnlicher Weise notiert und ediert wurden.) Die hier aufgezeigten (und alle anderen hier nicht diskutierten) Zweifelsfälle sollten also zukünftige Editionen veranlassen, unter Berücksichtigung aller erreichbaren Quellen entschieden Position zu beziehen.
V.
Schluss
Die eingangs angedeuteten Versuche, innerhalb von Ausgaben abweichende Fassungen darzustellen,87 und der Überblick diverser Ausgaben des Klavierwerks Album für die Jugend op. 68 machen die Bandbreite und Entwicklung der Editionsprinzipien für Schumanns Werke deutlich. Zugleich aber ist der prägende Einfluss der von Clara Schumann (mit-)verantworteten Ausgaben unübersehbar. Viele Editionen noch des 20. Jahrhunderts – nicht nur der Klavierwerke – fußen offenbar vor allem oder ausschließlich auf diesen Notentexten, insbesondere denen der AGA. Die dargestellten Beispiele zeigen, wie differenziert die Geschichte der Editionen von Werken Robert Schumanns geschrieben werden könnte, doch bedarf es zuvor noch vieler Detailforschungen, um beispielsweise die Kammermusik sowie die kammermusikalischen Bearbeitungen und Arrangements einbeziehen zu können.
____________ 87
Vgl. z. B. die beiden Besprechungen von „DAS.“ (vgl. Anm. 13).
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Verzeichnis der erwähnten Ausgaben von Werken Schumanns Werke, hrsg. von Clara Schumann, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1879–1893 (= AGA) Sämmtliche Werke, Leipzig: Peters ab 1887 Werke, Hamburg: Pohle ab 1887 Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Mainz [u. a.]: Schott ab 1991 (= RSA) Klavierwerke 40 [sic] Clavierstücke für die Jugend op. 68, Hamburg, New York: Schuberth & Co 1848 43 Clavierstücke für die Jugend op. 68, Zweite mit einem Textanhange vermehrte Auflage, Leipzig, Hamburg, New York: Schuberth & Co. 1850 Impromptus über ein Thema von Clara Wieck op. 5, Neue Ausgabe mit einem Anhange, die Varianten der ersten Ausgabe enthaltend, Leipzig: Hofmeister 1863 Die Davidsbündler op. 6, Leipzig, New York: J. Schuberth & Co. 1862 Etudes en forme de Variations op. 13, Leipzig, New York: J. Schuberth & Co. 1861 Etudes Symphoniques […] Suite de l’Oeuv. 13, hrsg. von Johannes Brahms, Simrock 1873 Scherzo [op. 14 Anhang Nr. 1 (WoO 5, Nr. 1)] und Presto Passionato [op. 22, 1. Finale (WoO 5, Nr. 2)] […], hrsg. von Johannes Brahms, Leipzig, Winterthur: Rieter-Biedermann etc. 1866 3ème Grande Sonate (Concert sans Orchestre) op. 14, Leipzig, New York: J. Schuberth & Co. 1862 Album für die Jugend. 55 Clavierstücke für die Jugend, Dritte vermehrte Auflage“, Leipzig, Hamburg, New York: Schuberth & Co 1859 Album für die Jugend op. 68, für Klavier und Violine bearbeitet von Baptiste von Hunyady, Leipzig, Hamburg, New York: Schuberth & Co 1865 Album für die Jugend op. 68, „Neue Ausgabe progressiv geordnet und mit Fingersatz versehen“, hrsg. von Karl Klauser, Leipzig, Hamburg, New York: Schuberth & Co 1867 Album für die Jugend op. 68, hrsg. von Hans Joachim Köhler, Leipzig: Peters 1974 Album für die Jugend op. 68, hrsg. von Klaus Rönnau, Wien: Wiener Urtext Edition 1979 Album für die Jugend op. 68, hrsg. von André Krust, Paris: Editions Henry Lemoine 1992 Album für die Jugend op. 68, hrsg. von Ignaz Friedman, Neuausgabe von Willy Klasen, Wien: Universal Edition 1992 Album für die Jugend op. 68, hrsg. von Joachim Draheim, Wiesbaden [u. a.]: Breitkopf & Härtel 1993 Album für die Jugend op. 68, hrsg. von André Terebesi, Mainz [u. a.]: Schott 1997 Album für die Jugend op. 68, hrsg. von Otto Sonnen, Reutlingen: Edition Tonos [o. J.] Julius Knorr, Deux Fantaisies mignonnes de Salon pour Piano op. 30, Leipzig: Kahnt 1858/1859, im Anhang RSW Anhang F19 Nr. 8 Etüden in Form freier Variationen über ein Thema von Beethoven RSW Anhang F25 (WoO 31), hrsg. von Robert Münster, München: Henle 1976 Variationen über ein Nocturne von Chopin [Fragment] RSW Anhang F26, hrsg. von Joachim Draheim Wiesbaden [u. a.]: Breitkopf & Härtel 1992 Variationen Es-Dur über ein eigenes Thema RSW Anhang F39 (WoO 24), hrsg. von Karl Geiringer, London: Hinrichsen 1939 Album. Beliebte Stücke, Leipzig: Peters 1888 Ausgewählte Klavierwerke in vier Bänden, hrsg. von Wolfgang Boetticher, München: Henle 1977–1987 Auswahl der besten Klavierwerke. Mit einer einführenden Studie von Dr. Richard Batka, biographischen Daten, zusammengestellt von Hedwig Neumayr u. 30 Abbildungen, Faksimiles u. dgl. (= Klassiker der Tonkunst), Wien, Leipzig: Universal Edition [o. J.] Klavier-Werke von Robert Schumann. Erste mit Fingersatz und Vortragsbezeichnungen versehene Instructive Ausgabe. Nach den Handschriften und persönlicher Überlieferung, hrsg. von Clara Schumann, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1887 (= Instruktive Ausgabe) Klavierwerke, „Instruktive Ausgabe“ hrsg. von Alexis Hollaender, Berlin: Schlesinger 1887 Klavierwerke, Ausgabe mit „instruktiven Erläuterungen versehen“ von Otto Neitzel, Köln: Tonger 1887 Klavierwerke, Kritisch revidierte Ausgabe mit Fingersatz und Phrasierungsergänzungen hrsg. von Hans Bischoff, Hannover: Steingräber 1888
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Klavierwerke, Kritisch revidierte Ausgabe mit Fingersatz und Phrasierungsergänzungen hrsg. von Hans Bischoff, revidiert von Walter Niemann, Hannover: Steingräber 1921/22 Œuvres complètes pour le piano par R. Schumann, 6 Bände, Moskau: Jürgenson 1869/1870 Pianoforte-Werke. Neue billige Volks-Ausgabe, hrsg. von Alexander Winterberger, Leipzig, Schuberth & Co. 1887 Sammlung auserlesener Werke (Unsere Meister, Bd. 10), Leipzig: Breitkopf & Härtel 1877 Sämmtliche Clavierwerke, 5 Bände, hrsg. von Alfred Dörffel, Leipzig: Peters 1887 Sämtliche Klavierwerke, hrsg. von Ernst Herttrich, München: Henle 2001–2010 Schumann-Album. 41 beliebte Stücke, kritisch revidiert, phrasiert und mit Fingersatz versehen von Conrad Kühner, Braunschweig Litolff [o. J.] Schumann-Album. Ausgewählte Klavierwerke, „Phrasierungsausgabe“ hrsg. von Hugo Riemann, Leipzig: Verlag der Musikalischen Universalbibliothek 1890 Lieder Sämmtliche Lieder, 3 Bände, hrsg. von Alfred Dörffel, Leipzig: Peters 1887 (später hrsg. von Max Friedländer); dazu Max Friedlaender: Textrevision zu Schumann’s Liedern, Leipzig: Peters [1887] Liederkreis op. 24, hrsg. von Kazuko Ozawa, München: Henle 2006 Liederkreis op. 39, hrsg. von Hans Joachim Köhler, Leipzig: Peters 1985 Liederkreis op. 39, hrsg. von Kazuko Ozawa, München: Henle 2010 Frauenliebe und Leben op. 42, hrsg. von Kazuko Ozawa, München: Henle 2002 Dichterliebe op. 48, hrsg. von Arthur Komar, New York, London: W. W. Norton & Co. 1971 Dichterliebe op. 48, hrsg. von Hans Joachim Köhler, Leipzig: Peters 1986 Dichterliebe op. 48, hrsg. von Kazuko Ozawa, München: Henle 2005 Symphonien Philharmonia-Taschenpartituren Eulenburg-Taschenpartituren Symphonien Nr. 1–4, hrsg. von Joachim Draheim, Wiesbaden [u. a.]: Breitkopf & Härtel 1993–2001 Symphonie Nr. 1 op. 38, für Klavier und Violine bearbeitet von Friedrich Hermann, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1867 Symphony No. 3 Eb major Op. 97, hrsg. von Linda Correll Roesner, London: Eulenburg 1986 Sinfonie Nr. 3 Es-Dur, op. 97 „Rheinische“, Taschen-Partitur mit Erläuterung hrsg. von Reinhard Kapp, München, Mainz: Goldmann-Schott 1981 Symphonie Nr. 4 op. 120, für Klavier und Violine bearbeitet von Friedrich Hermann, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1867 Sinfonie Nr. 4 d-moll, op. 120, Taschen-Partitur mit Erläuterung, hrsg. von Egon Voss, München, Mainz: Goldmann-Schott 1980 Symphonie Nr. 4 d-moll op. 120. Erstfassung 1841, Studienausgabe, hrsg. von Jon Finson, WIesbaden [u. a.]: Breitkopf & Härtel 2003 (= Breitkopf & Härtel Partitur-Bibliothek, Nr. 5265)
Literaturverzeichnis Appel, Bernhard R.: Robert Schumanns „Album für die Jugend“. Einführung und Kommentar. Mit einem Geleitwort von Peter Härtling, Zürich, Mainz 1998 Bär, Ute: Erstdrucke – Widmungsexemplare – Handexemplare. Zum Bestand von Erstdrucken Schumannscher Werke im Robert-Schumann-Haus Zwickau, in: Robert Schumann und die französische Romantik. Bericht über das 5. Internationale Schumann-Symposium der RobertSchumann-Gesellschaft am 9. und 10. Juli 1994 in Düsseldorf. Akio Mayeda zum 60. Geburtstag gewidmet, hrsg. von Ute Bär (= Schumann Forschungen, Bd. 6), Mainz 1997, S. 249–264 Beiche, Michael: Annotationen zur Werkgenese von Robert Schumanns Album für die Jugend op. 68, in: Schumann und Dresden. Bericht über das Symposion Robert und Clara Schumann in Dresden – Biographische, kompositionsgeschichtliche und soziokulturelle Aspekte in Dres-
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den vom 15. bis 18. Mai 2008, hrsg. von Thomas Synofzik und Hans-Günter Ottenberg (= Studien zum Dresdner Musikleben im 19. Jahrhundert, Bd. 1), Köln 2010, S. 29–46 Clara Schumann – Johannes Brahms, Briefe aus den Jahren 1853–1896, hrsg. von Berthold Litzmann, Bd. II: 1871–1896, Leipzig 1927 Cremer, Tirza: Clara Schumann als Herausgeberin der Instruktiven Ausgabe der Klavierwerke Robert Schumanns, unveröffentlichte Magisterarbeit (Würzburg 2009). „DAS.“ siehe unter Schubring Thematisches Verzeichniss sämmtlicher im Druck erschienenen Werke Robert Schumann’s mit Angabe des Jahres ihres Entstehens nebst den bis auf die neueste Zeit gefertigten Arrangements, hrsg. von Alfred Dörffel, 4., verbesserte und vermehrte Aufl. Leipzig, New York [1868] Ehrhardt, Damien: Zur Genese der Symphonischen Etüden von Robert Schumann, in: Schumann Studien 5, im Auftrag der Robert-Schumann-Gesellschaft Zwickau hrsg. von Gerd Nauhaus, Köln 1996, S. 41–54 Ehrhardt, Damien: Der französische und der deutsche Erstdruck von Robert Schumanns Carnaval op. 9, in: Robert Schumann und die französische Romantik. Bericht über das 5. Internationale Schumann-Symposium der Robert-Schumann-Gesellschaft am 9. und 10. Juli 1994 in Düsseldorf. Akio Mayeda zum 60. Geburtstag gewidmet, hrsg. von Ute Bär (= Schumann Forschungen, Bd. 6), Mainz [u. a.] 1997, S. 205–217 [mit einer „Gesamtübersicht der französischen Erstdrucke Schumannscher Werke (1834–1870)“ S. 212–217] Finson, Jon: Vorwort zu Robert Schumann. Symphonie Nr. 4 d-moll op. 120. Erstfassung 1841 (= Breitkopf & Härtel Partitur-Bibliothek. Nr. 5265), Wiesbaden [u. a.] 2003, S. III–VII Fog, Dan: Zur Datierung der Edition Peters. Auf Grundlage der Grieg-Ausgaben, Kopenhagen 1990 Herttrich, Ernst: Schumanns frühe Klavierwerke und ihre späteren Fassungen, in: Schumann in Düsseldorf. Werke – Texte – Interpretationen. Bericht über das 3. Internationale SchumannSymposion am 15. und 16. Juni 1988 im Rahmen des 3. Schumann-Festes, Düsseldorf, hrsg. von Bernhard R. Appel (= Schumann Forschungen, Bd. 3), Mainz [u. a.] 1993, S. 25–35 Hofmann, Kurt: Die Erstdrucke der Werke von Robert Schumann (= Musikbibliographische Arbeiten, Bd. 6), Tutzing 1979 Johannes Brahms im Briefwechsel mit Karl Reinthaler, Max Bruch, Hermann Deiters, Friedrich Heimsoeth, Karl Reinecke, Ernst Rudorff, Bernhard und Luise Scholz, hrsg. von Wilhelm Altmann (= Johannes Brahms, Briefwechsel, Bd. 3), 2., durchgesehene und vermehrte Auflage, Berlin 1912 Loos, Helmut: Clara Schumann als Editorin, in: Robert und Clara Schumann und die nationalen Musikkulturen des 19. Jahrhunderts. Bericht über das 7. Internationale Schumann-Symposion am 20. und 21. Juni 2000 im Rahmen des 7. Schumann-Festes, Düsseldorf, hrsg. von Matthias Wendt (= Schumann Forschungen, Bd. 9), Mainz [u. a.] 2005, S. 109–122 Lossewa, Olga: Zur Geschichte der ersten Gesamtausgabe der Klavierwerke Robert Schumanns, in: Robert und Clara Schumann und die nationalen Musikkulturen des 19. Jahrhunderts. Bericht über das 7. Internationale Schumann-Symposion am 20. und 21. Juni 2000 im Rahmen des 7. Schumann-Festes, Düsseldorf, hrsg. von Matthias Wendt (= Schumann Forschungen, Bd. 9), Mainz [u. a.] 2005, S. 123–133 McCorkle, Margit L.: Thematisch-Bibliographisches Werkverzeichnis, hrsg. von der RobertSchumann-Gesellschaft, Düsseldorf unter Mitwirkung von Akio Mayeda und der RobertSchumann-Forschungsstelle, München 2003 = RSW (als Lizenzausgabe Mainz [u. a.] 2003 = RSA VIII/6) de la Motte, Diether: „Sechs fröhliche Landmänner …“, in: Musik im Unterricht 59 (1968), S. 271–274 Nauhaus, Gerd: Brahms und Clara Schumann – Aspekte einer Lebens- und Arbeitspartnerschaft, in: Internationaler Brahms-Kongreß Gmunden 1997. Kongressbericht, hrsg. von Ingrid Fuchs (= Veröffentlichungen des Archivs der Gesellschaft für Musikfreunde in Wien, Bd. 1), Tutzing 2001, S. 377–391 Nauhaus, Gerd: Die „Peri“ auf Abwegen. Zwickau anno 1943, in: Schumann im 20. Jahrhundert – Forschung, Interpretation, Rezeption. Beiträge der 18. Wissenschaftlichen Arbeitstagung zu Fragen der Schumann-Forschung, Zwickau 2005, hrsg. von Ute Bär (= Schumann-Studien 9), Sinzig 2008, S. 161–176
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Michael Beiche, Armin Koch, Ute Scholz
Oppermann, Annette: Musikalische Klassiker-Ausgaben des 19. Jahrhunderts. Eine Studie zur deutschen Editionsgeschichte am Beispiel von Bachs „Wohltemperiertem Clavier“ und Beethovens Klaviersonaten (= Abhandlungen zur Musikgeschichte, Bd. 10), Göttingen 2001 Pazdírek, František (François, Franz) und Pazdírek, Bohumil (Johann Peter Gotthardt): UniversalHandbuch der Musikliteratur aller Zeiten und Völker, Bd. 23 (Schild–Solva), Paris, Wien [1904–1910], S. 454–505. (Das Handbuch erschien in verschiedenen Ausgaben, mit anderer Bandaufteilung bei gleicher Seitenzählung) Roesner, Linda Correll: Brahms’s Editions of Schumann, in: Brahms Studies. Analytical and Historical Perspectives. Papers delivered at the International Brahms Conference Washington, DC, 5–8 May 1983, Oxford 1990, S. 253–282 Roesner, Linda Correll: Brahms und die Schumann-Gesamtausgabe, in: „Neue Bahnen“. Robert Schumann und seine musikalischen Zeitgenossen. Bericht über das 6. Internationale Schumann-Symposion am 5. und 6. Juni 1997 im Rahmen des 6. Schumann-Festes, Düsseldorf, hrsg. von Bernhard R. Appel (= Schumann Forschungen, Bd. 7), Mainz [u. a.] 2002, S. 340–358 [Schubring, Adolf], Schumanniana Nr. 3. Neue Ausgaben von Schumann’schen Clavierwerken der ersten Periode, in: Neue Zeitschrift für Musik 54 (1861), Nr. 8 (15. Februar), S. 69f., sowie Nr. 9 (22. Februar), S. 78f. [Schubring, Adolf], Schumanniana. Nr. 9. Polyglottische Ausgaben von Schumann’s Op. 6, 13, und 14, in: Neue Zeitschrift für Musik 57 (1862), Nr. 2 (1. Juli), S. 13f. Struck, Michael: Editor im Doppelspiegel. Johannes Brahms als Herausgeber fremder und eigener Werke, in: Musik und Musikforschung. Johannes Brahms im Dialog mit der Geschichte, hrsg. von Wolfgang Sandberger und Christiane Wiesenfeld, Kassel [u. a.] 2007, S. 185–206 Struck, Michael: Vierzehn Arten, Schumann zu verfehlen. Von den Tücken der künstlerischen Interpretation seiner „späten“ Werke, in: Schumann im 20. Jahrhundert – Forschung, Interpretation, Rezeption. Beiträge der 18. Wissenschaftlichen Arbeitstagung zu Fragen der SchumannForschung, Zwickau 2005, hrsg. von Ute Bär (= Schumann-Studien 9), Sinzig 2008, S. 225– 247 Synofzik, Thomas: „Urdeutsche Musik“ und jüdische „Lügenpoesie“. Zur Rezeption der HeineVertonungen Robert Schumanns, in: „Das letzte Wort der Kunst“. Heinrich Heine und Robert Schumann zum 150. Todesjahr, hrsg. von Joseph A. Kruse unter Mitarbeit von Marianne Tilch. In Zusammenarbeit mit Ulrike Gross und Bernhard R. Appel, Stuttgart, Kassel 2006, S. 389–406 de Vries, Claudia: Die Pianistin Clara Wieck-Schumann. Interpretation im Spannungsfeld von Tradition und Individualität (= Schumann Forschungen, Bd. 5), Mainz 1996 Weingartner, Felix: Ratschläge für Aufführungen klassischer Symphonien, Bd. II: Schubert und Schumann, Leipzig 1918 Wendt, Matthias: Wie „Die alten, bösen Lieder“ zu „Rübezahl“ wurden. Zur Rezeption der Schumannschen Heine-Lieder im „Dritten Reich“, in: Übergänge. Zwischen Künsten und Kulturen. Internationaler Kongress zum 150. Todesjahr von Heinrich Heine und Robert Schumann, hrsg. von Henriette Herwig, Volker Kalisch, Bernd Kortländer, Joseph A. Kruse und Bernd Witte, Stuttgart, Weimar 2007, S. 141–157 Wolff, Viktor Ernst: Robert Schumanns Lieder in ersten und späteren Fassungen, Leipzig 1914 Zlotnik, Aher George: Orchestration Revisions in the Symphonies of Robert Schumann, 2 Bde., Ann Arbor 1972
Klaus Döge
Die Editionen der Werke Richard Wagners
Wagners Werk, dessen Großteil zu Lebzeiten des Komponisten entweder im Eigenverlag (Rienzi, Der Fliegende Holländer, Tannhäuser, vertrieben durch C. F. Meser, Leipzig) oder bei renommierten Verlagshäusern wie Breitkopf & Härtel, Leipzig (Lohengrin, Tristan), oder B. Schott’s Söhne in Mainz (Der Ring des Nibelungen, Die Meistersinger von Nürnberg, Parsifal) erschien,1 bildet den Gegenstand von zwei Editionsprojekten: 1. die unvollendet gebliebene Ausgabe sämtlicher Werke, herausgegeben von Michael Balling;2 2. die 1968 ins Leben gerufene Richard Wagner-Gesamtausgabe,3 die sich in der Abschlussphase befindet.
I.
Musikdramen – Jugendopern – Musikalische Werke
Von wem – ob von Cosima und/oder Siegfried Wagner, ob vom Verlag Breitkopf & Härtel oder ob von unbekannten Dritten – um 1910 der Impuls ausging, eine Ausgabe der sämtlichen Werke Richards Wagners in Angriff zu nehmen, lässt sich nicht mehr eruieren. Angelegt wurde die Ausgabe auf 20 Bände, die in drei Gruppen das Schaffen Wagners wiedergeben sollten: Gruppe 1: Musikdramen Bd. I Bd. II Bd. III Bd. IV Bd. V
____________ 1 2
3
Rienzi Der fliegende Holländer Tannhäuser Lohengrin Tristan und Isolde
nicht erschienen nicht erschienen 1929 (Vorwort datiert 1923) 1915 1925 (Revisionsbericht datiert 1917)
Vgl. John Deathridge, Martin Geck und Egon Voss, Wagner Werk-Verzeichnis (WWV). Verzeichnis der musikalischen Werke Richard Wagners und ihrer Quellen, Mainz 1986, S. 581. Richard Wagner. Musikdramen – Jugendopern – Musikalische Werke, hrsg. von Michael Balling, Leipzig 1912–1929, Nachdruck New York 1971 (vgl. dazu WWV [wie Anm. 1], S. 588f.). Richard Wagner. Sämtliche Werke, hrsg. im Auftrag der Gesellschaft zur Förderung der Richard Wagner-Gesamtausgabe in Verbindung mit der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München, verlegt bei B. Schott’s Söhne, Mainz 1970ff. (im Folgenden: RWGA).
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Klaus Döge
Bd. VI–IX Der Ring des Nibelungen4 Bd. X Die Meistersinger Bd. XI Parsifal
nicht erschienen nicht erschienen nicht erschienen
Gruppe 2: Jugendopern Bd. XII Bd. XIII Bd. XIV
Die Hochzeit Die Feen Das Liebesverbot
1912 1912 1923
Gruppe 3: Musikalische Werke Bd. XV Bd. XVI Bd. XVII Bd. XVIII Bd. XIX Bd. XX
Lieder und Gesänge Chorgesänge Klavierwerke Orchesterwerke 1 Orchesterwerke 2 Orchesterwerke 3
1915 1915 nicht erschienen 1927 (Vorwort datiert 1917) nicht erschienen 1926
Die gattungsmäßige Einteilung der 20 Bände wird von Wagners Gesamtwerk her nahegelegt; in der Unterteilung der Bühnenwerke in Musikdramen und Jugendwerke allerdings weist sie einen mehrfachen Bruch auf, der mit der Bayreuther Ideologie zusammenhängen dürfte: weder Rienzi (im Autograph: Große tragische Oper) noch Der fliegende Holländer (Romantische Oper), Tannhäuser (Große romantische Oper) oder Lohengrin (Romantische Oper) lassen sich als Musikdramen im Sinne Wagners bezeichnen und kategorisieren. Sie gehören gleichwohl (mit Ausnahme von Rienzi) zu jenen Bühnenopera, die sich im Laufe der Geschichte der Bayreuther Festspiele zum Kanon der dort aufführbaren zehn Werke Wagners verfestigten. Von einer Gesamtausgabe bzw. einer Ausgabe sämtlicher Werke im eigentlichen Sinn kann hinsichtlich dieses Projektes insofern nicht gesprochen werden, als der Bereich der von Wagner stammenden Bearbeitungen und Arrangements5 zwar nicht unberücksichtigt blieb, aber nicht in seiner Gesamtheit erfasst wurde. Hinsichtlich der Veröffentlichungsabfolge der erschienenen Bände sind zwei Tendenzen zu beobachten: zum einen das Bestreben, zunächst vor allem noch unveröffentlichte und unbekannte Kompositionen Wagners zu publizieren6 und damit zu einer breiteren Kenntnis seines Gesamtschaffens beizutra____________ 4 5 6
Angesichts der chronologischen Anordnung wäre auch denkbar, dass die Meistersinger als Band VI vor dem Ring (dieser dann als Band VII–X) geplant waren. Vgl. WWV (wie Anm. 1), S. 576f. Dazu gehören die drei Jugendopern (WWV 31, 32, 38) ebenso wie einige der Lieder, EinlegeArien, Chöre (WWV 15, 33, 36, 44, 52, 65) und Orchesterwerke (WWV 20, 27, 73) sowie ein
Die Editionen der Werke Richard Wagners
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gen; zum anderen – und das betrifft insbesondere die Publikation der beiden Opern Lohengrin und Tristan – das Zurückgreifen auf die bei Breitkopf & Härtel vom Erstdruck her vorhandenen Druck-Platten, was eine schnelle Herstellung der Neuausgaben erlaubte. Der Herausgeber der zehn erschienenen Bände, Michael Balling (1866– 1925),7 war ausgebildeter Bratscher und Dirigent. Seine enge Verbindung mit Bayreuth – 1886 bis 1889 wirkte er dort als Bratschist mit, 1896, 1899 und 1901/1902 war er Assistent von Felix Mottl, 1904 dirigierte er in Bayreuth den Parsifal, 1909 den Ring – sowie sein gutes Einvernehmen mit Cosima und Siegfried Wagner ermöglichten ihm den uneingeschränkten Zugang zu den dort aufbewahrten Wagner-Autographen und deren Nutzung für die eigene Edition. Sie ist ihrem Charakter nach dennoch keine kritische Edition. Balling verstand seine Ausgaben vielmehr als Revision (deren Ergebnisse der Verlag durch einen entsprechenden Copyright-Vermerk eigens schützen ließ) des existierenden Erstdrucks oder – im Falle der noch unveröffentlichten Werke – des von Balling überprüften Originals. Im Zentrum seines Revidierens stand dabei die Beseitigung von Druckfehlern ebenso wie das vielfache Ergänzen von (seiner Meinung nach) fehlenden Artikulations- und Dynamikangaben sowie die Ausrichtung des Notentextes auf bessere Praktikabilität durch das Transponieren (etwa der Hörner) in gängige Stimmungen. Hinsichtlich des Gesangstextes bildete für seine Revision Richard Wagners in den Gesammelten Schriften abgedruckte Text-Dichtung eine wichtige Quelle. Abweichungen davon im gesungenen Text wurden nach dieser verbessert und geändert (wie etwa im Lohengrin im zweiten Vers des Brautchors, der in Wagners Partiturautograph „Wo euch in Frieden die Liebe bewahr’!“ lautet, bei Balling im Anschluss an das Libretto aber als „Wo euch der Segen der Liebe bewahr’!“ wiedergegeben ist)8. Und wo es ihm – möglicherweise um des besseren Verständnisses wegen – notwendig erschien, ergänzte und vermischte er die originalen Partitur-Regie-Angaben mit denjenigen der Textdichtung. Als Instanzen für diese Art der Revision griff Balling neben den Original-Quellen auch auf entsprechende Äußerungen von Cosima Wagner, Felix Mottl und Hans Richter zurück, wie etwa in seiner Ausgabe des Tristan, in dessen kurzgefasstem Revisionsbericht es am Ende heißt: __________
7
8
nicht aus der Feder Wagners, sondern von Heinrich Joseph Baermann stammendes Adagio für Klarinette und Streichquintett. Vgl. Werner Kulz, Nachruf auf Michael Balling, in: Bayreuther Festspielführer 1927, S. 97– 105, sowie Egon Voss, Die Dirigenten der Bayreuther Festspiele (= 100 Jahre Bayreuther Festspiele, Bd. 6), Regensburg 1976, S. 103. Vgl. dazu auch die Anmerkungen Wolfgang Golthers in der Balling-Ausgabe des Tristan, die die von Balling vorgenommenen Angleichungen an das Textbuch eigens ausweisen.
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Als Schluß des Revisionsberichtes mögen folgende, durch Frau Cosima Wagner, Felix Mottl und Dr. Hans Richter mir beglaubigte Angaben stehen: Der Beckenschlag im 6. Takt der Seite 123 „soll nach des Meisters ausdrücklichem Wunsche“ fortbleiben.9
Wie gesagt: Ballings Ausgabe ist keine kritische und auch keine wissenschaftlich fundierte praktische Ausgabe im heutigen Sinne. Sie vereint in sich Traditionsreste der instruktiven Editionen des 19. Jahrhunderts ebenso wie quellenmäßigen und aufführungspraktischen Subjektivismus. Dies ist keine Kritik, sondern ein Befund – ein Befund, der berücksichtigt, dass 1912 die Spezialdisziplin „Musikphilologie“ noch relativ unbekannt war und deren Methodik über die Fachgrenzen hinaus nur vereinzelt wahrgenommen wurde. Balling verfolgte mit seinen Editionen – mit allen vom Blickpunkt heutiger Philologie aus unübersehbaren Fragwürdigkeiten – nur ein Ziel: Das jeweilige Werk in dem seiner Meinung nach gültigen Sinne des Meisters zu präsentieren.
II.
Richard Wagner – Sämtliche Werke
Vier Momente kennzeichnen die Richard Wagner-Gesamtausgabe (RWGA), die ihrem Verständnis und ihrer methodischen Ausrichtung nach eine historisch-kritische Ausgabe der Werke Wagners ist:10 1. Die Breite des Quellenbegriffs. Dazu gehören neben Reinschriftautographen und den Drucken auch Partiturentwürfe, Handexemplare, Abschriften, Stichvorlagen (die im Zuge der Arbeiten am WWV zusammen mit manchem bis dahin unbekannten Werk erstmals überhaupt erschlossen wurden) sowie Wagners Briefe und die Proben-Mitschriften der Bayreuther Erstaufführungen des Rings und des Parsifal. 2. Die Berücksichtung von Wagners Werkbegriff, der nicht bei der Vollendung der Partitur Halt macht, sondern weit darüber hinausgeht. Als Werk verstand Wagner die eigentliche Aufführung, als er am 11. Juli 1872 zu Cosima sagte: „ist ein Buch da, ordentlich korrigiert und herausgegeben, mag es kritisiert werden wie es will, so ist es da und macht einem Freude, aber eine Parti____________ 9 10
Balling, Revisionsbericht, in: Richard Wagners Werke, Bd. V (Tristan und Isolde); Ballings Ausführungen betreffen den Takt 1944 des I. Aktes. Vgl. Egon Voss, Von Notwendigkeit und Nutzen der Wagnerforschung. Ein Abriß über das Wagner-Werk-Verzeichnis und die Wagner-Gesamtausgaben, in: ders., „Wagner und kein Ende.“ Betrachtungen und Studien, Zürich 1996, S. 237–257; sowie ders., Richard Wagner. Sämtliche Werke, in: Editionsrichtlinien Musik, im Auftrag der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000, S. 351–360.
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tur, die ist wie gar nicht vorhanden, bis sie aufgeführt wird“.11 Dies bedingte konzeptionell die Teilung der RWGA in zwei Reihen: in die Reihe A mit den nach Gattungen gruppierten und in sich der chronologischen Abfolge verpflichteten Edition der musikalischen Werke und in die Reihe B mit den Dokumenten zur Werkgeschichte und der Wiedergabe der Gedicht- bzw. Libretto-Genese. 3. Wagner hat an manchem seiner Werke Umarbeitungen vorgenommen. Wo diese Umarbeitung zu einer neuen Werkgestalt führte, werden die einzelnen Stufen als Fassungen gewertet und dementsprechend ediert; so gibt es vom Fliegenden Holländer zwei Ausgaben: Die der einaktigen Urfassung von 1841 sowie diejenige der nachfolgenden Umarbeitungen; vom Tannhäuser werden neben der sogenannten Dresdner Fassung erstmals auch die französischsprachige Pariser und die darauf basierende deutschsprachige Wiener Fassung ediert, und zwar in zwei Bänden in synoptischer Darstellung (jeweils die linke Seite Pariser, die rechte Seite Wiener Fassung). Und im Falle des Tristan findet erstmals auch die Strichpraxis Wagners, die eine auf Aufführungspraktikabilität hin ausgerichtete war, Eingang in die Ausgabe. 4. Beteiligt an der Konzeption der RWGA war eine Reihe von Wagner-Dirigenten, allen voran Robert Heger. Ihren auf musikalische Praxis und unmittelbare dirigentische Nutzbarkeit der editorischen Ergebnisse ausgerichteten Wünschen trägt die RWGA in zweifacher Hinsicht Rechnung. Zum einen: Der Notentext bleibt frei von diakritischen Zeichen, kennt aber die Fußnote als Ort des Verweisens auf wichtige Lesarten oder Ergänzungen zum Notentext (wie etwa Wagners brieflich mitgeteilte Metronomangaben oder seine Hinweise zur musikalischen Interpretation während der Bayreuther Proben zum Ring). Zum anderen: Der Kritische Bericht ist fester Bestandteil der Werkbände selbst und wird nicht separat ediert. Insgesamt gesehen, hat die RWGA das Werk Richard Wagners erstmals wissenschaftlich erschlossen und in modernen, zuverlässigen kritischen Editionen vorgelegt und damit eine Ausgabe geschaffen, die fern aller ideologischer Wagnerverherrlichung steht, und die – man denke nur an Dirigenten wie Patrick Ringborg, Lothar Zagrosek und Christian Thielemann – auch von der Praxis wahrgenommen wird.
____________ 11
Cosima Wagner, Die Tagebücher, hrsg. und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, Bd. 1, München 1976, S. 547.
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Ausgaben Richard Wagner. Musikdramen – Jugendopern – Musikalische Werke, hrsg. von Michael Balling, Leipzig 1912–1929 Richard Wagner. Sämtliche Werke, hrsg. im Auftrag der Gesellschaft zur Förderung der Richard Wagner-Gesamtausgabe in Verbindung mit der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, München, verlegt bei B. Schott’s Söhne, Mainz 1970ff.
Literaturverzeichnis Deathridge, John, Martin Geck und Egon Voss: Wagner Werk-Verzeichnis (WWV). Verzeichnis der musikalischen Werke Richard Wagners und ihrer Quellen, Mainz [u. a.] 1986 Kulz, Werner: Nachruf auf Michael Balling, in: Bayreuther Festspielführer 1927, S. 97–105 Voss, Egon: Die Dirigenten der Bayreuther Festspiele (= 100 Jahre Bayreuther Festspiele Bd. 6), Regensburg 1976 Voss, Egon: Von Notwendigkeit und Nutzen der Wagnerforschung. Ein Abriß über das WagnerWerk-Verzeichnis und die Wagner-Gesamtausgaben, in: ders., „Wagner und kein Ende.“ Betrachtungen und Studien, Zürich, Mainz 1996, S. 237–257 Voss, Egon: Richard Wagner. Sämtliche Werke, in: Editionsrichtlinien Musik, hrsg. im Auftrag der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000, S. 351–360 Wagner, Cosima: Die Tagebücher, hrsg. und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, 2 Bde., München, Zürich 1976/1977
Peter Jost
Die Editionen der Schriften Richard Wagners
I.
Vorbemerkung
Richard Wagner gehört zu den schreibfreudigsten Komponisten des deutschsprachigen Raumes. Sein literarischer Nachlass enthält neben den Dichtungen zu seinen Bühnenwerken ein in seiner Mannigfaltigkeit einzigartiges Textkorpus, das sowohl kunsttheoretische als auch belletristische und autobiographische Schriften sowie eine Fülle von kleineren Aufsätzen, Reden und Berichten mit äußerst breitem Themenspektrum enthält. Angesichts der Vielfalt und des Umfangs der Schriften mögen die zahlreichen Äußerungen des Autors zunächst überraschen, er sei nur durch die „äußere Lebensnoth“ oder ein „unabweisbares Bedürfniß“1 zum Schriftsteller geworden. Verständlich werden solche Aussagen jedoch, wenn man in Betracht zieht, dass Wagner schon sehr früh seine schriftstellerische Arbeit als Spiegel seiner künstlerischen Entwicklung empfand und daher bereits 1844 in einem Brief an den Kritiker Karl Gaillard den Plan einer Sammelausgabe seiner 1840–1842 verfassten Pariser Aufsätze und Novellen äußerte. In diesem Brief schreibt Wagner zur Begründung: Das Resultat dieser litterarischen Plänkeleien ist für mich aber von einer eigenthümlichen Wichtigkeit geworden, weil ich in ihnen meine ganze, in jene Zeit fallende, künstlerische Konfirmirung ausgesprochen habe.2
Der Gedanke einer selbst zusammengestellten Ausgabe seiner kontinuierlich sich vermehrenden Schriften ließ den Komponisten von nun an nicht mehr los, konnte jedoch erst relativ spät, in den Jahren 1871–1873, mit der Herausgabe der Gesammelten Schriften und Dichtungen, realisiert werden. Der biographische Aspekt einer solchen Edition, die Dokumentation seines Weges als Künstler, stand weiterhin im Vordergrund, wie ein Eintrag im Tagebuch von Cosima von Bülow3 vom 24. Oktober 1869 beweist. Er hält fest, Wagner ____________ 1 2 3
Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, Leipzig 1850, S. VIf. Ders., Sämtliche Briefe, Bd. 2, hrsg. von Gertrud Strobel und Werner Wolf, Leipzig 1970 (im Folgenden zitiert als SBr 2), S. 399. Ab 25. August 1870 als Cosima Wagner die zweite Ehefrau des Komponisten.
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Peter Jost
wisse immer noch nicht, unter welcher Form er diese Herausgabe [seiner Schriften] bewerkstelligen solle, was er dabei weglassen sollte, und ob alles nur als Supple4 ment zu der Biographie zu machen wäre, denn Schriftsteller im eigentlichen Sinne des Wortes sei er nie gewesen.5
Diese Auffassung als „Supplement der Biographie“ ist von grundlegender Bedeutung für die Befassung mit den Schriften Wagners wie auch mit deren Editionen, denn sie erklärt nicht nur das – allen widrigen Umständen zum Trotz – zähe Verfolgen des Plans einer eigenen Schriftenausgabe, sondern auch deren Aufbau und Charakter.
II.
Überblick
1.
Wagners eigene Edition sowie deren Nachdrucke und Erweiterungen Richard Wagner, Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. I–IX, Leipzig (E. W. Fritzsch) 1871–1873, Bd. X (posthum hrsg. vermutlich von Hans von Wolzogen), Leipzig (E. W. Fritzsch), 1883, Nachdruck 1880/1881. –, –, 2. Auflage, Leipzig (E. W. Fritzsch) 1887/1888 (mit Seitenkonkordanz zur 1. Auflage), Nachdruck: Moers (Verlagsbuchhandlung Steiger) 1976. –, –, 3. Auflage, Leipzig (E. W. Fritzsch) 1897/1898. –, –, 4. Auflage, Leipzig (C. F. W. Siegel’s Musikalienhandlung [R. Linnemann]), 1907, dazu ergänzend eine Allgemeine Inhaltsübersicht (erstellt von Hans von Wolzogen). –, Sämtliche Schriften und Dichtungen, 5. Auflage, 12 Bde., Leipzig (Breitkopf & Härtel / C. F. W. Siegel [R. Linnemann]) o. J. [1911], Bd. XII mit Anmerkungen von Richard Sternfeld. –, –, 6. Auflage, Volks-Ausgabe, 16 Bde., Leipzig (Breitkopf & Härtel / C. F. W. Siegel [R. Linnemann]) o. J. [1912/1914], Bde. XII und XVI mit Anmerkungen von Richard Sternfeld, am Ende von Bd. XVI Allgemeine Inhaltsübersicht von Carl Kipke sowie Namen- und Sachregister von Erich Schwebsch.
2.
Editionen aus dem Nachlass Richard Wagner, Entwürfe. Gedanken. Fragmente. Aus nachgelassenen Papieren zusammengestellt [von Hans von Wolzogen], Leipzig 1885.
____________ 4 5
Auf Wunsch des bayerischen Königs Ludwig II. zeichnete Cosima von Bülow Wagners Autobiographie Mein Leben nach dessen Diktat seit 1865 auf. Cosima Wagner, Die Tagebücher, hrsg. und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, 2 Bde., München, Zürich 1976/1977 (= CWT I, II); hier CWT I, S. 162.
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Jesus von Nazareth. Ein dichterischer Entwurf aus dem Jahre 1848 von Richard Wagner [mit Widmung von Siegfried Wagner zum Andenken Heinrich von Steins], Leipzig 1887; erweiterte Neuausgabe zusammen mit Richard Wagner, Entwürfe. Gedanken. Fragmente als Nachgelassene Schriften und Dichtungen von Richard Wagner, Leipzig 1895, 21902. Gedichte von Richard Wagner, hrsg. von Carl Friedrich Glasenapp, Berlin 1905. Richard Wagner, Entwürfe zu: „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“, „Parsifal“, mit einer Einführung von Hans von Wolzogen, Leipzig 1907. Der junge Wagner. Dichtungen, Aufsätze, Entwürfe 1832–1849, hrsg. von Julius Kapp, Berlin, Leipzig 1910. Richard Wagner, Mein Leben,6 3 Bde., München 1911, Volks-Ausgabe München 1914, 21915. –, Mein Leben, kritisch durchgesehen, eingeleitet und erläutert von Wilhelm Altmann, 2 Bde., Leipzig o. J. [1923]. –, Mein Leben, mit einer Darstellung der späten Jahre und einem Nachwort von Christfried Coler, 2 Bde., Leipzig 1958, 21972 (Sammlung Dieterich), Neuausgabe als Mein Leben. Vollständige Ausgabe, hrsg. von Eike Middell, Leipzig 1986. 3.
Sammel- und Gesamtausgaben Richard Wagners Gesammelte Schriften, hrsg. von Julius Kapp, 14 Bde., Leipzig o. J. [1914].7 Richard Wagner. Gesammelte Schriften und Dichtungen in zehn Bänden, hrsg. mit Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Wolfgang Golther, Berlin [u. a.], o. J. [1914]. Richard Wagner. Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hrsg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a. M. 1983. Richard Wagner. Neue Text-Ausgabe, hrsg. von Rüdiger Jacobs, 12 Bde., Frankfurt a. M. und Halle (Saale) 2013.
____________ 6
7
Wagner selbst ließ von seiner Autobiographie nur einen Privatdruck herstellen (Bd. 1–3: Basel 1870, 1872, 1875, Bd. 4: Bayreuth 1880), deren Exemplare ausschließlich für seine Familie und enge Freunde bestimmt waren. Als Teiledition zu: Richard Wagners Gesammelte Schriften und Briefe; von der Briefedition Richard Wagners Gesammelte Briefe, hrsg. von Julius Kapp und Emerich Kastner, Leipzig 1914, erschienen nur 2 Bde.
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Auswahlausgaben Richard Wagner. Ausgewählte Schriften über Staat und Kunst und Religion (1864–1881) [hrsg. von Hans von Wolzogen], Leipzig 1901, 21914. Aus Richard Wagners Pariser Zeit. Aufsätze und Kunst-Berichte des Meisters aus Paris 1841, zum 1. Male hrsg. und eingeleitet von Richard Sternfeld, 2 Bde. (= Deutsche Bücherei, Bd. 64, 65), Berlin 1906. Richard Wagner. Auswahl seiner Schriften. Ausgewählt und unter Mitwirkung von Felix Groß hrsg. von Houston Stewart Chamberlain, Leipzig o. J. [1910]. Richard Wagner, Ein deutscher Musiker in Paris (= Insel-Bücherei Nr. 108), Leipzig o. J. [1914]. Richard Wagner. Schriften über Beethoven, hrsg. von Richard Sternfeld, Leipzig 1916. Richard Wagner. Kunst und Revolution. Auswahl aus seinen politischen Schriften, hrsg. und eingeleitet von Gustav Steinbömer (= Deutsche Schriften, Bd. 3), Potsdam 1935. Richard Wagner. Ausgewählte Schriften und Briefe, eingeleitet und mit biographischen und kritischen Erläuterungen versehen von Alfred Lorenz, 2 Bde., Berlin 1938. Richard Wagner. Mein Denken. Eine Auswahl der Schriften, hrsg. von Martin Gregor-Dellin, München 1982.
5.
Neuausgaben nach den Quellen Richard Wagner, Mein Leben. Erste authentische Veröffentlichung, vorgelegt und mit einem Nachwort von Martin Gregor-Dellin, München 1963; Neuausgabe als Mein Leben. Einzige vollständige Ausgabe in zwei Bänden, München 1969; Neuausgabe als Mein Leben. Vollständige, kommentierte Ausgabe, München 1976, Neuausgaben 1983 und 1994. Richard Wagner. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Dietrich Mack, mit einem Essay von Ernst Bloch, Frankfurt a. M. 1974. Richard Wagner. Das Braune Buch. Tagebuchaufzeichnungen 1865 bis 1882, hrsg. von Joachim Bergfeld, Zürich 1975; Neuausgabe München 1988. Richard Wagner. Schriften eines revolutionären Genies, ausgewählt und kommentiert von Egon Voss, München und Wien 1976; Neuausgabe Frankfurt a. M. 1990. Richard Wagner. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Esther Drusche, Leipzig 1982.
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Richard Wagner, Oper und Drama, hrsg. und kommentiert von Klaus Kropfinger, Stuttgart 1984, 21994. Richard Wagner. Späte Schriften zur Dramaturgie der Oper, ausgewählt und mit einem Nachwort hrsg. von Egon Voss, Stuttgart 1996. Jens Malte Fischer, Richard Wagners „Judentum in der Musik“. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zu Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt a. M. 2000. 6.
Bewertung
Den Ausgangspunkt der Editionsgeschichte bildet die schon erwähnte, von Wagner selbst zusammengestellte Ausgabe der Gesammelten Schriften und Dichtungen (im Folgenden als GSD abgekürzt), deren neun Bände von 1871– 1873 durch einen Nachtragsband ergänzt wurden, der die seitdem veröffentlichten Aufsätze 1874–1883 enthält und posthum im Herbst 1883 herausgegeben wurde. Das verstärkte Interesse an Wagners Schriften nach dessen Tod im Februar 1883 führte zu drei inhaltlich unveränderten Neuauflagen, die zwischen 1887/1888 und 1907 erschienen. Erst die fünfte Auflage von 1911 brachte zwei Nachtragsbände, die zusammen mit den ersten zehn Bänden nun unter dem neuen Titel Sämtliche Schriften und Dichtungen veröffentlicht wurden; wenig später kamen im Rahmen der sechsten, von 1912–1914 erschienenen Auflage weitere vier Bände hinzu. Diese letztgenannte, als Volks-Ausgabe bezeichnete Edition (im Folgenden als SSD abgekürzt) ist bis heute die vollständigste Ausgabe und bildete die Grundlage für vier weitere Sammel-Ausgaben sowie zahlreiche Auswahl-Ausgaben, von denen hier nur die bedeutendsten aufgelistet sind. Dass gleich zwei der vier umfassenderen SammelAusgaben 1914 erschienen, hängt mit dem Ablauf der 30-jährigen Schutzfrist am 1. Januar 1914 zusammen. Die sechs Nachtragsbände der SSD basieren nur zu einem kleinen Teil auf damals noch unveröffentlichten Handschriften. Der weitaus größere Teil umfasst entlegene Drucke zu Lebzeiten Wagners sowie Nachdrucke von inzwischen mit Autorisation der Erben Wagners erschienenen Zusammenstellungen aus dem Nachlass Wagners. Diese Nachtragsbände umfassen zahlreiche von Wagner ausgelassene Dichtungen bzw. Entwürfe (Bd. XI), Schriften, Teile oder Varianten von Schriften (Bd. XII und XVI) sowie die Autobiographie Mein Leben (Bd. XIII–XV), Tagebuchaufzeichnungen und Briefe bzw. Briefauszüge (Bd. XVI). Erst seit den 1960er Jahren wurden einzelne Teile der GSD/SSD nach den Originalquellen neu ediert, wobei aber nur die Ausgaben von Oper und Drama (1984) und Das Judentum in der Musik (2000) sowie die Sammlung Späte
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Peter Jost
Schriften zur Dramaturgie der Oper (1996) den (teilweise eingeschränkten) Anspruch auf kritische Editionen nach heutigen Maßstäben erheben dürfen.
III.
Gesammelte Schriften und Dichtungen (GSD)
Dass ein Komponist mit zunehmendem Lebensalter das Bedürfnis nach einer selbst zusammengestellten Sammelausgabe seiner verstreuten Schriften verspürt, ist sicherlich nicht ungewöhnlich, die Berücksichtigung der eigenen, „Dichtungen“ genannten Textbücher für Bühnenwerke in einer solchen Ausgabe dagegen durchaus. Sie erklärt sich aus der schon erwähnten Auffassung der Schriften als „Supplement der Biographie“, als Spiegel der eigenen künstlerischen Entwicklung, zu der die Textbücher als gewichtige Teile selbstverständlich dazugehören. Hatte Wagner 1844 lediglich die Pariser Schriften gesammelt herausgeben wollen, so sieht ein undatiertes, etwa 1856/1858 niedergeschriebenes Konzept für eine Auswahledition bereits einen Band mit Dichtungen vor; notiert sind hier freilich nur nicht oder noch nicht vertonte Bühnenwerke. Erst in einer Auflistung einer Gesamtausgabe in zehn Bänden aus dem Jahre 1868 sind für die bereits vertonten Dichtungen zwei eigene Bände reserviert, während die unvertonten nun als „Entwürfe“ in den ersten Band mit belletristischen und feuilletonistischen Artikeln integriert sind. Noch Ende 1870, als der Plan einer Schriftenausgabe in greifbare Nähe rückte, sollten den eigentlichen Schriften zwei Bände „dramatischer Dichtungen“ folgen, wobei dem zweiten als theoretischer Anhang zum Ring des Nibelungen die Abhandlungen Der Nibelungenmythos sowie Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage beigegeben waren.8 Erst relativ spät, im Mai 1871, als der Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch bereits auf eine Bandübersicht für die entsprechende Vorankündigung des Projekts wartete, entschied sich Wagner gegen eine systematische Anordnung und damit gegen eine grundsätzliche Abtrennung von theoretischen Schriften und dramatischen Dichtungen in jeweils eigene Bände. Cosima Wagner notierte: „R. ordnet seine Schriften, die er chronologisch herausgeben will, da er nicht als Dichter oder Schriftsteller will erfaßt werden.“9 Wie dies gemeint ist, geht aus dem Vorwort zur Gesammtherausgabe hervor, das dem ersten Band der GSD vorangestellt ist. Wagner legt dort zunächst ausführlich sein leitendes Motiv für die Herausgabe seiner Schriften dar, nämlich die „Bemühungen zu ____________ 8 9
Vgl. zu den verschiedenen Konzepten innerhalb der Vorgeschichte der GSD: Christa Jost und Peter Jost, Richard Wagner und sein Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch, Tutzing 1997, S. 11ff. CWT I, S. 391 (wie Anm. 5), Eintrag vom 24. Mai 1871.
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unterstützen“, seinen „künstlerischen Werken durch stete Zusicherung korrekter Aufführungen zu einem wahren Leben in der Nation zu verhelfen“ (GSD I, S. IV). Unmittelbar darauf kommt er auf die gewählte, „gewissermaßen psychologische Methode für die Anordnung“ zu sprechen. Die „chronologische Anordnung“ soll, da sie dem Leser die Aufsätze „in der Reihenfolge ihrer Entstehung“ vorlegt, diesem „erhellen“, wie der Autor „überhaupt auf den Weg der Schriftstellerei“ geraten sei. Weitere Vorteile seien, so Wagner, dass er dadurch dem „Anschein eines wirklichen wissenschaftlichen System’s“ (was die „Ästhetiker von Fach leicht als Unverschämtheit“ ansehen würden) sowie der suggerierten Gleichstellung mit „Dichter[n] von Profession“ (GSD I, S. IVf.) entgehe. Gleichsam als Probe aufs Exempel hebt Wagner in der Einleitung zu diesem ersten Band hervor, dass sich hier seine künstlerische Entwicklung besonders eindringlich darlege. Bedingt durch die chronologische Anordnung folgen das Textbuch zu der Oper Rienzi, die unter dem neuen Titel Ein deutscher Musiker in Paris zusammengefassten Novellen und Aufsätze von 1840/ 1841 sowie, unterbrochen von einem Aufsatz (Über die Ouvertüre) und einigen Berichten, das Textbuch zu Der fliegende Holländer aufeinander. Die Differenz zwischen „dem Textbuche des ,Rienzi‘ und der Dichtung zum ,Fliegenden Holländer‘“ wird hier von Wagner sicherlich zu Recht betont und kann, auf ihn selbst bezogen, als die zwischen dem Verfasser eines musikalischen Theaterstücks und dem Autor auf den Weg zum musikalischen Dramatiker beschrieben werden. Diese „auffallende Umwandlung, in so kurzer Zeit vollbracht“ (der Text zu Rienzi entstand 1837/1838, der zum Fliegenden Holländer 1840/1841), lässt sich auf „eine tiefe Erschütterung, jedenfalls eine heftige Umkehr“ (GSD I, S. 3f.) zurückführen. Gemeint sind Wagners leidvolle Erfahrungen in Paris, die durch nichts so deutlich dem Leser vermittelt werden könnten als durch die zwischen die beiden Textbücher eingeschobenen Novellen und Aufsätze über einen in der französischen Hauptstadt scheiternden deutschen Musiker, gleichsam Wagners Alter Ego. Auch wenn Wagner in Briefen an seinen Verleger öfters von „Gesamtausgabe“ sprach und noch im erwähnten Vorwort eine „Vollständigkeit meiner Mittheilungen“ (GSD I, S. IV) suggerierte, bestand zu keiner Zeit ein Zweifel daran, dass es sich um eine Auswahlausgabe handeln würde, was sich nicht zuletzt in der Benennung Gesammelte Schriften und Dichtungen (im Unterschied zu „Sämtlichen“) niederschlägt. Dafür lassen sich zwei Gründe anführen. Zum einen hatte Wagner Schwierigkeiten, sich die Texte einiger seiner frühen Schriften, namentlich die nur in französischer Übersetzung erschienenen Pariser Artikel, zu besorgen. Bereits 1844 äußerte er in dem eingangs zitierten Brief an Karl Gaillard, er müsse diese französischen Artikel „im
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Deutschen wieder nacharbeiten, denn von manchem“ sei ihm „das ursprüngliche deutsche Konzept verloren gegangen“ (SBr 2, S. 399). Daran hatte sich offenbar 1871 nichts geändert, denn für die meisten Novellen und Feuilletons, die seinerzeit nur in der Pariser Revue et Gazette musicale publiziert worden waren, war Wagner auf Rückübersetzungen angewiesen, die seine Frau Cosima vornahm10 und die er anschließend für den Druck überarbeitete. In Einzelfällen musste die vorgesehene Publikation ganz unterbleiben, weil sich Wagner weder sein unveröffentlichtes Manuskript noch eine Abschrift davon besorgen konnte. Dies betraf etwa die unvertonten Dramenentwürfe zu Die Sarazenin und Jesus von Nazareth, die im schon erwähnten Konzept von 1868 noch als Teil einer ganzen Gruppe solcher Entwürfe für eine zukünftige Ausgabe vorgesehen waren. Zum anderen aber liegt es auf der Hand, dass Wagner bei der Herausgabe insbesondere seiner älteren Schriften die Gelegenheit nutzte, die Texte seiner teilweise veränderten Sichtweisen entsprechend zu revidieren oder zumindest zu modifizieren. Als Herausgeber seiner Schriften war ihm natürlich daran gelegen, seine künstlerisch-ästhetische Entwicklung als möglichst homogen und konsequent zu vermitteln. So leuchtet es ein, dass er Aufsätze und Berichte nicht aufnahm, in denen er sich über Komponisten und Werke positiv ausgesprochen hatte, denen er aber später sehr kritisch gegenüberstand.11 Auch die Auswahl der Pariser Schriften ist u. a. „von dem Prinzip diktiert, Feuilletons, die stilistisch an Heine erinnern – wie Pariser Amüsements und Pariser Fatalitäten für Deutsche –, zu eliminieren und lediglich Aufsätze, deren literarische Attitüde an E. T. A. Hoffmann orientiert ist, gelten zu lassen“.12 In vielen anderen Fällen stand zwar die Aufnahme einer bestimmten Schrift als solche nicht in Frage, da er sie als für sein Denken und seine Entwicklung maßgeblich ansah; diese wurde nun aber den Lesern mit bestimmten Veränderungen angeboten. So unterdrückte Wagner beim Wiederabdruck von Das Kunstwerk der Zukunft in den GSD die Widmung „in dankbarer Verehrung“ an Ludwig Feuerbach, welche dem Erstdruck von 1850 vorangestellt war. Dies ist aus inneren wie äußeren Gründen sehr gut nachvollziehbar: Hatte sich Wagner spätestens seit der Mitte der 1850er Jahre durch die Hinwendung zur Philosophie Arthur Schopenhauers bereits innerlich vom Gedankengut Feuerbachs gelöst, so war er seit den 1860er Jahren darauf bedacht, sein Verhalten während der Revolu____________ 10 11 12
Vgl. CWT I (wie Anm. 5), S. 422. Vgl. z. B. die Begeisterung für Vincenzo Bellini in Die deutsche Oper, 1834, oder Bellini, ein Wort zu seiner Zeit, 1837. Carl Dahlhaus, Chronologie oder Systematik? Problem einer Edition von Wagners Schriften, in: Wagnerliteratur – Wagnerforschung. Bericht über das Wagner-Symposium München 1983, hrsg. von Carl Dahlhaus und Egon Voss, Mainz 1985, S. 128.
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tionszeit in möglichst günstigem Licht erscheinen zu lassen. Der Wiederabdruck der Widmung hätte hier leicht als erneuertes Bekenntnis zu Feuerbach – der als theoretischer Wegbereiter von Atheismus und Radikalismus galt – aufgefasst werden können, was ihm in der öffentlichen Meinung zweifelsohne geschadet hätte. Von Umformulierungen, Kürzungen und Erweiterungen sind die während der beiden längeren Paris-Aufenthalte (1839–1842, 1859–1861) entstandenen Texte am stärksten betroffen. So kamen etwa Wagners im Vorfeld zur Pariser Aufführung von Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz verfasste Überlegungen, die im Mai 1841 in der Revue et Gazette musicale veröffentlicht worden waren, in den GSD unter dem Titel „Der Freischütz“. An das Pariser Publikum als deutscher Erstdruck heraus. Da dem Autor zu diesem Zeitpunkt sein deutsches Originalmanuskript nicht zur Verfügung stand, bildete eine Abschrift der französischen Übersetzung bzw. die von seiner Frau vorgenommene Rückübersetzung den Ausgangspunkt für seine Vorlage für die Neuausgabe.13 Die recht weitgehende Überarbeitung dieser Rückübersetzung war insofern auch philologisch legitimiert, als der französische Erstdruck durch Kürzungen und Texteingriffe von Seiten der Redaktion der Revue et Gazette musicale vieles aus dem Originalmanuskript verfälscht hatte.14 Ein weiteres Beispiel demonstriert, wie stark die Pressefehden pro und contra Wagner – namentlich seit den Münchener Jahren (1864/1865) – und damit verbundene Animositäten sich bei der Herausgabe auch von jüngeren Texten auswirkten. Als Hector Berlioz in seiner Besprechung von Wagners drei Konzerten in Paris mit Ausschnitten aus jüngeren Bühnenwerken (Januar/ Februar 1860) im Journal des débats einen äußerst kritischen Ton anschlug und dabei das pejorative Schlagwort von der „Zukunftsmusik“ („musique de l’avenir“) ins Spiel brachte, sah sich Wagner zu einer unmittelbaren Entgegnung im selben Blatt veranlasst. Dieser ins Französische übersetzte und am 22. Februar 1860 unter dem Titel A M. Berlioz erschienene Brief wurde wenig später, am 2. März, in der Neuen Zeitschrift für Musik in deutscher Übersetzung als Wagner’s Antwort auf die Kritik von H. Berlioz veröffentlicht. Die Initiative dieses deutschen Erstdrucks dürfte wohl ohne Absprache mit Wagner von Franz Brendel, dem verantwortlichen Redakteur, ausgegangen sein. Inwie____________ 13
14
Das deutsche Originalmanuskript ist inzwischen wieder aufgetaucht, vgl. die Erstveröffentlichung der Schrift nach dem Autograph in: Richard Wagner. Schriften eines revolutionären Genies, ausgewählt und kommentiert von Egon Voss, München und Wien 1976, S. 117–137 (siehe oben, Abschnitt II.5). Vgl. das Textbeispiel in: Christa Jost und Peter Jost,„… der in seiner Kunst das Leben suchte“. Richard Wagner als Herausgeber seiner „Gesammelten Schriften und Dichtungen“, in: editio 20 (2006), S. 113f.
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weit diese Rückübersetzung mit dem Originalmanuskript übereinstimmt, ist nicht mehr zu ermitteln, da das Autograph verschollen ist. Ob es Wagner 1873 für den Neuabdruck zur Verfügung stand, ist eher zweifelhaft; vermutlich war entweder der französische oder der deutsche Erstdruck seine Vorlage. Vergleicht man nun die Publikation von 1860 mit der überarbeiteten in Band VII der GSD (mit dem neuen Titel Ein Brief an Hector Berlioz), so fallen vor allem verschärfende Zusätze und Umformulierungen auf, die auf die veränderte Position in der öffentlichen Diskussion verweisen. Es genügt hier, exemplarisch eine kurze Textpassage miteinander zu vergleichen: Erfahren Sie denn, mein lieber Berlioz, daß nicht ich der Erfinder der „Zukunftsmusik“ bin, sondern vielmehr Hr. Professor Bischoff in Cöln. Gelegenheit zum Entstehen dieses hohlen Ausdrucks gab die Herausgabe eines meiner Werke unter dem Titel: „Das Kunstwerk der Zukunft“ vor etwa 10 Jahren. (Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 52, 1860, S. 87)
Erfahren Sie daher, daß nicht ich der Erfinder der „musique de l’avenir“ bin, sondern ein deutscher Musik-Rezensent, Herr Professor Bischoff in Köln, Freund Ferdinand Hiller’s, der Ihnen wiederum als Freund Rossini’s bekannt geworden sein wird. Veranlassung aber zur Erfindung jenes tollen Wortes scheint ihm ein ebenso blödes als böswilliges Misverständniß einer schriftstellerischen Arbeit gegeben zu haben, die ich vor zehn Jahren unter dem Titel „das Kunstwerk der Zukunft“ veröffentlichte. (GSD VII, S. 117)
Zwar hatte der Musikkritiker Ludwig Bischoff (1794–1867) den Begriff der „Zukunftsmusik“ keineswegs erfunden,15 gehörte aber als Herausgeber und leitender Redakteur der Rheinischen Musik-Zeitung bzw. Niederrheinischen Musik-Zeitung sowie als Musikreferent der Kölnischen Zeitung seit den frühen 1850er Jahren zu den rührigsten Wagner-Gegnern. Die Situation verschärfte sich aus Wagners Sicht insofern, als Bischoff sich in den 1860er Jahren vehement für die Kompositionen seines Freundes Ferdinand Hiller einsetzte, welcher, einst mit Wagner eng befreundet, inzwischen zu einem scharfen Kritiker der „Zukunftsmusiker“ geworden war. Der publizistisch einflussreichen Stellung Hillers, der selbst für die Kölnische Zeitung schrieb und den zahlreiche befreundete Redakteure in anderen Blättern unterstützten, versuchte Wagner durch wütende Polemik zu begegnen.16 Bei der Neuedition des Berlioz-Briefes ____________ 15
16
Bischoff benutzte „Zukunftsmusik“ wohl erst 1859, als der Ausdruck als negatives Schlagwort für die Musik von Wagner und Liszt bereits weit verbreitet und geläufig war, vgl. Christa Jost und Peter Jost, „Zukunftsmusik“. Zur Geschichte eines Begriffs, in: Musiktheorie 10 (1995), S. 119–135. Vgl. seine Kritik von 1867 anlässlich des Erscheinens von Hillers Aufsatzsammlung Aus dem Tonleben unserer Zeit, welche er als „Feuilleton-Geschwätze“ abkanzelt, in: GSD VII, S. 277.
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ergab sich demnach eine Gelegenheit, die Polemik, die sich weit mehr gegen Hiller als gegen den damals schon verstorbenen Bischoff richtete, mit entsprechenden Charakterisierungen fortzusetzen. Neben dem Phänomen, dass Wagner als Herausgeber sich selbst als Autor bei der Zusammenstellung und kritischen Textdurchsicht der GSD zu Änderungen nötigte, ist die Gestalt der Edition außerdem von einem formalen Kriterium beeinflusst, das auf den ersten Blick erstaunt. Wagners allzu großzügige Konzeption der Ausgabe in neun Bänden führte mehrfach zu Problemen, diese so aufzufüllen, dass sich stattliche Volumina ergaben. Alle Bände sollten nämlich etwa „gleich stark werden“ und „nicht unter 350 Seiten“ umfassen.17 Der Mangel an ausreichenden Druckvorlagen veranlasste Wagner daher mehrfach, auf Schriften und Dichtungen zurückzugreifen, die er ursprünglich nicht bzw. nicht wieder veröffentlichen wollte. Dazu gehören etwa der 1859 in Paris niedergeschriebene und zuerst unter dem Titel Ein Brief Richard Wagners in der Sächsischen Constitutionellen Zeitung abgedruckte Nachruf an L. Spohr und Chordirektor W. Fischer (GSD V, S. 133–141), aber auch das bis dahin noch unveröffentlichte, im November 1870 vor dem Hintergrund des Deutschfranzösischen Krieges entstandene „Lustspiel in antiker Manier“ Eine Kapitulation (GSD IX, S. 5–50), dessen Verspottung der Franzosen als frivolleichtfertige Menschen sich auf Wagners Rezeption in Frankreich hemmend auswirken sollte.18 Der Zwang zum Auffüllen der Bände ging aber noch weiter: Laut Tagebuch seiner Frau arbeitete Wagner im Sommer 1872 den Aufsatz Über Schauspieler und Sänger explizit aus, „um den 9ten Band zu vervollständigen“ (CWT I, S. 558).
IV.
Sämtliche Schriften und Dichtungen (SSD)
Die ab der 5. Auflage der GSD durchgeführte Änderung des Titels zu Sämtliche Schriften und Dichtungen wird zwar nicht ausdrücklich vom Herausgeber der beiden Nachtragsbände (Bde. XI und XII) Richard Sternfeld angesprochen, erklärt sich jedoch aus dem grundsätzlichen Bemühen um Vollständigkeit, das im Vorwort zu Bd. XII zum Ausdruck gelangt: Hatte der elfte Band von Richard Wagner’s „Sämtlichen Schriften und Dichtungen“, als erster Nachtrags-Band, die Aufgabe, alle dramatischen Dichtungen und Entwürfe, die in den zehn alten Bänden nicht enthalten sind, zusammenzustellen, so liegt ____________ 17 18
Briefe vom 5. und 19. Juni 1871 an Fritzsch; vgl. Jost und Jost, Richard Wagner und sein Verleger (wie Anm. 8), S. 97f. Vgl. Jost und Jost, „… der in seiner Kunst das Leben suchte“ (wie Anm. 14), S. 112f.
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diesem zwölften, dem zweiten Nachtragsbande, die Absicht zu Grunde, in ihm alles zu vereinigen, was sich in den elf vorausgehenden Bänden nicht vorfindet. Hierbei wurde Vollständigkeit angestrebt, ohne daß sie, wie der Herausgeber wohl weiß, erreicht werden konnte, schon deshalb nicht, weil ihm Ungedrucktes nicht zur Verfügung stand. (SSD, 5. Aufl., Bd. XII, S. III)
Die Befürchtung, die angestrebte Vollständigkeit nicht zu erreichen, sollte sich noch während der Drucklegung bewahrheiten. Beim Abdruck von Wagners frühem Aufsatz Über Meyerbeers „Hugenotten“ (ca. 1840 verfasst, zu Lebzeiten des Autors ungedruckt geblieben) griff Sternfeld auf die Veröffentlichung von Julius Kapp zurück,19 die sich aber als unvollständig erwies. Die Ergänzungen, die sich aus dem Vergleich mit einer Abschrift des in Privatbesitz befindlichen Originalmanuskriptes ergaben, konnte er nur noch in den Anmerkungen nachreichen. Ähnlich erging es ihm mit Wagners Gedicht Gruß aus Sachsen an die Wiener aus der Revolutionszeit (Erstdruck in der Beilage zur Allgemeinen Österreichischen Zeitung vom 1. Juni 1848), zu dem Sternfeld drei weitere Strophen auffand, diese aber nur noch in seinen Anmerkungen präsentieren konnte (in der 6. Auflage von Bd. XII wurden die Ergänzungen selbstverständlich in die jeweiligen Haupttexte eingearbeitet). Schon rasch nach dem Erscheinen der 5. Auflage ergab sich aus der Publikation von Mein Leben (1911) sowie eines erweiterten „Schriften“-Begriffes die Notwendigkeit, den Nachtrag für die neue 6. Auflage auszuweiten. Während Wagners Autobiographie die Bände XIII bis XV füllt, ist Band XVI für alle anderen Texte reserviert. Aufgenommen sind dort nicht nur neu bekannt gewordene Berichte, Erklärungen und Reden (wie z. B. Eine Rede auf Friedrich Schneider, 1846; 1913 erstmals in Der Merker veröffentlicht), sondern auch Tagebuchaufzeichnungen, Briefe oder Briefauszüge, deren Inhalte nun als Ergänzungen zu Schriften oder Darstellungen in Mein Leben und damit gleichsam als „schriftennah“ aufgefasst wurden. Zugleich wurde nun offenbar systematisch (oder zumindest systematischer als noch zur 5. Auflage der SSD) nach Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften zu Lebzeiten Wagners gefahndet, so dass insgesamt eine Fülle von Texten kleineren Umfangs zum Abdruck gelangte. Bezeichnenderweise wurde selbst die Auswahl an Gedichten um mehrere erweitert, die in Band XII noch bewusst ausgespart worden waren. Nach den Erfahrungen mit den Nachträgen zur 5. Auflage äußert sich der Herausgeber nun sehr viel vorsichtiger: Vollständigkeit wird bei alledem [den neuen Nachträgen] niemals erreicht werden, wohl aber liegen nun in dieser Volksausgabe Wagners dichterische und literarische ____________ 19
In: Die Musik 10 (1910/11), Bd. III, S. 84–88.
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Werke in einer Reichhaltigkeit vor, die den Titel „Sämtliche Schriften“ wohl rechtfertigen dürfte. (SSD XVI, S. III)
Inzwischen konnten tatsächlich weitere Texte, die in den SSD nicht enthalten sind, entdeckt bzw. wiederentdeckt werden.20 Hatte sich Wagner selbst in GSD letztlich für eine chronologische Anordnung entschieden, so liegt für die Nachträge der SSD „eine eklektische Mischung von Chronologie, Systematik und Zufall: dem Zufall der unerwarteten Entdeckung neuer Dokumente oder dem einer editorischen Sinnesänderung des Herausgebers“ vor.21 Während Band XI ausschließlich Dichtungen bzw. Dichtungsentwürfe enthält, also systematisch angelegt ist, folgt Band XII grundsätzlich der Chronologie,22 durchbricht diese aber für die zuletzt abgedruckten „Programmatischen Erläuterungen zu Musikstücken“ und für die „Gedichte“. Die Nachträge in Band XVI sind dagegen einer systematischen Ordnung verpflichtet, gegliedert in sechs Hauptpunkte: „Lebensgeschichtliches“, „Zur Kunst“, „Zur Geschichte des Bayreuther Werkes“, „Programmatische Erläuterungen“, „Zu den dramatischen Dichtungen“ und „Zu den Gelegenheitsgedichten“. Schon ein flüchtiger Blick auf die (meist vom Herausgeber Sternfeld stammenden) Überschriften der Einzeltexte zeigt, dass diese Systematik dem Charakter der Schriften kaum gerecht werden kann. Insbesondere die erste Hauptgliederung erweist sich als Verlegenheitslösung, da sie eben nicht nur Texte von rein biographischem Interesse enthält, sondern auch solche, in denen sich Wagner über Kunst äußert. Umgekehrt sind zahlreiche Beiträge der beiden nachfolgenden Kategorien kaum von der lebensgeschichtlichen Situation, in der sie verfasst wurden, zu trennen. Neben dieser auch für nachfolgende Sammel- und Gesamtausgaben geltenden grundsätzlichen Schwierigkeit der Anordnung zwischen den Polen Chronologie, die von Wagner selbst in den GSD mehrfach durchbrochen wurde, und Systematik, der sich, zumindest im strengen Sinne, zahlreiche Schriften durch ihre thematische und stilistische Heterogenität entziehen, sind die SSD mit zwei weiteren Problemen behaftet: Das erste betrifft die Frage der Authentizität, das zweite die der Zuverlässigkeit der Texte. ____________ 20 21 22
Vgl. Barry Millington, Schriften, in: ders. (Hrsg.), Das Wagner-Kompendium. Sein Leben – seine Musik, München 1996 (Originalausgabe: The Wagner Compendium, London 1992). Dahlhaus, Chronologie oder Systematik? (wie Anm. 12), S. 128. Die Textfolge wird teilweise durch zeitgeschichtliche und biographische Zäsuren gegliedert: „Die ersten Schriften über die Oper“, „Aus der Pariser Zeit“, „Aus der Dresdener Kapellmeisterzeit“, „Aus der Revolutionszeit“, „Entwürfe, Gedanken und Fragmente aus der Zeit der großen Kunstschriften“, „Aus den Sechziger Jahren“, „Zur Geschichte des Bayreuther Werkes“, „Zu den letzten Schriften über Kunst und Religion“.
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Gemessen an der Gesamtzahl der Schriften ist die Autorschaft Wagners nur in ganz wenigen Fällen ungesichert. Abgesehen von der Stellungnahme aus Wagners Münchener Zeit Ein Artikel der Münchener „Neuesten Nachrichten“ vom 29. November 1865 sind vor allem frühe, unter Pseudonym23 oder anonym erschienene Texte betroffen. So nahm Sternfeld den unter dem Titel Pasticcio 1834 in der Neuen Zeitschrift für Musik mit dem inhaltlich sprechenden Pseudonym Canto Spianato (= einfacher, ungekünstelter Gesang) veröffentlichten Aufsatz ohne Diskussion der Verfasserschaft in seine Nachträge auf (SSD XII, S. 5–11), wobei er sich offenbar auf die Erläuterungen von Carl Friedrich Glasenapp bei dessen Neuabdruck mit dem hinzugesetzten Verfassernamen Richard Wagner24 stützte; neuere Nachforschungen legen dagegen erhebliche Zweifel an der Autorschaft Wagners offen und reklamieren Gustav Nauenburg als Verfasser.25 Noch schwieriger erscheint die Frage, welche der anonym publizierten Artikel in den von Wagners Freund August Röckel herausgegebenen Volksblättern (1848/1849) vom Komponisten selbst stammen. Aufgrund von thematischen und stilistischen Übereinstimmungen mit zeitnahen verbürgten Revolutionsschriften werden zumindest drei Titel immer wieder für Wagner in Anspruch genommen: Deutschland und seine Fürsten (von Sternfeld nur im Anhang von Bd. XII der SSD, S. 414–419, aufgenommen), Der Mensch und die bestehende Gesellschaft (SSD XII, S. 240–244) und Die Revolution (SSD XII, S. 245–251).26 Ungeachtet der naheliegenden Vermutung, welche ____________ 23
24 25 26
Nachweislich von Wagner benutzte Pseudonyme sind William Drach (1836 in einem verschollenen, da von Robert Schumann für die Neue Zeitschrift für Musik abgelehnten Bericht aus Berlin) bzw. Wilhelm Drach (1869 in der Erstpublikation Eduard Devrient und sein Styl. Eine Studie über dessen Erinnerungen an Mendelssohn-Bartholdy, der vierten der Censuren (Eduard Devrient, GSD VIII, S. 284–298); H. Valentino (1841 im Erstdruck in der Neuen Zeitschrift für Musik von Rossini’s „Stabat mater“, 1871 gedruckt als siebter und letzter Aufsatz der Sammlung Ein deutscher Musiker in Paris, GSD I, S. 231–239 sowie 1842 im Extrablatt aus Paris, einem von Robert Schumann überarbeiteten brieflichen Bericht aus Paris für die Neue Zeitschrift für Musik, Wiederabdruck als Ein Pariser Bericht für Robert Schumanns „Neue Zeitschrift für Musik“, SSD XVI, S. 58–60); W. Freudenfeuer (1841 in den Erstdrucken von Pariser Amüsements und Pariser Fatalitäten für Deutsche, SSD XII, S. 31–45, 46–64) und K. Freigedank (1850 im Erstdruck von Das Judenthum in der Musik in der Neuen Zeitschrift für Musik, GSD V, S. 83–108). Bayreuther Blätter 7 (1884), S. 337–342, Nachwort Glasenapps, S. 343–347. Vgl. Ulrich Konrad, Robert Schumann und Richard Wagner. Studien und Dokumente, in: Augsburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 4 (1987), S. 218–223. Die Inanspruchnahme Wagners für Der Mensch und die bestehende Gesellschaft sowie Die Revolution geht auf Hugo Dinger (Richard Wagners geistige Entwickelung. Versuch einer Darstellung der Weltanschauung Richard Wagners mit Rücksichtnahme auf deren Verhältnis zu den philosophischen Richtungen der Junghegelianer und Arthur Schopenhauers, Leipzig 1892, S. 232–253) zurück, zugleich wird sie für Deutschland und seine Fürsten in Erwägung gezogen (S. 128); der Argumentation Dingers folgten danach weitgehend kritiklos weitere WagnerForscher wie Richard Sternfeld oder Julius Kapp bis hin zu Helmut Kirchmeyer (Situationsgeschichte der Musikkritik und des musikalischen Pressewesens in Deutschland dargestellt vom
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für Wagner als Mitarbeiter an den Volksblättern spricht,27 konnte jedoch bis heute für keinen der Artikel ein überzeugender Nachweis erbracht werden. Im Falle des schon erwähnten Textes von 1865 in den Münchener Neuesten Nachrichten vermutete bereits die zeitgenössische Presse, dass Cosima von Bülow, Wagners spätere zweite Frau, den Artikel nach Vorlage Wagners selbst verfasst oder zumindest mitverfasst habe.28 Nach heutigem Verständnis hätte der Herausgeber Sternfeld alle Artikel, deren Authentizität nicht zweifelsfrei feststeht, lediglich im Anhang abdrucken dürfen. Die ersten zehn Bände der SSD, deren Texte insofern als autorisiert gelten dürfen, als sie von Wagner selbst noch direkt (Bd. I–IX) oder indirekt (Bd. X mit Reprints der Erstdrucke im Zeitraum 1874–1883) kontrolliert wurden, erscheinen als Nachdrucke der entsprechenden Bände der GSD, allerdings in orthographisch modernisierter Form gemäß der Rechtschreibreform von 1903. Auf den ersten Blick geben sie den autorisierten Text zuverlässig wieder, bei genauerem Hinsehen finden sich jedoch gelegentliche Abweichungen, wobei es sich teils um versehentlich nicht korrigierte Fehllesungen, teils aber auch um bewusste Eingriffe des Herausgebers handelt. Ein Beispiel aus dem dritten Teil von Oper und Drama mag dies veranschaulichen (Abweichung ist unterstrichen): In der Hervorbringung solcher Stimmungen […] hat die absolute Instrumentalsprache sich bisher bereits als allvermögend bewährt; […]. Wenden wir diese außerordentliche, einzig ermöglichende Fähigkeit der Instrumentalsprache nun auf die Momente des Drama’s an, wo sie vom Dichter nach
In der Hervorbringung solcher Stimmungen […] hat die absolute Instrumentalsprache sich bisher bereits als allvermögend bewährt; […]. Wenden wir diese außerordentliche, einzig ermöglichende Fähigkeit der Instrumentalsprache nun auf die Momente des Dramas an, wo sie vom Dichter nach
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28
Ausgang des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Teil IV: Das zeitgenössische WagnerBild, Bd. 1: Wagner in Dresden, Regensburg 1872, S. 830–833). Gestützt wird diese Vermutung durch eine Notiz der satirischen Zeitschrift Leipziger Reibeisen, welche im Rückblick auf die Dresdener Revolutionsereignisse u. a. behauptete, Wagner „war ein eifriger Mitarbeiter an Röckels klassischen ,Volksblättern‘, seine Aufsätze atmen eine glühende Begeisterung, und man merkt ihnen an, daß ihr Verfasser ein Künstler, ein Poet war“ (Nr. 88, 24. Juli 1849, zitiert nach Dinger, Richard Wagners geistige Entwickelung [wie Anm. 26], S. 241). Über den aus der Perspektive einer mit Wagner befreundeten Person geschriebenen Text äußerte Peter Cornelius, der damals zum engsten Freundeskreis Wagners gehörte, in einem Brief vom 11. Dezember 1865: „Die Abreise Wagners [aus München] wurde hauptsächlich durch einen Artikel der ,Neuesten Nachrichten‘ bedingt, in welchem zugunsten Wagners die Kabinettsräte [König Ludwigs II.] mit einer zu weitgehenden Schärfe angegriffen wurden. Diesen Artikel, den ihm die besonneneren Freunde, selbst Bülow, gewiß widerraten und ausgeredet hätten, hat Wagner zweifelsohne einzig mit Cosima und durch Cosima aufgereizt geschrieben, diktiert oder angeordnet.“ (Peter Cornelius, Ausgewählte Briefe nebst Tagebuchblättern und Gelegenheitsgedichten, hrsg. von Carl Maria Cornelius, Bd. II, Leipzig 1905, S. 313.)
530 einer bestimmten Absicht in Wirksamkeit gesetzt werden soll, so hätten wir uns nun darüber zu verständigen, woher diese Sprache die sinnlichen Ausdrucksmomente zu nehmen habe, in denen sie sich der dichterischen Absicht entsprechend kundgeben soll. (GSD IV, S. 233)
Peter Jost einer bestimmten Absicht in Wirklichkeit gesetzt werden soll, so hätten wir uns nun darüber zu verständigen, woher diese Sprache die sinnlichen Ausdrucksmomente zu nehmen habe, in denen sie sich der dichterischen Absicht entsprechend kundgeben soll. (SSD IV, S. 187)
Ein unentdecktes Versehen des Setzers kann hier zwar nicht gänzlich ausgeschlossen werden, viel wahrscheinlicher dürfte aber sein, dass Sternfeld von einem Druckfehler ausging und „Wirksamkeit“ in „Wirklichkeit“ umänderte (nachzuprüfen ist dies insofern nicht, als ja Sternfeld die Bände I–XI sowie XIII–XV kommentarlos herausgab). Inhaltlich muss man von einer „Verschlimmbesserung“ sprechen, denn die Wendung „in Wirklichkeit setzen“ erscheint stilistisch bedenklich – erst recht, wenn man Wagners Bemühen um elegante Ausdrucksweise kennt. Da überdies alle Quellen der Schrift (Autograph, Erst- und Zweitdruck) wie in GSD „Wirksamkeit“ lesen, gibt es für Sternfelds Eingriff auch keinerlei philologische Begründung. Es handelt sich hier um eine zwar semantisch geringfügige, aber doch nicht unwesentliche Änderung – mit der fatalen Konsequenz, dass nahezu alle nachfolgenden Ausgaben sie übernahmen.29 Fatal wirkte sich auch aus, dass Sternfeld für seine Nachtragsbände frühere Textdrucke häufig ohne Abgleich mit den Originalquellen übernahm. So fehlt bei der Wiedergabe des ersten Prosaentwurfs zu Die Meistersinger von Nürnberg aus dem Jahre 1845 eine ganze Textzeile im ersten Akt: „Man geht zur Aufnahme in die Zunft: heute soll das Probesingen stattfinden.“ (SSD XI, S. 345), recte heißt es in Wagners Manuskript: „Man geht | zur Tagesordnung über: es habe sich Einer gemeldet zur | Aufnahme in die Zunft; – heute solle das Probesingen | stattfinden.“30 Der Fehler geht wie zahlreiche andere Fehllesungen auf Hans von Wolzogens Ausgabe der Entwürfe zurück.31 Das Beispiel zeigt, dass die Zuverlässigkeit selbst bei den auf Wagners eigene Ausgabe zurückgehenden Texten in den SSD nicht gewährleistet ist. ____________ 29
30 31
Ausnahmen bilden die auf GSD zurückgehende Edition von Julius Kapp (siehe oben, Abschnitt II.3) sowie die kritische Einzelausgabe von Oper und Drama, hrsg. von Klaus Kropfinger (siehe oben, Abschnitt II.5). Quelle: WWV 96 Text I, Nationalarchiv der Richard Wagner-Stiftung, Bayreuth, Signatur: A III k 1, S. 2. Richard Wagner, Entwürfe zu: „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“, „Parsifal“, mit einer Einführung von Hans von Wolzogen, Leipzig 1907, S. 51 (siehe oben, Abschnitt II.2).
Die Editionen der Schriften Richard Wagners
V.
531
Sammel- und Gesamtausgaben
Die beiden 1914 von Wolfgang Golther und von Julius Kapp herausgegebenen Sammelausgaben (vgl. Abschnitt II.3) könnten in ihren Zielsetzungen kaum unterschiedlicher sein. Gemeinsam war den beiden Editoren lediglich der Ausgangspunkt: Während der Vorbereitung der Ausgaben 1913/191432 lagen nur die 1912 erschienenen Bände I–XII der SSD vor, während die neuen, erst 1914 erschienenen Nachtragsbände XIII–XVI beiden Herausgebern noch unbekannt waren. Golther gibt die ersten zehn Bände der SSD (mit Seitenkonkordanz zur GSD) im unveränderten Neudruck wieder, stellt jedoch dem ersten Band eine Lebensskizze sowie eine relativ ausführliche Einleitung mit ausgewählten Schriften-Ergänzungen aus den Bänden XI und XII der SSD voran und fügt als Anhang zum letzten Band Anmerkungen und Register zur Gesamtedition bei. Er versteht seine Edition im Hinblick auf die SSD als Ergänzung, die den Hintergrund der Schriften für den Leser beleuchtet und durch Kommentare erschließt. Bezeichnenderweise entspricht die Grundkonzeption des Stellenkommentars in einigen Punkten der Vorgabe Sternfelds in Band XII der SSD; Golther präsentiert jedoch neben der Angabe des Erstdrucks und Verweisen auf thematisch verwandte Stellen in anderen Schriften noch recht ausführliche Personen- und Werkerläuterungen. Kapp sieht seine Edition dagegen als konkurrierende Alternative und spart nicht mit entsprechender Polemik gegen die SSD. In seinem Vorwort des Herausgebers kritisiert er die durch die Nachtragsbände XI und XII veranlasste Umbenennung von „Gesammelte“ zu „Sämtlichen“ Schriften als „ganz unberechtigt und unzutreffend“ sowie die Anordnung aus unverändertem Wiederabdruck der GSD mit ergänzenden Nachträgen als für den Leser „gänzlich ungenießbar“ (Bd. I, S. VIIf.). In der Konsequenz dieser Bewertung entscheidet sich Kapp für eine ganz neue, nach systematischen Gesichtspunkten gegliederte, aber jeweils intern chronologische Anordnung. Bei seinen Bemühungen um größtmögliche Vollständigkeit brachte Kapp – parallel zu Sternfeld – auch bis dato unbekannt gebliebene oder zuvor erst wiederentdeckte Texte zum Abdruck. Dabei konnte er u. a. ein Fragment über Berlioz’ Symphonie fantastique (1841) „nach dem Originalmanuskript“33 einbeziehen (Bd. VII, S. 137f.), das in den SSD nicht enthalten ist, sowie einen Bericht über Bellinis Norma zumindest als verschollen auflisten, ____________ 32
33
Das Vorwort von Julius Kapp ist auf 1. Januar 1914 (Bd. I, S. 11) datiert, bei Golther ist der Abschluss der Herausgebertätigkeit etwas später anzusetzen, da Publikationen des Jahres 1914 im Text erwähnt werden (z. B. Bd. I, S. 88). Kapp macht keine näheren Angaben zu diesem Manuskript, dessen Aufbewahrungsort heute unbekannt ist.
