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German Pages 244 Year 2023
Hermann Dörries
Arbeiten zur Kirchengeschichte
Begründet von Karl Holl † und Hans Lietzmann † Herausgegeben von Christian Albrecht, Christoph Markschies und Christopher Ocker
Band 158
Hermann Dörries
Ein Kirchenhistoriker im Wandel der Zeiten
Herausgegeben von Aneke Dornbusch und Peter Gemeinhardt
ISBN 978-3-11-069006-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069009-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069017-0 ISSN 1861-5996 Library of Congress Control Number: 2022949472 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Aneke Dornbusch und Peter Gemeinhardt Einleitung 1
Hermann Dörries – biographische und institutionengeschichtliche Streiflichter Hans Otte Hermann Dörries als ‚Kind‘ der hannoverschen Landeskirche und als Abt von Bursfelde 11 Martin Keßler „Luther und Deutschland“ – Hermann Dörries’ Lutherrede 1933 25 im zeitgenössischen Kontext Hansjörg Buss Zwischen den Reichen: Hermann Dörries in den Jahren 49 der nationalsozialistischen Diktatur Aneke Dornbusch Hermann Dörries und Hans Freiherr von Campenhausen Eine Freundschaft unter Theologen im Spiegel ihres Briefwechsels
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Hermann Dörries und seine kirchengeschichtlichen Arbeitsfelder Adolf Martin Ritter Hermann Dörries als Erforscher der Kirchen- und Dogmengeschichte der Spätantike 87 Peter Gemeinhardt Hermann Dörries und die Geschichte des Mönchtums
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Martin Illert Hermann Dörries und „sein“ Makarios Von „Symeon von Mesopotamien“ (1941) bis zur „Theologie des Makarios/Symeon“ (1978) 137
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Inhalt
Uta Heil Hermann Dörries als Erforscher des frühen Mittelalters
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Christoph Schönau Dörries’ Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold im Kontext der Arnold171 Forschung Thomas Kaufmann Grundzüge des Lutherverständnisses Hermann Dörriesʼ, vor allem anhand des dritten Bandes seiner Aufsatzsammlung Wort und Stunde 199 dargestellt Die Autorinnen und Autoren
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229 Register Personen und Schriften aus vormoderner Zeit 230 Personen und Autoren ab 1800 235 Orte und Sachen
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Aneke Dornbusch und Peter Gemeinhardt
Einleitung Am 15. Juli 2020 jährte sich zum 125. Mal der Geburtstag des evangelischen Kirchenhistorikers Hermann Dörries, der bei seinem Tod als „Nestor der deutschen protestantischen Kirchengeschichtswissenschaft“ bezeichnet wurde.1 Ob dieses Epithet in einem Nachruf im Göttinger Tageblatt die Realität widerspiegelte oder sich der althergebrachten Göttinger Begeisterung für die einheimische Professorenschaft verdankte, ist eine berechtigte Frage. Denn schon im Vergleich zu Dörries’ Heidelberger Kollegen und langjährigem Briefpartner Hans Freiherr von Campenhausen ist die Frage nach dem einflussreichsten Kirchengeschichtler jener Generation nicht eindeutig zu beantworten. Sich selbst hätte der als „sachlich, bescheiden, sehr unterrichtet“ und „ein Niedersachse, wie er im Buche steht“ 2 beschriebene Dörries wohl kaum so benannt. Es liegt dennoch auf der Hand, dass ein Wissenschaftler wie Dörries, der noch vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Studium der Theologie begonnen hatte und die Umwälzungen in der deutschen Politik, Gesellschaft und Universität über Jahrzehnte hinweg erlebte und kommentierte, als Zeuge seiner Zeit und als Akteur in Universität und Kirche von Interesse sein könnte, und zwar für das Schreiben der Zeitgeschichte ebenso wie für die Fachgeschichte der Theologie und für die Institutionengeschichte der Universität. Sich diesen Problemzusammenhängen aus der Perspektive einer einzelnen Biografie anzunähern, ist das Ziel dieses Bandes. Mit Hermann Dörries wird damit ein Vertreter der Generation von Hochschullehrern in den Blick genommen, deren akademische Anfänge in der Zwischenkriegszeit lagen, deren Breitenwirksamkeit sich aber nach 1945 erst wirklich entfaltete und die in der Zeit vor den Umwälzungen um 1968 den Ton im Fach – und vielfach auch darüber hinaus – angaben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien aus der Generation der um 1900 geborenen, kurz vor oder nach 1930 erstmals auf Professuren berufenen deutschen Kirchenhistoriker neben Dörries und von Campenhausen3 noch Hanns Rückert (1901–1974), Heinrich Bornkamm (1901–1977)
1 NN, Professor D. Hermann Dörries verstorben, Göttinger Tageblatt, 19. 11. 1977. 2 So formuliert von seinem Mentor Karl Müller, vgl. Kurt Aland (Hg.), Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutsche Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892–1942), Berlin 1979, Nr. 582. 3 In seinem Fall dauerte es allerdings bis 1945, ehe er die ihm bereits 1937 zugedachte Professur in Heidelberg tatsächlich antreten konnte. Vgl. Peter Gemeinhardt, Hans von Campenhausen (1903– 1989) als Stiftsinspektor, in: Bernd Schröder/Heiko Wojtkowiak (Hg.), Stiftsgeschichte(n). 250 Jahre Theologisches Stift der Universität Göttingen (1765–2015), Göttingen 2015, 221–234, bes. 222 f. https://doi.org/10.1515/9783110690095-001
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Aneke Dornbusch und Peter Gemeinhardt
oder Ernst Wolf (1902–1971) genannt – nicht zu vergessen Hanna Jursch (1902– 1972), die allerdings erst 1956 den Lehrstuhl ihres Lehrers Karl Heussi in Jena übernehmen konnte. Diese Generation erlebte einen rasanten Wandel der Zeiten und der politischen Systeme und gestaltete ihn aktiv mit, in unterschiedlichen Konstellationen von Nähe und Distanz zu Demokratie und Diktatur. Dabei hat die Zeit des Nationalsozialismus im Blick auf die Institution Universität insgesamt, aber auch hinsichtlich ihrer einzelnen Teile (Fakultäten) und individueller Akteurinnen und Akteure in den vergangenen Jahrzehnten berechtigterweise große Aufmerksamkeit erfahren. Das gilt jedoch nicht in gleichem Maße für die Nachkriegszeit, und auch die Weimarer Republik hat lange zugunsten des Einschnitts von 1933 zurückgestanden. Die Auseinandersetzung mit Dörries und seinen Zeitgenossen führt also streckenweise auf Neuland und eröffnet zugleich auch auf die Zeit des „Dritten Reiches“ neue Perspektiven. Beides ist gerade für die Theologische Fakultät der Universität Göttingen von Bedeutung. Die Erforschung der Geschichte dieser Fakultät war über lange Zeit von der kritischen Auseinandersetzung mit dem Decanus perpetuus der 1930er Jahre, Emanuel Hirsch (1888–1972), geprägt, ja anfangs fast völlig darauf beschränkt.4 In Einzelbeiträgen im Aufsatzformat wurden seit den 1980er Jahren wichtige Schneisen geschlagen, die bereits die Vielfalt der politischen (und kirchenpolitischen) Haltungen der Akteure ins Licht rückten, sich allerdings überwiegend auf die Phase des Nationalsozialismus konzentrierten.5 Erst 2021 erschien, ermöglicht durch ein von der Fakultät ausgeschriebenes Forschungsstipendium und verfasst von Hansjörg Buss, eine monografische Untersuchung zur Göttinger Theologischen Fakultät, die die Zeit vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland einbezog.6 Damit ist ein Fundament gelegt, auf dem weitere Untersuchungen, insbesondere zur Zeit nach 1945 bzw. 1949, aufbauen können. Warum sollte unter den damaligen Protagonisten nun gerade Hermann Dörries besonderes Interesse genießen? Ein Grund liegt zunächst schlicht in seiner – selbst für Göttinger Verhältnisse – überdurchschnittlich langen Verweildauer an
4 Vgl. Robert P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München 1986, bes. Kap. 4 („Emanuel Hirsch – Der Nazi-Intellektuelle“). 5 Vgl. pars pro toto aus dem Umfeld des Universitätsjubiläums von 1987 die Beiträge von HansWalter Krumwiede, Göttinger Theologie im Hitler-Staat, JGNKG 85 (1987), 145–178, und Inge Mager, Das Verhältnis der Göttinger Theologischen Fakultät zur Hannoverschen Landeskirche während des Dritten Reiches, JGNKG 85 (1987), 179–198; weiterhin Rudolf Smend, Eine Fakultät in kritischer Zeit. Die Göttinger Theologie zwischen 1930 und 1950, Göttinger Jahrbuch 50 (2002), 149–163. 6 Hansjörg Buss, Wissenschaft – Ausbildung – Politik: Die Göttinger Theologische Fakultät in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, Göttingen 2021 (https:// doi.org/10.17875/gup2021-1821).
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der Fakultät,7 woraus sich der Umstand ergibt, dass sich deren Geschicke und Konflikte zu einem guten Teil in den über ihn erhaltenen Quellenbeständen spiegeln. Hinzu kommt, dass er sich bewusst als „hannoversches Landeskind“ empfand und seiner eigenen Aussage nach 1946 sogar vor allem deshalb der Fakultät treu blieb, damit sie nicht völlig von „landeseigenen“ Mitgliedern entblößt würde. 1895 als Pfarrerskind in Hannover geboren, lehrte Dörries nach Stationen in Marburg und Tübingen seit 1929 an der Universität Göttingen und blieb auch nach seiner Emeritierung 1963 bis zu seinem Tod 1977 an der Fakultät präsent. Sein Wirken ist demnach aufgrund der zeitgeschichtlichen Umstände, unter denen er lehrte und forschte, und der in dieser Zeit eingetretenen politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen Wandlungsprozesse von großem Interesse. Dörries war nicht nur Beobachter, sondern auch Akteur: Der konservative Nationalist trat 1933 in die NSDAP ein, engagierte sich aber in den nächsten Jahren für die Ziele der Bekennenden Kirche, was ihn unter anderem in Konflikt mit dem Dekan und Fachkollegen Hirsch brachte, mit dem er zuvor zum „Fall Dehn“ übereinstimmend Stellung genommen hatte. Nach Kriegsende trat Dörries zwar nicht durch parteipolitisches Engagement, wohl aber durch sein Bemühen um internationale Netzwerkbildung hervor, was für einen deutschen Theologen jener Zeit durchaus nicht selbstverständlich war. Ein weiterer, ebenso wichtiger Grund ist fachgeschichtlicher Natur: Dörries pflegte zunehmend breit gefächerte Forschungsinteressen, die vom frühen Mönchtum über die Germanenmission und die Reformation bis hin zum radikalen Pietismus reichten. Hatte er in seinen Qualifikationsschriften und auch in der Folgezeit zunächst über Themen aus der Patristik gearbeitet, begann er sich in den 1930er Jahren intensiv mit Luther zu beschäftigen und leistete einen wichtigen, auf Entmythologisierung zielenden Beitrag zur Debatte um die germanische Religion und Mission. Die Arbeit an seinem „Lebenswerk“ – die Edition und Erforschung der Makarios-Tradition – wurde durch Diktatur und Krieg verzögert und konnte erst in der Bundesrepublik zum Abschluss kommen; bereits 1941 erschien seine erste, nur noch posthum 1978 seine zweite Makarios-Monografie. Dass Dörries daneben, wie gesagt, eine ganze Reihe von anderen Themen – teils über Jahrzehnte hinweg – bearbeitete und dadurch faktisch mit mehreren Lebenswerken befasst war, dokumentieren die drei Bände mit seinen gesammelten Aufsätzen, die von 1966 bis 1970 unter dem Titel Wort und Stunde erschienen und Beiträge aus vier Jahrzehnten und fast allen Epochen der Kirchengeschichte vereinten. Eine eingehende Würdigung und zeitgeschichtliche Kontextualisierung dieses Oeuvre war bisher ein Desiderat.
7 Unter den Kirchenhistorikern liegt mit heute vermutlich uneinholbaren 49 Amtsjahren Gottlieb Jakob Planck (1784–1833) an der Spitze, danach folgt jedoch gleich Hermann Dörries.
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Aneke Dornbusch und Peter Gemeinhardt
Zuletzt bietet sich Hermann Dörries als Forschungsobjekt aufgrund der hervorragenden Quellenlage zu seiner Person an, für die er zum Teil selbst verantwortlich ist. Ein umfangreicher Nachlass, den Dörries zu Lebzeiten zweifellos bereits vorbereitete, wurde nach seinem Tod an das Bundesarchiv in Koblenz übergeben und zahlreiche Personal- und Sachakten lagern in Universitäts- und Kirchenarchiven. Dörries selbst versperrte sich einer Aufarbeitung seines Lebens – auch in der Zeit des Nationalsozialismus – nicht, sondern stand Schülerinnen und Schülern Rede und Antwort 8 und legte Freunden und Kollegen seine Beweggründe in Briefen dar. Angesichts dieses Befundes entstand an Dörriesʼ „Heimatfakultät“ in Göttingen der Plan, sein Leben und Werk in Form einer Konferenz zu würdigen. Die Tagung sollte dabei an das von der Mitherausgeberin dieses Bandes daselbst durchgeführte Dissertationsprojekt über Hermann Dörries anknüpfen und dieses ergänzen.9 Die Forschungen in diesem Dissertationsvorhaben verfolgten das Ziel einer Gesamtschau von Dörriesʼ Leben und Werk unter dem besonderen Fokus auf die Wechselwirkungen zwischen seiner wissenschaftlichen Arbeit und den politischen Systemen, die ihn umgaben und seine Weltwahrnehmung, aber auch – wie erwähnt – seine fachlichen Schwerpunktsetzungen beeinflussten. Es erschien daher sinnvoll und angemessen, das lineare, biografisch ausgerichtete Projekt durch eine Tagung zu erweitern, die sich einzelnen Aspekten in Form von Tiefenbohrungen widmen und vor allem die Perspektiven verschiedener Forscherinnen und Forscher aus Theologie und Geschichtswissenschaft auf Dörries vereinen würde.10 Wie so viele Projekte war auch die Tagung „Hermann Dörries – ein Kirchenhistoriker im Wandel der Zeiten“ von der Corona-Pandemie betroffen und konnte nicht, wie ursprünglich geplant, in zeitlicher Nähe zu Dörries’ 125. Geburtstag stattfinden, sondern wurde erst ein Jahr später, am 25. und 26. Juni 2021, in digitaler
8 Vgl. dazu die Aussage von Adolf Martin Ritter in Konstantin – Theodosius – Justinian. Anmerkungen zum Bild dreier spätantiker Kaiser in der Darstellung Hermann Dörries, in: Uta Heil/ Jörg Ulrich (Hg.), Kirche und Kaiser in Antike und Spätantike. Festschrift für Hanns Christof Brennecke (AKG 136), Berlin/Boston 2017, 204–224, 204. 9 Das Promotionsvorhaben wurde 2022 abgeschlossen, die Dissertation ist kürzlich im Druck erschienen: Aneke Dornbusch, Hermann Dörries (1895–1977) – Ein Kirchenhistoriker im Wandel der politischen Systeme (Christentum in der modernen Welt 3), Tübingen 2022. 10 Gegenüber dem Mitherausgeber dieses Bandes hatte die 2016 verstorbene Prof. Anneliese Sprengler-Ruppenthal bereits vor Jahren eine solche Gedenktagung angeregt, auch aus der Verbundenheit ihrem Doktorvater heraus, der ihr, wie sie berichtete, mit einer für das Jahr ihrer Promotion (1950) durchaus nicht üblichen Offenheit gegenüber einer Doktorandin begegnet war. Vgl. auch Anneliese Sprengler-Ruppenthal, Frau zwischen Liebe, Forschung und Hochschulwogen, Norderstedt 2006.
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Form durchgeführt. Festgehalten werden konnte aber das Ziel, dass die Tagung besonders von ihrer Multigenerationalität profitieren sollte: Neben Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern und „arrivierten“ Forschenden konnten vor allem auch Beitragende gewonnen werden, die Hermann Dörries noch selbst kannten und persönlich berichten konnten.11 Auch einige weitere Personen aus dem Kollegen- und Schülerkreis von Hermann Dörries – mit seinem Patensohn Axel Freiherr von Campenhausen sogar ein Familienmitglied im weiteren Sinne – besuchten die Tagung und beteiligten sich an der Diskussion. Die Ausrichter schätzen sich glücklich, dass die Vortragenden bereit waren, sich den unausweichlichen Einschränkungen zu unterwerfen, die eine Online-Tagung mit sich brachte, und dass zur Veröffentlichung in diesem Sammelband beinahe alle Vorträge zur Verfügung gestellt wurden. Zusammen mit der oben erwähnten Dissertation liegen somit nun zwei Publikationen vor, die Hermann Dörriesʼ Werk und Leben einmal als Gesamtschau und daneben in Form von Einzelstudien betrachten. Der vorliegende Band setzt dabei zwei Schwerpunkte. Der erste Teil nimmt gezielte biografische Mikroanalysen vor. Dabei kommen Momente und Aspekte in den Blick, die in der bisherigen Forschung zu Dörries noch nicht untersucht wurden oder deren Deutung bis heute stark umstritten ist. Hans Otte schlägt von der Gestalt von Hermann Dörriesʼ Vater Bernhard Dörries über die Konflikte in der Zeit des Nationalsozialismus bis zu Dörriesʼ Ernennung zum Abt von Bursfelde 1960 einen weiten Bogen, indem er Dörries’ Biografie auf die vielfältigen Verknüpfungen zu seiner „Heimatlandeskirche“ Hannovers hin in den Blick nimmt. Dabei sind auch die Fehlstellen informativ, denn offenbar war Dörries selbst nicht in Konflikte mit der Landeskirche verstrickt, was zum Anlegen von Aktenbeständen hätte führen müssen. Instruktiv sind hingegen die sich an seine Amtsübernahme knüpfende Frage nach dem Charakter der Abtswürde von Bursfelde und dem dabei erforderlichen Zusammenwirken von Bundesland, Landeskirche und Universität – hier wird ein Klärungsbedarf deutlich, der mittelfristig zur Ausgestaltung des Bursfelder Abbatiats in der heutigen Form führen sollte. Martin Keßler untersucht Dörriesʼ viel beachtete, sowohl berühmte als auch berüchtigte Rede zum Lutherjubiläum 1933, indem er sie in den Kontext der zum selben Anlass gehaltenen Lutherreden und -forschung einordnet und Dörriesʼ frühes philologisches Arbeiten mit Luther einer kritischen Prüfung unterzieht. Es wird aber auch gefragt, inwieweit in dieser Rede – wie immer wieder betont worden ist – mehr oder weniger klar erkennbar Kritik am nationalsozialistischen Regime geäußert wurde. Der Beitrag von Hansjörg Buss ist eine Vertiefung seiner vor kurzem erschienenen detaillierten Analyse der Göttinger Theologischen Fakultät im Natio-
11 Der von Reinhart Staats (Kiel) vorgetragene persönliche Rückblick auf Dörries als akademischen Lehrer stand leider nicht für die Veröffentlichung zur Verfügung.
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nalsozialismus (s. o. Anm. 6): Dörriesʼ in der Vergangenheit durchaus als unklar beschriebenes Verhalten an der Fakultät zwischen den Jahren 1933 bis 1945 wird hier anhand der uns heute zur Verfügung stehenden Quellen durchsichtig gemacht. Die an seiner Person aufgezeigte Spannung von grundsätzlicher Loyalität zum Regime und widerständigem Verhalten, wo dieses in universitäre und kirchliche Belange einzugreifen versuchte (was an der Göttinger Fakultät durchaus nicht gegen den Willen des Dekans Hirsch, sondern in Kooperation mit diesem geschah), kann als generationentypisch gelten. Zuletzt führt der Beitrag von Aneke Dornbusch bis in die Bundesrepublik hinein. Sie stellt den von ihr wieder zusammengeführten Briefwechsel zwischen Hermann Dörries und seinem Freund und Kollegen Hans von Campenhausen vor und beleuchtet Episoden dieser Freundschaft zwischen den 1930er und 1970er Jahren. Das briefliche Gespräch dieser beiden Kirchenhistoriker ist auf seine Weise eine einzigartige Quelle für die Wahrnehmung der zeitgenössischen politischen, kirchlichen und akademischen Entwicklungen und für die sehr persönlichen Sichtweisen auf den Wandel der Zeiten. Im zweiten Teil des Bandes unterziehen Kirchenhistorikerinnen und -historiker unterschiedlicher Generationen aus der Sicht ihrer je eigenen Arbeitsschwerpunkte Dörriesʼ vielfältiges kirchengeschichtliches Werk einer Prüfung: Aus welcher Tradition heraus und mit welchem Interesse schrieb Dörries zu Konstantin, Makarios oder dem Pietismus? Welche zeitgenössischen Einflüsse sind in seinen Arbeiten zu erkennen, welche konkreten Anlässe für seine Arbeiten auszumachen? Und wie ist seine Forschung heute mit dem Abstand von rund fünfzig Jahren einzuschätzen, welche Thesen haben Bestand oder regen jedenfalls weiterhin Diskussionen an, und welche Werke sind (zurecht) in die hinteren Reihen der Bibliotheken gerückt? Adolf Martin Ritter, den Dörries einst zu seinem Promotionsprojekt anregte und der in seinem Beitrag wertvolle persönliche Eindrücke weitergibt, betrachtet Dörries als Erforscher altkirchlicher Kaiser und Dogmen. Er ordnet insbesondere Dörries’ Monografien zu Kaiser Konstantin, aber auch seine nach wie vor beachtenswerte dogmengeschichtliche Untersuchung zu Basilius von Caesarea in den Kontext der damaligen und heutigen Forschung ein. Daran anschließend unterzieht Peter Gemeinhardt Dörries’ Arbeiten zum Mönchtum, insbesondere zu den von letzterem als authentische Quelle hochgeschätzten Apophthegmata Patrum, einer kritischen Überprüfung. Der Blick ins ägyptische Kellion des 4. Jahrhunderts führte Dörries zu Aussagen, deren lutherische Färbung nicht zu verkennen ist – der protestantische Kirchenhistoriker begriff die Väter der Wüste und weitere monastische Traditionen als wichtige Gesprächspartner auch für den modernen Protestantismus, deren aus Erfahrung gespeiste Autorität nicht unterschätzt werden dürfe. Zu einem ähnlichen Schluss gelangt auch Martin Illert in Bezug auf Dörriesʼ Studien zu den Makarioshomilien, denen er als seinem Lebenswerk nicht
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nur, wie erwähnt, zwei Monografien widmete, sondern deren kritische Edition er über Jahrzehnte vorantrieb, auch in oft staatlicherseits erschwerter Kooperation mit Kollegen aus der damaligen DDR. Einen Sonderfall stellen Dörriesʼ Arbeiten zur Missionsgeschichte des Frühmittelalters dar. Diese entstanden mitten im „Glaubenskampf“ des Nationalsozialismus, wie Uta Heil in ihrem Beitrag nachvollzieht. Hier ist bemerkenswert, dass Dörries sich einerseits auf die ihm vorgegebenen Diskurse über das „Germanentum“ einließ, sie aber andererseits durch kritische Forschung als ideologisch zu entlarven versuchte. Allerdings ist die Forschung in diesem Bereich über Dörries’ Erkenntnisse weit hinausgelangt. Wiederum einen völlig anderen Hintergrund, eine Auseinandersetzung mit Erich Seeberg, hat das von Christoph Schönau untersuchte Dörries-Buch zu Gottfried Arnold, das letztlich auch wieder mit seinem Interesse an Makarios zu tun hat – einem Forschungsfeld, das ihm schon 1941, wie Schönau herausarbeitet, den Weg zur Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen geebnet und damit auch die Möglichkeit, seine ArnoldStudien als Akademieabhandlung zu veröffentlichen, eröffnet hatte. Zuletzt bietet Thomas Kaufmann – gewissermaßen komplementär zu Martin Keßlers zeitgeschichtlich angelegtem Beitrag – einen forschungsgeschichtlichen Einblick in Dörries’ Auseinandersetzung mit Luther und der seinerzeitigen Lutherforschung. Die hier gewonnenen Erkenntnisse formten wie kaum ein anderes Arbeitsfeld Dörriesʼ persönliche Überzeugungen. Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind weder dazu gedacht noch dazu geeignet, einen Schlussstrich unter die Forschung zu Hermann Dörries zu ziehen. Vielmehr zeigen sie das Potenzial weiterer theologiegeschichtlicher Forschung zu diesem Kirchenhistoriker, zu seinen Generationskollegen und zur Entwicklung der Kirchengeschichte im Besonderen und der akademischen Theologie im Allgemeinen im Laufe des 20. Jahrhunderts auf. Die Beschäftigung der Kirchengeschichte mit ihrer eigenen Vergangenheit steht ihr nicht nur gut zu Gesicht, sondern dient vor allem der eigenen Traditions- und Standortbestimmung. Gerade abseits der Erforschung der Haltung protestantischer Theologen zur nationalsozialistischen Diktatur liegt noch viel zu Leben und Werk von Dörries und seinen Zeitgenossen und -genossinnen im Dunkeln beziehungsweise in den Regalen der Archive. Ein Anfang ist gemacht. Last but not least ist es den Herausgebenden dieses Bandes eine freudige Pflicht, verschiedenen Personen Dank abzustatten: zunächst den Autorinnen und Autoren der hier versammelten Beiträge für das Vortragen und Schreiben und manche begleitenden Gespräche; sodann den Reihenherausgebern für die Aufnahme des Bandes in die „Arbeiten zur Kirchengeschichte“ und Herrn Dr. Albrecht Döhnert vom Verlag de Gruyter für die gute Zusammenarbeit; schließlich den studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften Elisabeth von Baumbach und
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Aneke Dornbusch und Peter Gemeinhardt
Wienke Imke Meyer (Göttingen) sowie Amrei Kerscher (Bonn) für die tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts. Unser Dank gilt auch der FritzThyssen-Stiftung, die für die ursprüngliche Tagung finanzielle Unterstützung zugesagt hatte, die aber aufgrund der Verlagerung ins Virtuelle nicht in Anspruch genommen werden konnte und musste. So mag der vorliegende Band, der eine Online-Tagung in Form eines „klassischen“ gedruckten Buches dokumentiert, ein Zeichen dafür sein, dass der Wandel der Zeiten nicht einfach linear voranschreitet. Wie sich Kontinuität und Wandel verschränken und wie vergangene Lebensund Schaffenswege auch in späteren Zeiten anregend sein können – dafür ist die Beschäftigung mit Hermann Dörries ein gutes Beispiel.
Hermann Dörries – biographische und institutionengeschichtliche Streiflichter
Hans Otte
Hermann Dörries als ‚Kind‘ der hannoverschen Landeskirche und als Abt von Bursfelde Auf den ersten Blick scheint der Begriff „Kind“ zur Charakterisierung von Hermann Dörries (1895–1977) kaum angemessen zu sein. Dörries galt oft als steif und zurückhaltend; im Unterschied zu dem Heidelberger Kirchenhistoriker Hans von Campenhausen (1903–1989), der Witz und Scherze liebte, galt er als wenig kindlich, oft geradezu als Inbegriff des steifen Hannoveraners, zu dem das Bild eines Kindes nur selten passt. Aber selbstverständlich ist das Bild des Kindes übertragen gemeint, und dann ist diese Bezeichnung richtig, denn Dörries kam – wenn man so will – aus der hannoverschen Landeskirche; sein Vater und der Großvater waren hier Pastoren. Besonders profiliert war der Vater Bernhard Dörries (1856–1934); als Schüler des Göttinger Theologen Abrecht Ritschl (1822–1889) war er um 1900 der wohl wichtigste Repräsentant liberaler Theologie in der Stadt Hannover. Um die Wende zum 19. Jahrhundert hatte es in der hannoverschen Landeskirche eine Generation junger Theologen gegeben, die sich pointiert gegen den lutherischen Konfessionalismus wandten, wie er in milder Form durch den Loccumer Abt Gerhard Uhlhorn (1826–1901), in schroffer Form – etwas früher – durch den hannoverschen Pastor August Ludwig Petri (1803–1873) repräsentiert worden war. Ein Wortführer dieser ‚jungen Generation‘ liberaler Theologen war Bernhard Dörries gewesen, der Vater von Hermann Dörries.1 Bernhard Dörries hatte als Pastor im Südosten der Stadt Hannover eine neue Kirchengemeinde aufgebaut, mit allem, was dazu gehörte: eine neue Kirche, dazu Gemeinderäume, ein neues Pfarrhaus.2 Wichtiger war aber wohl, dass sich Bernhard Dörries weit über den Rahmen gängiger Gemeindearbeit hinaus engagiert für Bewohner seiner neu gegründeten Kirchengemeinde eingesetzt hatte: Er war Mitgründer einer Baugenossenschaft gewesen, hatte auch einen Spar- und Darlehnsverein gegründet, kurzum: Bernhard Dörries war ein ‚moderner‘ Theologe und Praktiker par excellence. Dazu gehörte auch, dass er im Kampf gegen den lutherischen Konfessionalismus alle Stilmittel des Witzes und der Ironie nutzte,
1 Ev.-luth. Kirchengemeinde Hannover-Kleefeld. Vgl. dazu: Philipp Meyer, Dörries, Bernhard, NDB 4 (1959), 37–38; Karl-Friedrich Oppermann, Dörries, Bernhard, Hannoversches Biographisches Lexikon (2002), 97. 2 Peter Helbich, 100 Jahre Bauen an der Petrikirche, in: 100 Jahre Petrikirche, hg. vom Kirchenvorstand, Hannover 2002, 8–16. https://doi.org/10.1515/9783110690095-002
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Hans Otte
so als Herausgeber der überregionalen Zeitschrift Kirchliche Gegenwart, dem liberalen Gemeindeblatt für die Provinz Hannover und das Herzogtum Braunschweig; ebenso war er Mitgründer des „wissenschaftlichen Predigervereins“ und der „Freunde evangelischer Freiheit“. Blickt man auf den Vater Bernhard, kann man Hermann Dörries ohne weiteres als Kind eines liberalen Theologen und liberaler Theologie bezeichnen. Das stellt natürlich sofort die Frage, wie weit bei Dörries zentrale Motive der liberalen Theologie fortwirkten, dazu gehörte in jedem Fall das Drängen auf Wahrhaftigkeit, aber auch die Distanz zum überkommenen Bekenntnis, um gleichsam unbefangen zu prüfen, was man für sich als Glaubensgut übernehmen wolle. Formuliert man das so, muss bei der Frage nach der liberalen Theologie von Vater und Sohn Dörries beachtet werden, dass zwischen dem Wirken der beiden Theologen eine Grenzscheide existiert: das Aufkommen der Dialektischen Theologie. Zugespitzt formuliert: Seit den frühen zwanziger Jahren, genauer: nach dem Erscheinen von Barths Römerbrief zum Jahreswechsel 1919/20, war es für intellektuell wache Theologen nicht mehr ohne weiteres möglich, ungeprüft die liberale Theologie zu übernehmen, wie sie der Vater Bernhard Dörries in Hannover viele Jahre eindrucksvoll repräsentiert hatte. Das Aufkommen der Dialektischen Theologie markiert eine theologische Epochenscheide; in Göttingen vertrat der wichtigste Repräsentant der Dialektischen Theologie, Karl Barth (1886–1968), schon früh die neue Art des theologischen Denkens und Argumentierens; als Honorarprofessor für reformierte Theologie lehrte Barth seit 1921 an der Göttinger Theologischen Fakultät.3 Barth war kurz nach dem Erscheinen der Zweiten Auflage seines „Römerbriefs“ dorthin berufen worden, er blieb bis 1925, bis er eine ordentliche Professur für Systematische Theologie in Münster annahm. So hatte Barth Göttingen schon einige Jahre verlassen, als Dörries 1929 den Ruf auf den kirchengeschichtlichen Lehrstuhl an der Theologische Fakultät annahm; damit gab es im Rahmen der Theologischen Fakultät keine direkte Begegnung zwischen Barth und Dörries, die beide theologisch ganz unterschiedliche Positionen repräsentierten. Anders als Barth, der sich mit dem Ausarbeiten der Dialektischen Theologie vom Historismus als Grundlage einer wissenschaftlich verantworteten Theologie absetzte, hielt Dörries an den prinzipiellen Einsichten des Historismus fest; die präzise Beschreibung und Würdigung der einzelnen geschichtlichen Epochen galt ihm bleibend als Basis einer historisch verantwortlichen wissenschaftlichen Theologie.
3 Vgl. Wolfgang Trillhaas, Der Einbruch der Dialektischen Theologie in Göttingen und Emanuel Hirsch, in: Bernd Moeller (Hg.), Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe (Göttinger Universitätsschriften, A 1), Göttingen 1987, 362–379.