532
Peter Jost
dessen Autograph Anfang der 1970er Jahre tatsächlich wieder auftauchte.34 Allerdings nahm er auch Texte auf, deren Authentizität er – wie im Falle des sogenannten Lebensberichtes (1879) – zu Recht anzweifelte.35 Im Gegenzug fehlen einige kleinere Anzeigen und Erklärungen (wie beispielsweise Wagners Empfehlung Henri Vieuxtemps’ in der Eidgenössischen Zeitung vom 20. September 1852; vgl. SSD VI, S. 20); vor allem aber verzichtete Kapp auf den Abdruck von Mein Leben, da er der Autobiographie als „Tendenzbuch“ (Bd. I, S. 230) kaum Erkenntniswert beimaß. Die so genannte Jubiläumsausgabe, im 100. Todesjahr Wagners 1983 in zehn Bänden von Dieter Borchmeyer herausgegeben, bietet zwar die Texte der Schriften in einer plausiblen systematischen Anordnung, verzichtet aber auf Textphilologie und Einzelanmerkungen. Das größte Manko besteht jedoch im umfangsmäßig bedingten Zwang zur Auswahl, wobei u. a. „zähe ideologischspekulative Schriften“ wie Die Wibelungen oder Das Judentum in der Musik (Bd. X, S. 185) ausgesondert wurden, wodurch sich das Gesamtbild des Schriftstellers Wagner nicht unerheblich verändert. Die Neue Text-Ausgabe in 12 Bänden, herausgegeben von Rüdiger Jacobs, tritt mit dem Anspruch auf, sämtliche von Wagner verfasste Texte (Dichtungen und Schriften) in chronologischer Anordnung zu präsentieren; auf eine quellenkritische Edition wird wiederum verzichtet, da das Augenmerk auf eine preisgünstige Leseausgabe gerichtet ist. Textvorlage bilden die Bände der SSD sowie die seither erschienenen Publikationen ergänzender Schriften; der letzte Band ist der Kommentierung der Gesamtedition vorbehalten.
VI.
Neuausgaben nach den Quellen
Es mag zunächst verwundern, dass erst relativ spät, nämlich ab den 1960er Jahren, Neuausgaben einzelner Schriften nach den Originalquellen unternommen wurden. Aber aus ideologischen Gründen stand nach dem Ersten Weltkrieg und erst recht während des Nationalsozialismus eher der Wiederabdruck von unter Leitbegriffen wie „deutsch“, „national“ und „judenfeindlich“ ausgewählten Texten der SSD im Vordergrund als die Frage nach deren authentischer Überlieferung. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wich verständlicherweise die frühere Wagner-Verehrung einer harschen Ablehnung bzw. ____________ 34
35
Vgl. Friedrich Lippmann, Ein neuentdecktes Autograph Richard Wagners: Rezension der Königsberger „Norma“-Aufführung von 1837, in: Musicae Scientiae Collectanea. Festschrift Karl Gustav Fellerer, Köln 1973, S. 373–379. Durch die Tagebücher Cosima Wagners ist inzwischen bekannt, dass Hans von Wolzogen der Verfasser ist; vgl. CWT II, S. 340.
Die Editionen der Schriften Richard Wagners
533
einem weitgehenden Desinteresse, welche Neuausgaben verhinderten. Erst nach 1960, im Zuge einer neuen, wenngleich nicht vorbehaltlosen Hinwendung zu Wagners Person, Musik und Texten (auch außerhalb des Opernbetriebes, wo 1945 kaum als Zäsur wirkte), entstand ein neuer Markt für Neueditionen. Den Anfang machte der Schriftsteller Martin Gregor-Dellin mit der „ersten authentischen Veröffentlichung“ der Wagner’schen Autobiographie Mein Leben, der erstmals das in Bayreuth aufbewahrte Originalmanuskript, die Niederschrift Cosimas nach dem Diktat Richards, zu Grunde lag. Der zunächst nur auf wenige Erklärungen beschränkte Kommentar zu Mein Leben wurde in den Neuausgaben erheblich ausgeweitet, liefert allerdings nur in wenigen Fällen weitergehende Erläuterungen (Hintergründe, Übereinstimmungen oder Widersprüche zu Briefen oder anderen zeitgenössischen Dokumenten usw.). Auch hinsichtlich der verstreuten autographen Ergänzungen oder Änderungen im Originalmanuskript sind die Nachweise des Herausgebers weder systematisch noch vollständig angelegt, Gleiches gilt für Auslassungen im von Wagner selbst veranlassten Privatdruck bzw. in späteren Drucken, die nur kursorisch im Nachwort erwähnt werden. Von einer kritischen Ausgabe, die Lesarten und Varianten verzeichnet sowie mit einen ausführlichen Stellenkommentar aufwartet, kann hier ebenso wenig wie in den meisten der nachfolgenden Auswahleditionen von Schriften (vgl. Liste II.5) die Rede sein. Die genannten Kriterien für eine im modernen Sinne kritische Ausgabe erfüllt dagegen die Neuedition von Oper und Drama (1984), herausgegeben von Klaus Kropfinger. Eine kleine Einschränkung, auf die der Herausgeber selbst aufmerksam macht (vgl. S. 397), ergibt sich aus dem Verzicht auf ein vollständiges Lesartenverzeichnis, demgegenüber nur „die wichtigsten Textunterschiede“ zwischen den Quellen (der Edition liegt die Erstausgabe von 1852 [erschienen Ende 1851] zu Grunde) aufgeführt werden. Im Gegenzug lässt die gründliche und teilweise sehr ausführliche Kommentierung dieser Edition mit zahlreichen Verweisen auf die Forschungsliteratur kaum einen Wunsch offen. Dem Grundprinzip dieser „Musteredition“ folgt auch die Sammlung Späte Schriften zur Dramaturgie der Oper (1996), herausgegeben von Egon Voss. Wichtige Textvarianten bzw. Lesarten der Autographe einerseits und des späteren Abdrucks der Texte in SSD andererseits werden in Fußnoten geliefert, wobei allerdings der vorgegebene Rahmen der Textpräsentation (kein Stellenkommentar im Anhang, sondern wenige Erklärungen als Fußnoten) die Kommentarmöglichkeiten stark einschränkte. Einen besonderen Fall stellt die Neuausgabe zu Wagners Das Judentum in der Musik (2000) dar, welche von Jens Malte Fischer in Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus (Untertitel) eingebettet wird. Zum Abdruck gelangt die um
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Peter Jost
Widmung und rahmendes Vor- und Nachwort erweiterte Fassung von 1869, wobei Varianten des anonym veröffentlichten Erstdrucks von 1850 in Fußnoten mitgeteilt werden; nicht berücksichtigt sind allerdings Varianten der erhaltenen Autographe. An die Stelle eines Stellenkommentars treten eine Abhandlung über die Schrift, die Umstände ihrer Entstehung und ihre antisemitischen Wurzeln sowie eine Dokumentation der Rezeption durch den Abdruck von Kritiken und Gegenschriften. Der Stellenwert, den die Schriften Richard Wagners nicht nur für dessen Leben und Werk, sondern im Blick auf ihre Nachwirkung als herausragendes kulturgeschichtliches Zeugnis des 19. Jahrhunderts besitzen, macht eine historisch-kritische Gesamtausgabe seiner Schriften zum dringlichen Desiderat. Diese Lücke kann nun geschlossen werden: Seit 2013 wird im Rahmen des Akademienprogramms am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg unter der Leitung von Ulrich Konrad eine solche kritische Edition erarbeitet.36
Literaturverzeichnis Cornelius, Peter: Ausgewählte Briefe nebst Tagebuchblättern und Gelegenheitsgedichten, hrsg. von Carl Maria Cornelius, Bd. II, Leipzig 1905 Dahlhaus, Carl: Chronologie oder Systematik? Problem einer Edition von Wagners Schriften, in: Wagnerliteratur – Wagnerforschung. Bericht über das Wagner-Symposium München 1983, hrsg. von Carl Dahlhaus und Egon Voss, Mainz 1985, S. 127–130 Dinger, Hugo: Richard Wagners geistige Entwickelung. Versuch einer Darstellung der Weltanschauung Richard Wagners mit Rücksichtnahme auf deren Verhältnis zu den philosophischen Richtungen der Junghegelianer und Arthur Schopenhauers, Leipzig 1892 Jost, Christa und Peter Jost, „Zukunftsmusik“. Zur Geschichte eines Begriffs, in: Musiktheorie 10 (1995), S. 119–135 Jost, Christa und Peter Jost: Richard Wagner und sein Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch, Tutzing 1997 Jost, Christa und Peter Jost: „… der in seiner Kunst das Leben suchte“. Richard Wagner als Herausgeber seiner „Gesammelten Schriften und Dichtungen“, in: editio 20 (2006), S. 97–117 Kirchmeyer, Helmut: Situationsgeschichte der Musikkritik und des musikalischen Pressewesens in Deutschland dargestellt vom Ausgang des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Teil IV: Das zeitgenössische Wagner-Bild, Bd. 1: Wagner in Dresden, Regensburg 1872 Konrad, Ulrich: Robert Schumann und Richard Wagner. Studien und Dokumente, in: Augsburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 4 (1987), S. 211–320 Konrad, Ulrich: Richard Wagner Schriften (RWS). Historisch-kritische Gesamtausgabe. Dimensionen und Perspektiven eines Editionsvorhabens (mit Exkursen von Margret Jestremski und Christa Jost), in: Wagnerspectrum 10 (2014), Heft 1, S. 205–236
____________ 36
Zum Konzept und Aufbau des Editionsvorhabens vgl. Ulrich Konrad, Richard Wagner Schriften (RWS). Historisch-kritische Gesamtausgabe. Dimensionen und Perspektiven eines Editionsvorhabens (mit Exkursen von Margret Jestremski und Christa Jost), in: Wagnerspectrum 10 (2014), Heft 1, S. 205–236; grundlegende Informationen auch unter: http://www.musikwissenschaft.uni-wuerzburg.de/rws.
Die Editionen der Schriften Richard Wagners
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Lippmann, Friedrich: Ein neuentdecktes Autograph Richard Wagners: Rezension der Königsberger „Norma“-Aufführung von 1837, in: Musicae Scientiae Collectanea. Festschrift Karl Gustav Fellerer, Köln 1973, S. 373–379 Millington, Barry: Schriften, in: ders. (Hrsg.): Das Wagner-Kompendium. Sein Leben – seine Musik, München 1996 (Originalausgabe: The Wagner Compendium, London 1992), S. 356– 362 Richard Wagner. Schriften eines revolutionären Genies, ausgewählt und kommentiert von Egon Voss, München, Wien 1976 Wagner, Cosima: Die Tagebücher, hrsg. und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, 2 Bde., München, Zürich 1976/1977 Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft, Leipzig 1850 Wagner, Richard: Gesammelte Schriften und Dichtungen, 9 Bde., Leipzig 1871–1873, Bd. 10, 1883 Wagner, Richard: Sämtliche Briefe, Bd. 2, hrsg. von Gertrud Strobel und Werner Wolf, Leipzig 1970 Wagner, Richard: Sämtliche Schriften und Dichtungen, 6. Auflage, Volks-Ausgabe, 16 Bde., Leipzig o. J. [1912–1914]
Werner Breig
Zur Editionsgeschichte der Briefe Richard Wagners
I.
Bestand, Verzeichnisse
Die Briefe, die Richard Wagner zwischen 1830 und 1883 geschrieben hat – es dürften an die 10.000 gewesen sein –, haben sich zum größten Teil erhalten und befinden sich heute entweder in öffentlichen Bibliotheken oder in der Hand privater Sammler, von denen erfreulich viele bereit sind, sie WagnerForschern zugänglich zu machen. In dieser relativ günstigen Überlieferungssituation spiegelt sich die Tatsache wider, dass Wagner spätestens seit der Jahrhundertmitte zu den Berühmtheiten der deutschen Musikszene gehörte, deren Autographen aufbewahrenswert waren. Eine weitaus geringere Zahl, nämlich knapp 2.000, machen die erhaltenen Briefe an Richard Wagner aus. Da er sicherlich nicht weniger Briefe erhalten als geschrieben hat, müssen wir mit immensen Verlusten rechnen. Diese dürften zunächst darauf zurückzuführen sein, dass Wagner in den Zeiten seines unsteten Lebens mit häufigem Wohnungswechsel nicht in der Lage war, einen laufend wachsenden Bestand an Briefen aufzubewahren. Erst mit der Niederlassung in Tribschen im Jahre 1866, als Cosima von Bülow (seit 1870 Cosima Wagner) die Verwaltung von Wagners Beständen in die Hand nehmen konnte, änderte sich diese Situation, oder richtiger: Sie hätte sich ändern können. De facto aber war es weder Richard noch Cosima Wagner wichtig, die eingegangenen Briefe aufzubewahren. Teile davon vernichtete Cosima später sogar absichtlich – als eine Art von symbolischer Bestrafung für Personen, die sich missliebig gemacht (wie Friedrich Nietzsche) oder sich dem Hause Wagner entfremdet hatten (wie Hans von Bülow).1 Briefe von Richard Wagner hat Cosima, soviel wir wissen, niemals vernichtet – mit Ausnahme der Briefe an Mathilde Wesendonck, die allerdings, als Cosima sie beseitigte, schon gedruckt vorlagen.2 Im Gegenteil war sie bemüht, in Wahnfried die Dokumente ____________ 1
2
Ein Überblick über Cosima Wagners Vernichtungsmaßnahmen findet sich in der Einleitung von Richard Wagner, Das braune Buch – Tagebuchaufzeichnungen 1865 bis 1832, vorgelegt und kommentiert von Joachim Bergfeld, Zürich, Freiburg i. Br. 1975, S. 12f. Vgl. Judith Cabaud, Mathilde Wesendonck ou le rêve d’Isolde, Arles 1990, S. 274.
Zur Editionsgeschichte der Briefe Richard Wagners
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von Wagners Hand im möglichster Vollständigkeit zu sammeln; wenn sie Briefe, die ihr bekannt wurden, nicht erwerben konnte, versuchte sie wenigstens, Abschriften davon herstellen zu lassen.3 Es gibt nur vier Korrespondenzen Wagners, in denen die Briefe beider Partner in annähernder Vollständigkeit erhalten und ediert sind. Es sind dies die Briefwechsel mit König Ludwig II. von Bayern, Franz Liszt und den beiden Verlagen Breitkopf & Härtel und Schott. Dass für Cosima Wagner die Briefe des Königs ebenso wie die ihres Vaters Franz Liszt unantastbar waren, bedarf keiner Erklärung. Die Erhaltung der Verlegerbriefe an Wagner ist nicht der Sorgfalt des Empfängers zu verdanken, sondern dem Umstand, dass die Verlagshäuser die ausgehenden Briefe, da es sich um Geschäftsunterlagen handelte, in Kopien aufbewahrten. Den ersten Versuch einer Bestandsaufnahme der „Von“-Briefe unternahm zwei Jahre nach Wagners Tod der Wiener Musikjournalist Emerich Kastner, der damals 413 Briefe nachweisen konnte.4 Ein zweites Verzeichnis des gleichen Verfassers5 enthielt schon 1.470 Briefe, und als acht Jahre später Wilhelm Altmann sein Regestenwerk6 veröffentlichte, war die Zahl der bekannten Wagner-Briefe auf mehr als das Doppelte (3.143 Nummern) gestiegen. Der Bestand der heute bekannten Briefe Wagners ist im Wesentlichen in dem 1998 erschienenen Wagner-Briefe-Verzeichnis7 dokumentiert, das im Zusammenhang mit der Edition der Sämtlichen Briefe entstand und in dem 9.030 Briefe8 mit Angabe der Fundorte und der Editionen nachgewiesen sind. Nach den beiden Katalogen von Kastner begann mit Altmanns Arbeit bereits die inhaltliche Erschließung in Form von Regesten, die für einen großen Teil der verzeichneten Briefe vorgelegt wurde. Altmann betrachtete seine Arbeit allerdings nur „als eine Vorarbeit für eine künftige Gesamtausgabe der ____________ 3 4 5 6 7
8
Das hat dazu geführt, dass im Bayreuther Archiv neben ca. 3.000 Briefautographen etwa 2.000 – im Allgemeinen sehr sorgfältig angefertigte – Abschriften aufbewahrt werden. Emerich Kastner, Wagneriana. Beiträge zur Richard-Wagner-Bibliographie, Bd. 1: Briefe Richard Wagner’s an seine Zeitgenossen (1830–1883), Wien 1885. Emerich Kastner, Briefe von Richard Wagner an seine Zeitgenossen: 1883–1830, Berlin 1897. Wilhelm Altmann, Richard Wagners Briefe nach Zeitfolge und Inhalt. Ein Beitrag zur Lebensgeschichte des Meisters, Leipzig 1905. Werner Breig, Martin Dürrer, Andreas Mielke, Chronologisches Verzeichnis der Briefe von Richard Wagner – Wagner-Briefe-Verzeichnis (WBV), Wiesbaden [u. a.] 1998 (im Folgenden als WBV zitiert). Nicht berücksichtigt sind in dieser Zahl die im Anhang verzeichneten 694 Dokumente von Wagners Hand (z. B. Widmungen, Gedichte), die keine Briefe im eigentlichen Sinn und deshalb auch nicht Gegenstand von Briefeditionen sind. – Nach dem Abschluss des WBV sind 181 weitere Briefe und 63 Dokumente bekannt geworden. Sie sind einstweilen nur in der Datenbank der Arbeitsstelle Richard-Wagner-Briefausgabe verzeichnet, die sich seit 2008 am Institut für Musikforschung der Universität Würzburg befindet.
538
Werner Breig
Briefe Wagners“.9 Dass eine solche eines Tages zustande kommen würde, stand für ihn außer Frage. Dass sie hundert Jahre nach seiner Regestenausgabe noch nicht vollendet sein würde, hätte er sicherlich für unwahrscheinlich gehalten.
II.
Anfänge – Die „Briefe in Originalausgaben“
Cosima Wagner begann schon wenige Jahre nach Richards Tod im Februar 1883 mit der Veröffentlichung von Briefen aus seinem Nachlass. Um die Art, wie sie dabei vorging, zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass das Verhältnis Richard und Cosima Wagners zu solchen Briefveröffentlichungen durchaus ambivalent war. Veröffentlichungen von privaten Briefen haben ihrer Natur nach immer ein Moment von Indiskretion. Und gerade die erste, sozusagen hinter seinem Rücken veranstaltete Ausgabe einer geschlossenen Gruppe von Briefen musste Wagner das Gefühl vermitteln, Opfer einer Indiskretion geworden zu sein. 1877 veröffentlichte nämlich Daniel Spitzer in der Wiener Neuen Freien Presse 16 Briefe an die Wiener Schneiderin Bertha Goldwag-Maretschek. Es handelt sich um die sogenannten „Putzmacherin“-Briefe, in denen Wagner in größter Ausführlichkeit verschiedenfarbige Atlasstoffe, gefütterte Schlafröcke, bestickte Kissen u. Ä. bestellte. Die Betroffenheit über diese Publikation findet ihren Niederschlag in Cosimas Tagebucheintragung vom 22. Juli 1877. Von dem Mannheimer Freund Emil Heckel hatte sie erfahren, daß die Neue Freie Presse nun anzeigt, daß sie die Briefe an eine Putzmacherin von R. angekauft hat und dieselben nun herausgeben und kommentieren will. Wenn R. nun davon spricht, nach Amerika auszuwandern, fehlt mir der Mut, ihm entgegen zu sprechen.10
Es dürfte diese Erfahrung gewesen sein, die Wagner veranlasste, sich um eine andere Gruppe von Briefen zu bemühen, deren unkontrollierte Veröffentlichung ihm ebenfalls sehr unangenehm gewesen wäre, nämlich die in den Zürcher Jahren entstandenen Briefe an den Dresdner Violinisten und Musikschrift____________ 9
10
Altmann, Richard Wagners Briefe (wie Anm. 6), S. VI. Übrigens hat Altmann den Begriff der „Gesamtausgabe“ etwas weiter gefasst als üblich, denn er meinte, man werde sich auch „in einer künftigen Gesamtausgabe […] vielfach, namentlich bei den zahllosen Geschäftsbriefen, mit der Regestenform begnügen müssen, um die Gesamtausgabe nicht zu sehr anschwellen zu lassen“ (ebd., S. Vf.). Cosima Wagner, Die Tagebücher, ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, Bd. 1–2, München, Zürich 1976/1977 (im Folgenden als CWT zitiert) Bd. I, S. 1056.
Zur Editionsgeschichte der Briefe Richard Wagners
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steller Theodor Uhlig (1822–1853). In ihm hatte er seinerzeit einen verständnisvollen Korrespondenzpartner, wenn es um künstlerische Fragen ging; außerdem aber gestattete er sich Uhlig gegenüber ausführliche revolutionäre Exkurse und antireligiöse Ausfälle; und über missliebige Personen äußerte er sich mit einer Freimütigkeit, die gelegentliche Grobheiten nicht scheute. Schon bald nach Uhligs Tod wurde Wagner klar, dass diese Briefe für ihn kompromittierend sein könnten, und er bat Uhligs Witwe, die Briefe entweder zu vernichten oder sie „streng an sich zu halten“.11 Nach der Veröffentlichung der Putzmacherin-Briefe bemühten sich Wagners, die Briefe an Uhlig von dessen Tochter Elsa zurückzuerhalten, um sich gegen eine neuerliche Indiskretion zu sichern. Elsa Uhlig ließ zunächst nur Kopien anfertigen, die sie Wagners verkaufte. Das war für die Bayreuther noch keine befriedigende Lösung und bildete den Anfang von langwierigen Auseinandersetzungen mit der Erbin.12 Aber es verhalf Richard und Cosima zu einem neuen Blick auf diese Dokumente aus einem drei Jahrzehnte zurückliegenden Lebensabschnitt. Cosima schrieb darüber am 1. Juni 1879 in ihr Tagebuch: […] am Nachmittage lesen wir sie im Sommerhäuschen. Große Freude daran; wie R. immer derselbe gewesen, erhellt merkwürdig daraus; er mußte den meisten durchaus unverständlich bleiben. […] Die Briefe sind die schönsten, die ich je gelesen. […] Die Briefe bilden immer unser Gespräch […].13
Als Ergebnis dieser Lektüre bildete sich offenbar die Überzeugung, dass neben den Kunstwerken und den Prosaschriften Wagners auch seine Briefe eine „Botschaft“ enthielten, die der Mitteilung an die Öffentlichkeit wert war. Unter diesem Aspekt wird auch klar, dass für die Veröffentlichung nur die Briefe des „Meisters“ selbst relevant sein konnten; ihre Einbettung in einen Korrespondenz-Kontext hätte eine Relativierung bedeutet, die man nicht wünschte. Als Konsequenz notiert Cosima: Wir besprechen die Herausgabe dieser Briefe seitens Fidi nach unserem Tode, auch die an seine Frau Minna, an A. Frommann, an meinen Vater.14
Da das Ehepaar nicht (wie es sich beide gelegentlich erträumten) gemeinsam starb, war es dann nicht „Fidi“ (Siegfried Wagner), sondern Cosima selbst, die ____________ 11 12
13 14
Brief an Caroline Uhlig vom 17. März 1853, Richard Wagner, Sämtliche Briefe (im Folgenden als SBr zitiert), Bd. 5, S. 223. Zur Geschichte der Edition der Uhlig-Briefe vgl. Werner Breig, Probleme einer Gesamtausgabe der Briefe Richard Wagners, in: Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition, hrsg. von Lothar Blum und Andreas Meier, Würzburg 1993, S. 121–153 (speziell S. 143–148). 1. bis 3. Juni 1879; CWT II (wie Anm. 10), S. 358f. Ebd., S. 628.
540
Werner Breig
die Aufgabe der Briefedition zu übernehmen hatte. Der Wunsch, einerseits die Briefe zu veröffentlichen, andererseits alles zu tilgen, was für den Briefschreiber kompromittierend sein konnte, machte die Redaktion zu einer heiklen Aufgabe und führte zu einer manchmal geradezu verfälschenden Wiedergabe der Texte, die selbst von Wohlmeinenden nicht gebilligt wurde.15 Vor den Uhlig-Briefen, die zusammen mit denen an die Dresdner Freunde Wilhelm Fischer und Ferdinand Heine 1888 erschienen, war schon der Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt 1887, ebenfalls von Cosima Wagner redigiert, erschienen. Damit war eine Editionstätigkeit eingeleitet, die in relativ kurzer Zeit dazu führte, dass wesentliche Teile von Wagners Briefen öffentlich zugänglich waren. Die wichtigsten von ihnen wurden 1911 im Verlag Breitkopf & Härtel in einer 17-bändigen Reihe unter dem Serientitel Richard Wagners Briefe in Originalausgaben zusammengefasst. Die Reihe war in zwei Folgen gegliedert und umfasste folgende Brief- bzw. Briefwechselausgaben:16 I. Folge: 1.–2. RW an Minna Wagner (1908); 3. Familienbriefe von RW (Glasenapp, 1907); 4. RW an Theodor Uhlig, Wilhelm Fischer und Ferdinand Heine (1888); 5. RW an Mathilde Wesendonck (Golther, 1904); 6. RW an Otto Wesendonck (Golther, 1905); 7. Briefwechsel RW und Breitkopf & Härtel (Altmann, 1911); 8. Briefwechsel RW und B. Schott’s Söhne (Altmann, 1911). II. Folge: 9. Briefwechsel zwischen Wagner und Liszt (1887); 10. RW an Theodor Apel (Th. Apel, 1910); 11. RW an August Röckel (La Mara [= Marie Lipsius], 1894); 12. RW an Ferdinand Praeger (Chamberlain, 1894); 13. RW an Eliza Wille (E. Wille, 1887); 14. RW an seine Künstler (= 2. Band der Bayreuther Briefe, Kloss, 1908); 15. Bayreuther Briefe von RW (Glasenapp, 1907); 16. RW an Emil Heckel (Heckel, 1899); 17. RW an Freunde und Zeitgenossen (Kloss, 1909).
Die von Cosima Wagner selbst redigierten Bände (es waren nach den Bänden 9 und 4 noch die Briefe an Minna Wagner) erschienen ohne Editorvermerk. Für die Mehrzahl der Ausgaben zeichneten namentlich genannte Herausgeber verantwortlich. Es waren im Allgemeinen – soweit nicht die Adressaten selbst die Edition besorgten, wie im Fall der Bände 10 und 13 – Persönlichkeiten, die zum „Bayreuther Kreis“ gehörten,17 was Wolfgang Golther, den Herausgeber der Briefe an Mathilde Wesendonck, nicht vor heftigen Angriffen Cosimas schützte, die die Edition dieser Briefe gern verhindert hätte. Auch Eliza Willes ____________ 15 16
17
Vgl. die Kritik an Cosimas Zensurmaßnahmen bei Richard Du Moulin-Eckart, Cosima Wagner, Bd. II: Die Herrin von Bayreuth, München, Berlin 1931, S. 23. „Richard Wagner“ ist mit RW abgekürzt; in Klammern steht der Name des Herausgebers (sofern es sich nicht um eine Ausgabe aus dem Haus Wahnfried handelt) und das Jahr der Erstveröffentlichung. Vgl. Winfried Schüler, Der Bayreuther Kreis. Wagnerkult und Kulturreform im Geiste völkischer Weltanschauung, Münster 1971. – Auszunehmen ist Wilhelm Altmann, der Direktor der Musikabteilung der Preußischen Staatsbibliothek war und neben seiner bibliothekarischen Tätigkeit eine thematisch weitgespannte schriftstellerische und editorische Aktivität entfaltete.
Zur Editionsgeschichte der Briefe Richard Wagners
541
selbständige Herausgabe der an sie gerichteten Briefe Wagners in der Deutschen Rundschau von 1887 hatte Cosimas Kritik herausgefordert.18 Dass nach Erscheinen des letzten Bandes dieser Publikationsphase (Briefwechsel mit dem Verlag B. Schott, 1911) aus der heterogenen Reihe die quasi offiziellen Originalausgaben wurden, zeigt, dass das Haus Wahnfried inzwischen auch mit den zunächst kritisch betrachteten Ausgaben seinen Frieden gemacht hatte.19
III.
Der Ansatz zu einer Gesamtausgabe von Julius Kapp und Emerich Kastner
Kurz nach Abschluss der Serie der Originalausgaben trat ein Unternehmen auf den Plan, das sich nicht als Fortsetzung der bisherigen Editionen verstand, sondern als Opposition zu ihnen: die Ausgabe von Julius Kapp und Emerich Kastner, die im Leipziger Verlag Hesse & Becker erschien.20 Obwohl die Ausgabe im Ansatz stecken blieb, ist sie durch ihre Intention bemerkenswert. Der Hauptherausgeber Julius Kapp21 kritisierte an den Breitkopf’schen Originalausgaben, sie seien planlos in der Anlage, viele Bände seien unvollständig, und Teile der Brieftexte – hier bezog er sich insbesondere auf die Uhlig-Briefe – seien unterdrückt. Kapps eigene Konzeption zielte demgegenüber auf eine Gesamtausgabe […], die alle Briefe, unabhängig vom Adressaten, chronologisch aneinanderreiht und somit bei Wagners unermüdlichen und temperamentvollen Ergüssen gewissermaßen eine große, die ganze Skala des Leidens und des Glückes durchlaufende buntschillernde Autobiographie darbietet, die zudem vor des Meisters hinterlassener großer Selbstbiographie die Ursprünglichkeit und unbegrenzte Aufrichtigkeit voraus hat.22 ____________ 18
19 20 21
22
Eva Wagner protestierte im Auftrag ihrer Mutter schriftlich. Ihre Begründung zeigt, mit welchen tief eingewurzelten Ressentiments Herausgeber rechnen mussten: Zustimmen könne ihre Mutter, schrieb Eva, „aus dem einen Grunde nicht, als mein Vater eine unbegrenzte Verachtung für das jetzige Zeitungswesen hatte und wohl gewiß nicht diese seine Gedanken und Gefühle an solcher Stätte kundgeben wollte, wo früher sein Dichten und Trachten verhöhnt worden ist“ (zit. nach Du Moulin-Eckart, Cosima Wagner [wie Anm. 16], S. 133). Dabei ist allerdings zu bedenken, dass Cosima Wagner nach ihrer Herzattacke sich von allen Aktivitäten zurückgezogen hatte. Richard Wagners gesammelte Briefe, hrsg. von Julius Kapp und Emerich Kastner, 2 Bde. (mehr nicht erschienen), Leipzig 1914 (im Folgenden als Kapp/Kastner zitiert). Die Nennung von Emerich Kastner als Mitherausgeber erklärt sich daraus, dass er die Ausgabe anregte und seine Materialien zur Verfügung stellte (vgl. Kapp/Kastner [wie Anm. 20], Einführung zu Bd. 1, S. IX). Kapp/Kastner (wie Anm. 20), Bd. 1, S. VIf. – Die von Kapp erwähnte Autobiographie Mein Leben war 1911 in einer ersten öffentlichen Ausgabe erschienen.
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Werner Breig
Kapp verkannte nicht, dass sein Projekt mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben würde: Vieles war noch nicht zugänglich, und das Bayreuther Archiv war ihm verschlossen. Demgegenüber glaubte er – nicht ganz zu Unrecht –, dass durch langes Zögern manches vorhandene Material wieder unzugänglich werden könnte; und was das Bayreuther Familienarchiv betraf, so bezweifelte er, dass „bei der dort herrschenden engen Familienpolitik […] dieses jemals der freien, vorurteilslosen Forschung erschlossen“ würde.23 Der Anlage nach ist Kapps Edition ein Vorläufer der Sämtlichen Briefe. Erschienen sind nur die Bände 1 (Briefe bis 1843) und 2 (1843–1850), beide im Jahre 1914. Die Ausgabe wurde zunächst durch den Weltkrieg abgebrochen, an dem Kapp als Soldat teilnahm. Versuche einer Weiterführung der Ausgabe nach Kriegsende hat es offenbar nicht gegeben; vielleicht musste Kapp sich doch eingestehen, dass eine Wagner-Briefausgabe neben und gegen Bayreuth aufgrund der Quellenlage unrealistisch war. Seine Ausgabe bleibt dennoch verdienstvoll durch die Formulierung von neuen Maßstäben für eine Edition.
IV.
Weitere Ausgaben einzelner Briefgruppen
In der Folgezeit wurden die personenbezogenen Originalausgaben durch eine Reihe von unabhängig von Bayreuth erstellten Ausgaben an weitere Empfänger ergänzt, beispielsweise an Hans von Bülow, Julie Ritter, Hans Richter, Mathilde Maier, Anton Pusinelli und Judith Gautier. An Textretuschen sind die Herausgeber im Allgemeinen nicht mehr interessiert, ohne dass die Editionen andererseits irgendwelche textkritischen Ambitionen erkennen lassen; auch erfährt man meist nur wenig über die Besitzer der Quellen. Diese Briefausgaben haben zwar für die Editionsmethodik keine neuen Maßstäbe gesetzt, aber der Wagnerforschung reichhaltiges Material zugeführt. Das wichtigste editorische Ereignis nach Kapps Versuch einer Gesamtausgabe war ohne Zweifel das Erscheinen von Wagners Briefwechsel mit dem bayerischen König Ludwig II., herausgegeben von Otto Strobel.24 Mit dieser Briefedition schaltete sich das Haus Wahnfried, an dessen Spitze seit dem Tode von Cosima und Siegfried Wagner im Jahre 1930 Winifred Wagner gelangt war, erneut in die Briefedition ein und dokumentierte einen neuen Kurs. Dass das Bild von Winifred Wagner durch ihre Anhängerschaft an Adolf Hitler und den Nationalsozialismus unreparierbar beschädigt ist, sollte nicht ____________ 23 24
Ebd., S. VII. König Ludwig II. und Richard Wagner: Briefwechsel, 5 Bde., hrsg. vom Wittelsbacher Ausgleichs-Fonds und von Winifred Wagner, bearb. von Otto Strobel, Karlsruhe 1936–1939.
Zur Editionsgeschichte der Briefe Richard Wagners
543
dazu veranlassen, ihre Rolle als Modernisiererin zu unterschätzen. Modernisierung bewirkte sie ebenso durch die Berufung von Heinz Tietjen25 und Emil Preetorius als Verantwortliche für die Inszenierungen bzw. Bühnenbilder der Bayreuther Festspiele wie dadurch, dass sie den Musikwissenschaftler Otto Strobel als Archivar des Hauses Wahnfried und (1938 außerdem als Leiter der neu gegründeten Richard-Wagner-Gedenkstätte) einsetzte.26 Strobel darf als der eigentliche Begründer der philologischen Wagner-Forschung gelten. Seine markanteste Leistung für die Erschließung von Wagners künstlerischem Œuvre bildet die Veröffentlichung der Skizzen und Entwürfe zur Ring-Dichtung (München 1930); daneben erschien in den Programmbüchern der Bayreuther Festspiele eine Reihe von Editionen aus den musikalischen und textlichen Skizzen und Entwürfen zu Wagners musikdramatischen Werken. Die editorischen Verdienste der Ausgabe der Königsbriefe sind in zwei Punkten zu sehen. Erstens galt das Prinzip, „daß der Briefwechsel […] nur vollständig veröffentlicht werden könne. Demnach erfolgte der Abdruck […] wortgetreu und ohne jegliche Auslassung“.27 Das bedeutet nicht nur den Verzicht auf willentliche Retuschen, sondern darüber hinaus die aktive Sorge für Texttreue bis ins Detail.28 Zweitens sind die Brieftexte durch eine Kommentierung erschlossen, die für sich einen gewichtigen Beitrag zur WagnerBiographik darstellt. Man mag den durchweg verehrungsvollen Stil von Strobels Kommentaren als einen Zug des traditionellen Wagnerianismus empfinden; die sachliche Zuverlässigkeit wird dadurch nicht beeinträchtigt.
V.
Die Sämtlichen Briefe
1962 wurde das, was Julius Kapp 1914 mit unzureichenden Mitteln versucht hatte, erneut in Angriff genommen: eine chronologisch geordnete Ausgabe sämtlicher Briefe Richard Wagners. Basis war ein Vertrag zwischen Winifred Wagner, die hier ein weiteres Mal als Initiatorin auftrat, und dem damaligen VEB Deutscher Verlag für Musik in Leipzig. Bandbearbeiter waren die Archivarin des Bayreuther Richard-Wagner-Archivs Gertrud Strobel (verantwortlich ____________ 25
26
27 28
Ihm wird der Satz zugeschrieben, er gehe nach Bayreuth, um Wagner vor den Wagnerianern zu schützen (nach Brigitte Hamann, Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth, München 2002, S. 196). Eine abwägende Würdigung des Wirkens von Strobel findet sich bei John Deathridge, Grundzüge der Wagnerforschung, in: Richard-Wagner-Handbuch, hrsg. von Ulrich Müller und Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 803–830, hier: S. 811f. König Ludwig II. und Richard Wagner (wie Anm. 24), Bd. 1, S. VIIf. Ausnahmen werden eigens gerechtfertigt, so beispielsweise die Normalisierung der „sehr unregelmäßige[n] Zeichensetzung des Königs“ (ebd., S. VIII).
544
Werner Breig
für Brieferfassung und -übertragung, Quellenverzeichnis) und der Leipziger Musikwissenschaftler Werner Wolf (verantwortlich für Einleitung, Kommentare, Register). Der Bestand an Wagner-Briefen wurde von den Herausgebern damals auf ca. 5.000 geschätzt, der Umfang der Ausgabe auf 15 Bände veranschlagt. Nach einem mehrjährigen Vorlauf erschienen die Bände 1–4 in den Jahren 1967, 1969, 1975 und 1979. Der noch von Gertrud Strobel und Werner Wolf begonnene Band 5 ist später von Hans-Joachim Bauer und Eva Gerlach abgeschlossen worden und 1993 erschienen. Da Gertrud Strobel mit Wagners Handschrift aus jahrzehntelanger Erfahrung vertraut war, sind ihre zeichengetreuen Transkriptionen der Brieftexte durchweg zuverlässig. Großen Raum nehmen in diesen Bänden die Einleitungen ein (in Band 1 beispielsweise 48 Seiten), die weniger auf die Briefe bezogen sind, als dass sie die Biographie des betreffenden Lebensabschnitts darstellen, so dass sie sich, wäre die Ausgabe in der gleichen Weise abgeschlossen worden, zu einer neuen WagnerBiographie summiert hätten. Dagegen sind die Erläuterungen zu den einzelnen Briefen sehr knapp gehalten. Nach dem Tod von Gertrud Strobel im Jahre 1979 trat Hans-Joachim Bauer (Thurnau/Bayreuth) an ihre Stelle; die Aufgabe von Werner Wolf, der von Bd. 6 an nicht mehr zur Verfügung stand, übernahm Johannes Forner (Leipzig). Vertragspartner des Verlages war inzwischen die Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth als Rechtsnachfolgerin des Richard-Wagner-Familienarchivs geworden.29 Mit dem personellen Wechsel waren kleinere Änderungen der Editionsprinzipien verbunden, die im Vorwort zu Bd. 6 erläutert sind. Nach siebenjähriger Unterbrechung erschienen 1986 und 1988 die Bände 6 und 7. Im Jahre 1991 (also zu einer Zeit, da der Deutsche Verlag für Musik nicht mehr als „Volkseigener Betrieb“ existierte) konnte noch der schon früher vorbereitete Band 8 vorgelegt werden. Band 9, der ebenfalls zur zweiten Phase gehört, erschien wegen verschiedenartiger Komplikationen erst im Jahre 2000; Herausgeber waren Klaus Burmeister (Dresden) und Johannes Forner. Mit dem 1989 eingeleiteten Zusammenbruch des ostdeutschen Staates veränderten sich die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die künftige Arbeit. Der Deutsche Verlag für Musik wurde vom Wiesbadener Verlag Breitkopf & Härtel erworben, der die bereits erschienenen Bände der Wagner-Briefausgabe übernahm und sich zur Fortsetzung des Projekts bereiterklärte. Vom Vorstand der Richard-Wagner-Stiftung wurde Werner Breig (Ruhr-Universität Bochum) mit der Aufgabe betraut, sich um die Weiterführung der Ausgabe zu bemühen. ____________ 29
Die Richard-Wagner-Stiftung wurde im Mai 1973 errichtet. Ein Faksimile der Stiftungsurkunde findet sich bei Wolfgang Wagner, Lebens-Akte. Autobiographie, München 1994, S. 446–462.
Zur Editionsgeschichte der Briefe Richard Wagners
545
Als großes Hindernis bei der Erarbeitung der Briefedition hatte sich erwiesen, dass es keinen Überblick über den Gesamtbestand der Briefe gab, so dass auch niemals ein Editionsplan für die gesamte Ausgabe erstellt werden konnte. Außerdem fehlte es an einer verlässlichen Übersicht über die Standorte der Quellen und über die vorhandenen Ausgaben. Dies hatte zur Folge, dass erstens die früheren Bände der Sämtliche Briefe große Lücken aufwiesen und zweitens für viele Briefe nur nachrangige Quellen herangezogen worden waren.30 Deshalb wurde als Basis für die weiteren Editionsarbeiten zunächst ein Briefverzeichnis in Angriff genommen, das, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, an der Ruhr-Universität Bochum seit 1993 erarbeitet wurde und 1998 im Druck erschien.31 Auf der Grundlage des Briefverzeichnisses konnte erstmals eine Disposition für die ganze Ausgabe erstellt werden. Die Bände 1–8 waren von Band zu Band geplant worden, wobei die Bandgrenzen nach Möglichkeit bei biographischen bzw. schaffensbiographischen Zäsuren gesetzt wurden. Da sich dies nicht für das Ganze des Briefbestandes durchführen lässt, wurde für die folgenden Bände das neutrale Prinzip der Bandgliederung nach Kalenderjahren eingeführt, ein Prinzip, das den Editoren längerfristige Planung und den Benutzern leichtere Orientierung ermöglicht. Auf dieser Basis wurde die Ausgabe von Band 10 an weitergeführt;32 Ende 2014 lagen die Bände bis 19 sowie Band 21/22 vor. Der letzte Band der laufenden Reihe wird die Nr. 34 tragen und die Briefe der Jahre 1882 und 1883 enthalten.33 ____________ 30 31 32
33
Dies war schon 1978 von Egon Voss in seiner Rezension der Bände 1–3 bemängelt worden; vgl. Egon Voss, Wagners „Sämtliche Briefe“?, in: Melos/NZ 1978, S. 219–223. WBV (wie Anm. 7). Die Arbeitsstelle Richard-Wagner-Briefausgabe begann ihre Arbeit in Bochum, siedelte 1998 nach Erlangen und 2008 nach Würzburg über. Als Bandherausgeber sind Dr. Martin Dürrer, Dr. Andreas Mielke, Dr. Isabel Kraft (bis 2006), Dr. Margret Jestremski (2007–2013) und Dr. Angela Steinsieck (seit 2013) tätig. Editionsleiter war anfänglich Werner Breig, der die organisatorische Leitung des Projekts im Vorfeld der Verlagerung des Instituts für Musikwissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg nach Würzburg an Andreas Haug abgab; die Wissenschaftliche Leitung liegt seitdem in den Händen der Bandherausgeber. – Schon für die Arbeit am Briefverzeichnis war ein Wissenschaftlicher Beirat gebildet worden. Er besteht aus dem Editionsleiter der Münchner Richard-Wagner-Gesamtausgabe, dem jeweiligen Leiter der Bayreuther Festspiele, dem Direktor des Richard-Wagner-Nationalmuseums sowie persönlich berufenen Literatur- und Musikwissenschaftlern, z. Zt. Prof. Dr. Dieter Borchmeyer (Heidelberg), Prof. Dr. Werner Breig (Erlangen), Prof. Dr. Sieghart Döhring (Thurnau), Prof. Dr. Andreas Haug (Würzburg), Prof. Dr. Ulrich Konrad (Würzburg), Prof. Dr. Norbert Oellers (Bonn) und Prof. Dr. Siegfried Scheibe (Berlin). – Die Editionsarbeiten werden seit 2006 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als Langzeitvorhaben gefördert. Noch nicht berücksichtigt sind dabei die erforderlichen (voraussichtlich zwei) Supplementbände, in denen die – besonders für die frühere Lebenszeit Wagners zahlreichen – fehlenden Briefe nachzutragen sein werden.
546
Werner Breig
Für die Bände 10ff. wurden neue Editionsrichtlinien festgelegt,34 deren Grundzüge im Vorspann der einzelnen Bände mitgeteilt werden. Für den Zuschnitt der neueren Bände besonders wichtig ist das ungleich größere Gewicht, das die Kommentarteile erhalten; sie nehmen nun etwa die Hälfte eines jeden Bandes ein und erfordern weit mehr als die Hälfte des Arbeitsaufwandes. Dafür musste in Kauf genommen werden, dass die Ausgabe nicht so schnell fortschreitet, wie es bei einer weniger ambitionierten Kommentierung möglich wäre. Sollte es gelingen, die Arbeit an der Edition kontinuierlich fortzusetzen und abzuschließen, dann werden diejenigen Autoren, die im Blick auf das Gedenkjahr 2033 neue Wagner-Biographien verfassen, sich mit einer Materialfülle auseinanderzusetzen haben, die in der Musikerbiographik ein Novum sein dürfte.
Literaturverzeichnis Verzeichnisse und Regesten Emerich Kastner: Wagneriana. Beiträge zur Richard-Wagner-Bibliographie, Bd. 1: Briefe Richard Wagner’s an seine Zeitgenossen (1830–1883), Wien 1885 Emerich Kastner: Briefe von Richard Wagner an seine Zeitgenossen: 1883–1830, Berlin 1897 Wilhelm Altmann: Richard Wagners Briefe nach Zeitfolge und Inhalt. Ein Beitrag zur Lebensgeschichte des Meisters, Leipzig 1905 Werner Breig, Martin Dürrer, Andreas Mielke: Chronologisches Verzeichnis der Briefe von Richard Wagner – Wagner-Briefe-Verzeichnis (WBV), Wiesbaden [u. a.] 1998. Ein AddendaVerzeichnis findet sich auf der Homepage der Richard-Wagner-Briefausgabe (Institut für Musikforschung der Universität Würzburg).
Gesamtausgaben Richard Wagners gesammelte Briefe, hrsg. von Julius Kapp und Emerich Kastner, 2 Bde. (mehr nicht erschienen), Leipzig 1914 (zit. als Kapp/Kastner) Richard Wagner, Sämtliche Briefe (zit. als SBr) Bd. 1–5, hrsg. von Gertrud Strobel und Werner Wolf, Leipzig 1967, 1969, 1975, 1979, 1993 Bd. 6–8, hrsg. von Hans-Joachim Bauer und Johannes Forner, Leipzig 1986, 1988, 1991 Bd. 9, hrsg. von Klaus Burmeister und Johannes Forner, Leipzig 2000 Bd. 10, hrsg. von Andreas Mielke (redaktionelle Mitarbeit: Isabel Kraft), Wiesbaden [u. a.] 2000 Bd. 11, hrsg. von Martin Dürrer (redaktionelle Mitarbeit: Isabel Kraft), Wiesbaden [u. a.] 1999 Bd. 12, hrsg. von Martin Dürrer (redaktionelle Mitarbeit: Isabel Kraft), Wiesbaden [u. a.] 2001 Bd. 13, hrsg. von Martin Dürrer und Isabel Kraft, Wiesbaden [u. a.] 2003 Bd. 14, hrsg. von Andreas Mielke (redaktionelle Mitarbeit: Isabel Kraft), Wiesbaden [u. a.] 2002 Bd. 15, hrsg. von Andreas Mielke (redaktionelle Mitarbeit: Isabel Kraft), Wiesbaden [u. a.] 2005 Bd. 16, hrsg. von Martin Dürrer und Isabel Kraft, Wiesbaden [u. a.] 2006 Bd. 17, hrsg. von Martin Dürrer (redaktionelle Mitarbeit: Isabel Kraft), Wiesbaden [u. a.] 2009 Bd. 18, hrsg. von Andreas Mielke (redaktionelle Mitarbeit: Isabel Kraft), Wiesbaden [u. a.] 2008 ____________ 34
In einer Kurzfassung zum ersten Mal veröffentlicht bei Breig, Probleme einer Gesamtausgabe (wie Anm. 12), S. 21–153.
Zur Editionsgeschichte der Briefe Richard Wagners
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Bd. 19, hrsg. von Margret Jestremski, Wiesbaden [u. a.] 2012 Bd. 21, hrsg. von Andreas Mielke, Wiesbaden [u. a.] 2013 Bd. 22, hrsg. von Martin Dürrer, Wiesbaden [u. a.] 2012 Ein Verzeichnis weiterer Ausgaben von Richard Wagners Briefen findet sich innerhalb des Literaturverzeichnisses von WBV (S. 28–47). Soweit einzelne Ausgaben für die Editionsgeschichte von besonderer Bedeutung sind, sind sie im Text genannt.
Weitere Quellenpublikationen Richard Wagner: Das braune Buch. Tagebuchaufzeichnungen 1865 bis 1832, vorgelegt und kommentiert von Joachim Bergfeld, Zürich, Freiburg i. Br. 1975 Cosima Wagner: Die Tagebücher, hrsg. und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, 2 Bde., München, Zürich 1976/1977 (zit.: CWT) Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain im Briefwechsel 1888–1908, hrsg. von Paul Pretzsch, Leipzig 1934
Zitierte Literatur Breig, Werner: Probleme einer Gesamtausgabe der Briefe Richard Wagners, in: Der Brief in Klassik und Romantik. Aktuelle Probleme der Briefedition, hrsg. von Lothar Blum und Andreas Meier, Würzburg 1993, S. 121–153 Cabaud, Judith: Mathilde Wesendonck ou le rêve d’Isolde, Arles 1990 Deathridge, John: Grundzüge der Wagnerforschung, in: Richard-Wagner-Handbuch, hrsg. von Ulrich Müller und Peter Wapnewski, Stuttgart 1986, S. 803–830 Du Moulin-Eckart, Richard: Cosima Wagner, Bd. II: Die Herrin von Bayreuth, München, Berlin 1931 Hamann, Brigitte: Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth, München 2002 Schüler, Winfried: Der Bayreuther Kreis. Wagnerkult und Kulturreform im Geiste völkischer Weltanschauung, Münster 1971 Voss, Egon: Wagners „Sämtliche Briefe“?, in: Melos/NZ 1978, S. 219–223 Wagner, Wolfgang: Lebens-Akte. Autobiographie, München 1994
Finn Egeland Hansen
The Works of Niels W. Gade (1817–1890)
I.
Introduction
The article Editing in The New Grove Dictionary of Music and Musicians opens with the following definition: “The editing of music is the art of preparing it for publication, especially music composed by someone other than the editor.” This definition comprises two important, albeit not quite unambiguous statements. One is that editing is exclusively about preparing music with a view to printed publication. The other is that the editor should be someone other than the composer of the music in question. Both demand a comment. In some instances even scholarly editing may aim at a specific performance of a work (or several works), without the editor having a printed publication in mind. The idea behind the second statement is obviously that the composer does not edit his own music – he creates a version of it –, and how any given version is treated in connection with an edition proper of the work is another matter. In connection with Niels W. Gade there are very few occasions of editing that did not aim at publication. Of importance is Asger Lund Christiansen’s preparation of a number of unpublished chamber music works with a view to performance and recording rather than printing: first of all the string quartets in F and E minor. Especially with the E minor quartet Christiansen laid down a large amount of labour in editing its five movements, also with respect to their order of succession, simply by means of reading the complex and in many ways difficult sources. In the early Bb major trio Christiansen added 16 bars to the piano accompaniment, which Gade for some reason left out of the otherwise complete 1st movement of the trio. There is no doubt that Christiansen has made a large and meritorious effort for the benefit of the dissemination of Gade’s chamber music. It is a different matter, however, to what extent his work matches the general demands of a scholarly approach – a matter that he never gave many thoughts.
The Works of Niels W. Gade
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Until Gade’s death in 1890 all printed editions of his works, so to speak, have come into being on his own initiative and under his supervision. Gade himself read the proofs of practically all of his works. If we accept the definition in the New Grove this means that all these publications should not be counted among the editions proper of Gade’s works – and consequently not be treated in the present article. Printed editions of Gade’s works after his death are almost exclusively reprints of existing editions. Only in a few cases new engravings were made and in even fewer instances the editions can be considered as scholarly. Among the few exceptions is Steen Lindholm’s edition from 1968 of the works for organ,1 and Bengt Johnsson’s Ausgewählte Klavierstücke.2 In 2001 A-R Editions published the early version of the St. Hans’ Evening Play Overture3 edited by Anna Harwell Celenza. An edition of the D minor violin sonata4 also deserves mentioning in this context. To some extent these editions follow scholarly principles, although they match the demands of a scholarly edition with respect to description of sources, source criticism, editorial guidelines etc. only up to a certain point. The conclusion of the above reflections is that the ongoing publication of Niels W. Gade’s complete works (hereafter Gade: Works) shall be the sole object of the remainder of this article.
II.
Gade: Works
The Foundation for the Publication of the Works of Niels W. Gade was established in 1990 by the Danish Musicological Society (DMS). The members of the DMS agreed that a serious effort to publish the collected works of important Danish composers was about time. Nevertheless, before Niels W. Gade was chosen more than a year’s discussion concerning the organization of the edition and of the question which composer was to be selected took place. Among several options Niels W. Gade was chosen partly because of the quality and scope of his production, partly because he had gained ____________ 1
Niels W. Gade, Orgelkompositioner [Works for Organ], ed. by Steen Lindholm, Copenhagen 1968, 21979 (Edition Wilhelm Hansen, WH 4158). Niels W. Gade, Ausgewählte Klavierstücke, ed. by Bengt Johnsson, Munich 1989 (G. Henle Verlag, HN 430). Niels W. Gade, St. Hans’ Evening Play Overture, ed. by Anna Harwell Celenza (= Recent Research in the Music of the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, vol. 32), Middleton 2001 (A-R Editions). Niels W. Gade, Sonate No. 2 in D Minor op. 21, ed. by Susanne Hoy-Draheim, Wiesbaden 1990 (Breitkopf & Härtel, EB 8458).
1
2 3
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Finn Egeland Hansen
such a measure of international recognition in his lifetime that no other Danish composer has surpassed before or since. Implicit in the DMS’s decision was the notion that an edition of the works of Carl Nielsen was an absolute must, but its launch could and should wait for some years. The Carl Nielsen Edition was initiated much sooner than expected, however, as an overenthusiastic Minister of Cultural Affairs was provoked by a fierce controversy over the performance material for Carl Nielsen’s opera Maskarade in the press. Thus the Carl Nielsen Edition was initiated right away. The board of the Foundation for the Publication of the Works of Niels W. Gade includes: John Bergsagel, Siegfried Oechsle, Peder Kaj Pedersen (the chairman of the DMS), and Finn Egeland Hansen (as chairman). In addition there is an editorial board consisting of the active editors plus members appointed by the board. Niels Bo Foltmann is executive editor. Finally, Anne Ørbæk Jensen who is also the managing director of the foundation takes care of a Niels W. Gade Archive. The edition is issued in seven series: I: Orchestral Works II: Chamber Music III: Works for Keyboard Instruments IV: Choral Works V: Solo Songs VI: Music for the Stage VII: Arrangements and Supplements The works within each series are grouped according to genre and further arranged in a chronological sequence. The edition will comprise 39 volumes, 18 of which have come out until December 2014. Almost all of the volumes published to date belong to series I, II, and III, comprising Gade’s instrumental music. This part of the edition is stipulated to be finished within a few years. The editorial guidelines are embodied partly in the General Introduction to the edition (printed at the beginning of all volumes), partly in the much more detailed Editionstekniske retningslinier, organisation og udgivelsesplan (Editorial guidelines, organisation and plan of publishing) worked out by senior researcher Niels Bo Foltmann (1992 and later in revised editions). These texts only formulate the actual principles of the edition, whereas the background of the various principles and guidelines, including a critical evaluation of them, usually is left out or implied. In the following I shall try to go into these matters in more depth.
The Works of Niels W. Gade
1.
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The Source Situation
Considerably more than half of Gade’s production was published during his lifetime. For these works the printed first edition will serve as the main source for the new edition within Gade: Works. Many juvenile works as well as occasional works and works for the stage from Gade’s mature years, however, will be published for the first time in Gade: Works; for these works the fair copy of the score (usually autograph) functions as the main source. The ballets Napoli and Et Folkesagn (A Folk Tale) are important works within this category. Somewhere in-between are the works to which only a set of instrumental parts was published, e. g. the String Sextet op. 44, the String Quintet op. 8, and the Concert Overture in C major op. 14. Within this category the printed set of parts and the fair copy of the score must in each case compete for the role of the main source. 2.
The Financial situation
Thanks to substantial financial support (ca DKR 10 million) from two large private foundations, Augustinus Fonden and Lundbeckfonden, the production (music engraving, typesetting of text, printing and binding) of all 39 volumes of Gade: Works is secured. The concept presupposes that the editors are musicologists at universities or other institutions who can spend part of their free research time on editing one or more volumes of Gade: Works. The editors receive a token honorarium. 3.
The Scope of Gade: Works
The General Introduction to each volume of the edition reads: The Foundation for the Publication of the Works of Niels W. Gade was established in 1990 for the purpose of publishing editions which are both scholarly and practical of all Niels W. Gade’s finished compositions, including completed individual movements and his arrangements of his own and others’ compositions.
And: The edition (GW) strives to reproduce, after consideration of all known source materials, the “Fassung letzter Hand”. As a rule Gade’s personal copy of the printed score has served as the principal source; where such a source does not exist, the manuscript or the printed parts have been utilized as the principal source. Alternative movements appear in appendices to the respective volumes.
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Finn Egeland Hansen
This also implies what is not to be published in Gade: Works: first and foremost works and movements that are not finished. An example in point is the Second Trio, which is handed down in an autograph manuscript presenting the Trio in short score on two staves with some instrumental indications. Nevertheless, the instrumentation of the work is not complete, and thus it would not be possible to publish it without an unacceptable amount of conjectures. The Allegro Maestoso from a four-movement Organ Sonata constitutes a borderline case. Before publication Gade radically transformed the Organ Sonata into the Three Pieces for Organ op. 22. Passages from the Allegro Maestoso were used as material for the third organ piece. If the Allegro Maestoso is regarded merely as a very early version of the third organ piece, it should not be included in Gade: Works according to the principle of the “Fassung letzter Hand”. But if it is regarded as a piece of music in its own right it should be included. We adopted the latter point of view and placed the Allegro Maestoso in the appendix of the volume with the works for organ (III,3). A number of Gade’s works exist in two versions, the version he originally composed, and a revised version which typically was the result of changes he made when preparing the work for publication. In connection with the revisions Gade went through his works with a critical eye, and in many cases he decided to introduce radical changes. The most radical change was to discard a movement entirely (in extreme cases even two movements) and to substitute it with a new one. There are a number of different reasons why Gade may have decided to take such drastic steps. The most obvious is that the movement, according to the composer’s own opinion, simply wasn’t good enough and for that reason should be replaced by a better one. I think that the removal of the original slow movement of the Eighth Symphony is an example in point. Another reason may rest on stylistic considerations: the movement falls outside the stylistic framework of the work. The replacement of the first movement of the Third Symphony falls into this category: an excellent but slightly heavy “Nordic” movement accompanied in the manuscript by an inscription in runes reading “God gives strength and good fortune” is replaced by a light and transparent classicistic presto. A third reason has to do with formal considerations: an originally four movement overall form like a classical symphony may be changed into three character pieces strung together more loosely with the result that one movement is left over. This is what happened with the Organ Sonata that ended up as Three Pieces for Organ op. 22. Another example is the Trio Novelettes
The Works of Niels W. Gade
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op. 29, where an original four movement form (fast, slow, scherzo, finale) is radically transformed in the following way: 1) the original finale is discarded; 2) two new movements are added; and 3) the succession of the original movements is changed. Here, too, an original classical four-movement structure is transformed into a more loosely connected series, in this case of five movements. But the opposite may also be observed – especially in Gade’s late works. In the string quartet in E minor an original five-movement structure is changed into a classical sonata structure with its four standard movements. It goes for the relatively large number of “left overs” that they are published in Gade: Works provided they may be regarded as completed. They are equipped with a source description and critical comments on a par with other works. They are placed in the appendix of the respective volumes. In a number of cases Gade’s revision of a work led to a complete new version of the work. In this connection transposition plays an important part. The Novelettes for String Orchestra op. 58 was originally composed in Eb major, but during his revision Gade decided to transpose the whole work a semitone upwards to E major. In addition to the transposition Gade made substantial alterations of the musical text. It is works like this that supply the strongest arguments against the sole publication of the “Fassung letzter Hand.” Gade carefully kept sketches, drafts, and of course fair copies of the majority of his works. These sources represent different versions of the works, from the first ideas to the printer’s manuscript. Then follows the engraver’s work, and in the subsequent process of proofreading a number of minor changes are added. I shall not deny that with respect to a few composers it might be relevant to illustrate this long process by publishing all the intermediate stages of the process. But as far as Niels W. Gade is concerned it would – in my opinion – be excessive to publish more than a single version of each work. The choice between the different versions is easy. In the case of Niels W. Gade the “Fassung letzter Hand” is always the best, the most consistent version of the work. 4.
How are the works presented?
The editorial guidelines prescribe a number of rules to be followed by the editors. In the following I shall deal with the most important ones. The General Introduction to the volumes states the following about editorial emendations in the text of the main source:
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Alterations to the principal source are of two kinds: 1) those that modernize or standardize the appearance of the printed text without actually changing the musical text (normally introduced tacitly) and 2) those that affect the musical text in the form of additions or corrections. Changes of the latter type, which may be due to obvious errors in printing or writing, graphic inaccuracies or omissions, will occasion a general or a specific comment in the Critical Report. Completion by analogy and uniformity of parallel passages are important editorial principles of the edition.
Accents and staccato dots I shall start with a number of musical symbols connected by identical or similar problems, exemplified by accents (>) and staccato dots (.). Immediately one might think that there are no problems at all related to the reading of these symbols in a manuscript source. It is, however, very often difficult if not impossible to distinguish between an accent and a short diminuendo hairpin. Composers’ inclination to gradually change the length of hairpins adds further to the difficulty of distinguishing between accents and short hairpins. To solve the problem it will often be necessary to consult parallel passages in the source or to draw on other sources. Some help may also be gained from the position of the symbol, and finally it should be mentioned that the musical difference between an accent and a short diminuendo hairpin does not seem to have been as significant in the 19th century as it is today. The reading of staccato dots is impeded by the fact that identically looking dots are also used with a meaning different from staccato. It is not uncommon that composers furnish the first note heads in an abbreviated passage with a number of dots corresponding to the number of shorter notes into which the note should be divided, for example four dots to a crotchet with two abbreviation slashes. The question is whether this note indicates four semiquavers or four semiquavers with staccato? In the first case we have interpreted the four dots as division dots (note counters), and in the second as staccato dots as well. Again, a consultation of parallel passages may solve the problem. Another possibility would be to render the edition as an exact copy of the source, i. e. as a crotchet with four dots and two abbreviation slashes. This solution, however, conflicts with the rule that the editions in Gade: Works should follow modern conventions, and according to them four dots invariably indicate four notes played staccato. A different – and difficult – part of the problem is how many staccato dots should be added. In 19th century practice it was normal to mark only the beginning of staccato passages with dots. The first problem the editor faces is the
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necessity to decide whether the staccato passage should continue after the last staccato dot, or whether the composer intended it to terminate. An indication of the first is that parallel passages display a different number of dots. If parallel passages in one instance show eight staccato dots, in another six, and maybe five in a third, then the editor may conclude that the composer wrote a more or less random number of dots, and that he meant the staccato passage to continue beyond the dots. The editor’s next problem is then to decide for how long the composer meant the staccato passage to continue. In many cases this problem is solved easily, e. g. if the notes with staccato dots are followed by longer notes which forbid the addition of staccato dots, or in cases where the composer in a parallel passage wrote all the staccato dots. In such instances completion by analogy is right at hand. The editorial decision is more difficult if the staccato passage is part of a crescendo say from piano to fortissimo. It is almost natural that the light and airy staccato terminates as the music becomes louder. This can be confirmed by many passages written out fully in one or more sources. But where precisely do the staccato dots end? In some cases the editor may turn to the addition of a simile, which on the one hand indicates that the staccato continues but on the other does not precisely specify where it ends. Above we dealt with the addition of symbols on the basis of “horizontal” considerations – mainly exemplified by staccato dots. We shall now turn to the same problem under a “vertical” point of view. In many cases it is legitimate in a given passage to add staccato for example to the clarinets if the oboes play staccato. But it is in no way an absolute rule that one may add staccato dots by analogy with reference to another instrument playing a similar melodic line. As a general guideline it is less risky to do so within the same group of instruments than it is between groups, e. g. oboe and violin. But again, no clear-cut rules are formulated in the editorial guidelines of Gade: Works as to where it is legitimate to complete by analogy from one instrument to another. An artistic evaluation of the individual cases is required, and consequently different editors will come up with different results. Double parts (e. g. two oboes on the same staff) constitute a special problem. If the two instruments are notated with single-stems, accents, staccato dots etc. apply to both parts. And in this matter there is no difference between 19th century and present-day practice. The problem arises when the two parts are notated with double-stems (oboe 1 with up-stems and oboe 2 with downstems). The engravers of the 19th century very often put accents, staccato dots etc. only in the upper part, which conflicts with modern practice, demanding that in double-stem passages the additional symbols are written in both parts. If
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the two parts have the same rhythm one may assume that staccato dots and accents apply to both parts. But as the engraver’s main argument for using double stems is that the rhythm in the two parts is not the same, the editor is very often faced with the problem of having to decide whether an accent in the upper part is valid for the lower part, too. And once more: there is no set of absolute rules the editor can lean on. Rather, he must take on his responsibility and make a decision, even if other musicologists may come up with different solutions. Ties and slurs The most important rule for the notation of ties and slurs is that so-called “Kettenbögen” (i. e. a series of ties and slurs in which the second starts where the first ends) are avoided in Gade: Works. Instead, only a single slur is employed running from the beginning to the end of a slurred passage. Ties are kept in their original positions. As a rule, ties and slurs are placed above the notes, except when all notes encompassed by the slur have up-stems in which case the slur is placed below the notes. This rule may be regarded as purely graphical, even aesthetical. In some instances, however, it causes editorial problems: long slurs either take up a lot of space, or they will become very flat; the first case results in lack of space, the second that in certain positions the slur might be mistaken for a staff line. 5.
Scholarly/practical
The most far-reaching demand to the editions of Gade: Works is found in the very first sentence of the General Introduction: The Foundation for the Publication of the Works of Niels W. Gade was established in 1990 for the purpose of publishing editions which are both scholarly and practical of all Niels W. Gade’s finished compositions […],
the crucial formulation being “which are both scholarly and practical.” First: are there any principal discrepancies between a scholarly and a practical edition? The editor of a purely practical edition will often be a (famous) singer or musician – and the edition will mirror the artist’s personal reflections on how the work should be performed. And more important: The editor of such an edition is responsible only to a limited degree for the result, which means that there is no higher authority than his own artistic taste. The scholarly editor must also make decisions based on artistic considerations from time to time. However, it is a risky business to let oneself be guided by artistic con-
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siderations. This risk becomes the more evident, the older the music in question is. It is a fact that the musical notation throughout its more than 1000 years’ history yielded more and more details and a continuously greater precision: while the notational systems of the Middle Ages and the Renaissance are confined to reflect pitch and duration (and sometimes not even that), today’s conductors may instruct the musicians to play exactly as the music is written or printed – nothing more, nothing less. The editions e. g. of violin sonatas from the baroque era by some great violinist are often supplied with fingerings, slurrings and dynamic indications including hairpins, of which there is no evidence in the sources. And frequently it does not even become clear from the edition what goes back to the composer and what to the editor. This does not necessarily mean that a musician using such an edition will make a poor interpretation of the work in question. It may be both consistent and artistically satisfactory. But the crucial point is that this kind of edition must not worry about whether it is such or not. And it does not need to argue for a specific artistic choice, a phrasing, a dynamic course, or a tempo indication by referring to the sources. This is precisely where the scholarly edition is much more constrained. The scholarly edition may look for the composer’s original conception of the work, it may try to find the last will of the composer, it may try to find out what it looked like at a specific performance during the composer’s lifetime, or something else. The important thing is that the scholarly editor must indicate the sources he leans on and convincingly argue that his choice of sources is reasonable. Furthermore, he must comment on every deviation from the main source in the critical report, which forms an integrated part of the edition. An edition that pretends to be both scholarly and practical must live up to the scholarly edition’s demand with respect to source criticism and documentation. In this regard there can be no leeway; there is no possibility of going half the way with reference to the practical aspect of the edition. But in a number of areas the scholarly and practical aspects may meet without concessions concerning the crucial scholarly demands. In the following I shall briefly discuss a number of these areas. 6.
How can a scholarly edition meet the demands of a practical edition?
Part of the information on a page of music is of a musical nature, another part is mainly graphical or aesthetical. Only with respect to the latter it is acceptable to yield to the special demands of the practical edition.
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The general appearance of the music pages The editorial guidelines of Gade: Works states: The musical text is presented uncluttered by editorial alternatives, additions or annotations; only in very special cases is a footnote used to refer to a comment in the Critical Report.
This formulation distances itself from certain editions especially of music from the Middle Ages and the Renaissance, in which the enumeration of alternative readings from many different sources takes up much more space on the page than the music itself. In extreme cases scholars who study such editions may feel like participants of an obstacle race, and even more so the musician, singer or conductor using the edition. In many editions the use of an alternative typeface and size is used to mark off editorial emendations. The reason why Gade: Works repudiates this principle is that it muddles the clarity and comprehensibility of the music page and because the use of italics in editorial additions where the normal type face consists of roman letters (and vice versa) may confuse the reader. Similarly, the use of small print for additions is avoided in Gade: Works, partly because it disturbs the graphical/aesthetical appearance of the page, partly because the user may have difficulties in distinguishing the different type sizes. Especially if there is a long distance (several pages) between two accents it may be difficult to acknowledge and remember the difference in terms of size. This holds true even more so with respect to staccato dots where the inevitable variation of the dot-gain of the off-set print may render it virtually impossible to distinguish between normal and smaller type. Finally, the use of different sizes of the symbols may leave the impression that there is a difference of value between the original and the added (= smaller) symbols. And this may lead to gross misunderstandings. In some editions additions to the original musical text are placed in various types of brackets, a procedure which is also rejected by Gade: Works, where additions of any kind appear in exactly the same way as if they were part of the main source. It is, however, an indispensable demand that additions are accompanied by a comment in the critical report. It may be (and has been) a point of criticism against Gade: Works that the user is unable to distinguish added symbols from the original text without consulting the critical report. I shall answer this objection by asking a counter question: For what reason is it important for a user to know whether a given staccato dot is added or whether it is part of the main source? In my opinion the answer is that per se it is unimportant to know. For the user it is relevant
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only to know why the staccato dot was added; and to understand thus it is necessary to consult the critical report. In other words: If a user wishes to understand the background of the editorial emendations he must take the trouble to study the critical report – even though this may be a time-consuming task – and not uncritically be satisfied with the simple information that a given accent or staccato dot was added. When it comes to orchestral works a score may serve two main purposes. One is the use by the conductor, the other by the musicologist who wants to study the work. In the same category as the latter is the listener who uses it as an aural score. For these purposes there are no conflicting interests as regards demands on and wishes to the score. Maybe the listener would prefer a smaller format than the conductor, and the musicologist may want the same, but that is all. With respect to the contents including the graphical/aesthetical aspects one and the same score may serve these purposes equally well. It is different with chamber music with piano, songs with piano accompaniment – in short, works where the score also serves as performance material for a pianist. As a piano part it must meet a number of special demands from the pianist, and these may conflict with the scholarly disposition of the edition. Convenient page turns The pianist expects that the editor of his music has addressed the problem of convenient page turns. Ideally, the pianist only has to turn pages when one of his hands is free to do so. If this is not possible the editor should try to place the page turn where the general activity in the piano is relatively low. It is a fact, however, that it is not always possible to fully satisfy the pianist: e. g. in long and fast passages with a high level of activity in both hands. If such a passage takes up more space than a spread, one or more page turns will be difficult for the pianist. The price for convenient page turns is an uneven music print. On some pages the print will be more condensed than it is to be desired, on others more open. Here graphical/aesthetical considerations had to give way to practical wishes, while there is no conflict at all with the scholarly aspects of the edition. The wish to avoid high traffic density between the two staves of the piano part A wish expressed by many pianists is that there should not be too many additional symbols between the two staves. By additional symbols I mean everything that usually may be placed between the staves: dynamic markings (f, p,
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mf etc.), hairpins, slurs and ties etc. Especially long and consequently high slurs may disturb the readability of the page. The problem of slurs disturbing the graphic appearance of the page may be solved in various ways. The simplest solution is to move the slurs to the other side of the notes so that slurs are either above the upper staff or below the lower. To be sure, this will often violate the rule of slurring on staves with one part: slurs are positioned above the notes unless all notes involved are stemmed upward – in this case it is placed below the notes. By breaking this rule – which after all is merely a graphical/aesthetical norm – one may, in many cases, meet the wishes of the performing pianist. Correspondingly, hairpins and dynamic markings, whose normal position is between the staves, in certain situations may be moved to positions above the upper staff or below the lower. Passages where the notes on each staff form two (or more) independent parts – the upper parts notated with upward stems the lower parts with downward stems – constitute a more complex problem. Ties and slurs in piano parts with more than one part on each staff As the conclusion of this short survey of the editorial guidelines of Gade: Works I shall briefly address this problem that concerns both the scholarly and practical aspects of the edition. In an ordinary orchestral score the notation of double parts (e. g. two oboes) presents no particular problems: there are strict and unambiguous rules for the positioning of additional symbols including ties and slurs in notations with single and double stem. There are no such clear-cut rules when it comes to the notation of two-staff piano music. For two reasons: first, in the notation of piano music there is (normally) no fixed number of parts assigned to the staves. Secondly, any rigid set of rules will almost unavoidably now and again result in higher “traffic density” of the additional symbols between the staves. Finally, it is a fact that composers like Niels W. Gade (and also his publishers) use slurs in piano notation rather sparingly. In the following I shall describe a situation, which in many respects may be regarded as a model for the problems: A melodic phrase in the right hand of the piano (two bars) is basically written in two-part, non-homorhythmic harmony; it is notated with double stems in the first bar and single stems in the second. The two subsequent bars repeat this structure, but the parts have changed position. In the first two bars each of the two parts are slurred while in the two last bars only the upper part is slurred. This is an obvious inconsistency, and a present-day editor will not
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hesitate to add the missing slur to the lower part of the two last bars. Example 1 shows the 1st movement (bars 255–258) of the first edition of Niels W. Gade, Violin Sonata No. 2 in D minor op. 21, published by Breitkopf & Härtel in 1849.
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Example 1: Violin Sonata No. 2 op. 21, bars 255–258 (First edition).
In the earliest fair copy of this sonata (source C) Gade places slurs to all four phrases, while the printer’s manuscript (source B) shows the same slurring as the printed first edition. The left hand of the piano is structured very much like the right hand; the printed edition leaves out the slur to the upper part in bars 1–2, while bars 3–4 have both slurs. Source C also has all four slurs here, source B the same as the first edition. The evident explanation of the loss of slurs in the printer’s manuscript and the printed edition is that the engraver wanted to save space and to meet the wish of the pianist to have as few symbols between the staves as possible. Example 2 shows the same bars as they appear in Gade: Works.
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Example 2: Violin Sonata No. 2 op. 21, bars 255–258 (Gade: Works).
This example is one among hundreds of others, and the composer’s choice in many instances seems to be rather arbitrary. Of course, the question is how the editor should proceed in general. The easiest situation is if the composer notated all slurs in a parallel passage or in another source, which enables the editor to add missing slurs by analogy. But how does he proceed if there is no paral-
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lel passage? He then may refer to a “similar” passage. This is, however, a dangerous approach because “similar” is open to an extremely wide spectrum of interpretations. And the editor must always bear in mind that a pianist more or less explicitly wants as few symbols between the staves as possible.
III.
The Effects of Gade: Works
It is of course difficult to foresee in what ways and how great an impact Gade: Works will have on the reception of the music of Niels W. Gade – especially in a long-term perspective. The most significant effect lies in the simple fact that with Gade: Works it is possible for the first time to study and perform Gade’s complete œuvre – including the large number of works that are published for the first time. When Gade: Works is completed all his works will be accessible in a uniform edition, and the publication of the performance material will make it possible for musicians, singers, and conductors to devote themselves to any specific selection of the works of this great Danish composer. It is a fact that Gade’s national and international reputation declined rather rapidly after his death in 1890.5 This decline was accompanied by a number of myths, e. g. that Gade’s approach to the compositional process was superficial and uncritical and that he never returned to a work once he had signed the manuscript. It is true that Gade never published his works in revised editions as some of his contemporary composers did. But the process leading up to the first edition of a work was often very long and involved thorough and critical revision, as demonstrated above. Another myth is that Gade’s musical style did not develop since the 1850s. It is true that his musical style did not develop in the direction of program music, as did the mainstream of orchestral music in the second half of the 19th century. On the contrary: Gade’s late musical style was more characterized by a retrospective attitude with a focus on classicistic transparency, which is not the same as stagnation. With Gade: Works a framework is being established allowing musicologists to reach at a more detailed and accurate picture of Niels W. Gade as a 19thcentury composer. It is my hope that some of the questions I have brought up in this article will be discussed further among scholars in the years to come. ____________ 5
See Siegfried Oechsle, Gefeiert, geachtet, vergessen. Zum 100. Todestag Niels W. Gades, in: Dansk Årbog for Musikforskning 19 (1988–1991), p. 171.
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Editions Niels W. Gade: Orgelkompositioner [Works for Organ], ed. by Steen Lindholm, Copenhagen 1 1968, 21979 (Edition Wilhelm Hansen, WH 4158) Niels W. Gade: Ausgewählte Klavierstücke, ed. by Bengt Johnsson, Munich 1989 (G. Henle Verlag, HN 430) Niels W. Gade: Sonate No. 2 in D Minor op. 21, ed. by Susanne Hoy-Draheim, Wiesbaden 1990 (Breitkopf & Härtel, EB 8458) Niels W. Gade: St. Hans’ Evening Play Overture, ed. by Anna Harwell Celenza (= Recent Research in the Music of the Nineteenth and Early Twentieth Centuries, vol. 32), Middleton 2001 (A-R Editions) Until December 2014 the following volumes of Gade: Works appeared: I,2: Symphony No. 2, ed. by Niels Bo Foltmann (1999) I,3: Symphony No. 3, ed. by Niels Bo Foltmann and Finn Egeland Hansen (2001) I,4: Symphony No. 4, ed. by Niels Bo Foltmann (1995) I,5: Symphony No. 5, ed. by Niels Bo Foltmann (2007) I,6: Symphony No. 6, ed. by Jan Maegaard (2002) I,7: Symphony No. 7, ed. by Jan Maegaard (2001) I,8: Symphony No. 8, ed. by Jan Maegaard (1998) I,9: Concert Overtures op. 1, 7, 14, ed. by Finn Mathiassen (2002) I,10: Concert Overtures op. 37, 39, A Summer Day, ed. by Peder Kaj Pedersen (2011) I,11: Suites for Orchestra op. 55, 61, ed. by Bo Marschner (2004) I,12 Violin Concerto op. 56, Novelettes op. 53, 58 ed. by Peder Kaj Pedersen and Thomas Holme (2003) II,1: Octet, Sextet and Quintets for Strings, ed. by Finn Egeland Hansen (1995) II,2: String Quartets, ed. by Finn Egeland Hansen (1997) II,3: Works for Piano Quartet and Piano Trio, ed. by Finn Egeland Hansen (2000) II,4: Works for Violin (Clarinet) and Piano, ed. by Finn Egeland Hansen (2008) III,3: Works for Organ, ed. by Henrik Glahn (2005) IV,1: Comala op. 12, ed. by Axel Teich Geertinger (2013) VI,2a/b: Et Folkesagn, ed. by Anne Ørbæk Jensen, Knud Arne Jürgensen and Niels Krabbe (2009)
Literature Celenza, Anna Harwell: The Early Works of Niels W. Gade. In Search of the Poetic, Aldershot 2001 Fog, Dan: N. W. Gade-Katalog Verzeichnis der im Druck erschienenen Kompositionen von Niels W. Gade (1817–1890), Copenhagen 1986 Hansen, Finn Egeland: Niels W. Gades samlede værker. Det hidtil største danske nodeudgivelsesprojekt, in: Magasin fra Det Kongelige Bibliotek 5 (1990), pp. 5–18 Hansen, Finn Egeland: For første gang udgives Niels W. Gades samlede produktion, in: Lundbeckfondens Årsregnskab 1990 Hansen, Finn Egeland: Myter omkring Niels W. Gade, in: Lundbeckfondens Årsregnskab 2003/ 2004 (with English Summary) Hansen, Finn Egeland: The Niels W. Gade Edition, in: Nordic Music Editions. Symposium September 1–2, 2005. Proceedings, ed. by Niels Krabbe, Copenhagen 2006, pp. 76–80 Jensen, Anne Ørbæk (ed.): Niels W. Gade Newsletter, issued by the Niels W. Gade Archive, The Royal Library Copenhagen. No. 1 (September 1990) – No. 8 (April 1995). The Newsletter contains general information about Gade: Works Siegfried Oechsle: Gefeiert, geachtet, vergessen. Zum 100. Todestag Niels W. Gades, in: Dansk Årbog for Musikforskning 19 (1988–1991), pp. 171–184 Sørensen, Inger: Niels W. Gade. Et dansk verdensnavn (Niels W. Gade. A Dane of International Renown), Copenhagen 2002 Sørensen, Inger (ed.): Niels W. Gade und sein europäischer Kreis. Ein Briefwechsel 1836–1891, Copenhagen 2008
Michael Struck, Katrin Eich
Zur Edition der Musik von Johannes Brahms
I.
Zur Drucklegung von Brahms’ Werken zu Lebzeiten des Komponisten
Ein Überblick über Geschichte und Möglichkeiten der Edition von Johannes Brahms’ Musik hat sicherlich nicht so viele editionsmethodische Wege und Irrwege einzukalkulieren, wie es bei Musik des 16.–18. Jahrhunderts der Fall ist. Denn die Notentexte von Brahms’ Werken gelangten in der Regel nur noch durch Drucke an die Öffentlichkeit, wobei der Komponist die Drucklegung überwachte und an ihr beteiligt war. Eine historisch-kritische Auseinandersetzung mit seinen Werktexten und der Geschichte ihrer Veröffentlichung sollte daher bei der Publikation zu Brahms’ Lebzeiten ansetzen, wobei die im späteren 19. Jahrhundert üblichen, zumindest bei Europas führenden Verlagen standardisierten Publikationsprozesse mitzubedenken sind. Seit Ende 1853 erschienen Brahms’ Werke in einer überschaubaren Zahl von Verlagshäusern.1 Diese Zahl reduzierte sich in den Jahrzehnten bis zu Brahms’ Tod (1897) letztlich auf zwei: Dabei wurde der zunächst in Bonn, später in Berlin ansässige Verlag N. Simrock zu Brahms’ Hauptverlag; einige Werke erschienen zudem im Leipziger Musikverlag C. F. Peters, den der Komponist nicht zuletzt aufgrund seiner preiswerten Ausgaben schätzte. Für den jüngeren Brahms spielten zudem zwei andere Editionshäuser eine wichtige Rolle: Der renommierte Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel brachte gleich die ersten vier Werke und später noch weitere Kompositionen unterschiedlicher Gattungen heraus, brüskierte Brahms jedoch vor allem Mitte der 1860er Jahre durch die Ablehnung mehrerer Werke und die Art der Ablehnung so sehr, dass dieser dort nach 1864 keine Werke mehr erscheinen ließ. (Allerdings arbeitete Brahms später an mehreren von Breitkopf & Härtel publizierten Gesamtausgaben mit.) Besonders wichtig für die Verbreitung für Brahms’ Musik war außerdem der Verlag von Jakob Melchior Rieter-Biedermann (Winterthur bzw. Leipzig). Dieser ____________ 1
Vgl. Margit L. McCorkle, Johannes Brahms. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis, München 1984, S. 810f.