Hermann Dörries als ‚Kind‘ der hannoverschen Landeskirche und als Abt von Bursfelde
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Von den führenden Theologen der hannoverschen Landeskirche wurde die Berufung von Hermann Dörries an die Göttinger Theologische Fakultät gewiss begrüßt: Der Landesbischof August Marahrens (1875–1950),4 aber auch der Theologische Vizepräsident des Landeskirchenamts Karl Wagenmann (1867– 1932) waren Vertreter der sog. Positiven Theologie, die zwischen der herkömmlichen Bekenntnisverpflichtung und dem Denken des ‚modernen‘ Menschen Brücken bauen wollte.5 Diese Theologen hatten wenig Verständnis für das Aufkommen der Dialektischen Theologie, da deren Vertreter, allen voran Karl Barth, in der Auseinandersetzung mit der überkommenen Theologie Polemik und Zuspitzung liebten und geradezu selbstverständlich alle Formen einer Vermittlungstheologie ablehnten. Diese Form, Theologie zu treiben, war Dörries fremd. Nach einer ersten Professur in Tübingen hatte er seit 1928 in Halle Kirchengeschichte gelehrt, von dort kam er 1929, um den zweiten kirchengeschichtlichen Lehrstuhl in Göttingen zu übernehmen. Der neu berufene Göttinger Professor war kein Anhänger der „Dialektischen Theologe“, sondern ein junger Vertreter des Historismus, der zudem einem hannoverschen Pfarrhaus entstammte. So brauchte sein Wirken als Göttinger Professor die leitenden Theologen der lutherischen Landeskirche Hannovers nicht zu ängstigen; als Schüler von Karl Müller6 gehörte Dörries zu den Kirchenhistorikern, die persönliche bekenntnishafte Formulierungen eher vermieden – auch dann, wenn sie über das Bekenntnis sprachen, das selbstverständlich ein notwendiges Thema der historischen Theologie ist. In der NS-Zeit, als die Deutschen Christen den Wert des überkommenen Bekenntnisses bestritten, um die kirchliche Lehre für die NS-Ideologie zu öffnen, beschäftigte sich der liberale Theologe Dörries streng historisch mit der Geschichte des Bekenntnisses, um deutlich zu machen, dass die bei den Deutschen Christen beliebte willkürliche Umdeutung des überkommenen Bekenntnisses der allgemeinen christlichen Tradition eindeutig widersprach.7
4 Vgl. Hans Otte, August Marahrens. in: Wolf-Dieter Hauschild (Hg.), Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert (LKGG 20), Gütersloh 1998, 503–528. 5 Vgl. Philipp Meyer, D. Karl Wagenmann zum Gedächtnis, ZGNKG 44 (1939), 5–18. 6 Der Tübinger Theologe Karl Müller (1852–1940) vertrat als Schüler von Albrecht Ritschl eine positivistische Auffassung der Kirchengeschichte, so konnte er als liberaler Theologe auch von konservativen Kirchenhistorikern geschätzt werden. – Zu ihm vgl. Hermann Dörries, Karl Müller und sein Werk, in: Ders., Wort und Stunde, Bd. III: Beiträge zum Verständnis Luthers, Göttingen 1970, 421–457. 7 Hermann Dörries, Das Bekenntnis in der Geschichte der Kirche, Göttingen 1946. – Der Druck dieses ‚großen‘ Aufsatzes mit 111 Seiten war erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs möglich. – Zum Folgenden vgl. Peter Gemeinhardt, ‚Bekennende Kirche‘ in Geschichte und Gegenwart. Hermann Dörriesʼ Erleben und Deuten des ‚Kirchenkampfes‘, JGNKG 113 (2015), 343–360.
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Aber Dörriesʼ Wirken, gerade in seiner Frühzeit in Göttingen, wurde von den hannoverschen Theologen nur wenig wahrgenommen; vermutlich waren sie schlichtweg dankbar, dass kein weiterer Anhänger der Dialektischen Theologie nach Göttingen berufen worden war. Dörriesʼ Zurückhaltung in den tagesaktuellen theologischen Kontroversen ist allerdings für meine Fragestellung, die Frage nach dem Verhältnis von Dörries zur hannoverschen Landeskirche, eher bedauerlich: In den Akten der hannoverschen Landeskirche aus dieser Zeit wird Dörries faktisch nicht erwähnt. Wenn man so will, war Dörries in den Jahren, in denen die dialektische Theologie Furore machte, ein unauffälliger akademischer Theologe, der der hannoverschen Landeskirche keine Sorgen machte. Es kam hinzu, dass er selbst ‚Kind‘ der hannoverschen Landeskirche war; später, als renommierter Theologe, konnte er das auch betonen, aber in den Akten der frühen Zeit von Dörries in Göttingen findet man keinen deutlichen Hinweis auf das Verhältnis von Dörries zur Landeskirche bzw. umgekehrt von der Landeskirche zu dem jungen Göttinger Gelehrten. Das liegt zum Teil – das muss man immer berücksichtigen – an den großen Kriegsverlusten des Landeskirchenamts in Hannover, zum Teil liegt es aber auch daran, dass Dörries alles Radauhafte fehlte, das eher zur Produktion von Akten führt. Erst etwas später wird Dörries im Zusammenhang mit Göttinger Theologieprofessoren erwähnt, doch auch dann relativ selten; dagegen ist die Dokumentation bei anderen Göttinger Professoren trotz der Kriegsverluste sehr dicht. Ein Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung von Emanuel Hirsch, damals „Decanus perpetuus“ der Fakultät, mit den Studenten der Bekenntnisgemeinschaft, also des hannoverschen Ablegers der Bekennenden Kirche. Dabei wird Dörries – wenn auch eher am Rande – als Angehöriger der hannoverschen Bekenntnisgemeinschaft erwähnt; deutlich wird in jedem Fall, dass Dörries die Studenten unterstützte, die sich – gegen die Wünsche des Dekans – der Bekenntnisgemeinschaft angeschlossen hatten. In diesem Zusammenhang ist auch Dörriesʼ Auseinandersetzung mit dem praktischen Theologen Walter Birnbaum (1893–1987) breiter dokumentiert. Birnbaum, ein publizistisch erfolgreicher Vertreter der Volksmission,8 war 1935 für Göttingen eine Professur für praktische Theologie angeboten worden, und er hatte den Ruf
8 Als Direktor des Hamburger ‚Rauhen Hauses‘ gab Walter Birnbaum die dort verlegte erbaulichvolkstümliche Literatur heraus, auch organisierte er Werbefeldzüge durch Nord- und Ostdeutschland mit der Zeltmission. Als Experte für diese Formen kirchlicher Arbeit repräsentierte er eine deutsch-christlich geprägte überregionale Gemeindearbeit. Gegen den – selbstverständlich ignorierten – Protest der Bekenntnisgemeinschaft in Hannover wurde Birnbaum 1935 zum Professor für praktische Theologie in Göttingen berufen, 1945 wurde er von der britischen Besatzungsmacht entlassen, später wurde die Entlassung in eine Pensionierung umgewandelt. Ein engeres Verhältnis zur hannoverschen Landeskirche gewann Birnbaum nie. Seine Erlebnisse beschreibt Birnbaum in seiner Autobiographie: Zeuge meiner Zeit. Aussagen zu 1912–1972, Göttingen 1973.
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nach Göttingen auch sogleich angenommen. Emanuel Hirsch hatte die Berufung Birnbaums unterstützt, der mit seinen volksmissionarischen Vorträgen eine Form der kirchlichen Arbeit entwickelt hatte, die Hirsch abging, die er aber für die Zukunft der Kirche als unbedingt wichtig ansah. So wurde Birnbaum als Experte einer Volksmission in deutsch-christlichem Sinne zum Professor in Göttingen berufen. Das entsprach einem zentralen Anliegen der Deutschen Christen: Der ‚schlichte Deutsche‘, der anscheinend von der ‚verkopften’ akademischen Theologie ignoriert wurde, sollte im ‚neuen Deutschland‘ von der Kirche und ihrer Predigt erreicht werden. Das hatte die traditionelle Theologie bis dahin nicht vermocht – so lautete der zentrale Vorwurf der Deutschen Christen an die herkömmliche Theologie und Predigt. Birnbaum hatte allerdings keine wissenschaftliche Qualifikation, sein Verfahren einer Promotion zum Lic. Theol. war 1926 gescheitert.9 Doch der Dekan Emanuel Hirsch nutzte mit Unterstützung des Rektors das nationalsozialistische Führerprinzip: Birnbaum wurde der theologischen Fakultät einfach aufoktroyiert. Um dagegen noch einmal Widerspruch einzulegen, fehlte der Fakultät der Mut; immerhin protestierten die älteren Fakultätsmitglieder gegen den neuen Praktischen Theologen. Dörries warnte seine Studenten vor dem neuen deutschchristlichen Theologieprofessor, Birnbaum nahm das als Schädigung seiner Arbeit und seines Rufs wahr. Noch nach dem 2. Weltkrieg wurde darüber in einem Prozess zwischen Dörries und Birnbaum verhandelt, im Rahmen der seit 1952 möglichen Wiedergutmachungsprozesse hatte Birnbaum gegen Dörries wegen übler Nachrede geklagt und zugleich die Wiedereinstellung als Professor gefordert,10 nachdem er gleich 1945 von der britischen Besatzungsmacht entlassen worden war. Aber Birnbaums Klage scheiterte, es blieb bei der Entlassung, weil ihm – worauf Dörries hinwies – die Qualifikation fehlte.11 Dörries war in die Auseinandersetzungen mit Birnbaum einbezogen worden, weil er die Studierenden unterstützt hatte, die die Vorlesungen von Birnbaum mieden und dafür die praktisch-theologischen Ersatzvorlesungen des Privatdozenten Georg Hoffmann (1902–1988) hörten. Hoffmann war zunächst Studentenpfarrer in Göttingen gewesen und hatte sich in der hannoverschen Bekenntnisgemeinschaft gegen die Deutschen Christen engagiert. Er hatte aber – wohl auf Drängen des Dekans Emanuel Hirsch – das Studentenpfarramt aufgeben müssen. Er war dann vom hannoverschen Landeskirchenamt zum Pfarrer in Dransfeld, 9 Bis 1944/45 verliehen die evangelischen Fakultäten in Deutschland den Grad eines Licentiaten der Theologie als Doktorgrad. 10 Eberhard Klügel, Die lutherische Landeskirche Hannovers und ihr Bischof 1933–1945, Berlin 1964, 325. Vgl. auch Aneke Dornbusch, Hermann Dörries (1895–1977) – Ein Kirchenhistoriker im Wandel der politischen Systeme (Christentum in der modernen Welt 3), Tübingen 2022, 240–243. 11 Zu Dörries’ Wirken an der Theologischen Fakultät in der Zeit des Nationalsozialismus vgl. auch den Beitrag von Hansjörg Buss im vorliegenden Band.
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20 km vor Göttingen, berufen worden, und von dort aus bot er weiterhin Vorlesungen an.12 Da sich zahlreiche Studenten auf den Weg nach Dransfeld machten, um Hoffmann dort zu hören, hatte Emanuel Hirsch die Studierenden gewarnt, sie gefährdeten ihr Studium, wenn sie bei Hoffmann Vorlesungen und Übungen besuchten, denn diese seien nicht prüfungsrelevant. In seinem Widerspruch gegen die Drohung des Dekans wurde Hoffmann, der ja Privatdozent war, von Dörries unterstützt; das hatte keine weiteren Konsequenzen: weder für Hoffmann, der sein Angebot bis zum Kriegsanfang aufrechthielt, noch für die Studierenden, obwohl der Dekan bei seiner Drohung blieb. Wirkungslos war aber auch der Einspruch der hannoverschen Bekenntnisgemeinschaft gegen Hirschs Drohung. Für Dörries selbst hatte der Widerspruch gegen die Verfügung Hirschs, der ja „Decanus perpetuus“ war, keine weitergehenden Konsequenzen. Gegen die Deutschen Christen engagierte sich Dörries über den Rahmen der Universität hinaus. Er ließ sich als Vortragsreferent von der hannoverschen Bekenntnisgemeinschaft gewinnen. Schon 1934 hatte er seinen Vortrag zum Thema Luther und die Nation veröffentlicht, der im Kern eine Absage an die Reklamation Luthers als Vorläufer der NS-Bewegung war; für diesen Vortrag warb auch Landesbischof Marahrens in seinen Wochenbriefen.13 Luther war für Dörries eine historische Figur, die verfälscht wurde, wenn man sie umstandslos aktualisierte. Diese historische Einordnung und Würdigung Luthers hatte Bestand – auch nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes. 1946, nach dem Zusammenbruch des NSRegimes und dem Verschwinden der Deutschen Christen aus allen Leitungspositionen, warb der Landesbischof wiederum ganz selbstverständlich für Dörriesʼ Vorträge zu Martin Luther. Anlass war die Wiederkehr von Luthers am 400. Todestag am 18. Februar 1946: Dörries nutzte den Gedenktag, um Luthers Theologie vorzustellen, deren Motive als aktuell beschrieben wurden, deren Lösungen aber nicht unmittelbar gelten konnten.14 Insgesamt wird Dörries trotz seiner prominenten Stellung in Göttingen und Bursfelde relativ selten in kirchlichem Zusammenhang erwähnt; hier wird deutlich, dass er ein gelehrter Theologe war, der seine Zeit und ihre theologischen Herausforderungen durchaus wahrnahm, sich aber eher indirekt in die aktuellen theologischen Positionskämpfe einschaltete. So sind wohl
12 Zum Ganzen vgl. Klügel, Landeskirche (Anm. 10), 324–330. – Hoffmann hatte sich 1932 in Göttingen habilitiert und war Pfarrer in Dransfeld. 1942 wurde er Superintendent in Verden, 1956 wechselte er als Professor für Praktische Theologie an die Universität Kiel. 13 Hermann Dörries, Luther und Deutschland (SGV 169), Tübingen 1934. – August Marahrens, Zur Lage der Kirche: die Wochenbriefe von Landesbischof D. August Marahrens 1934 − 1947, hg. von Thomas J. Kück, Göttingen 2009, 1805. – Zu diesem Vortrag und seinem zeitgeschichtlichen Kontext vgl. auch den Beitrag von Martin Keßler im vorliegenden Band. 14 In überarbeiteter Form sind die Vorträge zusammengestellt in: Dörries, Wort und Stunde III (Anm. 6).
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die einschlägigen Vorträge und Veröffentlichungen jener Jahre zu verstehen – wenn sich Dörries zur Germanischen Religion und Sachsenbekehrung äußerte oder wenn er zu der damals heiß umstrittenen Meister-Eckhardt-Frage Stellung bezog und dabei den christlichen Theologen Eckhardt gegen die nationalsozialistische Interpretation als einen antichristlichen Mystiker verteidigte. Das alles machte Dörries als Gelehrter, auf gelehrte Weise, der aber damit gleichzeitig ganz bewusst Stellung bezog – auf seinem Terrain. Ein Beispiel dafür ist sein Aufsatz Germanische Religion und Sachsenbekehrung, der 1935 in der Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte erschien. Es ist wahrscheinlich der JahrbuchAufsatz, der die breiteste Verbreitung hatte, immerhin erschien der Sonderdruck in einer Auflage von 10.000 Exemplaren.15 In dem Vorwort zu dem Sonderdruck dieses Aufsatzes begründete er die Aktualität des Themas, also die Zurückweisung des historischen Anspruchs einer sog. Deutschen Religiosität. In der Gegenwart – so Dörries – meinten viele, im innersten Bereich des Lebens, der Religion, [müsse man] sich und die eigene Art behaupten. Die Frage nach dem Wesen und nach dem Untergang der germanischen Religion ist für die weitere Öffentlichkeit nicht eine historische [Frage] in dem Sinne, als handle es sich dabei um die Erkenntnis eines Stücks abgeschlossener Vergangenheit [sondern Gegenwart]. Aber je lebhafter die Anteilnahme an den Vorgängen beim Übergang der Germanen zum Christentum wird, je mehr diese Zeit zum Schlachtfeld für die Gegenwartskämpfe zu werden droht, um so mehr ist es notwendig, ruhig die Tatsachen selber reden zu lassen. Sie reden eine vernehmliche Sprache.16
Das ist das Selbstverständnis von Dörries: Aufklärung, orientiert an den Tatsachen. Ich denke, an der Formulierung hört man noch einmal das Pathos des Historismus, der auf diese Weise eben aufklären will. Dörries hat dabei aber auch einen aktuellen theologischen Impetus, den er später – 1969 –, in dem Vorwort zum 2. Band seiner Gesammelten Aufsätze, noch formulierte. Unter Hinweis auf Gerhard von Rad (1901–1971) wies Dörries darauf hin, dass sich jede Religion beim Wechsel in eine andere Kultur verändert. Bei einem Kulturwechsel sei aber immer die genaue Form der Veränderung zu unterscheiden, genauer: Es ist zu unterscheiden die „sichere[n] Depravation des christlichen Glaubens von dessen rechtem, d. h. zeitgerechtem Ausdruck. Die Begegnung der christlichen Botschaft mit der heimischen Welt kann uns zum Paradigma dafür werden, was alles es umschließt und fordert, damit die Predigt von der modernen Welt vernommen
15 Mir liegt davon die 3. durchgesehene Auflage vor, die 1936 bei Vandenhoeck Ruprecht in Göttingen erschien. – Zu Dörries’ Arbeiten zur Mittelalter- und Germanenforschung in den 1930er Jahren vgl. auch den Beitrag von Uta Heil im vorliegenden Band. 16 Hermann Dörries, Vorrede zur 3. Auflage, in: Ders., Germanische Religion und Sachsenbekehrung, Göttingen, 31935 – Zuerst erschienen in: ZGNKG 39 (1934), 53–83.
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werden kann.“ 17 Hier wird das theologische, man kann ruhig formulieren: das missionarische Interesse des Theologen Hermann Dörries deutlich: Es gilt die Botschaft auszurichten, und dabei muss die Möglichkeit einer falschen Anpassung, der Depravation, berücksichtigt werden, wenn die christliche Botschaft, ihr Wert, nicht vermindert werden soll. Kann man bei einer oberflächlichen Lektüre der Texte von Dörries meinen, er habe nur das historische – besser: historistische – Interesse festzustellen, wie es früher war, so deutet der Begriff „Depravation“ sein normatives Interesse an: es gilt das Evangelium unbeschadet durch die Zeit weiterzugeben, es zu verkündigen. Dem entspricht auch der Hinweis auf Gerhard von Rad, der ja in seiner Theologie des Alten Testaments das Anwachsen der alttestamentlichen Religion beschrieb, also durchaus einen Erkenntnisfortschritt annahm und das auch positiv bewertete.18 Die Wahrnehmung und – in der praktischen Arbeit – die Berücksichtigung des möglichen Erkenntnisfortschritts war ein Grundinteresse der liberalen Theologie, sie forderte das immer wieder für die praktische Arbeit der Kirche und ihrer Theologen ein. Für Dörries war dabei aber die Depravation des Evangeliums zu vermeiden – das entspricht nun wiederum der Theologie ‚nach Karl Barth‘, die nicht mehr naiv dem liberalen Fortschritt huldigen konnte. Dörries sah dementsprechend auch die Grenzen eines naiven Historismus; so kritisierte er an seinem Lehrer Karl Müller, dass dieser ganz idealistisch Luthers Theologie deutete und damit deren Anspruch verfehlte. Dörries zitierte zunächst Müller, um sich dann davon abzusetzen: Wir suchen überdies hinter den von Karl Müller herausgestellten ‚Grundgedanken‘ das eigentliche Zentrum von Luthers Theologie, sein Verständnis des Wortes. Luther ist nicht nur das Exempel dafür, daß ‚gerade die allergrößten Erscheinungen in den verborgenen Tiefen einer Menschenseele ihren Ursprung haben‘; wir sehen in ihm vor allem andern den Träger einer fremden Botschaft, Zeugen dessen, auf den – von sich weg – er zurückweist.19
Die Entdeckung dieser Texte war für mich besonders interessant, weil ich früher, als Göttinger Student, mehrfach gehört hatte, dass Dörries es vermieden habe, zu predigen – selbst als er von 1960 bis 1966 die ‚Prälatur‘ eines Abts von Bursfelde wahrnahm. Tatsächlich unterschied ihn das deutlich von seinem Nachfolger als Abt von Bursfelde, Götz Harbsmeier (1910–1979), der regelmäßig in Bursfelde predigte und ganz offensiv dazu einlud.20 Angesichts des Unterschieds in der Predigt17 Hermann Dörries, Wort und Stunde, Bd. II: Aufsätze zur Geschichte der Kirche im Mittelalter, Göttingen 1969, VI (Vorrede). 18 Vgl. Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, 2 Bde., München 1957/60 ( 101992/93). 19 Dörries, Müller (Anm. 6), 453. 20 Götz Harbsmeier war seit 1962 Professor für praktische Theologie in Göttingen, seit 1971 Abt von Bursfelde. Harbsmeier übernahm nicht nur Predigten und Vorträge in der Klosterkirche,
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tätigkeit zwischen Dörries und Harbsmeier könnte man vermuten, Dörries habe die Distanz des Historikers zum Tun der Theologen gepflegt, so wie es seinerzeit viele liberale Historiker gab, die in ihrer Profession dem Tun der Theologen gegenüber skeptisch blieben. Aber diese Schlussfolgerung ist falsch, auch wenn in der praktischen Predigtarbeit der Unterschied zwischen Dörries und Harbsmeier nicht zu leugnen ist. Harbsmeier, seit 1971 Abt von Bursfelde, war ein geradezu leidenschaftlicher Prediger, das unterschied ihn tatsächlich deutlich von Dörries. In seiner Untersuchung zu Göttinger Professoren als Äbte von Bursfelde hat Lothar Perlitt darauf aufmerksam gemacht, welche unterschiedlichen Interessen und Interpretationen die Prälatur Bursfelde im 20. Jahrhundert, genauer: seit der Zeit der Weimarer Republik, begleiteten; mindestens für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war für die Landeskirche die Frage leitend: Sind Titel und Dotation des Abts von Bursfelde mehr als eine Sinekure zur Ehrung eines verdienten Mitglieds der Göttinger Theologischen Fakultät? Landeskirchenamt und Kirchensenat schwankten in der Beurteilung der Prälatur, das wird auch äußerlich sichtbar. Anfangs war gar nicht recht deutlich, welche kirchliche Aufgabe der Abt von Bursfelde haben könnte; erst seit den dreißiger Jahren, unter dem Einfluss von Christhard Mahrenholz (1900–1980), der später, 1960, selbst zum Abt von Amelungsborn ernannt wurde,21 wurde die Abtsstelle in Bursfelde als Prälatur und damit eindeutig als kirchliches Amt bezeichnet. Tatsächlich war der Vorgänger von Dörries, Carl Stange (1870–1959, Abt seit 1932), noch ohne eine größere liturgische Feier in sein Amt als Abt eingeführt worden. Dass hier überhaupt ein Problem entstand, war eine Konsequenz aus der Trennung von Staat und Kirche im Gefolge der Weimarer Republik. Bis dahin hatte der Kultusminister ein verdientes Göttinger Fakultätsmitglied – oft, aber nicht immer, den Senior der Fakultät – zum Abt ernannt, verbunden mit der Mitteilung, dass die hannoversche Klosterkammer angewiesen sei, dem Abt aus Mitteln des hannoverschen Klosterfonds eine Präbende zu zahlen. Dieses einfache Verfahren, das eine kleine Gehaltserhöhung für einen verdienten Professor ein-
sondern nutzte den besonderen ‚Geist‘ seines Klosters, um die Aktualität des Christentums darzulegen, die besonders deutlich wird, wenn sich die Predigt in einem alten historischen Rahmen vollzieht. Er sorgte für Ergänzung des Klosterkonvents durch die Berufung von Göttinger Professoren als Konventuale und bot im Sommer zudem Gottesdienste, Vorträge und Veranstaltungen an, um die Möglichkeiten zu nutzen, die das Kloster mit der Kirche und bald auch mit dem renovierten Konventsgebäude bot. Die Teilnehmer seines homiletischen Seminars wurden zu Veranstaltungen nach Bursfelde eingeladen, gelegentlich – im Sommer – fand sogar eine Seminarsitzung in Bursfelde statt. 21 Zu Christhard Mahrenholz vgl. – mit weiteren Nachweisen – Florian Hoffmann, Christhard Mahrenholz, Rudolf Utermöhlen und Helmut Winter: Orgelbau und Orgeldenkmalpflege als landeskirchliche Aufgabe (1928–1983), JGNKG 113 (2015), 313–328.
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schloss, war nach 1919 nicht mehr möglich; nach dem Preußischen Kirchenvertrag von 1931 waren sowohl die Fakultät als auch die Landeskirche zu beteiligen. Dabei legte die Landeskirche Wert darauf, dass der Kirchensenat der hannoverschen Landeskirche das Recht zur Ernennung des Bursfelder Abts erhielt, denn die Aufgaben des Königs in der Leitung der Landeskirche waren mit der Kirchenverfassung von 1924 und – ihr folgend – mit dem Preußischen Kirchenvertrag von 1931 dem Kirchensenat übertragen worden. Die Einzelheiten zur Geschichte der Prälatur Bursfelde sind hier nicht weiter zu verfolgen, Lothar Perlitt hat sie seinerzeit mit dem Hin und Her ausführlich beschrieben.22 Ein Einschnitt, der im wichtigsten Punkt, dem Modus der Ernennung, dann Klarheit schaffte, war der Loccumer Vertrag von 1955: Hier vereinbarten die niedersächsischen Landeskirchen mit dem Land Niedersachsen die Form ihrer Zusammenarbeit. Dazu gehörte dann auch die Frage der Prälaturen – es gibt ja nicht nur die von Bursfelde, sondern auch in Amelungsborn und Loccum. Für Bursfelde heißt es im Vertrag knapp: „Die Prälatur Bursfelde wird auf Vorschlag der Landesregierung durch die zuständige Behörde der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers aus dem Kreis der ordentlichen Professoren der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen besetzt.“ 23 Der erste Göttinger Professor, der dem Loccumer Vertrag entsprechend ernannt wurde, war Hermann Dörries. Sein Vorgänger im Amt, der Systematiker Carl Stange, war seit 1932 Abt von Bursfelde, und er hatte dieses Amt durch den Zeitenwechsel seit der Weimarer Republik hindurchgetragen. Bis dahin war es immer wieder strittig geworden, ob und auf welche Weise der Abt von Bursfelde ins Amt komme und wie er dann das Amt wahrnehmen solle. Jetzt war klar: Die Fakultät schlägt – durch Vermittlung des Kultusministers – einen Kandidaten vor; der Kirchensenat ernennt ihn dann, weil es sich eben um ein kirchliches Amt handelt. Trotz dieser Klarheit dauerte es noch einige Zeit, bis feststand, wer der neue Abt werden sollte: Stange war am 5. Dezember 1959 gestorben, erst im Mai 1961 wurde bekannt gegeben, wer nun zum Abt berufen würde. Die Verhandlungen hatten gedauert, weil die Landeskirche vermeiden wollte, dass die Abtswürde zum ‚Wanderpokal‘ für ältere Theologieprofessoren wurde. Der Geistliche Vizepräsident des hannoverschen Landeskirchenamts, Christhard Mahrenholz – er war seit 1959 im Nebenamt Abt des Klosters Amelungsborn und füllte dieses Amt mit Würde, geradezu mit Grandezza aus – schrieb in einem internen Vermerk an den Präsidenten des Landeskirchenamts, der neue Abt müsse der Bursfelder Prälatur „Profil“ geben, sie dürfe nicht „wie eine Schützenkette einfach weiter-
22 Lothar Perlitt, Professoren der Theologischen Fakultät in Göttingen als Äbte von Bursfelde, JGNKG 82 (1984), 261–314 und 83 (1985), 7–25. 23 Perlitt, Professoren (Anm. 22), 295.
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gereicht“ werden.24 Dem Kultusministerium in Hannover waren genauso wie dem Landeskirchenamt die Probleme mit dieser Abtswürde deutlich; gegenüber dem Landesbischof Hanns Lilje, selbst Abt des Klosters Loccum, vermerkte Mahrenholz, dass er mit dem für Kirchensachen zuständigen Staatssekretär Konrad Müller25 gesprochen habe: Dieser habe vor deutlichem Eingreifen von Seiten der Landeskirche gewarnt, denn die Erfahrungen des Ministeriums mit der Fakultät zeigten, dass Druck auf die Fakultät nur Widerstand erzeuge.26 Tatsächlich war noch im Sommer 1960 – fast ein Jahr nach Carl Stanges Resignation – unklar, wer Stange als Abt nachfolgen solle. Im Juni fragte die Landeskirche beim Ku1tusministerium nach, dort war noch nichts bekannt. Im August stand dann Hermann Dörries als künftiger Abt fest, der das Amt nicht ohne Bedenken übernahm. Dörries schrieb am 12. August 1960 an Landesbischof Lilje: Dem Kirchenhistoriker und Niedersachsen kann es nicht anders als wertvoll sein, daß von der theologischen Fakultät durch eines ihrer Mitglieder die Erinnerung an eine denkwürdige Reformbewegung des späten Mittelalters bewahrt werden soll, die – so anders ihre Ziele waren – weithin der Reformation den Boden bereiten half und in sie aufgenommen wurde. Zugleich stellt der alte Brauch in seiner gewandelten Gestalt ein Band zwischen Fakultät und Landeskirche dar, sichtbarer Hinweis, daß beide aufeinander angewiesen sind. Darum bin ich gern bereit, die mir so freundlich zugedachte Ehre anzunehmen.
Aber Dörries hatte doch Vorbehalte: Gleichzeitig aber möchte ich nicht unterlassen, von vornherein Erwartungen zu begegnen, die vielleicht durch das Beispiel des letzten Abtes geweckt werden konnten. Was stets nur ein Ehrentitel war, ist durch Professor Stange mit einem Inhalt gefüllt worden, den ich in dieser Weise nicht aufzunehmen vermag. Wie ich nie in einem praktischen Kirchenamt gestanden habe, so würde ich zum Beispiel eine Predigtverpflichtung nicht auf mich nehmen können, gerade weil ich so hoch von solcher denke. Was mir noch an Arbeitskraft beschieden ist, muß ungeteilt einer wissenschaftlichen Aufgabe zukommen, die ich schon vor langer Zeit begonnen habe und gern noch zum Abschluß bringen möchte. Danach kann ich nur versuchen, im Rahmen meiner Gaben und Kräfte die Verbindung von Göttingen und Bursfelde wachzuhalten.27
Bemerkenswert ist hier, wie Dörries die Erwartungen an die Abtswürde einschränkte, aber doch eine Aufgabe für sie sah: Die ‚Prälatur‘ sollte die Verbindung 24 Landeskirchliches Archiv Hannover, Best. N 48 [Nachlass Christhard Mahrenholz], Schreiben vom 14. 3. 1960: Mahrenholz an Präsident Wagenmann. 25 Zu ihm vgl. Hans Otte, Die Entstehung des Loccumer Vertrags, in: Konföderation Evangelischer Kirchen in Niedersachsen (Hg.), In Freiheit verbunden. 50 Jahre Loccumer Vertrag, Hannover 2005, 23–55, hier 27 f. 26 Vgl. Landeskirchliches Archiv Hannover, Best. N 48, Schreiben vom 14. 1. 1960: Mahrenholz an Präsident Wagenmann. 27 Ebd., Dörries an Lilje, 12. 8. 1960.
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der Landeskirche zur Göttinger Universität unterstützen. Tatsächlich war für die Landeskirche die Verbindung zur Theologischen Fakultät zentral, für diese Verbindung konnte Bursfelde die Funktion eines Brückenpfeilers übernehmen. Unterschiedliche Erwartungen hatten vielleicht die Anfänge von Dörries in Bursfelde begleitet, inzwischen hatte die Landeskirche Klarheit gewonnen, jetzt war sie bereit, auf Dörries zuzugehen, dabei aber die unterschiedlichen Traditionen im Verständnis der Klosterämter zu respektieren. Deutlich wird das im Vergleich zu Christhard Mahrenholz, dem Geistlichen Vizepräsidenten des Landeskirchenamts. Mahrenholz blieb Abt des Klosters Amelungsborn, als er in den Ruhestand trat und in Hannover aus dem Amt als Geistlicher Vizepräsident des Landeskirchenamts ausschied. Dagegen hatte die ‚Würde‘ des Bursfelder Abts eine erkennbar andere, ganz eigenständige Funktion. Der Nachfolger von Mahrenholz als Theologischer Vizepräsident im hannoverschen Landeskirchenamt, Vizepräsident Friedrich Bartels, beschrieb sie gegenüber seinem Kollegen im Landeskirchenamt, dem juristischen Vizepräsidenten Erich Ruppel, so: Er sei überzeugt, dass das Amt des Bursfelder Abts „doch einen wirklichen Inhalt habe, nämlich der Verbindung zwischen Fakultät und Landeskirche zu dienen und gewisse Traditionen der Prälatur Bursfelde für Kirche und theologische Forschungen auszuwerten.“ 28 Hier sollte offensichtlich der Kirchenhistoriker Dörries gelockt werden. Im Ergebnis war dieser Versuch erfolgreich; die Vermittlung zwischen der Skepsis von Dörries und den hohen Erwartungen von Mahrenholz gelang dem damaligen juristischen Vizepräsidenten Erich Ruppel. Er schrieb an Dörries: Die positive Beziehung zur Landeskirche gehört meines Erachtens gerade zum Wesen der Prälatur Bursfelde. Ich würde deshalb auch nicht darauf verzichten mögen, den Abt zu Bursfelde in einer gewissen Parallele zu den Äbten von Loccum und Amelungsborn zu sehen […] Der Vorzug der Prälatur Bursfelde liegt meines Erachtens gerade darin, daß ihre Institutionalisierung zwar den kirchlichen Charakter und eine gewisse Beziehung zur Landeskirche erkennen lässt, dass sie aber auch nicht bis in juristische Feinheiten hinein ausgebaut oder eingegrenzt ist, denn damit ist Möglichkeit gegeben, Umfang und Art der positiven Gestaltung frei zu bestimmen.29
Auf dieses frei schwebende Verständnis seiner neuen Würde konnte sich Dörries einlassen. Und die Landeskirche kam ihm auf einem anderen Feld entgegen. Dörries war nie ordiniert worden, das ‚Abbatiat‘ in Bursfelde war aber ein Amt mit dem Recht der öffentlichen Wortverkündigung – zunächst in der Klosterkirche, dann aber in der hannoverschen Landeskirche und darüber hinaus. Landesbischof Hanns Lilje führte Dörries in Bursfelde ein; eine Weihe in einem traditionell römisch-katholisch geprägten Sinn war das selbstverständlich nicht: Nach Gebet 28 Ebd., Vizepräsident Bartels an Landesbischof Lilje, 23. 3. 1961. 29 Ebd., Vizepräsident Ruppel an Dörries, 17. 4. 1961.