Zur Edition der Musik von Johannes Brahms
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übernahm ein so umstrittenes Werk wie das 1. Klavierkonzert op. 15, aber auch Ein deutsches Requiem op. 45, das – fast gleichzeitig mit den bei Simrock erschienenen Ungarischen Tänzen – den eigentlichen Durchbruch von Brahms’ Musik bedeutete. Fritz Simrock verstand sich spätestens in den 1880er Jahren so sehr als Brahms’ eigentlicher Verleger, dass er versuchte, bei anderen Verlagen erschienene Brahms’sche Werke aufzukaufen, was ihm im Falle der bei Breitkopf & Härtel publizierten Kompositionen auch gelang. Der Publikationsprozess war zu Lebzeiten von Brahms zwar weitgehend standardisiert, doch sind in den Jahrzehnten seines Wirkens zwei deutliche Veränderungen zu konstatieren: 1. Von den ersten Werken für bzw. mit Orchester erschienen zwar gestochene (Orchester- bzw. Solo-)Stimmen. Die Partituren gab es dagegen entweder nur in lithographierter Kopistenabschrift (Autographie) – wie im Falle der 1. Serenade op. 11, von der erst 1906, also posthum, eine gestochene Partitur erschien – oder zunächst nur als Leih-Abschrift wie beim 1. Klavierkonzert op. 15, die erst 1874, also rund ein Dutzend Jahre nach dem Druck von Klavier- und Orchesterstimmen, durch eine gedruckte Partitur ersetzt wurde. Der besonders kostenaufwendige Partiturstich war für Verleger bei Werken eines jungen Komponisten anfangs offenbar zu riskant. 2. Erschienen Brahms’ Werke in den 1850er und 1860er Jahren zunächst in mehreren Plattendruck-Auflagen und erst später im Flachdruck (der durch ein spezielles Transfer-Verfahren von den Stichplatten abgenommen wurde), so verschob sich das Bild in den 1870er Jahren immer mehr zugunsten des Flachdruckes, der praktisch unbegrenzt viele Abzüge erlaubte. Nun wurden nur noch relativ kleine Plattendruck-Auflagen hergestellt, die zumindest teilweise für den Komponisten und seinen Freundeskreis gedacht waren. Bei Liedern enthalten sie nur den deutschen Gesangstext, während die folgende früheste lithographische Massenauflage bereits den englischen Text aufweist, der inzwischen auf der Stichplatte im frei gelassenen Raum hinzugefügt worden war, so dass der Transfer auf den Lithographiestein erfolgen konnte. Ab der 3. Violinsonate op. 108 (erschienen 1889) sind übrigens überhaupt keine Plattendruck-Auflagen mehr nachweisbar.2 Brahms’ Beteiligung an der Drucklegung seiner Werke bedeutete zunächst, dass er die autographe oder abschriftliche Stichvorlage vor der Übersendung an den Verlag noch einmal durchging. Vor allem Orchester-, aber auch zahlreiche Kammermusikwerke wurden zudem vor der Publikation mehrfach im Zusammenhang mit Proben und Aufführungen evaluiert und revidiert. Überdies war Brahms am Korrekturlese-Prozess beteiligt. Dabei suchte er nicht nur ____________ 2
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so wie Stecherei und Verlagslektorat nach Stich- und unentdeckt gebliebenen Kopistenfehlern sowie ggf. eigenen Schreibversehen, sondern nahm auch noch kompositorische Korrekturen vor. Dies belegen beispielsweise Platten-Korrekturspuren, die sich schon im Druckbild mancher Exemplare des Scherzos op. 4 finden, sowie erhaltene Korrektur- und sonstige Vorabzüge, etwa der erheblich überarbeitete Korrekturabzug der 3. Klaviersonate op. 5.3 Allerdings sind publikationsrelevante Korrekturabzüge überwiegend verschollen. Auch LesartenDivergenzen zwischen Stichvorlage und Erstdruck, die nicht als Stecherfehler einzustufen, sondern nur auf Eingriffe des Komponisten beim Korrekturlesen zurückzuführen sind, belegen indirekt Brahms’ Mitwirkung an dieser Phase der Drucklegung. Als Illusion erweist sich indes die Vorstellung, Brahms habe die von ihm in Auftrag gegebenen Kopistenabschriften penibel kontrolliert, den Druck seiner Werke lückenlos überwacht und verbliebene Fehler des Notentextes in den ihm von den Verlegern überlassenen Druckexemplaren (Handexemplaren) systematisch aufgespürt und vermerkt. Je nach den äußeren Umständen bzw. der Eile bei der Drucklegung schwankte auch die Korrekturintensität. So sind die Erstdrucke Brahms’scher Werke inhaltlich von wechselnder Notentext-Qualität und transportieren in mehr oder weniger starkem Maße Fehler, die zumeist auf Kopisten und Stecher zurückzuführen sind. Der Erstdruck von Partitur und Stimmen der 3. Symphonie op. 90, an dessen Korrekturlesung Brahms wegen einer Italienreise bestenfalls partiell beteiligt war, muss wohl als fehlerhafteste Druckausgabe gelten, die zu Brahms’ Lebzeiten erschien.4 Brahms selbst korrigierte in manchen Fällen in seinen Handexemplaren Fehler und vermerkte Änderungen. Doch nicht alle Eintragungen – sofern sie überhaupt von ihm stammen – dürften eine „Fassung letzter Hand“ darstellen. Manche scheinen vielmehr situativ bedingt, das heißt an bestimmte Aufführungskonstellationen gebunden gewesen zu sein oder stellten rein experimentelle Änderungsversuche dar.5 Manche Fehlerkorrekturen und nachträgliche ____________ 3
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Michael Struck, Kann man Brahms gut edieren? Korrekturspuren, Mikrovarianten und Aufführungstraditionen als editorische Hürden und Hilfen, in: Internationaler Brahms-Kongreß Gmunden 1997. Kongreßbericht, hrsg. von Ingrid Fuchs, Tutzing 2001, S. 630–635; McCorkle, Werkverzeichnis (wie Anm. 1), S. 15f. Johannes Brahms, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, bis 2011: hrsg. von der Johannes Brahms Gesamtausgabe e. V., Editionsleitung Kiel, in Verbindung mit der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, ab 2012: hrsg. vom Musikwissenschaftlichen Institut der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel in Verbindung mit der Johannes Brahms Gesamtausgabe e. V. und der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, München 1996ff. (nachfolgend: JBG): Symphonie Nr. 3 F-Dur opus 90, Serie I, Bd. 3, hrsg. von Robert Pascall, München 2005, S. XXIII–XXVI, 151 und passim. Robert Pascall, Brahms and the Definitive Text, in: Brahms. Biographical, Documentary and Analytical Studies, hrsg. von Robert Pascall, Cambridge [u. a.] 1983, insbesondere S. 71ff.
Zur Edition der Musik von Johannes Brahms
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kompositorische Änderungen in den Handexemplaren korrespondieren allerdings mit Brahms’ Schreiben an Verleger, in denen entsprechende Eingriffe gewünscht wurden und in der Regel im Stichbild späterer Auflagen ausgeführt waren.
II.
Brahms-Edition in der Zeit von Brahms’ Tod (1897) bis zum Ablauf der Schutzfrist (1927)
Nach Brahms’ Tod am 3. April 1897 und der Beilegung des Rechtsstreits um seinen Bücher- und Musikalien-Nachlass im Jahr 19006 erschienen 1902 gemäß Brahms’ testamentarischer Verfügung im Simrock-Verlag die Elf Choralvorspiele für Orgel unter der Opusnummer 122. Bis in unsere Zeit kamen noch weitere zuvor unveröffentlichte Brahms’sche Werke und Bearbeitungen an die Öffentlichkeit. Hierum machte sich zunächst vor allem die 1906 gegründete Deutsche Brahms-Gesellschaft Berlin verdient, die auch erstmals den ScherzoSatz für Violine und Klavier WoO 2 veröffentlichte – Brahms’ Beitrag für die sogenannte F.A.E.-Sonate, die als Gemeinschaftswerk von Robert Schumann (2. und 4. Satz), Albert Dietrich (1. Satz) und Brahms (3. Satz) im Oktober 1853 für Joseph Joachim entstanden war.7 Noch bis zum Ablauf der 30-jährigen urheberrechtlichen Schutzfrist nach Brahms’ Tod blieb demgegenüber dem Simrock-Verlag das Monopol an Brahms’ Werken erhalten. Als 1901 nach dem Tod Fritz Simrocks dessen Neffe Hans Simrock die Geschäftsführung übernommen hatte (1910 gefolgt von Fritz A. Auckenthaler, dem Sohn von Fritz Simrocks Tochter Else), erlaubte der Verlag anderen Verlagen zunehmend die Publikation von Lizenzausgaben (z. B. Universal-Edition oder Ernst Eulenburg). Durch den Ankauf des Verlages von Bartholf Senff im Jahr 1907 sicherte sich Simrock die Rechte an den dort verlegten Frühwerken von Brahms. Im Übrigen brachte der Simrock-Verlag im Wesentlichen Neuauflagen – teilweise mit redaktionellen, aber auch inhaltlichen Änderungen am Notentext – sowie neue Bearbeitungen von Brahms’ Werken heraus und bot die erheblich verbilligte „Simrock-Volks-Ausgabe“ der noch urheberrechtlich geschützten Werke an. Im Hinblick auf Neuauflagen und Bearbeitungen verfuhren die beiden anderen größeren „Brahms-Verlage“ – C. F. Peters sowie der 1917 von diesem angekaufte Verlag Rieter-Biedermann – ähnlich.8 ____________ 6 7 8
Vgl. Otto Biba, New Light on the Brahms Nachlass, in: Brahms 2. Biographical, Documentary and Analytical Studies, hrsg. von Michael Musgrave, Cambridge 1987, S. 41. Vgl. McCorkle, Werkverzeichnis (wie Anm. 1), S. XXXII, 811 und passim. Vgl. Donald M. McCorkle, The N. Simrock Thematic Catalog of the Works of Johannes Brahms [Thematisches Verzeichniss sämmtlicher im Druck erschienenen Werke von Johannes
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Nicht zuletzt um konkurrenzfähig zu bleiben, brachte der Simrock-Verlag zunehmend auch urheberrechtlich neu geschützte Revisionsausgaben Brahms’scher Werke auf den Markt, wobei die Herausgeber wohl teilweise auf handschriftliche Quellen zurückgriffen. Für diese Editionen wurden auch namhafte Künstler und Instrumentallehrer herangezogen wie etwa der Pianist Moritz MayerMahr für Klavierwerke und der Geiger Ossip Schnirlin für Kammermusikwerke und das Doppelkonzert op. 102.9 Allerdings hatte es von fremden Herausgebern betreute Ausgaben auch bereits zu Brahms’ Lebzeiten gegeben, beispielsweise im Fall der Ungarischen Tänze WoO 1: Nachdem 1880 deren zweite Serie mit Nr. 11–21 für Klavier zu vier Händen erschienen war, kamen 1881 zwei neu gestochene Sammelbände aller Tänze für Klavier zu vier bzw. zu zwei Händen auf den Markt, die offenbar vom Leipziger Komponisten und Musikpädagogen Salomon Jadassohn ohne Zutun von Brahms „revidiert“ worden waren; der Band mit den zweihändigen Tänzen umfasste dabei Nr. 1– 10 in Brahms’ eigener, 1872 erstmals erschienener Version und Nr. 11–21 in der – hier anonym publizierten – Bearbeitung Theodor Kirchners.10
III.
Die Ausgabe Sämtlicher Werke (1926/1927)
Die auslaufende Schutzfrist11 brachte zunächst ein Großprojekt des Leipziger Verlages Breitkopf & Härtel: die Ausgabe Sämtlicher Werke in 26 Bänden, die 1926/192712 als „Ausgabe der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien“ an die Öffentlichkeit kam.13 Tatsächlich schien die Gesellschaft der Musikfreunde für __________
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Brahms], mit Einleitung, Addenda und Corrigenda versehen, New York 1973, S. XIXff.; McCorkle, Werkverzeichnis (wie Anm. 1), S. XXVIff.; Otto Lessmann, Eine neue BrahmsAusgabe und Anderes, in: Allgemeine Musik-Zeitung, Jg. 28, Nr. 45 (8. November 1901), S. 728f. Vgl. Erich H. Müller, Johannes Brahms’ Revisionsausgaben, in: Verlagswerke des Hauses N. Simrock aus dem letzten Jahre (= Simrock-Jahrbuch, Bd. 2), Berlin 1929, S. 201f. JBG, Klavierwerke ohne Opuszahl, Serie III, Bd. 7, hrsg. von Camilla Cai, München 2007, S. 179f.; Camilla Cai, Historische und editorische Probleme bei den Ungarischen Tänzen von Johannes Brahms, in: Johannes Brahms. Quellen – Text – Rezeption – Interpretation. Internationaler Brahms-Kongreß Hamburg 1997, hrsg. von Friedhelm Krummacher und Michael Struck in Verbindung mit Constantin Floros und Peter Petersen, München 1999, S. 185–187. Alexander Pfannenstiel, Eine Kulturtat ersten Ranges. Gesamtausgabe der Werke von Brahms, in: Rheinisch-Westfälische Zeitung, 2. Dezember 1925, S. 6; Gustav Kirstein, Brahms, Bruckner und die Schutzfrist, in: Vossische Zeitung. Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen, 27. Juli 1926, Unterhaltungsblatt, S. 2. Zur zeitlichen Eingrenzung der Veröffentlichung vgl. Michael Struck, Johannes Brahms’ kompositorische Arbeit im Spiegel von Kopistenabschriften, in: Archiv für Musikwissenschaft 54 (1997), S. 2 mit Anm. 7. Johannes Brahms, Sämtliche Werke. Ausgabe der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, 26 Bde., hrsg. von Hans Gál und Eusebius Mandyczewski, Leipzig 1926/1927; Nachdruck 1964 (nachfolgend: Sämtliche Werke). 1949 wurde für den amerikanischen Markt ein leicht revidierter Nachdruck durch J. W. Edwards, Ann Arbor, Michigan (vgl. dazu Donald M. McCorkle
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eine solche Aufgabe prädestiniert zu sein: Brahms, der 1872–1875 ihr künstlerischer Leiter gewesen und 1876 zum Ehrenmitglied ernannt worden war, hatte der Gesellschaft seinen Nachlass vermacht, der nicht nur die Handexemplare seiner Werke, sondern auch eine Vielzahl zumeist autographer Quellen umfasst. Die Herausgeber Eusebius Mandyczewski und Hans Gál standen ihrerseits jeweils für Tradition bzw. Erneuerung der Brahms-Pflege: Der Musikforscher und Komponist Eusebius Mandyczewski, Archivar der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und erfahrener Editor, bildete eine Brücke zur BrahmsZeit, da er mit Brahms in dessen späteren Wiener Jahren intensiven Umgang gepflegt hatte. Der weitaus jüngere Wiener Komponist und Musikwissenschaftler Hans Gál war Schüler Mandyczewskis und Guido Adlers gewesen und nahm dem zunehmend kranken Mandyczewski, der 1929 starb, offenbar viel Arbeit ab.14 Die Leistung beider Herausgeber ist zweifellos anzuerkennen, zumal die Ausgabe unter zum Teil widrigen politischen, finanziellen und gesundheitlichen Umständen und unter enormem Zeitdruck zustande kam. So bot die Ausgabe nicht nur erstmals eine zusammenfassende (wenngleich keine wirklich vollständige) quellengestützte Edition von Brahms’ Werken, sondern zusätzlich auch einige Erstveröffentlichungen.15 Problematisch war neben den genannten Beeinträchtigungen aber auch, dass die Herausgeber einerseits heikle Grundsatzentscheidungen trafen, andererseits auf notwendige Grundsatzentscheidungen verzichteten. Dies beginnt bereits damit, dass sie sich vornehmlich auf die erwähnten Brahms’schen Handexemplare aus dem Bestand der Gesellschaft der Musikfreunde stützten. Zwar sind dies in der Tat unverzichtbare Quellen, doch gingen die Herausgeber offensichtlich von der oben problematisierten Annahme aus, dass Brahms die Drucklegung seiner Werke stets genau überwacht, sehr sorgfältig Korrektur gelesen und Fehler oder druckrelevante Änderungswünsche vergleichsweise systematisch in den Handexemplaren vermerkt habe. Zudem zogen sie nur ei__________
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[in Verbindung mit Margit L. McCorkle], Five Fundamental Obstacles in Brahms Source Research, in: Acta musicologica 48 [1976], S. 260f.) und 1964 der erwähnte leicht revidierte Nachdruck durch Breitkopf & Härtel publiziert, wobei im letztgenannten Fall der im Vorwort zu Bd. 1 angekündigte Supplement-Band laut Auskunft des Verlages nicht erschien, sondern nur eine hier eingebundene zweiseitige Korrekturliste für alle 26 Bände. McCorkle, Five Fundamental Obstacles (wie Anm. 13), S. 262. Vgl. die SubskriptionsEinladung für Johannes Brahms. Sämtliche Werke vom März 1926, in der zudem auf die Mitwirkung von Hermann Zilcher und Ferdinand Löwe hingewiesen wird. Vgl. die Übersicht in McCorkle, Werkverzeichnis (wie Anm. 1), S. 810f. Zu den Erstveröffentlichungen gehört das zweihändige Klavierarrangement des 2. Satzes aus dem Streichsextett in B-Dur op. 18, dessen Autograph Brahms seiner Künstlerfreundin Clara Schumann zum Geburtstag am 13. September 1860 geschenkt hatte und das Mandyczewski seinerzeit in Wiener Privatbesitz einsehen konnte; vgl. Sämtliche Werke (wie Anm. 13), Bd. 15: Studien und Bearbeitungen für Klavier, hrsg. von Eusebius Mandyczewski, Leipzig 1927.
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nen Teil der damals zugänglichen relevanten Manuskriptquellen heran. Wie das 1984 erschienene Brahms-Werkverzeichnis Margit McCorkles eindrucksvoll zeigt, ist die Quellensituation heute zweifellos besser dokumentiert und der Zugang zu den Quellen teilweise leichter möglich als zur Zeit der alten Gesamtausgabe; inzwischen kann das Werkverzeichnis seinerseits bereits um eine Reihe von Nachweisen wieder aufgetauchter Quellen sowie um neue Erkenntnisse über bestimmte Quellen oder deren Standorte ergänzt werden. So waren für Gál und Mandyczewski manche Quellen nicht zugänglich oder deren Standort unbekannt – während andererseits einige von ihnen herangezogene Handschriften heute verschollen sind. Das Werkverzeichnis zeigt aber auch deutlich das Auswahlverfahren der Herausgeber, die sich neben den Handexemplaren im Wesentlichen auf autographe Quellen stützten, wobei sie vor allem die Bestände des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, weitere Wiener Quellen in öffentlichem und privatem Besitz sowie Quellen aus dem Verlagsbesitz von Breitkopf & Härtel, teilweise auch aus dem SimrockVerlag nutzten. Wurden dabei längst nicht alle erreichbaren Autographe herangezogen – insbesondere sparte man die im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde befindlichen Skizzen durchweg aus –, so blieben vor allem zahlreiche abschriftliche Stichvorlagen, die von Brahms revidiert worden waren und die editorisch höchst bedeutsam sind, unberücksichtigt. Im Rahmen der Sämtlichen Werke wurden aber auch spätere Auflagen der (Partitur-)Erstausgabe, weitere zu Brahms’ Lebzeiten erschienene neugestochene Ausgaben sowie Quellen anderen Typs – Erst- und Frühdrucke anderer aufführungsrelevanter Teilausgaben (Solo-, Ensemble- und Orchesterstimmen) und Versionen (Klavierarrangements, Klavierauszüge) – nur in geringem Maße herangezogen. Somit war die Quellenbasis der alten Gesamtausgabe insgesamt verhältnismäßig schmal. Dabei unterblieb nicht nur ein systematischer Vergleich aller seinerzeit zugänglichen relevanten Quellen, sondern offenbar auch der letztlich herangezogenen Quellen. Außer Acht gelassen wurden ebenso die damals bereits vorliegenden 16 Bände des von der Deutschen BrahmsGesellschaft publizierten, nach heutigen Maßstäben freilich nur noch eingeschränkt zuverlässigen Brahms-Briefwechsels16 (und darin vor allem die Verlegerbriefwechsel) sowie andere für Werkgenese und Publikation bedeutsame Dokumente. Über die zu ausschließliche und kontextlose Bewertung der Brahms’schen Handexemplare hinaus, die man als editorische „Ideologie“ der Herausgeber bezeichnen kann, bleibt für den Benutzer schließlich unklar, welche editori____________ 16
Johannes Brahms, Briefwechsel, 16 Bde., Berlin (1906) 1907–1922 (Nachdruck Tutzing 1974).
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schen Maßstäbe für die Sämtlichen Werke überhaupt gültig waren. Die Revisionsberichte, die ausgesprochen knapp gehalten sind und nur punktuelle oder pauschale statt umfassender Informationen über die Beschaffenheit der herangezogenen Quellen und die editorischen Eingriffe der Herausgeber liefern, geben darüber keine oder nur indirekte Auskunft. Der Notentext selbst transportiert viele Ungenauigkeiten und Fehler der Erst- und Frühdrucke weiter. Wenn allein ein Druck als Grundlage der Edition diente, konnte die rein immanente Prüfung auf Stimmigkeit des Notentextes hin nur sehr begrenzt dazu beitragen, Fehler des Notentextes zu erkennen und zu beseitigen. Gerade die im Rahmen der Sämtlichen Werke publizierten posthumen Erstausgaben, denen ein (oder mehrere) Manuskript(e) als Grundlage diente(n), weisen zudem gravierende Fehl-Übertragungen, willkürliche Zusätze und selbst Quellenkontaminationen auf.17 Als besonders heikel müssen schließlich willkürliche Änderungen des Notentextes gelten. Im Fall des Doppelkonzertes op. 102 etwa änderte der Herausgeber Gál eine Note, die er für querständig und damit für ein „Versehen“ hielt, „auf die nächstliegende Art“ (3. Satz, T. 191, Horn 3/4).18 Dadurch wurde ein im Verhältnis zu anderen Stimmen zwar zeitweilig dissonanter, performativ indes kaum auffälliger Liegeton der Hörner zu einer motivisch prägnanten Stimme umfunktioniert. Doch weder die erhaltenen Partitur- und Stimmenquellen noch die musikalische Logik der betreffenden Stelle stützen diese Sichtweise. Verhängnisvoll war Gáls Entscheidung auch deshalb, weil diese Lesart in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die von den Sämtlichen Werken abgenommenen spielpraktischen Ausgaben der „Orchesterbibliothek“ Breitkopf & Härtels (Orchesterstimmen, Dirigierpartitur) starke Verbreitung fand.19 Erschwerend kam bei der Arbeit an der alten Gesamtausgabe schließlich noch hinzu, dass die Herausgeber offenbar nicht an den Korrekturlesungen für die Bände beteiligt waren.20
____________ 17
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George S. Bozarth, Brahms’s Posthumous Compositions and Arrangements: Editorial Problems and Questions of Authenticity, in: Brahms 2. Biographical, Documentary and Analytical Studies (wie Anm. 6), S. 59–94. Sämtliche Werke (wie Anm. 13), Bd. 5: Konzerte für Streichinstrumente und Orchester, hrsg. von Hans Gál, Leipzig 1926, Revisionsbericht, S. [III], Notentext, S. (123) 57. Bei der Edition des Doppelkonzertes im Rahmen der Neuen Johannes Brahms Gesamtausgabe (JBG) sowie in den hierauf basierenden Ausgaben von Studienedition, Dirigierpartitur und Orchesterstimmen wurde diese Änderung rückgängig gemacht. Vgl. JBG (wie Anm. 4), Serie I, Bd. 10: Doppelkonzert a-Moll opus 102, hrsg. von Michael Struck, München 2000, S. 147, 249; Doppelkonzert (Konzert für Violine und Violoncello mit Orchester) a-Moll opus 102, Urtext, StudienEdition, München 2003; Dirigierpartitur und Orchesterstimmen, Wiesbaden 2008. McCorkle, Five Fundamental Obstacles (wie Anm. 13), S. 264.
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Angesichts der genannten Defizite (die sich in zahlreichen Einzelfällen noch spezifizieren ließen)21 muss die alte Gesamtausgabe – trotz allen Respekts vor der Leistung der beiden Herausgeber und des Verlages Breitkopf & Härtel und trotz vieler sinnvoller editorischer Entscheidungen – vom heutigen Standpunkt aus als inhaltlich und editionsmethodisch veraltet gelten.
IV.
Der freie Markt
Der Ablauf der Schutzfrist ermöglichte neben dem ehrgeizigen und aufwendigen Projekt der Sämtlichen Werke auch eine Öffnung des freien Marktes für Brahms, so dass nun fast explosionsartig eine große Anzahl von Ausgaben verschiedenster Verlage erschien. Wie bei den Neuausgaben des SimrockVerlages handelte es sich dabei zunächst vor allem um „Revisions-Ausgaben“ bzw. sogenannte „Instruktive Ausgaben“ mit diversen Änderungen und Zusätzen gegenüber dem von Brahms autorisierten Notentext, die Fingersätze oder Pedalangaben, aber auch Vortragsanweisungen, Artikulation, Dynamik und andere Aspekte umfassen konnten. Teilweise waren die Herausgeber noch mit Brahms persönlich bekannt gewesen wie etwa der 1864 geborene Pianist Eugen d’Albert, der im Rahmen der „Tonmeister-Ausgabe“ des Berliner UllsteinVerlages Klavierwerke von Brahms herausgab. Dadurch wurde das Bild einer (vermeintlichen) Authentizität vermittelt, die eine Kontinuität aus der BrahmsZeit heraus gewährleisten sollte. So formulierte d’Albert in seinem StandardVorwort vom Januar 1928: „In meiner Jugend habe ich so viel mit dem Meister verkehrt und so viele Belehrungen und Anweisungen von ihm erhalten, daß die Zuverlässigkeit meiner Angaben wohl gewahrt ist.“22 Doch sind d’Alberts „Angaben“ keineswegs schon als von Brahms sanktioniert zu betrachten, weil der Herausgeber vom Komponisten in bestimmten Situationen Aufführungshinweise erhielt. Zumeist gilt, dass seine Ausgaben (und die Revisionsausgaben generell) mit ihren vielen Zusätzen und Änderungen zwar teilweise spielpraktische Interpretationshilfen bieten und für aufführungshistorische Untersuchungen aufschlussreich sein können, doch mit Brahms’ Intentionen im Hinblick auf die Fixierung des Notentextes nur noch wenig zu tun haben, ja diese mitunter geradezu verfälschen (was für Benutzer indes kaum oder gar nicht ersichtlich ist). Als prägnantes Beispiel lässt sich Willy Rehbergs Ausgabe Brahms’scher Klavierwerke für die Edition Cotta anführen. Er richtete sie so ____________ 21 22
Vgl. etwa einige Beispiele bei George S. Bozarth, Editing Brahms’s Music, in: Brahms Studies, Bd. 2, hrsg. von David Brodbeck, Lincoln, London 1998, insbesondere S. 6–29. Vgl. beispielsweise Johannes Brahms, Scherzo es-Moll op. 4, hrsg. von Eugen d’Albert (= Tonmeister-Ausgabe 452), Berlin 1928, S. [2].
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ein, „daß die Verteilung auf beide Systeme konsequent der der Hände entspricht“.23 Das führte in einem Werk wie der Rhapsodie g-Moll op. 79 Nr. 2, in dem die Technik der übergreifenden Hand besonders ausgeprägt ist, zu einem vor allem im Hinblick auf die Stimmführung stark von der Erstausgabe abweichenden Notenbild. Auch in den von Ossip Schnirlin „revidierten“ Ausgaben gibt es zwar viele Hilfen für Musiker (Fingersätze, Strichbezeichnungen, erweiterte Stichnoten, Hinweise auf solistisches Hervortreten einzelner Partien etc.), doch durch enharmonische „Vereinfachungen“ schwieriger Stellen auch massive Eingriffe in Brahms’ musikalische Orthographie.24 Vom primär spielpraktisch begründeten „Revisions“-Prinzip der Interpretationsausgaben, bei dem die Herausgeberintention zumindest für bestimmte Teile des Notentextes über der Autorintention stand und ein Rückgriff auf relevante Quellen von untergeordneter Bedeutung war, rückte man insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und den ersten Aufbaujahren generell ab.25 Etwa seit den 1960er und 1970er Jahren erschienen zunehmend quellenkritisch angelegte Ausgaben, die teilweise zweifellos verdienstvoll waren, weil sie zumindest in begrenztem Maße Manuskripte und frühe Drucke aufeinander bezogen. Insofern verfuhren sie also ansatzweise historisch-kritisch. Prekär war allerdings, dass das Authentizitätsverständnis mancher solcher Ausgaben letztlich sehr eingeengt war. Denn ihre Herausgeber maßen autographen Niederschriften bzw. Eintragungen pauschal den höchsten Stellenwert bei: Alles, was der Komponist selbst notiert hatte, erschien ihnen aus ihrer problematischen „Urtext“-Perspektive heraus a priori verbindlicher als ein Notentext, der sich über verschiedene Stufen hin entwickelte und dabei immer wieder vom Komponisten selbst oder in seinem Auftrag revidiert und überarbeitet wurde – in (vom Komponisten in Auftrag gegebenen) Abschriften sowie durch redaktionelle und kompositorisch relevante Eintragungen in autographen oder abschriftlichen Stichvorlagen und durch späte Eingriffe in Korrekturabzügen. Im Extremfall führte ein solches „Urtext“-Verständnis dazu, dass die Herausgeber Änderungen, die Brahms im Laufe der Ausarbeitung und Drucklegung eines Werkes nachweislich oder vermutlich vorgenommen hatte, rückgängig machten, indem sie ältere Lesarten des Autographs restituierten, die Brahms selbst verworfen hatte. Dies geschah etwa in einer 1971 erschienenen „Urtext____________ 23 24 25
Klavierwerke von Johannes Brahms. Instruktive Ausgabe von Walter Rehberg, Heft 1: Scherzo op. 4, Balladen op. 10, Rhapsodien op. 79, Intermezzi op. 117, Stuttgart, Berlin 1928, S. [2]. Vgl. Ossip Schnirlin, Die neue Ausgabe der Brahmsschen Kammermusikwerke, in: Die Musik 19 (1926/1927), S. 93–98. Vgl. etwa Ludwig Finscher, Gesamtausgabe – Urtext – Musikalische Praxis. Zum Verhältnis von Musikwissenschaft und Musikleben, in: Musik – Edition – Interpretation. Gedenkschrift Günter Henle, hrsg. von Martin Bente, München 1980, S. 193–198, insbesondere S. 193–195.
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Ausgabe“ des Klavierquintetts f-Moll op. 34. Dort wurden im 1. Satz diverse Akzente in den Streicherpartien (T. 5, 7, 166, 283, 285), die weder in der Partitur- noch in der Stimmen-Erstausgabe stehen, gemäß der autographen PartiturStichvorlage ergänzt.26 Im Rahmen der Arbeit an der Neuen Johannes Brahms Gesamtausgabe ließ sich jedoch anhand von Korrekturspuren in bestimmten Druckexemplaren und durch einen zuvor nicht beachteten Partitur-Vorabzug belegen, dass Brahms jene Akzente während der Drucklegung verwarf, so dass sie auf den Stichplatten nachträglich beseitigt wurden. Dass ein Stecher all jene Akzente übersehen oder gar absichtlich getilgt hätte, wäre aber angesichts der standardisierten Stich- und Korrekturverfahren in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ohnehin höchst unwahrscheinlich gewesen. Auch ohne die „materialen“ Belege der Korrekturspuren und des Vorabzuges hätte man also schon angesichts der Quantität der Lesarten-Divergenzen zwischen Partiturautograph und Erstausgabe vermuten können, dass sie nur von Brahms selbst veranlasst worden sein konnten.27
V. Die Neue Johannes Brahms Gesamtausgabe (JBG) Die Notwendigkeit einer neuen, wissenschaftlich fundierten, historisch-kritischen Gesamtausgabe wurde bereits in den späten 1960er Jahren erkannt, als die geschilderten Defizite der 1926/1927 vorgelegten alten Gesamtausgabe immer deutlicher wurden.28 Zu diesen Defiziten zählte auch, dass Brahms’ pianistisch und klanglich attraktive Klavierarrangements und Klavierauszüge eigener (und einiger fremder) Werke in den Sämtlichen Werken fehlten; sie waren im 19. Jahrhundert für die Verbreitung seiner Musik eminent wichtig gewesen, hatten im 20. Jahrhundert mit Aufkommen von Rundfunk und Schallplatte ihre frühere Bedeutung verloren, stoßen seit dem späteren 20. Jahrhundert jedoch auf neues Interesse. Konkretisiert wurden die Aktivitäten für eine neue Gesamtausgabe, als 1983 ein entsprechender Trägerverein gegründet wurde, 1984 das Werkverzeichnis eine völlig neue Grundlage für philologische ____________ 26
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Johannes Brahms, Quintett für Klavier, zwei Violinen, Viola und Violoncello opus 34, Urtext, nach Eigenschrift und Handexemplar des Komponisten hrsg. von Hanspeter Krellmann, München, Duisburg 1971, S. 3, 5, 17, 26. JBG, Klavierquintett f-Moll opus 34, Serie II, Bd. 4, hrsg. von Carmen Debryn und Michael Struck, München 1999, S. XVIIf., 1, 13, 22, 93, 101, 110; vgl. Michael Struck, Bedingungen, Aufgaben und Probleme einer neuen Gesamtausgabe der Werke von Johannes Brahms, in: Johannes Brahms. Quellen – Text – Rezeption – Interpretation (wie Anm. 10), S. 219–222. Hinzu kam, dass nach 1927 noch weitere Werke und Werkfassungen aufgetaucht und teilweise publiziert worden waren.
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Arbeit schuf29 und ab 1985 eine Brahms-Forschungsstelle am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Kiel aufgebaut wurde, die in zwei Pilotprojekten Voraussetzungen, Probleme und Perspektiven einer Neuen Ausgabe sämtlicher Werke exemplarisch untersuchte. Seit 1991 wird die Neue Johannes Brahms Gesamtausgabe (JBG) im Rahmen der Bund-Länder-Finanzierung vom Land Schleswig-Holstein finanziell mitgetragen und von der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (vertreten durch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz) koordiniert. Seit 2008 ist sie organisatorisch direkt mit der Kieler Universität verknüpft und wird bereits seit 2007 vom österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung mitgefördert. Aus den zahlreichen neuen Informationen des Werkverzeichnisses und den Erkenntnissen der Pilotprojekte kristallisierten sich seit den späten 1980er Jahren wesentliche Voraussetzungen und Prinzipien einer Neuen Ausgabe sämtlicher Werke heraus, die aktuellen philologischen Maßstäben entspricht. Dass sie alle heute erreichbaren Werke, Werkfassungen sowie Bearbeitungen eigener und fremder Kompositionen umfasst, also erheblich umfangreicher ist als die alte Ausgabe, bildet dabei den quantitativen Aspekt (geplant sind ca. 60–65 Bände mit eingebundenen Kritischen Berichten). Doch insbesondere konzeptionell-qualitativ unterscheidet sich die JBG von der alten Ausgabe wie auch von den vorangehend erwähnten praktischen Ausgaben. Wesentliche Voraussetzung der JBG ist zunächst die Erkenntnis, dass der Musik von Brahms und ihren Notentexten – trotz bestimmter Rand-Unschärfen der Notation, trotz mancher gewollter oder ungewollter Divergenzen zwischen Partitur und anderen Quellentypen und trotz Brahms’ Vorliebe für Variantenbildungen in Makro- und Mikrostrukturen – prinzipiell die Idee des fertig ausgearbeiteten und in der Notation optimierten Werkes zugrunde liegt. Als historisch-kritische Edition muss die JBG die Genese der Werke, Werktexte und Werkgestalten berücksichtigen, also alle erreichbaren maßgeblichen Quellen einbeziehen sowie ihre Funktion im Entstehungs- und Publikationsprozess klären und bewerten. Neben den erhaltenen autographen bzw. abschriftlichen Manuskripten sowie dem Erstdruck (1. Auflage der Erstausgabe) werden auch spätere Auflagen der Erstausgabe und, falls vorhanden, neu gestochene Ausgaben einbezogen. So lässt sich erkennen, ob es zu Lebzeiten des Komponisten redaktionelle Korrekturen oder kompositorische Änderungen gab, die eventuell auf ihn selbst zurückgehen oder ggf. gegen seine Intentionen ____________ 29
McCorkle, Werkverzeichnis (wie Anm. 1). Bedeutsam war zuvor schon das Erstdruckverzeichnis Kurt Hofmanns gewesen (vgl. Kurt Hofmann, Die Erstdrucke der Werke von Johannes Brahms. Bibliographie. Mit Wiedergabe von 209 Titelblättern, Tutzing 1975).
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vorgenommen wurden. Aufschlussreich können aber auch Druckabzüge sein, die vor dem Erstdruck angefertigt wurden. Vor allem die (relativ wenigen erhaltenen) publikationsrelevanten Korrekturabzüge können sowohl redaktionelle Zusätze und Korrekturen als auch letzte von Brahms eingetragene oder veranlasste kompositorische Änderungen enthalten.30 Der Notentext der Gesamtausgabe folgt prinzipiell der Hauptquelle, also derjenigen Quelle, die weitestgehend den von Brahms letztlich intendierten, ggf. über mehrere frühere Textstadien hin erarbeiteten Notentext („Fassung letzter Hand“) wiedergibt. Für ein zu Brahms’ Lebzeiten veröffentlichtes Werk handelt es sich dabei in der Regel um einen Druck, häufig um das aus Brahms’ Nachlass stammende Handexemplar des Erstdruckes oder einer Folgeauflage. Um Fehler und Ungenauigkeiten zu erkennen und zu bereinigen, die vor allem Kopisten und Stechern unterliefen, wird die Hauptquelle – anders als es die alte Gesamtausgabe tat – kritisch mit allen anderen relevanten Quellen verglichen, da ihre Lesarten nur im Gefüge jener Quellen und vor allem der „Referenzquellen“ angemessen zu bewerten sind. Der spezifischen Terminologie der JBG zufolge werden als „Referenzquellen“ diejenigen Quellen bezeichnet, die aufgrund ihrer Bedeutung im Ausarbeitungs- und Veröffentlichungsprozess des Werkes unentbehrliche editorische Korrektive bilden. Eine derartige Funktionsbestimmung und Nutzung von Referenzquellen ist von fragwürdigen subjektiven Quellen- und Fassungsmischungen eindeutig abzugrenzen. Kritische Abwägung ist auch gefordert, wenn Quellen nachträgliche Eintragungen aufweisen: So sind bei handschriftlichen Zusätzen und Änderungen in Brahms’ Handexemplaren Urheberschaft und Funktion zu klären. Ebenso ist bei Abzügen, die zeitlich vor dem eigentlichen Erstdruck liegen, stets nach ihrer Bedeutung im Publikationsprozess und nach ihrem Status im Quellengefüge zu fragen. Vor allem muss zwischen den eigentlichen publikationsrelevanten Korrekturabzügen und anderen „privaten“ Vorabzügen unterschieden werden. Letztere wurden meist weniger systematisch durchkorrigiert und gingen nicht an den Verlag oder die Stecherwerkstatt zurück, sondern verblieben zunächst in Brahms’ Besitz oder wurden von ihm schon vor Abschluss der Drucklegung für Freunde bzw. Interpreten erbeten. Weder autographen Nie____________ 30
Johannes Behr und Kathrin Kirsch, Ein bislang unbekannter Korrekturabzug zum 2. Klavierkonzert op. 83 von Johannes Brahms, in: Spätphase(n)? Johannes Brahms’ Werke der 1880er und 1890er Jahre. Internationales musikwissenschaftliches Symposium Meiningen 2008. Eine Veröffentlichung des Brahms-Instituts an der Musikhochschule Lübeck und der Meininger Museen, hrsg. von Maren Goltz, Wolfgang Sandberger und Christiane Wiesenfeldt, München 2010, S. 157–169; Kathrin Kirsch, Von der Stichvorlage zum Erstdruck. Zur Bedeutung von Vorabzügen bei Johannes Brahms, Kassel [u. a.] 2013 (= Kieler Schriften zur Musikwissenschaft, hrsg. von Siegfried Oechsle und Bernd Sponheuer in Verbindung mit Friedhelm Krummacher, Bd. 52).
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derschriften noch autographen Nachträgen in Druckausgaben aus Brahms’ Besitz oder Einflussbereich kann also a priori ohne weitere kritische Prüfung ein höherer Rang als den von Brahms autorisierten Drucken zugewiesen werden. Gerade wenn die Überlieferung des Notentextes Lücken aufweist, muss das einstige Quellengefüge, soweit rekonstruierbar, als Problemhorizont mitbedacht werden. So fehlt beispielsweise bei den Quartetten für Sopran, Alt, Tenor, Bass und Klavier op. 92 das Autograph, wodurch die Lesarten der erhaltenen abschriftlichen Stichvorlage und der Erstausgabe philologisch nur partiell abgesichert sind. Es kann aber auch – wie bei der 3. Symphonie op. 90 und bei den Fantasien für Klavier op. 116 – die abschriftliche Stichvorlage verschollen sein, so dass bei Lesarten-Divergenzen zwischen Autograph und Erstdruck nicht immer eindeutig zu entscheiden ist, ob sie aus Kopisten- bzw. Stecherfehlern oder aus Brahms’ Änderungen in der verschollenen Abschrift resultieren. Bei anderen Werken wie der 1. Cellosonate op. 38 ist überhaupt kein Manuskript überliefert und für den Klavierauszug des Doppelkonzertes op. 102 zumindest keine publikationsrelevante Handschrift, sondern nur eine Geschenkabschrift des 2. Satzes von Kopistenhand. Für die meisten Brahms’schen Werke fehlen überdies druckrelevante Korrekturabzüge. Immerhin können, wie bereits erwähnt, Spuren von Stichplatten-Korrekturen in bestimmten Erst- und Frühdruck-Exemplaren belegen, dass Lesarten-Divergenzen zwischen Stichvorlage und Erstausgabe an diesen Stellen von Brahms gewollt waren, da der Stecher sich zunächst offensichtlich an der Stichvorlage orientierte, ehe die Änderung zur Druckfassung erfolgte.31 Gleichwohl muss die JBG einkalkulieren, dass die Qualität ihrer editorischen Entscheidungen von der jeweiligen Quellenlage samt Überlieferungslücken und editorischen Grauzonen mitbestimmt wird. Freilich lassen sich die bei Werken mit relativ guter Quellensituation gewonnenen Erfahrungen in die Edition von Werken mit lückenhafter Überlieferung einbringen.32 In den Bänden der JBG sind die einzelnen Teile der betreffenden Edition einschließlich des Notentextes eng aufeinander bezogen: Legt die Einleitung ____________ 31 32
Struck, Kann man Brahms gut edieren? (wie Anm. 3), S. 630–635. Glücklicherweise konnte die JBG seit den 1990er Jahren in manchen Fällen schnell und flexibel auf eine geänderte Überlieferungssituation reagieren, indem sie wieder aufgetauchte Quellen, die im Brahms-Werkverzeichnis noch als „verschollen“ galten oder gar nicht erfasst waren, für ihre Editionen nutzen konnte – mitunter in letzter Minute; vgl. McCorkle, Werkverzeichnis (wie Anm. 1); Michael Struck, Vom Einfall zum Werk – Produktionsprozesse, Notate, Werkgestalt(en), in: Brahms-Handbuch, hrsg. von Wolfgang Sandberger, Stuttgart, Kassel 2009, S. 171–198. Einige wenige verschollene Handschriften (zumeist Stichvorlagen) sind zudem in fragmentarischer „virtueller“ Existenz wieder zugänglich, nämlich in Gestalt alter Archivfotografien der jeweils ersten Notenseite oder in Gestalt eines Faksimiledruckes (JBG, Serenaden, Serie I, Bd. 5, hrsg. von Michael Musgrave, München 2006, S. 352–354, 358, 360, 362; JBG, Klavierwerke ohne Opuszahl (wie Anm. 10), Frontispiz unten sowie S. 189–192 [Quelle A4]).
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die Entstehungs-, Publikations- sowie die frühen Stadien der Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte dar, so gibt der sich an den Notentext anschließende Kritische Bericht Auskunft über Beschaffenheit, Geschichte und Funktion der Quellen. Die hieraus resultierende Quellenbewertung wird ihrerseits zur Grundlage des Editionsberichtes. Zur umfassenden Erhellung der Entstehungsgeschichte werden – neben den Werkquellen – auch relevante Informationen aus verbalen Quellen herangezogen, darunter vor allem Brahms’ eigenhändiges, bis op. 79 reichendes Werkverzeichnis, die erhaltenen Taschen- und Notizkalender, Textabschriften sowie der (stets kritisch zu prüfende) gedruckte und ungedruckte Briefwechsel des Komponisten, aber auch Erinnerungen von Zeitgenossen, Briefwechsel Dritter und die frühe biographische Literatur. Der Editionsbericht – das eigentliche Herzstück der Edition – dokumentiert zunächst kompositorisch relevante Änderungen, die Brahms eigenhändig vornahm, in Einzelfällen auch von Freunden, Verlegern oder dem Lektor in Brahms’ Auftrag vorgenommen wurden. (Unerwähnt bleiben dagegen offensichtliche Fehlerkorrekturen des Komponisten oder Lektors und zahlreiche weitere – direkt sichtbare oder aus Lesarten-Divergenzen erschließbare – rein redaktionelle Eingriffe, die bis zum Erscheinen des Erstdruckes abgeschlossen waren.) Dokumentiert und ggf. diskutiert werden im Editionsbericht außerdem substantielle Lesarten-Divergenzen. Diese lassen indirekt auf kompositorische Änderungen in verschollenen Manuskripten (vor allem Stichvorlagen) und in Korrekturabzügen schließen. Da Brahms den Blick in seine Komponierwerkstatt so weit wie möglich zu verhindern suchte und insbesondere frühe Niederschriften wie Skizzen oder Particell-Notate in der Regel vernichtete, bieten die genannten werkgenetischen Informationen des Editionsberichtes neue oder intensivierte Einblicke in Brahms’ Schaffensprozess. Mitunter stehen kompositorische Korrekturen auch in direktem oder indirektem Zusammenhang mit Lesarten-Problemen der Hauptquelle. In solchen Fällen wird die Klärung des werkgenetischen Prozesses zur Voraussetzung editorischer Entscheidungen. Zentrale Aufgabe der Editionsberichte ist schließlich die Erörterung von Eingriffen, die Herausgeberinnen und Herausgeber im Notentext der jeweiligen Hauptquelle vornehmen. Dies betrifft in der Regel die Korrektur von Fehlern und Ungenauigkeiten des Kopisten und/oder Stechers (gelegentlich auch von Schreibirrtümern des Komponisten). Selbst wenn keine eindeutigen editorischen Entscheidungen möglich sind, muss für den Notentext eine plausible, pragmatische Lösung gefunden werden: Dabei werden die Probleme im Editionsbericht offengelegt und mögliche Deutungs- und Entscheidungsalternativen erörtert. Auf gravierende Zweifelsfälle wird bereits in einer kurzen Fußnote
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zum Notentext hingewiesen.33 Unerwähnt bleiben in der Regel Ergänzungen, die dem direkten musikalischen Kontext zufolge unausweichlich sind, aber keine Stützung durch die Quellen erhalten. Sie werden im Notentext durch Hinzufügung in eckigen Klammern markiert. Solche Ergänzungen sollten allerdings nur dort erfolgen, wo sie unverzichtbar erscheinen, nicht aber bei Brahms’ charakteristischer abbreviatorischer Schreibweise (wenn etwa eine bestimmte, anfangs ausnotierte Artikulation bei fortgesetzter Motivik bzw. Figuration nicht mehr notiert, doch weiterhin stillschweigend vorausgesetzt wird). Zurückhaltung ist auch bei Angleichungen von Parallelstellen angebracht. Brahms selbst hat in seiner Notation, aber auch durch Aussagen signalisiert, dass er an derartigen Stellen (etwa in Exposition und Reprise) mitunter kleine Varianten wünschte; gelegentlich schuf er solche Mikrovarianten erst nachträglich.34 In Orchesterwerken forderte er für parallele Partien mitunter verschiedenartige Artikulation, wobei Bläser tendenziell eher Staccatopunkte, Streicher eher Staccatostriche erhielten. In derartigen Fällen zeichnet sich ein ebenso komplexer wie reizvoller Überschneidungsbereich zwischen Komposition, Notation und Interpretation ab. Das kann angesichts von Brahms’ charakteristischer, oft prozessual konzipierter Variantentechnik, aber auch angesichts seiner reichhaltigen künstlerischen Tätigkeit als Pianist und Dirigent kaum verwundern. Bei der editorischen Arbeit der JBG werden in der Regel Quellen gleichen Typs aufeinander bezogen, also vor allem Partiturhandschriften und -drucke, die nachweislich oder vermutlich (un)mittelbar voneinander abhängig waren. Bei Werken für oder mit Orchester, bei Kammermusik, Chorwerken und Vokalensembles können zudem die separaten Stimmen als Referenzquellen Textdefizite zu beheben helfen. Freilich weisen solche Stimmen wiederum eigene Fehler auf und unterscheiden sich in den graphischen Proportionen gravierend vom Partiturbild. Für die Partituredition der JBG ist dies in der Regel irrelevant, zumal Brahms am Korrekturlesen von Stimmen oft nicht beteiligt war. Doch werden die Stimmen bei der Korrektur von Lesarten-Defiziten der Hauptquelle berücksichtigt, sofern sie in einem eigenen Überlieferungsstrang auf frühere Manuskriptquellen zurückgehen. Dieser „pragmatische“ Ansatz erscheint in einer historisch-kritischen Edition vertretbar. ____________ 33
34
Zum Beispiel JBG, Symphonie Nr. 1 c-Moll opus 68, Serie I, Bd. 1, hrsg. von Robert Pascall, München 1996, S. 177, 242; JBG, Violinkonzert D-Dur opus 77, Serie I, Bd. 9, hrsg. von Linda Correll Roesner und Michael Struck, München 2004, S. 59, 86, 232, 242. Struck, Kann man Brahms gut edieren? (wie Anm. 3), S. 635–637; ders., Editor im Doppelspiegel. Johannes Brahms als Herausgeber fremder und eigener Werke, in: Musik und Musikwissenschaft. Johannes Brahms im Dialog mit der Geschichte, hrsg. von Wolfgang Sandberger und Christiane Wiesenfeldt, Kassel [u. a.] 2007, S. 200–202.
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Bei einigen Orchester- und Kammermusikwerken ließ Brahms in den Stimmen zusätzliche oder abweichende Spielangaben wiedergeben, zu Beginn des 2. Streichquintetts op. 111 sogar eine differenzierende dynamische Bezeichnung der Begleitstimmen. Gelegentlich bat er Verleger bzw. Lektor ausdrücklich, entsprechende Divergenzen zwischen Partitur- und Stimmendruck stehen zu lassen. Je nach Relevanz der Angaben teilt die JBG solche vermutlich oder nachweislich differenzierenden substantiellen Zusatzangaben als Fußnoten zum Notentext oder – zur Entlastung des Editionsberichtes – in einem vorgeschalteten Abschnitt mit.35 Insbesondere bei den Streicherkonzerten gibt es eine vergleichbare Konstellation: Die gedruckten separaten SoloStimmen enthalten zusätzliche, auf die Uraufführungssolisten zurückgehende Spielhilfen und -anweisungen (vor allem Fingersätze), die von Brahms erbeten und für die Solo-Stimmen autorisiert wurden, aber nicht im Partiturdruck erscheinen sollten. Die JBG sucht dem aufführungshistorischen und spieltechnischen Informationsgehalt solcher Zusatzangaben und zugleich Brahms’ Differenzierungswunsch gerecht zu werden, indem die betreffenden Angaben in Fußnoten zum Notentext mitgeteilt und im Editionsbericht ggf. näher erläutert werden. Brahms’ Klavierarrangements und Klavierauszüge eigener Werke lassen sich nur in sehr begrenztem Maß für die Edition der Hauptfassungen nutzen (was umgekehrt ebenso gilt). Denn die pianistisch reizvollen Klavierreduktionen sind oft bezeichnend frei konzipiert36 und spiegeln teilweise (z. B. in Artikulation oder Dynamik) frühere Stadien der Textkonstitution wieder, die Brahms in diesen Gebrauchsfassungen indes nicht änderte. So recherchiert und rekonstruiert die Neue Ausgabe sämtlicher Werke den Weg des Notentextes von der ersten erhaltenen Niederschrift bis hin zu späteren Auflagen und Ausgaben, die zu Brahms’ Lebzeiten oder kurz nach seinem Tode erschienen. Dabei bedarf auch die gewählte Hauptquelle einer kritischen Evaluation. Zur Korrektur von Notentext-Defiziten, die sich im Verlauf von Brahms’ Niederschrift(en), eventueller (Kopisten-)Abschrift, Redaktion, Stich und Stichkorrektur ergaben, sind zahlreiche editorische Eingriffe in den Notentext der Hauptquelle nötig – vor allem im Hinblick auf Artikulation, Dynamik, Noten und verbale Angaben. Weder eine ausschließliche Beschränkung auf die ____________ 35
36
Zum Beispiel JBG, 1. Symphonie (wie Anm. 33), S. 213f.; JBG, Symphonie Nr. 2 D-Dur opus 73, Serie I, Bd. 2, hrsg. von Robert Pascall und Michael Struck, München 2001, S. 235f.; JBG, Doppelkonzert (wie Anm. 19), S. 196f.; Struck, Bedingungen, Aufgaben und Probleme (wie Anm. 27), S. 223. Vgl. Michael Struck, Um Fassung(en) ringend. Johannes Brahms, das Problem der Fassungen und das Problem der Brahms-Forschung mit dem Problem der Fassungen, in: Mit Fassung. Fassungsprobleme in Musik- und Text-Philologie. Helga Lühning zum 60. Geburtstag, hrsg. von Reinmar Emans, Laaber 2007, S. 153–161.
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Hauptquelle noch eine willkürliche Quellenmischung darf also das editorische Prinzip der JBG sein, sondern die kritische Prüfung der Hauptquelle im Kontext der rekonstruierten Werkgenese, der Überlieferung des Notentextes und des Quellengefüges.
Ausgaben Johannes Brahms: Sämtliche Werke. Ausgabe der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, hrsg. von Hans Gál und Eusebius Mandyczewski, 26 Bde., Leipzig 1926/1927; Nachdruck 1964 – Bd. 5: Konzerte für Streichinstrumente und Orchester, hrsg. von Hans Gál, Leipzig 1926 – Bd. 15: Studien und Bearbeitungen für Klavier, hrsg. von Eusebius Mandyczewski, Leipzig 1927 Klavierwerke von Johannes Brahms. Instruktive Ausgabe von Walter Rehberg, Heft 1: Scherzo op. 4, Balladen op. 10, Rhapsodien op. 79, Intermezzi op. 117, Stuttgart, Berlin 1928 Scherzo es-Moll op. 4, hrsg. von Eugen d’Albert (= Tonmeister-Ausgabe 452), Berlin 1928 Quintett für Klavier, zwei Violinen, Viola und Violoncello opus 34, Urtext, nach Eigenschrift und Handexemplar des Komponisten hrsg. von Hanspeter Krellmann, München, Duisburg 1971 Johannes Brahms: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, bis 2011: hrsg. von der Johannes Brahms Gesamtausgabe e. V., Editionsleitung Kiel, in Verbindung mit der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, ab 2012: hrsg. vom Musikwissenschaftlichen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in Verbindung mit der Johannes Brahms Gesamtausgabe e. V. und der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, München 1996ff. (nachfolgend: JBG) – JBG, Symphonie Nr. 1 c-Moll opus 68, Serie I, Bd. 1, hrsg. von Robert Pascall, München 1996 – JBG, Klavierquintett f-Moll opus 34, Serie II, Bd. 4, hrsg. von Carmen Debryn und Michael Struck, München 1999 – JBG, Doppelkonzert a-Moll opus 102, Serie I, Bd. 10, hrsg. von Michael Struck, München 2000 – JBG, Symphonie Nr. 2 D-Dur opus 73, Serie I, Bd. 2, hrsg. von Robert Pascall und Michael Struck, München 2001 – JBG, Violinkonzert D-Dur opus 77, Serie I, Bd. 9, hrsg. von Linda Correll Roesner und Michael Struck, München 2004 – JBG, Symphonie Nr. 3 F-Dur opus 90, Serie I, Bd. 3, hrsg. von Robert Pascall, München 2005 – JBG, Serenaden, Serie I, Bd. 5, hrsg. von Michael Musgrave, München 2006 – JBG, Klavierwerke ohne Opuszahl, Serie III, Bd. 7, hrsg. von Camilla Cai, München 2007 Doppelkonzert (Konzert für Violine und Violoncello mit Orchester) a-Moll opus 102, Urtext, Studien-Edition, hrsg. von Michael Struck, München 2003 Doppelkonzert (Konzert für Violine und Violoncello mit Orchester) a-Moll opus 102, Dirigierpartitur und Orchesterstimmen, hrsg. von Michael Struck, Wiesbaden 2008
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Michael Struck, Katrin Eich
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Niels Krabbe
The Carl Nielsen Edition
I.
Introduction1
Carl Nielsen Udgaven (The Carl Nielsen Edition) – abbreviated in what follows to CNU – sees itself as both a practical and a scholarly edition of all the composer’s completed works and is thus aimed at both scholars and musicians. It was established in 1994 and concluded its work in March 2009 with its 35th and last volume, Addenda et Juvenilia. The total operating costs, covered throughout the period by two thirds from the public sector and one third from the Carl Nielsen og Anne Marie-Carl Nielsens Legat, amount to ca. DKr 35 million, while the production costs (music processing, printing and binding), which are covered almost exclusively by private funding, amount to ca. DKr 8 million. It is thus one of the biggest ever music publication projects in Denmark. In 1994 the edition was organized and housed at The Royal Library in Copenhagen at the direct request of the then Minister of Culture Jytte Hilden, who at the same time pledged public sector operating support for the project – in the early years in the form of a three year appropriation to be renewed regularly on application, and in the later years with a permanent appropriation up to and including March 2009. At first CNU was staffed by four full-time employees as well as a foreign corresponding editor. After a few years the staffing was expanded with a fifth editor, while at the same time the editors were given the possibility of undertaking research during part of their working time. This was done partly to encourage staff to stay, partly to give them the opportunity to gain academic credits; at the same time the management of the edition was reorganized and placed under the aegis of the then Music Department of The Royal Library, thus giving the Department and CNU a shared management, beginning on 1 August 1997.2 ____________ 1 2
This article is a slightly updated version of my article in Carl Nielsen Studies 4 (2009), pp. 88– 106. Unlike many similar projects, all the editors throughout the period (apart from the corresponding editor) were gathered in the same place. This provided the best possible conditions for on-
The Carl Nielsen Edition
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The specific background for the Minister of Culture’s initiative to establish CNU was an article in the press in the summer of 1993, which was highly critical of the musical material used for Nielsen’s opera Masquerade in connection with a performance in Innsbruck under the baton of the Danish conductor Niels Muus.3 In a series of prominent articles in one of Denmark’s biggest newspapers, Jyllands-Posten, the Danish administration of the legacy of Carl Nielsen was severely criticized, first and foremost because obstacles had allegedly been put in the way of the dissemination of Nielsen’s music outside the borders of Denmark by entirely inadequate musical material. In the case of Masquerade the conductor and musicians complained that the material consisted of Carl Nielsen’s own handwritten copies, which had been in use for almost a century in a succession of performances, and which were full of corrections, deletions and cuts.4 The debate involved, besides Jyllands-Posten’s powerful and charismatic cultural reporter, the big Danish music publisher Edition Wilhelm Hansen (which owned the rights to Masquerade) and the Danish Music Information Centre, and the tone was so harsh and implacable that the then Minister of Culture Jytte Hilden intervened on her own initiative and directed the Director General of The Royal Library to establish the organizational structure and professional expertise to launch a collected edition of Nielsen’s works. The request was accompanied by a pledge to grant operating costs to such an edition for the first few years with the possibility of further extensions.5 Just over a year after these newspaper polemics – that is, on 1 August 1994 – the edition had been installed in new premises in the centre of Copenhagen with an academic staff who could then immediately begin drawing up the production plan, editing principles, source registration and so on. The above history of the establishment of the edition in 1993/1994 is interesting in the light of cultural politics. Normally it is scholars or research institutions who ask the public sector for funding to start up major research projects; in this case it was the Danish State (represented by the Minister of Cul__________
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going internal discussions of overall guidelines and editorial details as well as ensuring a certain uniformity throughout all the volumes. Similar criticism was raised the next year in connection with a performance of Masquerade in Kassel under the baton of the American conductor Ira Levin, who commented upon the musical material supplied: “It is a scandal and a mess!” (cf. Jyllands-Posten May 25, 1994). It has subsequently turned out that it was only the score (a photocopy of the fair copy with corrections in The Royal Library in Copenhagen) that justified this description; the parts, copied in the late 1970s, were unproblematic; the newspaper’s critical description of the material by all indications seems a little exaggerated, but it led as we have seen to the establishment of CNU. Prior to the Minister’s initiative another two steps had been taken with a view to establishing a collected Carl Nielsen Edition: About five years before this, the present writer was contacted by the Danish Composers’ Society about such a project, and a few years later the Carl Nielsen scholar Torben Schousboe tried – also unsuccessfully – to take the lead with such an edition.
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ture) that charged the research milieu with the task, with related pledges of funding – although with arguments that were not directly related to the research world itself, but rather addressed the possibility of a major cultural drive abroad (the marketing of Denmark’s most important composer). For better or worse, this prehistory has influenced the work ever since: it has provided the project with unique funding conditions, but at the same time there has been a constant focus on the edition’s practical usefulness and its observance of the prescribed deadlines.6 The relationship between musicological stringency and practical usefulness is relevant to any modern, so-called “scholarly” music edition, and I will come back to this. It was thus a performance of Masquerade that got the edition started; but it was the same opera that got the edition off to a bad start. In 1996 Masquerade was to be given at a concert performance in the Tivoli Concert Hall by the Danish Radio Symphony Orchestra conducted by Ulf Schirmer. Not least as a result of the above-mentioned press polemics a few years before, and of the large state appropriations for the work on the edition, CNU felt pressured to deliver new, revised musical material for this performance – when it had not yet published a single work, had only just started on two of the symphonies, had hardly clarified the edition’s overall publication strategy, and had not even finished the Edition’s editorial guidelines. Nevertheless the editors – on a not yet fully worked-out philological basis – had to hastily draw up revised performance material for Carl Nielsen’s largest work – and his most complicated work in terms of the sources – for the concert in Tivoli.7 They succeeded under great pressure of time, but the result was that later, after gaining much experience from other works and clarifying many issues related to the philological foundation of the edition, they had to begin the editing of Masquerade anew with a view to final publication in 1999 – after issuing the first two volumes, the Second and Fifth Symphonies in 1998.8 ____________ 6
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In the summer of 1997 there was a new upsurge of polemics when Jyllands-Posten, on 3 June under the heading “Delayed Notes” devoted a full-page article to criticizing the fact that at that time not a single volume of the new edition had yet appeared. This criticism prompted the Ministry of Culture to intervene with a wish to re-evaluate the whole project in terms of both organization and time, and this contributed to the plan and structure that has formed the basis for the edition up to its conclusion in 2009. The situation was further aggravated by the fact that The Royal Theatre in Copenhagen was in these very years staging the opera in a new production conducted by Paavo Berglund – not on the basis of the unusable material from Innsbruck, nor of the hastily revised material at CNU, but of material that had been copied and revised for the occasion by the conductor himself. The pace of publication for the symphonies was also dictated by pressure from the outside, a CD recording of the six symphonies by the Danish Radio Symphony Orchestra and Michael Schønwandt, but in this case the edition had learned its lesson and CNU itself controlled the pace of the work.
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Thus, for better or for worse, Masquerade was to play a quite crucial role in the early years of CNU’s history.
II.
The Situation on Carl Nielsen’s Death in 1931
Nielsen had a great many of his works printed as they were composed: this was true of the symphonies (with the exception of the sixth), of some – but far from all – of the minor orchestral works, the concertos (with the exception of the Flute Concerto), the chamber music, the piano music and many of the songs. His main publisher until the middle of the 1920s was Wilhelm Hansens Musikforlag in Copenhagen, which was the predominant music publisher in Scandinavia at the time.9 Before 1925 very few of the works were printed by other publishers (in fact only the Third Symphony, printed by Kahnt in Leipzig in 1913, and the String Quartet in F major op. 44, the Piano Suite op. 45 and Prelude and Theme with Variations, printed by Peters in Leipzig in 1923 and 1925 respectively). But in 1925–1926 there was a rupture between Nielsen and Wilhelm Hansen: the composer felt poorly treated and spoke out in no uncertain terms on the matter in a couple of interviews in connection with his sixtieth birthday in June 1925.10 For the last six years of his life Nielsen published his works (including the Fifth Symphony) through Borups og Skandinavisk Musikforlag in Copenhagen. Although Nielsen thus had much of his music published while he was alive, and although the great majority of his works were written with a view to specific performances and not for his desk drawer, several of the works – including a number of major works – were not printed during the composer’s lifetime; these have now been published for the first time in CNU. Because of the nature of the works this applies first and foremost to the operas, the incidental music for the theatre, the cantatas and some of the many songs – genres which quantitatively take up more than a third of the total CNU (see the following list): Works published for the first time in CNU: Masquerade (CNU I/1–3) Saul and David (CNU I/4–5) Incidental music for twenty plays (CNU I/6 and I/9) ____________ 9 10
For a long period of his life Nielsen maintained an extremely close and friendly personal relationship with Wilhelm Hansen’s director, Alfred Wilhelm Hansen. Cf. Finn Gravesen, Hansen, Copenhagen 2007, pp. 175ff. See also the newspaper interviews with Nielsen in John Fellow (ed.), Carl Nielsen til sin samtid, 3 vols., Copenhagen 1999, vol. 1, pp. 359–366 and 382–385.
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Sir Oluf he Rides – (CNU I/7) Aladdin (CNU I/8) Music for twelve occasional cantatas (CNU III/2–3) Andante Tranquillo e Scherzo (CNU II/7) Symphonic Rhapsody (CNU II/7) Approx. 40 songs (CNU III/5 and III/6)
It goes without saying that the availability of these many works in printed, revised form now paints a more nuanced picture of Nielsen’s overall production for the circle of scholars and musicians who do not have direct access to the primary – and hitherto only – sources for the works.
III.
Publications in the Period 1931–1998
During the period from Nielsen’s death in 1931 until the first volume of CNU in 1998 there have of course been numerous editions of the composer’s works. Two categories from this period are of interest in the present context: editions of works that were not available in print during Nielsen’s lifetime; and new editions on a critical and scholarly basis. The first category – works that were printed only after the composer’s death and thus without his participation – comprises the following main works:11 Commotio (Society for the Publication of Danish Music, 1932) 12 Three Piano Pieces, op. posth. (Edition Dania, 1937) Sixth Symphony (Society for the Publication of Danish Music, 1938) Concerto for Flute and Orchestra (Society for the Publication of Danish Music, 1952) Springtime on Funen (Wilhelm Hansen 1945)
The second category – editions based on an evaluation of the source situation and a source-critical approach documented in the edition itself – is extremely scantly represented. In the case of the piano music, there are two different collected editions with critical commentaries, Mina Miller’s from 1982 and Arne Skjold Rasmussen’s from 1987.13 If the piano music more than any other genre seemed to call for a critical edition, this was due to the widespread view that over time successive pianists had made a number of “improvements” and ____________ 11
12 13
Minor works from this category include several of the smaller orchestral works from CNU II/7 and II/8, the chamber music works Serenata in vano and Canto serioso, all published by Skandinavisk og Borups Musikforlag in the 1940s, and Quintet for Strings, published by Edition Dania in 1937. In collaboration with Skandinavisk og Borups Musikforlag and Fr. Kistner & C.F.W Siegel. The Complete Solo Piano Music of Carl Nielsen. A Critical Revised Edition, ed. by Mina F. Miller, Copenhagen 1982 (originally in 8 volumes, 1980/1981); Carl Nielsen. Samlede klaverværker, ed. by Arne Skjold Rasmussen, Egtved 1987 (preface dated October 1980).
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“corrections” in Nielsen’s music, such that the various printed first editions appeared with a number of deviations from Nielsen’s original sources (drafts and fair copies).14 A myth had gradually arisen about Nielsen’s piano style, based on a combination of traditions about his inadequacies as a pianist and his allegedly unidiomatic way of writing. Both of these led to a wish to restore the music to a form closer to the composer’s original intentions, one that was based partly on a study of the manuscript sources and partly on vague ideas about Nielsen’s aesthetic views and general stylistic reflections on the distinctiveness of his music. However, there is nothing in the sources to suggest that Nielsen disapproved of the various changes in the contemporary printed editions, and these – despite the corrections mentioned – thus still represent his “Fassung letzter Hand”. Mina Miller’s edition emerged as a result of a mixture of philological, stylistic and more diffuse personal evaluations, as is evident from her general preface: The methods by which this critical edition was prepared were based on the premise that such an edition must be faithful to the composer’s ideas not only in the accuracy of its musical notation, but also in the consistency of its approach to historical, philosophical and technical considerations in the work’s interpretation. The convergence of these elements in the interpretation of Nielsen’s piano music is magnified in importance by the fact that his unconventional and frequently unidiomatic style often leads to ambiguities which can be resolved only with reference to the composer’s aesthetic ideas and his conception of the performer’s role.15
Arne Skjold Rasmussen’s edition is not furnished with a true critical commentary, but in a general preface to all the volumes he deals with these matters both in general and in a number of details. Rasmussen’s basic attitude to the transmission of the piano works is “that CN’s first thoughts about his works were usually the best”, and that certain aspects of the “phrasing, nuances and accentuation” must “be left to the editor’s experience, tradition, knowledge of Nielsen and his other works”.16 As far as these issues are concerned, CNU, in keeping with its general editorial guidelines, has in all essentials kept the first printed versions as main source and thus differs in a number of respects from Miller’s and Rasmussen’s editions. However, this does not alter the fact that these editions highlighted a number of important circumstances related to the rather uneven transmission ____________ 14 15 16
See David Fanning’s introduction in CNU II/12. The Complete Solo Piano Music (cf. note 13), p. 3 in each of the individual volumes. Samlede klaverværker (cf. note 13), p. 2.
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of the piano music and thus forced CNU to reflect thoroughly on this whole issue. One of the famous – some would say notorious – revised new editions of one of Nielsen’s principal works is Emil Telmányi’s and Erik Tuxen’s study score of the Fifth Symphony from 1950 (full score and parts from 1952), where it is stated laconically, but without further clarification, in a short preface: This edition has been revised based on the autographs. The score has been arranged in a more perspicuous manner and provided with small corrections which have proved useful during performances held.17
It was first and foremost in the instrumentation that Tuxen and Telmányi made changes, ostensibly to ensure a wider audience for the work via radio and gramophone, “both of which demand a thinning-out of the instrumentation”, as Erik Tuxen is said to have stated in connection with Nielsen’s possibility of becoming “world famous”.18 Tuxen’s edition has been used in numerous performances and recordings since its appearance and even after the symphony became available in CNU’s revision (vol. II/5, 1998) there are still conductors who prefer Tuxen’s retouching and changes to the revised new edition.19 The transmission of Three Motets op. 55 (one of the composer’s very latest works) has also caused problems in this respect – so much so, in fact, that the work has had difficulty gaining a foothold on the international musical scene despite its text being in Latin, not Danish. It is well documented by the sources that the Danish church musician and conductor Mogens Wöldike had a considerable influence on this work. But it cannot be established with certainty whether the many dynamic and caesura-like instructions inserted by Wöldike in the first printed edition of 1931 were actually approved by the composer, or whether they were transferred without Nielsen’s knowledge to the first printed version from the now lost choral parts used in the first performance a year earlier. Clarification of this issue of course is crucial to whether the instructions in question should be included in CNU. The difficulty is that for a modern performance they seem alien to the style and have allegedly been the cause of the poor dissemination of the motets. Despite this and against the background of a detailed account of the genesis and reception of the work in the years ____________ 17 18 19
Carl Nielsen, Symfoni no. V op. 50, ed. by Emil Telmányi and Erik Tuxen, Copenhagen [1950], editorial remarks before p. 1. Quoted from Michael Fjeldsøe, Carl Nielsens 5. Symfoni. Dens tilblivelse og reception i 1920erne, in: Dansk Årbog for Musikforskning 24 (1996), p. 51f., note 4. See also David Fanning, Nielsen. Symphony No. 5 (= Cambridge Music Handbooks), Cambridge 1997, pp. 83–87.
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1929–1931, CNU has chosen to stick to the principles that changes made by people in the composer’s closest circle in his own lifetime are considered part of the main source,20 even if such a choice might conflict with an adequate performance today. Here, then, we have one of several examples of how practical and scholarly considerations do not always go hand in hand. During the years before the establishment of CNU, source-based revisions of a number of works were carried out with a view to specific performances or recordings, not least by Torben Schousboe, who for a period was the scholar most familiar with the situation in respect of Nielsen’s source material. However, these revisions had a certain ad hoc character, and they were not available in print; in addition, the philological basis for the revisions was not immediately evident from the work. Nevertheless Schousboe’s work in the 1970s and 1980s was of very great importance to the dissemination of Nielsen’s music; one of many examples that can be mentioned here is Schousboe’s revisions of the opera Masquerade21 and of the music for Adam Oehlenschläger’s play Aladdin22 as well as the preparation of the performance material for the collected a cappella choral music with the related, very extensive introduction to the works in connection with the gramophone recording of this music in 1984.23
IV.
The Carl Nielsen Edition 1998–2009
As indicated above, throughout the 1980s and early 1990s there were a number of initiatives towards the formation of a proper organization which would support the production of a collected edition of Nielsen’s works: partly from the Danish Composers’ Society, partly from the Nielsen scholar Torben Schousboe.24 For various reasons (economic, organizational, and more personal) these measures had no outcome, and it was only in connection with the newspaper articles about the performance of Masquerade in Innsbruck (see above) that a realistic and ambitious plan was laid in 1993 for a national pro____________ 20 21 22 23 24
The motets were given their first performance by Wöldike in April 1930 (the performance material is lost) and were printed in the spring of 1931, a few months before Nielsen’s death. With view to a gramophone recording in 1977 (Danish Music Anthology) by the Danish Radio Symphony Orchestra under the Danish conductor John Frandsen. With a view to a CD recording in 1992 (Chandos) with the Danish Radio Symphony Orchestra conducted by Gennady Rozhdestvensky. Text booklet from Carl Nielsen. Samlede værker for kor a capella (Danish Music Anthology), Dacapo, 1984. The latter had worked out a comprehensive plan for an edition, which at a certain stage was presented to officials in the Ministry of Culture in the beginning of the 1990s (cf. note 5).
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ject with the aim of publishing all of the composer’s works in a practicalscholarly edition on a considered philological basis.25 In contrast to the situation in many other countries, in Denmark in 1993 there was no great tradition of publishing music on a philological basis. The national Denkmäler series, Dania Sonans, the first volume of which had appeared in 1933,26 was published very irregularly and with varying emphasis on the philological aspect; nor was there any general plan for a focus in its repertoire. Beyond this there were individual scholarly editions of Buxtehude’s organ music and of music from the age of King Christian IV. Finally, the collected edition of Niels W. Gade’s music had been established a few years before, and the first two volumes of the edition had already been published in 1995. Despite these initiatives the newly started CNU – because of the abovementioned absence of a true tradition for such things in Denmark, but also because of the special source situation for Nielsen’s works – more or less had to start from scratch with the establishment of a scholarly foundation for such an edition and the drawing-up of technical editorial guidelines in a comprehensive internal document.27 Scope and Content of the Individual Volumes Each of the volumes in CNU is based on the same template: – A general preface to the whole edition – An introduction to the work or works in the volume with a description of the genesis of each work and its first performance, its reception in Nielsen’s lifetime and a brief overview of the source situation and the editorial strategy – Facsimiles of selected sources 28 – The music ____________ 25
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27
28
As initiative taker and later controlling body an editorial board was established with representatives appointed by the universities, The Royal Library and the Danish Musicological Society. Knud Jeppesen (ed.), Dania Sonans. Kilder til Musikens Historie i Danmark. Tomus I. Værker af Mogens Pedersøn, Copenhagen 1933. Since the first volume in 1933 a further 13 volumes have appeared in Dania Sonans. At the time of writing it is not clear whether Dania Sonans will be continued, as the project has been suspended indefinitely. Retningslinjer for Carl Nielsen Udgaven (Guidelines for the Carl Nielsen Edition), basic text dated 1999 and later regularly adjusted after editorial discussions. To a not insignificant extent these guidelines in 1999 could draw on the experience of the Gade edition for the drawing-up of a similar – if less extensive – document. It has been an invariable principle that only matters relating to reception and transmission up until Nielsen’s death in 1931 are included in CNU. Nothing relating to the fate of the works after 1931 has been mentioned.
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– A critical commentary consisting of a description of the sources, a filiation of sources and a List of Emendations and Alternative Readings CNU comprises all music by Carl Nielsen which has come down to us as finished works – whether they consist of many hundreds of score pages or less than ten bars; the criterion has been that the work has a clear beginning and ends with a double bar line! Sketches or unfinished works have not been included;29 Nielsen’s reworkings of his own or others’ works have also been omitted, unless there are two or more equally valid versions of a work, as is the case for example with many of the songs, with Canto Serioso and with Cantata for the Centenary of the Polytechnic Institute.30 The edition, which consists of a good thirty volumes, is divided into three main series: Theatre Music (9 volumes),31 Instrumental Music (12 volumes) and Vocal Music (7 volumes). Within each of these series the works are ordered by genre – as far as possible chronologically within each genre. In order not to obscure the picture of Nielsen’s artistic profile and to maintain a certain homogeneity in each volume, all works composed before Nielsen’s official debut as a composer (Suite for String Orchestra op. 1) are relegated to the concluding volume of Juvenilia et Addenda.32 In that connection there arises the familiar – sometimes even moral – issue of whether it is fair to publish works that were either disclaimed by the composer himself or in general are of a quality incompatible with the more canonical part of the œuvre. At CNU we have found no reason to omit such works. In the first place these works too can contribute to an elucidation of the composer’s artistic development, and secondly any omission would accentuate the demand for a more general qualitative assessment of the music, which is totally alien to a musico-philological project like CNU. Finally – as is also the case with the publication of artists’ letters – one must recall that an artist is always free to destroy works (or letters) he does not want preserved for posterity; that was what Sibelius, among many others, did. Against the background of the above remarks, Juvenilia et Addenda thus consists of two main groups of works. First, there are works that can definitely ____________ 29
30 31 32
In the view of CNU, publication of the sketches only makes sense if the publication is accompanied by a complete facsimile or a “diplomatic” rendering of the individual sketch, supplemented by a full account of its relationship with the final composition; this kind of work does not belong in a complete edition but in a special publication. On the other hand a number of four-hand piano versions of various orchestral works – approved by Nielsen – have not been included in the edition. 14 volumes, counting the double publication of the two operas (Danish/German and Danish/ English). Nielsen considered the performance in September 1888 of the Suite for String Orchestra as his official debut as a composer. In fact a year earlier, in September 1887, his Andante Tranquillo e Scherzo had been performed in a concert in Tivoli; this work has therefore been included in the volumes of minor orchestral works, not in Juvenilia et Addenda.
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be dated before opus 1 (Suite for String Orchestra); that is, mainly compositions from Nielsen’s early youth as a military bandsman in Odense and from the Academy years in Copenhagen, 1883–1886. The String Quartet in D minor, which according to tradition was Nielsen’s visiting card for his first meeting with the then principal of the Academy of Music in Copenhagen, Niels W. Gade, is of particular interest. Besides this work, the group further comprises a number of isolated quartet movements, a Piano Trio, two Romances for Violin and Piano and various other minor works for piano and chamber ensemble. And secondly a group of minor works that cannot be definitely dated and therefore cannot directly be included under the designation Juvenilia, but which share the feature that in the sources they appear as finished compositions. In this connection it should be emphasized that the issue of authenticity hardly has any relevance in connection with Carl Nielsen. The language is of course a problem when it comes to an international edition of a Danish composer. All texts placed before the music are in both Danish and English,33 whereas the critical commentary after the music is exclusively in English. The verbal comments in the course of the music (including work titles) also appear both in the original language and in English. The actual texts of the many vocal works (series I and III) have presented more of a problem. Nielsen wrote the great majority of his music to Danish texts. In fact there are only the following exceptions from this:34 – Italian Pastoral Aria (Italian) – Hymnus amoris (Latin) – Three Motets (Latin) – Two songs to Swedish texts35 All the works are of course published with the text in the original language; certain works further have the vocal text in a singable English (or German) translation with a view to the dissemination of the music internationally as well as a rendering of the content of the works for non-Danish-speaking scholars. This applies on the one hand to the two operas (singable libretto in Danish, English and German below the music),36 and on the other to the many songs (singable text in Danish under the music and in English after the music in an ____________ 33
34 35 36
Most other Scandinavian editions of recent date (the Berwald Edition, Gade Edition, Sibelius Edition and Grieg Edition) have chosen only to publish the text in English and/or German. The retention of the text in Danish in CNU should be viewed against the background of the composer’s status as a national icon and the fact that as a result of the funding situation it sees itself as a national edition. Lieder von J. P. Jacobsen (German), which is a selection of songs from op. 4 and op. 6, is a parallel edition to the Danish edition, and was not composed by Nielsen to German texts. “Sof sött, du lille Sonja” and “Det är höst”, the latter to a text by Alma Rogberg. The operas exist in two versions, each in its own volume: Danish/English and Danish/German.
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appendix).37 By contrast the 22 plays and the 14 cantatas are printed solely with the original Danish text, although the content of the text is paraphrased in the English introduction to the works. At a time when it is becoming more and more common to perform music in the original language (even when this is not one of the widely known languages) one can discuss the rationale of publishing vocal music with translated, singable texts. For one thing, to the trained ear of someone with a knowledge of the original text, the translated text will almost always sound “wrong” in relation to the music; and for another the adapted, translated text will often be of dubious value as a lyrical text, because it has had to make allowances for the musical metre. CNU – as indicated above – has chosen a pragmatic solution and published texts in translation for the works that could conceivably gain wider currency thanks to the possibility of performing them with English (or in the case of the operas with German) texts. Viewed from the scholarly, analytical perspective, a word-for-word translation – which would thus not be singable – is of course preferable; however such a translation has been outside the remit of CNU.38 It is well known that there are two “schools” of modern music philology, each of which swears to its own principle when it comes to the written music: one school wants revisions and additions to be directly evident from the music page (special typography, notes at the bottom of the page, comments in brackets etc.), while the other school believes that such things should only appear in the critical commentary after the music, and that the music page should appear without editorial remarks of any kind. CNU belongs to the latter “school”. Against the background of their knowledge of the music and its transmission as well as a reading and an interpretation of the sources the editors have chosen one and only one version of the musical text. The critical commentary documents the choices and indicates alternative possibilities. The core issue here is the equation of editing with interpretation.39 This attitude is often misunderstood and perceived as if CNU wishes to be prescriptive about the practical performance of the music. This is not the case. A scholarly edition cannot dictate a particular performance or a particular interpretation, as such things ____________ 37 38
39
All the 296 songs are available in a new English translation made for CNU, thus at the same time comprising a representative selection in English of Danish poetry. In a scholarly edition from 2012 by the Danish Center for Music Publication of the Danish composer Peter Heise’s opera King and Marshall the latter solution has been chosen (http://www.kb.dk/en/ kb/nb/mta/dcm/udgivelser/heise/drot_og_marsk.html). Cf. also James Grier, The Critical Editing of Music, Cambridge 1996, who programmatically states on the first page: “This book attempts to redress the balance, to make editing the focus of critical debate, and to challenge editors to recognize the degree to which critical interpretation and editing are inseparable, as the expression textual criticism shows” (p. xiii).
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are the right and duty of the musician. But the editor can offer a well-argued proposal for what should form the basis for an artistic execution, a basis that to the greatest possible extent reproduces the “correct” reading of the sources. It is to this – not to the retouchings or “improvements” of later times – that the musician or analyst can and must apply his or her interpretation. The Sources Apparently Nielsen did not draw up sketches for his works to the same extent as many other composers. Only for a small selection of works is there more extensive sketch material, works like the String Quartet op. 5, Sinfonia Espansiva, Aladdin and Commotio. For other works there are a few, very scattered sketches and for a large number of works there are none at all. In CNU, as mentioned before, these sketches are not reproduced. According to the tradition (both the preserved material and accounts of Nielsen’s mode of composition) Nielsen would often compose at the piano, where he notated the work in pencil in the draft – usually by and large in its final form. The subsequent work with the fair copy was then done by Nielsen himself or one of his pupils or friends. It is well known that the composer considered the work of faircopying, like proofreading, extremely trivial, and tried at all costs to get through it as painlessly as possible. This attitude is one of the reasons for the many discrepancies one finds between the draft and the fair copy, discrepancies, which the editor must interpret either as errors or as the composer’s corrections in connection with the copying by the composer. Or to put it differently, the editor must assess whether these are examples of inattention or compositional activity from Nielsen. The performance material, too, poses a problem for any editor, not least when the composer, like Nielsen, often conducted the works himself and thus made his own additions and corrections in the material. Such material was determined by the specific performance situation, the abilities of the musicians, the acoustics of the concert hall, execution and notation conventions and many other factors.40 Its authority compared with the main source is therefore extremely limited, and in many cases quite non-existent. Of course this does not alter the fact that the part material from performances where Nielsen was ____________ 40
Peter Hauge, Carl Nielsen and Intentionality, in: Carl Nielsen Studies 1 (2003) pp. 42–81, refers in this connection to concepts from the world of textual criticism: “final authorial intention” and “the socio-historic aspects of a work”, where one can say as a parallel that the performance material represents the latter category while the revised main source represents the former (pp. 49ff.).
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in one way or another involved has been collated with the main source and in certain cases has functioned as a corrective. This is where the often-discussed “concept of the work” comes into the picture. Although one can easily lose oneself in philosophical discussions of the concept, it is not unimportant for an editor to be clear about where the work is – and thus to take a stand on what it is that is to be published. Is it the work as it was manifested in a particular known performance (for example the first performance)? Is it the written music as it appears in one particular source? Is it a combination of a main source plus corrections made on the basis of other sources? Is it the work, not necessarily as it has been fixed in the written sources, but as the editor, from his study of the matter, supposes the composer conceived it – that is, what one could call the composer’s “intended meaning”? Such questions are presumably raised in any scholarly edition, and the choice among the various possibilities can in fact vary from work to work. But at CNU the basic attitude is clearly that the work is published on the basis of the source which according to the filiation appears as the main source, emended partly on the basis of parallel passages in the main source, partly on the basis of close consideration in the light of secondary sources from the hierarchic source structure behind the work. What the composer perhaps should have written, or what might possibly sound better, is irrelevant to the edition. “Fassung letzter Hand” Like so many other scholarly editions, CNU, too, works with the ideal concept of a “Fassung letzter Hand”, defined as the latest version of a work sanctioned by the composer. In cases where the work was printed during Nielsen’s lifetime, the printed edition – when possible with the composer’s added corrections – will be the main source; where the work was not available in print before 1931 the main source will normally be the fair copy. But whether the first printed edition or a fair copy is interpreted as “the composer’s last will”, it will clearly be necessary in many cases to edit the music against the background of analogies on the source’s own terms, to correct it with reference to other authentic sources, or even to accept earlier versions of a passage because of errors and inaccuracies in the fair copy. In this connection it should be mentioned that Nielsen hardly ever returned to a work composed earlier in order to revise it; when a work was finished, the composer moved on. In a single striking case the edition has had to depart from the principle of reproducing Nielsen’s “last will”. This is not surprisingly the opera Masquerade, which Nielsen changed regularly both before the premiere and later in the
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various revivals. In this case the edition reproduces Carl Nielsen’s original version, as it was before he made the various changes before and after the premiere, although all changes are of course noted in the critical commentary. This is what we could call a – never-performed – “Urfassung”, rather than a “Fassung letzter Hand”.41 The justification for this decision, which in a way breaks with one of the fundamental principles of the edition, lies partly in the opera genre itself, where the work concept is difficult to handle, and partly, in consequence of this, in a number of external circumstances related to the various performances. Publication of a “Fassung letzter Hand” of a work like Masquerade would involve a notion that behind the work there was some striving towards the definitive version, sanctioned by the composer – a notion that is quite without justification in the actual performance and reception circumstances. The very fact that a number of changes, both before the premiere and in connection with later performances, were forced on the composer by the theatre because of financial considerations underlines this.42 A special problem related to constructs like “Fassung letzter Hand”, “intended meaning” and “the concept of the work” stems from the fact that several passages in Nielsen’s music were orchestrated by others than himself. In such cases what we have from the composer’s hand is simply a piano arrangement with scattered references to the instrumentation, or an actual short score, which lacks a final form; and sometimes the letters provide further guidance on a number of details. Such passages or works are regarded in CNU as fully valid Nielsen works as long as every single outside contribution has been made under the guidance of the composer and subsequently approved by him. Of works with long or short passages with instrumentation by others (but with the full approval of the composer) we can mention the Flute Concerto (Emil Telmányi), Aladdin (Nancy Dalberg), Sir Oluf he Rides – (Julius Röntgen), many of the hymns (Paul Hellmuth),43 Hymn to Art (Joachim Andersen), The Mother (Emil Reesen) and the Fourth Symphony (Knud Jeppesen). In a ____________ 41 42
43
See CNU I/1–3, Preface and Critical Commentary. See Hauge, Intentionality (cf. note 40), who also gives an account of the complex relationship between Nielsen’s draft for the whole opera and the fair copy, where only Act One is in Nielsen’s hand, while Acts Two and Three were fair-copied by Nielsen’s close friend, the pianist Henrik Knudsen. The collaboration on the collection Salmer og Aandelige Sange between Nielsen and his pupil Paul Hellmuth sometimes had the slightly odd result that each wrote his own harmonization of Nielsen’s melody, then bar by bar they chose which of the two harmonizations was to be used in the final work. This is true for example of what is perhaps the most famous of the hymns, “Forunderligt at sige”, which belongs to the standard repertoire of Danish choirs and is sung in most Danish churches every Christmas. Also the harmonization of “Min Jesus, lad mit Hjerte faa” (known as the theme of the set of variations in the Wind Quintet) was harmonized by Hellmuth.