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und Handauflegung überreichte er Dörries eine Urkunde über die Berufung zum Abt; in die Bestallungsurkunde waren die einschlägige Formulierung aus dem Ordinationsformular für Pastoren übernommen. Ob Dörries klar war, dass das – im protestantischen Sinne – auch eine Ordination war, kann ich nicht sagen. In seinem Dankschreiben an Lilje und die Landeskirche ging Dörries nicht präzise darauf ein. Er schrieb: Die Einführung sei ihm als Geschenk ins Gedächtnis geschrieben, angefangen von ihrer Präsenz, dann der schlichten Feinheit der Einführung, weiter mit dem ansprechenden Begrüßungswort und den freundlichen Bewegungshilfen, die Sie aus langer Amtszeit dem ungeschickten Anfänger gaben, bis schließlich zu Ihrer ausstrahlenden Gegenwart im Göttingen Cenaculum.30
Offensichtlich gelang es – nicht zuletzt durch diese freundliche, aber eben auch rücksichtsvolle Aufnahme des Anliegens – Dörries für die entschiedene Wahrnehmung dieses Amts zu gewinnen, zuerst und charakteristischerweise durch Vorträge über Bursfelde und seine Reform.31 Seitdem übernahm Dörries gern Vorträge über monastische Themen und vergab in diesem Zusammenhang an Studenten und Doktoranden Arbeiten über die niedersächsischen Klöster. Er war auch bereit, vor den Äbtissinnen der niedersächsischen Damenstifte über Bursfelde zu sprechen; schließlich hatte die Bursfelder Klosterreform im 15. Jahrhundert die meisten niedersächsischen Klöster und Stifte geprägt und hatte im Reformationszeitalter wohl zu deren Überleben beigetragen, denn die von Bursfelde geprägten Klöster konnten leichter als andere Klöster den Übergang zu den neuen von der Reformation (und zum Teil dann auch von der Gegenreformation) propagierten Vorstellungen von einem guten christlichen Leben übernehmen und für ihr Kloster adaptieren. Bursfelde und das Leben in der klösterlichen Gemeinschaft dort hatte durch die Reform im 15. Jahrhundert erneut einen Sinn gewonnen; darauf konnte Dörries in seinen Vorträgen hinweisen, die sich mit dem Thema Bursfelde und seine Reform beschäftigten. In der gedruckten Fassung eines dieser Vorträge wies er auf die bleibende Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart im Kloster hin. Dörries schrieb: Das Kloster Bursfelde besteht nicht mehr. Ein Brand hat es verwüstet, und der praktische Sinn einer veränderten Zeit meinte sich nicht gehalten, leere Mauern zu bewahren, die kein Leben mehr bargen. Doch das Beste, die Kirche, steht, und das mag als zeichenhaft gelten: Wo einst ein Glaube, der über den Tod hinausgriffe, seine Zuflucht nahm, […] bleibt auch jetzt eine Stätte nicht nur der Erinnerung!32
30 Ebd., Dörries an Lilje, 15. 5. 1961. 31 In Band II seiner gesammelten Aufsätze Wort und Stunde (Anm. 17) nahm Dörries auch zwei Aufsätze zu Bursfelde und seine(r) Reform auf; die hintere Zeitgrenze seiner Darstellung war damit die Reformationszeit. 32 Hermann Dörries, Bursfelde und seine Reform, in: Ders., Wort und Stunde II (Anm. 17), 295– 321, hier 321.
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Dieser knappe Hinweis auf die Bursfelder Klosterkirche ist wohl typisch für Dörries; er malte den aktuellen Bezug zur Gegenwart nicht weiter aus, sondern wies nur knapp darauf hin. Aber es war für ihn klar, dass diese Beziehung weiterhin bestand: in Gestalt der Kirche und – ich ergänze – der Predigt dort. Dörries konnte durch die Konzentration auf die Klosterkirche und den öffentlichen Gottesdienst dort sein Wirken als Abt als sinnvoll beschreiben – das war nun auch seine Aufgabe: die damit gegebene Kontinuität zu erhalten. So war das Ende von Dörriesʼ Amt als Abt – am Schluss benutzte auch er den Begriff ganz unbefangen – ganz versöhnlich. Am 18. 12. 1966 schrieb Dörries an den Landesbischof, dass er als Abt von Bursfelde resigniere. Er fügte hinzu: (Ich) darf […] erneut aussprechen, daß ich für das mir mit der Ernennung zu der historischen Würde erwiesenen Vertrauens tief dankbar gewesen bin und daß es mir eine große Freude war, dadurch mit meiner hannoverschen Landeskirche noch enger verbunden zu sein. Wollen Sie bitte die Versicherung annehmen, daß mich das Gefühl dankbarer Verbundenheit auch in die stille Zurückgezogenheit begleitet, in der ich meine letzte Lebenszeit einer seit langem vorbereiteten Arbeit widmen zu können hoffe.33
Dörries blieb bei seiner nüchternen Deutung, er war eben zum Abt ‚ernannt‘ und nicht geweiht worden. Aber das klare Verständnis von Dörries zu diesem Amt und ‚seiner‘ Landeskirche hat gewiss dazu beigetragen, dass das Amt des Bursfelder Abts im Spannungsfeld zwischen Fakultät, Kultusministerium und Landeskirche geradezu selbstverständlich geworden ist. Sieht man die Akten des hannoverschen Landeskirchenamts auf das Verhältnis zur Theologischen Fakultät und dem Kloster Bursfelde durch, so sind seitdem die früheren Irritationen verschwunden. Ganz offensichtlich war der Dank des Landesbischofs – inzwischen war es Dörriesʼ früherer Fakultätskollege Eduard Lohse – an Dörries echt. Lohse dankte namens des hannoverschen Kirchensenats dafür, „daß Sie in dem Amt des Abtes von Bursfelde und in Ihrer gesamten Göttinger Lehrtätigkeit eine so enge und vertrauensvolle Verbindung mit unserer hannoverschen Landeskirche gehalten haben. Wir sind überzeugt, daß diese Verbindung auch nach Ihrer Resignation nicht abreißt.“ 34 Die weitere Geschichte – insbesondere das Verhältnis der späteren Bursfelder Äbte zu diesem Amt 35 – zeigt, dass trotz mancher Differenzen die Verbindung zwischen Fakultät und Landeskirche hält. Das entspricht ganz dem Wirken Dörriesʼ für seine Landeskirche und die Göttinger Theologische Fakultät.
33 Landeskirchliches Archiv Hannover (Anm. 24), Dörries an Lilje, 18. 12. 1966. 34 Ebd., Lohse an Dörries, 31. 1. 1967. 35 Zu Dörriesʼ Nachfolger als Abt in Bursfelde, dem praktischen Theologen Götz Harbsmeier, s. o. Anm. 20.
Martin Keßler
„Luther und Deutschland“ – Hermann Dörries’ Lutherrede 1933 im zeitgenössischen Kontext Am 19. November 1933 erreichte den Tübinger Verleger Dr. Oskar Siebeck ein launiger Brief: Sehr verehrter Herr Doktor! Presse ich Ihnen einen wehen Klagelaut ab, wenn ich mich bei Ihnen für Ihre gemeinverständlichen Vorträge mit einem Luthervortrag melde? Sollte es der siebenundzwanzigste sein, der sich in diesen Tagen bei Ihnen einfindet? Dann hätte ich alles Verständnis dafür, wenn Sie ihn ungelesen zurückschicken, postwendend. Denn auch ich möchte Ihnen nicht zumuten, siebenundzwanzig Lutherreden zu lesen, geschweige denn zu drucken. Denn daß die seine wieder anders sei, viel schöner, wird jeder von den siebenundzwanzig mit sich und Luther zufriedenen Rednern meinen. Sollten Sie aber den Ausweg beschreiten und siebenundzwanzig Lose in einen silbernen Becher tun, und sollte dann gerade mein Los von Ihnen gezogen werden, und sollten Sie dann gern rasch handeln (wegen des auf die Neige gehenden Lutherjahres): Kurzum, für diesen wahrscheinlichen Fall schicke ich Ihnen das M[anu]S[kript] gleich mit, trotzdem die Anmerkungen noch nicht mit dabei sind. Sollte dann, s.[iehe] oben, dann könnte ich Ihnen die Anmerkungen unverzüglich nachliefern und es brauchte darum noch keine Verzögerung einzutreten.1
Der Verleger verstand es, den Text sachgemäß zu erfassen. Mit einem Bleistift markierte er die gewünschte Schriftenreihe, den Auftrag, „Lutherreden zu lesen“, den Anmerkungsapparat einzufordern und „rasch [zu] handeln“. Wie rasch der Schreiber der Zeilen selbst gehandelt hatte, verdeutlicht das Datum seines Briefes. Noch am Tag des Vortrages, am 17. November 1933, hatte sich Dörries mit dem Anliegen einer zügigen Drucklegung nach Tübingen gewandt. Zudem hatte er sein Manuskript schon dem Göttinger Tageblatt übergeben, das den Haupttext
1 Hermann Dörries an Oskar Siebeck, 17. November 1933, Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung Nachlass 488 (Verlagsarchiv Mohr/Siebeck), Sign. A 0470, 7, Bl. 219r. Zu dem oben genannten Datum s. den betreffenden Eingangsstempel: „19. Nov. 1933“. Für den Hinweis auf den Brief wie überhaupt ihre großzügige Hilfsbereitschaft in der materialen und paläographischen Annäherung an Dörries danke ich Aneke Dornbusch sehr herzlich. Ihre unlängst erschienene Dissertation (Hermann Dörries (1895–1977) – ein Kirchenhistoriker im Wandel der politischen Systeme Deutschlands [Christentum in der modernen Welt 3], Tübingen 2022) ist für die weitere Beschäftigung mit Dörries von grundlegender Bedeutung. https://doi.org/10.1515/9783110690095-003
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einen Tag nach dem Festakt leicht gekürzt abdruckte.2 Im nächsten Frühjahr folgte die Veröffentlichung bei Mohr. Der Vortrag Luther und Deutschland nimmt eine besondere Stellung in Dörries’ Werk ein.3 Er stellt einen ersten Beitrag zur Lutherforschung dar, sieht man von früheren Lehrveranstaltungen4 und einer punktuellen Tätigkeit als Rezensent 5 ab. Zu der werkgeschichtlichen und möglichen fachlichen Bedeutung kommt eine politische. Mit seinem Festvortrag in einer universitären Lutherfeier und der
2 Der gekürzte Erstdruck erschien als: Die Göttinger Luther=Festtage. Feier der theologischen Fakultät – Prof. Dr. Dörries über „Luther und Deutschland“ – Luther=Festkonzert, Göttinger Tageblatt, 18./19. November 1933, 3–5. 3 Hermann Dörries, Luther und Deutschland (SGV 169), Tübingen 1934; zu dem Datum des Vortrages s. ebd., 3. Zur Drucklegung vor Mai 1934 s. den Erscheinungstermin der Rezension Wilhelm Gussmanns (s. unten Anm. 16). Von Bedeutung für die Einbettung der Rede in die Göttinger Fakultäts-, Universitäts- und Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte sind die Ausführungen von Hansjörg Buss, Wissenschaft – Ausbildung – Politik: Die Göttinger Theologische Fakultät in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, Göttingen 2021 (als open access-Publikation verfügbar unter: https://directory.doabooks.org/handle/20.500.12854/78127 [Zugriffsdatum: 31. März 2022]), bes. 156–160. Zu Besonderheiten der theologischen Fakultät und Dörries’ s. zudem Rudolf Smend, Eine Fakultät in kritischer Zeit. Die Göttinger Theologie zwischen 1930 und 1950, in: ders., Zwischen Mose und Karl Barth. Akademische Vorträge, Tübingen 2009, 170–203. 4 Charakteristisch für Dörries’ erste Lehrtätigkeit in Tübingen zwischen 1923 und 1927 ist, dass am Samstagmorgen zwischen 8.30 Uhr und 10 Uhr meist eine kursorische oder exemplarische Quellenlektüre stand. Zudem wurde Dörries fortschreitend in den Vorlesungsbetrieb eingebunden. Im SS 1923 bot Dörries erstmals die „Kirchengeschichtliche Uebung“ an (s. dazu Württembergische Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Vorlesungs-Verzeichnis [im Weiteren: VV] für das Sommerhalbjahr 1923, Tübingen 1923, 17). Im folgenden WS wird ein erster inhaltlicher Akzent in der Mystik erkennbar (s. dazu VV für das Winterhalbjahr 1923/24, Tübingen 1923, 17, wohl mit einem Satzfehler: „Kirchengeschichtliches Seminar (Lektüre mythischer [sic] Texte)“ zur Zeit der Übungen). Im SS 1924 setzte er den Schwerpunkt auf „Luther und Calvin“ (VV für das Sommerhalbjahr 1924, Tübingen 1924, 17: „Kirchengeschichtliche Uebungen (Luther und Calvin)“). Im SS 1926 fokussierte er am bislang einschlägigsten auf Luther mit einer „Lektüre deutscher LutherSchriften“ (VV für das Sommerhalbjahr 1926, Tübingen 1926, 22). Thematisch unbestimmt bleiben die Übungen für das WS 1924/25 (VV für das Winterhalbjahr 1924/25, Tübingen 1924, 17), das SS 1925 (VV für das Sommerhalbjahr 1925, Tübingen 1925, 17), das WS 1925/26 (VV für das Winterhalbjahr 1925/26, Tübingen 1925, 22) und das WS 1926/27 (VV für das Winterhalbjahr 1926/27, Tübingen 1926, 22). Die Epochenvorlesung „Kirchengeschichte III“ las Dörries erstmals im WS 1925/26 (VV für das Winterhalbjahr 1925/26, Tübingen 1925, 22). Für das SS 1927 wurde angekündigt „Kirchengeschichte III (Reformation und Gegenreformation)“ (VV für das Sommerhalbjahr 1927, Tübingen 1927, 22). Im WS 1927/28 trat an die Stelle der Übung eine weitere Hauptvorlesung, indem Dörries vierstündig „Dogmengeschichte“ las (VV für das Winterhalbjahr 1927/28, Tübingen 1927, 22). 5 Nicht als Forschungsbeitrag, eher als Indikator für fachliche Interessen ist die Kurzrezension anzuführen: Hermann Dörries, Rez. „Holstein, Prof. Dr. Günther: Luther und die deutsche Staatsidee. Tübingen: J. C. B. Mohr 1926“, ThLZ 52/16 (1927), Sp. 375 f.
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Veröffentlichung in der weit rezipierten Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte nimmt Dörries eine Positionierung vor, deren Profil auf mehrere Lesarten hin offen ist. Eine naheliegende Deutung mag sein, dass sich Dörries mit der nationalen Perspektive den neuen Machthabern empfehlen wollte. Eine Gegenthese trug Hans-Walter Krumwiede vor, als er 1987 darauf abhob, daß der Kampf der Bekennenden Kirche bis 1935 nicht gegen den Hitler-Staat, sondern nur gegen die D[eutschen]C[hristen] gerichtet war. [...] Die Luther-Rede Dörries’ Nov. 1933 prangert in erster Linie nicht die D[eutschen]C[hristen], sondern den nationalsozialistischen Staat an, dem er [Dörries] in dieser akademischen Feier das Menetekel an die Wand schreibt. Es ist eine der ersten Kritiken des Hitler-Staates aus dem Munde eines evangelischen Theologen.6
Einen gleichermaßen szenischen Ausweis erfuhr diese Interpretation aus dem von Krumwiede angeführten Umstand, dass ein „Hörer dieses Vortrages“, der „Zeitzeuge“ Georg Hoffmann, kurz zuvor die Erinnerung beigebracht hatte, „der Rektor der Universität [habe] Dörries im Anschluß an seine Ausführungen provokativ die Hand verweigert“.7 Ernst Berneburg präzisierte ein Jahr später, wie es zu diesem neuerlichen Informationsstand gekommen war, und ordnete den Rektor in eine Phalanx von Zurückweisung demonstrierenden Verantwortungsträgern ein.8 Demnach habe „Georg Hoffmann in seinem Bericht als ,Zeitzeuge‘ am Tag der Theolog.[ischen] Fakultät in Göttingen am 19. 5. 1987“ 9 erklärt, „daß die leitenden Männer der Universität dem Redner am Schluß den Händedruck verweigerten“.10 Interpretativ eröffnet sich aus diesem Perspektivenspektrum die Frage, wie mit dem Luthervortrag angemessen umzugehen sei. Berneburg votierte für eine werkimmanente Interpretation und vielleicht einen „nähere[n] Vergleich nicht nur mit Hirschs Position“.11 Thomas Kaufmanns Beitrag im vorliegenden Sammelband geht in diese Richtung.12 Eine zweite Möglichkeit wäre es, die Luther geltenden Universitätsreden des Jahres 1933 als eine serielle Gattung zu untersuchen. Dieser Ansatz böte die große Chance, ein Spektrum an Positionen
6 Hans-Walter Krumwiede, Göttinger Theologie im Hitler-Staat, JGNKG 85 (1987), 145–178, hier: 166. 7 Ebd. 8 Ernst Berneburg, Rez. „Heinrich Becker, Hans J. Dahms, Cornelia Wegeler (Hg.): Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250jährigen Geschichte, München: Saur 1987 […]“, KZG 1/1 (1988), 192–195, hier: 195. 9 Ebd., Anm. 8. 10 Ebd., 195. 11 Ebd. 12 S. in diesem Band S. 199–225.
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zu eröffnen, in das sich Dörries einordnen ließe. Der Ertrag wäre hoch, der Aufwand jedoch auch, wollte man den jeweiligen Autoren und deren Texten gerecht werden. Mit diesem Beitrag wird der Versuch unternommen, Dörries’ Vortrag in seinem engeren zeitlichen Kontext zu deuten und ihn teils werk-, teils wirkungsund rezeptionsgeschichtlich einzuordnen.
1 Zur Themenstellung „Luther und Deutschland“ Bereits die Titelformulierung Luther und Deutschland mag als bezeichnend für das Jahr 1933 angesehen werden. So äußerte sich der 1987 als „Zeitzeuge“ nach Göttingen eingeladene Kieler Praktische Theologe Georg Hoffmann13 bereits 1935 über Dörries’ Vortrag, als er ihn zusammen mit Heinrich Bornkamms Luther und das deutsche Volk in der Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte besprach. Hoffmann, zu diesem Zeitpunkt Dransfelder Pfarrer und Göttinger Privatdozent, bemerkte einleitend zu dem Thema: Die Lutherfeiern des Jahres 1933 haben ihren Niederschlag in zahlreichen Veröffentlichungen gefunden, die in mannigfacher Abwandlung vor allem ein Thema behandelten: Luther der Deutsche. Diese Themastellung ist im Jahre der deutschen Erhebung ohne weiteres verständlich. Eine Zeit, der es aufgegeben ist, erneut um das rechte Verhältnis von Christentum und deutschem Volkstum zu ringen, hat das stärkste, nicht nur historisch, sondern vor allem sachliche Anliegen, danach zu fragen, wie sich in Person und Werk des deutschen Reformators die Verbindung beider Größen gestaltet hat.14
Auch andere Rezensenten blickten zeitgleich auf das Jahr 1933 zurück und betonten die Vielzahl an thematisch einschlägigen Veröffentlichungen. Am 8. August 1935 publizierte etwa der Lutherforscher und Holl-Schüler Erich Vogelsang seinen Sammelbericht über die Lutherliteratur der letzten zwei Jahre in der 1934 gegründeten Zeitschrift Deutsche Theologie und betonte mit seinem Eröffnungssatz: „Das Thema ,Luther und Deutschland‘ ist im Jahre 1933 vielfach behandelt“ worden, „mit charakteristischen Unterschieden schon in der Fragestellung.“ 15 Noch zuvor, schon im Mai 1934, hatte der 80jährige promovierte Pfarrer und verdiente Reformationshistoriker Wilhelm Gussmann aus Stuttgart im Theologischen Literatur13 Zu ihm s. Martin Keßler, Luthers Schriften für die Gegenwart. Drei konkurrierende Editionsvorhaben in den 1930er und 1940er Jahren, Tübingen 2019, 55, Anm. 289 14 G.[eorg] Hoffmann, 4. [in der Rubrik „Literarisches“] Aus den Schriften des Lutherjahres 1933. Dörries, Hermann: Luther und Deutschland [… und] Bornkamm, Heinrich: Luther und das deutsche Volk […], ZGNKG 40 (1935), 247–251, hier: S. 247 f. 15 Erich Vogelsang, Lutherliteratur der letzten zwei Jahre, DTh 2/8 (August 1935), 256–266, hier: 258.
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blatt festgestellt: „Das Thema [„Luther und Deutschland“] ist in letzter Zeit so ausgiebig behandelt worden, dass sich ohne tiefer schürfende Untersuchung kaum etwas Neues beibringen läßt.“ 16 Gegenüber dieser zeitgenössischen Wahrnehmung, in der sich eine thematische Konjunktur und ansatzweise Erschöpfung andeuten, ist zu betonen, dass die Fragestellung bereits um 1917 einen Höhepunkt an Aufmerksamkeit gefunden hatte. Im Titel einer eigenständigen Veröffentlichung erschien die Formulierung „Luther und Deutschland“ in „Eine[r] Reformationsrede im Kriegsjahr 1917“ von Erich Marcks.17 Der Schüler Treitschkes akzentuierte die Bedeutung der Reformation im Revolutionsjahr 1917 im Modus der Überbietung: „Da mit einem Male kam der Bruch. Es kam die größte Revolution unserer Geschichte: eine Umwälzung, wirklich, wenn es je eine gegeben hat; die seelische, die religiöse, die unendlich tief hineingriff auch in die sichtbare Welt.“ 18 Über den entscheidenden „Durchbruch der persoͤnlichen Kraft“ heißt es: „Vollbracht worden ist er durch einen Deutschen: aus der Kraft des Gemuͤtes, aus der inneren Wahrhaftigkeit des Fuͤhlens weiter mehr als unter dem Zwange des Denkens.“ 19 Für das Jahr 1917 steht Marcks jedoch nur als ein Beispiel.20 Seinen monographischen Rückblick auf ein Jahrzehnt der Lutherpublizistik stellte der Jesuit Hartmann Grisar 1924 unter den Titel: Der Deutsche Luther im Weltkrieg und in der Gegenwart.21 Allein sein Eröffnungssatz hebt auf eine kriegstreibende Instrumentalisierung ab und deutet an: „Daß Luther Führer in Deutschland für unsere Zeit sein müsse, ist eine gegenwärtig in Rede und Schrift häufig auftretende Forderung. Als der Weltkrieg ausbrach, haben ihn hundert begeisterte Stimmen seiner Anhänger als Vorkämpfer ausgerufen. Luther, der große deutsche Mann, das Vorbild des Deutschtums, sollte nach der Idee von Unzähligen der Hort unserer Heere und der Bürge unseres Sieges sein.“ 22 Auch sechs Jahrzehnte später urteilte Gottfried Maron über die Luthererinnerung des Jahres 1917: „Kein Thema aber, das damals so häufig traktiert worden wäre wie das Thema ,Luther
16 Wilhelm Gussmann, Rez. „Dörries, Hermann […] Luther und Deutschland […]“, ThLBl 55/10 (11. Mai 1934), Sp. 153 f., hier: 153. 17 Erich Marcks, Luther und Deutschland. Eine Reformationsrede im Kriegsjahr 1917, Leipzig 1917. 18 Ebd., 6 f. 19 Ebd., 17. 20 Für einen umfassenden Deutungsrahmen s. Dorothea Wendebourg, So viele Luthers … Die Reformationsjubiläen des 19. und 20. Jahrhunderts, Leipzig 2017. 21 Hartmann Grisar, Der deutsche Luther im Weltkrieg und in der Gegenwart, Augsburg 1924. 22 Ebd., 1. Unter den neueren Autoren hebt besonders Dietz Bering, Luther im Fronteinsatz. Propagandastrategien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2018, auf die propagandistische Vereinnahmung Luthers ab. Zu der in Teilen problematischen Quellenarbeit und Methodik Berings s. Martin Keßler, Rez. „Dietz Bering. Luther im Fronteinsatz“, Luther 90/3 (2019), 199–201.
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und Deutschland‘. Kaum eine Schrift, die dieses Thema überhaupt nicht berührt, zahlreiche Schriften, die es zum einzigen Inhalt machen.“ 23 Für Dörries’ Themenstellung aus dem Jahr 1933 ist dieser größere publizistische Rahmen zumindest in lebens-, vielleicht auch in bildungsgeschichtlicher Hinsicht anzuzeigen. Die Frage des Jahres 1933 erwächst nicht nur aus zeitspezifischen Veranlassungen. Zumindest in Teilen dürfte sie auch in Impulsen aus Dörries’ formativen Jahren als Anfang Zwanzigjähriger wurzeln. Zu bedenken bleibt weiter, dass die nationalen Luther-Deutungen zur Zeit des Ersten Weltkrieges und des Reformationsjubiläums 1917 sich ihrerseits älteren Mustern verdanken. Direkt und indirekt wirkten in ihnen auch Interpretationsmuster der preußischen Historiographie des 19. Jahrhunderts nach.
2 Anlage und Argumente des Vortrages „Luther und Deutschland“ Um auf den Vortrag selbst einzugehen, ist zunächst der Umstand hervorzuheben, dass sich der gedruckte Text in der Fußzeile der Eröffnungsseite als „Rede, gehalten bei der Lutherfeier der Universität Göttingen am 17. Nov. 1933“,24 ausweist und einen Redecharakter erkennbar aufrechterhält. Der Text ist rhetorisch ausgefeilt und eindringlich formuliert. Im Unterschied zu anderen in die Sammlung gemeinverständlicher Vorträge aufgenommenen Beiträgen, die auf jeden literarischen Nachweis verzichten25 arbeitet Dörries mit einem Anmerkungsapparat von 79 Endnoten, die fünf der insgesamt 24 Druckseiten füllen.26 Der Erstdruck im Göttinger Tageblatt verdeutlicht in seiner Textgestalt, dass Dörries mit nur einem Manuskript den Festvortrag und die beiden Veröffentlichungen koordiniert hatte. Die noch fehlenden Anmerkungen sandte Dörries am 30. November 1933 nach Tübingen. Dem Verleger erklärt er über die Bedeutung des Textes: „Inhaltlich bin
23 Gottfried Maron, Luther 1917. Beobachtungen zur Literatur des 400. Reformationsjubiläums, ZKG 93 (1982), 177–221, hier: 190. 24 Dörries, Luther (Anm. 3), 3. 25 Ein berühmtes späteres Beispiel ist Gerhard Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift (SGV 189), Tübingen 1947. Für Hinweise auf einzelne literarische Referenzen dieses Textes s. Martin Keßler, „Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift“. Gerhard Ebelings handschriftliche Vorbereitung seiner Habilitations-Probevorlesung (1946), in: Claudia Kampmann/Ulrich Volp/Martin Wallraff/Julia Winnebeck (Hg.), Kirchengeschichte. Historisches Spezialgebiet und/oder theologische Disziplin (Theologie – Kultur – Hermeneutik 28), Leipzig 2020, 283–320. 26 Dörries, Luther (Anm. 3), 20–26.
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ich natürlich von seinem Wert ebenso überzeugt wie jeder andere Autor, solange er nichts zugelernt hat.“ 27 Vor allem aber geht der Brief auf die Druckvorlage ein: Das M[anu]S[kript], in das ich die Zahlen der Anmerkungen eingetragen habe, war vorher, wie sein buntes Aussehen noch erkennen läßt, beim „Göttinger Tageblatt“, das ihn auf den ihm zusagenden Umfang für den Festbericht redigierte. […] Da aber […] der Tageblatt= Setzer sich die kräftigste Stelle des Vortrages, über Worms, zurückbehalten hat, – ich weiß nicht zu welchen Zwecken –, so ist es ratsam, nach dem ersten M[anu]S[kript] zu drucken und nur die Anmerkungen noch einzusetzen.28
Betrachtet man die abgeschlossene Drucklegung, ist alleine in formaler Hinsicht auffällig, dass Dörries sich für das Gros seiner Ausweise auf Quellenbelege nach der Weimarer und in einigen Fällen der Erlanger Lutherausgabe beschränkt. Nur einmal zeigt er Forschungsliteratur an, indem er einen vergleichsweise marginalen, „[h]eimatkundliche[n]“ Beitrag von Johannes Ficker aus dem Jahr 1928 anführt.29 In dem eigentlichen Vortrag kommen somit nur zwei Personen zu Wort: Luther und Dörries. Beide verbindet der soziale Status, den Dörries für Luther eingangs herausstellt: „Die deutschen Universitäten feiern das Gedächtnis Martin Luthers nicht nur, weil er einer der ihren war, und sie sich mit Luther einer bedeutsamen Epoche ihres eigenen Werdens erinnern.“ 30 Bezüge auf Luthers akademischen Stand folgen an zwei weiteren Stellen. Die erste Würdigung steht unter dem Stichwort „Luther der Deutsche“ und gilt neben anderem dem „an sein Amt hingegebenen Professor“.31 Sodann erklärt Dörries an einer Schlüsselstelle des Vortrages, weshalb „unser Volk [...] gerade Luther zu seinem Helden gemacht hat, und [...] es Worms als einen besonderen Ruhmestitel der deutschen Geschichte feiert“; abermals wird unter Rekurs auf den Berufsstand betont: Was sich in Worms zugetragen hat, war dies, daß die Nation in ihren Führern die Forderung erhob, die Einheit und den Frieden der Nation allem anderen überzuordnen, und daß da ein Professor der Theologie einer kleinen deutschen Universität „Nein“ dazu sagte. Indem aber Luther sich die Vollmacht zutraute, sich gegen die Nation zu entscheiden, gebunden allein an Gottes Wort und sein Gewissen, entschied er zugleich über die deutsche Zukunft.32
27 Hermann Dörries an Oskar Siebeck, 30. November 1933, Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung Nachlass 488 (Verlagsarchiv Mohr/Siebeck), Sign. A 0470, 7, Bl. 213r. 28 Ebd. 29 Dörries, Luther (Anm. 3), 24, Anm. 72. In der zeitgenössischen Wahrnehmung finde ich einen Bezug auf diesen Text nur in Walther Köhler, Reformation und Gegenreformation (1500–1648), HZ 139/3 (1929), 638–646, hier: 641. 30 Dörries, Luther (Anm. 3), 3. 31 Ebd. 32 Ebd., 16.
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In einer zumindest ansatzweise vergleichbaren Situation sieht sich Dörries selbst. Über die Luther-Memoria hinaus suchten „[d]ie deutschen Universitäten [... zu] bekunden, welche wichtige Aufgabe [... ihnen] in unserem neuen Staate zufällt.“ 33 Seinen eigenen Beitrag deutet Dörries somit als eine hochschulpolitische Positionsbestimmung im nationalsozialistischen Deutschland. Als Historiker fühlt er sich dazu in besonderer Weise berechtigt, da zu der Besonderheit der gegenwärtigen „Revolution“ ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein gehöre.34 Tatsächlich spitzt Dörries die staatliche Aufgabenbestimmung der Universitäten auf eine Vermittlung historischen Orientierungswissens zu: „Damit [...] erwächst für die Universitäten die Aufgabe, die Vergangenheit zu deuten, auf daß dann die großen Toten ungesehen und doch für uns sichtbar uns ihren Enkeln getreue Ratgeber und Mahner werden.“ 35 Luther empfiehlt Dörries, indem er ihn als den Inbegriff des Deutschen schildert: „Wenn wir wissen wollen, was deutsch ist, stellen wir uns Luther vor Augen.“ 36 Superlativisch wird Luther zu dem „deutscheste[n] Deutschen“ erklärt und zu dem „größte[n] Mann, den Deutschland hervorgebracht hat.“ 37 Luthers Größe leitet Dörries aus einer breit ausgemalten Vereinigung gegenläufiger Attribute ab; so sei Luther etwa „derb“ und doch „von zartester Innigkeit“ 38 gewesen. Dieser Ansatz hat eine lange Tradition. Ein berühmtes Muster, das Dörries bekannt gewesen sein dürfte, bietet Treitschkes Vortrag Luther und die deutsche Nation von 1883. Darin heißt es: Keine andere der neueren Nationen hat je einen Mann gesehen, der so seinen Landsleuten jedes Wort von den Lippen genommen, der so in Art und Unart das innerste Wesen seines Volkes verkörpert hätte. Ein Ausländer mag wohl rathlos fragen: wie nur so wunderbare Gegensätze in einer Seele zusammen liegen mochten: diese Gewalt zermalmenden Zornes und die Innigkeit frommen Glaubens, diese hohe Weisheit und kindliche Einfalt, so viel tiefsinnige Mystik und so viel Lebenslust, so ungeschlachte Grobheit und so zarte Herzensgüte […]. Wir Deutschen finden in Alledem kein Räthsel, wir sagen einfach: das ist Blut von unserem Blute.39
Dörries operiert für Luther mit vergleichbaren Oppositionen, die im Wesen eines deutschen Menschen zur vollendeten Einheit gelangt seien.
33 34 35 36 37 38 39
Ebd., 3. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 19. Ebd., 3. Heinrich von Treitschke, Luther und die deutsche Nation, Berlin 1883, 25 f.