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single case (Cantata for the Opening Ceremony of the Aarhus National Exhibition 1909) whole movements were drawn up by Emilius Bangert, quite without instructions from Nielsen, so that the work in its entirety appears as the work of two composers.44 Only a strictly purist approach to the assessment of the musical work’s relation to its composer would mean that such works could not be published in a collected edition of Nielsen’s œuvre, and CNU has therefore had no scruples about including these works too in the authentic Nielsen canon. The following will concentrate on a single example of a work where the whole instrumentation was left to someone else. The choral work Springtime on Funen – one of the most frequently performed works with its close connection to the Danish landscape around Nielsen’s birthplace – was instrumented and fair-copied throughout by Nielsen’s composition pupil Nancy Dalberg on the basis of instructions from the composer (which she incidentally did not always follow). The arrangement was due partly to ordinary pressure of time from Nielsen’s side, partly to health reasons; in addition, at this time (the late summer of 1921) he was in the middle of the work on his Fifth Symphony, which in every respect must be regarded as an opposite pole to Springtime on Funen. Thus there is no source in Nielsen’s own hand for the score of Springtime on Funen, only a draft for the piano score. Dalberg’s score does however contain a number of additions in Nielsen’s hand, and it was used for all performances in the composer’s lifetime.45
V.
The Effect of The Carl Nielsen Edition
From the outset CNU was launched as a practical and scholarly edition, and because of the large amount of public-sector funding it was followed with considerable attention by the surrounding musical world. The practical aim has meant – besides the above-mentioned considerations of the clarity of the musical text (without typographical indications of revisions and variants) – that for all relevant works performance material can be ordered in the form of parts and – for a few of the works – piano scores.46 The edition has been used in many performances and CD recordings in Denmark and abroad as the individual works have become available, and a number of CD projects have actually cited the use of the revised material as an element in the ____________ 44 45 46
In order to preserve the overall sequence of the work, both Nielsen’s and Bangert’s movements are included. See CNU III/1, Preface and Critical Commentary. So far piano scores have been produced for the two operas and the three concertos.
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marketing of the CD.47 CNU has also led to the performance of works that have never been played in public since their first performance in Nielsen’s lifetime; the two most spectacular of these new performances are the music for two of the theatre plays, Aladdin by Adam Oehlenschläger and Sir Oluf he Rides by Holger Drachmann, two of Nielsen’s largest scores.48 But there have also been problems with the practical musical world, especially when it comes to the frequently played works such as the six symphonies, Helios, the overture to Masquerade and other works that have been part of the standard repertoire of Danish orchestras since Nielsen’s death. As indicated above, in the course of time various musicians have made changes in Nielsen’s instrumentation. In fact a particular performance tradition has been passed on from one generation of musicians to the next, and because of Nielsen’s status in Denmark it has been viewed as inviolable. It has therefore sometimes been regarded by Danish musicians as a problem – for some even as sacrilege – when CNU has had to break with this tradition for philological reasons, and has published a version of the music which differs from the tradition in a number of respects. In this area the well known mutual scepticism between the musician and the musicologist has sometimes flared up; in a few cases so much that orchestras have quite simply refused to play from the revised parts and have demanded the old music back on their desks!49 The scholarly significance of the edition is more difficult to assess. The investigation of the genesis and contemporary reception of the individual works has produced much new knowledge of Nielsen’s method and conditions of working, and the systematic description of the sources and the establishment of the hierarchy for each work has created the foundation for a reliable musical text. And finally the very fact that a number of hitherto unpublished works can now be studied and compared with the well known canonical works has given rise to new analytical approaches to Nielsen’s music.50 ____________ 47
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It goes without saying that the recording of the six symphonies and three concertos by the New York Philharmonic Orchestra, launched in 2012 with the recording op Nielsen’s Second and Third Symphonies, will use the scores and parts of the CNU all the way through. The latter was performed in November 2008 under the baton of Michael Schønwandt as an introduction to the celebration of the completion of the edition. The dances and the march from Aladdin are among the most frequently performed music by Carl Nielsen, but when the collected theatre music with its long passages of melodrama was performed from the new revised edition in 2004, it had only been performed once since the first performance of the play at the Royal Theatre in Copenhagen in 1919. This is true not least of one of Denmark’s two most important orchestras, the Danish Radio Symphony Orchestra, which since its foundation has viewed the dissemination of Nielsen’s music as one of its prime tasks. No doubt the two most recent books about Nielsen’s music written by scholars outside Denmark (Anne-Marie Reynolds, Carl Nielsen’s Voice. His Songs in Context, Copenhagen 2010, and Daniel M. Grimley, Carl Nielsen and the Idea of Modernism, Woodbridge [et al.] 2010),
The Carl Nielsen Edition
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With the conclusion of CNU in 2009, just under 150 years after his birth in 1865, Nielsen’s entire output has for the first time become available in print. Now the whole œuvre can be played and studied, and the broad lines of his compositional activity can be drawn. In view of Nielsen’s position as unconditionally the greatest Danish composer and his placing in the European musical history of the twentieth century, and by virtue of the many economic resources behind the project, CNU must be characterized as a unique milestone not only in Danish musical culture, but in Danish culture as a whole. The edition has had unparalleled economic conditions – both from the public and private sector – and it has enjoyed unique public attention. It has set a standard for music publishing activity in Denmark and has worked up a music-philological expertise that will benefit other similar national projects.51 Since the beginning of the 1990s three major publication projects relating to the sources for Nielsen’s life and work have been launched. Besides CNU these are a collected edition of Nielsen’s writings (lectures, articles and program notes),52 which appeared in 1999, and an annotated edition of letters to and from Nielsen, begun in 2001 and finished in 2015 with its 12th and last volume.53 The final resource for the future study of Nielsen’s music to be mentioned here is an annotated thematic catalogue of his œuvre which was made available online in 2015 (http://www.kb.dk/dcm/cnw/document.xq?doc=cnw0186.xml), including a new numbering of the composer’s more than 400 works. The catalogue has been under way since 2010, made by the Danish Centre for Music Publication at The Royal Library and mainly built on the introductions and source descriptions of CNU. In addition it contains references to letters and the most important literature related to the works in question. Since 2010 the Danish Centre for Music Publication has established the technical foundation for an online thematic catalogue of Nielsen’s work (CNW), which will both exploit the possibilities and advantages of the internet and make possible printed versions of all or part of the contents of the online records. In recent years the Danish Centre for Music Publications have developed a web-based tool to facilitate capturing, editing, storing, and reviewing music __________
51
52 53
have benefited from the fact that the complete works of Carl Nielsen became available in a scholarly guise while they were writing. One of the consequences of the CNU was the founding in 2009 of the Danish Center for Music Publication, which since then has continued the philological experience and expertise that was formed by the staff of the CNU (http://www.kb.dk/en/kb/nb/mta/dcm/index.html). Carl Nielsen, ed. by Fellow (cf. note 10). Carl Nielsen Brevudgaven, ed. by John Fellow, 12 vols., Copenhagen 2005–2015.
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Niels Krabbe
metadata labeled by the acronym MerMEId (Metadata Editor and Repository for MEI Data) based on the so-called Music Encoding Initiative (MEI).54 These three comprehensive publications with Nielsen’s writings, letters and music in scholarly, annotated editions, combined with the online thematicbibliographic catalogue of his work, have given research brand new possibilities, and jointly and severally these source editions paint a new and more complete portrait of the composer and his music. We now have the background to write a general monograph on Nielsen, just as it has become possible to evaluate his music in its entirety and thus place him in the context and the position in European musical history that is his due.
Editions Carl Nielsen Brevudgaven, ed. by John Fellow, 12 vols., Copenhagen 2005–2015 Carl Nielsen. Samlede klaverværker, ed. by Arne Skjold Rasmussen, Egtved 1987 The Complete Solo Piano Music of Carl Nielsen. A Critical Revised Edition, ed. by Mina Miller, Copenhagen 1982
Literature Carl Nielsen til sin samtid, ed. by John Fellow, 3 vols., Copenhagen 1999 Fanning, David: Nielsen. Symphony No. 5 (= Cambridge Music Handbooks), Cambridge 1997 Fjeldsøe, Michael: Carl Nielsens 5. symfoni. Dens tilblivelse og reception i 1920erne (Carl Nielsen’s Fifth Symphony. Its compositions and reception in the 1920s), in: Dansk Årbog for Musikforskning 24 (1996), pp. 51–68 Flensborg Petersen, Kirsten: Når “Aarbøger for Nordisk Oldkyndighed” bliver en kilde til Carl Nielsen Udgaven (When “Aarbøger for Nordisk Oldkyndighed” Becomes a Source for The Carl Nielsen Edition), in: Musikvidenskabelige kompositioner. Festskrift til Niels Krabbe, Copenhagen 2006, pp. 579–590 Foltmann, Niels Bo and Lisbeth Ahlgren Jensen: Det Kongelige Bibliotek som udgiver af den musikalske kulturarv (The Royal Library as Editor of the Musical Cultural Heritage], in: Umisteligt. Festskrift til Erland Kolding Nielsen, Copenhagen 2007, pp. 571–588 Grier, James: The Critical Editing of Music, Cambridge 1996 Grimley, Daniel M.: Carl Nielsen and the Idea of Modernism, Woodbridge [et al.] 2010 Hauge, Peter: Pigen med den skæve ryg. Carl Nielsens forkortelser af operaen “Maskarade” (The Girl with the Crooked Back. Carl Nielsen’s Cuts in the Opera “Masquerade”], in: Fund og forskning i Det Kongelige Biblioteks samlinger 38 (1999), pp. 291–312 Hauge, Peter: Carl Nielsen and Intentionality, in: Carl Nielsen Studies 1 (2003) pp. 42–81 Krabbe, Niels: Ebbe Hamerik and the First Symphony, in: Carl Nielsen Studies 1 (2003), pp. 102–123 Krabbe, Niels: The Reception of Gade, Hartmann and Nielsen: Three Danish Classics, and the Role of the Scholarly Edition, in: Fontes 52 (2005), pp. 116–124 ____________ 54
The Nielsen site will be available online during the autumn of 2014. At present (June 2014) MerMEId is being used in connection with catalogues of music by Carl Nielsen, J. P. E. Hartmann, Niels W. Gade, J. A. Scheibe and Johan Svendsen. For a further discussion of the use of MEI, see Axel Teich Geertinger, Turning Music Catalogues into Archives of Musical Scores – or Vice Versa: Music Archives and Catalogues Based on MEI XML, in: Fontes artis musicae 61/1 (2014).
The Carl Nielsen Edition
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Krabbe, Niels: The Carl Nielsen Edition, in: Nordic Music Editions. Symposium 1.–2. September 2005. Proceedings, ed. by Niels Krabbe, Copenhagen 2006, pp. 89–95 Krabbe, Niels: 15 år med Carl Nielsen! Carl Nielsen Udgaven i internationalt perspektivt (Fifteen Years with Carl Nielsen! The Edition in an International Perspective), in: Magasin fra Det Kongelige Bibliotek 22 (2009), pp. 16–25 Krabbe, Niels: The Carl Nielsen Edition, in: Carl Nielsen Studies 4 (2009), pp. 88–106 Krabbe, Niels: The Carl Nielsen Edition. Brought to a Completion, in: Fontes artis musicae 59 (2012), pp. 1–13 Miller, Mina F.: Carl Nielsen. A Guide to Research, New York and London 1987 Miller, Mina F.: Ink v. Pencil. Implications for the Performer, in: The Nielsen Companion, ed. by Mina Miller, Portland 1995, pp. 489–494 Reynolds, Anne-Marie: Carl Nielsen’s Voice. His Songs in Context, Copenhagen 2010 Teich Geertinger, Axel: Turning Music Catalogues into Archives of Musical Scores – or Vice Versa: Music Archives and Catalogues Based on MEI XML, in: Fontes artis musicae 61/1 (2014), pp. 61–66 For a comprehensive Bibliography cf. Carl Nielsen Bibliography 1985–2011, in: Carl Nielsen Studies 1–5 (2003–2013) (http://www.kb.dk/en/kb/nb/mta/cnu/cn_bibliography.html)
Timo Virtanen
Jean Sibelius Werke
I.
Überblick: Geschichte und Gegenwart der Sibelius-Gesamtausgabe1
Der Gedanke, eine Gesamtausgabe von Jean Sibelius’ Werken herauszugeben, geht spätestens bis in die Zeit der Feiern zum hundertsten Geburtstag des Komponisten im Jahr 1965 zurück. Damals war die Zeit aber noch nicht reif für ein solches Vorhaben: Seit dem Tod des Komponisten waren nur acht Jahre vergangen, und kaum jemand konnte sich ein vollständiges Bild vom Lebenswerk des Komponisten machen oder hatte Zugang zu den Quellen seiner Werke. Der erste Teil der monumentalen Sibelius-Biographie von Erik Tawaststjerna wurde ebenfalls im Jahr 1965 veröffentlicht, und während der folgenden Jahre wurde das biographische Gesamtbild von Sibelius’ Leben und Werk vervollständigt.2 Schließlich bedeutete die umfassende Schenkung, die die Sibelius-Erben der Universitätsbibliothek Helsinki (der heutigen Finnischen Nationalbibliothek) 1982 machten, einen entscheidenden Schritt für die Sibelius-Quellenforschung. Diese Schenkung – Sibelius’ eigene Handschriftensammlung, die insgesamt Tausende von handschriftlichen Seiten unterschiedlicher Art enthält – ermöglichte eine umfassende Erforschung der Quellen seiner Werke und seines Schaffens.3 ____________ 1
2
3
Dieser Beitrag beruht teilweise auf dem im Frühling 2008 aktualisierten Vorwort der SibeliusGesamtausgabe. Das Vorwort wurde aufgrund der während der editorischen Arbeit gewachsenen Erfahrungen und vertieften Erkenntnisse und Perspektiven überarbeitet. Der Beitrag beabsichtigt, die Hintergründe der in dem Vorwort angestoßenen Diskussion zu erläutern und die Ausführung der dort behandelten Themen zu erweitern. Die Sibelius-Biographie von Erik Tawaststjerna in fünf Bänden wurde auf Schwedisch geschrieben, aber in den Jahren 1965–1988 zuerst in einer finnischen Übersetzung veröffentlicht. Eine deutsche Übersetzung erschien 2005. Neben dieser Biographie wurde 1984 eine SibeliusBiographie von Erkki Salmenhaara und 1987 ein Sibelius-Werkverzeichnis von Fabian Dahlström publiziert. 1990 fand die erste internationale Sibelius-Konferenz (in Helsinki) statt. Nach der Schenkung wurde die Sibelius-Handschriftensammlung in der finnischen Nationalbibliothek noch durch Ankäufe vermehrt. So wurden z. B. Manuskripte aus dem Archiv des Verlags Edition Wilhelm Hansen (Kopenhagen) erworben.
Jean Sibelius Werke
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Ein Verzeichnis der Sibelius-Manuskripte in der Universitätsbibliothek Helsinki, zusammengestellt von Kari Kilpeläinen, wurde im Jahr 1991 von Breitkopf & Härtel veröffentlicht, und bald danach wurden auch konkrete Vorbereitungen einer Sibelius-Gesamtausgabe eingeleitet.4 Es fanden Gespräche mit den Verlagen von Sibelius, vor allem mit Breitkopf & Härtel, wie auch mit potentiellen Geldgebern statt, mit dem Ergebnis, dass das Projekt Jean Sibelius Werke (JSW), die erste kritische Gesamtausgabe auf dem Gebiet der Musik in Finnland, im Frühjahr 1996 ihre Arbeit aufnehmen konnte.5 Es handelte sich um eine der ersten Gesamtausgaben eines Komponisten, dessen Werke urheberrechtlich noch geschützt waren. Die Herausgeber der JSW sind die Sibelius-Gesellschaft Finnland, die Finnische Nationalbibliothek und der Verlag Breitkopf & Härtel. Die finnischen Vertragspartner kümmern sich (auch finanziell) um die wissenschaftliche Editionsarbeit, während der Verlag für die Herstellung und den Vertrieb der JSWBände zuständig ist. Auf der Grundlage der kritischen Ausgabe kann der Verlag dann praktische Ausgaben, Orchestermaterialien sowie Dirigier- und Studienpartituren herstellen. Die Finanzierung der Editionsarbeit in Finnland ist zwischen dem Staat (Ministerium für Bildung und Kultur) und privaten Fonds und Stiftungen jeweils zur Hälfte aufgeteilt. Das Projekt ist in der Nationalbibliothek (Helsinki) untergebracht, wo sich auch der größte Teil der Manuskriptmaterialien befindet.6 Die Sibelius-Gesamtausgabe wird als das umfangreichste Forschungsprojekt auf dem Gebiet der Musikwissenschaft in Finnland betrachtet. Fabian Dahlström hat in seinem grundlegenden Sibelius-Werkverzeichnis 117 Kompositionen mit und 225 ohne Opusnummer aufgelistet.7 Dank der in diesem Verzeichnis erwähnten Werke ist das Bild über das Œuvre des Komponisten bis in die letzte Zeit immer vielschichtiger geworden: Werke aus den Jugend- und Studienjahren, verschiedene Fragmente sowie Frühfassungen sind von den Sibelius-Forschern und -Interpreten an die Öffentlichkeit gebracht ____________ 4 5
6
7
Kari Kilpeläinen, The Jean Sibelius Musical Manuscripts at Helsinki University Library, Wiesbaden 1991. Vor dem Beginn des Projekts wurden Ausbildungskurse für potentielle Editoren an der Universität Helsinki und in der Sibelius-Akademie veranstaltet. Weil die JSW die erste kritische Gesamtausgabe in Finnland war (und auch heute noch die einzige geblieben ist), wurden andere nordische Gesamtausgaben (Edvard Grieg, Carl Nielsen) zu Editionsprinzipien und -prozeduren u. Ä. zu Rate gezogen. Wichtige Sammlungen von Sibelius-Handschriften gibt es u. a. auch im Robert-Lienau-Archiv (Erzhausen) und im Sibelius-Museum (Turku, Finnland). Sibelius’ Korrespondenz und andere wichtige schriftliche Quellen sind zum größten Teil im finnischen Nationalarchiv (SibeliusFamilienarchiv) in Helsinki aufbewahrt. Fabian Dahlström, Jean Sibelius. Thematisch-bibliographisches Verzeichnis seiner Werke, Wiesbaden 2003.
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Timo Virtanen
worden. Auf dem Gebiet der Sibelius-Quellenstudien gibt es für die Wissenschaftler noch viel Arbeit und Vieles zu entdecken: Unsere Kenntnisse von Sibelius’ Musikmanuskripten und seiner Korrespondenz, Veröffentlichungsprozessen, frühen Aufführungen und der zeitgenössischen Aufführungspraxis seiner Werke, um einige Forschungsthemen zu erwähnen, enthalten noch viele Lücken. Neben dem hauptsächlichen Ziel, das Gesamtwerk von Sibelius in einer modernen textkritischen Ausgabe zu veröffentlichen, hat die JSW auch zur Beseitigung der erwähnten Wissenslücken erheblich beigetragen. In der JSW werden alle vollendeten Werke von Sibelius, einschließlich kompletter Frühfassungen und eigener Bearbeitungen, veröffentlicht. Da einige gedruckte Ausgaben vergriffen sind, einige sogar zentrale Werke nie gedruckt wurden und viele frühere Editionen nicht unumstritten und wenig zuverlässig sind, ist das Ziel der JSW Sibelius’ Œuvre in seiner Gesamtheit als sorgfältig überprüfte Edition vorzulegen. Zu den bisher unveröffentlichten Werken, die in der JSW-Serie erschienen sind, gehören u. a. die Orchesterballade Skogsrået op. 15, die Frühfassungen der Tondichtungen Vårsång, En saga op. 9, Lemminkäinen op. 22 und Aallottaret (Die Okeaniden) op. 73, einige Lieder mit Klavier- oder Orchesterbegleitung sowie eine Anzahl von Klavierwerken. Einige zentrale Werke wie die Kullervo-Symphonie op. 7 und die Tondichtung Luonnotar op. 70 für Sopran und Orchester waren früher nur in Faksimileausgaben nach unzulänglichen handschriftlichen Kopien verfügbar. Ein „vollendetes Werk“ oder eine „vollständige Frühfassung“ zu definieren ist ebenso wesentlich wie manchmal auch problematisch; deswegen werden in der JSW Entscheidungen hinsichtlich dieser Definitionen fallweise getroffen. Weil die Zahl an Skizzen und Entwürfen für einige Werke sehr hoch ist, wäre eine vollständige Aufnahme des gesamten Materials in die JSW nicht möglich. Jedoch werden Skizzen, Entwürfe, Fragmente sowie in den Autographen gestrichene oder andererseits verworfene Passagen, besonders wenn sie Relevanz für die Edition haben, wesentliche Punkte in der Genese beleuchten oder andere wichtige Information bieten, als Faksimiles oder in den Anhängen aufgenommen. Die JSW-Nummerierungen der Werke ohne Opuszahl sowie die Werktitel entsprechen grundsätzlich den Angaben in Dahlströms Sibelius-Werkverzeichnis. In einigen Fällen wurden jedoch von dem Werkverzeichnis abweichende Lösungen betreffs der Werktitel gefunden, worüber wahrscheinlich auch in der Zukunft nachgedacht werden muss.8 Die voraussichtlich 52 Bände der JSW gliedern sich in neun Serien: ____________ 8
So wurde die oben erwähnte Frühfassung der Tondichtung Vårsång op. 16 abweichend von dem Verzeichnis im JSW-Band I/9 als Improvisation/Vårsång (in Schwedisch) betitelt. Bei
Jean Sibelius Werke
Serie I Serie II Serie III Serie IV Serie V Serie VI Serie VII Serie VIII Serie IX
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Orchesterwerke Werke für Violine (Violoncello) und Orchester Werke für Streichorchester und Blasorchester Kammermusik Klavierwerke Szenische Werke und Melodramen Chorwerke Werke für Singstimme Varia
Die ersten veröffentlichten Bände der Sibelius-Gesamtausgabe waren der Liederband (JSW VIII/2, 1998) und die Symphonie Nr. 2 (JSW I/3, 2000). Bis Ende 2014 sind insgesamt 22 Bände erschienen.9
II.
Quellenlage und allgemeine Ausgangspunkte der Edition
Neben zahlreichen Skizzen und Entwürfe enthalten die der Nachwelt überlieferten Originalmaterialien sowohl Sibelius’ autographe als auch von fremder Hand ausgeführte Reinschriften. Mehrere dieser Reinschriften dienten als Stichvorlagen. In geringerer Zahl sind auch Orchesterstimmen, die aus der Zeit der Erstaufführungen der Werke stammen, und Korrekturabzüge überliefert.10 Die Quellenlage ist je nach Werk sehr unterschiedlich. Beispielsweise sind zur Symphonie Nr. 3 eine große Anzahl diverser Skizzen, Entwürfe und Fragmente, eine komplette Frühfassung des zweiten Satzes, Reinschriften sowohl vom Komponisten als auch von zwei Kopisten (deren Reinschriften als Stichvorlagen gedient haben), ein Handexemplar der Partitur mit Anmerkungen vom Komponisten sowie spätere Auflagen mit einigen Veränderungen greifbar. Hinzu kommen einzelne handschriftliche Orchesterstimmen und gedruckte Stimmen mit Sibelius’ Korrekturen sowie handschriftliche und gedruckte Korrekturlisten zu den Stimmen. Auch Sibelius’ Korrespondenz (besonders mit ____________
9
10
Dahlström trägt die „1. Fassung“ (in Finnisch) die Überschrift Improvisaatio [op. 16/1894]. Vgl. Dahlström, Thematisch-bibliographisches Verzeichnis (wie Anm. 7), S. 56. Der erstgenannte Band wurde im folgenden Jahr (1999) mit dem Deutschen Musikeditionspreis in der Kategorie „Kritische Gesamtausgaben“ ausgezeichnet. Die Symphonie Nr. 2 erschien im Jahr 2008 als zweite (unveränderte) Auflage. Für die Veröffentlichungen vgl. http://www.nationallibrary.fi/culture/sibelius/volumes/publishedtodate.html. Addenda- und Corrigendalisten zu den Bänden werden auf der Webseite des Verlags veröffentlicht. Sibelius war nach der Veröffentlichung seiner Werke offenbar nicht mehr an den handschriftlichen Kopien interessiert, und wahrscheinlich vernichtete er eine gewisse Anzahl seiner Skizzen und Entwürfe. Glücklicherweise ist das überlieferte Manuskriptmaterial jedoch zahlreich und vielseitig.
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Timo Virtanen
seiner Frau, seinem Freund Axel Carpelan und seinen Verlegern Robert Lienau und Breitkopf & Härtel) und seine Äußerungen gegenüber seinem Schwiegersohn, dem Dirigenten Jussi Jalas, bieten vielerlei Hinweise zu der Symphonie, ihrer Veröffentlichung und ihren Aufführungen. Die Quellenauswahl kann aber auch sehr gering sein: In einigen Fällen existieren gar keine autographen Quellen, sondern nur eine oder mehrere Kopien fremder Hand oder der Erstdruck. Von den Orchesterliedern Se’n har jag ej frågat mera op. 17 Nr. 1, På verandan vid havet op. 38 Nr. 2 und I natten op. 38 Nr. 3 (JSW VIII/1) hatte der Herausgeber lediglich handschriftliche Orchesterstimmen von einem Kopisten zur Verfügung. In diesen Fällen wurden der Partitur die Instrumentalstimmen zugrunde gelegt und die Singstimme der ursprünglichen Version für Gesang und Klavier entnommen (obwohl sich in den orchestralen Versionen der Lieder gegenüber den ursprünglichen Klavierfassungen häufig Veränderungen z. B. in der Dynamik zeigen). In op. 17 Nr. 1 musste die Singstimme aus der Originaltonart des Klavierliedes in die Tonart der Orchesterstimmen transponiert werden. Wie bekannt – und wie dieses Beispiel auf radikale Weise darlegt – hat die Quellenlage einen entscheidenden Einfluss auf die editorischen Prinzipien und das Prozedere bei jedem einzelnen Werk. Die Bedeutung und Aussagekraft der eigenhändigen Reinschriften des Komponisten für die kritische Edition ist unterschiedlich.11 Im Fall der ersten und zweiten Symphonie z. B. entsprechen die Autographen nicht völlig den gedruckten Fassungen dieser Werke: Bei den Abweichungen handelt es sich nicht nur um Kopisten- und Stecherfehler und -ungenauigkeiten, sondern auch um klare kompositorische Veränderungen. Zwischen den Reinschriften und den Erstdrucken muss in beiden Fällen eine als Stichvorlage verwendete Kopie existiert haben; leider sind diese Stichvorlagen nicht mehr vorhanden. Bei der dritten, sechsten und siebten Symphonie ist die Situation anders. Unter den verschiedenen Quellen der dritten Symphonie ist Sibelius’ eigenhändige Partiturreinschrift die weitaus unproblematischste und zuverlässigste Quelle. Die autographen Reinschriften der sechsten und siebten Symphonie dienten unmittelbar als Stichvorlagen für die Erstausgaben, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in jeder Hinsicht und jedem Detail Sibelius’ Absicht erfüllen, obwohl der Komponist wie gewöhnlich an der Herstellung der Ausgaben als Korrekturleser beteiligt war. Obgleich Sibelius’ Handschrift in den ____________ 11
Manchmal kann die Bestimmung „Reinschrift“ auch übertrieben sein: Sibelius’ autographe Partituren sind bisweilen unter Zeitdruck und infolgedessen weniger sorgfältig geschrieben; sie enthalten üblicherweise Durchstreichungen und Veränderungen, Korrekturen mit Bleistift usw. und sehen in der Tat nicht sehr „reinschriftlich“ aus.
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reinschriftlichen Autographen nicht immer ganz sauber ist – manchmal sogar eher das Gegenteil davon –, ist die Intention des Komponisten hinter dem Notenbild meistens eindeutig oder jedenfalls rekonstruierbar.12 Sibelius’ veröffentlichte Werke waren üblicherweise das Ergebnis eines zielgerichteten Prozesses, bei dem die gedruckte Partitur grundsätzlich als die „Fassung letzter Hand“ gelten sollte. Die gedruckten Ausgaben von Sibelius’ Werken wurden jedoch unter äußerst wechselhaften Umständen hergestellt, manchmal sogar Jahrzehnte nach der eigentlichen Komposition.13 Die Frage, inwieweit die gedruckten Ausgaben Sibelius’ „endgültige Intention“ wiedergeben, ist oft nicht eindeutig zu klären, was zum Teil damit zusammenhängt, dass Sibelius offensichtlich nicht immer und in jeder Hinsicht ein bereitwilliger, gewissenhafter oder systematischer Korrekturleser seiner eigenen Werke war.14 Infolgedessen enthalten die Erstausgaben, wenngleich sie im Wesentlichen unter der Aufsicht des Komponisten entstanden, sehr oft Fehler, Missverständnisse, Ungenauigkeiten und irreführende Vereinheitlichungen, die auf Kopisten und Stecher zurückgehen, sowie Abweichungen aufgrund der jeweiligen Verlagsgepflogenheiten. Im Vergleich mit den Autographen können die Erstausgaben aber auch Änderungen enthalten, die der Komponist erst während der Druckvorbereitungen vornahm.15 Grob gesagt folgen die Editionen zu Sibelius’ Lebzeiten in der Regel – aber keineswegs in jedem einzelnen Fall – hinsichtlich der „Hauptmerkmale“ des Notentextes wie Tonhöhen, Rhythmik und Tempoangaben der Absicht des Komponisten. Dagegen sind sie jedoch im Fall etwa der Dynamik und der Artikulation – besonders bei Crescendo- und Decrescendogabeln bzw. verschiedenen Akzenten – im Detail weitaus weniger zuverlässig. Es gibt manchmal sehr bedeutsame Unterschiede der Notationsweise zwischen den Sibelius’schen Manuskripten und den Erstdrucken seiner Werke. So ____________ 12
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Allerdings qualifizierte der Komponist in seinem Brief vom 26. Juni 1909 an Breitkopf & Härtel seine Handschriften als „nicht maßgebend“, weil ihm „immer etwas beim Correkturlesen auffällt“; zitiert nach Dahlström, Thematisch-bibliographisches Verzeichnis (wie Anm. 7), S. XIII. Als berühmte Beispiele wurden die 1892 uraufgeführte Kullervo-Symphonie op. 7 erst 1966 (posthum), die Tondichtung Luonnotar op. 70 (1913) 1981 und zwei von den LemminkäinenLegenden op. 22 (1895–1897), nämlich Lemminkäinen ja saaren neidot op. 22 Nr. 1 und Lemminkäinen Tuonelassa op. 22 Nr. 3, 1954 veröffentlicht. Sibelius selbst kannte die Probleme seines Korrekturlesens. So schrieb er beispielsweise in einem Brief an Breitkopf & Härtel vom April 1913 (in seinem nicht immer vollkommenen Deutsch) in Bezug auf die Serenata I op. 69 für Violine und Orchester: „Der Arrangement des Herren [Verlagslektor Hermann] Gärtner ist ausgezeichnet. Ebenso war seine Bemerkungen in meiner Partitur sehr am Platze. Es ist für mich oft sehr schwer Korrektur zu lesen weil – da ich alles im Kopfe habe – ich leicht Inkorrektheiten übersehen kann.“ Dennoch änderte der Komponist bisweilen seine Werke nach der Drucklegung, regte Revisionen an oder plante solche, und gelegentlich wurden in späteren Auflagen auch kleinere Änderungen berücksichtigt.
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Timo Virtanen
weicht etwa der Notentext im Erstdruck der dritten Symphonie in vielen Punkten von demjenigen des Manuskripts und, wie deutlich festzustellen ist, von der von Sibelius vorgesehenen Druckvorlage ab.16 Die Stichvorlage der Symphonie zeigt, dass der Verlagslektor, auf den zahlreiche Veränderungen zurückgehen, Sibelius’ originale forzati (fz) durch sforzati (sf) ersetzte.17 In dem JSW-Band (I/4) sind Sibelius’ ursprüngliche forzati gedruckt worden. Um wietere Beispiele von der Bewahrung der Sibelius’schen Originalschreibweise und -notation in der JSW-Edition der dritten Symphonie (und auch anderer Orchesterwerke) zu nennen: Im Gegensatz zu den früheren Ausgaben der Symphonie wird Sibelius’ forte-Anweisung, die in den Ausgaben beinahe konsequent als einfache dynamische Bezeichnung f abgekürzt wurde, als ganzes Wort beibehalten.18 Bei Vorzeichenwechseln werden doppelte Taktstriche (anstelle von einfachen, die Sibelius oft zog) nicht automatisch gesetzt.19 Sibelius’ eigenartige doppelte Binde- und Legatobögen werden nicht zu gewöhnlichen Einzelbögen reduziert.20 Zusammenfassend sei festgestellt, dass, obgleich Sibelius im Prinzip die Korrekturen der Erstdrucke seiner Werke in den meisten Fällen durchsah, dies wahrscheinlich noch nicht bedeutet, dass er tatsächlich den gedruckten Text vollständig autorisiert und akzeptiert hätte. In manchen Fällen erlaubt dies die Wiederherstellung von Sibelius’ Originalnotation, und zwar auch in solchen Fällen, in denen der Erstdruck (die späteren Auflagen waren sehr oft unveränderte Nachdrucke) als Hauptquelle bewertet werden muss. Es gibt viele Fälle, in denen eine bestimmte Quelle im Ganzen als verlässlich oder bestimmend, doch in einzelnen Aspekten als fraglich einzustufen ist. Daher kann, wenn für ein Werk mehrere Quellen überliefert sind, eine einzige Quelle selten als in jeder Hinsicht zuverlässig oder ausschlaggebend gelten. Diese Quellenlage, in ____________ 16
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Allerdings notierte der Schwiegersohn des Komponisten, der Dirigent Jussi Jalas, am 17. November 1943 (beinahe 40 Jahre nach der Veröffentlichung des Erstdrucks) die folgende Aussage (Unterstreichung von Jalas): „Die einzige Veränderung des Verfassers zur gedruckten Partitur ist die Weglassung von Fussnote ,sempre poco a p. stretto‘ [eigentlich Poco a poco un pochissimo stretto al fine] an der 4/4-Stelle [T. 240] des Finale.“ Dies ist vielleicht kein sehr großes Vergehen, aber der Komponist selbst schrieb kein einziges Mal sf in seinen Partituren. sf war jedoch auch keine „Hausregel“ bei Lienau, weil fz in anderen von demselben Verlag produzierten Sibelius-Partituren durchaus im Druck erscheint. In der Stichvorlage hatte auch der (bis heute noch unbekannte) Kopist einige forteBezeichnungen zu f abgekürzt. An einer Stelle in der Stichvorlage hat Sibelius hingegen selbst dafür gesorgt, dass forte als ganzes Wort ausgeschrieben wird (der Komponist hat das f des Kopisten entsprechend ergänzt); jedoch wurde forte nicht dem Wunsch des Komponisten gemäß gestochen. Vgl. hierzu auch Heinrich Schenker, The Art of Performance, hrsg. von Heribert Esser, Oxford 2000, S. 6. Schenkers fragmentarische Schriften über „die Kunst des Vortrags“ sind ausschließlich in englischer Übersetzung veröffentlicht. Für den Doppelbogen vgl. auch Arioso op. 3 und Luonnotar op. 70 im JSW-Band VIII/1 sowie in den zugehörigen Revisionsberichten.
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der die Quellen sich überkreuzen, führt jedoch zu keiner arbiträren Quellenmischung in der Edition. Kritisches Edieren bedeutet keinen Eklektizismus, sondern einen Prozess, in dem die Schreibgewohnheiten des Verfassers, die historischen Kontexte und die Lesarten der Quellen sorgfältig überprüft und im Revisionsbericht bewertet und dokumentiert werden; in diesem werden dann die editorischen Entscheidungen ausführlich begründet – ein Prozess, der nicht nur auf der Vergegenwärtigung der Lesarten in den Quellen gerichtet ist, sondern sich auch auf den Kontext und musikalische Beweise gründet. Die JSW zielt darauf ab, Sibelius’ Werke in gründlich geprüften Notentexten zu veröffentlichen und mehrdeutige, fragliche und widersprüchliche Lesarten der Primärquellen zu entschlüsseln. Fehler von Kopisten und Stechern, sowie andere nicht autorisierte Zusätze, Auslassungen und Änderungen werden berichtigt. Die Edition der Notentexte folgt der – manchmal eigentümlichen – Notation und Intention des Komponisten, so wie sie am unmittelbarsten aus seinen Autographen hervorgehen. Wenngleich die Notationspraxis des Komponisten die grundlegende Richtschnur der JSW ist, wird diese in einigen Punkten, zum Beispiel bei der Ausrichtung der Notenhälse und der vertikalen Platzierung der Artikulationszeichen, vereinheitlicht. Wenn eine solche Standardisierung jedoch Sibelius’ Absicht zu widersprechen scheint, dann hält sich die Edition so eng wie möglich an die Originalnotation des Komponisten.
III.
Die Präzisierung des Komponistenbildes durch die Sibelius-Gesamtausgabe
Wie erwähnt, ist die JSW die erste und bisher einzige kritische Gesamtausgabe im Bereich der Musik in Finnland. Eine systematische Studie der musikalischen Quellen und textkritische Forschungen haben in Finnland keine jahrzehntelange Tradition. Die JSW hat gleichwohl einen starken Einfluss auf die Präzisierung des Komponistenbildes. Um einige der zentralen Einflüsse zu nennen: 1. Die JSW ermöglicht zum ersten Mal einen umfassenden Überblick über das Gesamtwerk des Komponisten. Als eine direkte und jetzt schon spürbare Auswirkung dieses Aspekts ist das zunehmende Interesse von Interpreten an auch bisher seltener aufgeführten Teilen der Produktion, wodurch sich die Möglichkeit zu einer neuen Betrachtung und Beurteilung des Schaffens von Sibelius ergibt. 2. Die JSW bietet ein genaues Abbild der Quellenlage, der verschiedenen Lesarten und der Probleme in den Quellen der Werke und vermehrt dadurch
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unser Verständnis der Sibelius’schen Notationspraxis und -eigenschaften. Die Präzisierung dieses Bildes wirkt sich direkte auf weitere Sibelius-Aufführungen und die Forschung aus. 3. Die JSW stellt die Werke in ihren geschichtlichen Kontext. Die Einleitungen der JSW-Bände bieten detaillierte Informationen u. a. über die Entstehung, eventuelle Überarbeitungen, die Veröffentlichungsgeschichte, frühe Aufführungen und die Rezeption von Sibelius’ Werken. Biographisches Material und weiterführende Literatur, die z. B. für die Datierung der Komposition und spätere Revisionen wesentlich ist, sowie Sibelius’ eigene Aussagen zu seinen Werken und zu den jeweiligen Aufführungen werden immer auf Grundlage der Originalquellen – wie Sibelius’ Korrespondenz, Tagebuch und anderen Notizen samt zeitgenössischen Dokumenten – und ihres ursprünglichen Kontexts geprüft und bewertet. Die JSW-Bände bieten deshalb ausnahmslos völlig neue oder vertiefende Informationen zur Werkgeschichte.21 4. Die JSW eröffnet Perspektiven auf die Aufführungspraxis und den Aufführungsstil von Sibelius’ Werken in seiner Zeit.22 Die Kenntnis der Aufführungstradition ist fragmentarisch, und die JSW hat eine wichtige Rolle beim Sammeln der Dokumente und bei der Herstellung eines kontextbezogenen Bildes auf diesem Gebiet.23 In Finnland ist die Forschungstelle der Sibelius-Gesamtausgabe ein Zentrum für musikalische Quellenstudien geworden. Zusätzlich zu den oben erwähnten Einflüssen der JSW hat die Editionsarbeit ein breiteres Interesse an musikphilologischen Studien und Diskussion nach sich gezogen und den Weg für textkritische Ausgaben der Werke anderer Komponisten in Finnland bereitet.24 ____________ 21
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24
Beispielsweise bestand in der Sibelius-Literatur früher keine Sicherheit über die Anzahl der Frühfassungen von Vårsång op. 16. Nach ihrer Untersuchung kam die Herausgeberin zu dem Schluss, dass es in der Tat nur eine frühere Version vor der gedruckten Fassung gab, die um 1895 unter dem Titel Improvisation, aber wahrscheinlich auch schon als Vårsång aufgeführt und darum auch im JSW-Band unter dem doppelten Titel veröffentlicht wurde. Auch konnte man den früher unbekannten Zeitpunkt der Entstehung der Fassung für kleines Orchester von Cassazione op. 6 (JSW I/11) aufgrund mehrerer Noten- und schriftlicher Quellen bestimmen. Sibelius war als Dirigent seiner eigenen Werke aktiv, aber seine Tätigkeit als ausführender Interpret seiner Musik war zu Beginn des Schallplattenzeitalters schon vorbei. Das einzige klingende Dokument von Sibelius’ Dirigieren ist die Rundfunkaufnahme des Andante festivo (JS 122) aus dem Jahr 1939, als der Komponist schon 73 Jahre alt war. Beispielsweise werden frühe Einspielungen von Sibelius’ Werken in der Ausgabe berücksichtigt. So wurde Robert Kajanus’ Aufnahme der Symphonie Nr. 1 als Referenz hinsichtlich der Frage nach der Vertrauenswürdigkeit der Metronombezeichnungen im Erstdruck der Partitur herangezogen (siehe JSW I/2). So erschienen z. B. 2009 der erste und 2012 der zweite Band der Fredrik-/Friedrich-PaciusAusgabe. Der Louis-Spohr-Schüler Pacius (1809–1891) wurde in Hamburg geboren. Von 1835 an lebte er als Violinist, Komponist und Dirigent in Helsinki, arbeitete als Musiklehrer an der Universität und war ein vielseitiger Organisator der finnischen Musikkultur. Heute ist Pacius
Jean Sibelius Werke
IV.
613
Forschung und Praxis
Gemäß dem Vorwort der JSW-Bände dient die Sibelius-Gesamtausgabe „gleichzeitig der Forschung wie der Musikpraxis“. Wenn die Frage einer „wissenschaftlichen“ oder „philologischen“ versus einer „praktischen“ Eigenschaft der JSW (oder anderer Ausgaben) betrachtet wird, sollten die Definitionen „wissenschaftlich/philologisch“ und „praktisch“ bestimmt und voneinander abgegrenzt werden. In der JSW ist diese Grenze nur eine scheinbare. Die Sibelius-Gesamtausgabe geht davon aus, dass die „praktischen“ Musiker unserer Zeit – und nicht nur die historisch orientierten – mehr und mehr und immer vielseitiger informiert und an der Geschichte der Werke und der Quellen sowie der Auffassungen hinter dem gedruckten Notentext interessiert sind. Der „wissenschaftliche“ Apparat dient dazu, diese kontinuierlich wachsende Anzahl von Musikern zufriedenzustellen. In der Tat ist eine der Aufgaben der Edition, vorauszusehen, welche Fragen der Notentext bei den „praktischen“ Musikern hervorrufen kann, und diese Fragen zu klären und zu beantworten. Die textkritischen Editionen erfordern unter anderem geschichtliche, biographische, musikphilologische und -analytische Kenntnisse, aber – weil die musikalische Notation untrennbar mit der musikalischen Praxis verbunden ist – müssen sie auch dem „praktischen Musiker“ einen Einblick und ein Verständnis gewähren.25 Wie Heinrich Schenker formuliert hat: One can see […] how urgent the need for an authentic text is: a text based on manuscripts and first editions, read not only in a philologically, diplomatically accurate manner but also musically. By the exact realization of the masters’ clearly felt and considered mode of notation one can then achieve a plasticity of performance that virtually allows the piece to appear bodily, in light and shade.26
Literaturverzeichnis Dahlström, Fabian: The Works of Jean Sibelius, Helsinki 1987 Dahlström, Fabian: Jean Sibelius. Thematisch-bibliographisches Verzeichnis seiner Werke, Wiesbaden 2003 Grier, James: The Critical Editing of Music. History, Method, and Practice, Cambridge 1996 Kilpeläinen, Kari: The Jean Sibelius Musical Manuscripts at Helsinki University Library, Wiesbaden 1991 Salmenhaara, Erkki: Jean Sibelius, Helsinki 1984 Schenker, Heinrich: The Art of Performance, hrsg. von Heribert Esser, Oxford 2000 Tawaststjerna, Erik: Jean Sibelius. Eine Biografie, Salzburg 2005 ____________
25 26
vor allem als der Komponist der finnischen Nationalhymne bekannt und wird dank seiner grundlegenden Wirkung oft als „der Vater der finnischen Musik“ gerühmt. Vgl. auch die Diskussion in der Einleitung in James Grier, The Critical Editing of Music. History, Method, and Practice, Cambridge 1996. Schenker, The Art of Performance (wie Anm. 19).
Susanne Popp, Stefan König
Max Reger – Editionen eines unbequemen Komponisten
Vorbemerkung Notenschrift ist eine Zeichenschrift, die der Auslegung bedarf. Beim Komponisten der Jahrhundertwende Max Reger (1873–1916), der auf der Tradition der klassischen Meister aufbaute und sie in der Übersteigerung so weit aushöhlte, dass er der Neuen Musik den Weg bereitete, gilt das in besonderem Maße. Seine Werke bewegen sich in den Gerüsten überkommener Formen, zeichnen sich dabei aber durch eine innere Dynamisierung, durch Spannungsaufbau und -abbau, durch Diskontinuität und Verrätselung aus. Seine höchst differenzierte chromatische Harmonik, die zum Teil auf jedem Taktschlag moduliert, nutzt den gesamten Tonraum aus, hält aber am tonalen Zentrum als Koordinatenpunkt fest; denn die Kräfte der Energie ebenso wie die Überraschungen blitzschneller Umdeutungen beruhen auf Nähe und Distanz zum Zentrum. In Regers Handschrift dokumentiert sich diese Dynamisierung auf zweifache Art: Einmal erkennt man die rasante Reise durch den Tonraum an zahllosen Versetzungszeichen; ja, es gibt Passagen, in denen jeder Akkordton ein Versetzungszeichen hat, als sei keine Grundtonart vorgeschrieben. Zur Verdeutlichung schrieb Reger sehr viel mehr Versetzungszeichen, als nach orthographischen Regeln notwendig wären; ein einziger Takt aus seiner Symphonischen Phantasie und Fuge für Orgel op. 57 (Phantasie, Takt 6) enthält beispielsweise 142 Versetzungszeichen! Zum anderen gibt er detaillierte Vortragsanweisungen zu Tempo und Dynamik, die zur Formung des Werks in anund abschwellenden Wellen beitragen; ihnen verleiht Reger mit roter Tinte im schwarzen Notentext besonderes Gewicht. Ebenfalls farblich hervorgehoben sind Phrasierung und Artikulation der Linie, die zur Durchhörbarkeit des dichten, oft kontrapunktischen Stimmengeflechts beitragen. Auf den ersten Blick scheint Reger mit diesen Vorschriften den Interpreten zum Ausführenden zu degradieren, und es ist kein Zufall, dass der Leiter des für seine KlassikerAusgaben bekannten, aber auch mit der Herausgabe romantischer Werke vertrauten Verlags C. F. Peters, Henri Hinrichsen, dem Druck des Klavierquintetts
Max Reger – Editionen eines unbequemen Komponisten
615
c-Moll op. 64 nur unter der Bedingung zustimmte, dass der Komponist sich verpflichtete, die dynamischen Zeichen mindestens auf den 4. Teil zu reduziren. Nicht nur, daß dieselben den Stich unübersichtlich gestalten, demzufolge keine Annehmlichkeit, sondern eine Störung für den Spieler sind und von den klassischen Meistern, sogar nicht von Brahms auch nur in annähernd solchem Maße wie in diesem Werk verwandt sind, so steht diese Art der Bevormundung in gar keinem Verhältnis zu den enormen technischen Schwierigkeiten, welche das Werk bietet.1
Als Gängelung des auf höchstem Niveau musizierenden Interpreten betrachtete Reger diese Eigenart seiner Schreibweise nicht; vielmehr scheint er der Eindeutigkeit seiner Zeichensetzung misstraut zu haben, da er sein Leben unter den enormen Druck nahezu täglicher Konzerte in Deutschland und Europa setzte, gehetzt von dem Gedanken, „ich muß eine Tradition schaffen, damit man weiß, wie ich die Werke gespielt haben will.“2 Trotz differenzierter Ausarbeitung der Vortragsebene seiner Werke betrachtete er seine schriftliche Mitteilung demnach als nicht nur interpretationsbedürftig, sondern anfällig für falsche, weder zu ihrem Verständnis noch zu ihrer Wirkung beitragende Auslegungen.
I.
Erstdrucke
1.
Erstauflagen
Mit dem Schritt von der Handschrift zum Notendruck setzt die bei Reger von Anfang an verworrene Editionsgeschichte ein. Durch die musikalischen und technischen Schwierigkeiten seiner Kompositionen war der Absatz der Druckausgaben wenig aussichtsreich, und so mussten anfangs mühsam Verleger gesucht und zur Herausgabe überredet werden. Später dagegen, als sich Erfolge einstellten, wollten viele Verlage Einzelstücke in ihr Programm aufnehmen, das Risiko einer ausschließlichen Vertretung jedoch nicht tragen. Folglich hat Reger mit 47 Verlagen zusammengearbeitet, unter denen einige für einen gewissen Zeitraum seine Hauptverleger wurden: der Londoner Verlag Augener, die Leipziger Verlage Lauterbach & Kuhn, C. F. Peters und N. Simrock und der Berliner Verlag Bote & Bock verlegten die Originalwerke, Breitkopf & ____________ 1
2
Brief von Henri Hinrichsen an Max Reger vom 28. Mai 1902, in: Max Reger. Briefwechsel mit dem Verlag C. F. Peters, hrsg. von Susanne Popp und Susanne Shigihara (= Veröffentlichungen des Max-Reger-Instituts, Bd. 13), Bonn 1995, S. 68; bei seinem Erscheinen zeigte das Werk dann dennoch die typische Vortragsdichte. Brief von Reger an Henri Hinrichsen vom 26. Dezember 1906, in: ebd., S. 136.
616
Susanne Popp, Stefan König
Härtel Regers Bearbeitungen anderer Meister; daneben veröffentlichten zahlreiche Verlage Einzelkompositionen, unter ihnen auch viele Zeitschriften, durch deren Musikbeilagen Reger größere Bekanntheit zu erlangen suchte. Schon die Drucklegung aus einem Autograph beinhaltet eine erste Interpretation. Denn die individuelle Handschrift muss gelesen und bestimmten Normen angepasst werden; das gilt im Fall Reger weniger für die Noten selbst in ihrer Tonhöhe und Dauer, als vielmehr für die Zusatzzeichen: Auf welcher Note setzt ein Bindebogen an, wo eine Crescendo-Gabel und auf welche Stimme bezieht sie sich, wie wird ein Akzent, eine leichte Dehnung übermittelt, und auf welche Note im dichten Akkord bezieht sich ein Versetzungszeichen – Fragen, mit denen der Notenstecher durch Regers exzessive Setzung derartiger Zeichen extrem häufig konfrontiert wurde. Nun hatte jeder der knapp fünfzig Verlage seine eigene Methode, das Notenbild, aber auch Worttexte in Liedern, Chören oder textunterlegten Instrumentalwerken zu normieren, jeder beschäftigte eigene Künstler für die Gestaltung des Titelblattes inklusive der Widmung, jeder seine eigenen Notenstecher für die damals gängige Herstellungsmethode, die nur gelegentlich, bei sehr aufwändigen und geringen Absatz versprechenden Werken durch das Autographieverfahren ersetzt wurde. Da die Verlage überwiegend mit nur zwei traditionsreichen Leipziger Notenstechereien, C. G. Röder und Oskar Brandstetter, zusammenarbeiteten, differieren die Stechergewohnheiten allerdings weniger, als die Anzahl der Verlage befürchten lässt. Reger überwachte persönlich die Drucklegung seiner Werke. Aus den Verlagsbriefwechseln kann seine Mitarbeit für den Großteil seiner Werke nachgewiesen, oft auch exakt die Zeit bestimmt werden, die er sich für die Arbeit nahm, oder ob er zweite Korrekturen, etwa von besonders fehlerhaften Einzelseiten, anforderte. Der ausdrückliche Hinweis, dass nun nur noch die Korrekturfahnen, nicht mehr das Autograph bindend seien, findet sich in zahlreichen Briefen an Verleger. Mit Sicherheit ist also der Erstdruck, mit dem Reger das Werk der Öffentlichkeit übergab und seinem Einfluss nur noch in seiner Eigenschaft als Interpret vorbehielt, die nicht nur passiv durch Druckerlaubnis, sondern aktiv durch Mitarbeit legitimierte Form, der in keinem Fall eine von ihm für den Druck vorgesehene Neufassung folgte. Die Crux ist, dass Korrekturabzüge als Verlagsprodukte nur selten erhalten blieben. Was der Vergleich von Erstdruck und Manuskript durch zahlreiche Abweichungen ahnen lässt, wird durch diese wenigen Textzeugen belegt: Reger konzentrierte sich bei der Korrektur nicht allein auf Stichfehler, er nahm auch viele, speziell die Vortragsebene betreffende Änderungen vor, die beweisen, wie ernst er diese Schicht des Notentextes nahm.
Max Reger – Editionen eines unbequemen Komponisten
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In Einzelfällen erteilte Reger die Druckerlaubnis erst nach der öffentlichen Erprobung, wodurch der Erstdruck besonders verlässlich wird. Bei der Uraufführung des Klaviertrios e-Moll op. 102 z. B. spielte er aus dem Manuskript, bei der Zweitaufführung aus dem Korrekturabzug, beide Aufführungen lösten Fehlerkorrekturen, aber auch Änderungen aus; insbesondere die Metronomangaben wurden erst zu diesem Zeitpunkt festgelegt und nachträglich mit abweichender Tinte in das Autograph eingetragen. Eindeutige Fehler in den Erstdrucken zeigen jedoch, dass Reger nicht allen Bereichen der Korrekturfahnen die gleiche Aufmerksamkeit widmete; Schreibfehler bei Satzangaben, aber auch in den Gedichttexten wurden übersehen, so dass die Verlässlichkeit der Erstdrucke im Hinblick auf Worttexte stark eingeschränkt ist. Nach Bearbeitung der Druckfahnen reichte Reger häufig dem Verlag Korrekturen per Post nach, die noch in die Stichplatten eingearbeitet werden konnten. Manchmal allerdings stellte er die Fehler erst nach Erscheinen des Erstdrucks, oft bei Konzertproben, fest und notierte sie in seinem Aufführungsmaterial. Eine intensive Überprüfung fand auch statt, wenn er ein eigenes Werk in eine andere Besetzung transkribierte. Während der Arbeit am vierhändigen Klavierauszug zu den Mozart-Variationen z. B. reichte Reger in zwei Briefen acht aufeinander folgende Korrekturen zum drei Monate zuvor erschienenen Erstdruck der Partitur nach.3 Der Nachweis, dass die Form des Erstdrucks die gewünschte ist, lässt sich wegen des Fehlens der Korrekturfahnen für die meisten Werke nur generell erbringen oder indirekt aus Briefen und den Arbeitsgewohnheiten des Komponisten ableiten. Doch ist eine solche allgemeine Ableitung nicht in jedem Einzelfall belastbar: Auch Reger hat sinnentstellende Normierungen oder Lesefehler des Stechers übersehen; zudem könnte er Korrekturen in heute unbekannten Briefen nachgereicht oder einen Fehler in einer verschollenen Aufführungspartitur vermerkt haben. Mit den Regeln des traditionellen Satzes oder ästhetischer Fragestellung sind Zweifelsfragen in der Übergangsphase der musikalischen Moderne nicht immer zu klären. So steht letztlich jede Note, jede Vortragsangabe, jedes Textwort des Erstdrucks auf dem Prüfstand. 2.
Nachdrucke und Verlagsübernahmen
Aus kaufmännischem Kalkül wurden Regers Werke zunächst in geringer Zahl aufgelegt, denen bei Bedarf Nachdrucke folgten.4 Nur teilweise wurden die ____________ 3
4
Briefe von Reger an den Simrock-Verlag vom 29. und 31. März 1915, in: Max Reger. Briefe an den Verlag N. Simrock, hrsg. von Susanne Popp (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. 18), Stuttgart 2005, S. 223–225. Die im Sächsischen Staatsarchiv in Leipzig erhaltenen Auflagenbücher des Verlags C. F. Peters z. B. zeigen, dass die Erstauflagen von Orchesterwerken in der Regel nur 100 Exemplare,
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Susanne Popp, Stefan König
brieflichen Fehlerangaben darin berücksichtigt; die Technik des Notenstichs erlaubt es, Fehler in Stichplatten auszuhämmern und neue Zeichen einzuarbeiten, ohne dass dieser Korrekturvorgang auffallende Spuren im Bild des Nachdruckes hinterlässt. Umso wichtiger ist es festzustellen, ob es sich um eine frühe Ausgabe oder einen Nachdruck von denselben, allenfalls partiell veränderten Platten handelt, was auf den ersten Blick oft nur Einzelangaben etwa der Verlagsadresse und -werbung zu entnehmen ist. Relativ sicher gehören Widmungsexemplare zur Erstauflage, da sie vom Komponisten meist unmittelbar nach Erscheinen ihren Empfängern gesandt wurden; ansonsten ist ein Vergleich Note gegen Note und Zeichen gegen Zeichen nicht zu vermeiden. Bei Orchesterpartituren begnügten sich die Verleger aus Kostengründen meist mit der Herstellung eines Korrekturzettels, der nachgeliefert und in die Partituren eingelegt wurde. Die Geschichte der Reger-Edition ist ungewöhnlich reich an Verlagsübernahmen; große Geschäfte waren mit diesen schwer zu spielenden und kaum zu begreifenden Kompositionen offenbar nicht zu machen, obwohl Regers Werke zu Lebzeiten und bis in die 1920er Jahre heiß diskutiert und häufig aufgeführt wurden. So gingen die Reger-Bestände des Verlags Augener an Schott, von Lauterbach & Kuhn an Bote & Bock, von N. Simrock an C. F. Peters. Dabei wurden die Stichplatten der Erstdrucke übernommen und die neuen Verlagsnamen und -nummern lediglich in die Titelblätter und unter die CopyrightVermerke der ersten Notenseiten eingedruckt; die Plattennummern blieben oft zunächst erhalten und wichen erst bei späteren Auflagen neuen Nummern. Regers Zustimmung war zu diesen Übernahmen juristisch nicht erforderlich; im Gegenteil, er sperrte sich vergeblich gegen die Übernahme seiner Jugendwerke durch den Schott-Verlag, weil er diese als „heillosen Blödsinn“ der Vergessenheit anheim fallen lassen wollte,5 und verweigerte mit dem Argument „Wir Komponisten sind doch keine ,Ware‘“6 zunächst auch der Übernahme durch Bote & Bock seine Zustimmung. Seine Mitarbeit bei eventuellen Nachdrucken kann daher nicht angenommen werden. __________
5
6
von Orgelwerken meist 500, bei Kammermusik des reifen Komponisten 600 Exemplare umfassten. Nachdrucke in Teilmengen folgten oft schon im Jahresabstand. Vgl. die Auflistung der Auflagenbücher in: Max Reger. Briefwechsel mit dem Verlag C. F. Peters (wie Anm. 1), S. 658–672. Als die Übernahmeabsicht bekannt wurde, schrieb er Karl Straube am 29. März 1905: „keine einzige Note von all meinen bei Augener erschienenen schrecklichen Jugendsünden darf nach Deutschland angekauft werden! […] Ich erkläre hiermit meine Opera 1–19, op. 25 für heillosen Blödsinn!“; in: Max Reger. Briefe an Karl Straube, hrsg. von Susanne Popp (= Veröffentlichungen des Max-Reger-Instituts, Bd. 20), Bonn 1986, S. 85. Brief von Reger an den Verlag Bote & Bock vom 13. Januar 1909, in: Max Reger. Briefe an den Verlag Ed. Bote & G. Bock, hrsg. von Herta Müller und Jürgen Schaarwächter (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. 22), Stuttgart 2011, S. 30.
Max Reger – Editionen eines unbequemen Komponisten
II.
Reger. Sämtliche Werke
1.
Ausgangslage
619
Während Regers Werke trotz ihrer technischen und musikalischen Schwierigkeiten in den 1920er Jahren noch in einem breiten Ausschnitt im Musikleben präsent waren, bildete sich seit den 1930er Jahren ein auf wenige Werke wie die Variationszyklen oder auf einzelne Werkbereiche, vornehmlich die Orgelwerke, beschränkter Kanon heraus. Aufführungen anderer Werke, namentlich groß besetzter symphonischer oder vokaler Werke sowie der hochkomplizierten Kammermusik bedurften besonderer Anstrengung etwa durch Regerfeste, wie sie die Max Reger-Gesellschaft veranstaltete; aber immerhin lebten noch einige dem Komponisten verbundene Interpreten, die eine Aufführungstradition wahrten. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber war die Rezeption versiegt; einzig die Organisten hielten Reger die Treue, befanden sich dabei aber in einem ästhetischen Zwiespalt, da die Instrumente, für die Reger seine Werke geschrieben hatte, seit der Orgelbewegung verpönt waren; ihre Zerstörung hatte bereits zwischen den Kriegen begonnen und wurde noch bis ins letzte Viertel des 20. Jahrhunderts fortgesetzt. Die deutsche Musikwissenschaft der Nachkriegszeit nahm zunächst die Gesamtausgabenreihen der Großmeister Bach, Mozart, Haydn, Händel und Gluck, seit 1961 auch Beethoven in Angriff. Für derartig prestigeträchtige Vorhaben wurden öffentliche Mittel zur Verfügung gestellt, der Stellenwert der Komponisten spiegelte sich in personell und finanziell aufwändigen Editionsmethoden. Mit Abstand stiegen auch Wagner, Liszt und als erster Moderner Schönberg in die Förderung auf (1968, 1970, 1969), Hindemiths Werke werden durch die gut ausgestattete Schweizer Hindemith Stiftung seit 1975 finanziert, die Romantiker Schumann, Brahms und Mendelssohn wurden erst 1986, 1991 und 1992 förderwürdig. Als weitgehend vergessener, wenig geschätzter Komponist hatte Reger in der Stunde Null der Gesamtausgaben keine Chance, in die Reihe repräsentativer Projekte aufgenommen zu werden. Das Fehlen seiner Noten – Erstausgaben und Nachdrucke waren vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich, von großbesetzten Werken gab es nur das Leihmaterial – zementierte den Zustand der Vernachlässigung in Wissenschaft und Praxis. Daher betrachtete das von seiner Witwe im Oktober 1947 gegründete Max-Reger-Institut (Elsa-Reger-Stiftung) eine Gesamtausgabe als seine vornehmste Aufgabe. Die Stifterin hatte aber bereits 1929 einen bis dahin folgenlosen und von ihr selbst vergessenen Vertrag mit dem Verlag Breitkopf & Härtel über den künstlerischen Nachlass und eine Gesamtausgabe geschlossen, den der Verlag nun für sich reklamierte. Er übernahm sämtliche Druckkosten
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Susanne Popp, Stefan König
und die Honorierung der Revisoren, versicherte sich der Unterstützung des Max-Reger-Instituts und drängte zur Eile, weil noch einige Kenner aus dem engsten Umkreis des Komponisten lebten, deren Wissen gesichert werden sollte. Die erklärten Ziele der Ausgabe – Benutzbarkeit, Finanzierbarkeit und überschaubarer zeitlicher Rahmen – hätten eine praktische Werkausgabe nahegelegt, den Leseausgaben von literarischen Werken vergleichbar, die auf den gigantischen kritischen Apparat damaliger wissenschaftlicher Ausgaben verzichten. Doch auch eine praktische Werkausgabe ist nur dann von Wert, wenn sie einen nach wissenschaftlichen Maßstäben erarbeiteten Text vorlegt. Für eine gesicherte Textbasis waren jedoch die Voraussetzungen noch nicht gegeben. Das beteiligte Max-Reger-Institut war damals eine winzige Institution; es verfügte über keine Sammlung, keine Bibliothek, der Jahresetat erreichte erst in den 1960er Jahren den fünfstelligen Bereich; das Personal beschränkte sich auf den mit einer Aufwandsentschädigung abgefundenen Geschäftsführer Ottmar Schreiber und seine ehrenamtlich tätige Ehefrau Ingeborg, der Großteil der Aufgaben wurde in der Privatwohnung in Frankfurt erledigt. Die Sichtung und Wertung der Quellen konnte auf keinerlei Grundlagenforschung aufbauen. Das Reger-Werk-Verzeichnis von Fritz Stein war zwar schon weitgehend fertig gestellt,7 enthielt jedoch weder Manuskriptbeschreibungen noch -nachweise, auch fehlten detaillierte Entstehungsgeschichten, und durch die Beschränkung auf die gedruckten Werke blieb der Nachlass von vornherein ausgeklammert. Reger selbst hatte nichts unternommen, seine Handschriften vor der Zersplitterung zu bewahren; bis zu seinem Opus 99 hatte er seine Manuskripte den Verlagen überlassen und auch später viele Handschriften verschenkt. Seine Witwe hatte die Verteilung fortgesetzt, teilweise aus Not zum Verkauf gezwungen, teilweise durch eine Aufführung zu einem Geschenk hingerissen.8 So waren bei Institutsgründung nur noch zwei Manuskripte in ihrem Besitz, die jedoch nie in die Sammlung gelangten. Auch die Erstdrucke waren vom Komponisten nicht systematisch zusammengehalten und zwecks späterer Neuausgabe überprüft worden.9 Über drei Jahrzehnte nach Regers Tod und in Zeiten des Ost-West-Konflikts bereitete die erstmalige Bestandsaufnahme der Manuskripte und Erstdrucke größte Schwierigkeiten. ____________ 7 8 9
Thematisches Verzeichnis der im Druck erschienenen Werke von Max Reger, bearbeitet von Fritz Stein, Leipzig 1953. Vgl. Susanne Popp, Zwei Gründungen und kein Erbe, in: IMMER REGER. Geschichte und Aufgaben des Max-Reger-Instituts, hrsg. vom Max-Reger-Institut, Stuttgart 2007, S. 27–32. Zum Glück hatte Regers Freund Hans Ohlendorff die meisten Erstdrucke gesammelt, die 1965 geschlossen in die Münchner Stadtbibliothek gelangten.
Max Reger – Editionen eines unbequemen Komponisten
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Die Reger-Forschung steckte noch in den Anfängen. Erste Untersuchungen zu Einzelwerken erschienen seit 1954 in den Mitteilungsheften des MaxReger-Instituts (MMRI), deren Ergebnisse allerdings kaum Berücksichtung in der Edition fanden; die universitäre Forschung überging Reger weitgehend. 1928 waren unter den Augen der Witwe die Briefe eines deutschen Meisters10 herausgegeben worden, die nicht nur ein sehr geglättetes Bild des Komponisten zeichneten, sondern auch alle als langweilig empfundenen Passagen zur Drucklegung ausklammerten. Erst 1956 erschienen als erste verlässliche, jedoch kaum kommentierte Briefedition des Max-Reger-Instituts die Briefe zwischen der Arbeit,11 der 1973 ein weiterer Band folgen sollte.12 Dass trotz dieses desolaten Forschungsstandes und ohne jede öffentliche Förderung zwischen Dezember 1954 und Dezember 1970 sämtliche 35 vorgesehenen Bände – als Kernaufgabe der Edition betrachtet und später durch drei Supplementbände ergänzt – vorgelegt werden konnten, ist eigentlich ein Wunder. Der editorische Wert dieser nicht als Quellen-, sondern als Werkausgabe gedachten Bände ist völlig unterschiedlich und von der philologischen Kompetenz des Revisors und dem Gewicht, das er der wissenschaftlichen Methodik gab, abhängig. Der Verlag hatte einen Beratenden Ausschuss aus Regerschülern (Fritz Stein, Hermann Grabner, Joseph Haas, Karl Hasse, Hermann Poppen, Hermann Unger) gebildet, fraglos intimen Kennern des Komponisten und seiner Werke. Aufgrund ihres Alters konnten diese aber nicht mit Editionsaufgaben belastet werden, sondern sollten als Gruppenleiter fungieren.13 Die Revisionsarbeit wurde jüngeren Musikwissenschaftlern (Ottmar Schreiber, Wolfgang Rehm,14 Gerd Sievers) und Künstlern (dem Organisten Hans Klotz, dem Dirigenten Ulrich Haverkampf, dem Komponisten Günter Raphael) übertragen und extern mit unterschiedlichster Methodik erledigt, während das Max-RegerInstitut mit Unterstützung des Verlags die Quellen zu beschaffen bemüht war. Schon die Überlegungen zur Bandaufteilung gingen vom Verzicht auf den von damaligen Gesamtausgaben postulierten Anspruch auf größtmögliche Vollständigkeit aus. Original-Klavierauszüge sollten nur, „wenn sie als eigene Schöpfung und nicht bloß als getreue Übertragung auf das Klavier aufzufassen ____________ 10 11 12 13 14
Max Reger. Briefe eines deutschen Meisters: Ein Lebensbild, hrsg. von Else von Hase-Koehler, Leipzig 1928. Max Reger. Briefe zwischen der Arbeit, hrsg. von Ottmar Schreiber (= Veröffentlichungen des Max-Reger-Instituts, Bd. 3), Bonn 1956. Max Reger. Briefe zwischen der Arbeit. Neue Folge, hrsg. von Ottmar Schreiber (= Veröffentlichungen des Max-Reger-Instituts, Bd. 6), Bonn 1973. Einige übernahmen dennoch zusätzlich Revisionsarbeiten. Nach einem Band wechselte er zum Bärenreiter-Verlag.
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Susanne Popp, Stefan König
sind“, Aufnahme finden;15 „beim ungedruckten Nachlass [wäre] ein etwaiges Verbot Regers oder ein etwa festgestellter ausgesprochener Unwert des betreffenden Stückes zu berücksichtigen“.16 Die Abstimmung folgte im November 1952 den fragwürdigen Kriterien der „Berücksichtigung des besonders Wertvollen und Charakteristischen, Weglassung des praktisch Unverwertbaren, des von Reger offenbar nicht zur Veröffentlichung Zugelassenen und des offenbar Unbedeutenden, Vermeidung einer unnötigen Aufblähung der GA“.17 Auch die Diskussion über die Aufnahme des fragmentarischen Vater unser WoO VI/22, eines 12-stimmigen a cappella-Chorwerks, das heute zum Repertoire bedeutender Chöre zählt, spiegelt die unterschiedlichen Maßstäbe zwischen Qualitätsanspruch, Autorisation und Vermarktbarkeit: Das MRI empfiehlt die Aufnahme, Herr Prof. Stein empfiehlt die Aufnahme und Vollendung etwa durch die Herren Haas oder Hasse oder Grabner. Der Verlag empfiehlt Nichtaufnahme, da unserem Dr. H. v. Hase lebhaft erinnerlich ist, dass sich Karl Straube entschieden gegen eine Veröffentlichung zur Wehr gesetzt hat, da Max Reger das Werk nicht veröffentlicht hat.18
Das Werk erschien 1957 mit der Ergänzung von Karl Hasse, revidiert von Fritz Stein als Sonderdruck des Verlages Breitkopf & Härtel, in die Gesamtausgabe wurde 1961 sein fragmentarischer Teil übernommen. Der Ablehnung fielen die meisten Klavierauszüge, viele Transkriptionen eigener Werke und sämtliche Bearbeitungen fremder Werke zum Opfer. Selbst das Sammel-Opus 79 wurde nicht vollständig aufgenommen. 2.
Richtlinien und Kritische Berichte
Ziel war es, die Praktiker durch einen lesbaren, durch Zusätze oder diakritische Auszeichnungen unbelasteten Notenteil zu erreichen und den Wissenschaftlern durch Kritische Berichte Auskunft über die Lesarten von Manuskript und Druck zu geben. Vom Verlag wurde allerdings der Umfang der Kritischen Berichte pro Band auf ganze drei Seiten festgelegt,19 was diesem Ziel von vornherein widersprach. Im Juli 1955 folgten neue Richtlinien: ____________ 15 16 17 18 19
Briefdurchschlag ohne Unterschrift, vermutlich von Karl Hasse oder Joseph Haas an Fritz Stein vom 15. Januar 1952 (Max-Reger-Institut). Brief von Karl Hasse an Fritz Stein vom 21. Januar 1952 (Max-Reger-Institut). Anschreiben des Verlags Breitkopf & Härtel an die Mitglieder des Beratenden Ausschusses vom 18. November 1952 (Max-Reger-Institut). Kommentar in der „Liste der Werke Max Regers, über deren Aufnahme in die GA Zweifel bestehen könnten“ vom 18. November 1951. Die ersten Editionsrichtlinien des Verlages Breitkopf & Härtel für Max Reger. Sämtliche Werke vom Juli 1953 sind nicht erhalten, ein Teil ihres Inhalt ist späteren Diskussionen zu entnehmen.
Max Reger – Editionen eines unbequemen Komponisten
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Als oberster Grundsatz gilt, die künstlerischen Absichten Regers unbedingt zu wahren. Änderungen in der äußeren Form dürfen keine inhaltlichen Abweichungen nach sich ziehen. Grundsätzlich aber ist überall Einheitlichkeit anzustreben.20
Die „künstlerischen Absichten Regers“ waren als innerer Vorgang nur aus den Quellen abzuleiten, die in ihrer Gesamtheit hätten gesichtet und interpretiert werden müssen. Dies war jedoch damals wegen des desolaten Forschungsstands nicht möglich; den Revisoren standen in der Regel schlechte Schwarzweißkopien und Filme der gerade erreichbaren Quellen zur Verfügung, die Originale selbst wurden nicht herangezogen und ihr Standort in den Berichten nur gelegentlich und oft fehlerhaft mitgeteilt.21 Der Erstdruck sollte generell als Leitquelle dienen; dem Ermessen des Revisors blieb es im Einzelfall überlassen, einer anderen Quelle zu folgen.22 1957 und 1958 legten die Philologen Gerd Sievers und Helmut Wirth ihre ersten Bände vor; die anschließende Diskussion macht deutlich, dass die aus heutiger Sicht großen Mängel erklärtes Ziel dieser Ausgabe waren. Stein beanstandete, dass „viele Selbstverständlichkeiten“ erwähnt worden seien und durch Abkürzungen „der Revisionsbericht zu einem Geheimcode, den nie jemand lesen – und wenn, nur mit großer Mühe entschlüsseln! – wird“, geworden sei. Die bisherigen Bände der neuen Bach-Ausgabe, auch der Mozartausgabe bieten in ihren Revisionsberichten ein geradezu peinliches Bild philologisch-pedantischer Akribie, die wir doch in der Reger-GA nicht nachmachen wollen!23
Auch Grabner konnte dem Bericht von Sievers, der mit 13 Seiten den vorgeschriebenen Umfang sprenge und mit „68 Abkürzungen“ dazu zwinge, sich mit der „Entschlüsselung von Abbreviaturen herumzuschlagen“, nicht zustimmen und trat demonstrativ von der Gruppenleitung des Bandes zurück.24 Schreiber hoffte auf kürzere Folgebände, „sonst dürfte die Gesamtausgabe zu einem großen Pleiteunternehmen werden“.25 Sievers verteidigte seinen Standpunkt, bestritt die Instanz der Gruppenleitung und betonte die Kompetenz des Revisors, ____________ 20 21 22 23 24 25
Editionsrichtlinien des Verlages Breitkopf & Härtel für Max Reger. Sämtliche Werke vom Juli 1955 (Max-Reger-Institut). Im ersten Band der Orgelwerke werden allein drei Autographe als Besitz des Max-RegerInstituts ausgewiesen, das aber tatsächlich nur Kopien besaß. Laut Brief des Verlags Breitkopf & Härtel an Ottmar Schreiber vom 22. November 1955 (Max-Reger-Institut). Brief von Fritz Stein an den Verlag Breitkopf & Härtel vom 24. März 1958 (Max-RegerInstitut). Brief von Hermann Grabner an den Verlag Breitkopf & Härtel vom 24. Januar 1958 (MaxReger-Institut). Brief von Ottmar Schreiber an Gerd Sievers vom 13. Februar 1958 (Max-Reger-Institut).
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der es gewohnt ist, selbständige Arbeit zu leisten und es nicht dulden kann, gegängelt oder bevormundet zu werden. Deshalb war und ist es meine Meinung, daß man den Revisoren möglichst große Freiheit in ihrer Arbeit, besonders der Methode, belassen sollte.26
Auch ohne Rechenschaft im Kritischen Bericht hätte ein wissenschaftlich erschlossener, verlässlicher Text entstehen können, wären nicht die neuen Editionsrichtlinien des Verlags von 195827 allzu sehr dem Denken der Zeit verpflichtet gewesen. Sie verschärften den Gegensatz von substanziellen, auf die Noten bezogenen, und akzidentiellen, auf den Vortrag zielenden Textteilen und ignorierten damit die oft strukturbildende Bedeutung von Regers Vortragsangaben.28 „Wesentliche, d. h. die musikalische Substanz (nicht die Ausführungsart) betreffende Abweichungen“ zwischen den Quellen seien im Revisionsbericht zu erwähnen, die Nennung „belangvoller Ausführungsunterschiede erheblichen Umfanges“ müsse der Revisor verantworten. Effektiv Minderwichtiges oder Unwesentliches, die musikalische Substanz nicht Betreffendes (wie z. B. sprachliche Verstöße, Richtigstellung, Ergänzung und Tilgung einzelner Angaben zur Ausführung wie staccato-Punkte, Akzente, tenuto-Striche etc. etc.) ist stillschweigend zu verbessern oder (wie im Falle der sprachlichen Fehler) allenfalls einmal generell zu erwähnen.29
Die angeführten Beispiele haben durchaus klangliche Konsequenzen, aus heutiger Sicht Voraussetzung dafür, sie als substanziell zu werten. Dass zugleich bei allen Werken, „die auf photomechanischem Wege reproduziert werden, unter weitgehender Ignorierung dieser Richtlinien im wesentlichen nur die sachlichen Fehler auszumerzen“30 waren, erhöhte die Inkonsequenz der Ausgabe; denn diese kostensparende Art fand namentlich bei den Orchesterwerken und der großbesetzten Kammermusik Anwendung. 3.
Problemfeld Orgelwerke
Während die Flaggschiffe der Gesamtausgaben im Nachkriegsdeutschland um Quellen und ihre Bewertungen rangen und sich Kritik allenfalls an den sogenannten Lesartenhalden bzw. -labyrinthen entzündete, tobte bei der Edition ____________ 26 27 28
29 30
Brief von Gerd Sievers an Ottmar Schreiber vom 17. Februar 1958 (Max-Reger-Institut). Die Richtlinien wurden den Gruppenleitern und Revisoren am 21. Juni 1958 zugeschickt. Die Unterscheidung ist verwandt, jedoch nicht zu verwechseln mit der von W. W. Greg etwa gleichzeitig in die Editionsphilologie eingeführten Differenzierung von „substantives“ (Wortlaut) und „accidentals“ (Orthographie, Interpunktion); vgl. Peter Shillingsburg, Anglo-amerikanische Editionswissenschaft, in: Text und Edition. Positionen und Perspektiven, hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta u. a., Berlin 2000, S. 143–164, hier S. 143. Editionsrichtlinien des Verlages Breitkopf & Härtel vom 21. Juni 1958 (Max-Reger-Institut). Ebd.
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von Regers Orgelwerken ein Glaubenskrieg. Ihre Revision war dem Organisten Hans Klotz übertragen worden, der als guter Kenner des Werks und Praktiker manchen Fehler der Erstdrucke erkannte. Der philologische Umgang mit den Quellen lag ihm weniger. Während der Arbeit wurden die Autographen bekannt, die Reger für seinen Freund und frühen Interpreten Karl Straube teils erstschriftlich, teils abschriftlich angefertigt hatte. Sie wurden für die Edition herangezogen,31 wie die übrigen Quellen aber weder beschrieben noch bewertet. Eingriffe des Revisors werden nicht diakritisch hervorgehoben, der magere Kritische Bericht gibt keinen Aufschluss darüber, auf welcher Quelle die jeweiligen Entscheidungen fußen. Gleich der erste Orgelband macht deutlich, dass es trotz der prinzipiellen Wertung des Erstdrucks als Leitquelle, die in anderen Werkbereichen schon durch dessen fotomechanische Wiedergabe gewährleistet war, zu konträren Entscheidungen kam. Im Fall der Choralphantasie „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ op. 40, Nr. 1 folgte die Edition der damals zeitgemäßen starken Betonung der Urgestalt, indem sie die frühe, in Straubes Autograph stehende und als „Original“ bezeichnete Fassung eines Verses parallel zur autorisierten Druckfassung wiedergab. Bei der Passacaglia der Sonate fis-Moll op. 33 hingegen entschied Klotz genau umgekehrt: Er fügte vor der Schlussvariation fünf zusätzliche Variationen ein, die Reger erst nach Erscheinen des Erstdrucks für Straube komponiert hatte. Dieser einmalige Fall einer Variante, die erst nach dem Druck entstand, hebt die Druckfassung allerdings nicht auf; sie wurde für einen bestimmten Organisten geschrieben, erfüllt also einen speziellen Zweck, und wurde vom Komponisten nicht dem Werk zugezählt und nie zum Druck eingereicht. In beiden Fällen muss sich der Nutzer ohne jeden Kommentar und ohne Kennzeichnung im Notentext zurechtfinden; angegeben werden lediglich in der Einleitung die Funktionen als „Autograph für Straube“ (ohne Unterscheidung der Erstschrift und der nachträglichen Ergänzung) bzw. „Autograph für den Verlag“. In die Variationen über ein Originalthema op. 73, die nur in einer Handschrift vorliegen, fügte Klotz eine von Reger im Autograph eigenhändig gestrichene Variation mit dem schlichten Vermerk im Revisionsbericht „Diese Takte fehlen in OD [Originaldruck]“ ein. In der Gretchenfrage, wie und auf welchem Instrument Regers Orgelmusik ausgeführt werden solle, bezog Klotz eindeutig Stellung. Die Klangästhetik der Orchesterorgel der Regerzeit, die dynamisch ausgerichtet und am Orchesterklang orientiert war, war ihm gänzlich fremd; er sah sie – konform mit den Idealen der Orgelbewegung – als Tiefpunkt und Verfallserscheinung. Statt ____________ 31
Sie konnten im April 1958, also nach Erscheinen des ersten Bandes der Orgelwerke, vom MaxReger-Institut erworben werden.
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einer auf Klangkontraste angelegten und nach seiner Ansicht „orgelmäßigen“ Terrassendynamik brachte sie „unorgelmäßige“ Säuselregister, Hochdruckregister, feste Kombinationen, Fernwerk und Rollschweller. Aus ihrer Architektonik heraus argumentierte Klotz, dass Regers an barocken Formen orientierte Werke auch auf entsprechenden Instrumenten zu interpretieren seien,32 auch wenn sich die zahlreichen dynamischen Vorschriften der Partituren als Hindernis erwiesen. Klotz suchte nach einem Ausweg: Vor Jahren wurde mir erzählt […], daß Max Reger, als er zum ersten Mal eine Barockorgel hörte, ausgerufen haben soll: „Das ist ja der Orgelklang, den ich bisher immer gesucht habe!“33
Belegen ließ sich diese Aussage nicht; hingegen bestätigen viele briefliche Äußerungen Regers Begeisterung für den orchestralen Instrumententyp seiner Zeit. Zur weiteren in der Einleitung des ersten Orgelbands mitgeteilten Argumentation diente ein Mythos: Straube hatte am 14. Juni 1903 zwei Regerwerke auf der Basler Münsterorgel mit mechanischer Traktur gespielt; Reger widmete ihm sein nächstes großes Orgelwerk unter ausdrücklichem Hinweis auf dieses Datum34 – nach Klotz als Dank für die „orgelmäßige Interpretation“ auf dem passenden Instrument, nach Regers brieflichen Mittelungen dagegen für eine gelungene Interpretation auf einer untauglichen Orgel: „die Orgel im Basler Münster ist schlecht, sehr schlecht nach allen Dimensionen u. Richtungen.“35 Sie sei der „Schrecken“ der Schweizer Organisten, gänzlich veraltet […], im vollen Werk kaum zu spielen (so eine schlechte Mechanik), daß sofortiger Umbau beschlossen wurde.36
Eine Edition konnte die Vortragsangaben nicht einfach ignorieren, jedoch ihre Bedeutung durch das Schriftbild herunterschrauben: Die taktelangen Crescendi ____________ 32
33 34 35
36
Ganz deutlich wurde Hans Klotz in einem Brief an Fritz Stein vom 28. März 1955 (MaxReger-Institut): „Ein erstrangiges Instrument hat neben anderen Qualitäten Schleifladen und mechanische Traktur. Zum guten Reger-Spiel ist eine gute Werkorgel in diesem Sinn unumgänglich notwendig. Auf anderen Orgeln kann seine Orgelmusik immer nur in minderer Ausführungsqualität geboten werden. Hier muss ich in Paranthese einschalten, daß es ein Irrtum ist, den Orgeltyp, wie er zur Zeit Regers gebaut wurde – nämlich die pneumatische Rollschwellerorgel –, als eine für Reger geeignete oder gar für seine Musik typische Orgel anzusehen.“ Brief von Hans Klotz an Fritz Stein vom 9. Februar 1952 (Max-Reger-Institut). Die Variationen und Fuge fis-Moll über ein Originalthema op. 73 sind „Karl Straube in Erinnerung an den 14. Juni 1903“ gewidmet. Brief von Reger an Carl Lauterbach vom 25. Juni 1903, in: Max Reger. Briefe an den Verlag Lauterbach & Kuhn, Bd. 1, hrsg. von Susanne Popp (= Veröffentlichungen des Max-Reger-Instituts, Bd. 12), Bonn 1993, S. 168. Postkarte von Reger an Theodor Kroyer vom 24. Juni 1903 (Staatliche Bibliothek Regensburg).
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und Decrescendi, Accelerandi und Ritardandi werden hier nur an den Beginn des betreffenden musikalischen Abschnitts gesetzt, während sie Reger nachdrücklich und suggestiv mit Querstrichen bis zum Zielpunkt zieht. Tempoangaben, teilweise von Reger durch Unterstreichungen hervorgehoben, werden durch Kleindruck in ihrer Bedeutung geschmälert, von Ungenauigkeit der Positionierung, die ihre Missachtung spiegeln, ganz zu schweigen. Verheerender allerdings waren die Erläuterungen zum Verständnis der Regerschen Vortragsanweisungen, die Klotz dem im April 1957 erschienenen ersten Orgelband voranstellte.37 Mit diesem ganz unphilologischen, aus dem Blickwinkel des Künstlers motivierten Schritt hob er im Grunde den von ihm selbst revidierten gedruckten Text wieder auf, vermutlich ein einmaliger Vorgang in der Editionsgeschichte. Die Metronomzahlen seien etwa doppelt so hoch, die dynamischen Angaben nicht wörtlich zu nehmen. In den Gedanken zur Orgelmusik fasste Klotz zwei Jahre vor Erscheinen des zweiten Orgelbandes noch einmal seine Argumente zusammen: Reger habe seine Werke in einer Zeit komponiert, als „unser Orgelbau am weitesten von dem Ideal der künstlerisch wertvollen Orgel entfernt“38 war; heute lerne man wieder, „gute, orgelmäßige Orgeln zu bauen“, auf denen Reger „in orgelmäßiger Weise“, d. h. unter weitgehender Ignorierung der gedruckten Vortragsangaben, gespielt werden könnte.39 4.