„Luther und Deutschland“ – Hermann Do ¨rries’ Lutherrede 1933
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Dass Treitschkes Text Dörries nicht nur bekannt gewesen, sondern als Muster gedient haben dürfte, deutet sich in weiteren Zusammenhängen an. Weithin topisch, aber übereinstimmend ist der Hinweis auf Luthers Bedeutung für die deutsche Sprache.40 Auch Treitschke führt einleitend und ohne Quellenbeleg das Luther zugeschriebene Wort an: „für meine Deutschen bin ich geboren, ihnen will ich dienen“. Luther-Kenner, wie Peter Gemeinhardt in seinem Karl Heussi geltenden Jenaer Habilitationsvortrag vom 11. Juli 2006, erkennen darin eine Übersetzung von Luthers Brief an Nikolaus Gerbel vom 1. November 1521.41 Auffällig ist hingegen die Formulierung von Dörries, der im Haupttext schreibt: „,Für meine Deutschen will ich leben‘, dies Wort Luthers haben wir jetzt oft gehört“, bevor eine Anmerkung hinzufügt: „Ebenso die Wendung aus einem Brief von 1521: Germanis meis natus sum, quibus et serviam.“ 42 Bemerkenswert hieran ist, dass Dörries nicht die Verknüpfung zwischen der lateinischen Belegstelle und dem gekürzten Wortlaut der zunächst bei Treitschke begegnenden Übersetzung herstellt. Dörries behandelt die gestraffte Fassung als ein eigenständiges Lutherzitat, das so bekannt sei, dass sich ein literarischer Ausweis erübrige. Auch hierin legen sich direkte oder indirekte Verbindungen zu Treitschkes Vortrag von 1883 nahe. Gleiches gilt für die Hauptthese von Dörries’ Beitrag. Luthers größte Leistung sei es gewesen, als „deutsche[r ...] Prophet“ 43 seiner Nation eine persönlich sowie politisch angemessene Selbstbestimmung eröffnet und zugleich eine strenge Unterwerfung unter den unbedingten „Gotteswillen“ 44 eingeschärft zu haben. Mit diesem Junktim sei Luther zu einem „Untergang[s]“-Propheten45 geworden, der den Abfall seiner Nation von dem „Gottesgehorsam“ 46 vorausgesehen und den Weg in den „geschichtlichen Untergang Deutschlands“ 47 im 30jährigen Krieg, den Dörries als „Bürgerkrieg“ bezeichnet,48 vorhergesehen habe. Luthers Erwartung eines Weltendes49 eröffne eine stimmige Weltgestaltung, in der die politischen Ideale nicht von religiösen isoliert werden dürfen:
40 Vgl. dazu ebd., 21, mit Dörries, Luther (Anm. 3), 4. 41 Unter Hinweis auf WA.Br 2 s. Peter Gemeinhardt, Karl Heussi, der Nationalsozialismus und das Jahr 1933, ZThK 104 (2007), 287–319, hier: 293, Anm. 23. 42 Dörries, Luther (Anm. 3), 20, Anm. 20. 43 Ebd., 3. 44 Ebd., 17. 45 Ebd., 10 f. 46 Ebd., 17. 47 Ebd., 11. 48 Ebd., 18. 49 Ebd., 11, spricht Dörries vom „Weltuntergang“.
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Damit, daß Luther die Nation dem Gotteswillen unterwarf, machte er sie frei von der Umklammerung durch ein verweltlichtes Kirchentum, sprengte die römische Fessel, erhob er den Staat aus seiner untergeordneten Stellung, schuf er die Grundlagen eines neuen Deutschland des freien Gewissens und der strengsten Pflicht.50
In Preußen seien die „lutherische [...] Geschichts- und Staatslehre“ am stimmigsten in einen Staat überführt worden, der „den Aufbau eines neuen Reichs“ geleistet“ habe.51 Essentiell für diesen sei mithin nicht nur nationales oder völkisches Denken, sondern auch eine religiöse Ausrichtung in lutherischer Tradition: „Ein Volk ist immer in Gefahr, ist um so gefährdeter, je höher die Ziele sind, die es sich steckt. Über Sein oder Nichtsein aber bestimmt nur die Entscheidung vor dem absoluten Ziel und dem einzigen schlechthinnigen Anspruch, den es gibt, dem Gotteswillen.“ 52 In diesem Sinne schließt Dörries damit, dass er den thetischen Gehalt seiner Überschrift synthetisch zusammenfasst: „Denn sie beide gehören untrennbar zusammen: Luther und Deutschland!“ 53 Konsultiert man auch dazu nochmals Treitschke, so liest man bereits bei ihm, dass Luther den „Schrecken eines Bürgerkrieges“ vorhergesehen habe.54 Schon Luther habe „de[n …] Staat“ als eine „Ordnung Gottes“ verstanden, „berechtigt und verpflichtet seinen eigenen sittlichen Lebenszwecken, unabhängig von der Kirche, nachzugehen“.55 Zugleich mahnt Treitschke an, nicht „die Hoffnung auf[zu]geben, daß dereinst noch schönere Tage kommen werden, da unser gesammtes Volk in Martin Luther seinen Helden und Lehrer verehrt“.56 Das Grundnarrativ ist vergleichbar; während Treitschke Luther jedoch als politischen Denker relativiert,57 betont Dörries die Geschlossenheit von Luthers „Staatslehre“.58 Dies entspricht – ausweislich einer Rezension – einem bei Dörries bis in das Jahr 1927 zurückreichenden Interesse am Themenfeld „Luther und die deutsche Staatsidee“.59 Dass Dörries Treitschkes Luthervortrag von 1883 direkt oder indirekt rezipierte, ist wahrscheinlich. Die argumentativen Verbindungen sind insofern erhellend, als die vage Betonung eines „höheren Willen[s]“,60 der auch in den „natür-
50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Vgl. besonders ebd., 17. Ebd., 18. Ebd., 19. Ebd. Treitschke, Luther (Anm. 39), 18. Ebd. Ebd., 28. Ebd., 18: „Er wußte, daß er kein Staatsmann war“. Dörries, Luther (Anm. 3), 18. S. oben Anm. 5. Dörries, Luther (Anm. 3), 19.
„Luther und Deutschland“ – Hermann Do ¨rries’ Lutherrede 1933
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lichen Ordnungen“ 61 der „Welt“ 62 begegne, nicht nur in seinen Durchlässigkeiten und Unterschieden zu den zeitgleichen politischen Entwicklungen von Belang ist, sondern auch in starken Kontinuitäten zur nationalliberalen Geschichtsschreibung Preußens seit der Reichsgründung steht. Zugleich legt die Betonung der göttlichen Autorität nahe, einen ergänzenden Einfluss von Karl Holls Luther-Bild vorauszusetzen.
3 Zeitgenössische Reaktionen Fragt man im Anschluss an diese thetische und textgenetische Einordnung nach Reaktionen von Zeitgenossen, sind eine Rezension kurz nach der Drucklegung und mehrere Sammelrezensionen des Folgejahres anzuzeigen. Die schnellste und theologische versierteste Reaktion stammt von dem bereits erwähnten hochbetagten Pfarrer Wilhelm Gussmann. Seine Zweifel daran, dass zum Themenfeld etwas substantiell Neues geboten werden könne, wurden schon benannt.63 Zu Dörries’ Beitrag bemerkt er vor diesem Hintergrund: „Von den knapp bemessenen Zeilen eines festlichen Vortrags kann man deshalb vollends nichts weiter erwarten, als dass die wichtigsten Gesichtspunkte klar hervorgehoben und entweder zu einem lebendigen Gesamtbilde zusammengefasst oder aber in ein eigenartiges Licht gerückt werden. Dörries wählt den zweiten Weg, unter steter Beziehung auf den entscheidungsvollen Ernst unserer gegenwärtigen Lage.“ 64 Die politischen Dimensionen fasst Gussmann zusammen: Er [Luther] lernt auf den christlichen Staat ebenso verzichten wie auf die geistige Einheit der deutschen Nation und setzt dagegen seine Hoffnung auf den lieben, jüngsten Tag, der ein Reich bringen wird, in dem Gerechtigkeit, Friede und Freude wohnen. Trotzdem flieht er aber nicht aus dieser […] Welt […]. Hier hat jeder Christ an dem Platz, an dem eine höhere Weisheit ihn gerückt hat, im Rahmen der natürlichen Schöpfungsordnungen Gottes und seinem Nächsten zu dienen.65
Bemerkenswert ist, dass Gussmann mit deutlicher theologischer Kritik schließt, indem er zu dem von Dörries betonten Willen Gottes fragt:
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Ebd., 14. Ebd., 15. S. oben Anm. 16. Gussmann, Rez. Dörries (Anm. 16), Sp. 153. Ebd.
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Ist das aber alles? Gibt es neben dem gebietenden, nicht auch einen rettenden Gotteswillen, die Botschaft von der rechtfertigenden und heiligenden Gnade, das Evangelium von dem einen Mittler zwischen Gott und Menschen? Wir begreifen, dass Dörries keinerlei Lücke empfindet. Seine eigentümlich gefärbte theologische Brille hindert ihn daran. Der nachdenkliche Leser wird aber anders urteilen. Er stellte mit Bedauern fest, dass ihm nur die Hälfte gesagt ist.66
1935 folgten fünf Sammelrezensionen, in denen Dörries’ Vortrag Berücksichtigung fand. Der profilierteste Lutherforscher unter den besprechenden Autoren ist der Holl-Schüler Erich Vogelsang, dessen Bericht über Lutherliteratur der letzten zwei Jahre auch am breitesten angelegt ist. Sein Beitrag erschien in der im Vorjahr gegründeten Zeitschrift Deutsche Theologie. Darin heißt es: Das Thema ,Luther und Deutschland‘ ist im Jahre 1933 vielfach behandelt, mit charakteristischen Unterschieden schon in der Fragestellung. Die einen (H. Dörries, H. Fausel) fragen vorwiegend: Wie urteilte Luther positiv und kritisch über Deutschland von seinem übergeordneten prophetischen Bewußtsein aus […]. Die anderen (H. Bornkamm, O. Scheel, R. Kraemer, W. Koehler) gehen mehr von dem aus, was Luther bewußt und unbewußt für Deutschland leistete. […] Charakteristisch ist z. B. die verschiedene Verwertung des Wormser Bekenntnisses […] durch Scheel und Dörries. Für Scheel ist es der klassische Beleg dafür, daß ,der Gehorsam gegen das göttliche Wort den Dienst an seinem Deutschland in sich schließt‘; für Dörries, der das Zitat W.[A.] 7, 835 Zeile 14 abbricht und das folgende ,obsequium meae Germaniae debitum subtrahere non debuerim’ wegläßt (S. 25), ist es der entscheidende Beleg, daß Luther ,sich gegen die Nation zu entscheiden‘ wagte, ,daß da ein Professor der Theologie an einer kleinen deutschen Universität Nein sagte‘ zu der Forderung, ,die Einheit und den Frieden der Nation allem andern überzuordnen‘ (S. 16). Sollte hier Scheels Deutung nicht richtiger sein, daß der Gehorsam des ,in Gottes Wort gefangenen Gewissens‘ (in der Entscheidung gegen den römischen Kaiser, nicht gegen die deutsche Nation!) eben zugleich der in Gottes Wort begründete, unentrinnbare ,seinem Deutschland geschuldete Gehorsam‘ war?67
Auch Vogelsang übt damit Kritik an Dörries’ Thetik, indem er philologisch fundiert auf Luthers Selbstverständnis rekurriert, mit dem verweigerten Widerspruch auch deutsche Interessen zu vertreten. Dörries’ Zuspitzung, Luther habe in Worms alleine gegen die Nation gestanden und den göttlichen Willen vertreten, wird argumentativ empfindlich geschwächt. Vogelsangs Gegenthese einer Kongruenz zwischen einer persönlichen Verantwortung gegenüber dem Gewissen, Gottes Wort und einem „Gehorsam“ gegenüber der Nation ist erkennbar, philologisch aber ihrerseits nicht ausgewiesen. Einen umfassenden Literaturbericht bietet auch der in Heidelberg wirkende Kirchenhistoriker Walther Köhler in der Historischen Zeitschrift. Er gewichtet qualitativ deutlicher, indem er einen Beitrag besonders empfiehlt und die übrigen 66 Gussmann, Rez. Dörries (Anm. 16), Sp. 153 f. 67 Vogelsang, Lutherliteratur (Anm. 15), 258 f.
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nachordnet: „An der Spitze der uns zugegangenen Lutherreden zum 10. November 1933 ist die Gedächtnisrede von Erich Seeberg: Martin Luther […] zu stellen. In gewählter Sprache, glücklicher Formulierung, wird ein Bild der Person, der Leistung […], des Werkes (die Theologie) entworfen, in starker Gegenwartsbezogenheit, im einzelnen natürlich die Auffassung S[eeberg].s. von Luther verratend.“ 68 An zweiter Stelle folgt Karl Heussis Luthers deutsche Sendung,69 an dritter Otto Greiffenhagens Luthers persönliche Beziehung zur Revaler Reformation.70 Dörries wird an vierter Stelle erwähnt: Die Göttinger Gedenkrede von H. Dörries […], reich mit Zitaten und Anmerkungen ausgestattet, gewinnt nach den üblichen Belegen für Luthers Liebe zu den Deutschen und Kritik an ihnen den neuen, fruchtbaren Gesichtspunkt, „die Stunde Deutschlands“, wie Luther sie faßte, herauszuarbeiten. Steht sie zunächst innerhalb der Eschatologie, ein für den Untergang reifes Bild Deutschlands bietend, so erscheint Luther als der Prophet, der von Glauben und Unglauben als den Faktoren des Weltgeschehens aus die bisherige Weltdeutung aufrollt und durch Unterwerfung der Nation unter den Gotteswillen sie von der Umklammerung durch ein verweltlichtes Kirchenregiment befreit. Das Thema: Luther und die Welt bildet den Hintergrund.71
Köhlers Aufmerksamkeit erschloss sich somit ein eigener thematischer Subtext in Luthers Weltverständnis. Ebenfalls einen Sammelbericht steuerte der Marburger Kirchenhistoriker Heinrich Hermelink zur Theologischen Rundschau bei. Der Dörries geltende Passus bietet eine bündige Inhaltszusammenfassung, die zunächst die kritischen Anteile von Luthers Botschaft hervorhebt, dann aber auch nationale Eigenheiten und neuzeitliche Entwicklungen einbezieht: Nach Dörries ist Luther der prophetische Unheilverkündiger für sein Volk, da die Deutschen den an sie ergangenen Ruf nicht hören. Auf dem Hintergrund des germanischen Pessimismus erhebt sich seine Botschaft von der unbedingten Überordnung des geistlichen Reichs des Glaubens über die Welt, die dem Untergang zustrebt, und ihr Regiment. Diese Sprengung der mittelalterlichen Einheit von Geistlichem und Weltlichem erweist sich aber als ungeheurer nationaler Gewinn, denn die häuslichen und weltlichen Ordnungen leben plötzlich auf. Der Stichtag dieses Gewinns ist Worms, wo die Führer der Nation die Forderung auf Frieden und Einheit der Nation stellen, aber der Professor der kleinsten Universität, gebunden an Gottes Wort und sein Gewissen, das „Nein“ dazu sagt. Er entschied damit über die deutsche Zukunft.
68 Walther Köhler, Reformation und Gegenreformation (1500–1648) [„Zeitschriftenbericht“], HZ 150/1 (1934), 187–197, hier: 190. 69 Vgl. dazu Gemeinhardt, Heussi (Anm. 41). 70 Köhler, Reformation (Anm. 68), 190. 71 Ebd.