Problemfeld Lieder
Reger hat überwiegend Texte von heute vergessenen Zeitgenossen vertont. Es gebe „keinen dankbareren Empfänger moderner Lyrik“ als ihn, schrieb er,40 und stand in Verbindung mit vielen Schriftstellern, die ihm auch autographe Texte überließen. Seine persönliche Bibliothek ist nicht erhalten, die Ermittlung der Textvorlagen unterblieb für die Gesamtausgabe aus Zeit- und Geldmangel. So konnte nicht festgestellt werden, ob der Komponist eigenmächtig Änderungen vorgenommen, andere Worte gewählt, Silben angehängt oder Worte eingeschoben hatte – wichtige Hinweise für eine Analyse der Lieder, die von einer kritischen Ausgabe gegeben werden. Da Reger im Korrekturdurchgang die Worttexte ganz offensichtlich nicht überprüft hatte, waren Fehler bis hin zu falschen Titelangaben und fehlenden oder unvollständigen Dich____________ 37 38
39 40
Max Reger. Sämtliche Werke, in Verbindung mit dem Max-Reger-Institut hrsg. vom Verlag Breitkopf & Härtel, Bd. 15, Wiesbaden [1957], S. XIf. Hans Klotz, Gedanken zur Orgelmusik Max Regers, in: Mitteilungen des Max-Reger-Instituts, im Auftrag des Kuratoriums des Max-Reger-Instituts hrsg. von Ottmar Schreiber, Heft 7 (1958), S. 12–14, hier S. 12. Ebd., S. 14. Brief von Reger an Richard Braungart vom 30. Dezember 1900 (Münchner Stadtbibliothek).
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terangaben in den Erstdrucken überliefert, die nun perpetuiert wurden.41 Die unterlassene Grundlagenforschung stand jahrzehntelang weiterführenden Auseinandersetzungen im Wege. Die zeitgenössische sensitive Lyrik verlangte vom Rezipienten ein Nachvollziehen, dem Reger mit farbenreicher, chromatischer Harmonik und delikaten Klangabstufungen nachkam. Schon in den ersten Rezensionen wurde diese Besonderheit seiner Lieder auch im Vergleich mit Richard Strauss gewürdigt. Chroma als Farbe oder Spannungsträger schlägt sich in einer Notation nieder, die von notwendigen Versetzungszeichen, aber auch Warnungsakzidentien wimmelt. Die Editionsrichtlinien von 1955 schrieben neueste Rechtschreibung (schon wegen der unbekannten Textvorlage) vor und verfolgten hinsichtlich des Notentextes kein einheitliches Konzept. „Überflüssige Akzidenzien (Warnungszeichen)“ waren wegzulassen, wenn „sie völlig überflüssig sind und das Schriftbild eher unklar als übersichtlich machen“; die „musikalische Orthographie Regers (bei Modulationen, enharmonischen Umdeutungen usw.)“ sei dagegen beizubehalten, weil diese „oft ganz offensichtlich mit Absicht inkorrekt gewählt wird, um eine leichtere Lesbarkeit zu erzielen“.42 Stein redigierte die ersten Liederbände in dieser Hinsicht behutsam, nach seinem Tod übernahm Grabner die Aufgabe; der Regerschüler, Komponist und Theorielehrer nahm dabei eine rigorose orthographische Reinigung vor.
III.
Wissenschaftlich-kritische Hybrid-Edition von Werken Max Regers (Reger. Werkausgabe)
Seit 2008 entsteht die hybride – jeweils aus einem gedruckten Notenband und einer DVD-ROM bestehende – Ausgabe einzelner Werkgruppen, die von der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz und dem Land Baden-Württemberg gefördert wird. Die Beschränkung auf einzelne Schaffensbereiche war eine Frage der Machbarkeit; ähnlich wie Telemann neben Bach und Händel hat es auch Reger neben Schönberg und Hindemith noch nicht zu den Weihen einer wirklich vollständigen Gesamtausgabe gebracht. Die Auswahl folgte dem Kriterium der Dringlichkeit im Hinblick auf bestehende Editionen; wegen der geschilderten Mängel der Gesamtausgabe wurden die Orgelwerke, ____________ 41
42
Selbst drei Texte Theodor Storms – Bettlerliebe, Lied des Harfenmädchens und Du schläfst – erschienen im dritten Supplementband mit der Angabe „Dichter(in) unbekannt“, Letzteres mit falschem Titel Gute Nacht; vgl. Max Reger. Sämtliche Werke (wie Anm. 37), Bd. 38, Wiesbaden 1984, S. 192, 194 und 197. Editionsrichtlinien vom Juli 1955 (wie Anm. 20).
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die Lieder und Chöre und die dort gar nicht bzw. nur teilweise vorhandenen Bearbeitungen fremder Werke als vorrangig betrachtet. Für eine kritische Ausgabe bietet die Reger-Forschung heute ein gutes Fundament. In sechs Jahrzehnten hat das Max-Reger-Institut eine reiche Quellensammlung aufgebaut, die neben Musikhandschriften aus allen Stadien der Werkentstehung auch Briefe und Dokumente umfasst, die den Kontext erhellen. Mit Kongressen und der Anregung und Betreuung von Dissertationen hat das Institut die Forschung auf bestimmte Themen und Themenzusammenhänge gelenkt, eigene Untersuchungen betrieben und Briefausgaben, vornehmlich Verlagskorrespondenz, vorgelegt. Zwei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als Doppelprojekt von Mai 2001 bis April 2009 geförderte Arbeiten bieten die Ergebnisse langjähriger Grundlagenforschung: Das Verzeichnis der Werke und Quellen Max Regers43 umfasst sämtliche Werke (Originale und Bearbeitungen, Nachlass und Fragmente) und beschreibt erstmals ihre Quellen und dokumentiert ihre Genese. Zunächst als Nebenprodukt für den internen Gebrauch, in den beiden letzten Projektjahren aber vorrangig bearbeitet wurde das Reger-Briefe-Verzeichnis,44 das heute knapp 13.000 (auch letztmalig in Autographenkatalogen genannte) Schriftstücke zählt, Adressaten, Daten, Standort und eventuelle Veröffentlichungen nennt und den Inhalt regestenhaft zusammenfasst. Wegen der ständigen Neufunde und Bewegungen auf dem Autographenmarkt wird es in digitaler Form erscheinen. Die Aufteilung der neuen Ausgabe in eine Druckausgabe einerseits, die den nach wissenschaftlich-kritischen Methoden erarbeiteten Notentext (mit diakritischen Auszeichnungen editorischer Eingriffe und Fußnotenkennzeichnung von nicht eindeutig zu entscheidenden Lesarten) wiedergibt und Basisinformationen45 liefert, und in eine DVD-ROM mit hochauflösenden Abbildungen sämtlicher verfügbarer Quellen andererseits, die mithilfe der Software Edirom kommentiert und mit einem enzyklopädischen Teil vernetzt werden und durch zusätzliche Materialien und Kommentare den historischen Kontext erschließen, bietet die Möglichkeit, den zweifachen Charakter eines Werkes – den statischen und den dynamischen – herauszustellen. In der gedruckten Form ____________ 43
44 45
Thematisch-chronologisches Verzeichnis der Werke Max Regers und ihrer Quellen, im Auftrag des Max-Reger-Instituts hrsg. von Susanne Popp in Zusammenarbeit mit Alexander Becker, Christopher Grafschmidt, Jürgen Schaarwächter und Stefanie Steiner (= Reger-Werk-Verzeichnis), München 2010. Die Arbeiten wurden seit Januar 2008 von Agnes Michalak und Stefan König intensiv betreut. Die Einführung unterrichtet über die Arbeitsweise des Komponisten, über die Quellenlage und -bewertung, beschreibt die Entstehung und nennt die Richtlinien der Ausgabe. Da der digitale kritische Bericht sämtliche editorischen Entscheidungen zwischen den Quellen wiedergibt, beschränkt sich der gedruckte auf die für die klangliche Gestalt und das Verständnis des Werks relevanten Varianten (z. B. verzichtet er in der Regel auf Nennung der aus Gründen der Übersichtlichkeit eingeführten Revisionen wie Halsungen).
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wird das Werk dem Musiker, der einen spielbaren Text benötigt, in seinem Kunstcharakter als ästhetisches Produkt übergeben, wie es den Editoren nach kritischer Sicht und Wertung sämtlicher Quellen als verlässlich und dem Willen des Autors am nächsten erscheint. Die DVD-ROM dagegen macht deutlich, dass dieses fertige Werk nicht allein als Endprodukt, sondern vielmehr aus seinem Entstehungsprozess heraus zu begreifen ist, der sich in den Quellen (sämtliche Handschriften vom Entwurf als Verlaufsskizze zur Stichvorlage und eventueller Erst- oder Abschrift sowie im Korrekturabzug und Erstdruck) spiegelt und Wissenschaftler wie Musiker faszinieren kann. Gedruckter Text und digitaler Apparat sind daher als Einheit zu begreifen; das Feste der Druckgestalt und die Dynamik der vorausgehenden Textstufen können sich wechselseitig erhellen. Während die Druckausgabe des ästhetischen Texts von der Leitquelle des autorisierten Erstdrucks ausgeht und dieses Vorgehen mit Regers Arbeitsweise und seiner Vorstellung von einer mit jedem Kompositionsschritt vollzogenen Verbesserung und Verfeinerung des Werks sowie mit dem Nachweis seiner aktiven Mitarbeit an dieser Endfassung rechtfertigt, bietet der digitale Teil die Möglichkeit und Chance, das Werk als etwas Gemachtes zu erfahren. Dies verlangt nach der Wiederherstellung der verworfenen Anfangsgestalt, die etwa in einer Erstschrift dokumentiert ist oder in einer Stichvorlage unter Streichungen verborgen liegt – nicht aus dem Verständnis, die Fassung „früher Hand“ zu restaurieren und rehabilitieren, sondern als Dokumentation der Genese. Die Entwicklung der Editionsphilologie in der Musikwissenschaft zeigt die Disziplin in ihrer Geschichtlichkeit: Die Editionspraxis neigte teils zur Dokumentation der „frühen“, teils der „späten Hand“, zog mal die „originale“ Äußerung, mal die letztwillige Verfügung vor, während heute grundsätzliche Zweifel am Übergewicht einer Fassung bestehen; die Ästhetik der Postmoderne hat den Werkbegriff generell in Frage gestellt. Eine Antwort kann nicht prinzipiell, sondern nur speziell bezogen auf die Arbeitsweise eines Komponisten gegeben werden. Reger arbeitete in Kompositionsschichten. Der Vorgestalt des in seinen Komponenten (Melodie, Harmonik, Rhythmik) rudimentären, jedoch mit dem ersten Takt einsetzenden und den gesamten Ablauf in wichtigen Einzelheiten markierenden Bleistiftentwurfs folgte eine zügige, ebenfalls von vorne beginnende Niederschrift des Notentextes mit schwarzer Tinte. Bei dieser ersten Ausarbeitung entspricht Regers Arbeitsweise der zweiten von Hermann Zwerschina vorgestellten Schreibstrategie: Von Ausnahmen abgesehen wurden seine Notentexte durch „schnelles Niederschreiben in einer aktionalen Einheit“ zu Papier gebracht und folgten der Entwurfsidee; deren Vor-
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handensein erlaubt ein „Hin und Her zwischen zwei Spuren“; sie ist die Kontrollinstanz, weswegen schon während des Niederschreibens bereits korrigiert werden [kann]. Die Korrekturvorgänge geschehen innerhalb der aktionalen Einheit, sind also nicht redaktionelle Überarbeitungen, nachdem der ganze Text vorliegt.46
Wie die Entwürfe enthalten auch die Reinschriften Sofortkorrekturen in Form von durchstrichenen Takten, wegen des anderen Schreibmittels auch von Rasuren. Die weiteren Schritte erfolgen stufenweise und in zeitlicher Distanz; sie entsprechen der vierten Schreibstrategie Zwerschinas, der „Textproduktion über die redaktionelle Arbeit an Vorfassungen“.47 Beim Eintragen der Vortragsangaben mit roter Tinte in einem getrennten Schritt (teils von Anfang bis Ende nach Abschluss des gesamten Notentextes, teils abschnittweise mit diesem verschränkt) wird der Text verfeinert. Auch in diesem Stadium werden Takte gestrichen, wobei die aktionale Einheit aufgehoben ist – es handelt sich um eine erste Überarbeitungsschicht, bei der Reger auch auf Ratschläge anderer, namentlich Straubes reagieren kann. Ähnliche Überarbeitungen wiederholen sich bei der Sichtung der Korrekturfahnen, teilweise Monate nach der Niederschrift. Einen Sonderfall bilden die oben erwähnten Doppelhandschriften der Orgelwerke, die eine ältere und eine neuere Fassung repräsentieren und teilweise ebenfalls auf Ratschläge Straubes reagieren.48 Die Druckausgabe der Hybrid-Edition entscheidet sich jeweils für die von Reger im Erstdruck autorisierte Fassung (im Bewusstsein, dass die übrigen in der digitalen Präsentation erhalten bleiben). Ein derartiges Verfahren werden Verfechter der Anfangsgestalt jedoch in Frage stellen; sofern sie nicht nur dem romantischen Denkmodell vom göttlich inspirierten Schaffen verpflichtet sind, sondern aus der Motivation für die Änderungen argumentieren, ist der Einwand bedenkenswert. Da die Eingriffe, namentlich Kürzungen, häufig dem Ratschlag Anderer folgten, sprechen jene ihnen, auch wenn sie eine letztwillige Verfügung darstellen und eigenhändig ausgeführt wurden, die Autorität ab.49 Damit negieren sie aber ____________ 46 47 48 49
Hermann Zwerschina, Variantenverzeichnung, Arbeitsweise des Autors und Darstellung der Textgenese, in: Text und Edition (wie Anm. 28), S. 203–229, hier S. 220. Ebd., S. 221. Vgl. oben das Beispiel der Choralphantasie „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ op. 40, Nr. 1, in der eine ganze Strophe neu komponiert und ausgetauscht wird. Bernhard Huber referierte im September 2008 über diese Frage (vgl. Bernhard Huber, Komponist und Helfer – Zwischenbericht über eine Diskussion, in: Max Reger und die Musikstadt Leipzig. Kongressbericht Leipzig 2008, hrsg. von Susanne Popp und Jürgen Schaarwächter, Stuttgart 2010, S. 125–138); er war in seiner Dissertation Max Reger. Dokumente eines ästhetischen Wandels: Die Streichungen in den Kammermusikwerken (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. 20), Stuttgart 2008 dem Phänomen der Beeinflussung durch Straube nachgegangen und hatte gestrichene Partien im Streichquartett fis-Moll op. 121 freigelegt. Das Rasu-
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auch das Entwicklungspotential des musikalischen Textes. Ratschläge zur Mäßigung seines überbordenden Stils begleiteten Reger von seinen ersten Werken an; in Rezensionen bilden sie eine Konstante. Sein Lehrer Hugo Riemann verschärfte diese Kritik in seinen Reger-Artikeln von einer Ausgabe seines Musik-Lexikons zur nächsten, und Straube, der zeitlebens Gelegenheit hatte, Werke vor ihrem Abschluss kennenzulernen und zu beurteilen, agierte in derselben Richtung. Soll man nun Regers Bemühen um Abklärung, das seine gesamte Entwicklung auszeichnet, als allein von außen beeinflusst ablehnen? Ist es ein Zeichen von Charakterschwäche, wenn er versuchte, Schlacken abzustreifen und Plastizität zu gewinnen? Das Phänomen der redaktionellen Streichungen von Takten und ganzen Abschnitten noch während des Korrekturprozesses, um das sich die Diskussionen hauptsächlich entzünden, ist auch in Werken zu beobachten, die garantiert außerhalb des Einflussbereiches seines primären Ratgebers entstanden (z. B. in den Vier Tondichtungen nach Arnold Böcklin für großes Orchester op. 128 oder der Ballett-Suite für Orchester op. 130, die jeweils in den Sommerferien korrigiert und stark, im letzteren Fall um einen vollständigen Satz, gekürzt wurden). Der Komponist wurde zunehmend selbstkritischer; die Formung seiner Werke in wellenförmigen Steigerungsbögen erlaubte das Herausnehmen des einen oder anderen Abschnitts, zumal der innere Zusammenhalt durch weitestgehende motivische Vernetzung aller Partien garantiert bleibt. Die Entscheidung für den Abdruck der letztwilligen gekürzten Fassung im Notenband bedeutet auch, den Komponisten, der in vielen Fällen seinen Eigensinn durchaus bewiesen hat, in seiner Entscheidung ernst zu nehmen. Das Medium der DVD-ROM erlaubt es, die Anfangsgestalt wiederzugeben, wozu teilweise die überstrichenen Partien mit besonderen Aufnahmeverfahren sichtbar gemacht und nach wissenschaftlichen Kriterien ediert werden – als Forschungsinstrument für künftige Fragestellungen, aber auch als Möglichkeit für den am Originalgedanken hängenden Interpreten, sich seine Varianten auszudrucken. Sämtliche Quellen werden mit hochaufgelösten Scans erfasst, die in vielen Details klarer und besser lesbar sind als die Handschrift selbst; so wird im Abbild manches deutlich, was die Ausgaben seit Beginn als Fehler begleitete und längst zur Tradition wurde. Bindebögen erweisen sich beim Heranzoomen __________
mowsky-Quartett hatte diese frühere Fassung begeistert aufgegriffen, weil es sie überzeugender und homogener fand. Wo die Druckausgabe Brüche aufweise, biete das Autograph Übergänge. Als ästhetische Entscheidung der Interpreten muss dies akzeptiert werden. Jedoch zeichnet Diskontinuität Regers Personalstil aus; seine Montagetechnik, sein buchstäbliches Komponieren mit der Schere gehört zu den wegweisenden Komponenten seines Schaffens, und es ist durchaus möglich, dass er mit seinen „einschneidenden“ Eingriffen die beunruhigenden Brüche nur verschärfen wollte.
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als Spuren von Rasuren, Unterstreichungen als Abdrücke der Rückseite und vieles mehr. Die Aufbereitung der Scans geschieht in Zusammenarbeit mit Mitarbeitern des Detmolder EDIROM-Projekts und dem Institut für Musikwissenschaft/Musik-Informatik an der Musikhochschule Karlsruhe. Das Ergebnis erlaubt eine rasche Orientierung und einen schnellen Zugriff auf das Gesuchte. Die Navigation wird dank der Detmolder Methode, Taktzahlen in die Scans einzufügen und danach abzurufen, erleichtert; per Mausklick erscheinen auf dem Bildschirm die entsprechenden Ausschnitte der verschiedenen Quellen, die ohne Blättern miteinander verglichen werden können. Die Wiedergabe der Quellen erlaubt nicht nur, alle Entscheidungen der Herausgeber zu verfolgen; sie hebt auch den handwerklichen Aspekt des Komponierens hervor. Zusätzlich wird aus dem reichen Archivmaterial des Max-Reger-Instituts ein lexikalischer Teil erarbeitet. Kontexte, Informationen zur Entstehung, Uraufführungen, zu Orgelinstrumenten und ihren Dispositionen, zu Interpreten und Verlegern sollen auch dem nicht vorgebildeten Nutzer mit Bedarf an weiterführenden Hinweisen in verständlicher Form vermittelt werden. Je umfangreicher das Material präsentiert wird, desto wichtiger ist seine Organisation und Strukturierung in allen Bestandteilen. Nur eine nichtlinear aufbereitete, durch eine Netzstruktur miteinander verknüpfte Materialmenge kann Erkenntnisgewinn bringen, ohne den Nutzer mit der Vielzahl der Informationen zu überfordern. Die Aufbewahrung von Texten verschiedener Arbeitsschichten macht es dem Nutzer je nach Informationsbedarf und Vorverständnis möglich, einen eigenen Pfad zu verfolgen, assoziativen Querverweisen nachzugehen und das Gesuchte unkompliziert zu finden; so kommt es zu einer Interaktivität zwischen Medium und Nutzer. Editorisches Tun ist stets in der Geschichte verankert, und ein Notentext wird immer auslegbar bleiben. Aus der Einsicht, dass ein genaues Studium der Handschriften dem Kenner und mit der Arbeitsweise Vertrauten immer wieder neue Einsichten bringt, möchte die Ausgabe eine Grundlage für künftige wissenschaftliche Auseinandersetzungen bieten. (Susanne Popp)
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IV.
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Einblicke in die hybride Editionspraxis: Übergänge zwischen Quellenbereich und Werkumfeld im digitalen Teil der RegerWerkausgabe50
Für den Sommer 2015 ist die Herausgabe des siebten und letzten Bands der Orgelwerke innerhalb der Max Reger-Werkausgabe (RWA) geplant. Mit dem Abschluss des ersten von drei vorgesehenen Modulen der RWA liegt erstmals überhaupt eine komplette Werkgruppe eines Komponisten in hybrider Editionsform – Buchpublikation und digitale Anzeige-Version mithilfe der Software Edirom auf DVD-ROM – vor. Die sieben DVDs bieten gewissermaßen eine Kartographie von Regers gesamtem Orgelwerk: Die zusammengehörigen Quellen sind über Konkordanzen taktweise miteinander synchronisiert; ebenso sind die Einzelanmerkungen des Kritischen Berichts mit den entsprechenden Takten verknüpft und somit visuell nachzuvollziehen. Während diese quellenbasierten Bausteine aus Gründen der Speicherkapazität von Band zu Band ausgetauscht werden müssen, bleiben die enzyklopädischen Inhalte (etwa Briefe und Dokumente, Orgeln der Reger-Zeit mit entsprechenden historischen Dispositionen, Interpreten und Widmungsträger, Noten- und Konzertrezensionen u. v. m.), die über den mit „Umfeld der Werke“ benannten Bereich zugänglich sind, von der Bandstruktur unabhängig und sind von Anfang an auf Wachstum angelegt: Informationswege werden hier kontinuierlich ausgebaut, Inhalte hinzugefügt oder – unter Einbeziehung neuer Erkenntnisse – erweitert, aktualisiert und gegebenenfalls auch revidiert. Eine besondere Herausforderung der digitalen Präsentation bestand von Anfang an darin, die inhaltliche Gliederung, wie sie im gedruckten Band der RWA festgelegt wurde, nicht einfach zu reproduzieren, sondern den spezifischen Anforderungen und Möglichkeiten der Hypertext-Struktur anzupassen. Während im gedruckten Band alle Inhalte linear aufeinander folgen (allgemeines Vorwort zur Ausgabe, Editionsrichtlinien, bandinterne Einleitung mit Informationen zur Entstehung, Herausgabe und Rezeption, edierter Notentext, Kritischer Bericht) und in den Textbereichen die Informationen in üblicher Weise durch Trennung in Haupttext und Fußnoten hierarchisch angeordnet sind, unterstützt die Hypertext-Struktur eine Disposition in Schichten, die vereinfacht als Zwiebelmodell veranschaulicht werden kann: Die einzelnen Informationsschichten legen sich um einen editorischen Kernbereich – beste____________ 50
Die in der Zeit nach Abfassung des vorstehenden Texts erschienenen Bände der RWA machen es möglich, an dieser Stelle einen ersten Erfahrungs- und Werkstattbericht aus Sicht der Editoren anzufügen. Dieser Bericht soll als Ergänzung des Texts dienen und nimmt dabei insbesondere anhand von praktischen Beispielen die angesprochenen Verknüpfungsmöglichkeiten der einzelnen Komponenten der digitalen Edition in den Blick.
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hend aus ediertem Notentext, Quellenpräsentation und -dokumentation sowie Einzelanmerkungen des Kritischen Berichts – und sind gegenseitig durchlässig. Als gewissermaßen mehrdimensional ausgebautes Querverweis-System ermöglicht die über Links organisierte Hypertext-Struktur, Inhalte aus weit entfernten Schichten direkt zusammenzuschalten und damit immer wieder neu zu kontextualisieren. In letzter Konsequenz können auf diese Weise auch der editorische Kernbereich und das „Umfeld der Werke“ miteinander verwachsen. In der RWA wurde dieses Bezugsnetz, das editorischen Kernbereich und „Umfeld“ gleichermaßen umspannt, nach und nach verdichtet. So gibt es in Band I/1 (Choralphantasien, 2010) nur wenige Brücken, die zwischen beiden Bereichen hin- und herführen. Editions- und Quellenbereich sind vielmehr noch auf der einen und enzyklopädisches „Umfeld“ auf der anderen Seite angesiedelt und verhalten sich etwa wie Hauptband zu Appendix. Dennoch erwachsen bereits dort erste sektionsübergreifende Verbindungen aus den Einzelanmerkungen des Kritischen Berichts, die quellenweise geordnet in den zugehörigen Faksimile-Takten hinterlegt sind. Genutzt wurde – wenngleich bis dato nur sporadisch – die werk- bzw. bandinterne Verknüpfung einzelner Anmerkungen – etwa zur Diskussion von Parallelstellen – sowie die Möglichkeit, relevante Materialien aus dem „Umfeld“ als Belege für editorische Entscheidungen über einen Link einzubetten. So wurde zur Dokumentation eines Druckfehlers im Erstdruck der Choralphantasie Freu dich sehr, o meine Seele! op. 30 (T. 117) ein Brief Regers an den Organisten und Rezensenten Georg Göhler in Faksimile des Originals und als Transkription hinzugezogen, der an dieser Stelle des Lesartenverzeichnisses gewissermaßen Quellenwert erhielt. Erst die nachfolgenden Bände weisen tatsächliche Übergänge vom Kernbereich zum „Umfeld“ (und umgekehrt) auf; der kontinuierliche Materialzuwachs, den jeder neue Band mit sich brachte, begünstigte diese Entwicklung. Ein Beispiel für einen solchen Übergang bietet die Diskussion einer Passage im Intermezzo (Nr. 3) aus den Zwölf Stücken op. 59, die in Band I/5 (2014) ediert wurden: In Takt 49 der autographen Stichvorlage findet sich im I. System ein g3, das Reger lediglich in Kleinstich notierte – eine Entscheidung, die sich mit Blick auf die zur Verfügung stehenden Instrumente der Zeit erklärt. Da auch größere Orgeln bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Manualen oft nur bis f3 ausgebaut waren, konnte Reger diesen Ton noch nicht allerorts voraussetzen und gab ihn daher (obwohl thematisch) nur als Option an. Dieser Zusammenhang zwischen kompositorischem Detail und historischen Gegebenheiten des Orgelbaus wird in der Hypertextstruktur der digitalen RWA zur Weichenstellung genutzt. Ein Link in der entsprechenden Einzelanmerkung führt zu einer Übersicht über die Orgeln der Regerzeit und deren historische
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Dispositionen. Auf der DVD von Band I/5 (Orgelstücke I, 2014) sind an dieser Stelle bereits Informationen zu 63 Instrumenten zusammengetragen, von denen viele – nach zwei Weltkriegen und den eingreifenden Um- und Rückbaumaßnahmen, die vom barocken Werkorgel-Ideal der sogenannten Orgel-Bewegung geleitet waren – nicht mehr in ihrer vormaligen Klanggestalt oder gar nicht mehr existieren. Insbesondere für Interpreten steht an dieser Stelle somit ein rekonstruiertes instrumentales Quellenreservoir aus einer Zeit zur Verfügung, in welcher die Klangvisionen eines Komponisten Hand in Hand zu gehen schienen mit den im Wettlauftempo aufeinander folgenden technischen Innovationen, die schließlich in den instrumentalen Monumentalbauten des spätwilhelminischen Zeitalters kulminierten: Walcker-Orgel in der Dortmunder Reinoldikirche 1909, Steinmeyer-Orgel in der Mannheimer Christuskirche 1911, Walcker-Orgel in der Hamburger St.-Michaelskirche 1912 und WalckerSauer-Orgel in der Breslauer Jahrhunderthalle 1913. Aktuell, d. h. zum Ende des ersten Moduls der RWA, werden Übergänge aus dem editorischen Kernbereich in das „Umfeld“ freilich nicht mehr nur zur Hinzuschaltung zusätzlichen Belegmaterials bei editorischen Entscheidungen sowie zur gezielten Einblendung des historischen Kontextes verwendet, sondern auch zur zwischenbilanzierenden Erörterung allgemeiner Fragestellungen, die sich im Fokus der Reger-Forschung befinden. Wiederholt zur Debatte standen und stehen etwa die Interpretation und Verbindlichkeit von Regers Tempoangaben sowie der mögliche Einfluss des Leipziger ThomaskirchenOrganisten Karl Straube, Regers Freund und Hauptinterpret seiner Orgelmusik, auf die Konzeption einiger Werke. Darüber hinaus offenbaren Regers Manuskripte Schreibgewohnheiten und -eigentümlichkeiten, die sich über die Jahre herausbildeten und Interpretationsspielräume bei der Deutung von Manuskriptbefunden eröffnen, etwa in Bezug auf Halsung, Balkensetzung, Positionierung von Dynamikangaben, Phrasierungs- und Artikulationsbögen. Zu diesen Themenbereichen wurden nach und nach zusammenfassende Texte erstellt, die in der Hauptsache als Dokumentationen angelegt und im „Umfeld“ verankert sind. Als Bausteine für diese Texte fungieren wiederum die Einzelanmerkungen der Kritischen Berichte. Abschließende Thesen werden daher in diesen Dokumentationstexten, die aus den Einzelanmerkungen heraus verlinkt sind und zu denen sie auf umgekehrtem Navigationsweg auch zurückführen, bewusst nicht formuliert. Vielmehr wird durch die kontinuierliche Hinzufügung editorischer Bausteine das Deutungsspektrum erweitert, was auch Revisionen früherer Deutungen mit einschließen kann: Editorische Details und deren Kontextualisierung befinden sich in Wechselwirkung, Kernbereich und „Umfeld“ wachsen miteinander.
Max Reger – Editionen eines unbequemen Komponisten
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Eine stringente Informations- und Argumentationskette sowie die hierarchische Anordnung der vermittelten Inhalte, wie sie die lineare Präsentation in Buchform erfordert, sind in einer Hypertextstruktur nicht ohne weiteres angelegt. Dazu prädestiniert, Zusammenhänge immer wieder neu zu gestalten und – da das im Buch zu Beschränkungen zwingende Platzproblem hier kaum gegeben ist – Material in unterschiedlichsten Konstellationen zusammenzutragen sowie in variierender Erschließungstiefe zu verwerten, läuft die digitale Präsentation stets Gefahr, die Nutzer um wesentliche Inhalte berührungslos herumzuführen oder sie an den Randgebieten des „Umfelds“ gleichsam „ohne Kompass“ zurückzulassen. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, ist eine ebenso sinnfällige wie intuitive Benutzerführung geboten, die sich insbesondere bei der Präsentation von Inhalten, die sich an den beschriebenen Übergängen von editorischem Kernbereich und „Umfeld“ befinden, als komplexe Aufgabe erweist. In diesem Zusammenhang nicht eindeutig zu platzieren sind etwa die Choralbücher, die insbesondere bei der Edition der Choralvorspiele (Bd. I/4, 2012) eine Rolle spielten. Reger entnahm diesen Choralbüchern die Cantusfirmus-Vorlagen für seine Vorspiele und behielt oftmals die tradierten Melodien tongetreu bei, nahm sich bisweilen aber auch die künstlerische Freiheit, gemäß seinen kompositorischen Intentionen Änderungen vorzunehmen. An Stellen, an denen künstlerische Veränderungen editionsrelevante Fragestellungen nach sich zogen, avancierte die Identifizierung und Präsentation der entsprechenden Melodievorlagen zu einem Teil der Quellendiskussion. So waren für die Choralbücher, die auf der DVD-ROM als Farbscans enthalten sind, verknüpfende Navigationswege nötig, die sowohl von den entsprechenden Einzelanmerkungen des Kritischen Berichts als auch von Übersichtsseiten des „Umfelds“ aus erreichbar sein sollten. Eine derart vielfache Verknüpfung von Inhalten innerhalb eines Bezugsnetzes ist auf Knotenpunkte angewiesen, die der Orientierung dienen. Je weitgespannter und verästelter das Netz im Laufe der Zeit wurde, desto anspruchsvoller gestaltete sich in der RWA die Organisation der Übergänge, desto mehr erforderte die Verwaltung der Inhalte auch eine „vielfache Buchführung“, vermehrte doch die wachsende Zahl der Einzelseiten auch die Zusammenhänge, in welche die Inhalte eingebunden werden mussten. Neben der Pflege und Erweiterung der Inhalte selbst war und ist es also die Pflege und Erweiterung der inhaltlichen Infrastruktur, die es bei der digitalen Präsentation zu meistern gilt. (Stefan König)
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Susanne Popp, Stefan König
Ausgaben Max Reger. Wissenschaftlich-kritische Hybrid-Edition von Werken und Quellen, im Auftrag des Max-Reger-Instituts/Elsa-Reger-Stiftung hrsg. von Susanne Popp und Thomas Seedorf (= Reger. Werkausgabe), Stuttgart 2010ff. (Bandherausgeber: Alexander Becker, Christopher Grafschmidt, Stefan König und Stefanie Steiner-Grage) Max Reger. Sämtliche Werke, in Verbindung mit dem Max-Reger-Institut hrsg. vom Verlag Breitkopf & Härtel (= Reger. Sämtliche Werke), Bd. 1–35, Wiesbaden 1954–1970, Supplementbände 1–3, Wiesbaden 1974/1984 Max Reger. Briefe eines deutschen Meisters: Ein Lebensbild, hrsg. von Else von Hase-Koehler, Leipzig 1928 Max Reger. Briefe zwischen der Arbeit, hrsg. von Ottmar Schreiber (= Veröffentlichungen des Max-Reger-Instituts, Bd. 3), Bonn 1956 Max Reger. Briefe zwischen der Arbeit. Neue Folge, hrsg. von Ottmar Schreiber (= Veröffentlichungen des Max-Reger-Instituts, Bd. 6), Bonn 1973 Max Reger. Briefe an Karl Straube, hrsg. von Susanne Popp (= Veröffentlichungen des MaxReger-Instituts, Bd. 20), Bonn 1986 Max Reger. Briefe an den Verlag Lauterbach & Kuhn, Bd. 1, hrsg. von Susanne Popp (= Veröffentlichungen des Max-Reger-Instituts, Bd. 12), Bonn 1993 Max Reger. Briefwechsel mit dem Verlag C. F. Peters, hrsg. von Susanne Popp und Susanne Shigihara (= Veröffentlichungen des Max-Reger-Instituts, Bd. 13), Bonn 1995 Max Reger. Briefe an den Verlag N. Simrock, hrsg. von Susanne Popp (= Schriftenreihe des MaxReger-Instituts, Bd. 18), Stuttgart 2005 Max Reger. Briefe an den Verlag Ed. Bote & G. Bock, hrsg. von Herta Müller und Jürgen Schaarwächter (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. 22), Stuttgart 2011
Literaturverzeichnis Huber, Bernhard: Max Reger. Dokumente eines ästhetischen Wandels: Die Streichungen in den Kammermusikwerken (= Schriftenreihe des Max-Reger-Instituts, Bd. 20), Stuttgart 2008 Huber, Bernhard: Komponist und Helfer – Zwischenbericht über eine Diskussion, in: Max Reger und die Musikstadt Leipzig. Kongressbericht Leipzig 2008, hrsg. von Susanne Popp und Jürgen Schaarwächter, Stuttgart 2010, S. 125–138 Klotz, Hans: Gedanken zur Orgelmusik Max Regers, in: Mitteilungen des Max-Reger-Institus, Heft 7 (1958), S. 12–14. Mitteilungen des Max-Reger-Instituts, im Auftrag des Kuratoriums des Max-Reger-Instituts hrsg. von Ottmar Schreiber, Heft 1–20, Bonn 1954–1974 Popp, Susanne: Zwei Gründungen und kein Erbe, in: IMMER REGER. Geschichte und Aufgaben des Max-Reger-Instituts, hrsg. vom Max-Reger-Institut, Stuttgart 2007 Shillingsburg, Peter: Anglo-amerikanische Editionswissenschaft, in: Text und Edition. Positionen und Perspektiven, hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta u. a., Berlin 2000, S. 143–164 Thematisch-chronologisches Verzeichnis der Werke Max Regers und ihrer Quellen, im Auftrag des Max-Reger-Instituts hrsg. von Susanne Popp in Zusammenarbeit mit Alexander Becker, Christopher Grafschmidt, Jürgen Schaarwächter und Stefanie Steiner (= Reger-Werk-Verzeichnis), München 2010 Thematisches Verzeichnis der im Druck erschienenen Werke von Max Reger, bearbeitet von Fritz Stein, Leipzig 1953 Zwerschina, Hermann: Variantenverzeichnung, Arbeitsweise des Autors und Darstellung der Textgenese, in: Text und Edition. Positionen und Perspektiven, hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta u. a., Berlin 2000, S. 203–229
Ulrich Krämer
Die Editionen der Werke Arnold Schönbergs
I.
Ausgaben zu Lebzeiten
Während Paul Hindemith bereits zu Lebzeiten den Plan einer „etwaigen Gesamtausgabe“ seiner Kompositionen hegte und eigens zu diesem Zweck ein Verzeichnis ungedruckter Stücke zusammenstellte,1 lag Arnold Schönberg der Gedanke an eine derartige kompendiöse Ausgabe seiner Werke fern. Der Beweggrund für diese Zurückhaltung war jedoch weder Bescheidenheit noch mangelndes Sendungsbewusstsein, sondern hatte vor allem äußere Ursachen: Hindemith war seit 1919 durch eine lebenslange Zusammenarbeit mit dem Mainzer Verlag B. Schott’s Söhne verbunden, der mit einer einzigen Ausnahme seine sämtlichen Werke publizierte und bei dem seit 1975 auch die Gesamtausgabe erscheint. Die Rechte an Schönbergs Werken dagegen verteilen sich auf nicht weniger als 18 unterschiedliche, teils entlegene Verlage. Die früheste vertragliche Bindung ging Schönberg mit Max Marschalk ein, der den Berliner Verlag Dreililien leitete. Dieser Vertrag wurde am 27. Juni 1903 zunächst über eine Laufzeit von fünf Jahren abgeschlossen, verlängerte sich dann jedoch aufgrund von Honorarvorauszahlungen um zwei weitere Jahre. Zwischen 1903 und 1907 erschienen bei Dreililien die Liedersammlungen op. 1, 2, 3 und 6, das Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 und das 1. Streichquartett op. 7. Da der Verlag aufgrund finanzieller Bedenken zögerte, die 1902/1903 komponierte symphonische Dichtung Pelleas und Melisande op. 5, die zwischen 1903 und 1905 entstandenen Sechs Lieder für Gesang und Orchester op. 8 und die 1. Kammersymphonie op. 9 von 1906 zu drucken, schloss Schönberg im Juli 1910 mit Emil Hertzka, dem Direktor der Wiener Universal Edition, einen zunächst auf zehn Jahre befristeten Vertrag ab, mit dem der Verlag die Rechte an sämtlichen musikalischen und musik-dramati____________ 1
Vgl. Klingende Denkmäler: Musikwissenschaftliche Gesamtausgaben in Deutschland, im Auftrag der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, vertreten durch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, hrsg. von Klaus Döge, Ulrich Krämer und Salome Reiser für die Fachgruppe Freie Forschungsinstitute, Kassel 2007, S. 59 sowie im vorliegenden Band den Beitrag Die Editionen von Paul Hindemiths Werken, S. 672.
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Ulrich Krämer
schen Kompositionen Schönbergs erwarb und den Komponisten mittels eines Tantiemenvertrags an dem Erlös aus dem Verkauf seiner Werke beteiligte. Die erste Kontaktaufnahme mit der 1901 gegründeten Universal Edition war bereits im Sommer des Jahres 1909 erfolgt. In diesem Jahr hatte Hertzka systematisch damit begonnen, die Universal Edition, die sich bis dahin vor allem durch mustergültige Ausgaben klassischer Werke einen Namen gemacht hatte, durch Vertragsabschlüsse u. a. mit Franz Schreker, Max Reger, Richard Strauss, Josef Suk und Gustav Mahler, an dessen ersten vier Symphonien der Verlag bereits drei Jahre zuvor die Rechte übernommen hatte, als führenden Verlag der jüngeren zeitgenössischen Komponisten zu etablieren. Der Grundstein dieser Neuausrichtung war bereits 1904 durch den Ankauf des Münchner Verlags Joseph Aibl gelegt worden, durch den Werke von Richard Strauss und Max Reger Aufnahme in den Verlagskatalog der Universal Edition fanden. Bereits im Oktober 1910 erschienen als erstes Werk Schönbergs die Drei Klavierstücke op. 11 bei dem jungen Verlag, der außerdem dessen im Vorjahr im Selbstverlag herausgegebenes 2. Streichquartett op. 10 in sein Programm übernahm. Im folgenden Jahr 1911 brachte die Universal Edition mit Pelleas und Melisande op. 5 und den von Anton Webern arrangierten Klavierauszügen der Sechs Orchesterlieder op. 8 zwei jener Werke heraus, über die es zum Zerwürfnis mit Marschalk gekommen war. Im Dezember 1911 erschien Schönbergs theoretisches Hauptwerk, die Harmonielehre, und Anfang des Jahres 1912 wurde mit dem Stich des von Alban Berg eingerichteten Klavierauszugs der Gurre-Lieder begonnen. Er kam rechtzeitig zur Uraufführung des Werkes im Februar des folgenden Jahres heraus, nachdem bereits im November 1912 die auf fotografischem Wege hergestellte Studienpartitur als Faksimile des Autographs veröffentlicht worden war. Im Februar 1912 hatte Hertzka mit Max Marschalk eine Einigung darüber getroffen, die bei Dreililien erschienenen Werke Schönbergs in den Vertrieb der Universal Edition zu übernehmen.2 Trotz dieser verlegerischen Anstrengungen kam es mit Ablauf des Jahres 1911 zu einer ersten Trübung des Verhältnisses zwischen dem Komponisten und seinem Verleger, da sich Hertzka nicht in der Lage sah, die bis dahin ungedruckten Werke Schönbergs – die 1. Kammersymphonie op. 9, die Zwei Balladen op. 12, der Chor Friede auf Erden op. 13, die Zwei Lieder op. 14, die Fünfzehn Gedichte aus „Das Buch der hängenden Gärten“ von Stefan George op. 15, die Fünf Orchesterstücke op. 16 und das Monodram Erwartung op. 17 – in angemessener Zeit zu publizieren, obwohl die vertraglich vereinbarte Frist zu deren Publikation abgelaufen war. Schönberg ent____________ 2
Vgl. den Brief von Arnold Schönberg an Emil Hertzka vom 10. Februar 1912 (Wienbibliothek im Rathaus).
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schloss sich daraufhin, die in Frage stehenden Werke anderen Verlagen anzubieten. Infolge dieser Bemühungen erschienen noch im Lauf des Jahres 1912 die Fünf Orchesterstücke bei dem Leipziger Traditionsunternehmen C. F. Peters, das mit der 1949 komponierten Phantasy for Violin with Piano Accompaniment op. 47 noch ein weiteres Werk Schönbergs erwarb, welches jedoch erst 1952, also nicht mehr zu Lebzeiten des Komponisten veröffentlicht wurde. Der Chor Friede auf Erden ging an den Kölner Musikverlag Tischer & Jagenberg, wurde jedoch 1924 in den Vertrieb der Universal Edition übernommen und 1955 vom Verlag B. Schott’s Söhne, der vom Originalverlag die Rechte an dem Chor erworben hatte, neu herausgegeben. Wohl auch aufgrund der Abschlüsse mit diesen beiden Verlagen entschloss sich die Universal Edition noch im selben Jahr 1912 zur Publikation weiterer ausstehender Werke Schönbergs und brachte im folgenden Jahr die bereits sieben Jahre früher komponierte 1. Kammersymphonie op. 9, die Partiturausgabe der Sechs Orchesterlieder op. 8 und die 1911 entstandenen Sechs kleinen Klavierstücke op. 19 heraus. 1914 erschienen mit den bereits 1908/1909 komponierten George-Liedern op. 15 und dem von der Leipziger Diseuse Albertine Zehme in Auftrag gegebenen Melodramenzyklus Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds „Pierrot lunaire“ op. 21 von 1912 zwei weitere Hauptwerke Schönbergs. Außerdem gab der Verlag die 1. Kammersymphonie in einer „verbesserten“, d. h. vom Komponisten revidierten und vor allem hinsichtlich der Instrumentation stark überarbeiteten Neuausgabe heraus. Die übrigen zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegenden Werke Schönbergs – die beiden durch ein Preisausschreiben angeregten Balladen op. 12 (1907), die zwei George-Vertonungen op. 14 (1907/08), das Ensemblelied Herzgewächse op. 20 (1911) und die beiden Operneinakter Erwartung op. 17 (1909) und Die glückliche Hand op. 18 (1910–1913) – blieben dagegen infolge des Kriegsausbruchs zunächst ungedruckt. Die beiden Einakter erschienen schließlich zusammen mit der 1916 eingerichteten Streichorchesterbearbeitung des Streichsextetts Verklärte Nacht und den zwischen 1913 und 1916 entstandenen Vier Liedern für Gesang und Orchester op. 22 im vorletzten Kriegsjahr 1917, die übrigen, teils früher entstandenen Werke dagegen erst 1920. Für die Orchesterlieder hatte Schönberg mit der „Vereinfachten Studier- und Dirigierpartitur“ eine erstmals bereits für die Gurre-Lieder in Betracht gezogene particellartige Publikationsform ersonnen. Sie zielte zunächst darauf ab, den Besonderheiten der Instrumentation, die vor allem durch die teils chorische Besetzung der Holzbläser und die vielfache Teilung der Streicher bestimmt ist, Rechnung tragen. Darüber hinaus sollte sie die von Schönberg als Mangel empfundenen Grundprinzipien der herkömmli-
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chen Orchesterpartitur – die das Lesen komplexer Gebilde erschwerende transponierende Notation und die dem Höreindruck widersprechende Vervielfachung des Notierten zur Darstellung des orchestertypischen Mischklangs – beseitigen (vgl. Abb. 1).3 Zu Beginn des Jahres 1923 schloss Schönberg im Einvernehmen mit der Universal Edition mit dem Kopenhagener Musikverlag Wilhelm Hansen, der bereits drei Jahre zuvor mit einer entsprechenden Anfrage an ihn herangetreten war, einen Vertrag über die 1920 und 1923 komponierten Fünf Klavierstücke op. 23 und die innerhalb desselben Zeitraums entstandene Serenade op. 24 für Instrumentalensemble und eine tiefe Männerstimme ab, die noch im selben bzw. im folgenden Jahr erschienen. Im Gegenzug hatte sich Hertzka von Schönberg, der seit den Vier Orchesterliedern op. 22 kein neues Werk mehr fertiggestellt hatte, zwei neue Kompositionen – die 1921 begonnene Suite für Klavier op. 25 und das vom Flötisten des Kopenhagener Bläserquintetts angeregte, 1923 in Angriff genommene Bläserquintett op. 26 – ausbedungen. Beide Werke erschienen 1925 als Schönbergs erste vollständige Zwölftonkompositionen. Im selben Jahr brachte der Verlag auch die beiden 1922 für großes Orchester gesetzten Bach-Bearbeitungen „Komm, Gott, Schöpfer, Heiliger Geist“ BWV 667 und „Schmücke dich, o liebe Seele“ BWV 654 heraus. Auch mit den folgenden, größtenteils bereits nach seiner Berufung an die Berliner Akademie der Künste als Nachfolger Ferruccio Busonis entstandenen bzw. fertiggestellten Kompositionen – den Vier Stücken für gemischten Chor op. 27 (1925), den Drei Satiren op. 28 (1925/1926), der Suite op. 29 für drei Klarinetten, Geige, Bratsche, Violoncello und Klavier (1924–1926), dem 3. Streichquartett op. 30 (1927), den Variationen für Orchester op. 31 (1926– 1928), dem für den Sammelband Musik der Zeit komponierten Klavierstück op. 33a (1928/1929) und der Bearbeitung von Bachs Präludium und Fuge EsDur BWV 552 für Orchester (1928) – hielt Schönberg der Universal Edition die Treue, die diese Werke zwischen 1926 und 1929 herausbrachte.4 Aus Kostengründen sah sich der Verlag jedoch außerstande, Schönbergs 1928/1929 auf ____________ 3
4
Vgl. hierzu Ulrich Krämer, Partitur versus Particell. Probleme der handschriftlichen Überlieferung bei Arnold Schönberg, in: Das Autograph – Fluch und Segen. Probleme und Chancen für die musikwissenschaftliche Edition. Bericht über die Tagung der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute 19.–21. April 2013, hrsg. im Auftrag der Fachgruppe von Ulrich Krämer, Armin Raab, Ullrich Scheideler und Michael Struck (= Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung 2014), Mainz [u. a.] (erscheint 2015). Schönberg hatte das erste der Vier Stücke op. 27 aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Universal Edition auf Büttenpapier abgeschrieben und Emil Hertzka am 30. September 1925 „in großer Dankbarkeit und Freundschaft“ zugeeignet. Dass auch umgekehrt der Verlag Schönberg die Treue gehalten hat, lässt sich u. a. daran ermessen, dass er vollkommen uneigennützig und auf eigene Kosten im September 1934 die Festschrift Arnold Schönberg zum 60. Geburtstag veröffentlichte.
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Abb. 1: Vier Lieder für Gesang und Orchester op. 22. Originaldruck in Form der „Vereinfachten Studier- und Dirigierpartitur“, Wien 1917, S. 12.
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einen Text seiner zweiten Frau Gertrud komponierte Oper Von heute auf morgen op. 32 zu publizieren, weshalb sich der Komponist entschloss, die Partitur und den zum Einstudieren benötigten Klavierauszug im Selbstverlag herauszugeben. Hertzkas Entscheidung gegen die Oper führte erneut zu einer Abkühlung des Verhältnisses zur Universal Edition, weshalb Schönberg seine folgenden Werke anderen Verlagen überließ. Aufgrund der politischen Verhältnisse in Deutschland, die Schönberg und seine Familie 1933 zur Emigration zwangen, sollte das Klavierstück op. 33a die letzte von der Universal Edition publizierte Komposition Schönbergs bleiben. Dessen Schwesterwerk, das 1931 in Barcelona komponierte Klavierstück op. 33b erschien dagegen als Schönbergs erstes in Amerika publiziertes Werk im April 1932 – also noch vor der Emigration – innerhalb der von dem Komponisten Henry Cowell für die von ihm gegründete New Music Society of California herausgegebenen Reihe New Music: A Quarterly of Modern Compositions. Zunächst jedoch scheiterte im Januar 1930 das Bemühen des Berliner Verlags Bote & Bock, die Oper Von heute auf morgen, deren Vertrieb die ebenfalls in Berlin ansässige Benno Balan Edition übernommen hatte, sowie ein neues, nicht näher bezeichnetes Orchesterwerk Schönbergs zu erwerben, an dessen finanziellen Forderungen. Stattdessen erwarb der Verlag, dem Schönberg bereits im März 1912 zu ebenfalls unannehmbaren Konditionen seine damals noch nicht gedruckte 1. Kammersymphonie op. 9 angeboten hatte, die Sechs Stücke für Männerchor op. 35, deren viertes und sechstes bereits 1929/1930 in einem Sammel- bzw. einem Separatdruck des Deutschen Arbeiter-Sängerbundes vorab erschienen waren.5 Zuvor hatte Schönberg die Chorstücke dem in Magdeburg ansässigen Heinrichshofen’s Verlag angeboten, dessen künstlerischer Berater Frederick Charles Adler 1929 mit der Bitte an ihn herangetreten war, etwas zu dem auf Stimmungsmusiken für Lichtspieltheater spezialisierten Verlagsprogramm beizusteuern. Während Schönberg diesem Wunsch mit seiner im Winter 1929/1930 komponierten Begleitungsmusik zu einer Lichtspielscene op. 34 entsprach, lehnte der Verlag die angebotenen Chorstücke ab, so dass die Begleitungsmusik das einzige von Heinrichshofen verlegte Werk Schönbergs blieb. Nachdem Schönberg bereits im März 1933 – keine zwei Monate nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten – seine Professur an der Preußischen Akademie der Künste infolge antijüdischer Hetze u. a. des AkademiePräsidenten, seines Kollegen Max von Schillings, niedergelegt hatte, ent____________ 5
Nr. 4 (Glück) in: Männerchöre ohne Begleitung, gesammelt von Alfred Guttmann. Deutscher Arbeiter-Sängerbund, Berlin [1929], S. 687–690; Nr. 6 (Verbundenheit) als Einzelausgabe, Berlin 1930.
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schloss er sich im Mai, Hitler-Deutschland den Rücken zu kehren. Nach kurzen Aufenthalten in Paris, wo er in die jüdische Glaubensgemeinschaft zurückkehrte, und im südfranzösischen Arcachon traf er mit seiner Familie am 31. Oktober 1933 in New York ein, um eine Kompositionsklasse an dem neugegründeten Malkin Conservatory in Boston zu übernehmen. Im Frühsommer 1934 kam es zu der für Schönbergs weiteres Schaffen entscheidenden Begegnung mit dem Musikwissenschaftler Carl Engel, der zwölf Jahre lang Direktor der Musikabteilung der Library of Congress in Washington, D. C. gewesen war und 1929 die Leitung des New Yorker Musikverlags G. Schirmer übernommen hatte. Nachdem Schönberg dem Verleger im Juni 1934 von seinem – unvollendet gebliebenen – Buchprojekt mit dem Arbeitstitel Der musikalische Gedanke und seine Darstellung berichtet hatte, erkundigte er sich im Juli, ob der Verlag Interesse an seinen neuesten musikalischen Werken – dem noch vor der Emigration im Winter 1932/1933 komponierten Konzert für Violoncello und Orchester (in freier Umgestaltung nach dem Concerto per Clavicembalo von Matthias Georg Monn) und dem 1933 in Berlin begonnenen und in Frankreich fertiggestellten Konzert für Streichquartett und Orchester (B-Dur) nach dem Concerto grosso op. 6 Nr. 7 von Georg Friedrich Händel (in freier Umgestaltung) – habe. Engel zeigte sich interessiert, so dass Schönberg im August seine Vorstellungen präzisierte und außer den beiden Konzerten – einschließlich des selbst verfertigten Klavierauszugs des Cellokonzerts – ein ebenfalls 1933 komponiertes Liederheft, die Oper Moses und Aron, an der er zu dieser Zeit arbeitete, sowie Neuausgaben einiger früher Werke, vor allem des Streichsextetts Verklärte Nacht op. 4, der Gurre-Lieder und der 1. Kammersymphonie op. 9 in Vorschlag brachte. Mit diesen Neufassungen der älteren Werke, die vordergründig die Aufführbarkeit dieser Werke verbessern sollten, bezweckte Schönberg vor allem die Sicherung des Urheberrechts für die Vereinigten Staaten, da die Universal Edition seinerzeit versäumt hatte, diese Werke für das amerikanische Copyright anzumelden. Mit der Annahme der beiden Konzerte nach Werken alter Meister, die im folgenden Jahr erschienen, begann die Zusammenarbeit mit Schönbergs wichtigstem amerikanischen Verlag. Sie setzte sich mit den Ausgaben der auf einen Vorschlag des Leiters eines New Yorker Studentenorchesters in den letzten Monaten des Jahres 1934 komponierten Suite im alten Stile für Streichorchester und der von dem Chicagoer Dirigenten Frederick Stock angeregten und im März 1935 abgeschlossenen zweiten Orchesterbearbeitung der 1. Kammersymphonie op. 9B fort, die im Januar bzw. Juli 1935 ins Verlagsprogramm aufgenommen wurden. Die bereits 1934 in Aussicht gestellte erneute Bearbeitung des Streichsextetts Verklärte Nacht op. 4 für Streichorchester gelangte dagegen erst 1943 zur
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Ausführung und erschien noch im selben Jahr in dem Verlag Associated Music Publishers (AMP), der 1964 vom Schirmer-Verlag übernommen wurde. Zwischen 1939 und 1944 publizierte Schirmer nahezu das gesamte instrumentale Spätwerk des Komponisten vom Violinkonzert op. 36 über das 4. Streichquartett op. 37 (1939), die Ode to Napoleon Buonaparte op. 41 in der Streichorchester- und Quartettfassung, das Klavierkonzert op. 42 bis hin zu Theme and Variations for Band Orchestra op. 43A in der originalen Fassung für Blasorchester und in der Orchesterbearbeitung op. 43B. Auch die ambitionierte, von Otto Klemperer angeregte Orchesterbearbeitung des 1. Klavierquartetts g-Moll op. 25 von Johannes Brahms – von Schönberg scherzhaft als „Brahms’ Fünfte“ bezeichnet – wurde 1937 von Schirmer verlegt. Dagegen konnte die Partitur der bereits 1906 begonnenen, jedoch erst 1939 fertiggestellten 2. Kammersymphonie op. 38 erst 1952 – ein Jahr nach Schönbergs Tod – erscheinen. Um die Kosten der Herstellung gering zu halten, wurden die großen Orchesterwerke nicht gedruckt, sondern nach dem Lichtpausverfahren hergestellt, bei dem die auf transparentem Papier geschriebenen Notenseiten auf lichtempfindliches Papier kopiert wurden. Auch die Universal Edition hatte sich mehrfach dieses Verfahrens bedient, jedoch nicht als Ersatz für den eigentlichen Notendruck, sondern zur Herstellung der Druckplatten. Schönberg mokierte sich bei Schirmer zu Recht über die nach dem Lichtpausverfahren vervielfältigten Partituren der Suite für Streichorchester und des Cellokonzerts und führte als Beispiel für einen gelungenen Lichtpausdruck die kurz zuvor bei der Universal Edition erschienene Partitur der Lulu-Suite seines im Vorjahr verstorbenen Schülers und Freundes Alban Berg an.6 Nachdem es im Frühjahr 1941 zu einem mehrere Monate dauernden Zerwürfnis mit Carl Engel gekommen war, der die finanziellen Bedingungen des Komponisten für die Überlassung einiger neuer Werke nicht akzeptieren konnte, knüpfte Schönberg Kontakte zu anderen amerikanischen Verlagen. Das von Schirmer zurückgewiesene Kol Nidre op. 39, das seine Entstehung einer Anregung des Rabbiners Jakob Sonderling verdankt, wurde zunächst im Selbstverlag vervielfältigt, bevor der Verlag Bomart Music Publications die Rechte erwarb. In der Folge überließ Schönberg Bomart auch sein 1946 unter dem Eindruck einer schweren Herzattacke komponiertes Streichtrio op. 45 – ein Auftragswerk für das Music Department der Harvard University –, das von der Koussevitzky Music Foundation bestellte Orchesterstück mit Sprecher und Chor A Survivor from Warsaw op. 46 und die bereits 1933 komponierten Lieder op. 48, die allerdings erst 1950 erschienen. ____________ 6
Vgl. Brief von Arnold Schönberg an Anis Fuleihan (G. Schirmer) vom 10. Oktober 1936 (Durchschrift, Library of Congress, Washington, D. C.).
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Zwei weitere Werke Schönbergs aus der amerikanischen Spätzeit waren dagegen von vornherein für bestimmte Verlagsproduktionen in Auftrag gegeben worden. Die in ihrer harmonischen Sprache an die 1. Kammersymphonie anknüpfenden Variations on a Recitative op. 40 für Orgel erschienen 1947 innerhalb einer Reihe zeitgenössischer Orgelwerke des New Yorker Verlags H. W. Gray, während die Vertonung des 130. Psalms für sechsstimmigen Chor a capella – Schönbergs letzte vollendete Komposition von 1950 – für eine 1955 erschienene Anthologie jüdischer Musik des Musikwissenschaftlers und Komponisten Chemjo Vinaver bestimmt war,7 jedoch bereits 1953 unter der Opuszahl op. 50B beim Verlag Israeli Music Publications in Tel Aviv vorab publiziert wurde. Um eine Auftragskomposition handelt es sich auch bei dem Prelude op. 44 für gemischten Chor und Orchester, das den Auftakt zur Genesis-Suite bildet – einer von dem Komponisten und Verleger Nathaniel Shilkret bestellten Gemeinschaftskomposition, zu der außer Schönberg u. a. auch Darius Milhaud, Mario Castelnuovo-Tedesco, Ernst Toch und Igor Strawinsky beitrugen. Die drei 1948 komponierten Volksliedsätze für gemischten Chor a cappella op. 49 schließlich wurden als Einzelausgaben innerhalb einer Reihe mit Chorwerken des New Yorker Musikverlags Edward B. Marks publiziert, für den Schönbergs Schwiegersohn Felix Greissle seit 1946 als Herausgeber tätig war. Die drei Chorsätze greifen auf deutsche Volkslieder des 15. und 16. Jahrhunderts zurück, die Schönberg zusammen mit einer weiteren Melodie bereits 1929 für Gesang und Klavier gesetzt hatte und die 1930 in dem von C. F. Peters verlegten Volksliederbuch für die Jugend erschienen waren.8
II.
Ausgaben aus dem Nachlass
Als Schönberg am 13. Juli 1951 starb, hinterließ er eine Vielzahl ungedruckter Werke, zu denen vor allem die beiden unvollendet gebliebenen Hauptwerke Die Jakobsleiter und Moses und Aron zählen. Mit der Komposition seines Oratoriums Die Jakobsleiter hatte Schönberg kurz nach Fertigstellung des selbstverfassten Textbuchs im Juni 1917 begonnen. Die gedankliche Vorbereitung reicht jedoch bis ins Jahr 1911 zurück, als er sich mit dem Plan einer ____________ 7
8
Anthology of Jewish Music: Sacred Chant and Religious Folk Song of the Eastern European Jews, hrsg. von Chemjo Vinaver, mit einem Frontispiz von Marc Chagall, New York: Edward B. Marks Music Corporation, 1955. Volksliederbuch für die Jugend, hrsg. von der Staatlichen Kommission für das Volksliederbuch, Bd. 3: Einstimmige Lieder mit Begleitung, Leipzig 1930. – Auf der Melodie von op. 49/1 („Es gingen zwei Gespielen gut“) basiert überdies einer von drei gemischten Chören a capella, mit denen Schönberg zu dem ebenfalls 1930 erschienenen zweiten Band Gemischte Chöre des Volksliederbuchs beigetragen hatte.
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Vertonung von Strindbergs Fragment Jakob ringt befasste, und führte über verschiedene Zwischenstufen – darunter eine viersätzige Programm-Symphonie für Chor und Orchester, in welcher er die Dichtungen Äonische Stunde, Freudenruf und Schöpfungsfeier von Richard Dehmel mit den eigenen Texten Totentanz der Prinzipien und Der Glaube des Desillusionierten zu verbinden beabsichtigte – bis zur endgültigen Konzeption. Nachdem er aufgrund seiner Einberufung zum Militärdienst im Herbst 1917 gezwungen war, die Komposition ruhen zu lassen, fand er nur schwer wieder Zugang zu dem Werk, an dem er zwischen 1918 und 1922 immer wieder arbeitete. Auch im amerikanischen Exil bemühte sich Schönberg mehrfach vergebens darum, die Arbeit wieder aufzunehmen, bis er schließlich kurz vor seinem Tod erkennen musste, dass er wohl nicht mehr in der Lage sein werde, das Werk zu vollenden. Die Jakobsleiter wurde schließlich von Schönbergs Schüler Winfried Zillig auf der Grundlage des vorhandenen Materials – des 1917 entstandenen Particells, das bei einem Umfang von 686 Takten bis in das der „Verwandlung“ des zweiten Teils vorangehende große symphonische Zwischenspiel hinein fertiggestellt war, des als Partiturersatz begonnenen Reinschriftparticells der ersten 44 Takte vom Herbst bzw. Winter 1944 sowie des umfangreichen Skizzenmaterials – in Partitur gesetzt und erschien in dieser noch immer fragmentarischen Gestalt 1981 als Studienpartitur bei der Universal Edition, nachdem bereits sieben Jahre zuvor der ebenfalls von Zillig eingerichtete Klavierauszug von dem von Schönbergs Erben gegründeten Belmont Verlag verlegt worden war. Ein ähnliches Schicksal erlitt auch Schönbergs einzige abendfüllende Oper Moses und Aron, von deren drittem und letztem Akt mit Ausnahme einiger weniger Skizzen nur der Text überliefert ist. Wie im Fall der Jakobsleiter verfasste Schönberg das Libretto zu dem ursprünglich als Kantate bzw. Oratorium mit dem Arbeitstitel Moses am brennenden Dornbusch konzipierten Werk selbst. Im Herbst 1928 begann Schönberg mit der Ausarbeitung des Textes, wobei die gedanklichen Vorarbeiten mindestens bis ins Frühjahr 1926, vermutlich noch wesentlich weiter zurückreichten. Die im Sommer 1930 in Angriff genommene Komposition machte nur langsame Fortschritte, da Schönberg das Werk von Anfang an als Reinschriftparticell ausarbeitete. Im Juli 1931 war der I. Akt, im März des folgenden Jahres der II. Akt vollendet. Unmittelbar darauf begann Schönberg mit der Revision des Textes zum III. Akt, den er bereits zuvor mehrfach überarbeitet hatte. Zu diesem Zeitpunkt hoffte er, die Komposition in wenigen Monaten abschließen zu können, was jedoch durch die erzwungene Emigration verhindert wurde. Obwohl Schönberg im amerikanischen Exil noch mehrere Anläufe zur Fertigstellung der Oper unternahm, ist es hierzu aus äußeren wie inneren Gründen nicht mehr gekommen. Der Verlag
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B. Schott’s Söhne brachte 1958 eine gedruckte Ausgabe des Particells der beiden vollendeten Akte heraus, nachdem bereits in Schönbergs Todesjahr im Ars Viva-Verlag von Hermann Scherchen der im Juli desselben Jahres in Darmstadt unter dessen Leitung uraufgeführte Tanz um das goldene Kalb aus dem II. Akt – ebenfalls in Particellform – erschienen war. Der von Winfried Zillig eingerichtete Klavierauszug der Oper wurde 1957 ebenfalls vom SchottVerlag publiziert. Die Sichtung des Nachlasses, die Schönbergs Schüler und späterer Assistent Josef Rufer im Auftrag der Berliner Akademie der Künste – der NachfolgeInstitution der Preußischen Akademie der Künste, an der Schönberg bis zu seiner erzwungenen Emigration im März 1933 eine Meisterklasse für Komposition geleitet hatte – im Jahre 1957 in Los Angeles unternahm und die die Grundlage seiner 1959 im Bärenreiter-Verlag erschienenen bibliographischen Darstellung Das Werk Arnold Schönbergs bildete, hatte ein gesteigertes Interesse an den zu Lebzeiten unveröffentlichten Kompositionen zur Folge. Rufer selbst gab 1963 für den Bärenreiter-Verlag eine Sammlung mit 30 Kanons heraus, die Schönberg zu verschiedenen Zeiten und aus unterschiedlichen Anlässen teils als Widmungskompositionen verfasst hatte. Bereits in den 1950er Jahren publizierte der Schott-Verlag die Bearbeitung des Kaiserwalzers von Johann Strauß, den der Komponist 1925 anlässlich einer Spanien-Tournee des Pierrot-Ensembles für dessen aus Flöte, Klarinette, Streichquartett und Klavier bestehende Besetzung arrangiert hatte. 1966 veröffentlichte der Londoner Verlag Faber Music mit dem Streichquartett D-Dur von 1897 das früheste ambitionierte Kammermusikwerk Schönbergs. Auch der langjährige Wiener Verlag des Komponisten, die Universal Edition, druckte mit dem während Schönbergs Militärzeit für einen Einjährigen-Kameradschaftsabend 1916 entstandenen Marsch Die eiserne Brigade für Streichquartett und Klavier (1974), dem frühen Lied Gruß in die Ferne (1976), dem fragmentarischen Stelldichein für zwei Bläser, zwei Streicher und Klavier (1980) und dem Notturno für Streicher und Harfe (2001) vier nachgelassene Kompositionen. Mit dem Ziel einer systematischen Verwertung des 1973 bis 1997 am Arnold Schoenberg Institute der University of Southern California, seit 1998 am Arnold Schönberg Center in Wien aufbewahrten Schönberg-Nachlasses wurde von den Erben des Komponisten der Verlag Belmont Publishers mit Sitz in Los Angeles gegründet, der seit den frühen 1960er Jahren eine ganze Reihe von bis dahin größtenteils unbekannten Kompositionen und Gelegenheitswerken veröffentlichte, die 1962 mit den unter dem Titel Three Pieces for Chamber Orchestra publizierten drei Stücken für Kammerensemble von 1910 ihren Anfang nahm. Zwischen 1969 und 1988 folgten die 1901 für Ernst von
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Wolzogens Berliner Kabarett-Theater Überbrettl komponierten Brettl-Lieder, die 1921 für heimisches Musizieren verfasste Weihnachtsmusik für Streichtrio, Harmonium und Klavier über die Weihnachtslieder „Es ist ein Reis entsprungen“ und „Stille Nacht“, die ebenfalls 1921 anlässlich des Walzerabends des Vereins für musikalische Privataufführungen entstandene Bearbeitung von Johann Strauß’ Rosen aus dem Süden, die zu unterschiedlichen Gelegenheiten arrangierten Bearbeitungen von Luigi Denzas Funiculì, Funiculà, Schuberts Ständchen und Johann Siolys Weil i a alter Drahrer bin, das Scherzo F-Dur für Streichquartett von 1897, die 1945 für Leopold Stokowski komponierte, jedoch unvollendet gebliebene, von Schönbergs früherem Assistenten Leonard Stein komplettierte Fanfare for a Bowl Concert on Motifs of „Die Gurrelieder“ sowie die ebenfalls für den Verein unternommene Bearbeitung von Mahlers Liedern eines fahrenden Gesellen für Kammerensemble. Außerdem publizierte Belmont in den 1970er Jahren neben Nachdrucken der Bearbeitung des Klavierquartetts in g-Moll von Johannes Brahms und der 1920 bei der Universal Edition erschienenen Gurre-Lieder-Partitur den von Winfried Zillig eingerichteten Klavierauszug der Jakobsleiter. Nach einer längeren Unterbrechung setzte der Verlag 2001 seine Publikationstätigkeit mit einem frühen Stück für Violine und Klavier fort. Seitdem erschienen das der Nichte Hansi Zemlinsky gewidmete Wiegenlied für Gesang und Klavier, die Fragment gebliebene Variationenreihe mit dem kryptischen Titel Gerpa von 1922, die ebenfalls nicht vollendeten frühen Walzer für Streichorchester, die anlässlich des Walzerabends des Vereins für musikalische Privataufführungen 1921 entstandene Bearbeitung des Lagunenwalzers von Johann Strauß für Streichquartett, Harmonium und Klavier von 1921 sowie das unvollendet hinterlassene Volksliedarrangement My Horses ain’t Hungry aus den 1930er Jahren.
III.
Die Gesamtausgabe
Die von Rufer unternommene Sichtung der musikalischen Quellen sollte vor allem dem Plan einer noch zu gründenden Ausgabe sämtlicher musikalischer Werke Schönbergs zugutekommen, der seit den späten 1950er Jahren von Gertrud Schönberg, der Witwe des Komponisten, der Berliner Akademie der Künste unter Federführung ihres Vizepräsidenten Boris Blacher und dem Bärenreiter-Verlag, bei dem auch die Neue Bach- und die Neue MozartGesamtausgabe erschienen, betrieben wurde. Mit einer zunächst auf zweieinhalb Jahre befristeten „Starthilfe“ der Stiftung Volkswagenwerk nahm die Schönberg-Gesamtausgabe unter der Herausgeberschaft Rufers im Dezember
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1965 ihre Tätigkeit am Sitz des Mainzer Verlags B. Schott’s Söhne auf, dem die Erben den Vorzug vor dem Bärenreiter-Verlag gegeben hatten.9 Die Anfänge gestalteten sich schwierig, da zunächst sämtliche Verlage, bei denen Schönbergs Kompositionen erschienen waren – in erster Linie die Universal Edition, mit der man sich auf eine gemeinsame Herausgeberschaft einigte –, für das Projekt gewonnen werden mussten. Vor allem aber waren die Herausgeber der ersten Bände zwar ausnahmslos mit Schönbergs Werk bestens vertraut – Rufer wirkte, bevor er Schönbergs Assistent an der Preußischen Akademie der Künste wurde, als Vortragsmeister im Verein für musikalische Privataufführungen, Eduard Steuermann hatte als „Hauspianist“ der Wiener Schule einen Großteil des Klavierwerks uraufgeführt und Richard Hoffmann war Schönbergs Assistent in der späten amerikanischen Zeit –, doch mit den wissenschaftlichen Methoden, die zu den Voraussetzungen einer historischkritischen Gesamtausgabe gehören, waren sie kaum vertraut. Da sich jedoch gerade das Werk Schönbergs in einer mit kaum einem anderen Komponisten vergleichbaren Fülle an unterschiedlichen Quellentypen, in einer Vielzahl eigenständiger Werkfassungen sowie in unzähligen Dokumenten und Aufzeichnungen manifestiert, die es im Rahmen einer kritischen Ausgabe zu berücksichtigen gilt, zwangen die sich aus der unzulänglichen Vorbereitung ergebenden Probleme bald zu einer „schrittweisen Revision der Zielvorstellungen und Arbeitstechniken“, die schließlich eine vollständige Neudisposition der Ausgabe zur Folge hatte.10 Es war von Anfang an das erklärte Ziel der Schönberg-Ausgabe, das kompositorische Schaffen des Komponisten in seiner ganzen Breite der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – ein Unternehmen, von dem Rudolf Stephan allein schon aufgrund der kaum überschaubaren Fülle des überlieferten Materials zu Recht bemerkte, dass „noch […] kaum je eine musikalische Gesamtausgabe sich eine solche Arbeit vorgenommen“ habe.11 In einem Verlagsprospekt von 1964 heißt es: „Die Schönberg-Gesamtausgabe wird alle veröffentlichten wie auch die bis jetzt unveröffentlichten Werke, Entwürfe und Skizzen enthalten.“12 Zum Gesamtwerk gehören jedoch auch die Frühfassungen und die Be____________ 9 10
11 12
Eine vollständige Übersicht über die Gesamtausgabe ist unter www.schoenberg-gesamtausgabe.de abrufbar. Vgl. Rudolf Stephan, Schönberg-Gesamtausgabe, in: Musikalisches Erbe und Gegenwart. Musiker-Gesamtausgaben in der Bundesrepublik Deutschland, im Auftrag der Stiftung Volkswagenwerk hrsg. von Hanspeter Bennwitz, Georg Feder, Ludwig Finscher und Wolfgang Rehm, Kassel 1975, S. 70. Rudolf Stephan, Über den gegenwärtigen Stand der Schönberg-Gesamtausgabe, in: Österreichische Musikzeitschrift 26 (1971), S. 308. Zitiert nach Rudolf Stephan, Zur Gesamtausgabe der musikalischen Werke Arnold Schönbergs, in: Festschrift für einen Verleger. Ludwig Strecker zum 90. Geburtstag, Mainz 1973, S. 82.
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arbeitungen eigener und fremder Kompositionen, soweit sie – im Gegensatz zu den ausschließlich zum Broterwerb gefertigten Klavierauszügen und Operetten-Instrumentationen der frühen Jahre – von Schönberg selbst zu den Werken gezählt wurden.13 Die Skizzen und Entwürfe sollten nach Auskunft des Prospektes überwiegend faksimiliert und zusammen mit dem Revisionsbericht dem jeweiligen Band der Gesamtausgabe beigebunden werden. Spätestens bei der Drucklegung des von Rufer vorbereiteten ersten Bandes mit den zu Lebzeiten des Komponisten publizierten Liedern, der 1966 ohne Skizzen und ohne den Revisionsbericht erschien, stellte sich jedoch die Unhaltbarkeit dieses Plans heraus. So ist bereits im Vorwort zur Gesamtausgabe, das in den beiden zuerst erschienenen Bänden abgedruckt ist, „auf Grund des reichhaltigen Materials“ von einer Zweiteilung der Ausgabe die Rede, der zufolge Reihe A „den Notentext in der aus Original- und Erstdrucken sowie aus den anderen Quellen abgeleiteten Fassung“ enthält, während Reihe B für „den getrennt erscheinenden Komplementband mit eventuellen Frühfassungen und Skizzen, sowie gegebenenfalls unvollendete Werke und anschließend den Revisionsbericht“ vorbehalten ist. Außerdem sollten „alle Bände der Reihe A, gegebenenfalls auch die der Reihe B, […] in kommentarähnlicher Zusammenfassung etwa vorhandene schriftliche oder mündlich überlieferte Äußerungen Schönbergs zu den betreffenden Werken; ferner Daten und Hinweise, die ihre Entstehung, besondere Entwicklungsmerkmale oder Zusammenhänge innerhalb des Gesamtwerks betreffen“, beinhalten.14 Die aus der Not geborene Teilung der Gesamtausgabe in zwei Reihen erwies sich jedoch als Glücksgriff, da sie sowohl die bequemere Handhabbarkeit des Revisionsberichts als auch die bessere Vergleichbarkeit unterschiedlicher Fassungen ein und desselben Werks gewährleistet. Sie wurde daher bei der fälligen Neudisposition der Ausgabe, mit der die beiden Musikwissenschaftler Rudolf Stephan und Carl Dahlhaus u. a. aufgrund ihrer Besprechungen des ersten Gesamtausgabenbandes betraut worden waren,15 beibehalten. Gemäß der Neukonzeption sind die Bände der Reihe A im Folioformat ausschließlich ____________ 13
14
15
Vor allem durch die Einbeziehung der Bearbeitungen fremder Werke werden zwei für Schönbergs Schaffen charakteristische Aspekte erschlossen, die für Wissenschaft und Praxis gleichermaßen von Bedeutung sind: der schöpferische Umgang mit dem musikalischen Erbe und die mustergültige Interpretation von zeitgenössischen Werken und von solchen der jüngeren Vergangenheit, wie sie der 1918 von Schönberg in Wien gegründete Verein für musikalische Privataufführungen anstrebte. Arnold Schönberg. Sämtliche Werke, Reihe A, Bd. 1: Lieder mit Klavierbegleitung I, hrsg. von Josef Rufer, Mainz und Wien 1966, S. IX; Reihe A, Bd. 4: Werke für Klavier zu zwei Händen, hrsg. von Eduard Steuermann und Reinhold Brinkmann, Mainz und Wien 1968, S. VII. Die Besprechung von Carl Dahlhaus unter dem Titel: Die Schönberg-Gesamtausgabe beginnt, in: Melos 34 (1967), S. 116–118, die von Rudolf Stephan in: Neue Zeitschrift für Musik 128 (1967), S. 83f.
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den vollendeten sowie den unvollendeten, jedoch aufführbaren Werken einschließlich der Bearbeitungen vorbehalten, während die der Reihe B im Quartformat den Kritischen Bericht – bestehend aus Quellenbeschreibungen, Lesarten und Textkritischen Anmerkungen –, die Skizzen einschließlich ihrer Kommentierung, die wichtigsten Dokumente zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte sowie Hinweise zum Verständnis der im A-Band vorgelegten Werke enthalten. Außerdem werden in den Bänden der Reihe B nicht-aufführbare Fragmente sowie Frühfassungen und von Schönberg selbst stammende Klavierauszüge publiziert. Eine großzügige Faksimilierung wichtiger Quellen dient dem Zweck, deren Eigentümlichkeiten oder auch spezielle Probleme der Edition zu veranschaulichen bzw. auf die umständliche Beschreibung komplizierter Sachverhalte verzichten zu können. Nicht nur hinsichtlich der Anlage, sondern auch in Bezug auf die Editionstechnik zog die Neukonzeption die gebotenen Konsequenzen aus der Zweiteilung der Ausgabe, insofern nämlich die Bände der Reihe A „grundsätzlich die Ergebnisse der kritischen Revision vorführen, nicht diese selbst“.16 Dies bedeutete vor allem, dass bei der Edition der Werke auf die von Rufer im Liederband verwendete graphische Differenzierung von Herausgeberzusätzen etwa durch Fußnoten, Kleinstich, Strichelung, eckige Klammern und Kursivierung verzichtet wurde. Für die musikalische Praxis hat dies den entscheidenden Vorteil, dass das ohnehin aufgrund der zahlreichen artikulatorischen, dynamischen, spieltechnischen und agogischen Zeichen überaus komplexe Notenbild der Schönberg’schen Partituren nicht durch eine zusätzliche Schicht überfrachtet wird. Nachdem unter der neuen Ägide drei weitere Bände der Schönberg-Gesamtausgabe vorbereitet worden waren, die innerhalb der nächsten Jahre erschienen – der von Steuermann noch kurz vor seinem Tod 1964 in Angriff genommene, schließlich von Reinhold Brinkmann fertiggestellte Band 4 mit den Werken für Klavier zu zwei Händen (1968), der auf Drängen des Verlages von Richard Hoffmann zum Druck vorbereitete Band 7 mit der Oper Von heute auf morgen (1970) und der von Rudolf Stephan herausgegebene Band 26 mit der Bearbeitung von Brahms’ 1. Klavierquartett op. 25 für Orchester (1972) –, wurden als wichtigste Konsequenz der Neuordnung der Ausgabe im April 1969 die Editionsarbeiten nach Berlin verlegt, wo eine eigene Forschungsstelle mit entsprechend qualifizierten Mitarbeitern unter der Leitung von Rudolf Stephan die Arbeit mit der systematischen Erfassung der handschriftlichen ____________ 16
Stephan, Zur Gesamtausgabe der musikalischen Werke Arnold Schönbergs (wie Anm. 12), S. 85.
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Quellen und der Originaldrucke sowie der Konzeption und Erarbeitung der einzelnen Bände aufnahm. Die sich im Zuge der Neudisposition der Gesamtausgabe herausbildenden Editionsprinzipien mussten sowohl dem auf den Methoden der Textphilologie beruhenden wissenschaftlichen Anspruch der im 19. Jahrhundert begründeten Denkmäler-Ausgaben als auch den spezifischen Besonderheiten des Schönberg’schen Œuvres Rechnung tragen. Da sie an keine unmittelbaren Vorbilder anknüpfen konnten – die historischen Voraussetzungen der großen, in den 1950er Jahren in Angriff genommenen Gesamtausgaben der Werke Bachs und Mozarts waren eben ganz andere als im Falle Schönbergs –, war die Erprobung und Formulierung dieser editorischen Grundsätze Teil eines langwierigeren Prozesses. Die Heterogenität des Gesamtwerks hatte zur Folge, dass die Editionsprinzipien der Schönberg-Gesamtausgabe zunächst mit jedem Band neu zur Disposition standen. Auf dieses Problem hatte Hans Oesch bereits 1970 in einem Diskussionsbeitrag auf dem internationalen musikwissenschaftlichen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung in Bonn hingewiesen, in dem er betonte, dass „einheitliche Editionsrichtlinien bei dieser Ausgabe nicht möglich“ seien und dass jedes Werk „gleichsam eine spezifische, werkadäquate Editionspraxis“ erfordere.17 Dennoch gelang es im Lauf der Arbeit, Kriterien zu entwickeln, die einerseits flexibel genug waren, um auf die unterschiedlichen Werke angewendet werden zu können, und die andererseits genügend verbindlich waren, um der Schönberg-Gesamtausgabe ein einheitliches Profil zu verleihen. Diese Editionsprinzipien wurden erstmals in dem 1984 erschienenen Kritischen Bericht zu den beiden letzten Streichquartetten op. 30 und 37 und zum Streichtrio op. 45 umfassend dokumentiert,18 nachdem die grundlegenden Prinzipien der Textgestaltung wie auch der Skizzenedition nach mehr oder weniger rudimentären Vorformen in früheren Bänden19 bereits fünf Jahre zuvor im Kritischen Bericht zu den Kammersymphonien von 1979 kodifiziert
____________ 17
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Vgl. Oeschs Diskussionsbeitrag zu Rudolf Stephans Vortrag Zur Gesamtausgabe der musikalischen Werke Arnold Schönbergs, in: Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongreß Bonn 1970. Kassel 1973, S. 294. Arnold Schönberg. Sämtliche Werke, Reihe B, Bd. 21: Streichquartette II; Streichtrio. Kritischer Bericht, Skizzen, Fragmente, hrsg. von Christian Martin Schmidt, Mainz und Wien 1984, S. VIIIff. Arnold Schönberg. Sämtliche Werke, Reihe B, Bd. 5: Werke für Orgel; Werke für zwei Klaviere zu vier Händen; Werke für Klavier zu vier Händen. Kritischer Bericht, Skizzen, Fragmente, hrsg. von Christian Martin Schmidt, Mainz und Wien 1973, S. 21; Reihe B, Bd. 4: Werke für Klavier zu zwei Händen. Kritischer Bericht, Skizzen, Fragmente, hrsg. von Reinhold Brinkmann, Mainz und Wien 1975, S. XIIf.; Reihe B, Bd. 19: Chorwerke II. Kritischer Bericht, Skizzen, Fragment, hrsg. von Christian Martin Schmidt, Mainz und Wien 1977, S. [VII].
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worden waren.20 Diese in späteren Bänden unter der Überschrift „Hinweise zu den Bänden der Reihe B“ zusammengefasste „Gebrauchsanweisung“ wurde mit dem Fortgang der Ausgabe um einen der Methode der Textkritik gewidmeten Abschnitt erweitert21 und – wie auch die Editionsprinzipien im Allgemeinen – geringfügig modifiziert. Die Editionsprinzipien der Schönberg-Gesamtausgabe gehen gemäß der Zielsetzung, das kompositorische Schaffen Schönbergs in seiner ganzen Breite der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und dabei sowohl der Wissenschaft als auch der musikalischen Praxis zu dienen, von einer Differenzierung der wichtigsten für diesen Komponisten charakteristischen Quellentypen sowie von ihrer Stellung innerhalb des Kompositionsprozesses aus. Über die Art ihrer Darbietung innerhalb der Ausgabe entscheidet das Kriterium der Aufführbarkeit. Dementsprechend wird zwischen drei prinzipiellen Editionsformen unterschieden: der Werkedition, der Inhaltsedition und der Quellenedition. Die vollendeten und von Schönberg als vollgültig anerkannten Kompositionen erscheinen als Werkedition innerhalb der Reihe A, wobei der Notentext das Resultat einer kritischen Sichtung sämtlicher authentischer Quellen ist. Für diese Werke liegen in der Regel sämtliche Quellentypen vor – von den präkonzeptionellen Reihentabellen bzw. den selbstgefertigten Hilfsmitteln, den sogenannten „Reihenapparaten“ der Zwölftonwerke, über die Skizzen und Entwürfe, die erste Niederschrift und die Reinschrift, die ihrerseits meist als Herstellungsvorlage für den Originaldruck diente und teilweise aufgrund fotomechanischer Druckverfahren mit diesem inhaltlich identisch ist, bis hin zu den Druckausgaben mit den zugehörigen Fehlerlisten und Handexemplaren, in die Schönberg eventuelle spätere Revisionen eintrug. Über die Abweichungen des vorgelegten Notentextes gegenüber der vom Herausgeber als solche bestimmten Hauptquelle geben die Textkritischen Anmerkungen innerhalb des Kritischen Berichts im zugehörigen Band der Reihe B Aufschluss. Im Sinne eines einheitlichen Erscheinungsbildes werden zudem die zu verschiedenen Zeiten höchst unterschiedlichen Notationsgepflogenheiten Schönbergs an den Stand von etwa 1930 angeglichen, da er seine Notationsweise um diese Zeit herum im wesentlichen systematisiert hatte. Aufgrund der großen Bedeutung, die unvollendet hinterlassene Werke wie etwa Moses und Aron oder Die Jakobsleiter innerhalb des Gesamtwerks des Komponisten einnehmen, werden auch die aufführbaren Fragmente unter die Werke gerechnet und dementsprechend als ____________ 20 21
Arnold Schönberg. Sämtliche Werke, Reihe B, Bd. 11, 2: Kammersymphonien. Kritischer Bericht, Skizzen, Fragmente, hrsg. von Christian Martin Schmidt, Mainz und Wien 1979, S. X. Arnold Schönberg. Sämtliche Werke, Reihe B, Bd. 18, 1: Chorwerke I. Kritischer Bericht, Skizzen, hrsg. von Tadeusz Okuljar und Martina Sichardt, Mainz und Wien 1991, S. XVII.
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Abb. 2a: Entwurf eines Streichsextetts g-Moll (1899). Arnold Schönberg Center, Privatstiftung, Wien. Nachlass Arnold Schönberg, Archivnummer 984.
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Abb. 2b: Entwurf eines Streichsextetts g-Moll (1899). Arnold Schönberg. Sämtliche Werke, Reihe B, Bd. 22: Kammermusik I, hrsg. von Dorothee Schubel, Mainz und Wien 2000, S. 323f.
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Werkedition innerhalb der Reihe A herausgegeben. Hierbei handelt es sich vor allem um solche Fragmente, die in einer definitiven, sämtliche Aspekte des Tonsatzes ausgestaltenden, reinschriftartigen Niederschrift vorliegen und die vom Standpunkt des Kompositionsprozesses aus betrachtet dieselben handschriftlichen Quellentypen wie die vollendeten Werke bis zur Drucklegung aufweisen. „Fragmentarisch“ sind diese unvollendeten Werke also nur in Hinblick auf die ursprünglich geplante Gesamtkonzeption, nicht aber in Hinblick auf die Ausarbeitung des Vorhandenen. In diesem letztgenannten Punkt unterscheiden sie sich von einer weiteren Gruppe von Fragmenten, deren Quellenmaterial vom Standpunkt des Kompositionsprozesses aus betrachtet insofern unvollständig ist, als sich die handschriftlichen Quellen auf die ersten drei Typen – präkonzeptionelle Hilfsmittel, Skizzen und Entwürfe, Niederschrift – beschränken, während die reinschriftartige Niederschrift als definitive Fixierung der kompositorischen Intentionen in Hinblick auf die aufführungsrelevanten Parameter wie Agogik, Dynamik und Artikulation fehlt. Für derartige Fragmente hat sich innerhalb der Gesamtausgabe die Editionsform der Inhaltsedition herausgebildet, die sich eng an den in der Niederschrift festgelegten Notentext hält, dabei jedoch offenkundige Fehler im diastematischen Bereich korrigiert und wo möglich die Lesbarkeit durch Angleichung an die allgemein gültigen Stichregeln erleichtert. Als Inhaltsedition innerhalb der Bände der Reihe B werden auch die nicht-fragmentarischen Frühfassungen von Werken vorgelegt, wenn die Abweichungen von der „Fassung letzter Hand“ derart gravierend sind, dass von einer selbständigen Version eines Stückes gesprochen werden kann und nicht von einer bloßen Vor- oder Zwischenstufe, die zwar von entstehungsgeschichtlichem Interesse ist, aber nicht den Rang einer eigenständigen Fassung beanspruchen kann. In Ausnahmefällen können derartige Frühfassungen auch bis ins Reinschriftstadium gediehen und in dieser Gestalt publiziert worden sein, so dass allein die Tatsache, dass Schönberg sie später noch einmal überarbeitete, sie von den „Werken“ im eigentlichen Sinn unterscheidet. In diesen Fällen verfährt die Gesamtausgabe pragmatisch, indem sie aufgrund äußerer Faktoren wie etwa des benötigten Formats oder des vorhandenen Platzes entscheidet, in welcher der beiden Reihen eine solche Frühfassung erscheint. Darüber hinaus gibt es in Schönbergs Œuvre jedoch auch zahlreiche Fragmente, die entweder nur in Gestalt von Entwürfen vorliegen oder deren Niederschrift so kurz bzw. lückenhaft ist, dass sich die intendierte Werkkonzeption aus ihnen nicht oder nur unzureichend erschließen lässt. Diese Fragmente erscheinen im Rahmen der Gesamtausgabe als Quellenedition. Bei der Quellenedition handelt es sich um eine Editionsform, die den Notentext der Quelle
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so weit wie möglich beibehält. Die Vereinheitlichung beschränkt sich auf die Verwendung normierter Notenzeichen und auf die Anpassung an den Satzspiegel der B-Bände. Dies bedeutet, dass der Abdruck diplomatisch, jedoch nicht zeilengetreu ist, wobei die ursprüngliche Akkoladenaufteilung entsprechend gekennzeichnet ist. Die in eckige Klammern gesetzten Herausgeberzusätze beschränken sich im Wesentlichen auf die Ergänzung von Taktzahlen und Notenschlüsseln, wo diese fehlen. Kleinstichnotation dient in der Regel zur Unterscheidung früherer Schreibschichten. Über sämtliche darüber hinausgehende Differenzierungen gibt – soweit sie im Notensatz nicht darstellbar sind – der jeweils unter den Abdruck der Quelle gesetzte kritische Apparat Aufschluss (vgl. Abb. 2a/b, oben S. 656f.). Dieselbe Editionsform kommt auch bei den Skizzen und Entwürfen zu einer Komposition zur Anwendung. Da es ein wichtiges Anliegen der SchönbergGesamtausgabe ist, das zu einem Werk gehörende Material vollständig wiederzugeben, fallen hierunter nicht nur die musikalischen Skizzen im eigentlichen Sinn, sondern beispielsweise auch Arbeitsmaterialien bzw. Hilfsmittel wie Reihentabellen und -apparate, die faksimiliert und in ihrer Funktionsweise beschrieben werden, oder auch verbale Notizen und Taktzahlberechnungen. Darüber hinaus werden unter Skizzen im weitesten Sinne auch die innerhalb der Ersten Niederschrift gestrichenen, überklebten oder durch spätere Zusätze überarbeiteten Passagen verstanden, die ebenfalls bei den Entwürfen abgedruckt sind. Der Abdruck selbst folgt dabei nicht der Anordnung der Skizzen in den Quellen, sondern ordnet sie unter chronologischen bzw. inhaltlichen Gesichtspunkten dem Verlauf der jeweiligen Komposition zu. Da Schönberg für die Niederschrift der Entwürfe entsprechend ihrer Vielgestaltigkeit unterschiedliche Quellenformen wie teils selbstgefertigte Skizzenbücher, lose Skizzenblätter und -bögen oder beispielsweise auch gedruckte Textvorlagen nutzte, wurde ein aus Quellensigel sowie vertikaler System- und horizontaler Abschnittzählung bestehendes System entwickelt, das den jeweiligen Fundort einer Skizze unmissverständlich und eindeutig bezeichnet, damit der jeweilige Quellenzusammenhang rekonstruierbar bleibt (vgl. Abb. 3a/b, unten S. 660f.). Eine noch ausstehende vollständige und zusammenhängende kommentierte Edition der Skizzenbücher in Gestalt einer Gegenüberstellung von Faksimile und Übertragung wird auch dem werkgenetischen Aspekt dieses Quellentyps Rechnung tragen. Demselben Zweck dient auch das Verzeichnis der jeweils verwendeten Papiersorten, das den neueren Bänden der Gesamtausgabe beigegeben ist,22 da ____________ 22
Vgl. Arnold Schönberg. Sämtliche Werke, Reihe B, Bd. 16, 1: Gurre-Lieder. Kritischer Bericht, hrsg. von Ulrich Krämer, Mainz und Wien 2006, S. XXIVff.
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Abb. 3a: Skizzen zu Gurre-Lieder. Arnold Schönberg Center, Privatstiftung, Wien. Nachlass Arnold Schönberg, Archiv-Nr. 2342.
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Abb. 3b: Skizze zu Gurre-Liedern. Arnold Schönberg. Sämtliche Werke, Reihe B, Bd. 16, 2: Gurre-Lieder: Skizzen. Frühfassungen, hrsg. von Ulrich Krämer, Mainz und Wien 2005, S. 77, 80 und 123.
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sich spätestens seit den von Christian Martin Schmidt innerhalb der Reihe B herausgegebenen Liederbänden gezeigt hat, wie wichtig eine ganz genaue Bestimmung nicht nur der einzelnen Sorten, sondern darüber hinaus auch der unterschiedlichen Auflagen einer Sorte – ablesbar an der Positionierung und den typographischen Unterschieden des jeweiligen Firmenzeichens, dem auf diese Weise eine ähnliche Bedeutung wie dem Wasserzeichen früherer Papiere zukommt – für werkgenetische Untersuchungen ist.23 Aufgrund der hier skizzierten, den Maßstäben der modernen Editionsphilologie verpflichteten Methoden ist die Schönberg-Gesamtausgabe die einzige Ausgabe der Werke dieses Komponisten, die sich mit Recht eine wissenschaftliche nennen kann. Allein schon aufgrund der Sorgfalt, die auf die Vorbereitung des Notentextes zur Drucklegung verwendet wird, ist sie den viel stärker ökonomischen Zwängen unterworfenen Ausgaben der Originalverlage überlegen. Die Voraussetzung für den besten verfügbaren Notentext einer Komposition ist die Einbeziehung sämtlicher authentischer Quellen und sonstiger Dokumente von den Skizzen über die Ersten Niederschriften bis hin zu den Handexemplaren, eventuellen Fehlerlisten und Briefzeugnissen – eine Arbeit, die von Verlagen und deren Mitarbeitern nicht in dem nötigen Maß geleistet werden kann. Hinzu kommt, dass im Falle Schönbergs zahlreiche Werke – insbesondere solche aus der amerikanischen Spätzeit – nur als Lichtpauskopien der Originalhandschrift erschienen, bei denen „das Fehlen einer verlegerischen Kritik manche notationstechnischen Probleme als unbeantwortete Fragen bestehen lassen“ hat.24 Auch hat Schönberg seine späten Orchesterwerke aus Zeitersparnis nicht mehr in Partitur notiert, sondern – in Anlehnung an die „vereinfachte Dirigier- und Studierpartitur“ seiner Orchesterlieder op. 22 – als Reinschriftparticell ausgearbeitet, das dann entweder – wie im Fall der späten Orchesterfassung der Kammersymphonie op. 9B oder der Bearbeitung von Brahms’ 1. Klavierquartett – in dieser Gestalt als Lichtpauskopie veröffentlicht wurde, oder – wie im Fall des Violinkonzerts op. 36, von A Survivor from Warsaw op. 46 oder des Prelude op. 44 – als Vorlage einer von fremder Hand erstellten Reinschriftpartitur diente, die dann als Stichvorlage für den Originaldruck herangezogen wurde.25 Dass beide Publikationsformen problematisch sind, ist offensichtlich, denn einerseits ist für die Aufführung eines Schönberg’schen Orchesterwerks eine hinsichtlich der Dynamik, Agogik und Artikulation genauestens ausgezeichnete Partitur unverzichtbar, und andererseits ____________ 23
24 25
Vgl. Arnold Schönberg. Sämtliche Werke, Reihe B, Bd. 1/2, 1: Lieder mit Klavierbegleitung. Kritischer Bericht, Fassungen, Skizzen, Fragmente, hrsg. von Christian Martin Schmidt, Mainz und Wien 1989, S. 13ff. Stephan, Schönberg-Gesamtausgabe (wie Anm. 10), S. 73. Vgl. Krämer, Partitur versus Particell (wie Anm. 3).
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kann eine von einer anderen Person als dem Autor hergestellte Partitur – selbst, wenn es sich bei deren Einrichter wie im Fall des Survivor um einen Musiker vom Rang René Leibowitz’ handelt – keinen Anspruch auf Authentizität beanspruchen und fällt daher als Grundlage einer kritischen Edition aus. Für die Schönberg-Gesamtausgabe dienten in diesen Fällen selbstverständlich das Particell selbst bzw. das mit Annotationen versehene Handexemplar der Lichtpauskopie des Particells als Hauptquellen. Bei den Orchesterliedern op. 22 wie auch der Oper Moses und Aron ist der im Rahmen der Gesamtausgabe erschienene Notentext zugleich die erste Partiturausgabe dieser Werke. Problematisch war auch die Neuausgabe der übergroßen Gurre-LiederPartitur, die 1912 als Faksimile des Autographs erschienen war, bevor sie 1920 gestochen wurde. Zwar bietet die Ausgabe von 1920 aufgrund der zahlreichen zwischenzeitlich vorgenommenen Retuschen die „Fassung letzter Hand“, doch enthält sie wegen der von Schönberg selbst geforderten Beschränkung auf 42 Systeme je Seite zahlreiche Unklarheiten etwa hinsichtlich der Phrasierung oder der Streicherteilungen, die nur durch die aufwendige Einbeziehung des auf 48-zeiligem Notenpapier geschriebenen Partiturautographs beseitigt werden konnten. Selbstverständlich hat die Schönberg-Gesamtausgabe wesentlich zur Erschließung des Quellenmaterials im Schönberg-Nachlass wie auch in einer Vielzahl von Bibliotheken, Verlagsarchiven und privaten Sammlungen beigetragen. Viele Stücke wurden überhaupt erst durch ihre Veröffentlichung im Rahmen der Gesamtausgabe zugänglich. Hierzu zählen u. a. die instrumentalen Frühwerke, die Schönbergs Cousin Hans Nachod vor ihrer Vernichtung durch den Komponisten bewahrt hat, der Großteil der Jugendlieder nebst den zahlreichen Liedfragmenten, die Frühfassungen der veröffentlichten Lieder, die fragmentarisch hinterlassene Serenade für kleines Orchester sowie die ebenfalls unvollendete symphonische Dichtung Frühlings Tod, die Gavotte und Musette (im alten Style) für Streichorchester, die Klavierfassungen des ersten und zweiten Teils der Gurre-Lieder, die eigenhändigen Klavierauszüge der 1. Kammersymphonie op. 9 und des Monodrams Erwartung op. 17, die Bearbeitung der Fünf Orchesterstücke op. 16 für Kammerensemble, die frühe Orchesterbearbeitung der 1. und die fragmentarische Frühfassung der 2. Kammersymphonie op. 38 – um nur die wichtigsten zu nennen. Daneben macht die Gesamtausgabe Fragmente von geplanten Werken sämtlicher Gattungen zugänglich, die Schönberg in seinem langen Leben gepflegt hat und deren Aufzählung den Rahmen dieser Darstellung sprengen würde. Erwähnung verdient jedoch in diesem Zusammenhang die Edition des Jakobsleiter-Particells, mit dem die Gesamtausgabe insofern editorisches Neuland beschreitet, als die Kriterien für
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Ulrich Krämer
die kritische Ausgabe eines Particells überhaupt erst erarbeitet werden mussten. Die grundsätzliche Notwendigkeit hierzu ergab sich daraus, dass nur das Particell in Verbindung mit dem reichhaltigen Skizzenmaterial die im Lauf der Zeit gewandelte Konzeption dieses unvollendet hinterlassenen Hauptwerks in ihrer ganzen Komplexität erkennen lässt. Ein entscheidender Beitrag der Gesamtausgabe nicht nur zur SchönbergForschung, sondern zum Editionswesen insgesamt liegt in der exemplarischen Erschließung des Skizzenmaterials zu den einzelnen Werken. Das Studium der in den B-Bänden im jeweiligen Werkkontext abgedruckten und kommentierten Skizzen hat dazu geführt, dass Schönbergs Kompositionstechnik im Besonderen wie auch der Kompositionsvorgang im Allgemeinen heute in einem anderen Licht erscheinen als noch zu Beginn der Ausgabe vor nunmehr 50 Jahren. Die Skizzen verdeutlichen nicht nur, wie mühevoll und voller Umwege das Ringen um die allmähliche Herausbildung der Zwölftonmethode und der mit ihr verbundenen Gesetzmäßigkeiten wie etwa dem Prinzip der „Combinatoriality“ war, sondern sie zeigen auch, wie sehr Schönberg bei der Komposition auf seine Intuition vertraute, und relativieren auf diese Weise das weit verbreitete Bild des rationalen, ausschließlich kopfgesteuerten Komponisten.26 Vor allem aber werden durch das Studium der Skizzen die Denkprozesse jener Komponistenpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts nachvollziehbar, die wie wohl keiner seiner Zeitgenossen das Denken in und über Musik geprägt hat und die auf diese Weise – um ein Diktum Carl Dahlhaus’ aufzugreifen – zum „Präzeptor einer ganzen Epoche“ geworden ist.27
Gesamtausgabe Arnold Schönberg. Sämtliche Werke, Mainz und Wien 1966ff. – Der erste Band, Lieder mit Klavierbegleitung, hrsg. von Josef Rufer, erschien 1966 unter dem Titel Sämtliche Werke, hrsg. von Josef Rufer in Zusammenarbeit mit Richard Hoffmann, Rudolf Kolisch, Leonard Stein und Eduard Stein unter dem Patronat der Akademie der Künste, der (bisher) letzte Band der Reihe B, Kammermusik II, Teil 1: Serenade op. 24. Kritischer Bericht, Skizzen, Frühfassung des V. Satzes, Entstehungs- und Werkgeschichte, Dokumente, hrsg. von Ulrich Krämer 2014 unter dem Titel Sämtliche Werke, unter dem Patronat der Akademie der Künste, Berlin, begründet von Josef Rufer, hrsg. von Rudolf Stephan unter Mitarbeit von Reinhold Brinkmann (†), Richard Hoffmann, Leonard Stein (†) und Ivan Vojtĕch. Die Vorworte zu den einzelnen Bänden sind auf der Homepage der Gesamtausgabe (www.schoenberg-gesamtausgabe.de) abrufbar.
____________ 26 27
Vgl. hierzu auch Ulrich Krämer, Aus Schönbergs Werkstatt: Die Skizze als Versuchslabor musikalischen Denkens, in: Die Tonkunst 9 (2015), Heft 2, S. 150–160. Carl Dahlhaus, Schönberg als Lehrer, in: Österreichische Musikzeitschrift 39 (1984), S. 282.
Die Editionen der Werke Arnold Schönbergs
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Literaturverzeichnis Dahlhaus, Carl: Die Schönberg-Gesamtausgabe beginnt, in: Melos 34 (1967), S. 116–118 Dahlhaus, Carl: Schönberg als Lehrer, in: Österreichische Musikzeitschrift 39 (1984), S. 282 – Der Aufsatz ist in den beim Laaber-Verlag erschienenen Gesammelten Schriften nicht enthalten. Klingende Denkmäler: Musikwissenschaftliche Gesamtausgaben in Deutschland, im Auftrag der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, vertreten durch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz hrsg. von Klaus Döge, Ulrich Krämer und Salome Reiser für die Fachgruppe Freie Forschungsinstitute, Kassel 2007 Krämer, Ulrich: Partitur versus Particell. Probleme der handschriftlichen Überlieferung bei Arnold Schönberg, in: Das Autograph – Fluch und Segen. Probleme und Chancen für die musikwissenschaftliche Edition. Bericht über die Tagung der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute 19.– 21. April 2013, hrsg. im Auftrag der Fachgruppe von Ulrich Krämer, Armin Raab, Ullrich Scheideler und Michael Struck (= Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung 2014), Mainz [u. a.] (erscheint 2015) Krämer, Ulrich: Aus Schönbergs Werkstatt: Die Skizze als Versuchslabor musikalischen Denkens, in: Die Tonkunst 9 (2015), Heft 2, S. 150–160 Rufer, Josef: Das Werk Arnold Schönbergs. Mit 10 Bildern und 25 Handschriften-Faksimiles, Kassel 1959 Stephan, Rudolf: (Rezension von Schönberg, Sämtliche Werke, Reihe A, Bd. 1), in: Neue Zeitschrift für Musik 128 (1967), S. 83f. Stephan, Rudolf: Schönberg-Gesamtausgabe, in: Musikalisches Erbe und Gegenwart. Musiker-Gesamtausgaben in der Bundesrepublik Deutschland. Im Auftrag der Stiftung Volkswagenwerk hrsg. von Hanspeter Bennwitz, Georg Feder, Ludwig Finscher und Wolfgang Rehm, Kassel 1975, S. 70–78 Stephan, Rudolf: Über den gegenwärtigen Stand der Schönberg-Gesamtausgabe, in: Österreichische Musikzeitschrift 26 (1971), S. 308–313 Stephan, Rudolf: Zur Gesamtausgabe der musikalischen Werke Arnold Schönbergs, in: Festschrift für einen Verleger. Ludwig Strecker zum 90. Geburtstag, Mainz 1973, S. 82–88 Stephan, Rudolf: Zur Gesamtausgabe der musikalischen Werke Arnold Schönbergs, in: Bericht über den internationalen musikwissenschaftlichen Kongreß Bonn 1970, hrsg. von Carl Dahlhaus, Hans Joachim Marx, Magda Marx-Weber und Günther Massenkeil, Kassel 1971, S. 279– 283; Diskussionsbeiträge u. a. von Hans Oesch auf S. 293–296 Stephan, Rudolf: Die Gesamtausgabe, in: Österreichische Musikzeitschrift 53 (1998), Heft 3–4, S. 13f. Die Rezensionen des ersten, von Josef Rufer herausgegebenen Gesamtausgabenbandes von Carl Dahlhaus und Rudolf Stephan sind zusammen mit weiteren Texten zur Gesamtausgabe auf deren Homepage (www.schoenberg-gesamtausgabe.de) abrufbar.
Luitgard Schader
Die Editionen von Paul Hindemiths Werken
Wie die meisten Komponisten des 20. Jahrhunderts war auch Paul Hindemith an der Herausgabe seiner Werke maßgebend beteiligt. Schon im Alter von 23 Jahren unterzeichnete er 1919 seinen ersten Publikationsvertrag mit dem Verlag B. Schott’s Söhne in Mainz und legte damit den Grundstein für eine lebenslange Zusammenarbeit mit dem Hause Schott, die nach Hindemiths Tod auch von der Fondation Hindemith fortgesetzt wurde. Zuvor waren lediglich seine Drei Stücke für Violoncello und Klavier op. 8 bei Breitkopf & Härtel veröffentlicht worden. In späteren Jahren erschienen einige kleinere Arbeiten von ihm im Rahmen größerer Editionen bei anderen Verlagen, beispielsweise 1931 im Volksliederbuch für die Jugend (Peters, Leipzig) oder in amerikanischen Schulliederbüchern (Silver, Burdett & Company, New York), wozu Hindemith jeweils ausdrücklich von seinem Exklusivvertrag mit Schott befreit worden war. Obwohl demnach die Publikationsgeschichte der Kompositionen von Paul Hindemith von einer außergewöhnlichen Kontinuität geprägt zu sein scheint, wird durch die Veröffentlichung der historisch-kritischen HindemithGesamtausgabe die Rezeption seines Œuvres in neue Bahnen gelenkt. Denn trotz dieser vier Jahrzehnte währenden Zusammenarbeit mit nur einem Verlag und dessen Auslandsvertretungen wandelte sich der Grad von Hindemiths Einflussnahme auf die Drucklegung seiner Werke mehrfach – teils bedingt durch die fehlende Erfahrung des jungen Komponisten im Korrekturlesen, teils jedoch auch veranlasst durch politische Einflüsse wie Hindemiths Flucht vor dem Nazi-Regime. In Einzelfällen wurden seine Vorgaben bei der Drucklegung nicht exakt umgesetzt. Darüber hinaus kamen seit Mitte der 1950er Jahre viele Neuausgaben seiner Werke mit Änderungen des Notentexts auf den Markt. In vielen dieser Ausgaben, selbst in postumen, wurden dabei stillschweigend Korrekturen umgesetzt, die der Komponist selbst dem Verlag mitgeteilt hatte, in anderen aber gehen diese Änderungen auf Lektoren oder sogar außenstehende Dritte zurück. Hinweise auf die Auflage des Werks oder den etwaigen Bearbeiter des Notentextes finden sich in den praktischen Ausgaben jedoch nicht.
Die Editionen von Paul Hindemiths Werken
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Die enge Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und seinem Verleger gilt allerdings nur für einen begrenzten Teil des Œuvres. Denn obgleich Hindemith selbst während der Jahre seines Exils über außerordentlich gute Publikationsmöglichkeiten verfügte, ließ er aus unterschiedlichen Gründen nur ungefähr 60 % seiner Kompositionen veröffentlichen. Ganze Werkkomplexe waren bis in die 1990er Jahre hinein der Öffentlichkeit unbekannt geblieben. Die ersten postumen Editionen erfolgten noch in Absprache mit der Witwe Gertrud Hindemith, später gab die Fondation Hindemith nahezu alle noch unveröffentlichten Werke in den Druck. Doch zur stichhaltigen Bewertung all dieser Ausgaben fehlen dem Nutzer nicht allein die Informationen über die Legitimation des Notentextes – wie eng orientierte er sich am Autograph, und waren etwaige Abweichungen vom Autograph von Hindemith autorisiert? –, sondern auch die Hinweise auf die Bedeutung der Komposition innerhalb des Œuvres dieses außergewöhnlich vielfältigen Musikers. Schließlich wird der Stellenwert vieler seiner Werke erst durch die Interpretation des Entstehungskontexts und das Heranziehen seines schriftstellerischen Schaffens sichtbar. Denn Hindemith hinterließ neben den Libretti zu zweien seiner Opern auch musiktheoretische, musikpoetische, musiksoziologische und musikhistorische Schriften, an deren Veröffentlichung und Übersetzung in die deutsche beziehungsweise englische Sprache er selbst beteiligt war. In seinem Nachlass finden sich darüber hinaus Manuskripte zu einigen seiner Vorträge sowie verworfene Szenarien zu Balletten und Fragmente weiterer Operntexte. Auch Briefe des Komponisten sind in erstaunlich großer Zahl erhalten. Erst eine übergreifende wissenschaftliche Auswertung all dieser Dokumente, die aus Hindemiths weitgefächerten Tätigkeitsfeldern entsprangen, wird es ermöglichen, seine weitreichende Bedeutung als prägende Persönlichkeit des Musiklebens des 20. Jahrhunderts in all ihren Facetten zu erfassen. Trotz der langjährigen engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Hindemith und seinem Verleger wird daher erst mit der Herausgabe der HindemithGesamtausgabe ein umfassender Blick auf das vielfältige Lebenswerk ermöglicht.
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Luitgard Schader
I.
Die Ausgaben
1.
Einzelausgaben des kompositorischen Werkes
a.
Zu Hindemiths Lebzeiten
Die Qualität der Einzelausgaben, die zu Hindemiths Lebzeiten erschienen, schwankte im Laufe der über vier Jahrzehnte andauernden Zusammenarbeit mit dem Schott-Verlag sowie dessen Vertretungen im Ausland erheblich. Bei den frühesten Ausgaben sind die Qualitätsunterschiede auf die persönliche Entwicklung des Komponisten zurückzuführen: Während er zu diesem Zeitpunkt aufgrund mangelnder Erfahrung noch Stichfehler übersah und sogar Freunde bat, Korrekturarbeiten zu übernehmen, dokumentieren die Ausgaben ab Mitte der 1920er Jahre Hindemiths Fähigkeit, auch unter Zeitdruck Fehler akribisch aufzuspüren und dem Verlag seine Gestaltungswünsche unmissverständlich mitzuteilen. Parallel zu dieser Entwicklung wuchs im Verlag sein Ansehen als Komponist. Eine enge persönliche Freundschaft zwischen dem Ehepaar Hindemith und den Verlagsleitern Willy und Ludwig Strecker verstärkte die Bindung, so dass die Drucklegung seiner Kompositionen in Mainz mit größter Sorgfalt erfolgte. Doch nicht nur die persönliche Entwicklung des Komponisten, sondern auch historische Begebenheiten und Zeitumstände wirkten sich wesentlich auf Form und Qualität der Ausgaben aus. Die Drucklegung von Hindemiths frühen Operneinaktern erfolgte gleich nach dem Ersten Weltkrieg durch das Autographieren von offensichtlich eilig angefertigten Kopistenabschriften; das Notenbild dieser Ausgaben trägt dabei der Papiernot der Nachkriegszeit Rechnung. Ab Mitte der 1920er Jahre hingegen ließ der Verlag den Notentext meist stechen, selbst bei großen Partituren, doch fertigte er nach den politischen Angriffen auf Hindemith und dessen Kompositionen ab 1934 von Sonaten oder Orchesterwerken erneut autographierte Partituren an. Eine Besonderheit dieser Ausgaben aus den 1930er Jahren besteht darin, dass Hindemith einige seiner Werke direkt auf Cellophan-Folien schrieb und so die Vorlage zur photomechanischen Vervielfältigung selbst anfertigte. Aus diesem Grunde handelt es sich beispielsweise bei den Erstausgaben der Symphonie „Mathis der Maler“ und des Balletts Nobilissima Visione um Reproduktionen von Hindemiths eigenhändigen Manuskripten. Nachdem Hindemith 1940 Europa hatte verlassen müssen und zunächst als Flüchtling, anschließend als naturalisierter Staatsbürger in den Vereinigten Staaten lebte, erschienen seine Kompositionen bei der amerikanischen Vertretung des Schott-Verlags, den Associated Music Publishers (AMP), in Einzel-
Die Editionen von Paul Hindemiths Werken
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fällen auch bei Schott London. Zwar genoss Hindemith auch bei diesen Verlagshäusern hohes Ansehen, doch wurde die Verbreitung seiner Werke dort stärker unter finanziellen Aspekten bewertet, als es in Mainz der Fall gewesen war; die Ausgaben erschienen fortan in höchst unterschiedlicher Qualität. Während der Herstellung seines Cellokonzerts (1940) in New York berichtete Hindemith Willy Strecker nach Mainz: Das Cellokonzert ist in einer sehr verschmierten Photokopie herausgekommen, der Auszug ist mäßig geschrieben und vervielfältigt, jedoch seit Ende November immer noch auf Veröffentlichung wartend, weil die Solostimme so miserabel geschrieben war, daß sie nochmals hergestellt werden muß.
Und Gertrud Hindemith ergänzte am Ende dieses Briefes: Wie oft muss ich versuchen Pauls Zorn zu mildern, wenn die Verlagsproduktionen und Korrekturen ankommen: Du hast ihn schrecklich verwöhnt mit aller Umsicht und liebevollen Behandlungen seiner „Tonwerke“! Ganz gut, daß man es mal sieht und lernt, in der Fremde; später wird man sich doppelt freuen, wenn wieder die schönen, frisch gebackenen mustergültigen Elaborate aus Mainz ankommen.1
Wegen der tiefsitzenden Unzufriedenheit mit der Arbeit des amerikanischen Verlags veröffentlichte Hindemith schließlich auch in den Vereinigten Staaten einige Kompositionen als Faksimile des Manuskripts. Einige dieser amerikanischen Ausgaben gelangten über zuvor vereinbarte Kontaktpersonen trotz der unterbrochenen Postverbindung nach Mainz und wurden dort während des Zweiten Weltkriegs in deutschsprachigen Neuausgaben veröffentlicht. Unmittelbar nach Kriegsende nutzten sowohl die Mainzer Verleger als auch das Ehepaar Hindemith jede sich bietende Gelegenheit zur Kontaktaufnahme. Mehrfach übermittelten amerikanische Musiker, die als Soldaten in Deutschland stationiert waren, Briefe zwischen Mainz und New Haven, Hindemiths Wohnort in den Vereinigten Staaten. Bereits 1945 bemühte sich der SchottVerlag um jene Kompositionen, die Hindemith seit seiner Flucht aus Europa geschrieben und in den Vereinigten Staaten veröffentlicht hatte, und brachte deutsche Erstausgaben dieser Werke heraus. Über diese Ausgaben war Hindemith selbstverständlich unterrichtet, doch handelt es sich bei ihnen um die einzigen Publikationen, an deren Herstellung der Komponist nicht beteiligt war. Diese für den europäischen Markt bestimmten Ausgaben wurden vom Verlag in deutscher Sprache eingerichtet; dazu wurden Satzbezeichnungen, Vortragshinweise, sogar Werktitel ohne Abstimmung mit Hindemith übersetzt. ____________ 1
Brief von Paul Hindemith an Willy Strecker vom 16. Februar 1941 (New Haven). Hindemiths Briefwechsel mit seinen Verlegern wird nach Originalen oder Kopien zitiert, die im Hindemith Institut Frankfurt aufbewahrt werden.
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Luitgard Schader
Doch mit der Öffnung des Postweges und den ersten persönlichen Wiederbegegnungen zwischen dem Komponisten und seinen Verlegern wuchs Hindemiths Einflussnahme auf die Drucklegung seiner Werke wieder kontinuierlich. In einem Schreiben vom 28. Mai 1948 stimmte Willy Strecker die Notenherstellung der Sonate für Cello und Klavier und der Zweitfassung des Marienlebens mit dem Komponisten ab und kündigte die Zusendung der Korrekturfahnen an. Hindemiths eigene, nun international gültige Auszeichnung kehrte in die Ausgaben zurück, sicherlich begünstigt durch die Tatsache, dass sich das deutsche Absatzgebiet sukzessive zu einem europäischen Musikalienmarkt weitete. Mit der Herstellung dieser Ausgaben wurde die alte Tradition der engen Zusammenarbeit, die bis 1940 die Edition von Hindemiths Werken bestimmt hatte, wieder aufgenommen. Auch an der Neuausgabe seiner Kompositionen war Hindemith beteiligt. Ab Mitte der 1950er Jahre erhielt er mehrfach Erstausgaben seiner Werke mit der Bitte, Änderungswünsche mitzuteilen. Meist sandte Hindemith die Vorlagen nach kurzer Zeit mit Eintragungen zurück oder übermittelte seine Anmerkungen in Briefen, die dann mit großer Sorgfalt in den – teils erst postum erschienenen – Neuausgaben ausgeführt wurden. Insgesamt lassen sich folgende Gruppen von Einzelausgaben unterscheiden, die zu Hindemiths Lebzeiten publiziert wurden: − frühe Ausgaben (nur unzulängliches Korrekturlesen durch Hindemith) − Stiche nach Manuskripten − Stiche nach Kopistenabschriften − Autographien von Kopistenabschriften − Ausgaben von Mitte der 1920er Jahre bis zum Exil (hochwertige Herstellung und sorgfältige Korrekturen durch Hindemith) − Stiche nach Manuskripten − wenige Stiche nach Kopistenabschriften − Autographien von Kopistenabschriften − Autographien von Hindemiths Manuskripten − Notenausgaben durch die Associated Music Publishers (mangelhafte Herstellung und fehlerhafte Umsetzung von Hindemiths Korrekturen, teils mit ins Englische übersetzten Vortragsanweisungen und Titeln) − Photomechanische Kopien deutscher Erstausgaben − Stiche nach Manuskripten − Autographien von Manuskripten − Deutsche Neuausgaben von Werken, die in den USA publiziert worden waren (mit deutschsprachigen Vortragsanweisungen ohne Hindemiths Freigabe) − Stiche nach AMP-Ausgaben
Die Editionen von Paul Hindemiths Werken
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− Autographien nach AMP-Ausgaben − Photomechanische Kopien von AMP-Ausgaben − Ausgaben von Ende der 1940er Jahre bis zu Hindemiths Tod (hochwertige Herstellung und sorgfältige Korrekturen durch Hindemith) − Stiche nach Manuskripten − Photomechanische Kopien von Manuskripten − Ab Mitte der 1950er Jahre Neuauflagen von Einzelwerken nach Korrekturen der Erstausgabe durch Hindemith, die jedoch nicht als solche gekennzeichnet sind b.
Einzelausgaben nach Hindemiths Tod
Nach Hindemiths Tod (1963) strebte der Schott-Verlag die Edition weiterer noch unveröffentlichter Werke an – zunächst in Absprache mit Gertrud Hindemith, die ihren Mann um kaum mehr als drei Jahre überlebte, jedoch ohne sie an der Herstellung der Ausgaben zu beteiligen. Neben der Veröffentlichung der im Nachlass autograph erhaltenen Kompositionen ließ der Verlag auch Bearbeitungen von Gelegenheitswerken herstellen, wie etwa von der in Laienkreisen beliebten Tuttifäntchen-Suite und dem Rondo für drei Gitarren. Gleichzeitig erschienen auch weiterhin Neuauflagen alter Ausgaben mit Änderungen im Notentext. Bei solchen Eingriffen wurden in einigen Fällen Korrekturen ausgeführt, die Hindemith dem Verlag noch selbst mitgeteilt hatte. In anderen Fällen jedoch glaubten Verlagslektoren oder sogar außenstehende Dritte vermeintliche Fehler korrigieren zu müssen. Solche revidierten Ausgaben, die in Einzelfällen, wie beispielsweise bei der Sonate für Flöte und Klavier, eine von Hindemith korrigierte Ausgabe ersetzen, sind allerdings kaum als solche zu erkennen, da die Änderungen stillschweigend vorgenommen wurden. Auf diese Art konnte der Schott-Verlag jedoch nur solche Kompositionen verwerten, deren Copyright ihm bereits übertragen worden war. Zwar war der Verlag über die Existenz weiterer Kompositionen informiert, doch fehlten ihm zur Publikation nicht allein die Rechte, sondern auch die Quellen zur Drucklegung. Beides war durch eine testamentarische Verfügung Gertrud Hindemiths auf die Fondation Hindemith als Erbin des Ehepaares übergegangen. Nach der systematischen Aufarbeitung von Hindemiths Nachlass durch das stiftungseigene Hindemith Institut Frankfurt wurden sukzessiv weitere unveröffentlichte Kompositionen publiziert, so dass 1995 anlässlich der Feierlichkeiten zu Hindemiths 100. Geburtstag nahezu alle seine Werke erschienen waren. Seit Anfang der 1990er Jahre übernehmen einige Einzelausgaben den Notentext der Hindemith-Gesamtausgabe. Darunter befinden sich sowohl Werke, die in der
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Luitgard Schader
Gesamtausgabe erstmals veröffentlicht sind, als auch solche, die bereits zuvor publiziert worden waren. Diese Einzelausgaben werden als Nachdrucke der Gesamtausgabe kenntlich gemacht. Damit wurde einem Wunsch Hindemiths Rechnung getragen, den er selbst im Vorwort seiner Edition von Giovanni Gabrielis Symphoniae Sacrae (1959) äußerte: „Die erwähnte [Gabrieli-]Gesamtausgabe wäre für die Arbeit mit Chören und Spielergruppen nur zu verwenden, wenn von jedem einzelnen Stück billige Vervielfältigungen in den Handel kämen.“2 2.
Paul Hindemith. Sämtliche Werke
Die ersten Überlegungen zu einer Hindemith-Gesamtausgabe finden sich bereits im Briefwechsel zwischen Paul Hindemith und seinem Verleger. Nur wenige Monate vor Hindemiths Tod wandte sich Arno Volk als Vertreter des Schott-Verlags an den Komponisten: […] wir möchten uns möglichst bald mit dem Problem der Hindemith Gesamtausgabe auseinandersetzen. Das bedeutet, dass in Zukunft alle neu zur Herstellung anstehenden Werke gestochen werden, und zwar in Abstimmung mit dem Format der Gesamtausgabe. Der erste Fall liegt nun mit dem Orgelkonzert vor […]. Als erstes müsste die Aufteilung Ihres gesamten kompositorischen Schaffens in Gruppen und innerhalb der Gruppen in Bände vorgenommen werden. Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie anhand des Werkverzeichnisses von sich aus schon einmal eine grobe Einteilung vornehmen würden.3
Wahrscheinlich muss ein undatiertes zweiseitiges Manuskript in Hindemiths Nachlass, auf dem der Komponist Ungedruckte Stücke für eine etwaige Gesamtausgabe4 zusammengestellt hatte, entgegen der bisherigen Vermutung, es sei Mitte der 1950er Jahre entstanden,5 im Zusammenhang mit Arno Volks Schreiben von 1963 gesehen werden. Das Verzeichnis befand sich nach Hindemiths Tod zunächst in den Händen des Verlages und wurde erst später an Gertrud Hindemith übergeben. Zu dieser seltenen Konstellation, dass nämlich ein Komponist selbst und sein Exklusivverleger gemeinsam die Publikation einer Gesamtausgabe ins Auge gefasst haben, tritt im Falle von Hindemiths Œuvre die sicherlich als Ausnahme zu bezeichnende Tatsache, dass nur acht Jahre nach dem Tod des ____________ 2 3 4 5
Werkeinführungen und Vorworte von Paul Hindemith, in: Hindemith-Jahrbuch 2000/XXIX, S. 196. Brief von Arno Volk an Paul Hindemith vom 10. Juli 1963. Als Faksimile veröffentlicht in: Luitgard Schader, Werk und Werke bei Paul Hindemith, in: Hindemith-Jahrbuch 1995/XXIV, S. 12f. Andres Briner, Paul Hindemith, Zürich 1971, S. 372.
Die Editionen von Paul Hindemiths Werken
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Komponisten ein Forschungsinstitut, dessen Finanzierung aus Hindemiths Erbe bestritten wird, tatsächlich die Arbeit an einer historisch-kritischen Ausgabe aufnahm. Die von Gertrud Hindemith testamentarisch verfügte Fondation Hindemith richtete zu diesem Zwecke 1971 in Frankfurt am Main das Hindemith Institut Frankfurt ein und beauftragte es mit der Edition einer Gesamtausgabe. Nur zwölf Jahre nach Hindemiths Tod wurde 1975 bereits der Einakter Sancta Susanna op. 21 (1921) als erster Band der Gesamtausgabe vorgelegt, der Abschluss der Editionsarbeiten wird für das Jahr 2025 erwartet. Zu diesem Zeitpunkt wird der Umfang der Ausgabe auf ungefähr 70 Bände angewachsen sein. Anfangs wurden zur Edition einzelner Bände externe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herangezogen; 2003 erschien der erste vollständig im Hindemith Institut erarbeitete Band. Die Edition Paul Hindemith. Sämtliche Werke ist eine historisch-kritische Ausgabe, in der nicht nur alle vollständigen Werke des deutsch-amerikanischen Komponisten in allen vorliegenden Fassungen, sondern auch seine Entwürfe und Fragmente veröffentlicht werden. Jeder einzelne Band enthält neben dem Notenteil eine Einleitung mit Angaben zur Entstehung und Rezeption des Werkes und den Kritischen Bericht in deutscher oder englischer Sprache. Die Hindemith-Gesamtausgabe will sämtliche erhaltenen musikalischen Werke Paul Hindemiths nach einem kritischen Vergleich aller vorliegenden Quellen so überliefern, daß ¥ der vom Komponisten letztwillig festgelegte Text gewahrt bleibt und bei Aufführungen nach der Gesamtausgabe jederzeit eindeutig erkennbar wird, ¥ davon abweichende Fassungen und frühere Stadien eines Werkes je nach der Bedeutung der Abweichungen einzeln aufführbar, erkennbar oder schnell rekonstruierbar sind, ¥ ein neuerlicher Vergleich der Quellen seitens des Benutzers der Gesamtausgabe überflüssig gemacht wird durch die Gestaltung des Notenbildes, den Kritischen Bericht und das Vorwort des jeweiligen Bandbearbeiters.6
Der Notentext der Gesamtausgabe übernimmt Hindemiths Schreibeigenheiten, die aus dem Erfahrungsschatz des praktischen Musikers resultieren. Die Edition ist in zehn Serien gegliedert: I. Bühnenwerke II. Orchesterwerke III. Solokonzerte IV. Konzertante Kammermusiken V. Kammermusik VI. Lieder ____________ 6
Paul Hindemith. Sämtliche Werke, im Auftrag der Hindemith-Stiftung hrsg. von Kurt von Fischer (†), Ludwig Finscher und Giselher Schubert, Mainz 1975ff., jeweils S. VI.
674 VII. VIII. IX. X.
Luitgard Schader
Chorwerke Sing- und Spielmusiken, Übungsstücke und Etüden Varia Werke auf Schallträgern
Vollständige Kompositionen erscheinen im Hauptteil des Bandes, Fragmente, Entwürfe und verworfene Fassungen werden im Anhang publiziert. Als sich Paul und Gertrud Hindemith zur Rückkehr nach Europa entschlossen hatten, kauften sie 1954 am Genfer See ein Haus, das ihr Refugium für die noch verbleibende Lebenszeit werden sollte. Dort führten sie ihren Besitz zusammen, der die Kriegsjahre in Deutschland, in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten überdauert hatte, darunter auch Hindemiths Manuskripte und Ausgaben seiner Werke. Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Autographe, den Hindemith in seiner Frankfurter Wohnung (dem sogenannten Kuhhirtenturm) zurückgelassen hatte, war 1944 beim Bombardement der Stadt zerstört worden. Wohl Mitte der 1950er Jahre ergänzte der Komponist in seinen handschriftlichen Werkverzeichnissen kurze Hinweise zum Verbleib seiner Manuskripte und glich dazu vor allem den eigenen Bestand mit den im SchottVerlag aufbewahrten Quellen ab. Auch in den nachfolgenden Jahren hielt er in eigens angefertigten Aufstellungen fest, wem er Manuskripte als Geschenk überlassen hat. Diese Listen wurden später von seiner Witwe fortgeführt. All diese Quellen und Verzeichnisse haben sich im Nachlass von Paul und Gertrud Hindemith erhalten, sie bilden bis heute als erstrangiges Quellenverzeichnis die Basis für die Erarbeitung der Hindemith-Gesamtausgabe. Indem Gertrud Hindemith die von ihr angeregte Fondation Hindemith als General-Erbin einsetzte, verknüpfte sie den materiellen Nachlass des Komponisten und die Rechte an der Auswertung seines Œuvres mit der Aufgabe, Hindemiths ideelles Vermächtnis zu bewahren. Die Stiftung überführte alle wissenschaftlich relevanten Quellen, die sich im Besitz des Komponisten befanden, nach Frankfurt in das von ihr getragene Hindemith Institut Frankfurt. Darunter befinden sich Hindemiths autographe Partituren, Stimmen und Klavierauszüge, musikalische Skizzen und Textentwürfe, aber auch viele Druckausgaben, die teilweise eigenhändige Korrekturvermerke aufweisen. Der eigentliche Nachlass des Komponisten wurde seither um Manuskripte und Quellenkopien erweitert, die der Fondation Hindemith als Geschenk überlassen oder von ihr erworben wurden. Durch Hindemiths langjährige enge Verbindung mit dem Schott-Verlag verfügte auch dieser über eine umfangreiche Sammlung an Dokumenten, die zur Arbeit an der Gesamtausgabe ebenfalls heranzuziehen sind. Im Archiv des Verlags wurden nahezu alle Drucke von Hindemiths Werken zusammen mit
Die Editionen von Paul Hindemiths Werken
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dem nahezu vollständigen Briefwechsel aufbewahrt, der unter anderem Aufschluss über die Herstellung von Erstausgaben und eventuellen Nachdrucken gibt. Diese Dokumente wurden im Dezember 2014 der Fondation Hindemith überlassen und ins Hindemith Institut Frankfurt gebracht. Darüber hinaus sammelt der Verlag Rezensionen zu Hindemiths Kompositionen, die dem Hindemith Institut zur Verfügung gestellt werden. Aufgrund dieser breiten Quellenbasis kann bei einem Großteil der Kompositionen der für die Gesamtausgabe maßgebliche Notentext durch den Vergleich der autographen Quellen (neben den Partituren oftmals auch Stimmen und Klavierauszüge) mit allen erschienenen Ausgaben (darunter auch solche aus Hindemiths Nachlass, die Korrekturen und aufführungspraktische Hinweise enthalten) erstellt werden. Die Entstehungsgeschichte der Kompositionen wird zudem durch viele erhaltene Skizzen dokumentiert und kann anhand des Briefwechsels oftmals im Detail rekonstruiert werden. Darüber hinaus haben sich aus den 1940er und 1950er Jahren Gertrud Hindemiths Sammlungen von Briefwechseln mit Auftraggebern und Interpreten erhalten. Die Rezensionen der Aufführungen dokumentieren die Rezeption der Werke seit ihrer Uraufführung. Paul Hindemith selbst bemerkte in einer Rede, die er unter dem Titel Johann Sebastian Bach. Ein verpflichtendes Erbe veröffentlichte, am Beispiel der Alten Bach-Ausgabe, welche Informationen über den eigentlichen Notentext hinaus er selbst von dieser Art Ausgabe erwartete: […] die noch immer unübertroffene Gesamtausgabe seiner Werke, tut das ihrige, uns den Blick [auf den Menschen Bach und sein Œuvre] zu trüben. Dort steht Wichtiges und Nichtiges in gleicherweise eindrucksvoller Gestalt nebeneinander, Schweres und Leeres haben das gleiche imponierende Aussehen, Mühsamerrungenes und Schnellgelungenes sind ohne Beziehung zusammengekoppelt. Freilich, die Wertverhältnisse sind dem Kenner und größtenteils auch dem Laien bekanntgeworden, man weiß wohl das Hohe vom Wenigerhohen zu unterscheiden. Aber den einen wichtigen Bewertungsfaktor, welcher das Werk von Meistern wie Beethoven und Wagner so durchsichtig macht, nämlich das Wissen um die Einstellung des Komponisten selbst zu seinen einzelnen Schöpfungen, ihn vermissen wir hier ganz.
Hindemith schließt eine Charakterisierung Bachs an, die direkt auch auf ihn selbst übertragen werden kann und die Hindemith-Forschung noch auf lange Zeit vor immer neue Aufgaben stellen wird, denn die vermissten Informationen sind nach Hindemiths Ansicht kein „Verschulden der Bach-Ausgabe. Der Autor war von einer austernhaften Verschwiegenheit in bezug auf sein Werk.“7 ____________ 7
Paul Hindemith, Johann Sebastian Bach. Ein verpflichtendes Erbe, Frankfurt/Main 1953 (= Insel-Bücherei Nr. 575), S. 6f.
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Luitgard Schader
Hindemiths Schriften
Obgleich Paul Hindemith primär als Komponist und Interpret im 20. Jahrhundert Maßstäbe setzte, darf die Betrachtung seines Œuvres nicht auf diese beiden Bereiche beschränkt bleiben, denn auch die Lehre auf Universitätsniveau, die Musikvermittlung im Sinne der Volksbildung und seine musiksoziologischen Aktivitäten zählen zu den vielfältigen Facetten seines Engagements. Wesentliche Grundzüge dieser Tätigkeit hielt er in seinen Schriften fest. In Zusammenhang mit seiner Unterrichtstätigkeit in Berlin (Musikhochschule) und New Haven (Music Department der Yale University) verfasste Hindemith mehrere musiktheoretische Schriften, die er je nach Entstehungsort zunächst in deutscher bzw. englischer Sprache niederschrieb und publizierte. Noch in Mainz erschienen seit 1937 die ersten beiden Bände seiner Unterweisung im Tonsatz, die nur wenig später unter Hindemiths Mitarbeit ins Amerikanische übersetzt wurden.8 Der erste Band der Traditional Harmony erschien zuerst in englischer Sprache und wurde anschließend von Hindemith selbst ins Deutsche übertragen. Der zweite Band wurde hingegen zunächst in deutscher Sprache veröffentlicht, bevor er unter Hindemiths Mitarbeit für die amerikanische Ausgabe übersetzt wurde.9 Sein letztes musiktheoretisches Werk mit dem Titel Elementary Training for Musicians erschien zu Hindemiths Lebzeiten lediglich in der amerikanischen Originalfassung.10 Die beiden historisch reflektierenden Schriften wurden von Hindemith in englischer und deutscher Sprache publiziert. Grundlage seiner Bach-Publikation war ein in Hamburg selbstverständlich auf deutsch gehaltener Vortrag, der dann zunächst in den USA unter dem Titel Johann Sebastian Bach. Heritage and Obligation erschien, ehe er nur wenig später als Insel-Taschenbuch mit dem Untertitel Ein verpflichtendes Erbe vorgelegt wurde. Die Vorlesungen, die Hindemith 1949/1950 im Rahmen des renommierten Charles Eliot Norton Professorship of Poetry an der Harvard University gehalten hatte, publizierte er unter dem Titel A Composer’s World. Horizons and Limitations lange bevor er die erweiterte deutschsprachige Ausgabe Komponist in seiner Welt. Weiten ____________ 8
9
10
Paul Hindemith, Unterweisung im Tonsatz. Bd. 1: Theoretischer Teil, Mainz 1937, 2. erweiterte Auflage, Mainz 1940, Bd. 2: Übungsbuch für den zweistimmigen Satz, Mainz 1939; englisch als: The Craft of Musical Composition, Book 1: Theoretical Part, übersetzt von Arthur Mendel, London 1945; Book 2: Exercises in Two-Part Writing, übersetzt von Otto Orthmann, New York 1941. Paul Hindemith, A Concentrated Course of Traditional Harmony, Book I, London 1943, deutsch als Aufgaben für Harmonieschüler, übersetzt von Paul Hindemith, Mainz 1949; Bd. 2: Harmonieübungen für Fortgeschrittene, Mainz 1949, englisch als: Exercices for Advanced Students, Traditional Harmony II, übersetzt von Arthur Mendel, London 1953. Paul Hindemith, Elementary Training for Musicians, New York 1946.
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und Grenzen11 ausarbeitete. Zu diesen umfangreichen Schriften liegen in Hindemiths Nachlass häufig mehrere Quellen vor, nämlich zunächst die handschriftliche Niederschrift, dann ein von Gertrud Hindemith angefertigtes Typoskript teils mit autographen Korrekturen des Komponisten. Hindemiths Diskussion mit den Übersetzern seiner Schriften kann nur ansatzweise aus der Verlagskorrespondenz erschlossen werden, da sie häufig im direkten Gespräch stattfand. Neben diesen selbständigen Veröffentlichungen publizierte Hindemith in mehreren Musikzeitschriften kurze Artikel, schrieb Vorworte zu Ausgaben eigener Werke und Bearbeitungen und fertigte erläuternde Einführungstexte für Programmhefte zu Uraufführungen an. Besonders die Buchpublikationen sind in ihrer Qualität mit den Notenausgaben des Komponisten gleichzusetzen. Hindemith stellte zur Veröffentlichung Typoskripte zur Verfügung, die seine Frau Gertrud nach seinen Manuskripten angefertigt hatte, und las die Druckfahnen Korrektur. Wie bei den Notenausgaben war der Autor mit der Herstellung im Mainzer Schott-Verlag zufriedener als mit derjenigen in New York. Zur Entstehung der kleineren Texte ist die Quellenlage höchst unterschiedlich. Von einigen Aufsätzen ist lediglich die gedruckte Fassung bekannt, während die Entstehung mancher Vorworte zu seinen Werken durch Manuskripte und Anmerkungen im Briefwechsel mit dem Verlag rekonstruiert werden kann. Nach Hindemiths Tod erschienen weitere Texte in Erstausgabe. 1970 legte der Schott-Verlag den dritten Band von Hindemiths Unterweisung im Tonsatz vor, fünf Jahre später folgte eine deutsche Ausgabe von Elementary Training unter dem Titel Übungsbuch für elementare Musiktheorie, schließlich wurde 1983 in Izmir der erste Teil von Hindemiths Vorschläge[n] für den Aufbau des Türkischen Musiklebens in deutscher Originalfassung mit türkischer Übersetzung publiziert, und 2013 folgte die Publikation aller für die türkische Regierung geschriebenen Berichte.12 Darüber hinaus legten Mitarbeiter des Hindemith Instituts drei Textsammlungen mit Beiträgen von Hindemith vor, die teils bereits an entlegenen Orten veröffentlicht waren, teils jedoch erst im Nachlass aufgefunden wurden. 1994 erschien eine vollständige Ausgabe der Aufsätze, Vorträge, Reden, 2000 folgten alle Werkeinführungen, die Hindemith zu eigenen Kompositionen oder seinen Rekonstruktionen fremder Werke geschrieben hatte. Zwei Jahre später ____________ 11
12
Paul Hindemith, A Composer’s World. Horizons and Limitations, New Haven 1952; deutsch als: Komponist in seiner Welt. Weiten und Grenzen (erweiterte Fassung der Originalausgabe), Mainz 1959. Paul Hindemith, Vorschläge für den Aufbau des türkischen Musiklebens: die originalen Reporte 1935/1936/1937, mit einer Einführung von Elif Damla Yavuz, Düsseldorf 2013.
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Luitgard Schader
schließlich wurde eine Auswahl der Interviews mit dem Komponisten publiziert. Eine weitere Facette in Hindemiths umfangreichem Œuvre erhellt der Druck seiner Dramatischen Meisterwerke. Zwei Manuskripte, in denen der jugendliche Komponist seine parodistischen Theaterstücke festgehalten hatte, wurden 1995 anlässlich seines 100. Geburtstags vom Schott-Verlag als Leihmaterial veröffentlicht. Darüber hinaus befinden sich im Nachlass noch weitere, von der Wissenschaft bisher unbeachtete Schriften, beispielsweise die Frühfassungen seiner Opernlibretti Mathis der Maler und Die Harmonie der Welt sowie Fragmente weiterer Libretti und Ballettszenarien. Zu all diesen schriftstellerischen Dokumenten fehlen bis heute kritische Textausgaben, die aber im Vorwort der Gesamtausgabe angekündigt sind: „Ferner ist vorgesehen, die literarischen und theoretischen Werke Hindemiths gesondert zu veröffentlichen.“13 Eine Vielzahl von Briefausgaben bereichert das Wissen um Paul Hindemith. Sie wurden häufig als komplette Briefwechsel mit dem jeweiligen Empfänger oder innerhalb von Sammlungen als Schreiben an einzelne Persönlichkeiten oder Institutionen publiziert. Der überwiegende Teil von Hindemiths Briefen liegt jedoch noch immer unveröffentlicht in zahllosen Archiven weltweit verstreut.
II.
Die Wirkung der Ausgaben
Als Paul Hindemith im Dezember 1963 verstarb, lagen ungefähr 60 % seiner vollständig erhaltenen Kompositionen in Einzelausgaben vor. Ganze Werkgruppen waren der Öffentlichkeit nicht bekannt, darunter seine Jugendkompositionen aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und nahezu 70 Klavierlieder. Auch viele Kompositionen für musikalische Laien hatten den privaten Kreis der eigenen Hausmusik nicht verlassen. Selbst kammermusikalische Stücke aus Hindemiths Konzertrepertoire wie etwa zwei Sonaten für Bratsche allein (1923 und 1937) waren zu diesem Zeitpunkt nicht erschienen. Giselher Schubert nennt vier Ursachen, die der Publikation einzelner Stücke im Wege standen: − Hindemiths Distanzierung von Kompositionen aus ästhetischen Gründen; − Werke, die der Komponist schlicht vergessen hatte; − Ablehnung der Publikation durch den Verlag, dem die Stücke zu radikal erschienen; ____________ 13
Paul Hindemith. Sämtliche Werke (wie Anm. 6), jeweils S. VI.
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− Werke, für die der Verlag keine Verkaufschancen sah.14 Aus heutiger Sicht können vier weitere Gründe angeführt werden, die gegen eine Publikation der Werke sprachen oder sie gar verhinderten. Sie betreffen Kompositionen, − deren Manuskript Hindemith ohne Kopie aus den Händen gegeben hatte; − die für das private Musizieren mit seiner Frau geschrieben waren und diesen Rahmen wohl nicht verlassen sollten; − deren vollgültige erste Fassung Hindemith aus aufführungspraktischen Gründen vor der Veröffentlichung wesentlich bearbeitet hatte; − die lediglich für bestimmte Anlässe entstanden waren, darunter: − Experimente, die im Rahmen der Donaueschinger Kammermusiktage und deren Nachfolgeveranstaltungen entstanden, − Kanons, die er als Geschenke angefertigt hatte, − Einrichtungen eigener oder fremder Werke für Konzerte mit Studenten, − Kompositionen, die während des Unterrichtens als Beispiel entstanden waren. Die Gruppe der zu Hindemiths Lebzeiten publizierten Werke repräsentiert somit lediglich einen engen Ausschnitt aus seinem Lebenswerk, ohne dass diese Beschränkung dem Betrachter hätte bewusst werden können. Denn selbstverständlich war der tatsächliche Umfang des kompositorischen Schaffens der Öffentlichkeit verborgen geblieben. So verstellte die teils aufgrund von ökonomischen, teils jedoch auch aus persönlichen oder sogar politischen Erwägungen heraus getroffene Auswahl der publizierten Werke den Blick auf Hindemiths vielfältiges Œuvre. Dabei zeichnet sich seine Universalität als Musiker gerade durch das weitgefächerte Engagement aus, zu dem neben der Komposition eben auch die Rekonstruktion alter Werke, das Unterrichten, musiksoziologische Aktivitäten, musiktheoretische Schriften und nicht zuletzt sein aktives Konzertieren als Solist und Dirigent sowie in unterschiedlichen Ensembles zählte. Dem Wesen einer praktischen Ausgabe entsprechend wurde lediglich der Notentext verbreitet, der historische Kontext, die Entstehung der Komposition und ihre Stellung im Gesamtwerk wurde nicht mitgeteilt. Darüber hinaus waren viele Schreibeigenheiten des praktischen Musikers durch Kopistenabschriften oder Anpassung an Verlagsvorgaben in den Ausgaben verloren gegangen. Auch Zeichen seiner Zugehörigkeit zum europäischen, amerikanischen und zuletzt internationalen Kulturkreis wurden von Verlagsseite sowohl in den Ausgaben der AMP (New York) als auch in denjenigen des Schott-Verlags (Mainz) nivelliert. Als 1950 in Mainz eine deutsche Ausgabe
____________ 14
Vgl. Giselher Schubert, Zur Bedeutung der Hindemith-Gesamtausgabe, in: Hindemith-Jahrbuch 1978/VII, S. 17.
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Luitgard Schader
der Symphonic Metamorphosis of Themes by Carl Maria von Weber (1943) erschien, wurde neben der Übersetzung aller Instrumentennamen und Vortragsbezeichnungen sogar der Werktitel zu Sinfonische Metamorphosen Carl Maria von Weber’scher Themen geändert, woraus die Verbreitung der Pluralform Metamorphosen resultiert. All diese Eigenschaften müssen als typisch für die Form der Einzelausgabe gewertet werden. Auch die Tatsache, dass lediglich Teile des Œuvres zu Lebzeiten des Komponisten im Handel erschienen waren, wird für nahezu alle Komponisten Gültigkeit besitzen. Doch Hindemiths Schaffen wurde seit Mitte der 1950er Jahre in Deutschland durch Theodor W. Adorno gezielt diskreditiert. Adorno war zeitgleich mit Hindemith in Frankfurt am Main aufgewachsen und hatte dort ebenfalls den Kompositionsunterricht von Bernhard Sekles besucht. Nach mehreren Vorträgen und Rundfunkbeiträgen, in denen sich Adorno gegen das Wirken der Jugendmusikbewegung gewandt hatte, als deren wichtigsten Repräsentanten er Hindemith ansah, erschien 1956 die Erstauflage der Kritik des Musikanten. Die darin entwickelten Thesen bildeten fortan die Diskussionsgrundlage der vermeintlich fortschrittlichen musiksoziologischen Kreise. Symptomatisch für die Übernahme dieser Polemik ist die Veröffentlichung einer Broschüre, die auf engstem Raum all jene Vorbehalte gegen Hindemith als Menschen und Musiker zusammenfasst, die seit Adornos Verdikt die Hindemith-Rezeption bestimmten. Sie erschien 1970 in Frankfurt am Main – dem Ort, dessen Musikleben in der Weimarer Zeit von Hindemiths Aktivitäten wesentliche Impulse empfangen hatte, der aber gleichermaßen nach dem Krieg erneut auch die Wirkungsstätte Theodor W. Adornos geworden war. In kurzen Werkbeschreibungen heben unterschiedliche Autoren in der Broschüre hervor, dass „Hindemith bei der Suche nach Texten nicht gerade wählerisch“15 gewesen sei. Seine Laienmusik verstelle den Blick auf die Wiener Schule, überhaupt sei die Tatsache, „daß Hindemith das Laienmusizieren niemals in Zweifel gezogen“ habe, grundsätzlich als kritischer Punkt zu werten, denn die „aus dem Ideal des Musikanten sich herleitende Abwertung des Musikhörens [könne] heute […] nicht mehr akzeptiert werden“. Hindemiths Laienkompositionen besäßen mittlerweile (1970) lediglich als „historische Beispiele“16 Gültigkeit, ja, der Komponist selbst sei zum „musikhistorischen Monument“ geworden und „in genau dem Maße, in dem er nach der Ewigkeit trachtete, [sei] sein Werk von der Vergänglichkeit erfaßt“17 worden. ____________ 15
16 17
Gerhard Schroth, Klavierwerke – Vokalmusik, in: Paul Hindemith. Katalog seiner Werke, Diskographie, Bibliographie, Einführung in das Schaffen, hrsg. von der Städtischen Musikbibliothek Frankfurt/Main [1970], S. 17. Horst Weishaupt, Das Pädagogische Werk, in: ebd., S. 22f. Gerhard R. Koch, Musiktheater, in: ebd., S. 12.
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In diesem geistigen Umfeld nahm ebenfalls in Frankfurt am Main das Hindemith Institut seine Arbeit auf und legte nach kürzester Vorbereitungszeit den ersten Band der Gesamtausgabe vor. Vier der ersten fünf Bänden, die zwischen 1975 und 1979 publiziert wurden, beinhalten ausgesprochene Jugendwerke des Komponisten: das unveröffentlichte Konzert in Es-Dur für Violoncello und Orchester op. 3 (1915/1916), die bis dahin nur in unzulänglichen Ausgaben vorliegenden Operneinakter Mörder, Hoffnung der Frauen op. 12 (1919) und Sancta Susanna op. 21 (1921) sowie in der Serie Streicherkammermusik u. a. Hindemiths Sonaten aus Opus 11 und die Erstausgabe der Sonate für Bratsche und Klavier op. 25 Nr. 4 (1922). Durch die Aufführung dieser frühen Sonaten hatte sich Hindemith bald nach dem Ersten Weltkrieg den Ruf eines vielversprechenden Komponisten erworben, der Skandal um die Uraufführung der Operneinakter trug seinen Namen weit über musikinteressierte Kreise hinaus. So wurde mit diesen Bänden dem Diktum vom „gealterten Musiker Hindemith“ das Bild des „rebellischen Jungkomponisten“ entgegengestellt. Die Wirkung dieser frühesten Publikationen im Rahmen der Gesamtausgabe kann beispielhaft für die nachfolgenden Bände stehen. Bereits Mitte der 1980er Jahre konnte die „Rückkehr“ der Einakter beobachtet werden. 1986/1987 erschienen Einspielungen, 1987 waren sie beim Jugend-Festspieltreffen in Bayreuth Thema eines Workshops, im Dezember 1988 fand eine – wenn auch konzertante – Aufführung des gesamten Opern-Triptychons, zu dem neben den genannten Operneinaktern Das Nusch-Nuschi op. 20 (1920) zählt, in Frankfurt am Main statt. Als Thema eines musikwissenschaftlichen Symposiums (veranstaltet vom Radio-Symphonie-Orchester Berlin, der Akademie der Künste Berlin und der Fondation Hindemith) wurde im März 1987 Hindemiths Frühwerk grundsätzlich diskutiert. Zu diesem Zeitpunkt lag auch Annegrit Laubenthals Dissertation zu Hindemiths Einakter-Tryptichon im Druck vor. Die 1970 scheinbar so endgültige Auffassung von Hindemiths Œuvre wurde auch durch die Publikation verschiedener Werkfassungen erschüttert. Überraschendes brachte der Band Klaviermusik 2 zutage (V,10), in dem neben der bekannten Fassung von Hindemiths Erster Sonate für Klavier, die 1936 wenige Wochen nach ihrer Fertigstellung im Druck erschien, ein verworfener zweiter Satz veröffentlicht wurde. Hindemith hatte diesen Variationensatz, dessen Manuskript bereits Einzeichnungen des Notenstechers aufweist, kurzerhand durch einen Marsch ersetzt, da Walter Gieseking, der die Uraufführung spielen sollte, keinen Zugang zu ihm finden konnte. Seine Erfahrung hinsichtlich eigener Werke auf der Bühne wurde am Beispiel der Klaviersonate eben auch
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Luitgard Schader
bei einer Komposition offensichtlich, die Hindemith nicht für das eigene Repertoire geschrieben hatte. Mit der Publikation des ersten Bandes von Laienkompositionen (VIII,1) gelang es Gerd Sannemüller, Hindemiths von 1927 bis 1932 entstandene Stücke für Kinder und Amateure aus dem Schatten der Jugendmusikbewegung in das theoretische Umfeld der Kestenberg-Reform zu rücken. Die Edition von fünfzig überwiegend in den Vereinigten Staaten geschriebenen Klavierliedern (VI,3) zeigt Hindemiths feinfühligen Umgang mit Texten unterschiedlichster Art, seine Beiträge für die Kammermusiktage in Donaueschingen, BadenBaden und Berlin (I,6, VII,5, VIII,2) dokumentieren das Verantwortungsgefühl, das Hindemith für die Entwicklung des zeitgenössischen Komponierens empfand. Durch diese hier nur beispielhaft angeführten Editionen, die neben dem Notentext selbst auch Erläuterungen zum musikgeschichtlichen Kontext und zur Bedeutung des jeweiligen Werks innerhalb des gesamten Œuvres enthalten, konnten dann auch jene Rezeptionstopoi entkräftet werden, die die Hindemith-Rezeption bis in die 1980er Jahre hinein geprägt hatten. Mit der Publikation der Bände wird sowohl der musikpraktischen als auch der musikwissenschaftlichen Forschung Material zur Verfügung gestellt, das zur weiteren Beschäftigung anregen soll. Die stattliche Zahl der in den letzten zwei Jahrzehnten entstandenen Examensarbeiten und ein Blick in das internationale Konzertwesen bestätigen das wachsende Interesse an Paul Hindemiths facettenreichem Lebenswerk.
Ausgaben Paul Hindemith: Sämtliche Werke, im Auftrag der Hindemith-Stiftung hrsg. von Kurt von Fischer (†), Ludwig Finscher und Giselher Schubert, Mainz 1975ff. Hindemith, Paul: Unterweisung im Tonsatz. Bd. 1: Theoretischer Teil, Mainz 1937, 2. erweiterte Auflage Mainz 1940; Bd. 2: Übungsbuch für den zweistimmigen Satz, Mainz 1939; englisch als: The Craft of Musical Composition, Book 1: Theoretical Part, übersetzt von Arthur Mendel, London 1945; Book 2: Exercises in Two-Part Writing, übersetzt von Otto Orthmann, New York 1941 Hindemith, Paul: A Concentrated Course of Traditional Harmony, Book I, London 1943, deutsch als: Aufgaben für Harmonieschüler, übersetzt von Paul Hindemith, Mainz 1949; Bd. 2: Harmonieübungen für Fortgeschrittene, Mainz 1949, englisch als: Exercices for Advanced Students, Traditional Harmony II, übersetzt von Arthur Mendel, London 1953 Hindemith, Paul: Elementary Training for Musicians, New York 1946 Hindemith, Paul: Johann Sebastian Bach. Ein verpflichtendes Erbe, Frankfurt/Main 1953 (= InselBücherei Nr. 575), Wiederabdruck in: Paul Hindemith. Aufsätze, Vorträge, Reden, hrsg. von Giselher Schubert, Zürich, Mainz 1994, englisch als: Johann Sebastian Bach. Heritage and Obligation, übersetzt von Paul Hindemith, New Haven, London 1952
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Hindemith, Paul: A Composer’s World. Horizons and Limitations, New Haven 1952; deutsch als: Komponist in seiner Welt. Weiten und Grenzen (erweiterte Fassung der Originalausgabe), Mainz 1959 Hindemith, Paul: Unterweisung im Tonsatz, Bd. 3: Übungsbuch für den dreistimmigen Satz, aus dem Nachlass hrsg. von Andres Briner, P. Daniel Meier OSB und Alfred Rubeli, Mainz 1970 Hindemith, Paul: Übungsbuch für elementare Musiktheorie, übersetzt von Jutta Franc und Isolde Schröder, Mainz 1975 Hindemith, Paul: Vorschläge für den Aufbau des Türkischen Musiklebens (1935/36), Izmir 1983 (deutsch und türkisch) Hindemith, Paul: Vorschläge für den Aufbau des türkischen Musiklebens: die originalen Reporte 1935/1936/1937, mit einer Einführung von Elif Damla Yavuz, Düsseldorf 2013 Hindemith, Paul: Aufsätze, Vorträge, Reden, hrsg. von Giselher Schubert, Zürich, Mainz 1994 Werkeinführungen und Vorworte von Paul Hindemith, in: Hindemith-Jahrbuch 2000/XXIX, S. 127–208 Interviews mit Paul Hindemith, in: Hindemith-Jahrbuch 2002/XXXI, S. 166–211
Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Die Kritik des Musikanten, in: Ders., Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie (= Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 14), Darmstadt 1998, S. 67–107 Briner, Andres: Paul Hindemith, Zürich 1971 Koch, Gerhard: Musiktheater, in: Paul Hindemith. Katalog seiner Werke, Diskographie, Bibliographie, Einführung in das Schaffen, hrsg. von der Städtischen Musikbibliothek Frankfurt/Main [1970], S. 9–12 Laubenthal, Annegrit: Paul Hindemiths Einakter-Triptychon (= Frankfurter Beiträge zur Musikwissenschaft Bd. 15), Tutzing 1986 Schader, Luitgard: Werk und Werke bei Paul Hindemith, in: Hindemith-Jahrbuch 1995/XXIV, S. 10–24 Schader, Luitgard: Hindemiths Skizzenbücher Nr. 1 bis 41, in: Hindemith-Jahrbuch 2001/XXX, S. 203–255 Schroth, Gerhard: Klavierwerke – Vokalmusik, in: Paul Hindemith. Katalog seiner Werke, Diskographie, Bibliographie, Einführung in das Schaffen, hrsg. von der Städtischen Musikbibliothek Frankfurt/Main [1970], S. 13–19 Schubert, Giselher: Hindemith-Gesamtausgabe, in: Musikalisches Erbe und Gegenwart. MusikerGesamtausgaben in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Hanspeter Bennwitz, Georg Feder, Ludwig Finscher und Wolfgang Rehm, Kassel 1975, S. 50–55 Schubert, Giselher: Über die Gesamtausgabe der musikalischen Werke Paul Hindemiths, in: Die Musikforschung 30 (1977), S. 276–289 Schubert, Giselher: Zur Bedeutung der Hindemith-Gesamtausgabe, in: Hindemith-Jahrbuch 1978/VII, S. 7–23 Schubert, Giselher: Zur Problematik von Gesamtausgaben im Bereich der Neuen Musik, in: Musik in der Bundesrepublik Deutschland. Symposion Leningrad 1990, für den Deutschen Musikrat hrsg. von Rudolf Stephan und Wsewolod Saderatzkij, Kassel 1994, S. 269–275 Schubert, Giselher: Zur Konzeption der Hindemith-Gesamtausgabe, in: Editionsrichtlinien Musik, im Auftrag der Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Bernhard R. Appel und Joachim Veit unter Mitarbeit von Annette Landgraf (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, Bd. 30), Kassel [u. a.] 2000, S. 145–149 Weishaupt, Horst: Das Pädagogische Werk, in: Paul Hindemith. Katalog seiner Werke, Diskographie, Bibliographie, Einführung in das Schaffen, hrsg. von der Städtischen Musikbibliothek Frankfurt/Main [1970], S. 20–23
Thomas Ahrend
Zur Geschichte der Eisler-Editionen
I.
Editionen
Hanns Eisler hat neben Werken im emphatischen Sinne zahlreiche Kompositionen hinterlassen, bei denen weniger ihre autonome Textgestalt, als vielmehr ihre Funktion im Vordergrund steht. Unter diese „angewandte Musik“ fallen jeweils zu konkreten Anlässen neu geschriebene bzw. überarbeitete Vokalmusikstücke sowie Bühnen- und Filmmusiken. Überschneidungen zwischen Kompositionen mit zweckorientierter Funktion (z. B. Filmmusik) und solchen mit Werkcharakter (z. B. aus einer Filmmusik resultierende Konzertmusik) sind häufig. Darüber hinaus liegen viele Kompositionen in unterschiedlichen Fassungen vor. Die durch besondere politisch-geschichtliche Situationen des 20. Jahrhunderts geprägte Biographie des Komponisten – Teilnahme am Ersten Weltkrieg; öffentliches Engagement innerhalb der kommunistischen Bewegung in der Weimarer Republik; Exil seit 1933, ab 1938 in den USA, seit 1942 Filmkomponist in Hollywood; 1948 erzwungene Remigration nach Europa und Niederlassung in der DDR – brachte mitunter verwirrende Überlieferungssituationen der Quellen mit sich. Die öffentliche Parteinahme Eislers in politisch-ideologischen, ästhetischen und kulturpolitischen Fragen führte bereits zu Lebzeiten und bis weit darüber hinaus zu Stigmatisierungen in sowohl positiv als auch negativ gemeinter Absicht („Komponist der Arbeiterklasse“ vs. „Komponist der ostdeutschen Spalterhymne“), die seine Rezeption (und damit eben auch die Bereitschaft zur Edition von Eislers Kompositionen) beeinflussten. Hierdurch erhält die Kategorie der Auswahl, die durch die jeweilige ökonomische und politisch-ideologische Situation eines historischen Zeitpunktes und Ortes bedingt ist, bei der Edition eine besondere Rolle: Bis zum heutigen Tag sind große Teile der Produktion Eislers – etwa im Bereich der Bühnen- und Filmmusik – nicht gedruckt. Die Auswahl betrifft einerseits die Entscheidung, welche Kompositionen überhaupt, andererseits die Entscheidung, welche der gegebenenfalls verschiedenen Fassungen eines Werkes ediert werden, sowie –
685
Eisler-Editionen
im Fall von historisch-kritischen Editionen – deren Differenzierung und Darstellung im Zusammenhang der Werkgenese. Gleichzeitig erzeugte Eislers politisches Engagement und die damit zusammenhängende ästhetische Theoriebildung ein Interesse an der Edition nicht nur seiner Musik, sondern in besonderem Maße auch seiner Schriften. 1.
1924–1962: Ausgewählte Editionen zu Lebzeiten Eislers
a.
1924–1932
Die erste Publikation einer Komposition Eislers ist die Veröffentlichung der Sonate für Klavier op. 1 bei der Universal Edition in Wien, die 1924 auf Empfehlung Arnold Schönbergs zustande kam.1 Eisler erhielt in der Folge einen auf fünf Jahre bemessenen Optionsvertrag, der 1930 auf weitere fünf Jahre verlängert wurde.2 Bis 1932 erschienen in diesem Rahmen insgesamt neunzehn in der Regel mit Opuszahlen versehene Werke: Jahr
Opuszahl
Titel
1924 1925
1 2 7/1 3 5
Sonate für Klavier Sechs Lieder für Gesang und Klavier Duo für Violine und Violoncello Vier Klavierstücke Palmström. Studien über Zwölftonreihen für eine Sprechstimme, Flöte, Klarinette, Violine und Violoncello Tagebuch des Hanns Eisler für Frauenterzett, Tenor, Geige und Klavier Drei Männerchöre [Partitur und Chorstimmen] Zeitungsausschnitte für Gesang und Klavier Vier Stücke für gemischten Chor [Partitur und Chorstimmen] Zwei Männerchöre [Partitur und Chorstimmen] Auf den Straßen zu singen für gemischten Chor und Schlagzeug ad libitum [Partitur und Chorstimmen] Zwei Männerchöre [Partitur und Chorstimmen] Tempo der Zeit. Kantate für Alt- und Bass-Solo, Sprecher, gemischten Chor und kleines Orchester [Klavierauszug von Erwin Ratz] Zwei Stücke für Männerchor [Partitur und Chorstimmen]
1926 1927
9
1929
10 11 13 14 15
1930
17 16 19/1–2
____________ 1 2
Vgl. Jürgen Schebera, Hanns Eisler. Eine Biographie in Texten, Bildern und Dokumenten, Mainz [u. a.] 1998, S. 28f. Vgl. die Verträge vom 15. Juni 1925 und 29. Mai 1930 (Fotokopien in: Archiv der Akademie der Künste Berlin, Hanns-Eisler-Archiv 3040 und 3047) sowie Manfred Grabs, Hanns Eisler – Werk und Edition. Eine Dokumentation (= Arbeitshefte der Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik 28), Berlin 1978, S. 6.
686 Jahr
Thomas Ahrend Opuszahl
1930/31 20 1931 21/1–2 1931/32 18/1–6 1932 [24/4] 27/1–2
Titel Die Maßnahme. Lehrstück für Tenor, drei Sprecher, gemischten Chor und Ensemble [Klavierauszug von Erwin Ratz und Chorstimmen] Zwei Stücke für gemischten Chor [Partitur und Chorstimmen] Balladenbuch [Klavierauszug von Erwin Ratz und Hanns Eisler] Marsch aus dem Tonfilm „Niemandsland“ [Klavierbearbeitung von Isko Thaler] Zwei Balladen aus dem Tonfilm „Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?“ [Klavierauszug von Erwin Ratz und Schlagwerkstimme zu op. 27/1]
Die Auswahl der bei der Universal Edition veröffentlichten Kompositionen zeigt – auch unter Beachtung der zum Teil in chronologischer Hinsicht „falschen“ Reihenfolge (op. 7/1, 17, 18) – keine lückenlose Folge der Opuszahlen.3 Einige der dort nicht veröffentlichten Opera wurden also möglicherweise im Rahmen des Optionsvertrages vom Verlag abgelehnt (op. 4, 6, 8, 25)4 und zum Teil bei anderen Verlagen veröffentlicht (op. 22: siehe unten). Von Vokalwerken mit Orchesterbegleitung wurde neben den Chorstimmen nur ein Klavierauszug veröffentlicht. Die zum Teil auf Filmmusik basierenden Orchestersuiten op. 23 (1930), op. 24 (1931) und op. 26 (1932) wurden als Leihmaterial vertrieben.5 Der Wechsel in Eislers ästhetischer Orientierung von Kammermusik im Umkreis der Schönberg-Schule hin zu Vokal- und insbesondere Chormusik mit politisch ausgerichteten Texten spätestens ab op. 13 spielte bei der Auswahl der publizierten Kompositionen keine Rolle. Die Universal Edition unterstützte die – vermutlich auch ökonomisch erfolgreichen – Arbeiten Eislers und bewarb den Komponisten ab 1930 gezielt in dieser Richtung, z. B. mit Epitheta wie „Meister des Arbeitersanges“.6 ____________ 3
4
5
6
Bei op. 7/2 und op. 12 handelt es sich um von Eisler begonnene, aber nicht zu Ende geführte Kompositionen. Vgl. Manfred Grabs, Hanns Eisler. Kompositionen – Schriften – Literatur. Ein Handbuch, Leipzig 1984, S. 119, 151, 379. Für das Divertimento für Bläserquintett op. 4 (unter der Opuszahl 3) liegt zusammen mit den Liedern op. 2 und den Klavierstücken op. 3 (unter der Opuszahl 4) ein Verlagsvertrag vom 24. Oktober 1924 vor (Fotokopie: Archiv der Akademie der Künste Berlin, Hanns-Eisler-Archiv 3037). Tatsächlich wurde das Divertimento op. 4 dann erst 1982 in einer von Manfred Grabs besorgten Ausgabe in der Universal Edition veröffentlicht (siehe unten, S. 697, Anm. 33). Die Sieben Balladen aus dem Lehrstück „Die Mutter“ op. 25 wurden 1932 in Verlagsanzeigen der Universal Edition angekündigt und vermutlich zum Druck als Klavierauszug (von Erwin Ratz) vorbereitet, sind dann aber nach 1933 nicht mehr erschienen. Die veröffentlichte Klavierbearbeitung des vierten Satzes aus op. 24 erhielt im Druck keine Opuszahl. In einigen Verlagsanzeigen wird allerdings bei der Erwähnung des Orchestermaterials zu op. 24 auf die publizierte Bearbeitung hingewiesen. Vgl. Grabs, Werk und Edition (wie Anm. 2), S. [113] (Bilddokument 3).
Eisler-Editionen
687
Allerdings wurde die Aufnahme bestimmter „Kampfmusiken“ Eislers in das Verlagsprogramm der Universal Edition bzw. ihr expliziter Ausweis als solche vermieden. Bereits seit Ende der zwanziger Jahre waren insbesondere einzelne „Kampflieder“, denen in der Regel keine Opuszahlen zugewiesen wurden,7 auch bei anderen Verlagen bzw. in Zeitschriften erschienen. Als Beispiele seien hier einige ausgewählte Erstausgaben genannt (zeitnahe Nachdrucke in anderen Verlagen bzw. Übersetzungen in andere Sprachen sind bei einigen Liedern häufig): – Drum sag der SPD ade für Singstimme. Als Faksimile in: Die Rote Fahne (19. Mai 1928) – Komintern für Singstimme in: Das Rote Sprachrohr 1 (Februar 1929), S. 2 – Der heimliche Aufmarsch für Singstimme und Klavier. In: Sonderausgabe Kampfmusik, Berlin: Verlag für Arbeiterkultur, Januar 19318 – Ballade von den Baumwollpflückern für Singstimme, Männerchor und Ensemble op. 22/1, Ballade von der Wohltätigkeit für Singstimme oder Männerchor und Ensemble op. 22/2 sowie Lied der Bergarbeiter für Singstimme oder Männerchor und Ensemble op. 22/3, Berlin: Deutscher ArbeiterSängerbund e. V. 1931 [Partitur und Klavierauszug von Erwin Ratz] – Lied der Arbeitslosen (Stempellied) für Singstimme und Klavier, Berlin: Verlag für Arbeiterkultur 1931 – Ballade von den Säckeschmeißern für Singstimme und Ensemble op. 22/4, Berlin: Deutscher Arbeiter-Sängerbund e. V. 1933 Das 1929 komponierte und weit verbreitete Lied Der rote Wedding wurde zunächst – vermutlich auch aus Zensurgründen – nicht als Notendruck publiziert, sondern war als – zeitweise auch durch die Zensur nur eingeschränkt erhältliche – Schellackplattenaufnahme des Labels Arbeiter-Kult zugänglich.9 Seit 1924 publizierte Eisler auch immer wieder Texte, u. a. zahlreiche Konzertkritiken in Die Rote Fahne, dem Zentralorgan der KPD, Ende der 1920er Jahre sowie in verschiedenen Zeitschriften Aufsätze zur Arbeitermusikbewegung und zur Kritik des bürgerlichen Musiklebens. ____________ 7
8
9
Eine Ausnahme ist das bei der Universal Edition erschienene Solidaritätslied op. 27/2. Hier ist allerdings auch die Gattungsbezeichnung „Ballade“ im Sammeltitel der Publikation eine Besonderheit, da die Komposition im Unterschied zu den anderen „Balladen“ in op. 18 und zu op. 27/2 deutliche Merkmale eines „Kampfliedes“ aufweist. Dieses Lied bildet die thematische Grundlage des als Klavierbearbeitung bei der Universal Edition erschienenen vierten Satzes aus op. 24 (siehe oben). Man kann die Verwendung der Lied-Melodie sowohl in der Filmmusik als auch in der daraus resultierenden Orchestersuite als Versuch interpretieren, mit der Musik den in der instrumentalen Fassung verschwiegenen, gleichwohl bekannten und politisch brisanten Text evozieren zu wollen („Arbeiter, Bauern, nehmt die Gewehre“). Die Auswahl dieses Satzes zur Veröffentlichung als Klavierbearbeitung ist damit auch einerseits ein Hinweis auf die zu vermutende Popularität des Liedes, andererseits ein Beispiel für die „Tarnung“ von „Kampfmusik“ als einem in diesem Fall scheinbar harmlosen „Marsch“ aus einem Film bzw. einer Orchestersuite. Reproduziert auf der LP Eterna 8 10 052 (1971).
688 b.
Thomas Ahrend
1933–1948
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland 1933 erschienen zunächst keine Kompositionen Eislers mehr bei der Universal Edition. Nach Kriegsende publizierte die Universal Edition noch die 1937 entstandenen Zwei Elegien (Wien 1945), zu Lebzeiten Eislers die letzte Erstausgabe einer seiner Kompositionen bei dem prominenten Wiener Verlagshaus.10 Die organisatorisch und ökonomisch ungeordnete Existenz in der Exilsituation führte zu reduzierten Möglichkeiten und teilweise erschwerten Bedingungen von Editionen, die zudem in ihrem Charakter stark divergieren. Von einzelnen Liedern (z. B. Das Saarlied, in: Unsere Zeit, November 1934; Einheitsfrontlied, Paris: Edition de la Fédération Musicale Populaire 1935), „Sheet music“ von Liedern aus Filmmusiken (z. B. No Surrender! (Song of the Hostages). Song of Freedom from „Hangmen Also Die“, New York: Breggman, Vocco and Conn 1943), Hektographien einzelner Werke (z. B. Vor dem Krieg. Kantate in Variationen-Form für gemischten Chor a cappella,11 New York 1938) und Abdrucken in Liederbüchern (z. B. Kampflieder der Internationalen Brigaden, hrsg. von Ernst Busch, Madrid 1937)12 abgesehen, erschienen von Eisler zwischen 1933 und 1945 nur folgende größere Notenpublikationen: – Lieder Gedichte Chöre (zusammen mit Bertolt Brecht; Paris: Edition du Carrefour 1934) – Klavierstücke für Kinder op. 31 (Paris: Heugel 1934) – Sieben Klavierstücke op. 32 (Paris: Heugel 1934) – Klavierstücke für Kinder (Moskau: Staatlicher Musikverlag 1935)13 – Kleine Symphonie op. 29 (Moskau: Staatlicher Musikverlag 1937)
____________ 10
11
12
13
Das ebenfalls 1945 bei der Universal Edition publizierte Lied Für Österreichs Freiheit („Faschistische Schergen, ins Land eingedrungen“) ist lediglich eine – vermutlich vom Komponisten nicht ausdrücklich autorisierte – Neutextierung von Komintern (1929). Nach Eislers Tod erschienen – neben Neuauflagen der bereits verlegten Werke – bei der Universal Edition dann noch die 1937 komponierten Kammerkantaten Die römische Kantate, Kantate auf den Tod eines Genossen, Kriegskantate und Kantate im Exil (1972), op. 4 (1977) sowie die EnsembleFassungen von op. 18/1, 3, 4 und 6 (1998). So der Titel der Hektographie der später in LK 3 (siehe unten, S. 691) als Gegen den Krieg veröffentlichten Komposition; vgl. auch Grabs, Kompositionen – Schriften – Literatur (wie Anm. 3), S. 87. Zu den verschiedenen Auflagen dieses Liederbuches vgl. Thomas Ahrend, „Andre Sprache könnt ihr nicht verstehn“. Hanns Eislers Melodie zu „Resolution“, in: „Vom Erkennen des Erkannten“. Musikalische Analyse und Editionsphilologie. Festschrift für Christian Martin Schmidt, hrsg. von Friederike Wißmann, Thomas Ahrend und Heinz von Loesch, Wiesbaden [u. a.] 2007, S. 427. Es handelt sich dabei um die gemeinsame Publikation der in Paris 1934 erschienenen op. 31 und 32 in einem Band.
Eisler-Editionen
689
Eine Besonderheit stellt die Publikation der Instrumentalkomposition Präludium und Fuge über B-A-C-H für Streichtrio als Beilage der Zeitschrift Musica Viva (Juni 1936) dar. Eisler veröffentlichte zudem während des Exils einige Texte, mitunter auch als Übersetzungen z. B. ins Russische oder Amerikanische. 1947 erschien das – zusammen mit Theodor W. Adorno verfasste – Buch Composing for the Films in New York (Oxford University Press). c.
1948–1962
Nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil nach Europa 1948 wurden – neben der seit 1949 in verschiedenen Fassungen und Bearbeitungen publizierten Nationalhymne der DDR und der Aufnahme einzelner Lieder in Anthologien (z. B. Friedenslieder, Berlin: Lied der Zeit 1950ff.) – bis 1953 in den Verlagen Aufbau und Lied der Zeit in Berlin (DDR) und Edition Peters (Collection Litolff) in Leipzig folgende Kompositionen Eislers veröffentlicht: Jahr 1949
1950 1950/51 1951
1952
Ort (Verlag) Berlin (LdZ)
Titel (ggf. Kompositionsjahr einer ersten Fassung) Einheitsfrontlied für Solo, Chor und Orchester (Fassung für Singstimme und Klavier: 1934) Berlin (LdZ) Lied über den Frieden für Soli, Chor und Orchester bzw. unter dem Titel Krieg ist kein Gesetz der Natur [Klavierauszug von Karl Heinz Füssl] Berlin (LdZ) Sieben Lieder für Massengesang (1929–1934 [neue Textierungen]) Berlin (LdZ) Zwei Lieder für Singstimme und Klavier (1936/43) Leipzig (EP) Rhapsodie für großes Orchester Berlin (Aufbau) Neue deutsche Volkslieder für Singstimme und Klavier bzw. Orchester Berlin (LdZ) Lieder und Chöre aus „Die Mutter“ von Bertolt Brecht [Klavierauszug (N. N.)] (1931) Leipzig (EP) Ouvertüre zu einem Lustspiel [Höllenangst] für Nonett Leipzig (EP) Bauernrevolution für Männerchor (1929 [op. 14/1]) Berlin (Aufbau) Du großes Wir [aus: Mitte des Jahrhunderts] für SopranSolo, Chor und Orchester Leipzig (EP) Fünf Lieder für eine Singstimme und Klavier (1942/1943) Leipzig (EP) Sieben Klavierstücke (1934 [op. 32])
Es handelt sich dabei hauptsächlich um Stücke, die entweder (zum Teil in anderen Fassungen) bereits vor 1948 publiziert worden waren oder erst danach komponiert wurden. Eislers zahlreiche zwischen 1933 und 1948 entstandenen Kompositionen blieben bis auf wenige Ausnahmen (Zwei Lieder, Fünf Lieder für eine Singstimme und Klavier) auch in der DDR vorerst unbekannt.
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Thomas Ahrend
Dies änderte sich zum einen durch das Erscheinen der „Gesamtausgabe“ der Lieder und Kantaten ab 1956 (siehe unten, S. 691), zum anderen durch die Publikation von – mit Ausnahme der Winterschlacht-Suite – bereits in den 1920er bis 1940er Jahren komponierter und – mit Ausnahme der bereits 1937 in Moskau als op. 29 verlegten Kleinen Sinfonie (siehe oben, S. 688) – bis zu diesem Zeitpunkt nicht veröffentlichter Instrumentalmusik, zum Teil in überarbeiteten Fassungen, bei den Verlagen Breitkopf & Härtel und Edition Peters in Leipzig sowie dem Verlag Neue Musik in Berlin (DDR) ab 1957: Jahr 1957 1958
1959 1960
1961
1962
Ort (Verlag) Berlin (VNM) Leipzig (EP) Berlin (VNM) Leipzig (EP) Leipzig (EP) Leipzig (BH) Leipzig (BH) Leipzig (EP) Leipzig (EP) Leipzig (BH) Leipzig (EP) Berlin (VNM) Berlin (VNM) Leipzig (EP)
Titel (Kompositionsjahr einer ersten Fassung) Suite für Septett Nr. 1 (1941) Klavierstücke op. 8 (1925) Septett Nr. 2 (1947) Sonatine für Klavier (Gradus ad parnassum) op. 44 (1934) Sonate für Violine und Klavier (1937) Variationen für Klavier (1941) Sonate für Klavier in Form von Variationen op. 6 (1924/1925) 3. Sonate für Klavier (1943) Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben (1941) Fünf Orchesterstücke (1938) Streichquartett (1938) Winterschlacht-Suite (1954) Kleine Sinfonie (1932 [op. 29]) Nonett Nr. 1 (1939)
Mit diesen Editionen lag ein Großteil der nicht bereits bei der Universal Edition vor 1933 veröffentlichten Instrumentalkompositionen vor. Auf die unterschiedlichen Fassungen der zum Teil zwanzig bis über dreißig Jahre zurückliegenden Kompositionen geben sie freilich keine Hinweise, sondern stellen Fassungen „letzter Hand“ dar, die zwar einerseits durch die – häufig ungenauen oder falschen – Angaben der Entstehungszeit im Titel den historischen Aspekt betonen, andererseits durch die Aufnahme in Verlagsreihen z. B. von „zeitgenössischer Kammermusik“ in eine anachronistische Aktualität rücken. 1949 erschien im Henschel-Verlag in Berlin (DDR) die – um entscheidende Stellen gekürzte – Übersetzung von Composing for the Films (1947; siehe oben, S. 689) unter dem Titel Komposition für den Film. Das 1952 beim Aufbau-Verlag in Berlin (DDR) publizierte Libretto zur geplanten – jedoch nicht zu Ende komponierten – Oper Johann Faustus löste eine heftige Kontroverse innerhalb der Deutschen Akademie der Künste aus. Eine erste Auswahl-
Eisler-Editionen
691
Sammlung der Reden und Aufsätze Eislers wurde von Winfried Höntsch 1961 für den Reclam-Verlag in Leipzig besorgt.14 2.
1956–1966: Lieder und Kantaten (LK)
Die Ausgabe der Lieder und Kantaten wurde initiiert (und zum Teil herausgegeben) von der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin (DDR), die im November 1953 – nach Auseinandersetzungen mit Eisler über dessen umstrittenes Opernlibretto und vermutlich auch auf die Anregung von Bertolt Brecht hin – Eisler eine „Gesamtausgabe“ seines Vokalwerks vorschlug.15 Der erste Band wurde 1956 publiziert, und unter der Mitarbeit von Eisler folgten bis 1962 insgesamt sechs Bände.16 Nach dem Tode Eislers 1962 erschienen bis 1966 vier weitere Bände, die von seiner Witwe Stefanie Eisler und Nathan Notowicz besorgt wurden – wieder unter Einbeziehung der Deutschen Akademie der Künste, die noch im selben Jahr das Hanns-Eisler-Archiv gegründet hatte. Die Bände enthalten im groben Überblick: Band 1 2 3
Jahr 1956 1957 1958
4 5 6
1959 1961 1962
7 8 9
1963 1964 1965
10
1966
____________ 14 15
16
Inhalt 75 Kompositionen für Singstimme und Klavier (z. T. Klavierauszüge) 70 Kompositionen für Singstimme und Klavier (z. T. Klavierauszüge) Kompositionen für Soli, Chor und Orchester bzw. für Chor a cappella: Sieben Sätze aus der Deutschen Symphonie, Lenin-Requiem, Gegen den Krieg Kompositionen für Singstimme mit Orchester oder Ensemble oder Klavier Kompositionen für Singstimme mit Orchester oder Ensemble oder Klavier Rimbaud-Gedicht, Lieder aus „Tage der Kommune“, Woodbury-Liederbüchlein, sechs Kanons, Palmström Bühnenmusik zu Die Mutter [Fassung 1950/1951] Bühnenmusik zu Schweyk im zweiten Weltkrieg Lieder nach Texten von Kurt Tucholsky für Singstimme und Klavier oder Orchester Ernste Gesänge, Bilder aus der „Kriegsfibel“, Lied über den Frieden, Vorspiel und Gesang „Es lächelt der See“ aus der Bühnenmusik zu „Wilhelm Tell“
Zur Problematik dieser Ausgabe siehe Tobias Faßhauer, Bericht über die Entstehung eines Eisler-Textes, in: Eisler-Mitteilungen 35 (Juni 2004), S. 10–13. Für weitere Details der Entstehungsgeschichte der Lieder und Kantaten siehe Thomas Ahrend, Materialien zur Editionsgeschichte der „Lieder und Kantaten“ von Hanns Eisler, in: Musik in der DDR. Beiträge zu den Musikverhältnissen eines verschwundenen Staates, hrsg. von Matthias Tischer, Berlin 2005, S. 238–259. Laut Angaben des Verlagslektors Julius Goetz hatte Eisler auch die Stichvorlage zu LK 7 noch durchgesehen und autorisiert (vgl. Ahrend, Materialien [wie Anm. 15], S. 253). Allerdings überließ Eisler die Zusammenstellung von LK 6 bereits zu großen Teilen dem Verlag (vgl. Grabs, Werk und Edition [wie Anm. 2], S. 8).
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Thomas Ahrend
Sowohl die Gliederung der gesamten Ausgabe als auch die Zusammenstellung einzelner Bände lassen kein einheitliches und systematisches Ordnungsprinzip erkennen (also etwa Chronologie, Textautoren oder Funktion). Tatsächlich erfolgte die Zusammenstellung der einzelnen Bände zunächst ohne einen Editionsplan. LK 1 und 2 versammeln Lieder (und Klavierauszüge anderer Vokalkompositionen) aus unterschiedlichen Zeiten ohne eine äußerlich erkennbare Ordnung. In LK 3 ändert sich der Charakter der Sammlung durch die symphonische Besetzung der meisten der darin enthaltenden Kompositionen und die einheitliche Auswahl von Chormusik. (Die Bezeichnung Lieder und Kantaten wurde erst ab diesem Band – der in einem Subskriptionsaufruf noch unter dem Titel Kantaten für Sologesang, Chor und Orchester nach Gedichten von Bertolt Brecht angekündigt worden war – zum Sammeltitel der gesamten Edition.)17 LK 4–6 setzen nicht nur wieder historisch und funktional heterogenes Material nebeneinander, sondern auch unterschiedliche Besetzungen. Die nach Eislers Tod erschienenen LK 7–9 weisen eine vergleichsweise deutliche Systematik nach einzelnen Bühnenmusiken bzw. dem Textautor Kurt Tucholsky auf. LK 10 sammelt verschiedene seit 1957 entstandene, aber in den bisherigen Bänden der Lieder und Kantaten nicht erschienene Kompositionen bzw. Fassungen.18 Die unkonventionellen Eigenarten der Gliederung rücken diese so sehr in den Vordergrund, dass sie selbst als künstlerisches Gestaltungsmoment bedeutsam wird. (Eislers Auswahl und Anordnung der Stücke in LK 1 stießen zunächst auf großen Widerstand, wurden aber schließlich von der Akademie – als dem Herausgeber – und dem Verlag akzeptiert. Die Planung der folgenden Bände erfolgte zunächst Band für Band; später wurden unter der Mitarbeit von Nathan Notowicz und dem Verlag für mehrere Bände umfassende Pläne erstellt, die jedoch mit Rücksicht auf nicht zu große Umfänge einzelner Bände flexibel gehandhabt wurden.) Bertolt Brecht nimmt in seinem zu LK 1 geschriebenen Geleitwort auf die ungewöhnliche Gliederung Bezug und interpretiert sie als Programm: „Es schien ihm [Eisler] unwichtig, wie dies oder jenes Werk zu finden war, wichtig, daß es viel zu entdecken gab.“19 Die Gliederung wird als Versuch gedeutet, eine Rubrizierung der in der Ausgabe enthaltenen Kompositionen in – wie auch immer geartete – Schubladen zu verhindern und ____________ 17 18 19
Vgl. Ahrend, Materialien (wie Anm. 15), S. 250. Das Lied über den Frieden war in anderen Fassungen bereits 1949 veröffentlicht worden (siehe oben, S. 689). Bertolt Brecht, Zum Geleit, in: LK 1, S. [V]. Bertolt Brechts Sammlung der Hundert Gedichte (Berlin: Aufbau 1951) zeigt eine ähnliche Gliederung und mag für Eislers Sammlungskonzept Vorbild gewesen sein.
Eisler-Editionen
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sie stattdessen aktuellen Deutungen und Funktionen zugänglich zu machen.20 (Einen Vorschlag der Deutschen Akademie der Künste während der Vorbereitung zu LK 1, die Lieder mit kurzen Erläuterungen zu ihrem Entstehungskontext zu versehen, lehnte Eisler bis auf die Beigabe von – in der Edition dann häufig falsch angegebenen – Jahreszahlen strikt ab.)21 Im Gegensatz zu Brecht betonte Ernst Hermann Meyer in seinem Vorwort zu LK 1 im parteigenössischen Phrasenvokabular die historischen Verdienste von Eislers Werk: „Das Größte und Schönste in diesem, der Zukunft zugewandt, völkerverbindend, vom Geist des kämpferischen Humanismus erfüllt, gehört zur großen kulturellen Leistung des deutschen Volkes und ist unvergänglich.“22 Selbst die vermeintlichen „Fehler“ des Komponisten, der „an den historischen Auseinandersetzungen seiner Epoche teilgenommen“ hat,23 werden auf diese Weise als historische entschuldigt: Es gibt im Werk Hanns Eislers Perioden der Esoterik. Dem leidenschaftlichen Willen des Künstlers, an der Seite der werktätigen Millionen das große, lichte Neue zu erkämpfen, steht zeitweise sein Bestreben gegenüber, die hochgetriebene atonalüberfeinerte Espritkunst der alten Moderne weiterzupflegen.24
Eine editorische Besonderheit einiger Bände der Lieder und Kantaten ist es, bei Werken mit größerer Besetzung unter der Partitur einen Klavierauszug abzudrucken – offensichtlich um die Einstudierung der Kompositionen in probenpraktischer Hinsicht zu erleichtern. Die Ausgabe betont auch damit eine intendierte Aktualität der in ihr versammelten Stücke, hinter die ihre – z. B. auch durch die repräsentative Außengestaltung suggerierte – historische „Bedeutung“ zurücktritt. (Die Qualität der Klavierauszüge selbst hat Eisler dann allerdings nicht zufriedengestellt, und im Laufe der Edition scheint er immer wieder für ihren Verzicht plädiert zu haben.)25 Die „Gesamtausgabe“ der Lieder und Kantaten ist keine kritische – und trotz der Mitarbeit des Komponisten: nicht einmal eine besonders zuverlässige – Edition, vielmehr eine „künstlerische“ Präsentation des eigenen Werkes, wobei sich Aspekte historisch erworbenen Anspruchs mit aktuellem Engagement mischen. ____________ 20
21 22
23 24 25
Zu einer möglichen Interpretation der „harten Kontraste“ der Zusammenstellung von LK 1 „unter dem Aspekt aktueller politischer Nützlichkeit“ vgl. Grabs, Werk und Edition (wie Anm. 2), S. 7f. Vgl. Ahrend, Materialien (wie Anm. 15), S. 243f. Ernst Hermann Meyer, Vorwort, in: LK 1, S. [VII]. Im Unterschied zu Brechts Geleitwort, das in allen Bänden der Lieder und Kantaten an entsprechender Stelle abgedruckt wurde, erscheint Meyers Vorwort lediglich in LK 1 (vgl. Ahrend, Materialien [wie Anm. 15], S. 248f.) Meyer, Vorwort (wie Anm. 22), S. [V]. Ebd., S. [VII]. Siehe Ahrend, Materialien (wie Anm. 15), S. 255.
694 3.
Thomas Ahrend
1968–1982: Gesammelte Werke (EGW)
Nach seinem Tod wurde in einem Beschluss des Ministerrates der DDR „über die Ehrung Hanns Eislers“ vom 28. März 1963 „die Pflege und Verbreitung des Werkes […] zu einer nationalen Aufgabe“ erklärt.26 Dies begünstigte sicherlich die Einrichtung eines Eisler-Archivs in der Deutschen Akademie der Künste Berlin (DDR) und den Beginn einer systematischen Sichtung der vor allem im Nachlass Eislers erhaltenen Quellen. Die Ausgabe der Lieder und Kantaten wurde 1966 mit LK 10 eingestellt, da in konzeptioneller Hinsicht die weitere Auswahl der zu edierenden Werke ohne die Mitarbeit Eislers zufällig erscheinen musste und in ökonomischer Hinsicht die schwierigen Beziehungen zum westdeutschen „Parallelverlag“ Breitkopf & Härtel in Wiesbaden (unter der Leitung der 1952 de facto enteigneten Inhaber des Verlagshauses in Leipzig) zu Export-Schwierigkeiten zu führen drohten. Gleichzeitig begannen die Planungen, eine – nicht auf Vokalmusik beschränkte – Eisler-Gesamtausgabe beim 1954 gegründeten Deutschen Verlag für Musik zu unternehmen.27 Die Gliederung der Gesammelten Werke Eislers (EGW) umfasst drei Serien: I. Vokalmusik II. Instrumentalmusik III. Schriften und Interviews Von der Edition ausgenommen sind die Filmmusiken Eislers sowie Skizzen und Entwürfe. Der erste – laut Copyright-Vermerk 1968, tatsächlich aber wohl erst Anfang 1969 erschienene – Band I/18 der Gesammelten Werke, herausgegeben von Nathan Notowicz, ist in seiner Auswahl kompensatorisch: Neben den Neuen deutschen Volksliedern enthält er weitere in den Liedern und Kantaten nicht publizierte Lieder oder nicht publizierte Fassungen bereits gedruckter Lieder. Das Vorwort erwähnt den Zusammenhang mit der Ausgabe der Lieder und Kantaten explizit:
____________ 26 27
Zitiert nach Grabs, Werk und Edition (wie Anm. 2), S. 3. Siehe z. B. das Protokoll einer Verlagssitzung von VEB Breitkopf & Härtel / Deutscher Verlag für Musik am 28. November 1966 (Archiv der Akademie der Künste Berlin, Hanns-EislerArchiv 7552). Breitkopf & Härtel und der Deutsche Verlag für Musik bildeten zusammen mit dem Verlag Friedrich Hofmeister seit 1958 eine wirtschaftliche Einheit (vgl. Bettina Hinterthür, Noten nach Plan. Die Musikverlage in der SBZ/DDR – Zensursystem, zentrale Planwirtschaft und deutsch-deutsche Beziehungen bis Anfang der 1960er Jahre, Stuttgart 2006, S. 369f.).
Eisler-Editionen
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In den seit 1956 im VEB Breitkopf & Härtel veröffentlichten 10 Bänden der „Lieder und Kantaten“ sind für ein aus mannigfaltigen Eindrücken sich bildendes engeres Vertrautwerden mit Eislers Vokalschaffen weite Möglichkeiten geboten worden. Mit dem jetzt vorliegenden Band tritt die Veröffentlichung der Werke Hanns Eislers in ein neues Stadium. Die Sichtung seines Nachlasses durch das Hanns-EislerArchiv bei der Deutschen Akademie der Künste ist inzwischen so weit gediehen, daß mit der Herausgabe der „Gesammelten Werke“ begonnen werden kann. Diese neue Publikationsreihe wird die in den bisher erschienenen Bänden [der Lieder und Kantaten] edierten Werke unter Beachtung der sich notwendig machenden Umstellungen und Ergänzungen mit [einbeziehen]. […] Der 18. Band erscheint als erster der neuen Reihe unter dem Titel Hanns Eisler – Gesammelte Werke. Ebenso wie die zuerst folgenden Bände umfaßt er nur solche Kompositionen, die in den „Liedern und Kantaten“ nicht oder nicht vollständig enthalten sind.28
Die Ankündigung des Vorworts, „Anmerkungen zur Quellenlage, zu Mehrfassungen und Skizzen sowie aufführungspraktische Hinweise werden am Ende jedes Bandes gegeben“,29 wird nur sehr unvollständig eingelöst: Die zwei Seiten umfassenden „Anmerkungen“ (auf S. [137f.]) informieren knapp über Entstehungszeit und -umstände sowie gegebenenfalls über die Existenz früherer Drucke und der dort enthaltenen Vorworte. Ein Überblick der für die Edition verwendeten Quellen sowie deren Beschreibung und Kritik fehlen. Nach dem Tode Notowicz’ im Jahre 1968 wurde Manfred Grabs neuer Leiter des Eisler-Archivs und der Gesammelten Werke. Grabs erarbeitete im Rahmen der bereits festgesetzten Seriengliederung eine neue Konzeption der Ausgabe, deren fragloses Verdienst darin besteht, zum ersten Mal unter editionsphilologischen Kriterien die Bedingungen und Möglichkeiten einer kritischen Eisler-Edition überhaupt zu reflektieren. Sie wird allerdings problematisch durch die Voraussetzung einer einheitlichen Arbeitsweise und Intention Eislers, die das „Werk“ gegenüber seinen potentiellen Fassungen höherstellt. Im allgemeinen verfährt die Editionspraxis nach dem Grundsatz, die Rangordnung der überlieferten Quellen festzustellen und den zuverlässigsten Text der Edition zugrunde zu legen. […] Die unterschiedliche Arbeitsweise der Komponisten macht jedoch Modifizierungen dieser Methode erforderlich. Das Intuitive im Umgang mit den Quellen läßt sich in Bezug auf das Werk Eislers durch eine klar fixierbare Formel rationalisieren: Die Quellen werden als gleichwertig betrachtet, bei Divergenzen zählt die jeweils jüngste Lesart, unabhängig vom stemmatologischen Platz der Quelle.
____________ 28 29
EGW I/18, S. 5. Ebd.
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Eisler betrachtete das Kunstwerk nicht als in sich abgeschlossenes, unantastbar fixiertes Gebilde, sondern eher als Arbeitsmaterial, das stets aufs Neue seine gesellschaftliche Funktion zu erweisen hat und damit auch veränderbar sein muß. […] Unter diesen Voraussetzungen tragen die Etappen der Werkentwicklung bei Eisler provisorischen Charakter; dies betrifft selbst durch umfangreiche Änderungen voneinander unterscheidbare Fassungen. Gültigkeit hat hier die jeweils letzte mit dem höchsten Ausarbeitungsgrad. Als eigenwertige Werk-Fassungen sind daher nur Bearbeitungen oder Umfunktionierungen und deren Vorlagen anzusehen: die Materialstruktur unterscheidet sich, verschiedene Genres, wie Klavier- und Orchesterlied oder Film- und Konzertmusik, oft verbunden mit neuer Betitelung, stehen sich gegenüber. Für die Eisler-Edition bedeutet das: Die eigenwertigen Fassungen werden wie eigenständige Kompositionen unabhängig voneinander ediert (ausgeschaltete Frühfassungen zu Informationszwecken im Bandanhang). Die der jeweiligen Fassung zugehörigen Quellen werden nur auf diese selbst bezogen. Innerhalb eines Stemmas treten die Lesarten untereinander in Beziehung. Für den zu edierenden Text ist die jeweils letztverfertigte Lesart maßgebend, unabhängig davon, ob sie sich in der jüngsten Quelle befindet oder in einer früheren nachgetragen wurde und gar bei späterer Arbeit mit anderen Quellen in Vergessenheit geriet. Voraussetzung ist allerdings Vollständigkeit der Ausführung und konsequentes Einpassen in den Werkzusammenhang wie andererseits das Ausschalten fehlerhafter Abweichungen. 30
Die daraus resultierende „Formel“, alle Quellen zu einem Werk als gleichwertig zu betrachten und die jeweils letzte Lesart einer Stelle als maßgebliche Formulierung aufzufassen, führt zur Mischung der Quellen und damit zur Nivellierung der (weitere Fassungen konstituierenden) Unterschiede zwischen ihnen. Die Herstellung eines dergestalt „idealen“ Werkes bedeutet darüber hinaus einen nicht geringen Widerspruch zu der Eisler zugesprochenen Vorstellung eines Werkes als eben „nicht […] in sich abgeschlossenes, unantastbar fixiertes Gebilde, sondern eher als Arbeitsmaterial, das […] auch veränderbar sein muß“.31 Die tatsächlichen historischen Veränderungen in der Werkgenese werden durch dieses Editionsverfahren aber eben gerade nicht dargestellt. Allerdings zeigen die erschienenen Notenbände, dass die Editions-„Formel“ nicht dogmatisch gehandhabt wurde. Und im „Standard-Vorwort für die Bände der Serie I und II“ wird die Formulierung des Prinzips deutlich relativiert (was freilich an der Quellenmischung nichts ändert): In Anbetracht der Eislerschen Arbeitsmethode besteht die editorische Aufgabe in einem sinnvollen, abwägenden Zusammenziehen der bei verschiedenen Gelegenheiten vorgenommenen Eingriffe, da die einzelnen Quellenschichten untereinander keinen kontinuierlichen Entwicklungsprozeß […] aufweisen. Deshalb kann auch nicht die jüngste Quelle von vornherein als die letztgültige Fassung eines Werkes angese-
____________ 30 31
Grabs, Werk und Edition (wie Anm. 2), S. 72. Ebd.
Eisler-Editionen
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hen werden. Über die Entscheidung des Bandbearbeiters bei abweichenden Lesarten gibt der Kritische Bericht Rechenschaft. Im Notentext selbst werden einer übersichtlichen Lesbarkeit wegen Hinweise auf das editorische Verfahren nicht angebracht.32
So problematisch diese Editionsprinzipien aus einer theoretischen Perspektive sein mögen, so dienen sie in praktischer Hinsicht einem nachvollziehbaren Zweck: nämlich die durch die Umstände der Werkgenese und die unterschiedlichen Funktionsbestimmungen der Kompositionen häufig verwirrende Quellenlage auf einfache Art und Weise zu lösen und einen „brauchbaren“ Notentext zu erstellen. Es verwundert daher auch nicht, dass im Umkreis der Gesammelten Werke (d. h. in der Regel beim Deutschen Verlag für Musik und von Manfred Grabs besorgt) zahlreiche Einzelausgaben veröffentlicht wurden, bei denen man – sofern es sich nicht ohnehin um Vorabdrucke der EGW-Editionen handelt – häufig ähnliche Editionsprinzipien wird feststellen können.33 Die in den drei erschienenen Notenbänden enthaltenen Kompositionen stellen lediglich in EGW II/3 für die beiden 1933/1934 komponierten Orchestersuiten op. 34 und 40 eine vollständige editio princeps dar, die beiden anderen Bände bergen nur vereinzelt bislang unveröffentlichte Lieder (in EGW I/16) oder Kammerkantaten (in EGW I/10). Die Zusammenstellung dieser Bände mit „klavierbegleiteten Lieder[n] […], die der Gattung ‚Konzertlied‘ zuzuordnen wären“,34 und Kammerkantaten – einer nur diffus bestimmbaren Gattung – betont in ihrer Auswahl kompositionstechnisch vergleichsweise „avancierte“ Stücke. Ähnliche methodische Probleme der Textkritik wie die Notenbände weist auch die Schriftenserie der Gesammelten Werke auf, insbesondere die Edition der „Schriften“ Eislers (EGW III/1–3), die zwar verschiedene Lesarten im edierten Text durch diakritische Zeichen darstellt, aber nicht immer deutlich machen kann, aus welchen Quellen die Lesarten stammen.35 Die von Eberhardt Klemm 1977 besorgte Ausgabe von Komposition für den Film (EGW III/4) machte auch dem DDR-Publikum einen vollständigen Text der deutschspra-
____________ 32 33
34 35
[Manfred Grabs], Zur Edition, in: EGW I/16, S. [5]. Die Passage findet sich auch in den entsprechenden Vorworten zu EGW I/10 und EGW II/3 sowie in Grabs 1978 (wie Anm. 2), S. 78. Für eine Auflistung der vor allem zwischen 1970 und 1977 beim Deutschen Verlag für Musik in Leipzig erschienenen Drucke vgl. Schebera, Hanns Eisler (wie Anm. 1), S. 311 sowie die Edition von Eislers op. 4 durch Manfred Grabs bei der Universal Edition in Wien 1977. Vgl. Vorwort, in: EGW I/16, S. 7. Vgl. Günter Mayer, Vom Querstand zum Höchststand. Erfahrungen mit der Edition der Schriften Eislers, in: Eisler-Mitteilungen 35 (Juni 2004), S. 8f. Eine Auswahlausgabe der Schriften Eislers hatte Manfred Grabs 1973 bei Reclam in Leipzig unter dem Titel Materialien zu einer Dialektik der Musik vorgelegt.
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chigen Fassung zugänglich. Das gleiche gilt für die bereits 1975 erschienenen Gespräche mit Hans Bunge (EGW III/7).36 Als ein Ergebnis der Gesammelten Werke muss auch das „Grabs-Handbuch“ angesehen werden, dem bislang vollständigsten veröffentlichten Verzeichnis der Kompositionen und Schriften Eislers.37 Ob die Tatsache, dass nach 1983 bis zum Ende der DDR 1990 insbesondere kein Notenband der Gesammelten Werke mehr erschienen ist, obwohl sich mehrere Bände in einem zum Teil weit fortgeschrittenen Produktionsstand befanden,38 eher ökonomischen (Papiermangel) oder intern-organisatorischen Problemen (Manfred Grabs verstarb 1984, sein Nachfolger wurde Eberhardt Klemm) oder einem nachlassenden Interesse an der „nationalen Eisler-Pflege“ zuzuschreiben ist, lässt sich beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht feststellen. 4.
Seit 2002: Hanns Eisler Gesamtausgabe (HEGA)
Mit dem Ende der DDR und der deutschen Wiedervereinigung 1990 gelangte die Edition der Gesammelten Werke institutionell in ein kritisches Stadium. Der Tod von Eberhardt Klemm 1991 markierte auch persönlich-biographisch ihr Ende. Der Bestand des Eisler-Archivs wurde in das Musikarchiv der 1993 gegründeten Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin übernommen (und seitdem um weitere Quellen ergänzt). 1994 gründete sich die Internationale Hanns Eisler Gesellschaft, die die „neuorientierte Weiterführung der EislerGesamtausgabe“ als ihr „wesentliches Ziel“ benannte39 und den Verlag Breitkopf & Härtel (der seit 1991 in Wiesbaden und dem rückübertragenen Standort in Leipzig firmierte und 1992 den Deutschen Verlag für Musik übernommen hatte) sowie die Stiftung Archiv der Akademie der Künste in Berlin zur Mitarbeit gewann. Mit der Editionsleitung wurde zunächst Albrecht Dümling betraut. Seit dem Jahr 2000 ist die Hanns Eisler Gesamtausgabe ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt unter der Editionslei____________ 36
37 38 39
Beide Bücher waren bereits vorher – ohne den vergleichsweise ausführlichen textkritischen Apparat von EGW III/4 – in ähnlichen Editionen in Verlagen der BRD erschienen (Komposition für den Film, München 1969, sowie Frankfurt a. M. 1976 [= Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan BuckMorss und Klaus Schlutz, Bd. 15], Gespräche mit Hans Bunge unter dem Titel: Fragen Sie mehr über Brecht. Hanns Eisler im Gespräch, München 1970). Grabs, Hanns Eisler. Kompositionen – Schriften – Literatur (wie Anm. 3). Manuskripte der edierten Notentexte und Kritischen Berichte sind im Hanns-Eisler-Archiv des Archivs der Akademie der Künste Berlin aufbewahrt. Günter Mayer (Hrsg.), Hanns Eisler der Zeitgenosse. Positionen – Perspektiven. Materialien zu den Eisler-Festen 1994/95, Leipzig 1997, S. 101.
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tung von Gert Mattenklott (Schriften) und Christian Martin Schmidt (Noten). Zwischen 2002 und dem jetzigen Zeitpunkt (Dezember 2014) sind neun Bände erschienen, sechs Noten- und drei Schriftenbände. Nach dem Tode von Gert Mattenklott 2009 und dem Ausscheiden Christian Martin Schmidts 2010 wurden Thomas Phleps (Noten) und Georg Witte (Schriften) mit der Editionsleitung betraut.40 Die HEGA knüpft an das Projekt der Gesammelten Werke an, revidiert jedoch die Editionsprinzipien grundsätzlich. Die Neuorientierung gegenüber EGW wird im allgemeinen Vorwort deutlich: Die Hanns Eisler Gesamtausgabe (HEGA) verfolgt die Absicht, sämtliche erreichbaren Kompositionen, Schriften und Briefe der Öffentlichkeit in wissenschaftlich angemessener Form vorzulegen. Sie versteht sich als historisch-kritisch und zielt darauf ab, die Wandlungen der Kompositionen und Schriften als deren Geschichte darzustellen und auf diese Weise die verschiedenen Fassungen als Zeugnisse unterschiedlicher ästhetischer und zeitgeschichtlicher Positionen kenntlich zu machen. […] [D]ie Ausgabe [wird] der Überzeugung gerecht, dass alle Stufen des Entstehungsprozesses bzw. alle Formen der vom Komponisten verantworteten Verbreitung (z. B. Skizzen, Fassungen, autorisierte Klavierauszüge, aber auch Interviews) zum Werk bzw. Text selbst gehören. […] Dies stellt die differenzierende Quellenhermeneutik […] ebenso wie die editorische Praxis vor besonders schwierige Aufgaben, eröffnet aber auch die Chance, hinsichtlich von musikalischen und literarischen Texten unterschiedlicher Funktionen – etwa der Kompositionen für den Film, die danach zu autonomer Kammermusik umgeformt wurde, oder die Verwendung von Textpassagen in verschiedenen Zusammenhängen – beispielgebende Verfahrensweisen der Edition zu entwickeln. […] Die Ausgabe erscheint in neun Serien: Serie I Chormusik Serie II Musik für Singstimme und Instrumentalensemble oder Orchester Serie III Musik für Singstimme und Klavier Serie IV Instrumentalmusik Serie V Bühnenmusik Serie VI Filmmusik Serie VII Skizzen und Fragmente Serie VIII Bearbeitungen fremder Werke Serie IX Schriften41
Die Auswahl der innerhalb der HEGA zu edierenden Kompositionen zielt auf Vollständigkeit und umfasst auch die Bereiche der Filmmusik sowie der Skiz____________ 40
41
Die neue Editionsleitung hat eine „Revision der Richtlinien“ angekündigt, „insbesondere mit dem Ziel, den Kritischen Bericht zu verschlanken und übersichtlicher zu gestalten“. Vgl. Thomas Phleps, Neue Standards bei der HEGA, in: Eisler-Mitteilungen 53 (April 2012), S. 4. Vorwort, in: HEGA V/3, S. VI.
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zen und Fragmente. Fassungen eines Werkkomplexes werden gesondert betrachtet und gegebenenfalls als eigenständige ediert. (So ist z. B. in HEGA V/3 die Bühnenmusik zu Die Rundköpfe und die Spitzköpfe in der [umfangreichsten] Fassung von 1962 ediert. Die Edition einer früheren Fassung von 1934 sowie die einer aufführungsgeschichtlich bedeutsamen Bearbeitung durch Børge Roger-Henrichsen sind für einen Band V/3A in Aussicht gestellt.)42 Die Seriengliederung der Notenbände strukturiert sich zum einen nach Besetzung (Serie I–IV), zum anderen für die hinsichtlich der Besetzung nicht einheitlich festgelegten Gruppen der Bühnen- und Filmmusik nach Funktion (Serie V, VI) bzw. nach dem Entwurfscharakter und der Unabgeschlossenheit der Notate (Serie VII) bzw. nach der vermittelten Autorschaft (Serie VIII). Die bislang vorliegenden Notenbände der HEGA (aus den Serien III, IV, V und VI) weisen einen deutlich größeren Umfang der Kritischen Berichte als in EGW auf, was auf die detaillierte Quellenbeschreibung, die differenzierte Quellenkritik – mit der Entscheidung für eine Hauptquelle – und die ausführlichen textkritischen Anmerkungen zurückzuführen ist. Bereits die beiden zuerst erschienenen Bände zeigen, wie unterschiedlich die Quellenlage – auch bei zwei durch ihre Funktion als Bühnenmusik vergleichbaren Kompositionen – bei Eisler tatsächlich sein kann. Für die Edition der Rundköpfe-Musik (HEGA V/3) lagen insgesamt 34 Quellen mit unterschiedlichen Fassungen und Bearbeitungen zwischen 1934 und 1962 vor, wobei in verschiedenen Schichten bestimmter Quellen auch differierende Fassungen enthalten sein können. Ein Hauptproblem bestand dann darin, die Relevanz der zahlreichen Quellen für die zu edierende Fassung kritisch zu bewerten.43 Bei Eislers Musik zu Nestroys Höllenangst (HEGA V/5) handelt es sich dagegen lediglich um eine klar bestimmbare Fassung (für eine Wiener Inszenierung von 1948), die Quellenlage bleibt allerdings zum Teil lückenhaft. (So liegen z. B. zu vielen Nummern keine autographen Partituren vor, sondern lediglich Particell-Skizzen bzw. Klavierfassungen – in manchen Fällen steht sogar die Urheberschaft Eislers in Frage.) Die Edition musste hier teilweise das uneinheitliche Lesarten aufweisende Stimmenmaterial als Referenzquelle heranziehen, um überhaupt einen lückenlosen Notentext herstellen zu können. Auch im ersten erschienenen Schriftenband (HEGA IX/1.1) wird der Edition der Texte konsequent eine Hauptquelle zugrunde gelegt. Dabei wird der edierte Text „gewissermaßen als Momentaufnahme eines work in progress ____________ 42 43
Vgl. die Einleitung, in: HEGA V/3, S. XVI. Zu Problemen der differenzierten Darstellung dieser heterogenen Quellenvielfalt bereits auf der Ebene der Quellensiglierung vgl. Thomas Ahrend, Friederike Wißmann, Gert Mattenklott, Die Hanns Eisler Gesamtausgabe, in: Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis, hrsg. von Helga Lühning (= Beihefte zu editio, Bd. 17), Tübingen 2002, S. 224–229.
Eisler-Editionen
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konstituiert“, und es wird „so weit wie möglich darauf verzichtet, die Unebenheiten in Sprache, Rechtschreibung und Form zugunsten einer bequemen Rezipierbarkeit zu nivellieren“.44
II.
Wirkungen
Die Eisler-Editionen zeigen keine nennenswerten editionspraktischen oder editionswissenschaftlichen Wirkungen. Die zu Lebzeiten entstandenen Ausgaben einzelner Kompositionen sind in unterschiedlichem Maße fehlerhaft. Weder das unkonventionelle Sammlungskonzept der Lieder und Kantaten noch die darin praktizierte Kopplung von Partitur und Klavierauszug scheinen in anderen Editionen Nachfolger gefunden zu haben. Und auch wenn verschiedene Verfahren der Quellenmischung gerade in der Musikedition immer wieder diskutiert werden, so ist doch die vereinheitlichende Editions-„Formel“ der Gesammelten Werke in diesen Diskussionen ohne Folgen geblieben. Die Hanns Eisler Gesamtausgabe steht noch zu sehr am Anfang ihres Projektes, um erkennbare Wirkungen zu zeigen. Allerdings verändern die Eisler-Editionen – neben anderen Faktoren – durchaus das auch durch sie vermittelte Komponistenbild. Bereits zu Lebzeiten wurden in den zum Teil durch politische Konfrontationen, Exil, Krieg und Diktatur voneinander abgetrennten Strängen verschiedener Editionstraditionen unterschiedliche Eisler-Bilder produziert: der Schönberg-Schüler und Arbeiterchor-Komponist bei der Universal Edition; der radikale „Kampfmusiker“ in von Zensur bedrohten Liedblättern und Liederbüchern am Ende der Weimarer Republik und während des Exils; der verdienstvolle „Künstler an der Seite der werktätigen Millionen“ und Nationalpreisträger der DDR, dessen Editionen in den 1950er Jahren der DDR zwischen der Musealisierung und der Aktualisierung von teilweise Jahrzehnte alten Kompositionen schwankten. Alle diese Bilder wurden vom Komponisten zum Teil mitverantwortet und – im Rahmen der durch die jeweiligen äußeren Bedingungen gegebenen Möglichkeiten – inszeniert. Die drei Notenbände der Gesammelten Werke ab 1977 stellen „avancierte“ Kompositionen in den Mittelpunkt und differenzieren auf diese Weise das – gerade auch in der DDR – verbreitete eingeschränkte Eisler-Bild als „Komponist der Arbeiterklasse“ oder auch als „Komponist der Nationalhymne der DDR“. ____________ 44
Einleitung, in: HEGA IX/1.1, S. XXVII.
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Welche Wirkungen die Editionen der Hanns Eisler Gesamtausgabe auf das Bild des Komponisten haben werden, bleibt abzuwarten. Zu dessen Bereicherung hat sie durch die Edition weiterer zum Teil bislang unveröffentlichter Kompositionen bereits beigetragen.
Ausgaben Eisler, Hanns: Lieder und Kantaten, Leipzig 1956–1966 (LK 1–10) Eisler, Hanns: Gesammelte Werke. Begründet von Nathan Notowicz, hrsg. von Stephanie Eisler und Manfred Grabs im Auftrag der Akademie der Künste der DDR, Leipzig 1968–1983: – Neue deutsche Volkslieder, Chansons, Kinder- und Jugendlieder, hrsg. von Nathan Notowicz. Leipzig 1968 (recte: 1969) (EGW I/18) – Musik und Politik. Schriften 1924–1948, hrsg. von Günter Mayer, Leipzig 1973 (EGW III/1) – Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht. Übertragen und erläutert von Hans Bunge, Leipzig 1975 (EGW III/7) – Lieder für eine Singstimme und Klavier, hrsg. von Manfred Grabs, Leipzig 1976 (EGW I/16) – Komposition für den Film (zusammen mit Theodor W. Adorno), hrsg. von Eberhardt Klemm, Leipzig 1977 (EGW III/4) – Suiten für Orchester Nr. 5 und 6, hrsg. von Eberhardt Klemm, Leipzig 1977 (EGW I/3) – Kammerkantaten, hrsg. von Manfred Grabs, Leipzig 1981 (EGW I/10) – Musik und Politik. Schriften 1948–1962, hrsg. von Günter Mayer, Leipzig 1982 (EGW III/2) – Musik und Politik. Schriften. Addenda, hrsg. von Günter Mayer, Leipzig 1983 (EGW III/3) Eisler, Hanns: Gesamtausgabe, hrsg. von der Internationalen Hanns Eisler Gesellschaft im Zusammenwirken mit Stephanie Eisler und der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Wiesbaden, Leipzig 2002ff.: – Die Rundköpfe und die Spitzköpfe. Bühnenmusik zu dem Stück von Bertolt Brecht, hrsg. von Thomas Ahrend und Albrecht Dümling, Wiesbaden, Leipzig 2002 (HEGA V/3) – Höllenangst. Musik zu der Posse mit Gesang von Johann Nepomuk Nestroy in der Textfassung des Theaters in der Scala, Wien 1948, hrsg. von Peter Schweinhardt, Wiesbaden, Leipzig 2006 (HEGA V/5) – Gesammelte Schriften 1921–1935, hrsg. von Tobias Faßhauer und Günter Mayer unter Mitarbeit von Maren Köster und Friederike Wißmann, Wiesbaden, Leipzig 2007 (HEGA IX/1.1) – Lieder für Singstimme und Klavier, 1917–1922, hrsg. von Julia Rittig-Becker und Christian Martin Schmidt, Wiesbaden, Leipzig 2009 (HEGA III/1) – Briefe 1907–1943, hrsg. von Jürgen Schebera und Maren Köster, Wiesbaden, Leipzig 2010 (HEGA IX/4.1) – Kammersymphonie, hrsg. von Tobias Faßhauer, Wiesbaden, Leipzig 2011 (HEGA IV/6) – Nonette, hrsg. von Thomas Ahrend und Volker Helbing, Wiesbaden, Leipzig 2012 (HEGA IV/7) – Briefe 1944–1951, hrsg. von Maren Köster und Jürgen Schebera, Wiesbaden, Leipzig 2013 (HEGA IX/4.2) – Alternative Filmmusik zu einem Ausschnitt aus The Grapes of Wrath / Filmmusik zu Hangmen Also Die, hrsg. von Johannes C. Gall, Wiesbaden, Leipzig 2013 (HEGA VI/10)
Literaturverzeichnis Ahrend, Thomas: Materialien zur Editionsgeschichte der Lieder und Kantaten von Hanns Eisler, in: Musik in der DDR. Beiträge zu den Musikverhältnissen eines verschwundenen Staates, hrsg. von Matthias Tischer, Berlin 2005, S. 238–259 Ahrend, Thomas: „Andre Sprache könnt ihr nicht verstehn“. Hanns Eislers Melodie zu Resolution, in: „Vom Erkennen des Erkannten“. Musikalische Analyse und Editionsphilologie. Festschrift
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für Christian Martin Schmidt, hrsg. von Friederike Wißmann, Thomas Ahrend und Heinz von Loesch, Wiesbaden [u. a.] 2007, S. 425–439 Ahrend, Thomas, Friederike Wißmann und Gert Mattenklott: Die Hanns Eisler Gesamtausgabe, in: Musikedition. Mittler zwischen Wissenschaft und musikalischer Praxis, hrsg. von Helga Lühning (= Beihefte zu editio, Bd. 17), Tübingen 2002, S. 223–233 Brecht, Bertolt: Zum Geleit, in: Hanns Eisler, Lieder und Kantaten 1, Leipzig 1956 (LK 1), S. [V] Faßhauer, Tobias: Bericht über die Entstehung eines Eisler-Textes, in: Eisler-Mitteilungen 35 (Juni 2004), S. 10–13 Grabs, Manfred: Hanns Eisler – Werk und Edition. Eine Dokumentation (= Arbeitshefte der Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik 28), Berlin 1978 Grabs, Manfred: Hanns Eisler. Kompositionen – Schriften – Literatur. Ein Handbuch, Leipzig 1984 Hinterthür, Bettina: Noten nach Plan. Die Musikverlage in der SBZ/DDR – Zensursystem, zentrale Planwirtschaft und deutsch-deutsche Beziehungen bis Anfang der 1960er Jahre, Stuttgart 2006 Mattenklott, Gert, Bernd Pachnicke und Christian Martin Schmidt: Zwischen Forschung und Edition. Die Hanns Eisler Gesamtausgabe. Gegenwärtiger Stand und Ausblick. Bernd Pachnicke im Gespräch mit Gert Mattenklott und Christian Martin Schmidt, in: Eisler-Mitteilungen 35 (Juni 2004), S. 14–19 Mayer, Günter (Hrsg.): Hanns Eisler der Zeitgenosse. Positionen – Perspektiven. Materialien zu den Eisler-Festen 1994/95, Leipzig 1997 Mayer, Günter: Vom Querstand zum Höchststand. Erfahrungen mit der Edition der Schriften Eislers, in: Eisler-Mitteilungen 35 (Juni 2004), S. 8f. Meyer, Ernst Hermann: Vorwort, in: Hanns Eisler, Lieder und Kantaten 1, Leipzig 1956 (LK 1), S. [V]–[VII] Phleps, Thomas: Neue Standards bei der HEGA, in: Eisler-Mitteilungen 53 (April 2012), S. 3f. Schebera, Jürgen: Hanns Eisler. Eine Biographie in Texten, Bildern und Dokumenten, Mainz [u. a.] 1998
Wolfgang Horn
Denkmälerausgaben
I.
Einleitung
Nahezu jedes ansehnliche Relikt der Vergangenheit kann als „Denkmal“ angesprochen werden. Unterscheidende Kraft gewinnt der Begriff erst durch nähere Bestimmungen. In erster, bewusst grober und im Einzelnen zu befragender Näherung sei hier als „musikalisches Denkmal“ jedes Werk verstanden, dem historische Bedeutsamkeit zugesprochen wird. Werden solche Denkmäler in mehr oder weniger planvoll strukturierten Reihen publiziert, dann spricht man von „Denkmälerreihen“. Unter diesen Begriff sind auch die Gesamtausgaben zu subsumieren. In Gesamtausgaben werden sämtliche Werke eines bestimmten Komponisten nach überprüfbaren Grundsätzen in Partitur gebracht. Die erhaltenen Quellen werden verzeichnet und diskutiert; dabei wird begründet, welche Quelle(n) dem Ausgabentext als Vorbild diente(n). Denkmälerausgaben teilen die formalen Standards und den wissenschaftlichen Anspruch des Edierens mit den Gesamtausgaben. Wie diese beruhen sie auf der Sichtung und Bewertung aller relevanten Quellen, folgen explizit vorgegebenen Editionsrichtlinien und geben in einem „Kritischen Bericht“ Rechenschaft über das Verhältnis des gedruckten Notentextes zum Erscheinungsbild und „Wortlaut“ der Quellen. Ein einführender Text zum historischen, zumeist schaffensbiographischen oder gattungsgeschichtlichen Umfeld der edierten Musik kommt in der Regel hinzu. Diese grundsätzliche Gemeinsamkeit spricht der Titel des Katalogs einer Ausstellung an, in der die Arbeit an den Gesamtausgaben von Lasso bis Schönberg und Hindemith dargestellt wurde: „Klingende Denkmäler. Musikwissenschaftliche Gesamtausgaben in Deutschland“.1 Aufgrund des eindeutig bestimmbaren Prinzips ihrer Werkauswahl werden die Gesamtausgaben in der vorliegenden Publikation in je eigenen Abschnitten behandelt. Im Folgenden geht es deshalb primär um Denkmälerreihen im Sin____________ 1
Im Auftrag der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, vertreten durch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, hrsg. von Klaus Döge, Ulrich Krämer und Salome Reiser für die Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Mainz 2007.
Denkmälerausgaben
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ne von planvoll strukturierten, in gedruckter Form vorliegenden Publikationsreihen musikhistorisch bedeutsamer Werke unter (weitgehendem) Ausschluss von Gesamtausgaben. Der Beitrag berücksichtigt nicht die neuesten Entwicklungen von Online-Editionsprojekten; ein prominentes Beispiel wäre das Projekt „CMME“, „Computerized Mensural Music Editing“ (CMME).2 Auf die vom Objektbereich her sinnvolle und natürlich beabsichtigte Nähe der Abkürzung CMME zum gedruckten CMM (vgl. unten, Abschnitt VIII) sei besonders hingewiesen; man könnte sie (inoffiziell) auch auflösen als „Corpus Mensurabilis Musicae Electronicum“. Auch andere aktuelle Entwicklungen im Bereich des digital gestützten Edierens, womit mehr gemeint ist als die heute selbstverständliche Nutzung von Computernotensatz, werden hier ausgespart; ein Beispiel wäre etwa das Projekt „EDIROM. Digitale Musikedition“.3 Zu den neuartigen Eigenschaften von EDIROM gehört die Möglichkeit, den editorisch behandelten Notentext auf dem Bildschirm simultan mit dem Notenbild der zuvor „kartographierten“ Quelle(n) darzustellen und darüber hinaus direkt mit Anmerkungen, Textquellen oder Bildmaterial zu verknüpfen. Dieses Verfahren wird bislang primär in Komponistenausgaben (Carl Maria von Weber, Max Reger) genutzt; im Bereich der Denkmälerausgaben macht davon vor allem das gattungsspezifische Projekt „OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen“ (seit 2009)4 ausgiebigen Gebrauch. In welchem Maße und in welcher Weise die neuen Techniken das Editionswesen verändern werden, ist schwer zu prognostizieren. Dasselbe gilt für weitere sog. Hybridprojekte, in denen Druckpublikationen mit virtuellen Komponenten verknüpft werden sollen, die im Internet als komplex strukturierte Datenbanken angelegt werden. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Beschreibung des Vorhandenen und begnügt sich mit diesen kurzen Hinweisen auf neue Entwicklungen und Ideen. Unberücksichtigt bleiben im Folgenden schließlich auch Editionsreihen (ob gedruckt oder elektronisch), die ausschließlich auf Theoretikertexte gerichtet sind. Sie werden zwar in Lexika gelegentlich unter den Denkmälerreihen angeführt; die Edition von Sprachtexten aber stellt andere Probleme als die Edition von Notentexten. Denkmälerreihen bilden neben den Gesamtausgaben den Grundstock philologisch anspruchsvoller Editionen. Man findet insbesondere in den englischsprachigen Lexika keine separaten Artikel (allenfalls ein verweisendes Stichwort) über „Denkmäler“. In der Enzyklopädie The New Grove Dictionary of ____________ 2 3 4
Weitere Informationen unter www.cmme.org. Weitere Informationen unter www.edirom.de. – Vgl. hierzu auch im vorliegenden Band den Beitrag Zur Idee und Geschichte einer Weber-Gesamtausgabe, S. 424ff. Weitere Informationen unter http://www.opera.adwmainz.de.
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Music and Musicians (Erste Ausgabe, 1980) sind die wissenschaftlich bedeutsamen Ausgaben unter dem Stichwort „Editions, historical“ in großer Ausführlichkeit verzeichnet; die Gliederung des Artikels lautet: „1. Introduction. 2. Single-composer complete editions. 3. Other collected editions. 4. Collected editions of theoretical works. 5. Anthologies: (i) Extended (ii) Small vocal (iii) Small instrumental (iv) Small general“.5 In der 2. Ausgabe, erschienen 2001, ist unter dem genannten Stichwort nur ein knapper einführender Text zu finden;6 die Liste der Ausgaben ist separat abgedruckt in Bd. 29 („Appendixes“); sie umfasst knapp 30 Seiten im Kleindruck.7 Da auch sonst an bibliographischen Handbüchern und lexikalischen Listen kein Mangel herrscht, kann der vorliegende Text selektiv verfahren. Zu illustrieren ist, was mit dem Namen des „Denkmals“ in einem nachdrücklichen Sinn des Wortes assoziiert werden kann, wann der Gedanke aufkam, musikalische „Denkmäler“ in editorischen Großprojekten zu publizieren und auf welchen Überlegungen die Auswahl der schließlich veröffentlichten Werke beruhen kann.
II.
Zum Ursprung des „Denkmäler“-Gedankens
Mögen wir heute den Denkmal-Begriff in erster Linie mit dem Bereich der Skulptur verbinden, so entspricht dies nicht seiner etymologischen Herkunft. Ein Zeichen oder Mal, das zum Gedenken einlädt, ist mit dem lat. Wort „monumentum“ verbunden, das seinerseits mit dem Verb „monere“ („mahnen, erinnern“) zusammenhängt. Die Anwendung des Begriffs auf den Bereich geistiger Produktion zeigt sich in einem geflügelten Wort des Horaz: Der Poet habe mit seinen Dichtungen ein „Denkmal“ errichtet, das „dauerhafter als Erz“ sei („Exegi monumentum aere perennius“; Oden, III, 30, 1), mithin den Nachruhm des Dichters gewährleisten könne: „non omnis moriar“ (ebd., 6). Einen ähnlichen Gedanken äußert im 15. Jahrhundert Johannes Tinctoris im Hinblick auf Komponisten; in seiner Schrift Complexus effectuum musices (um 1472– 1475) spricht er vom „ewigen Ruhm“ als Resultat der „virtus“ großer Komponisten, zu denen er etwa John Dunstable, Guillaume Dufay, Gilles Binchois, Antoine Busnois, Johannes Ockeghem und Jacob Obrecht zählt.8 Die Rede ____________ 5 6 7 8
Bd. 5, S. 848–869; das Zitat der Gliederung gemäß S. 848. Vgl. Bd. 7, S. 895–898. Vgl. Bd. 28, S. 169–196 sowie die bibliographischen Hinweise im Anhang dieses Beitrags unter Nummer X, 2b. „Wer zollt ihnen nicht höchstes Lob! Ihre Kompositionen sind in der ganzen Welt bekannt“; andere (scl. nicht komponierende) Musiker genießen Ansehen nur bei den Zeitgenossen. „Aber mit dem unsterblichen Ruhm, den die Genannten errungen haben, ist dies in keiner Weise zu
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vom „opus perfectum et absolutum“ als Produkt kompositorischen Schaffens in einer 1549 gedruckten Schrift des lutherischen Magisters Nicolaus Listenius schließlich bezeugt in griffiger Formulierung die Ansicht, dass gestaltete Musik nicht im flüchtigen Erklingen vergeht, sondern – partiell, aber in wesentlichen Zügen – durch Aufzeichnung fixierbar ist, die zum Substrat potentiellen Nachruhms werden kann.9 Die Bewahrung und Verbreitung von Notentexten lag zunächst in der Hand von kirchlichen oder weltlichen Institutionen und deren Schreibern; unter den seit 1501 zunehmend aufkommenden Drucken finden sich bereits früh einzelne Ausgaben mit monumentalem Charakter – erinnert sei nur an den großen Motetten- und Madrigaldruck mit dem Titel Musica Nova, der 1559 zu Ehren Adrian Willaerts veranstaltet wurde,10 oder an die posthume, 516 Motetten umfassende Sammlung Magnum opus musicum, die die Söhne Orlando di Lassos 1604 im Gedenken an ihren zehn Jahre zuvor gestorbenen Vater als Denkmal errichteten. Ferdinand und Rudolph di Lasso hofften mit der Herausgabe dieser Werke nicht nur, den Verehren von Orlandos Musik einen Dienst zu erweisen, sondern „simulque gloriae parentis nostri consuli posse“, also einen Beitrag zum Nachruhm ihres Vaters leisten zu können.11 Freilich blieben solche frühen Denkmäler vereinzelt, und ihre Ergebnisse waren vergänglich. Die genannten Drucke kannte wenige Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen niemand mehr. Es fehlten nicht nur die neuzeitlichen Marktbedingungen; es fehlte vielmehr eine Denkweise, die das Denkmal nicht mehr nur als einen Akt der persönlichen Ehrung und des Interesses an einem noch aktuellen Stil zu betrachten erlaubte, sondern die individuelle Leistung in eine ____________
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11
vergleichen. Es [das Ansehen] ist eine Frucht des [vergänglichen] Zufalles, während [der Ruhm] durch persönliche Tüchtigkeit, durch virtus, erworben wird“ (es folgt ein Verweis auf Vergil, Aeneis, Buch X; deutscher Text nach der synoptischen Edition bei Thomas A. Schmid, Der „Complexus effectuum musices“ des Johannes Tinctoris, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 10 [1986], S. 121–160, hier: S. 157). Listenius schreibt an einer vielzitierten Stelle, deren Interpretation im gegebenen Kontext unstrittig ist: [Musica poetica] „[c]onsistit […] in faciendo sive fabricando, hoc est, in labore tali, qui post se etiam artifice mortuo opus perfectum & absolutum relinquat“ (Musica Nicolai Listenii ab authore denuo recognita multisque novis regulis et exemplis adaucta. Norimbergae apud Johan. Petreium. Anno 1549. Im Faksimile herausgegeben mit einer Einführung von Georg Schünemann [= Veröffentlichungen der Musik-Bibliothek Paul Hirsch, Frankfurt am Main, Bd. 8], Berlin 1927), fol. a3v. Kurz zuvor ist davon die Rede, dass nicht nur eine „Musica“ (worunter man auch einen Traktat verstehen könnte), sondern auch ein „musicum carmen“ den Charakter eines „opus“ habe. Vgl. Richard J. Agee und Jessie Ann Owens, La stampa della “Musica Nova” di Willaert, in: Rivista Italiana di Musicologia 24 (1989), S. 219–305. Die Musik ist ediert in CMM 3, Bd. 5 (Motetten) und Bd. 13 (Madrigale). Aus der Widmungsvorrede des Magnum opus musicum, zitiert nach dem Faksimile in: Orlando di Lasso, […] Motetten I (Magnum opus musicum, Teil I), […] neu hrsg. von Bernhold Schmid (= Orlando di Lasso, Sämtliche Werke, Zweite […] revidierte Auflage, Bd. 1), Wiesbaden [u. a.] 2003, S. XXXIII.
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„geschichtliche“ Leistung übersetzte, an die man sich erinnern sollte – nicht nur deshalb, weil es das Gedächtnis eines großen Mann zu bewahren galt, sondern auch, weil „die“ Geschichte als solche der Erinnerung würdig sei. Die Konzeption von Denkmälerausgaben in dem hier zu behandelnden Sinne setzt also ein historisches Bewusstsein voraus: das Bewusstsein, dass die je heutigen Verhältnisse eine relevante Vergangenheit in sich tragen und nicht lediglich in ihrer Position an der Spitze eines fortschreitenden Werdens interessieren dürfen. Man findet sich deshalb in die Zeit vor und nach 1800 verwiesen. In der Tat sind mit die ersten umfassenden Denkmälerpläne bei Johann Nikolaus Forkel, einem der ersten Historiographen der Musik im neuzeitlichen Sinne, zu finden, der 1792 einen ersten großen Entwurf vorstellte. Um 1800 sollte er in Zusammenarbeit mit dem Wiener Musikliebhaber Joseph von Sonnleithner in die Tat umgesetzt werden. In Prospekten war das Unternehmen mit dem folgenden Titel angekündigt: „Geschichte der Musik in Denkmälern von der ältesten bis auf die neueste Zeit […]. Nach einem historischen Plane des Herrn Forkel, Doctors und Musikdirectors zu Göttingen, unter der Leitung des Herren Georg Albrechtsberger, Kapellmeisters an der Domkirche zum heil. Stephan zu Wien; Joseph Haydn, Doktors der Musik und Kapellmeisters des Herrn Fürsten Esterhazy; Anton Salieri, k. k. ersten Hofkapellmeisters. Herausgegeben von Joseph Sonnleithner“.12 Der Plan des Werkes war zunächst in die drei Stile für Kirche, Kammer und Theater, danach dann jeweils in die zugehörigen Gattungen ohne nationale Beschränkungen gegliedert. Der erste Band ist nur bis zu den Druckfahnen gediehen; kurz vor seinem geplanten Erscheinen scheiterte das Vorhaben an den ungünstigen Zeitumständen. Die erhaltenen Materialien lassen immerhin erkennen, dass dieses Unternehmen schon den Grundsätzen späterer Reihen folgen wollte: „Nachweis der Quellen mit dem Ziel eines musikalischen Gesamtkatalogs, planmäßige Auswahl der ,Denkmäler‘ und mustergültige Editionstechnik“.13 Um dieselbe Zeit erwachte auch das Interesse an der geistlichen Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts, das zwar namentlich in Italien nie ganz erloschen war, nördlich der Alpen aber – auch im Zusammenhang mit der Wirkung des katholischen Kultus auf einige Dichter der Romantik – als eine Art Renaissance der Renaissancemusik empfunden wurde und bald zu Plänen führte, diese Musik in neuen Ausgaben wieder zu erschließen. Dies geschah lange vor ____________ 12
13
Zit. nach Max Schneider, „Denkmäler der Tonkunst“ vor hundert Jahren, in: Festschrift zum 90. Geburtstage Sr. Exzellenz des Wirklichen Geheimen Rates Rochus Freiherrn von Liliencron, überreicht von Vertretern deutscher Musikwissenschaft, Leipzig 1910, S. 278–289, hier S. 280. Ebd., S. 289. Vgl. auch Axel Fischer, Das Wissenschaftliche der Kunst. Johann Nikolaus Forkel als Akademischer Musikdirektor in Göttingen, Göttingen 2015, S. 486–496.
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der institutionellen Verfestigung der unter dem Namen „Caecilianismus“ bekannt gewordenen Bewegung in dem 1868 gegründeten, noch heute existierenden „Allgemeinen Caecilien-Verband“. Unter den frühen Texten, die eine Rückbesinnung auf die alte Kunst forderten, war die 1824 erstmals erschienene, vielfach wieder aufgelegte Schrift Über Reinheit der Tonkunst des Heidelberger Juristen Anton Friedrich Justus Thibaut besonders einflussreich. Diese Gesinnung führte bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu bedeutenden editorischen Leistungen, die in den Reihen Musica Divina (4 Bände, 1853–1863 [posthum]) und Selectus Novus Missarum (2 Bände, 1856– 1861) des in Regensburg wirkenden Kanonikers Carl Proske (1794–1861) kulminierten. Der Boden für die 1862 einsetzende Gesamtausgabe der Werke von Giovanni Pierluigi da Palestrina war damit gut vorbereitet. In all diesen Ausgaben verband sich historisches Interesse mit – zuweilen wohl vorrangigen – liturgischen Reformbestrebungen, also mit einem relativ gut bestimmbaren praktischen Zweck. Schwieriger zu fassen ist dagegen der Zweck nationaler Denkmälerausgaben; vage könnte man sagen, dass sie – unter anderem – einen Beitrag leisten sollten zur Stiftung nationaler Identität durch Rückbesinnung auf kulturelle Güter der „eigenen“ Vergangenheit. Dieser Gedanke kann freilich weit ausgelegt und vielen Verhältnissen angepasst werden, und so mag seine geschichtliche Karriere gerade in der Unbestimmtheit begründet sein, als deren Kehrseite seine Bestimmbarkeit durch wechselnde Merkmale und Interessen erscheint. Da das historische Bewusstsein auch in „Deutschland“, das zu einem Nationalstaat erst noch werden sollte, wesentlich auf die Erforschung und Dokumentation der „eigenen“ Geschichte gerichtet war, lässt sich die Verbindung des geschichtsträchtigen Denkmälergedankens mit einer dezidiert nationalen Komponente schon recht früh greifen. Der jung verstorbene Dichter Franz Alexander von Kleist (1760–1797) publizierte 1791 in der „Deutschen Monatsschrift“ ein vielstrophiges hymnisches Poem auf die deutschen Dichter von Luther bis Lessing, dem er den Titel „Denkmal Deutscher Dichter und Dichterinnen“ gab, dem weitere „Denkmäler“ folgen sollten. In der „Vorerinnerung“ heißt es: Der Zweck dieser Denkmäler ist: Vaterlandsliebe zu verbreiten, – des Dichters heiligste Pflicht, – und durch Darstellung berühmter Männer und historischer Begebenheiten, wo möglich, den noch immer schlummernden Nationalstolz der Deutschen zu wecken. Systematische Geschichte erreicht diesen Zweck nicht ganz […].14 ____________ 14
Deutsche Monatsschrift 1 (März 1791), S. 233–257, hier S. 233; als Digitalisat. Weitere Informationen unter www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/deumonat. Man könnte in diesem Zusam-
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Eine frühe musikalische Denkmälerausgabe, die nichts mit Deutschland, aber viel mit einem jungen Nationalstaat zu tun hat – dem im Jahre 1830 gegründeten Königreich Belgien –, weist genau in diese Richtung: Robert-Julien van Maldeghem (Hrsg.), Trésor musical. Collection authentique de musique sacrée & profane des anciens maîtres belges, recueillie et transcrite en notation moderne, 29 Bände, Brüssel 1865–1893.15 Die Skepsis des Dichters Kleist gegenüber der Geschichtswissenschaft war ihrer Zeit insofern voraus, als die zentrale nationale Reihe, in der Urkunden und relevante Texte zur deutschen Geschichte systematisch erschlossen und publiziert wurden, unter dem Titel Monumenta Germaniae Historica erst geraume Zeit später, im Jahre 1819, begründet wurde. Dieser Titel bezeichnet treffend die Verbindung von Denkmäleredition und nationaler Geschichte, wobei es an der Funktion nichts ändert, dass es hier um Rechts- und nicht um Kunstdenkmäler literarischer, bildnerischer oder eben musikalischer Natur ging. Ob man Denkmäler nüchtern analysiert, sie schwärmerisch verklärt oder sie politisch instrumentalisiert – das ist eine Frage der Einstellung und dem Denkmalbegriff als solchem noch nicht oder allenfalls tendenziell inhärent. Die Gründung und kontinuierliche Realisierung von Denkmälerreihen erfordert freilich nicht nur Interesse, sondern auch einen erheblichen organisatorischen Aufwand, der in einem Streben nach „Institutionalisierung“ solcher Reihen resultierte. Einige typische Konstellationen im Umkreis von Denkmälereditionen werden im Folgenden vorgestellt.
III.
Die „nationale“ Denkmälerausgabe als wichtiger Typus im 20. Jahrhundert
Denkmälerreihen waren stets Großprojekte. Die im 19. Jahrhundert zunehmende Verbindung mit dem Gedanken einer Sicherung nationaler kompositorischer Traditionen bereitete den Boden für die staatliche Förderung solcher Unternehmen, die schon allein deswegen notwendig war, weil die historische Bedeutung von Werken kein Verkaufsargument ist. Und auch wenn – aus Enthusiasmus, Kalkül oder Not – einzelne Reihen ohne öffentliche Subventionierung ausgekommen sein mögen, so führte dies in der Regel doch zu Abstri____________
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menhang auch Goethes überschwänglichen Text Von deutscher Baukunst aus dem Jahre 1772 lesen, in dem es in einem an Erwin, den „Baumeister“ des Straßburger Münsters, gerichteten Ausruf zwar heißt: „Was braucht’s dir Denkmal! und von mir!“, aber nur deshalb, weil das Münster als Denkmal fungiert, das durch Worte nicht übertroffen werden kann. Detaillierte Inhaltsangabe bei Gustave Reese, Maldeghem and His Buried Treasure, in: Notes 6 (1948/49), S. 75–117.
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chen: eine für die Gesamtreihe zuständige und qualitätssichernde Redaktion fiel weg, die Qualität der Editionen oder wenigstens des Druckbildes konnte Schwankungen unterliegen, in die Auswahl der zu edierenden Werke flossen ökonomische Überlegungen ein, und schließlich war beim Fehlen einer tragenden Institution die Kontinuität des Erscheinens nicht leicht zu gewährleisten. Die Stunde der nationalen Denkmälerreihen war Ende des 19. Jahrhunderts gekommen. Politische Entwicklungen mögen dazu ebenso beigetragen haben wie der Entwicklungsstand der musikgeschichtlichen Kenntnisse, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung genommen haben. Man sollte sich davor hüten, die nationale Orientierung der Reihen, die kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert ins Leben gerufen wurden, primär auf nationalistische oder gar chauvinistische Motive zurückzuführen.16 Eine Parallelisierung der preußisch-deutschen Denkmälergründung und der ungefähr gleichzeitigen Flottenpolitik Wilhelms II. in entlarvender Absicht ergäbe eine billige Pointe und würde dem hier ausgeschlossenen, dort propagierten Kooperationsgedanken in keiner Weise gerecht. Hermann Kretzschmar, der u. a. eine wichtige Leitungsfunktion in der Frühgeschichte der Denkmäler deutscher Tonkunst innehatte, spricht in zeitgebundener Weise durchaus auch den pragmatischen Grund der gesteigerten Effizienz durch Arbeitsteilung an. In der Tat waren in Zeiten geringerer Mobilität und medialer Austauschmöglichkeiten die räumliche Nähe zu den Quellen und die (auch heute noch) oft erforderliche muttersprachliche Kompetenz gewichtige Faktoren. Dass es darüber hinaus bewahrenswerte nationale Traditionen gibt, ist für Kretzschmar selbstverständlich; aggressive Beiklänge kann man seinen Ausführungen aber gewiss nicht nachsagen, wenn er schreibt: Die Engländer haben zuerst mit Gesamtausgaben und mit umfassenden nach Gattungen ordnenden Sammelwerken größere, für bestimmte Zwecke bis heute bewährte Methoden geschaffen. Daß aber die Arbeit äußerlich und innerlich gesichert wurde, verdanken wir dem Vorgehen Chrysanders. In seinen „Denkmälern“ der Tonkunst hat er den Gesichtspunkt gegeben, von dem aus die Schätze alter Tonkunst gewählt werden müssen.17 Die Werke, die einst die Geschichte bestimmt haben, sind ____________ 16
17
Dasselbe gilt in verstärktem Maße für die zahlreichen Reihen auf „sub-nationaler“, regionaler Ebene, von denen die Denkmäler norddeutscher Musik (seit 1965) oder die Denkmäler der Musik in Salzburg (seit 1977; Katalog unter www.uni-salzburg.at/pls/portal/docs/1/ 544209.pdf) beispielhaft genannt seien; Vieles zu den nationalen Denkmälern Gesagte gilt mutatis mutandis auch für diese Reihen. Gemeint ist die Reihe Denkmäler der Tonkunst, die von Friedrich Chrysander (1826–1901) in den Jahren 1869–1871 herausgegeben wurde. Die insgesamt sechs Bände der Reihe boten Motetten von Giovanni Pierluigi da Palestrina, Oratorien von Giacomo Carissimi, Triosonaten von Arcangelo Corelli, Clavierwerke von François Couperin, ein Te Deum von Francesco An-
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auch heute die natürlichen und gegebenen Träger der Neuwirkung. Der Spanier Eslava gab diesem Grundsatz die zeitgemäße Wendung: die Arbeitsteilung nach nationalem Prinzip. Damit ist die Geschichte der Neuausgaben in eine Periode des Wettstreits zwischen den Völkern, eines edlen, von der Liebe zu Heimat, Stamm und Vaterland beseelten Partikularismus eingetreten, der die Kraft der Bewegung verdoppeln muß. Franzosen, Italiener, Deutsche errichten musikalische Denkmäler; um die Arbeit zu beschleunigen, lösen sich von den größeren Gruppen kleinere ab, den Italienern schreiten die Spanier zur Seite, den Deutschen die Österreicher sogar voran.18
Die zuletzt angesprochenen Denkmäler der Tonkunst in Österreich, eine bis heute produktive Reihe – 2013 ist Band 156 mit dramatischen Sakralwerken von Antonio Bertali (1605–1669) erschienen –, sind in ihrer Entstehung gut erforscht19 und durch ein bis zu Band 120 reichendes gedrucktes Kompendium20 übersichtlich erschlossen. Der Gründer der Reihe, Guido Adler (1855– 1941), hat 1918 einen Bericht publiziert mit dem Titel Zur Vorgeschichte der „Denkmäler der Tonkunst in Österreich“. (Anläßlich ihres 25-jährigen Bestandes),21 in dem das Verhältnis von Staat und Musikforschung so dargestellt wird: Die Organisation der Denkmäler war […] in der Hauptrichtlinie durch das Ministerialdekret vom 17. Oktober 1892 bestimmt: „Die Denkmäler sind keinesfalls als eine offizielle Publikation der österreichischen Regierung anzusehen, sondern lediglich eine aus staatlichen Mitteln subventionierte wissenschaftliche Arbeit“. Die „Denkmäler“ waren demnach auf private Organisation angewiesen.22 ____________
18
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tonio Urio (von Händel als Quelle für „borrowing“ verwendet) und schließlich Kammerduette von Agostino Steffani. Hermann Kretzschmar, Die Denkmäler der Tonkunst in Österreich, in: ders., Gesammelte Aufsätze über Musik und Anderes, Bd. 2: Gesammelte Aufsätze aus den Jahrbüchern der Musikbibliothek Peters, Leipzig 1911, S. 89–99, das Zitat: S. 89f.; zuerst gedruckt in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1899, 6. Jahrgang, hrsg. von Emil Vogel, Leipzig 1900, S. 53– 63; mit kleinen Änderungen nachgedruckt in: Studien zur Musikwissenschaft. Beihefte der Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Bd. 5 (1918), S. 22–26. Vgl. Elisabeth Theresia Hilscher, Denkmalpflege und Musikwissenschaft. Einhundert Jahre Gesellschaft zur Herausgabe [ergänze: von Denkmälern] der Tonkunst in Österreich (1893– 1993) (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft, Bd. 33), Tutzing 1995. Max Schönherr, Kompendium zur Publikationsreihe Denkmäler der Tonkunst in Österreich: Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Band 1–120 (einschließlich Das Erbe deutscher Musik, II. Reihe, 1. Bd.), (= Studien zur Musikwissenschaft (Beihefte der DTÖ), Bd. 1–27), Graz 1974. Eine Besonderheit der DTÖ wie auch anderer Denkmälerausgaben ist das (zumindest anfängliche) Erscheinen in Jahrgängen; erst ab Bd. 85 fiel die letztlich nur verwirrende Jahrgangszählung weg. Da sie zur Identifikation der Bände nichts beiträgt, erscheint ihre bibliographische Nichtberücksichtigung legitim. In: Studien zur Musikwissenschaft. Beihefte der Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Bd. 5 (1918), S. 9–21. Ebd., S. 19.
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Zu dieser staatlich subventionierten, aber nicht-staatlichen Organisation gehörte die Gründung einer „Gesellschaft zur Herausgabe von Denkmälern der Tonkunst in Österreich“, die die staatlichen Subventionen in Empfang zu nehmen und zweckgerichtet einzusetzen hatte, so dass derartige Unternehmungen zwar keinen offiziellen, aber doch einen offiziösen Anstrich hatten. Ähnliche Kommissionen gab und gibt es auch bei anderen Reihen. Die Subventionierung der österreichischen Gesellschaft endete im Jahre 1987;23 die Subventionierung des deutschen Pendants mit dem Namen Das Erbe deutscher Musik endete mit dem Jahr 2007. Die regelmäßige, nicht stets erneut mit großem Aufwand einzuwerbende finanzielle Unterstützung förderte Kontinuität und Niveau der Publikationsreihen. Ob sich beides nach Änderung der Rahmenbedingungen bewahren lässt, wird man erst in einigen Jahren beurteilen können. Anders als bei Reihen mit weit gespannter Thematik, die niemals staatliche Subventionen bekommen haben, könnte die vorgegebene Einengung des Repertoirebereichs eine Bewährung der nationalen Denkmälerreihen auf dem freien Markt erschweren.
IV.
Ein exemplarischer Fall: Die Denkmäler deutscher Tonkunst
Da Denkmälerausgaben selbst ein historisches Phänomen darstellen, sind sie nicht unter einen eindeutig und eng definierbaren Begriff subsumierbar. Immer spielen auch besondere Begleitumstände mit herein, die von Reihe zu Reihe verschieden sind. Betrachtet sei deshalb ein konkretes Beispiel: die Reihe Denkmäler deutscher Tonkunst (im Folgenden oft abgekürzt: DDT) mit der Nachfolgereihe Das Erbe deutscher Musik (EdM). Da in der Häufung solcher Beschreibungen kein grundsätzlicher Erkenntnisgewinn läge, werden in der Folge nur noch Reihen anderen Zuschnitts betrachtet. Die Denkmäler deutscher Tonkunst sollen hier nicht als Vorbild, sondern als methodisch legitimiertes Exempel fungieren. Eine Auswahl von Titeln anderer nationaler Reihen findet sich im Anhang des vorliegenden Beitrags. Zudem sollen primär der erste Band und das Prinzip der Repertoireauswahl, nicht aber die politischen und persönlichen Begleitumstände besprochen werden. Diese Konzentration ist auch deshalb möglich, weil Vorgeschichte und Geschichte der DDT – wie ____________ 23
In diesem Jahr wurde „die bis dahin stets vom Staat gewährte jährliche Basissubvention eingestellt […]. Einzelförderungen von staatlicher Seite und durch den Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung ermöglichten die Arbeit an einzelnen Bänden“ (Theophil Antonicek auf der Seite: www.dtoe.at/Geschichte.php, aufgerufen im April 2014). Auf der gut strukturierten Seite finden sich vielfältige Informationen zu den DTÖ.
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auch anderer Reihen – durch Hans Joachim Moser mit einem hohen Anteil von Insiderwissen geschildert worden sind und keiner ausführlichen Wiederholung bedürfen.24 Reihen nationaler Denkmäler bilden einen zentralen Bestand unter den Denkmälerausgaben des 20. Jahrhunderts (die Wurzeln reichen bis ins spätere 19. Jahrhundert zurück). Das hat politisch-ökonomische wie auch geistesgeschichtliche Ursachen. Eine national getönte Argumentation mag dem Zeitgeist entsprochen und zugleich das Fließen staatlicher Gelder befördert haben; sie schließt historiographische Objektivität aber nicht aus. Sätze wie die folgenden können in der Frühzeit nationaler Denkmälerreihen immer wieder begegnen: In der Oper können „Denkmäler deutscher Tonkunst“ nicht umhin, eine Reihe italienischer, für deutsche Bühnen geschriebener Werke vorzulegen, wenn sie nicht das geschichtliche Bild durch die Unterschlagung der Thatsache fälschen wollen, dass wir hier Jahre lang Vasallen gewesen sind. Dem Patriotismus jedoch liegen die Versuche näher, durch welche die Deutschen sich jener Fremdherrschaft zu erwehren und ihr ein eignes, nationales, in Wort und Ton deutsches Musikdrama entgegen zu stellen strebten.25
Die antiquierte Rhetorik besagt sicher etwas über die Weltanschauung ihres Autors, ja darüber hinaus etwas über die mögliche Einbindung von Denkmälern in ein Gedankengespinst, das mit dem Begriff einer sich von anderen abgrenzenden „nationalen Identität“ umschrieben werden kann. Dennoch bleibt die Ausgabenreihe auf dem Boden historiographischer Redlichkeit, insofern eben auch unbequeme Werke nicht unterschlagen werden. Wer sich folglich für die Denkmäler selbst und nicht für die patriotische Befindlichkeit einiger Herausgeber interessiert, wird das Geleistete anerkennen und im Übrigen hoffen, dass spätere Generationen die heutigen Befangenheiten ebenso von etwaigen dauerhaften Leistungen trennen werden, wie es hier im Hinblick auf die älteren nationalen Denkmäler empfohlen wird. Die eingeschränkte Repertoireauswahl nationaler Reihen schließlich wird kompensiert durch die Existenz vieler derartiger Reihen: „das Ganze“ ist zwar nicht Ausgangspunkt, aber doch das Ziel und die Summe der editorischen Planungen. ____________ 24
25
Hans Joachim Moser, Das musikalische Denkmälerwesen in Deutschland (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, hrsg. von der Gesellschaft für Musikforschung, Nr. 7), Kassel und Basel 1952. Zu Mosers Quellen vgl. etwa die Sätze: „Ich selbst bin noch Mitglied der Preußischen Kommission unter Schering gewesen, und vieljährige Duzfreundschaft mit Max Seiffert, der seit 1892 der eigentliche Dauersekretär der DDT gewesen ist, hat mir unschätzbare Aufklärungen zugetragen“ (S. 5f.). Vorwort von Hermann Kretzschmar zur Ausgabe von Ignaz Holzbauers Oper Günther von Schwarzburg (DDT, Bd. 8/9, 1902; Datum der UA: 1777), S. V.
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Nahezu gleichzeitig – 1892 bzw. 1894 – traten am Ende des 19. Jahrhunderts die Denkmäler deutscher Tonkunst (DDT) und die Denkmäler der Tonkunst in Österreich (DTÖ oder DTOe) mit ihrem je ersten Band ans Licht der Öffentlichkeit, beide begleitet von prominent unterzeichneten Geleitworten. Wenn im Folgenden Band 1 der DDT, der wie zu erwarten eine Reihe programmatischer Aussagen enthält, gleichsam exemplarisch im Rahmen des Exempels näher betrachtet wird, so soll damit nicht eine Reihe oder gar ein Band auf Kosten anderer Reihen und Bände profiliert, sondern im Gegenteil das Typische und Übertragbare akzentuiert werden. Der Blick auf das Individuum soll zugleich auf die Gattung verweisen. Was man als „nationales“ Denkmal reklamieren kann, lässt sich ohne große Schwierigkeiten bestimmen, wenn man sich auf den Raum der Überlieferung oder Entstehung von Werken und zudem auf das Zentrum und nicht auf die möglichen Grenzfälle konzentriert. Der Titel der DTÖ ist geschickt und unverfänglich gewählt, weil er von vornherein den Ort der Überlieferung über die nationale Herkunft der Komponisten oder gar die nationale Prägung von Werken stellt. Die DDT dagegen sprechen von „deutscher Tonkunst“.26 Freilich reagiert die womöglich problematische Fügung ihrerseits auf ein bestehendes Problem. War Österreich als Territorium der Habsburger auch zur Zeit des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ ein politisch und geographisch hinreichend klar umrissener und in seiner Identität erkennbarer Kulturraum, so gilt dies für „Deutschland“ vor 1871 nicht in derselben Weise. Bayern oder Hamburg konnten sich etwa im 17. oder 18. Jahrhundert nicht als Teil eines politisch greifbaren „Deutschland“, wohl aber – vermittelt durch eine im Kern identische Muttersprache – als Angehörige der „deutschen Nation“ verstehen, der sich eine „deutsche Tonkunst“ zuordnen ließ. Der Titel will also ____________ 26
Zur gängigen Abkürzung DDT mit drei Großbuchstaben mögen die Bände selbst verleitet haben, in denen der Reihentitel in Versalien gedruckt ist. Doch zeigt die Nennung des Titels im Geleitwort zum ersten Band, dass die Initiatoren an Kleinschreibung des Adjektivs dachten. Dies ist nicht ganz belanglos, da mit der Großschreibung ein Eigenname für eine Entität namens „Deutsche Tonkunst“ postuliert würde, deren Merkmale gewiss nicht leicht anzugeben wären. Dass in The New Grove wie auch in Die Musik in Geschichte und Gegenwart die Abkürzung DDT als „Denkmäler deutscher Tonkunst“ erklärt wird, sei am Rande vermerkt. In den Bänden selbst findet sich am Fuß der Seite jeweils das kleingedruckte Kürzel D. D. T., so dass die heute übliche Abkürzung als ein pragmatischer Kompromiss erscheint. Der Zusatz „1. Folge“, der bei sämtlichen 65 Bänden der DDT erscheint, ist missverständlich und scheint auf eine nicht vollständig realisierte Planung zu deuten. Denn als 2. Folge der DDT sind lediglich die Denkmäler der Tonkunst in Bayern (DTB) erschienen, was nur dann plausibel wäre, wenn es neben einer Zentralreihe mehrere regionenspezifische Reihen hätte geben sollen. Zur Unterscheidung der Reihen genügen die Kurztitel DDT und DTB völlig. Das „Folgen“-Problem darf man wohl ignorieren, zumal die DTB nach einer längeren Unterbrechung seit 1967 wieder erscheinen und unter der Ägide der „Gesellschaft für Bayerische Musikgeschichte“ bis heute produktiv sind.
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der Tonkunst kein „deutsches Wesen“ verordnen, sondern einer historischen Verlegenheit gerecht werden. Unter Leitung einer vom Preußischen Kultusministerium berufenen Kommission, deren Vorsitz renommierte Musikhistoriker innehatten, erschienen von 1892 bis 1931 (mit einer Krisenzeit im Umkreis und Gefolge des Ersten Weltkriegs) insgesamt 65 Bände der DDT; eine von Hans Joachim Moser revidierte Neuauflage erschien von 1957 bis 1961.27 Das Geleitwort des ersten Bandes beginnt mit den Sätzen: Die Werke hervorragender älterer deutscher Tonmeister der Kunst und Kunstwissenschaft von neuem zugänglich zu machen, ist längst als eine Aufgabe unserer Zeit erkannt worden. Die Gesammt-Ausgaben der Werke Johann Sebastian Bachs, Händels, Schützens und Anderer verdanken dieser Erkenntnis ihre Entstehung.
Es sollen „nur Kompositionen deutscher Tonkünstler des XVI., XVII. und XVIII. Jahrhunderts zur Veröffentlichung kommen“, allerdings unter Ausschluss derjenigen, für die früher oder später eine Gesamtausgabe zu erwarten sei; genannt werden Haydn und Gluck. Ein erster Plan wird skizziert: 1)
2) 3)
Komponisten geistlicher und weltlicher Gesangsmusik: Hans Leo Hassler, Samuel Scheidt, Johann Hermann Schein, Andreas Hammerschmidt, Melchior Franck, Adam Krieger, Johann Christoph Bach (der Eisenacher) und Johann Michael Bach. Orgelkomponisten: Die Meister der nordwestdeutschen28 Orgelschule ausschliesslich Buxtehude; ausserdem: Samuel Scheidt, Johann Pachelbel und Johann Gottfried Walther. Komponisten für Clavier und andre Instrumente: Johann Jakob Froberger, Johann Krieger, Johann Kuhnau, Johann Bernhard Bach und Carl Philipp Emanuel Bach.29
Diese Liste, die im Lauf der Jahre erweitert worden ist, verweist auf eine Situation des Mangels als einer wichtigen Voraussetzung für Denkmälerausgaben dieses Zuschnitts. Mittlerweile haben etliche der genannten Komponisten eine Gesamtausgabe erhalten, wie etwa Hassler, Scheidt, Pachelbel, Froberger und C. P. E. Bach. Und der „Rohstoff Denkmal“ wächst nicht nach: Was einmal in akzeptabler Form ediert worden ist, steht für künftige Projekte nicht mehr zur Verfügung. Da die Historiker in Zeiten des Positivismus eine bewundernswer____________ 27 28 29
Bei Zitaten der Neuauflage sollte das ursprüngliche Erscheinungsdatum stets mitgenannt werden, damit der historische Ursprung der jeweiligen Ausgabe erkennbar bleibt. Gemäß den damaligen Grenzen des „Deutschen Reiches“ gehörte dazu auch Hamburg und das gesamte heutige Schleswig-Holstein. Samuel Scheidt, Tabulatura nova für Orgel und Clavier, hrsg. von Max Seiffert (= Denkmäler deutscher Tonkunst, Bd. 1), Leipzig 1892, in Neuauflage hrsg. und kritisch revidiert von Hans Joachim Moser, Wiesbaden [u. a.] 1958, S. [V].
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te Werk- und Quellenkenntnis besaßen, haben sie mit sicherem Griff bedeutsame Werke gewählt. Des Weiteren bezeichnet das kurze Geleitwort die Signifikanz der Werke als Vorbedingung ihrer Aufnahme in die Reihe: Sonst wird planmässig kein Komponist auszuschliessen sein, dessen Werke durch historische und künstlerische Bedeutung ein Anrecht darauf haben, im deutschen Volke weiter zu leben.
Dabei meint das „deutsche Volk“, von dem hier die Rede ist, in Wahrheit jene kleine Minderheit von musikalisch und historisch Interessierten, die sich den Alleinvertretungsanspruch für die kulturellen Interessen des „Volkes“ zuschrieb. Das empirische „deutsche Volk“ konnte sich in seiner überwältigenden Mehrheit für die in den Bänden edierte Musik schon deshalb nicht interessieren, weil es intellektuell wie physisch keinen Zugang zu den Bänden hatte. Heute hat sich das ein wenig gebessert, wenngleich das Optimum nicht erreicht ist: Breitere Schichten haben die Möglichkeit, die erforderliche Vorbildung zu erwerben, und auch die Musikpraxis hat ihr Spektrum ungemein erweitert. In Verbindung mit technischen Fortschritten in der Musikaufzeichnung und -reproduktion erlaubt dies eine durchaus optimistische Prognose: Mag die große Zeit der Erarbeitung von Denkmälerausgaben vorbei sein, so könnte doch die Zeit der breiteren praktischen Nutzung des Erarbeiteten eben erst begonnen haben.30 Das zitierte Geleitwort schließt mit den Sätzen: Das Königlich Preussische Kultusministerium hat die Verwirklichung eines solchen Planes der Herausgabe von „Denkmälern deutscher Tonkunst“ unter Leitung einer von ihm berufenen Kommission und mit Unterstützung der Verlagshandlung Breitkopf und Härtel in Leipzig ins Auge gefasst.
Dadurch wird das für nationale Denkmälerausgaben typische „indirekte“ Engagement des Staates für das Projekt benannt. Unterzeichnet ist der Text von „Martin Blumner. Johannes Brahms. Friedrich Chrysander. Oscar von Hase. ____________ 30
Da Denkmälerbände in der Regel von Bibliotheken nicht verliehen werden, musste man früher die Bände meist „stumm“ studieren; allenfalls konnte man – wenn die Bibliothek es erlaubte – ein Abspielgerät mit Kopfhörern mitbringen. Heute sind zum einen die Abspielgeräte viel handlicher geworden, und zum anderen finden sich viele Denkmälerreihen als Digitalisate im Internet (sofern keine Rechte an Ausgabentext und Notenbild mehr bestehen), so dass der Umgang mit den Noten ungemein flexibel geworden ist. Anstelle der tendenziell unabschließbaren Nennung einzelner Adressen (wie z. B. imslp.org, vifamusik.de oder de.wikisource.org [Artikelname „Denkmäler der Tonkunst“]) sei hier auf das simple Verfahren hingewiesen, einen Reihentitel, ergänzt um das Stichwort „digital“, in eine Suchmaschine einzugeben. Dies führt oft zu den gewünschten Informationen. Auch in OPACs finden sich häufig Verlinkungen mit digitalisierten Volltexten. Dies wird in Zukunft sicher noch zunehmen.
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Hermann von Helmholtz. Heinrich von Herzogenberg. Joseph Joachim. Philipp Spitta. Adolf Tobler. Karl Weinhold.“ Der Eröffnungsband der Reihe, im Geleitwort als „Probeband“ bezeichnet, weist bereits alle Merkmale auf, die die Reihe insgesamt kennzeichnen werden. Der drei Teile umfassende Druck Tabulatura Nova von Samuel Scheidt (Hamburg 1624) ist gewiss ein historisch und künstlerisch bedeutsames Werk. Das eigentliche Band-Vorwort diskutiert in freilich eher untypischer Breite vor allem die Editionsgrundsätze – ein Thema, das üblicherweise im „Kritischen Bericht“ behandelt wird. Der Herausgeber Max Seiffert ist sich der Problematik des Edierens bewusst: Die Neuausgabe ist keine einfache Reproduktion des Originaldruckes. Das alte Gewand reicht doch nicht mehr zu, um die Bedürfnisse unserer Zeit zu decken. Im Folgenden legt der Herausgeber Rechenschaft darüber ab, wie beschaffen sein Verfahren im Einzelnen war.31
Einige Einzelanmerkungen zu speziellen Abweichungen der Ausgabe von der Quelle folgen.32 Mit der Offenlegung seiner Grundsätze, die eine sachliche Kritik ermöglicht, bekennt sich Seiffert zur Wissenschaftlichkeit als Form der Ausgabe. Auf das Inhaltsverzeichnis über den gesamten Band folgt schließlich der Notentext. Auf musikhistorische Erörterungen zum Umkreis des edierten Werkes muss man nicht verzichten. Denn in einer Fußnote des Textes verweist der Herausgeber auf seinen Aufsatz J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler.33 Die Kombination von Noten und Ausführungen zum musikhistorischen Kontext ist sinnvoll, bezeugt sie doch, dass Edieren keine eigenständige und losgelöste Disziplin, sondern ein integraler Teil musikhistorischer Forschung sein sollte. Dabei kann die mediale Trennung – hier der Notenband, dort die Zeitschrift – allenfalls auf den ersten Blick etwas umständlich erscheinen. In jedem Fall ist sie einem Zwang zur Umfangsbeschränkung weit vorzuziehen, der den ohnehin teuren Notenbänden in der Regel auferlegt ist.34 ____________ 31 32 33
34
Ebd., S. IX. In Mosers revidierter Ausgabe um einen „Zweiten Revisionsbericht“ ergänzt. In: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 7 (1891), S. 145–260. In Wahrheit handelt es sich hier um Seifferts Dissertation – eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, dass der Autor 1868 geboren ist; vgl. den Artikel Seiffert, Max von Richard Schaal, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 15, Kassel [u. a.] 2006, Sp. 539f. Dass Seiffert mit 23 Jahren seine Dissertation und mit 24 Jahren den großen Denkmälerband vorlegen konnte, zeugt ebenso sehr von Kompetenz und Schaffenskraft wie von einer Situation der Fülle, von der die Denkmälerausgaben in ihrer Anfangs- und Blütezeit genährt wurden. Vgl. dazu auch die Lösung der DTÖ, zu denen von 1913 an separate Begleitbände erschienen sind; der Titel des ersten Bandes lautet: Studien zur Musikwissenschaft. Beihefte der Denkmä-
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Zeigt so der erste Band der DDT das Niveau an, das Denkmälerausgaben dieses Formats einzuhalten bestrebt sind, so hat dieser prominente Band den Blick auf die Person Scheidts womöglich unabsichtlich verengt: Scheidt genießt als Komponist von Clavier- und Ensemblemusik hohes Ansehen. Bisher unerkannt ist die Bedeutung besonders der späten Vokalwerke […]. Äußere Umstände förderten ihre Marginalisierung: Die gewichtige Neuedition der Tabulatura nova als Eröffnungsband der DDT-Reihe […] verlieh Scheidt rasch das Image eines Orgelkomponisten […].35
Dieser Effekt ist eine Folge des „repräsentativen“ Auswahlprinzips von Denkmälerausgaben, während Gesamtausgaben gerade das Gegenteil bewirken: Bach wurde durch die erste Bach-Gesamtausgabe (1851–1899) als Universalkomponist erst erfahrbar. In den vier Jahrzehnten des Erscheinens der DDT weitete sich die Perspektive der Planungen gegenüber den Ankündigungen im ersten Band. Die Musik für Tasteninstrumente, die in der Planskizze einen bedeutenden Raum einnahm, gewann nicht die Oberhand, wenn auch die Bände mit Musik von Johann Kuhnau (Bd. 4, u. a. die sechs Biblischen Historien enthaltend) und Johann Gottfried Walther (Bd. 26/27)36 einiges Gewicht haben. Bezeichnend wurde jedoch die Konzentration auf größer besetzte Musik, sei es für den Gottesdienst oder für die Bühne; vereinzelt ist auch an „Hausmusik“ und „Kammermusik“ im älteren, Vokalmusik einschließenden Sinn, an den frühen Konzertsaal oder die Sphäre der Gebrauchsmusik zu denken. Bände mit vorwiegend protestantischer geistlicher oder liturgischer Musik von Franz Tunder (Bd. 3), Matthias Weckmann und Christoph Bernhard (Bd. 6), Dietrich Buxtehude (Bd. 14; sein Ausschluss aus der Planung bezog sich offenbar nur auf die ____________
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ler der Tonkunst in Österreich unter Leitung von Guido Adler. Erstes Heft, Leipzig und Wien 1913. Im Vorwort (S. III) dieses Bandes wird die Einrichtung dieser Reihe auch durch den Platzmangel in den Notenbänden begründet: „Der Hauptzweck der Denkmäler der Tonkunst wird durch die in Folioformat gedruckten großen Abhandlungen verschoben, da der verfügbare Raum vorzüglich für die Edition der Kunstwerke bestimmt ist und nicht durch die Einleitungen eingeengt werden soll.“ Aber auch mögliche neue Projekte sollten sondiert werden – mit offenem Ausgang: „Manche Vorarbeit ergibt bezüglich der Eignung der Aufnahme der betreffenden Tonwerke in die Denkmäler ein ganz oder teilweise negatives Resultat. Auch darüber soll Rechenschaft gelegt werden, sicherlich zum Nutzen der Wissenschaft.“ Die Beihefte sind von 1913–1934, 1955–1956, 1960–1966 und seit 1977 in wechselnden Verlagen erschienen. Ein detailliertes Inhaltsverzeichnis findet sich unter www.dtoe.at/Publikationen/StMw.php. Aufgrund der Verknüpfung mit den DTÖ sind die Studien zur Musikwissenschaft in vielen OPACs übrigens nicht leicht zu finden. Hier sei hartnäckiges Suchen empfohlen: Wo die DTÖ-Bände vorhanden sind, gibt es in der Regel auch die Studien. Henrik Dochhorn, Artikel Scheidt, Samuel, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 14, Kassel [u. a.] 2005, Sp. 1217– 1249, hier Sp. 1243. Bände mit doppelter Nummer haben auch einen doppelten Umfang.
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Orgelwerke) oder Sebastian Knüpfer, Johann Schelle und Johann Kuhnau (Bd. 58/59) spielen eine wichtige Rolle; ein Band mit „Messen und Requiem“ (a cappella) von Antonio Lotti (Bd. 60) repräsentiert die katholische Sphäre.37 Das Oratorium ist in etlichen Bänden vertreten, etwa mit Werken von Georg Philipp Telemann (Bd. 28: Der Tag des Gerichts), Johann Adolf Hasse (Bd. 20: La Conversione di Sant’Agostino), des „Bückeburger“ Bach (Bd. 56: Die Kindheit Jesu, Die Auferweckung des Lazarus), schließlich mit einem Passionsoratorium des Eisenachers Johann Ernst Bach (Bd. 48). Die Oper scheint in den ersten Planungen nicht berücksichtigt worden zu sein, nimmt dann aber einen bedeutenden Platz ein mit Werken von Carlo Pallavicino (Bd. 55, La Gerusalemme liberata), Reinhard Keiser (Bd. 37/38: Croesus; einige Sätze aus L’inganno fedele), Carl Heinrich Graun (Bd. 15: Montezuma), Niccolo Jomelli (Bd. 32/33: Fetonte) und der großen deutschen Oper Günther von Schwarzburg von Ignaz Holzbauer (Bd. 8/9). Sogar Ballette (neueren Typs) finden Berücksichtigung: „Ausgewählte Ballette Stuttgarter Meister der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts“ (Bd. 43/44). Eine relativ geringe Rolle spielen Werke der Kammermusik des 18. Jahrhunderts; hervorzuheben ist hier freilich ein wichtiger Band mit Werken des in Paris wirkenden Johann Schobert (Bd. 39). Auch „aufführbare“ Orchesterwerke, beginnend mit der Barockzeit, werden eher gemieden; Ausnahmen bilden etwa Telemanns Tafelmusik (1733, Bd. 61/62) oder ein Band mit „Instrumentalkonzerten deutscher Meister“ (u. a. Johann Georg Pisendel, Johann Adolf Hasse, Christoph Graupner und Carl Philipp Emanuel Bach, Bd. 29/30). Im Grunde genommen aber bedürften Klavier-, Kammer- und leicht realisierbare Orchestermusik des institutionellen Unterbaus einer staatlich subventionierten Denkmälerausgabe nicht; die fehlende Markttauglichkeit bleibt ein Merkmal vieler in die Reihe aufgenommener Werke. Dieses negative Kriterium erfüllen auch einige zeitgebundene Kleinformen, die eher am unteren Spektrum der Kunstmusik angesiedelt, aber für das „Normalniveau“ des Musikgeschmacks ihrer Zeit charakteristisch sind. Hier stellen Die singende Muse an der Pleiße von Johann Sigismund Scholze, genannt Sperontes (Bd. 35/36), Philipp Heinrich Erlebachs Harmonische Freude musikalischer Freunde (Bd. 46/47) und die Odenkompositionen von Georg Philipp Telemann und Johann Valentin Görner (Bd. 57) charakteristische Beiträge dar. Auch der Band mit Turmmusi____________ 37
Dies ist womöglich der einzige wirkliche „Missgriff“ in der Reihe, jedenfalls keine „deutsche Tonkunst“: Lottis Werke dürften in Venedig entstanden sein, nicht in seiner kurzen Dresdner Zeit (1717–1719). Viele Jahre lang waren diese in einem stile antico auf moderner harmonischer Grundlage geschriebenen Kompositionen die einzigen Messen, die von Lotti in Ausgaben zugänglich waren; auch hier lag die Gefahr einer verzerrten Wahrnehmung des Schaffens eines bestimmten Komponisten nahe.
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ken und Suiten des der Stadtpfeifersphäre zugehörigen Johann Christoph Pezel (Bd. 63) führt an die Grenzen des kunstmusikalischen Repertoires. Genau eingehalten wurde die Beschränkung auf Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts, die im Übrigen bei einem Unternehmen, das am Ende des 19. Jahrhunderts begründet wurde, keineswegs so antiquarisch wirkt wie aus dem Abstand eines weiteren Jahrhunderts. An den Anfang des Zeitraums gehören die edierten Werke von Thomas Stoltzer (Bd. 65), ans Ende gehören die komische Oper Der Jahrmarkt von Georg Benda (Bd. 64) und Ignaz Holzbauers deutsche Oper (Bd. 8/9). Die Bestimmung „deutsche Tonkunst“ wurde dagegen zunehmend frei interpretiert, da auch Komponisten anderer Herkunft berücksichtigt wurden, wenn diese auf deutschem Boden gewirkt haben (wie Jomelli oder Pallavicino); das Wirken eines deutschen Komponisten im Ausland – bereits genannt wurde Schobert in Paris – war natürlich noch unproblematischer. Überschaut man die Reihe insgesamt, so zeigt sich eine unvoreingenommene Weite des Blicks, eine Offenheit für viele Gattungen, fern einer engstirnigen konfessionellen oder nationalen Parteilichkeit, fern auch aller Tendenzen, die die „deutsche Tonkunst“ des 16. bis 18. Jahrhunderts über Gebühr glorifizieren oder teleologisch auf spätere Phasen deutscher Musikgeschichte hin ausrichten würde. Einer möglichen Trivialisierung wirkt schon die philologische Sorgfalt und die ausgiebige Beschäftigung mit den jeweiligen Kontexten entgegen, die nicht selten zu üppig anschwellenden Textteilen in den Bänden und zum Entstehen etlicher Doppelbände führte. Die DDT mussten – offenkundig im Gefolge der allgemeinen Wirtschaftskrise – im Jahre 1931 mit Band 65 ihr Erscheinen einstellen. Ein spät einsetzendes inhaltliches Komplement zu den DDT, das unter der Ägide der „Deutschen Musikgesellschaft“ erschien und in der Satzung als „Verlagsunternehmen des Hauses Breitkopf & Härtel“ bezeichnet wurde, bildete die Reihe Publikationen älterer Musik (PäM), die von 1926 bis 1940 in 11 Bänden erschien und dezidiert auch nicht-deutsches Repertoire veröffentlichte.38 In dieser Reihe erschien etwa die legendäre Machaut-Edition von Friedrich Ludwig.39 Die PäM, die die längste Zeit unter Leitung Theodor Kroyers standen, machte keine Konzessionen an die Praxis: die Madrigale Luca Marenzios (Alfred Einstein) oder die vierstimmigen Motetten Adrian Willaerts (Hermann Zenck) ____________ 38
39
Die Reihe „widmet sich vor allem den außerhalb der nationalen Denkmälerarbeit liegenden Forschungsgebieten“ (N. N., Programm der „Abteilung zur Herausgabe älterer Musik bei der DMG“, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 8 (1925/26), S. 129–131, hier S. 129. Der zitierte Hinweis auf das „Verlagsunternehmen“ findet sich in § 3 der Satzung der „Abteilung zur Herausgabe älterer Musik bei der DMG“, abgedruckt in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 7 (1924/25), S. 585–587. Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag Musik des 14. Jahrhunderts – Machaut und Landini, S. 31ff.
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erschienen in den Originalschlüsseln; Transpositionen konnten selbstverständlich nicht in Betracht kommen.40 Wenige Jahre nach dem Ende der DDT trat eine andere Reihe deren Nachfolge an, nunmehr unter anderen politischen Rahmenbedingungen und unter neuem Namen, jedoch nach wie vor unter der Ägide einer „Musikgeschichtlichen Kommission“. Der neue Name lautete: Das Erbe deutscher Musik (EdM bzw. EDM gemäß MGG bzw. New Grove), und die ersten drei Bände erschienen 1935.41 Mit dem „Altbachischen Archiv“ und den sechs Quintetten op. 11 von Johann Christian Bach wurde zum einen der Bach-Jubiläen gedacht (250. Geburtstag von Johann Sebastian, 200. Geburtstag von Johann Christian Bach), zum anderen auch ein Schritt in Richtung auf praktische Nutzbarkeit des Repertoires getan,42 die freilich die Repertoirepolitik und die Editionspraxis der „Erbe“-Reihe in Einzelfällen allenfalls in der kurzen Zeit bis 1943/45 bestimmte, in der Nachkriegsphase aber einer streng philologischen Grundhaltung wich. Die Änderung des Namens ist nicht ganz belanglos. Unverfängliche Deutungen sind möglich, zumal in einer Zeit, in der etwa die UNESCO die Kategorie eines „Weltkulturerbes“ kennt. Doch evoziert der Begriff eines „Erbes“ – anders als der Begriff von „Denkmälern“ – nicht nur die Vorstellung eines Objektbereiches, sondern auch den Gedanken einer genealogisch-biologischen Kontinuität, der dann Unbehagen erzeugen kann, wenn er mit einem Nationalattribut verbunden wird, das – aus der Distanz betrachtet – in jenen Jahren politisch eklatant missbraucht wurde. Organisatorische Veränderungen kamen ____________ 40
41
42
Das Verfahren der Beibehaltung der originalen Schlüssel, Notenwerte und Partituranordnungen ist nicht obsolet; eine jüngere Reihe mit dem Titel Denkmäler der Musik in Baden-Württemberg (unter Leitung von Manfred Hermann Schmid, gegründet 1993 als Seitenstück zu EdM und insbesondere DTÖ; Beschreibung und Katalog unter www.uni-tuebingen.de) wendet sie in ihren Partituren an. Der Praxis kann man gegebenenfalls durch Aufführungsmaterial entgegenkommen, das den heutigen Lesegewohnheiten entspricht. Besonderheiten wie die von 1935–1945 existierende Scheidung in „Reichsdenkmale“ (Hauptreihe, Teil der kontinuierlichen Bandzählung des EdM) und „Landschaftsdenkmale“ mit Bänden zur Musik einzelner deutscher Regionen müssen hier nicht weiter erläutert werden, wenngleich sie in bibliographischen Angaben zuweilen noch begegnen. Einen ausführlichen Bericht über die Reihe in diesen Jahren gibt Friedrich Blume, Das Erbe deutscher Musik. Ein Bericht, in: Deutsche Musikkultur 7 (1942/43), Heft 4, S. 91–95, Heft 5, S. 127–131 und Heft 6, S. 149– 153. Heinrich Besseler berichtet von hämischen Äußerungen über Denkmälerausgaben: „Es ist noch nicht allzulange her, daß über die Denkmäler Deutscher Tonkunst und ähnliche Monumentalunternehmen das boshafte Wort von den ,papierenen Friedhöfen‘ in Umlauf gesetzt wurde. Man eiferte gegen die ,trostlos unmusikalische‘ Arbeit der zünftigen Forschung und legte sich damit auf eine Absage an die Wissenschaft fest, die auch heute noch in manchen Musikerkreisen Widerhall findet“ (Heinrich Besseler, Das Erbe deutscher Musik, in: Deutsche Musikkultur 1 [1936/37], Heft 1, S. 14–18, hier S. 14).
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hinzu; der Zeitzeuge Friedrich Blume beschreibt dies im Rückblick mit den Worten: In den 1930er Jahren machte sich das Bedürfnis nach Organisation und Förderung der musikalischen Forschung in zunehmendem Maße geltend und führte dazu, daß 1935 […] das „Staatliche Institut für deutsche Musikforschung“ in Berlin gegründet wurde. Es war dies ein preußisches Staatsinstitut mit Aufgaben für das gesamte Reichsgebiet. Zum ersten Male erhielt damit die deutsche Musikforschung eine mit reichlichen Mitteln ausgestattete, ihrer Selbstverantwortung und Selbstverwaltung unterstellte zentrale Forschungsstätte. […] In Nachfolge der drei Denkmälerreihen [DDT, DTB und – nach dem „Anschluss“ Österreichs – die DTÖ] wurde das „Erbe deutscher Musik“ begründet […].43
Der neue Name war demnach Teil übergreifender Entwicklungen: Aus nationalen Denkmälerreihen wurden – wenn auch nur für wenige Jahre – staatliche Denkmälerreihen. Diesseits aller Bedenken lässt sich durchaus auch ein sachliches Motiv für die Änderung des alten Namens anführen. Heinrich Besseler, der an der Wiederbelebung der Reihe beteiligt war, schreibt dazu: Das neue Denkmalunternehmen hat den überlieferten Titel „Denkmäler deutscher Tonkunst“ als mißverständlich und nicht voll zutreffend abgelegt. Nicht zutreffend deshalb, weil die Beschränkung als Ton„kunst“ zu Unrecht das einstimmiglebensverbundene Musizieren (Volkslied und -tanz, Trompeterfanfaren, Gregorianik und ihre Eindeutschung) beiseite läßt. Aber nur die Gesamtheit der Musik, die auf unserem Boden gewachsen ist und Jahrhunderte hindurch das Leben der Nation erfüllt und verklärt hat, bildet das „Erbe“ im vollen Sinne. Daß seine Erschließung und Aneignung als Ziel gilt, soll der neue Titel „Das Erbe deutscher Musik“ andeuten.44
Freilich blieben Trompeterfanfaren oder Gregorianik im Erbe deutscher Musik vereinzelte Ausnahmen,45 um von Volkslied und -tanz zu schweigen. Etwaige ____________ 43
44 45
Friedrich Blume, Zur Lage der deutschen Musikforschung, in: Die Musikforschung 5 (1952), S. 97–109, hier S. 99. Dass unter den totalitären Verhältnissen der 1930er Jahre gewiss keine Wissenschaftsidylle unter wohlwollender staatlicher Fürsorge existierte, liegt auf der Hand; Blumes kommentarlose Feststellungen zeigen zumindest, dass die Zeit für kritische (Selbst-) Reflexion im Jahre 1952 noch nicht gekommen war. Unter Berufung auf einen Zeitungsausschnitt („cutting“) vom 22. Januar 1944 stellt Pamela Potter fest: „Even […] in 1944, one could boast more musicology departments than anywhere else in the world, an uninterrupted flow of productivity in the form of Denkmäler and Gesamtausgaben […]“ (Pamela Potter, Creating a Concept of “Nazi Musicology”, in: Music as Social and Cultural Practice. Essays in Honour of Reinhard Strohm, hrsg. von Melania Bucciarelli und Berta Joncus, Woodbridge 2007, S. 374–390, hier: S. 374 mit Quellennachweis in Anm. 1). Potter hat Bedenken gegen eine Charakterisierung des Faches und seiner Tätigkeiten in den Jahren 1933–1945 als „Nazi musicology“, weil dies impliziere, dass vorher und nachher alles anders gewesen sei. Vielmehr gelte es, die Bedingungen des „uninterrupted flow“ von Forschungsparadigmen kritisch zu reflektieren, zu denen an prominenter Stelle auch das Editionswesen gehört. Besseler, Das Erbe deutscher Musik (wie Anm. 42), S. 16. Der Band Trompeterfanfaren, Sonaten und Feldstücke. Nach Aufzeichnungen deutscher Hoftrompeter des 16./17. Jahrhunderts (Bd. 7; 1936) ist ausgesprochen interessant, aber mit 80
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Planungen in dieser Richtung sind durch die Zäsur der Jahre nach 1945 obsolet geworden. Mag die Ersetzung des Begriffs „Denkmäler“ durch „Erbe“ nicht unproblematisch sein, so hatte die Herabstimmung der „deutschen Tonkunst“ zur „deutschen Musik“46 durchaus ihren Sinn: „Musik“ ist in jeder historischen Gesellschaftsform anzutreffen, „Tonkunst“ dagegen setzt einen wenigstens partiell autonomen Kunstbegriff voraus, der auf weite Bereiche der älteren Musik, insbesondere auch der geistlichen Musik, nicht gut anwendbar ist und am besten zum 19. Jahrhundert passt, dem ja die Idee der Denkmälerreihen entsprungen ist. Die Denkmäler selbst aber, die Dokumente der Tonkunst darstellen sollen, sind wesentlich älteren Datums. So zeigt sich gerade bei den nationalen Reihen, dass der Name eben doch ein Interpretandum ist. Vielleicht wäre ein adjektivhaltiger Titel der folgenden Art am unverfänglichsten: Bei der Fügung Schweizerische Musikdenkmäler (die Reihe erscheint seit 1955) liegt der Bedeutungsschwerpunkt des Nominalkompositums – wie stets – auf dem zweiten Bestandteil. In der Wortfügung werden also die Denkmäler, nicht die Musik mit dem Nationalattribut gekennzeichnet. Dies erscheint ebenso sinnvoll wie unproblematisch und letztlich als ein Äquivalent zur Formulierung „Denkmäler in …“. Man sollte die Begriffsdiskussion freilich nicht übertreiben: Wie die Titelliste im Anhang unter 1. zeigt, wird quer durch die Nationen vorbehaltlos von einer „musica belgica“, einer „musica britannica“, einer „musique française“, einer „musica italiana“, einer „musica svevica“ oder einer „música española“ gesprochen. Es scheint sich um eine international geläufige Wendung zu handeln, die ohne Zwang zu einer näheren Bestimmung zu einer ersten Verständigung taugt. ____________
46
Seiten nicht eben umfangreich und mangels weiterer Quellen kaum durch ähnliche Bände zu ergänzen. Aus dem Bereich der Gregorianik sind nur die Faksimile-Nachdrucke des Graduale Pataviense (Wien 1511; „Pataviense“ ist ein die Diözese Passau bezeichnendes Adjektiv) und des Antiphonale Pataviense (Wien 1519) als Band 87 (1982) bzw. 88 (1985) zu nennen. Wohl niemand hätte daran Anstoß genommen, den Trompeten-Band auch unter dem Dach „deutscher Tonkunst“ anzutreffen, während fraglich ist, ob die liturgischen Melodien wirklich einer Sphäre „einstimmig-lebensverbundenen Musizierens“ zugerechnet werden können. Schließlich waren bereits unter dem Titelwort „Tonkunst“ auch Bände wie DDT 35/36, 46/47, 57 und 63 mit einfachen Liedern und Stadtpfeiferkompositionen erschienen. Das Riemann Musik Lexikon enthält im „Sachteil“ seiner zwölften völlig neubearbeiteten Auflage, Mainz 1967, einen relativ langen Artikel zum Stichwort Deutsche Musik (S. 215– 221); das Autorenkürzel HB verweist gemäß S. VIII auf Heinrich Besseler. Dieses lexikalisch sonst eher unübliche Stichwort deutet freilich nicht auf eine überholte und verengte Perspektive hin. Denn es gibt in diesem Sachlexikon auch Artikel über Afrikanische Musik, Englische Musik, Französische Musik, Italienische Musik usw., die an die Stelle der sonst üblichen geographischen Lemmata Afrika, Deutschland, England, Frankreich und Italien treten. Umgekehrt gibt es zu den im Riemann-Lexikon nur mit einer Bibliographie versehenen Artikeln Belgien, Österreich, Schottland usw. keine eigenen „Musikartikel“.
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Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Reihe unter dem neuen Namen weitergeführt (der erste Nachkriegsband erschien 1953), zum einen wohl deshalb, weil das Unbehagen am Begriff „Tonkunst“ offensichtlich größer war als dasjenige am Begriff „Erbe“, zum andern aber sicher auch deshalb, weil die Rückkehr zum älteren Namen die mittlerweile erschienenen „Erbe“-Bände als einsame Relikte zurückgelassen hätte.47 Die Textteile der Bände sind gegenüber den DDT-Bänden etwas stärker formalisiert, insbesondere im Hinblick auf den „Kritischen Bericht“, der standardmäßig aus den Teilen „Die Quelle(n)“, „Zur Edition“ (Grundsätze der Textgestaltung) und „Einzelanmerkungen“ besteht; einzelne Faksimileseiten, eingeschoben zwischen Vorwort und Notenteil, illustrieren die originale Aufzeichnung. Bedeutsam im Vergleich des „Erbe“ mit den älteren DDT ist die Öffnung des Repertoires nach beiden Seiten hin. Das 15. und frühe 16. Jahrhundert spielen nun eine wichtige Rolle. Die betreffenden integralen Quelleneditionen sind einer „Abteilung Mittelalter“ zugewiesen, was diskutabel ist. Einstimmige Musik bleibt im „Erbe“ weitgehend ausgespart.48 Auch im „Erbe“ partizipiert demnach die „deutsche Musik“ insofern noch an „deutscher Tonkunst“, als kunstgerechte Mehrstimmigkeit vorausgesetzt ist. Die zunehmende Spezialisierung der musikalischen Mediaevistik hat in den 1950er Jahren zur Entstehung einer eigenen Denkmälerreihe mit dem Titel Monumenta Monodica Medii Aevi geführt, die einstimmiges Repertoire in moderner Transkription im Rahmen von thematisch geordneten, sorgfältig kommentierten Bänden publizieren (z. B. Melodien zum „Ite missa est“ und ihre Tropen). Im Jahre 2011 nahm das auf 25 Bände angelegte Projekt Corpus monodicum. Die einstimmige Musik des lateinischen Mittelalters. Gattungen – Bestände – Kontexte seine Arbeit auf, das seine Ergebnisse auch digital zugänglich machen will.49 Am anderen Ende des zeitlichen Spektrums finden nun auch Werke des 19. Jahrhunderts Berücksichtigung, das für Editoren des späteren 20. Jahrhunderts in eine historische Distanz gerückt ist, die für die Pioniere der DDT nicht gegeben war. Allerdings erweist sich hier die Überlieferungsproblematik zuweilen als so gering, dass im Extremfall ein kommentiertes Faksimile des Erstdruckes geboten werden kann (so etwa in Band 94: Friedrich Schneider, Das Weltgericht). Im Bereich der Musik vor und um 1500 hat die komplette ____________ 47 48 49
Der Gesamtkatalog der Reihe ist im Internet publiziert: www.erbedeutschermusik.de/katalog.pdf. Vgl. dazu oben die Bemerkungen zu EdM Bd. 7 (Trompeterfanfaren), Bd. 87 (Graduale Pataviense) und Bd. 88 (Antiphonale Pataviense). Für weiterführende Informationen siehe www.adwmainz.de/projekte, dann Verfolgen der einschlägigen Links.
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Edition einer bestimmten Handschrift große Bedeutung gewonnen, der Einsicht folgend, dass die Überlieferungsform ebenso ein Dokument der Musikgeschichte ist wie der jeweilige Inhalt der Überlieferung. Dies schließt ein, dass anderweitig bereits publizierte Stücke erneut publiziert werden, wobei die Lesarten der betreffenden Quelle (sofern sie nicht verderbt sind) ausschlaggebend sind.50 Das Leitbild ist die Integrität der Quelle: Der Kontext wird ebenso wichtig wie der Text. Mag die Verbindung von Patriotismus oder Nationalismus mit dem Denkmälergedanken einstmals nötig gewesen sein, um die seinerzeit enorm aufwendigen ersten Projekte dauerhaft ins Werk setzen zu können, so besteht doch – von Sonderfällen abgesehen – kein unlösbarer Zusammenhang zwischen nationaler Repräsentanz und allgemein musikhistorischer Bedeutung eines Werkes. Dennoch wäre eine Weiterführung der traditionsreichen national benannten Reihen sinnvoll und wünschenswert: Nicht als Bewahrerinnen überholter Ideologien oder einer heute nicht mehr zwingend erforderlichen Arbeitsteilung, sondern als institutionalisierte Garantinnen für stabile wissenschaftliche Standards und deren Anwendung auf ein historisch relevantes, allenfalls bedingt markttaugliches Repertoire.
V.
Das Chorwerk und Hortus Musicus – Blumen aus dem Garten der Musikgeschichte
In den nationalen Denkmälerreihen verbindet sich der Begriff des Monuments mit dem Erscheinungsbild des Monumentalen: Die Bände waren und sind großformatig und teuer. Das andere Extrem stellen Heftreihen dar, die unter den Begriff der Anthologie (wörtlich „Blumenlese“) zu fassen wären, den man in weitem Sinne für „Sammlungen“ oder „Auswahlausgaben“ verwendet, die damit das Auswahlprinzip mit den Denkmälerausgaben teilen. Doch scheint sich der Ausdruck „Anthologie“ durch Konvention häufig mit eher kleinformatigen verlegerischen Produkten zu verbinden. Reihen wie Das Chorwerk oder Hortus Musicus,51 die hier stellvertretend für eine Vielzahl ähnlicher Reihen genannt seien, unterscheiden sich demnach nicht wesentlich, sondern nur akzidentiell von den „großen“ Denkmälerreihen. ____________ 50
51
Genannt seien als zwei Beispiele unter mehreren die dreibändige Ausgabe: Der Kodex Berlin 40021, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin Mus. ms. 40021, hrsg. von Martin Just (EdM Bd. 76–78, 1990/91) und die vierbändige Ausgabe: Der Kodex des Magister Nicolaus Leopold, [ergänze: Bayerische] Staatsbibliothek München, Mus. ms. 3154, hrsg. von Thomas L. Noblitt (EdM Bd. 80–83, 1987–1996). Katalog unter www.baerenreiter.com.
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Die Editionen sind in der Regel sorgfältig erarbeitet und kommentiert; das Repertoire ist historisch oft entlegen, kann jedoch mit vertretbarem Aufwand gesungen oder gespielt werden. Dabei bestehen solche Reihen in der Regel nicht aus Büchern mit festem Einband, sondern aus Heften, die ein Verlag auf eigenes Risiko herausbringt; für diese Reihen ist daher die praktische Verwendbarkeit des Gebotenen von ausschlaggebender Bedeutung und ein wichtiger Aspekt der Repertoireauswahl. Deshalb sind solche Anthologien auch keine Experimentierfelder für womöglich quellennahe, aber ungewohnte Notenbilder; ja man glaubte zuweilen sogar, der Praxis durch Transposition der Sätze entgegenkommen zu müssen (was heute weitgehend verpönt ist). Die Reihen unternehmen mithin Streifzüge in die Musikgeschichte mit dem Ziel, dass das Edierte auch erklingen möge; von der Last, die Musikgeschichte einer Nation repräsentieren zu müssen, sind sie befreit. Während Hortus Musicus (Bärenreiter-Verlag, Kassel [u. a.]; inzwischen fast 300 Hefte) eine dezidiert instrumentale Ausrichtung besitzt, deutet Das Chorwerk schon durch seinen Namen an, dass hier ausschließlich mehrstimmige Vokalmusik geboten wird. Das erste Heft der von Friedrich Blume begründeten Reihe (ursprünglich Verlag G. Kallmeyer, später und bis heute Moeseler-Verlag, Wolfenbüttel) bot auf insgesamt 20 Seiten die Missa Pange lingua von Josquin des Prés (so die Schreibung der Ausgabe, 1929) mit einem kleinen Vorwort und einem rudimentären, in anderen Heften freilich ansehnlichen Kritischen Bericht. Es folgten Motetten von Jacobus Vaet (Heft 2, 1929), Weltliche Lieder von Josquin (Heft 3, 1930) und Johannes Ockeghems Missa Mi-Mi (Heft 4, 1930); die Einzelausgaben griffen dabei den in dieser Zeit sich formierenden Gesamtausgaben in der Regel vor. Auch im Bereich der Vokalpolyphonie ist das Repertoire nicht unerschöpflich. Unter die neuesten Publikationen gehören eine Missa super „Accesit“ nebst zwei Psalm-Motetten von Conrad Rein (Heft 141, 1990), Petrarca-Madrigale von Alfonso della Viola (Heft 142, 1989), Sechs Motetten von Philipp Dulichius (Heft 143, 2002) und eine Passion von Antoine de Longueval (Heft 144, 2006). Die Namen sind gewiss weniger klangvoll als diejenigen der Anfangszeit. Aber das scheinbare Versiegen der Hauptquellen hat hier eine andere Qualität als bei den großen Denkmälerreihen. Der Grundriss einer national begrenzten Musikgeschichte wird nach einer gewissen Anzahl von Bänden hinreichend sichtbar sein, so dass es müßig erscheinen kann, hier und dort noch Details zu ergänzen. Das praktische Musizieren aber verlangt nach immer neuer Nahrung, und gerade diejenigen, die Erfahrung mit den „großen“ Komponisten gemacht haben, entwickeln Interesse für das Umfeld, dessen Erkundung dann wieder Licht auf das vermeintliche oder wahre Zentrum zurückwirft.
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VI.
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Recent Researches: Große Denkmälerreihen in Verlagsregie
1964 erschienen in dem 1962 gegründeten Verlag A-R Editions (New Haven/ Connecticut, später Madison/Wisconsin, heute Middleton/Wisconsin) zwei Bände, die auf der Rückseite des Vorsatzblattes anstelle eines Haupttitels den folgenden Text aufwiesen: Recent Researches in the Music of the Renaissance [bzw. of the Baroque Era] is one of a library of four quarterly series making available, for study and performance, early music brought to light in the course of current independent musicological research. Each volume is devoted to the works of a single composer (or, occasionally, of a single school of composition), selected and prepared for publication largely according to the discretion of the editor. As a rule, reprints of the separate works in each volume of the series will be made available to performers as soon as possible after the volume is published. 52
Geplant waren damals vier Reihen – heute sind es sechs bzw. sieben –, in denen Musik ediert werden sollte, die in Verbindung mit musikhistorischen Forschungen (oftmals mit Dissertationen) stand und als Desiderat erschien.53 Die Forschung wurde als „independent“ charakterisiert, war also nicht Bestandteil eines zentral vorgegebenen Editionsplans. „Nationale Repräsentativität“ des Repertoires spielte keine Rolle. Die Musik sollte sowohl zum Studium als auch zur Aufführung dienen, was durch die Absicht, Einzelausgaben (womöglich auch Stimmenmaterial) zu drucken, bekräftigt wurde. Freilich bedeutete das keine Einschränkung der Werkauswahl; vielmehr zeigt sich hier, wie stark sich die Musikpraxis gegenüber den Jahren um 1900 verändert hatte: Konnten die Gründer der DDT oder DTÖ allenfalls vereinzelt damit rechnen, mit ihren Bänden auf das Interesse von Praktikern zu stoßen, so war in den 1960er Jahren an verschiedenen Orten und in verschiedenen Milieus eine aufführungs____________ 52
53
Zitiert nach Recent Researches in the Music of the Renaissance (RRMR), Bd. 1: Giammateo Asola. Sixteen Liturgical Works, hrsg. von Donald M. Fouse, 1964. Nimmt man alle Reihen zusammen, so wäre der mit dem Wort „quarterly“ bezeichnete vierteljährliche Erscheinungsrhythmus noch weit übertroffen worden. Aber auch im Hinblick auf die Reihe RRMR allein ist das Erscheinen von nicht weniger als 151 Bänden in der Zeit von 1964–2008 ein Beweis erstaunlicher Produktivität. Die Reihen heißen (stabile Bestandteile sind durch Punkte ersetzt, variable Bestandteile erscheinen hier kursiv): Recent Researches in the Music of the Middle Ages and Early Renaissance; … of the Renaissance; … of the Baroque Era; … of the Pre-Classical, Classical, and Early Romantic Eras (später kurz: … of the Classical Era); … of the Nineteenth and Early Twentieth Centuries; … of American Music; ferner: Recent Researches in the Oral Traditions of Music (wobei der Charakter der „Edition“ zwangsläufig anders zu bestimmen ist als beim Vorliegen von Schriftquellen). Ausführliche Bandübersichten unter www.areditions.com.
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praktische Aufbruchsstimmung zu verspüren, die dazu geführt hat, dass heute kein Bereich der Musikgeschichte mehr auf Versuche seiner klanglichen Aktualisierung verzichten muss. Dessen ungeachtet gibt es auch in dieser Reihe Bände, die eher historisches als praktisches Interesse finden dürften. Die Liberalität der Grundsätze ging in einem Punkt wohl etwas zu weit. Wenn man nicht nur die Werkauswahl, sondern auch die Druckvorbereitung weitgehend ins Ermessen („discretion“) des Herausgebers stellt, dann ist ein Verfahren nach einheitlichen oder konstant niveauvollen Grundsätzen nicht gewährleistet. Wohl auch deshalb wurden den einzelnen Reihen bald „General Editors“ zugeordnet;54 doch bleibt das Unternehmen eine Sache zwischen Verlag und Wissenschaft mit dem Ziel, erschwingliche Ausgaben herzustellen, die auch für Praktiker nutzbar sind. Dieses bemerkenswerte Konzept hat inzwischen zu einem reichen Bestand von mehreren hundert Bänden geführt, deren Gliederung und Repertoire auf einem rein historischen Ordnungs- und Auswahlprinzip beruhen.55 Man könnte, wenn die historische Distanz nicht zu groß wäre, einen Rückgriff auf die Zeit vor den nationalen Denkmälern sehen, namentlich auf die oben bereits erwähnten Denkmäler der Tonkunst unter der Ägide von Friedrich Chrysander, insbesonders aber auf Robert Eitners heroische Publikationen älterer praktischer und theoretischer Musikwerke vorzugsweise des XV. und XVI. Jahrhunderts (33 Jahrgänge in 29 Bänden [sic!], erschienen 1873–1905), die entgegen dem Titel bis ins 18. Jahrhundert hinein ausgriffen und eine bunte Mischung herausragender Musikwerke und Theoretikertexte (darunter eine deutsche Übersetzung von Glareans Dodecachordon) boten. Wenige Beispiele aus dem reichhaltigen internationalen Repertoire der Renaissancereihe (RRMR) seien hier genannt: Orlando di Lasso, Complete Motets (21 Bände und Supplement);56 Jacob Handl, The Moralia of 1596; Adrian Willaert and his circle, Canzone villanesche alla napolitana and Villotte; The Ricercars of the Bourdeney Codex; Juan Vasquez, Villancicos i canciones; Johannes Eccard, Newe deutzsche Lieder oder Cantiones sacrae: Madrigalian Motets from Jacobean England. Bei den Recent Researches hängen das Wohl und Wehe einer Reihe nicht von der Initiative und Arbeitskraft eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe ab. Die von Beginn an intendierte Nähe von historischer Forschung und Edition führt in den Bänden zu einem überdurchschnittlich hohen Anteil von histo____________ 54 55 56
Die Personen haben mit der Zeit gewechselt; die aktuellen Generalherausgeber findet man auf der bereits zitierten Homepage des Verlages. Ausnahmen bilden die später hinzugekommenen Reihen American Music und Oral Traditions. Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag „… immer noch wenige Werke von Lassus“: Zur Editionsgeschichte der Werke des Münchner Hofkapellmeisters Orlando di Lasso, S. 64f.
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rischem Kommentar. In aller Regel werden bei Vokalwerken auch die Texte kundig ins Englische übersetzt (das heute als lingua franca gelten muss), wofür man insbesondere bei idiomatisch oder dialektal geprägten Texten (z. B. Villanellen) und bei concettistisch zugespitzten Gedichten (z. B. manchen Madrigalen) dankbar sein wird. Faksimileseiten und Kritische Bemerkungen gehören zum Standard der Bände. Mit der Wahl von Epochen als oberstem Ordnungsprinzip ist die musikgeschichtliche Forschung gleichsam am Kernelement ihrer Begriffsbestimmung angelangt. Nationale Ordnungen können in zweiter Instanz als eine Überbaustruktur von Teilen des Repertoires sichtbar werden; sie zwingen aber nicht dazu, wie dies bei den nationalen Denkmälerreihen der Fall sein kann, Gattungszusammenhänge nur deshalb nicht zu dokumentieren, weil sie Ländergrenzen überspringen, oder auf die Publikation interessanter Werke zu verzichten, weil sich kein Bezug zum Trägerland der Reihe herstellen lässt. Denkmäler überhaupt, insbesondere aber Reihen wie die Recent Researches zeigen eine unverkennbare Affinität zu Publikationen des Formats „Musikgeschichte in Beispielen“, zu dessen prominentesten Vertretern die Zusammenstellungen von Riemann, Einstein, Schering und Davison/Apel gehören.57 Solche Werke verhalten sich zu den Denkmälerreihen gleichsam wie die Gliederung zum ausgeführten Text.
VII.
Italian Opera 1640–1770 oder: Music from Garland
In einer relativ kurzen Zeitspanne, die von den späten 1970er bis in die Mitte der 1990er Jahre reichte, hat der mittlerweile auf diesem Sektor nicht mehr tätige, wohl von einem anderen Unternehmen aufgekaufte Verlag Garland Publishing (New York und London) die musikwissenschaftlichen Bibliotheken (und deren Etats) mit einem gänzlich neuen Reihentypus konfrontiert: der vielbändigen, mehr oder weniger „auf einen Schlag“ publizierten FaksimileReihe. Ein vergleichbares Profil weisen die weiter zurückreichenden und noch immer auf hohem Niveau erscheinenden Publikationen des Verlags Broude Brothers (früher New York, jetzt Williamstown/Massachusetts) auf, die heute partiell unter der Ägide des „Broude Trust for the Publication of Musicological Editions“ stehen, der sich in einem Prospekt so charakterisiert: ____________ 57
Hugo Riemann, Musikgeschichte in Beispielen, Leipzig 1912; Alfred Einstein, Beispielsammlung zur älteren Musikgeschichte, Leipzig und Berlin 1917; Arnold Schering, Geschichte der Musik in Beispielen, Leipzig 1931; Archibald T. Davison and Willi Apel, Historical Anthology of Music, 2 Bde., London 1946–1950 (genannt werden jeweils nur die Erstauflagen).
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The Broude Trust is a not-for-profit organization formed to provide financial support for the production of musicological editions of a higher quality than is possible with normal commercial publication. […] Much attention is given to the introductory matter and critical apparatus.58
Zu den Reihen des Broude Trust gehören u. a. The Art of the Keyboard, Chefsd’œuvre classiques de l’opéra français, Critical Facsimiles, Masters & Monuments of the Renaissance, Monuments of Music & Music Literature in Facsimile, Music at the Courts of Italy, Nine Centuries of Music by Women und Performers’ Facsimiles. Dass sich in den USA derart große Unternehmungen in privater Trägerschaft entwickelt haben (auch die Recent Researches und CMM gehören hierher), hängt natürlich damit zusammen, dass die Idee nationaler Denkmäler dort mangels musikalischer Überlieferung, die hinter das 19. Jahrhundert zurückreichte, nicht praktikabel war. Die positive Kehrseite dieses Sachverhalts ist ein universaler Blick auf die europäische Musikgeschichte und – auf anderer Ebene – der Nachweis, dass derartige Organisationsformen tatsächlich funktionieren können. Bei den längst vergriffenen Faksimile-Reihen von Garland handelt es sich nicht um „Ausgaben“ in einem philologisch vertretbaren Sinn;59 das Abfotografieren einer Quelle führt dazu, dass dem Nutzer ein Teil der Materialien (im Falle singulärer Überlieferung: das gesamte Material) zur Verfügung gestellt wird, auf die ein potentieller Editor seine Arbeit stützen würde. Dennoch erfüllen diese Reihen im Hinblick auf die Erweiterung der Repertoirekenntnis denselben Zweck wie Denkmälerausgaben,60 ja sie setzen diese Ausgaben und ihre Verfechter unter Druck, indem sie dazu zwingen, dass man sich Gedanken über den „Mehrwert“ einer solchen Ausgabe macht. Wenn man nicht dem Glauben anhängt, dass nichts authentischer sein kann als eine Quelle, dann könnte man etwa folgende Aspekte ins Feld führen: die bessere Lesbarkeit einer Ausgabe, die Absicherung der jeweils gebotenen Lesarten durch Quellenvergleich, die Prüfung und gegebenenfalls Emendation eines fehlerhaften Quellentextes, die kundige Interpretation älterer Aufzeichnungsweisen durch jemanden, der Wesentliches von Zufälligem zu unterscheiden weiß, die historische Kontextuali____________ 58 59 60
Prospekt The Broude Trust, 8 S., 2005; zitiert nach einem Exemplar aus den Beständen des Verfassers. Erwähnt sei, dass der Titel Critical Facsimiles aus dem Hause Broude mit einem eingekreisten „R“ für „Registered Trademark“ gekennzeichnet ist. Hier wäre auch eine Reihe aus dem 19. Jahrhunderts anzuführen: Aristide und Louise Farrenc (Hrsg.), Le trésor des pianistes, 23 Bde., Paris 1861–1872. Diese umfangreiche Ausgabe stellt ohne quellenkritische Ambitionen spielbare Notentexte für das Klavier zusammen. Viele Jahrzehnte lang enthielt sie z. B. den bei weitem umfangreichsten gedruckten Bestand an Sonaten von Carl Philipp Emanuel Bach. Die wertvolle Sammlung ist komplett als Digitalisat im internet archive (www.archive.org) unter dem entsprechenden Suchbegriff abrufbar.
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sierung des Gebotenen in einem ausführlichen Vorwort usw. Für die Produktion bietet die Faksimilierung gegenüber der Edition einen immensen Zeitvorteil, da die Erstellung der Druckvorlage eine rein technische Aufgabe ist. Und nach gut einhundertfünfzig Jahren wissenschaftlicher Edition darf man sagen, dass ein Großteil des in diesen Reihen enthaltenen Materials niemals – oder nicht in einer für gegenwärtig lebende Menschen nutzbaren Zeitspanne – in Editionen vorzulegen wäre. Zwar hat das Faksimile in der Musikwissenschaft eine lange Tradition. Abgesehen aber von der Monumentalreihe Paléographie musicale der Benediktiner von Solesmes (Hauptreihe: 17 Bände, 1889–1958), die die wichtigsten frühen Quellen des gregorianischen Chorals in auch heute noch faszinierender Qualität bietet, blieben Musik-Faksimiles in aller Regel vereinzelt und auf herausragende Quellen beschränkt, die nicht selten ein optisch-ästhetisches oder gar „metaphysisches“ Interesse bedienen sollten: Das Faksimile der autographen Partitur von Bachs Weihnachts-Oratorium61 will nicht die Repertoirekenntnis vergrößern, sondern mit der Dokumentation einer barocken Originalhandschrift zugleich etwas von der Aura des Authentischen vermitteln. Neuere Verlage mit großem Faksimile-Programm wenden sich in aller Regel an potentielle Spieler und/oder Sänger (so die Performers’ Facsimiles aus dem Hause Broude), nähern sich also allenfalls dem Anthologie-Gedanken ohne die dezidierte Absicht, bislang unbekannte Repertoirebereiche planmäßig zu erhellen, wie sich dies die Garland-Reihen zum Ziel gesetzt hatten. Das erste prominente Beispiel einer planmäßig konzipierten FaksimileReihe, die eine klaffende Lücke in den allgemeinen musikhistorischen Kenntnissen füllte, war die von Howard Mayer Brown betreute Reihe Italian Opera 1640–1770, deren „Series One“ aus 60 Bänden bestand, die in fünfzig Bänden Opern von Francesco Cavalli und Antonio Cesti über Pietro Andrea Ziani, Johann Joseph Fux, Antonio Lotti und Antonio Vivaldi, Johann Adolf Hasse, Giovanni Battista Pergolesi bis zu Tommaso Traetta, Niccolò Jommelli und Niccolò Piccinni in faksimilierten Partituren enthielt und in weiteren 10 Bänden die zugehörigen Libretti ebenfalls im Faksimile präsentierte.62 Alle sechzig Bände sind 1978/79 erschienen. Der Erfolg der Reihe war so groß, ____________ 61
62
Johann Sebastian Bach, Weihnachts-Oratorium, BWV 248, Faksimile-Lichtdruck des Autographs mit einem Vorwort hrsg. von Alfred Dürr (= Internationale Gesellschaft für Musikwissenschaft, Documenta Musicologica, Zweite Reihe: Handschriften-Faksimiles, Bd. XIII), Kassel [u. a.] 1984. Diese seit 1955 erscheinende Faksimile-Reihe (Bd. 1: Faksimile des Buxheimer Orgelbuches) unterliegt keinen erkennbaren thematischen und zeitlichen Beschränkungen; so ist als Bd. 36 (2007) das Violoncello-Konzert op. 85 von Edward Elgar erschienen. Übersetzungen sind nur dann vorhanden, wenn die originalen Libretti solche enthielten; am häufigsten begegnen Übersetzungen des italienischen Textes ins Französische, und zwar auch und gerade bei Libretti, die im Umkreis deutscher Höfe gedruckt wurden.
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dass bald eine „Series Two“ folgte mit der fortgesetzten Bandzählung 61–91 (Noten) und 92–97 (Libretti), allesamt erschienen 1982/83. Es gibt daneben einige wenige Reihen, in denen Opern des 18. Jahrhunderts nach Denkmälerart anspruchsvoll ediert wurden und werden. Der Aufwand für eine Opernedition ist besonders groß; die Partituren sind sehr umfangreich, neben den Noten ist auch das Libretto philologisch zu bearbeiten, und schließlich lässt sich die Forschung zu Aufführungsumständen oft ins Uferlose fortsetzen. Wenigstens zwei dieser Reihen seien genannt: Die Oper. Kritische Ausgabe von Hauptwerken [ab Bd. 2: Denkmälern] der Operngeschichte (Gründungsherausgeber: Heinz Becker; G. Henle-Verlag, München) sowie die für viele Gattungen offene Reihe Concentus musicus. Veröffentlichungen der Musikgeschichtlichen Abteilung des Deutschen Historischen Instituts in Rom (zuerst Verlag Arno Volk, ab Bd. 7: Laaber-Verlag), die auch aufwendig edierte Opern enthält (etwa Johann Adolf Hasse, Ruggiero overo L’eroica gratitudine, Bd. 1; Giovanni Paisiello, Il Barbiere di Siviglia, Bd. 11, 1–2). Daneben gibt es gelegentlich auch Opernreihen zu einzelnen Barockkomponisten, etwa zu Alessandro Scarlatti, die aber wohl eher im Kontext der Gesamtausgaben großer (und „einseitiger“) Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts von Rossini bis Verdi zu sehen sind. Wenn man den gewaltigen Umfang des überlieferten Opernbestandes insbesondere des 18. Jahrhunderts bedenkt, dann liegt der Gedanke nahe, dass ein repräsentativer Eindruck der Gattung nur auf dem Wege der konkurrenzlos schlichten Darbietungsform des Faksimiles vermittelt werden kann. Zahlreiche weitere, thematisch mehr oder weniger streng bestimmte Faksimile-Reihen folgten bei Garland in ähnlicher Aufmachung, darunter neben vielen anderen: Carl Philipp Emanuel Bach, The Collected Works for Solo Keyboard; German Opera 1770–1800; Handel Sources: Material for the Study of Handel’s Borrowing; The Italian Cantata in the Seventeenth Century; The Italian Oratorio 1650–1800; Renaissance Music in Facimile; SeventeenthCentury Keyboard Music oder The Symphony 1720–1840. Die letztgenannte Reihe enthält neben einigen Faksimiles freilich überwiegend moderne Transkriptionen (oft nach den handschriftlichen Vorlagen der Transkribenten reproduziert), die überleiten zu einem weiteren Bestandteil des Verlagsprogramms, der aus „edierten“ Denkmälerreihen mit gattungsgebundener Werkauswahl besteht, etwa: The Sixteenth-Century Chanson, Italian Instrumental Music of the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, The Italian Madrigal in the Sixteenth Century und The Sixteenth-Century Motet. Bei aller Bedeutung des Repertoirewerts bleibt die Notengraphik der meisten Bände hinter den üblichen Standards zurück, womöglich aufgrund eines am Faksimile orientier-
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ten Strebens nach Minimierung der Produktionskosten. Abgesehen von der Qualität des Satzes unterscheiden sich diese Projekte noch in einer zweiten Hinsicht wesentlich von den typischen Denkmälerreihen und Anthologien: Diese nämlich sind ihrer Idee (wenngleich nicht immer ihrer Wirklichkeit) nach tendenziell endlos, während die einzelnen Garland-Projekte stets eine geschlossene Gesamtplanung besaßen. Insbesondere die Faksimile-Reihen dieses Verlages haben die Landschaft der Musikbibliotheken bereichert und verändert; die werbenden Worte des Verlags treffen durchaus zu: The reprints and facsimiles make unavailable music available; multi-volume projects are designed around genres or composers. […] The sources of western art music are available now through Garland in a way not imagined fifteen years ago.63
Nichts könnte die vehemente Beschleunigung der technischen Entwicklungen besser veranschaulichen als dieses Zitat aus dem Jahre 1990. Nur ein Vierteljahrhundert später macht die fortschreitende Digitalisierung Musik in einem Umfang zugänglich „in a way not imaginable twenty-five years ago“.
VIII. Corpus Mensurabilis Musicae (CMM) – ein Dach für Renaissancedenkmäler Im Jahre 1944 gründete der Harvard-Absolvent Armen Carapetyan64 ein „American Institute of Musicology“ in Cambridge, Massachusetts.65 Dieses Institut ____________ 63
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Zitiert nach dem Katalog Music from Garland 1990, Garland Publishing Inc., New York, Rückseite des vorderen Umschlags (Exemplar aus den Beständen des Verfassers). Dieser Katalog, 124 Seiten im amerikanischen Letter-Format umfassend, ist noch wesentlich vollständiger als der letzte dem Verfasser bekannte Katalog aus dem Jahre 1993. Da derartige Kataloge offenbar nicht zum Sammelgut von Bibliotheken gehören, ist nicht auszumachen, ob und wie viele Kataloge noch später erschienen sind. Besitzt man keinen Katalog, muss man das breite Repertoire dieser Provenienz in den Verzeichnissen der großen Lexika oder in dem gedruckten Werk von Hill und Stephens zusammensuchen (Heyers Verzeichnis ist mit dem Erscheinungsjahr 1980 für diese Reihen bereits zu alt). Diese Suche ist mühsam, und die Angaben sind oft ungenau. Eine Verlagssuche etwa im Karlsruher Virtuellen Katalog ist unpraktikabel, da aufgrund der auch andere Disziplinen umspannenden Aktivitäten des Verlags eine bis zu fünfstellige Trefferzahl ausgewiesen wird. Abhilfe verspricht hier eine (allerdings kostenpflichtige) Datenbank mit dem Titel „Index to Printed Music“ (siehe unten, Abschnitt „Schlussbemerkung“). Armen Carapetyan, The “Musica Nova” of Adriano Willaert, Phil. Diss. Harvard Univ. 1945; vgl. den Extrakt: The Musica Nova of Adrian Willaert, in: Journal of Renaissance and Baroque Music 1 (1946/47), S. 200–221 (das Journal wurde bald in Musica Disciplina umbenannt). Der Name lautete bis 1946 „Institute of Renaissance and Baroque Music“. Die folgenden Bemerkungen orientieren sich an einer kleinen Broschüre: Ten Years of the American Institute of Musicology, 1945–1955 (Exemplar in den Beständen des Verfassers; auch in wenigen Bibliotheken vorhanden, z. B. in der UB Marburg), die ohne Verfassernamen erschien, aber offen-
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nahm 1945 seine Arbeit auf; neben dem ständigen Direktor Carapetyan66 gab es ein „Advisory Board“, das eine lange Reihe illustrer Namen von Willi Apel bis Egon Wellesz aufwies. Die organisatorische Seele des Instituts war aber zweifellos der Gründer selbst, dessen Initiative es zu verdanken ist, dass die nur auf den ersten Blick uniform wirkende Musik der Renaissance – mit Ausnahme der schon früh in Gesamtausgaben erfassten Komponisten wie Johannes Ockeghem, Josquin des Prez, Giovanni Pierluigi da Palestrina oder Orlando di Lasso – in einer Vielzahl von Partituren studiert werden kann, die der zunehmenden Differenzierung der historischen Erforschung jener Jahrhunderte entspricht. Von den Publikationsreihen des Instituts sei im Folgenden allein die umfangreichste Reihe betrachtet.67 Die publizistischen Aktivitäten des Instituts werden auch nach dem Tod des Gründers und langjährigen Leiters fortgeführt.68 Corpus Mensurabilis Musicae (CMM) bedeutet in wörtlicher Übersetzung: „Repertoire ,meßbarer Musik‘“, d. h. von Werken, die in Mensuralnotation aufgezeichnet sind. Vereinzelt geht die Reihe ins (französische) 14. oder gar 13. Jahrhundert zurück; vgl. die Bände zu Jehannot de L’Escurel (CMM 30) und die große Reihe Trouvère Lyrics with Melodies. Complete Comparative Edition (CMM 107, 15 Bände). Der Löwenanteil der Bände bietet aber Musik, die in weißer Mensuralnotation notiert ist. Der Titel „CMM“ ist sozusagen ein „Metatitel“, der sich über 112 „Projekte“ (Stand Ende 2014) wölbt, die ihrerseits wieder aus einer Reihe von mehreren Bänden bestehen, deren Gesamtzahl sich derzeit wohl zwischen 400 und 500 bewegen dürfte. Die bibliographische Angabe CMM 52 bedeutet also nicht: CMM, Band 52, sondern CMM, Projekt 52. Oder konkret: „CMM 52 CLAUDIN DE SERMISY (ca. 1490–1562), Opera omnia, ed. Gaston Allaire and Isabelle Cazeaux in 6 vols.“; der Band Magnificats and Magnificat Sections wäre dann als CMM 52, Bd. 1 zu zitieren. Zugleich wird an diesem Beispiel ein typischer Zug der Projekte in CMM sichtbar: Meist – wenn auch nicht immer – handelt es sich um Gesamtausga____________
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sichtlich von Carapetyan verfasst ist. Die von Anfeindungen begleitete Frühgeschichte dieses Instituts bedarf noch der zusammenhängenden Darstellung. Lebensdaten: 1908–1992; vgl. den Artikel Carapetyan, Armen von Paula Morgan in: The New Grove, 2. Auflage 2001, Bd. 5, S. 115; Die Musik in Geschichte und Gegenwart enthält seltsamerweise keinen einschlägigen Artikel. Die andere Notenreihe heißt Corpus of Early Keyboard Music (CEKM) mit 48 Projekten (Stand Ende 2014). In den übrigen Reihen finden sich Studien zu Manuskripten (darunter der fünfbändige Census-Catalogue of Manuscript Sources of Polyphonic Music, 1400–1500), vor allem aber Ausgaben und Übersetzungen von Theoretikerschriften. Ferner gibt das Institut die Zeitschrift Musica Disciplina heraus. Näheres unter www.corpusmusicae.com.
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ben,69 also um die Publikation sämtlicher überlieferter Werke eines Komponisten, wobei hier die Ausmaße der Gesamtausgaben von Palestrina oder Lasso oder auch der Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts bei weitem nicht erreicht werden; immerhin aber bringt es Clemens non Papa (CMM 4) auf 21 Bände. Der Gründer charakterisiert die Reihe wie folgt: CMM […]: The musical monuments, so to speak, of the epochs dealt with by the Institute. Only complete collected works of a composer or a group of composers are published, and this only after every fragment of extant material has been collected (by photography), transcribed, collated. All variants and other critical material are accounted for in the critical notes of the edition. On the other hand, the musical transcriptions are designed to be clear and practical for performance.70
Die Bedeutung der Wendung „collected works of […] a group of composers“ wäre deutlicher von der Seite des Repertoires her zu bestimmen. Denn etliche Bände, die nicht zu den „klassischen“ Komponistenausgaben gehören, enthalten historisch, geographisch oder gattungsmäßig kohärente Repertoires, die insofern genau dem Auswahlprinzip typischer Denkmälerausgaben entsprechen, etwa: Music of Fourteenth-Century Italy (CMM 8, 5 Bände), Early Fifteenth-Century Music (CMM 11, 7 Bände), Cantus anonymorum de libris Petri Attaingnant (CMM 93, 5 Bände) oder The Gonzaga Masses in the Conservatory Library of Milan, Fondo Santa Barbara (CMM 108, 3 Bände).
IX.
Schlussbemerkung
Weit entfernt von einem für den Autor wie die Leserinnen und Leser mühsamen Versuch, Vollständigkeit zu erreichen, wurden in den vorangehenden Abschnitten einige wichtige Reihen als Beispiele für Reihen-Typen charakterisiert, die man dem Umkreis der Denkmälerausgaben zurechnen kann. Die Ausführungen wollen dazu ermuntern, solche Bände unbefangen in die Hand zu nehmen, auch wenn sie durch ihre Monumentalität, ihre nicht immer leicht zu lesende Notation und ihre womöglich antiquiert erscheinenden Reihentitel zunächst abweisend wirken mögen. Die Arbeit von weit über 100 Jahren intensiven und sorgfältigen Edierens hat ein Repertoire verfügbar gemacht, das ein ____________ 69
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Man wird Bibliotheken finden, in denen die CMM-Bände geschlossen aufgestellt sind, was eine beeindruckende Phalanx ergibt, aber auch solche, in denen die Gesamtausgaben alphabetisch in den vorhandenen Bestand an Gesamtausgaben eingereiht sind. Ten Years of the American Institute of Musicology (wie Anm. 66), S. 7.– Der einleitende Satz weist kein Prädikat auf, da er offensichtlich als stichwortartige Erläuterung des Inhalts der CMM formuliert ist.
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Einzelner heute kaum mehr in seiner Gesamtheit überblicken kann. Desto wichtiger ist es, Reihen zu kennen, die eigenen Interessen entgegenkommen, insbesondere dann, wenn diese Interessen auf das Kennenlernen eines größeren Werkbestandes und nicht lediglich eines bestimmten Einzelwerkes gerichtet sind. Anstelle des aussichtslosen Versuchs, über einige weitere Beispiele für nationale Reihen hinaus auch nur die wichtigsten Titel zu nennen, geschweige denn näher zu charakterisieren, sei auf die Bibliographie der weiterführenden Lexikonartikel, Verzeichnisse und Online-Projekte im Anhang verwiesen. Das Gedeihen von Denkmälerreihen setzt voraus, dass es eine funktionierende musikhistorische Forschung und einen Konsens über die Erfordernisse und Qualitäten wissenschaftlich fundierten Edierens gibt. Und es setzt voraus, dass es Werke gibt, die die Mühe einer aufwendigen und sorgfältigen Editionsarbeit auch lohnen. Im Bereich der Denkmäler sind Wertungen besonders dringlich. Denn während das Ende einer Gesamtausgabe gleichsam natürlich vorgegeben ist – irgendwann ist das letzte Werk eines Komponisten ediert –, müsste das inhaltliche Ende oder die „Erschöpfung“ einer Denkmälerausgabe durch Kritik gleichsam von außen her diagnostiziert werden. Einhellige Urteile sind hier nicht zu erwarten, auch deshalb nicht, weil fachliche und ökonomische Interessen, die auf verschiedener Ebene liegen, einander entgegenstehen können. Im Grunde genommen geht es um die Frage, ob das Meer der bewahrenswerten Überlieferung nicht eines Tages leergefischt sein könnte. Doch woher wäre ein verlässlicher und verpflichtender Maßstab zu nehmen? Wenn die historischen Kenntnisse im Laufe der Zeit anwachsen, dann kann relativ dazu das vordem Unscheinbare plötzlich in neuem Glanz erstrahlen: Das Attribut „bewahrenswert“ wäre damit nicht mehr absolut und ein für allemal zu bestimmen. Ohne Präjudiz kann immerhin gesagt werden, dass eine historische Forschung, die diesen Fragen nicht ausweicht, wesentlich ertragreicher sein dürfte als ein blindes Sammeln von Daten, Fakten oder Werken, das nicht unterscheiden kann oder will, ob ein Stück wirklich historisch bedeutsam oder einfach nur alt ist. Denkmälerreihen sind als Auswahlausgaben hinsichtlich ihrer Auswahlkriterien wie auch des Wertes der ausgewählten Stücke in weit höherem Maße einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt als Gesamtausgaben, die ihren Umfang aus einem simplen formalen Grundsatz ableiten können. Nach dem Verblassen des Prinzips nationaler Repräsentation als Grundidee einer Denkmälerreihe wäre die zeitgemäße Konzeption und Realisierung von begründet strukturierten, mehrbändigen Editionsprojekten als ebenso attraktive wie schwierige Aufgabe zu begreifen. Der Begriff des Denkmals würde dabei seine Grundbe-
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deutung wiedergewinnen als Zeichen der Erinnerung, das die Attribute des Autoritären, Einschüchternden und Monumentalen, die ihm nur akzidentiell und sekundär zugewachsen sind, endgültig abstreifen könnte.
X.
Anhang
1.
Einige Titel von nationalen Denkmälerreihen
Die Titel sollen lediglich die Verbreitung des Typus illustrieren. Um die bewusst karg gehaltene Auswahl der Titel weiter zu erleichtern, wurden nur vor 1980 gegründete Reihen berücksichtigt; das Gründungsjahr erscheint – in Anlehnung an die Angaben des Artikels Denkmäler im Riemann Musik Lexikon (s. u.) – in Klammern. Der Zusatz „kpl.“ bezeichnet komplettierte, abgeschlossene (nicht: abgebrochene) Projekte. Belgien: Monumenta Musicae Belgicae (1932) Deutschland: Neben Chrysanders und Eitners Denkmälern sowie neben den Denkmälern deutscher Tonkunst, den Denkmälern der Tonkunst in Bayern, dem Erbe deutscher Musik und den Publikationen älterer Musik sowie etlichen regionalen Reihen etwa noch die Reihe: Musikalische Denkmäler (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz 1955) England/Großbritannien: The English Madrigalists (The English Madrigal School; 1913, kpl.); Tudor Church Music (1923, kpl.); Musica Britannica („A National Collection of Music“, 1951); Early English Church Music (1963) Frankreich: Les Maîtres musiciens de la Renaissance française (1894); Monuments de la musique française au temps de la Renaissance (1924); Monuments de la musique ancienne (1925); Corpus des luthistes français (1965) Italien: L’Arte musicale in Italia (1897); I Classici della musica italiana (1919– 1921, kpl.); Istituzioni e monumenti dell’arte musicale italiana (1931); Monumenti di musica italiana (1961) Niederlande: Uitgave der Vereeniging voor Nederlandsche Muziekgeschiedenis (1869, auch mit abweichendem Titel); Monumenta Musica Neerlandica (1959) Österreich: DTÖ (durch Bedeutung und Langlebigkeit singulär, 1894); Denkmäler der Musik in Salzburg (1977) Polen: Antiquitates musicae in Polonia (1963) Portugal: Portugaliae Musica (1959) Schweden: Monumenta musicae svevicae (1958) Schweiz: Schweizerische Musikdenkmäler (1955) Spanien: Monumentos de la Música Española (1941) Tschechische Republik (Tschechoslowakei): Musica Antiqua Bohemica (Serie 1, 1949; Serie 2, 1966)
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2.
Literaturverzeichnis
a.
Zum Denkmälerwesen insgesamt, in chronologischer Reihenfolge (mit weiterführender Literatur, die für den vorliegenden Text nicht in spezifischer Weise verwendet wurde)
Forkel, Johann Nikolaus: Allgemeine Litteratur der Musik, Leipzig 1792 (Faksimile-Nachdruck Hildesheim 1962) Samuel Scheidt: Tabulatura nova für Orgel und Clavier, hrsg. von Max Seiffert, Leipzig 1892 (Denkmäler deutscher Tonkunst, Bd. 1; in Neuauflage hrsg. und kritisch revidiert von Hans Joachim Moser, Wiesbaden [u. a.] 1958) Adler, Guido u. a.: [Geleitwort], in: Johann Joseph Fux. Messen, hrsg. von Johannes Evangelist Habert und Gustav Adolf Glossner, Wien 1894 (Faks.-Nachdruck Graz 1959; Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Bd. 1) Kretzschmar, Hermann: Die Denkmäler der Tonkunst in Österreich, in: ders., Gesammelte Aufsätze über Musik und Anderes, Bd. 2: Gesammelte Aufsätze aus den Jahrbüchern der Musikbibliothek Peters, Leipzig 1911, S. 89–99; zuerst gedruckt in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1899, Sechster Jahrgang, hrsg. von Emil Vogel, Leipzig 1900, S. 53–63; mit kleinen Änderungen nachgedruckt in: Studien zur Musikwissenschaft. Beihefte der Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Bd. 5 (1918), S. 22–26 Schneider, Max: Denkmäler der Tonkunst vor hundert Jahren, in: Festschrift zum 90. Geburtstage Sr. Exzellenz des Wirklichen Geheimen Rates Rochus Freiherrn von Liliencron, überreicht von Vertretern deutscher Musikwissenschaft, Leipzig 1910, S. 278–289 Adler, Guido: Zur Vorgeschichte der „Denkmäler der Tonkunst in Österreich“ (anläßlich ihres 25jährigen Bestandes), in: Studien zur Musikwissenschaft. Beihefte der Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Bd. 5 (1918), S. 9–21 Anonym: Programm der „Abteilung zur Herausgabe älterer Musik bei der DMG“, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 8 (1925/26), S. 129–131; dazu: Satzungen der „Abteilung [usw.]“, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 7 (1924/25), S. 586f. Schering, Arnold: Über den Begriff des Monumentalen in der Musik. Zur Wiederkehr des 250. Geburtsjahres von Händel und Bach, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1934, 41. Jahrgang, hrsg. von Kurt Taut, Leipzig 1935, S. 9–24 Besseler, Heinrich: Das Erbe deutscher Musik, in: Deutsche Musikkultur 1 (1936/37), S. 14–18 Blume, Friedrich: Erbe und Auftrag, in: Deutsche Musikkultur 4 (1939/40), S. 1–11 Blume, Friedrich: Das Erbe deutscher Musik. Ein Bericht, in: Deutsche Musikkultur 7 (1942/43), S. 91–95, S. 127–131 und S. 149–153 Reese, Gustave: Maldeghem and His Buried Treasure, in: Notes 6 (1948/49), S. 75–117 Blume, Friedrich. Zur Lage der deutschen Musikforschung, in: Die Musikforschung 5 (1952), S. 97–109 Moser, Hans Joachim: Das musikalische Denkmälerwesen in Deutschland (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, hrsg. von der Gesellschaft für Musikforschung, Bd. 7), Kassel und Basel 1952 Schenk, Erich: Aus zwei Jahrzehnten „Denkmäler der Tonkunst in Österreich“ 1938–1956, in: Studien zur Musikwissenschaft 23 (1956), S. 1–10 Editionsrichtlinien musikalischer Denkmäler und Gesamtausgaben, im Auftrag der Gesellschaft für Musikforschung hrsg. von Georg von Dadelsen, Kassel [u. a.] 1967 Nipperdey, Thomas: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 206 (1968), S. 529–585 Georgiades, Thrasybulos G. (Hrsg.): Musikalische Edition im Wandel des historischen Bewußtseins (= Musikwissenschaftliche Arbeiten, hrsg. von der Gesellschaft für Musikforschung, Bd. 23), Kassel [u. a.] 1971 Schönherr, Max: Kompendium zur Publikationsreihe Denkmäler der Tonkunst in Österreich: Denkmäler der Tonkunst in Österreich, Band 1–120 (einschließlich Das Erbe deutscher Musik, II. Reihe, 1. Bd.), (= Studien zur Musikwissenschaft (Beihefte der DTÖ), Bd. 1–27), Graz 1974 Finscher, Ludwig: Musikalische Denkmäler und Gesamtausgaben, in: Musikalisches Erbe und Gegenwart. Musiker-Gesamtausgaben in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Hanspeter Bennwitz u. a., Kassel [u. a.] 1975, S. 1–13
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Wessely, Othmar: Zur Vorgeschichte des musikalischen Denkmalschutzes (= Mitteilungen der Kommission für Musikforschung Nr. 26), in: Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 113 (1976), S. 406–428 Schenk, Erich: Das achte Jahrzehnt der „Denkmäler der Tonkunst in Österreich“, in: Studien zur Musikwissenschaft 28 (1977), S. 13–17 Dahlhaus, Carl: Zur Ideengeschichte musikalischer Editionsprinzipien, in: Fontes Artis Musicae 25 (1978), S. 19–27 Scheuner, Ulrich: Die Kunst als Staatsaufgabe im 19. Jahrhundert, in: Ekkehard Mai, Stephan Waetzoldt (Hrsg.): Kunstverwaltung, Bau- und Denkmalpolitik im Kaiserreich, Berlin 1981, S. 13–46 Giesen, Bernhard (Hrsg.): Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung eines kollektiven Bewußtseins, Frankfurt/Main 1991 Dann, Otto: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, München 1993 Eybl, Martin und Elisabeth Th. Hilscher: Das zeitlose Denkmal. 100 Jahre Denkmäler der Tonkunst in Österreich, in: Österreichische Musikzeitschrift 49 (1994), S. 704–709 Hilscher, Elisabeth Th.: Denkmalpflege und Musikwissenschaft. Einhundert Jahre Gesellschaft zur Herausgabe [ergänze: von Denkmälern] der Tonkunst in Österreich (1893–1993) (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft, Bd. 33), Tutzing 1995 Brusniak, Friedhelm und Dietmar Klenke (Hrsg.): „Heil deutschem Wort und Sang!“ Nationalidentität und Gesangskultur in der deutschen Geschichte. Tagungsbericht Feuchtwangen 1994, Augsburg 1995 Gerhard, Anselm: Für den „Butterladen“, die Gelehrten oder „das practische Leben“? Denkmalsidee und Gesamtausgaben in der Musikgeschichte vor 1850, in: Die Musikforschung 57 (2004), S. 363–382 Klingende Denkmäler. Musikwissenschaftliche Gesamtausgaben in Deutschland, im Auftrag der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, vertreten durch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, hrsg. von Klaus Döge, Ulrich Krämer und Salome Reiser für die Fachgruppe Freie Forschungsinstitute in der Gesellschaft für Musikforschung, Mainz 2007 Fischer, Axel: Das Wissenschaftliche der Kunst. Johann Nikolaus Forkel als Akademischer Musikdirektor in Göttingen, Göttingen 2015
b.
Lexikonartikel sowie gedruckte und elektronische Verzeichnisse
Art. „Denkmäler“ (anon.), in: Riemann Musik Lexikon, 12. völlig neubearbeitete Auflage, Sachteil, begonnen von Wilibald Gurlitt, fortgeführt und herausgegeben von Hans Heinrich Eggebrecht, Mainz [u. a.] 1967, S. 198–215; geboten wird eine nach Ländern geordnete umfassende Liste mit Verzeichnung der Einzelbände, die am Ende (S. 212–215) durch ein Komponistenregister weiter erschlossen werden Art. „Denkmäler der Tonkunst“ (Wolfgang Schmieder), in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Friedrich Blume, Bd. 3, Kassel [u. a.] 1954, Sp. 164–192; geboten wird in übersichtlichem Layout eine gut systematisierte, detaillierte Auflistung von Denkmälerreihen unter Einschluss zahlreicher Anthologien Art. „Denkmäler und Gesamtausgaben“ (Dietrich Berke [unter partieller Verwendung des Textes der Ersten Ausgabe]), in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, hrsg. von Ludwig Finscher, Sachteil, Bd. 2, Kassel [u. a.] 1995, Sp. 1109–1156; geboten wird eine detaillierte Darstellung der historischen Entwicklung und eine aktualisierte, allerdings etwas unübersichtliche Liste, die gemäß dem neuen Titelstichwort auch die Gesamtausgaben umfasst Art. „Editions, historical“ (Sydney Robinson Charles; lists with Julie Woodward), in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg. von Stanley Sadie, London [u. a.] 1980, Bd. 5, S. 848–869; geboten wird neben einem kurzen einleitenden Text eine umfassende Liste, die auch Anthologien und Gesamtausgaben einschließt Art. „Editions, historical“ (Sydney Robinson Charles, George R. Hill, Norris L. Stephens, Julie Woodward), in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, 2. Auflage, hrsg. von Stanley Sadie und John Tyrrell, London [u. a.] 2001, Bd. 7, S. 895–898; der auf S. 885–895 gedruckte Art. „Editing“ (John Grier) bildet eine sinnvolle Ergänzung. Die Liste ist separat gedruckt in Bd. 28: Appendixes, London [u. a.] 2001, S. 169–196
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Heyer, Anna Harriet: Historical Sets, Collected Editions, and Monuments of Music. A Guide to Their Contents, Third Edition, 2 Bände: Bd. 1: Text [d. h. Verzeichnung der Ausgaben und ihrer Einzelbände in alphabetischer Folge ohne Binnengliederung], Bd. 2: Index (ca. 400 S.), Chicago 1980 Hill, George R. und Norris L. Stephens: Collected Editions, Historical Series & Sets & Monuments of Music: A Bibliography, Berkeley 1997 Als Ausgangspunkt von Erkundungen im Internet kann z. B. die Adresse www.vifamusik.de dienen. Grundsätzlich versuche man, Denkmälerreihen unter ihrem Titel oder aber unter den Namen der Verlage aufzurufen. Die Ausbeute ist größer, als man vielleicht vermutet. In mehreren Sprachen benutzbar ist der folgende „Meta-Katalog“: „Karlsruher Virtueller Katalog“ (KVK) unter www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html. Viele der vom KVK aus erreichbaren OPACs bieten Verlinkungen zu vorhandenen Digitalisaten; dasselbe gilt für die Sammeladressen von imslp und wikisource. Die Angebote werden gewiss weiter zunehmen. Zu erwähnen ist schließlich der „Index to Printed Music: Collections & Series“ (IPM). Im „Datenbank-Infosystem (DBIS)“ (mittels Suchmaschine leicht zu finden und frei zugänglich – im Gegensatz zur Datenbank selbst) wird das Projekt wie folgt beschrieben (Stand: April 2014): „Die bibliographische Datenbank beinhaltet über 365.000 Nachweise von Musikstücken, die in Werkausgaben und Reihen zur klassischen Musik abgedruckt worden sind. Grundlage ist die Fachbibliographie Collected Editions, Historical Series & Sets & Monuments of Music: A Bibliography, by George R. Hill and Norris L. Stephens, Berkeley: Fallen Leaf Press 1997. Darüber hinaus sind Namensvarianten und Lebensdaten von rund 20.000 Komponisten, Librettisten und Herausgebern abrufbar.“ Diese (derzeit) nicht frei zugängliche Datenbank ist keineswegs ein Ersatz für die weiter oben genannten Bibliographien von Heyer bzw. Hill und Stephens, sondern eine notwendige Ergänzung: Die Eingabe des Suchwortes „Magnificat“ weist alle einschlägigen Kompositionen gemäß Reihe, Band und Seitenzahl nach (gegebenenfalls mit Verlinkung zu digitalen Volltexten), sofern die Reihen Teil der Grundlagenbibliographie von Hill und Stephens sind, die ihrerseits den Überblick über Reihen und Bände liefert.