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Seine Unheilsvoraussicht erfüllte sich im Dreißzigjährigen Krieg, aber auf den Trümmern erhob sich das lutherische Preußen und das neue Reich.72
Kritik deutet Hermelink nur darin an, dass sich Dörries zu eng und zu ambitioniert auf eine akademische Zielgruppe beschränkt habe. Dies erschließt sich aus der Würdigung des nachfolgend besprochenen Beitrags von Sodens, den Hermelink als „[s]chlichter und volksnaher“ würdigt und hervorhebt, dass dieser „für die evangelische Gemeinde die Grundstücke der reformatorischen Botschaft darleg[e]“.73 Im Übrigen beschränkt sich Hermelink auf ein inhaltliches Referat. Zuletzt sind zwei Autoren zu nennen, die in lokalen Bezügen zu Dörries stehen. Der Religionspädagoge Hermann Schuster74 stellte für die von ihm selbst redigierten Deutsche Evangelische Erziehung. Zeitschrift für den Evangelischen Religionsunterricht einen Luther geltenden Literaturbericht zusammen. Der in Hannover wirkende Schuster, der als Göttinger Honorarprofessor ein Fakultätskollege Dörries’ war, präsentiert die superlativischen Formulierungen des betreffenden Beitrages und bietet ein Schlusszitat: Dörries will uns Luther als deutschen Propheten in dem tiefsten Sinne des Wortes verstehen lehren, als den Mann, der nicht nur mit Deutschland fühlt und denkt, seine Tugenden und seine großen Männer feiert, seine Untugenden und seine Verkennung zürnend beklagt, sondern vor allem als den, der eine unüberhörbare Botschaft des allmächtigen Gottes auszurichten hat und seinem Volk eine „Heimsuchung“ bringt, an der sein Geschick sich entscheiden muß. Er arbeitet Luthers Bekenntnis zu Deutschland am Wormser Reichstag als eine Tat höchster Gewissenstreue heraus: Luther lehnt das [sic] ihm zugemutete Kompromiß rücksichtslos ab, um den Anspruch Gottes an den Gehorsam der Nation unverkürzt festzuhalten. „Gedenken wir dessen, daß der größte Mann, den Deutschland hervorgebracht hat, ein Prophet gewesen ist, der unser Volk einem höheren Willen unterwarf, einem Willen, der richtet und aufrichtet, der Gehorsam fordert und Leben schenkt.“ 75
Abschließend zu sondieren ist, wie Georg Hoffmann – der „Zeitzeuge“ des Jahres 1987 – den Beitrag 1935 für die Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte besprach.76 Außergewöhnlich ist der Maßstab, an dem Hoff-
72 Heinrich Hermelink, Die neuere Lutherforschung, ThR 7/2 (1935), 63–85, hier: 79. 73 Ebd. 74 Zu Schuster s. Bernd Schröder unter Mitwirkung von Florian Dinger/Moritz Emmelmann/ Monika E. Fuchs/Urte M. Götte/Elisabeth Hohensee/Lukas Steinbeck, Göttinger Religionspädagogik. Eine Studie zur institutionellen Genese und programmatischen Entfaltung von Katechetik und Religionspädagogik am Beispiel Göttingen (PTGG 25), Tübingen 2018, 185, 189, 199 f., 202, 204. 75 [Hermann] Schuster, Luther-Literatur (Schluß). 14. Karl Heussi, Luthers deutsche Sendung […] 15. Heinrich Bornkamm, Luther und der deutsche Geist […] 16. Hermann Dörries, Luther und Deutschland […] Otto Scheel, Evangelium, Kirche und Volk bei Luther […], DEE 46 (1935), 470 f. 76 Hoffmann, Schriften (Anm. 14), 248–251.
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mann die von ihm angezeigten Neuerscheinungen bemisst. Besonders zwei „Abwege“ gelte es zu vermeiden: eine Beschränkung Luthers auf „seine Deutschheit“ und, noch „gefährlicher“, eine Ableitung seines „Werk[es] der Glaubenserneuerung […] ausschließlich oder doch vornehmlich aus [einer aus den] Urtiefen deutschen Gemütes quellende[n] Germanisierung des Christentums“.77 Vor dem Hintergrund dieser Einseitigkeiten oder Fehldeutungen empfiehlt Hoffmann Dörries als Autor, Person und Forscher. Einleitend heißt es: „Vorbildlich zeigt H. Dörries in seiner Göttinger Festrede, die zu dem Besten gehört, was das Lutherjahr theologischerseits gezeitigt hat, in der ihm eigenen vornehmen, sachlich=unvoreingenommenen und tiefschürfenden Weise, wie das Thema ,Luther und Deutschland‘ zu behandeln ist.“ 78 Am Ende der Besprechung erklärt Hoffmann: „Damit schließt Dörries seine Ausführungen, die exakte Forschung mit lebendiger Verantwortung für die Gegenwart verbinden.“ 79 Hoffmanns Rezension zeichnet sich durch eine hohe Aufmerksamkeit und Sensibilität für argumentative Gewichtungen aus. So referiert er Dörries’ einleitende Passagen zu „Luthers deutsche[r] Art und seine[r] hingebende[n] Liebe zu Deutschland, die sich auch als kräftiger Zorn gegen deutsche Fehler äußern kann“, unterscheidet dann jedoch: „Das ist aber nur die Vorbereitung der eigentlichen Fragestellung“, die Hoffmann auf die Alternative zwischen „Glaube oder Unglaube“ zuspitzt.80 Dörries’ „Deutung des Tages von Worms“ hebt Hoffmann, ebenfalls gewichtend, als „bemerkenswert“ hervor und fasst das Proprium mit den eigenen Worten zusammen: „Um des Gottesgehorsams willen hat Luther sich auch gegen nationale Wünsche wenden müssen.“ 81 Dass Hoffmann Dörries persönlich verbunden war, schränkt den Wert der Ausführungen nicht ein. Vielmehr ließe sich sogar in Betracht ziehen, dass die vorgetragenen Urteile und Akzente sich mit Selbsteinschätzungen Dörries’ berühren. Zugleich bleibt zu fragen, ob Eindrücke von Dörries’ Folgeveröffentlichung Germanische Religion und Sachsenbekehrung 82 gleichermaßen rückwirkend Hoffmanns Urteil über die Lutherrede mitbestimmt haben mögen. Anzumerken ist schließlich, dass Hoffmann 1935 keinen Hinweis auf einen eigenen Besuch der Festrede bietet. Eine persönliche Kenntnis Dörries’ deutet der Rezensent in der einleitenden Charakteristik gleichwohl an. Blickt man auf das Spektrum zeitgenössischer Reaktionen zurück, begegnet man thetischer oder theologischer Ablehnung (aus sehr unterschiedlichen Grün77 Ebd., 248. 78 Ebd. 79 Ebd., 249. 80 Ebd., 248. 81 Ebd., 249. 82 Zu Hermann Dörries, Germanische Religion und Sachsenbekehrung, Göttingen 1934/ 21935/ 3 1935, vgl. den Beitrag von Uta Heil in diesem Sammelband.
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den bei Gussmann und Vogelsang), weithin indifferentem Referat (bei Hermelink, Köhler und Schuster) und positionellem Anschluss (bei Hoffmann). Weitere Anzeigen oder Rezensionen dürften sich identifizieren lassen. Für Siebeck hatte Dörries eine Liste von 49 Periodika zusammengestellt, in denen das Werk besprochen werden könnte.83 Die Übersicht wird sich nicht anders deuten lassen, als dass Dörries auf die größtmögliche öffentliche Wahrnehmung seines Beitrages zielte.
4 Materialarbeit und inhaltliche Akzente Sehr unterschiedliche Aufnahme fand Dörries’ Quellenarbeit. Vogelsang legte einen tendenziösen Umgang mit einem Zitat offen, während Hoffmann die Reichhaltigkeit der Lutherbelege und die Transparenz der Nachweise würdigte.84 Überblickt man die beigebrachten Lutherreferenzen, erschließt sich sehr schnell, wie Dörries seine Materialarbeit gestaltete. Auffällig ist zunächst einmal, dass das Gros der Zitate und Referenzen den Tischreden entnommen ist und sich durch eine beeindruckende thematische Vielfalt auszeichnet. Nun ließe sich annehmen, dass Dörries für seine „Rede“ Luther selbst so direkt und lebendig wie möglich zu Wort kommen lassen wollte und deshalb auf die literarische Gattung der Tischreden rekurrierte. Fragwürdig bliebe dann aber, weshalb Dörries nur vergleichsweise wenige Zitate bot und viel häufiger paraphrasierte. Die Lösung dürfte einer schlichten Arbeitspragmatik geschuldet sein. Vergleicht man die von Dörries zusammengestellten
83 „Rezensionsliste Dörries: Luther und Deutschland“, Staatsbibliothek zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung Nachlass 488 (Verlagsarchiv Mohr/Siebeck), Sign. A 0470, 7, Bl. 214r: „Deutsche Literaturzeitung[,] Theologische Literaturzeitung[,] Theologisches Literaturblatt[,] Theologische Rundschau[,] Theologische Quartalschrift[,] Luther[,] Zeitschrift für Kirchengeschichte[,] Christliche Welt[,] Glaube und Volk[,] Historische Zeitschrift[,] Archiv für Reformationsgeschichte[,] Archiv für Kulturgeschichte[,] Historische Vierteljahresschrift[,] Deutsches Volkstum[,] Buch und Volk[,] Euphorion[,] Literarische Welt[,] Deutsche Zeitschrift[,] Zeitwende[,] Kirchlicher Anzeiger für Württemberg[,] Protestantenblatt[,] Die Volkskirche[,] Neues Sächsisches Kirchenblatt[,] Kirchenblatt für die reformierte Schweiz[,] Christentum und Wissenschaft[,] Deutsche Rundschau[,] Die Literatur[,] Vergangenheit und Gegenwart[,] Zeitschrift für den evangeli.[schen] Rel.[igions]Unterricht[,] Volk im Werden[,] Deutsche Vierteljahrsschrift[,] Theologie der Gegenwart[,] Zeitschrift für Deutschkunde[,] Magdeburgisches Kirchenblatt[,] Deutsche Allgemeine Zeitung[,] Frankfurter Zeitung[,] Kölnische Zeitung[,] Vossische Zeitung[,] Völkischer Beobachter[,] N. S.-Kurier[,] Schwäbischer Merkur[,] Süddeutsche Zeitung[,] Stuttgarter Neues Tageblatt[,] Tübinger Chronik[,] Basler Nachrichten[,] Der Bund[,] Neue Zürcher Zeitung“. 84 S. oben Anm. 67 und 71.
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Lutherreferenzen mit den Registereinträgen des 1921 indizierten sechsten Bandes der Tischreden-Abteilung der Weimarer Werkausgabe, erkennt man, dass sich die thematische Materialkompilation des Vortrags einem gezielten Rückgriff auf das „Wort- und Sachregister für die 6 Bände der Tischreden“ verdankt.85 Grundlegend für die gesamte Rede ist eine Auswahl aus den unter den Lemmata „Deutsche“ und „Deutschland“ aufgeführten Stellen.86 Vogelsangs Beobachtung, dass Dörries vor allem Luther „über Deutschland“ 87 reden ließ, ist zutreffend und erklärt sich aus diesem materialen Zugriff. Gleiches gilt übrigens für Köhlers Einschätzung, dass Dörries seine Fragestellung in das Themenfeld „Luther und die Welt“ moduliert habe.88 Denn eine weitere, lange Sequenz an Belegstellen fand Dörries, indem er den Begriff „Welt“ nachschlug.89 Wenn Gussmann hingegen kritisierte, Dörries habe nur „die Hälfte gesagt“,90 so liegt dies daran, dass dieser zwar noch ein weiteres Lemma befragte, das der „Kirche“, von dort aber nur sehr wenig übernahm.91 Als einen Forschungsbeitrag wird man Dörries’ hochgradig selektiven Zugriff auf die Tischreden-Indizierung nur schwerlich werten können. Um so erhellender ist die Themenkomposition des Vortrages, die Dörries nach den Stichworten „Deutsche“, „Deutschland“, „Welt“ und „Kirche“ vornahm. In heutigen Augen fragwürdig dürfte in dem Vortrag die Eröffnungssequenz von Lutherreferenzen sein, in der Dörries Luther paraphrasierend erklärt: „wir und die Spanier sind die mächtigsten und stärksten Nationen.“ 92 „Wenn wir einig wären, wäre Deutschland unüberwindlich.“ 93 Und: „Es fehlt uns nicht an Waffen, Schätzen, Speise und anderen Notwendigkeiten, es fehlt uns nur ein Führer.“ 94 Vergleicht man damit die betreffenden Überlieferungen in den Tischreden, kann man zum einen beobachten, wie aktualisierend Dörries alle historischen Einschränkungen der situativen Rede und zeitspezifischen Bezüge ausblendet. Zum anderen wird erkennbar, dass Dörries sich die Freiheit nahm, aus der Überliefe-
85 Für die Überschrift s. WA.TR, Bd. 6, 513. 86 Nur zusammenfassend hinzuweisen ist auf ebd., 548 f. Für Übereinstimmungen vgl. alleine die von Dörries, Luther (Anm. 3), beigebrachten ersten Belege beginnend mit Anm. 3, 3a, 4 f., 7– 10, 14 etc. 87 S. oben Anm. 67. 88 S. oben Anm. 71. 89 Abermals hier nur zusammenfassend vgl. WA.TR, Bd. 6, 697 f. mit Dörries, Luther (Anm. 3), Anm. 49–64. 90 S. oben Anm. 66. 91 Vgl. dazu WA.TR, Bd. 6, 596 f. mit Dörries, Luther (Anm. 3), Anm. 69–71. 92 Dörries, Luther (Anm. 3), 4 mit Anm. 5. 93 Ebd., 5 mit Anm. 10. 94 Ebd., 5 mit Anm. 12.
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rungsvielfalt auszuwählen. Auf den Satz „es fehlt uns nur ein Führer“ etwa kam er von dem Registereintrag „Deutschland“ und dessen Unterpunkt „Deutschland fehlets an einem guten Regenten“,95 der sich seinerseits einer Überschrift aus Aurifabers Sammlung und damit einem weithin tradierten Textbestand verdankt.96 Die Überschrift ihrerseits wurde aus dem Satz gebildet: „auch ist Deutschland mächtig gnug von Stärke und Leuten, es mangelt ihm aber an einem guten Häupt und Regenten.“ 97 Dörries hingegen redigiert und stellt zum Thema der Ressourcen um, was in einer lateinischen Variante getrennt voneinander begegnet. Philologisch hält er sich für berechtigt, Sic Germania satis est potens viribus et viris, sed deest illis dux in der oben angeführten Weise zu übersetzen, mit der Luther als deutscher Prophet gleichermaßen zum Herold Hitlers wurde.98 Gegenüber dieser Bereitschaft, eine Überlieferungs- und Bedeutungsvielfalt politisch aktualisierend zu reduzieren, ist zu fragen, in welchem Maße die Gesamtkomposition und der thetische Gehalt im Sinne einer politischen oder kirchenpolitischen Distanzierung gedeutet werden können. Aufgrund der interpretativen Offenheit ist nach Textstellen zu suchen, die in ihrem Wortlaut an konkrete kirchen- oder religionspolitische Fragestellungen anschließen. Markant ist die Schlussformulierung: „Ein Volk ist immer in Gefahr, ist um so gefährdeter, je höher die Ziele sind, die es sich steckt. Über Sein oder Nichtsein aber bestimmt nur die Entscheidung vor dem absoluten Ziel und dem einzigen schlechthin unbedingten Anspruch, dem Gotteswillen.“ 99 Fragen kann man sich, ob Dörries mit dieser Formulierung weniger auf Hamlet alludiert, als vielmehr auf das Selbstverständnis der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“. Zu den frühen und einflussreichsten Dokumenten in deren Ausbildung zählen die „Richtlinien der deutschen Christen“ bzw. die „Richtlinien der Liste ,Deutsche Christen‘“, die im Mai 1932 von Joachim Hossenfelder herausgegeben wurden,100 bevor ein größerer Personenkreis sie am 6. Juni 1932 öffentlich präsentierte.101 In ihnen liest man: In dem Schicksalskampf um die deutsche Freiheit und Zukunft hat die Kirche in ihrer Leitung sich als zu schwach erwiesen. Die Kirche hat bisher nicht zum entschiedenen Kampf gegen den gottfeindlichen Marxismus und das geistfremde Zentrum aufgerufen, sondern mit den
95 WA.TR, Bd. 6, 549. 96 Ebd., Bd. 5, 337, Z. 9. 97 Ebd., Z. 13 f. 98 Ebd., 338, Z. 43 und 337, Z. 2. 99 Dörries, Deutschland (Anm. 3), 19. 100 Joachim Hossenfelder (Hg.): Richtlinien der deutschen Christen, [o.O.] 1932; für die Alternativtitel s. ebd., 1. 101 Vgl. dazu unter Rekurs auf Friedrich Wieneke, Die Glaubensbewegung „Deutsche Christen“, Soldin 1932, 128; Klotz, Reich (Anm. 103), 16 mit Anm. 1.
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politischen Parteien dieser Mächte einen Kirchenvertrag geschlossen. Wir wollen, daß unsere Kirche in dem Entscheidungskampf um Sein oder Nichtsein unseres Volkes an der Spitze kämpft. Sie darf nicht abseits stehen oder gar von den Befreiungskämpfern abrücken.102
Dörries kannte den Text. Er wurde 1932 in dem vom Gothaer Verleger Leopold Klotz herausgegebenen Band Die Kirche und das dritte Reich abgedruckt,103 in dem sich Dörries selbst „An die Kritiker des Nationalsozialismus: ein Schutzwort statt einer Kritik“ richtete.104 Darin erhob Dörries den Anspruch, „vom Standpunkt lutherischer Staatsgesinnung aus Einwänden theologischer Kritiker zu entgegnen“.105 Die Grundthese lautet, dass „tüchtige Männer [...], die in der Unfreiheit und Not unseres Volkes das schwere Werk der Befreiung anzugreifen wagen, [...] sich als in Gottes Dienst stehend betrachten“ dürfen.106 Staatliches und politisches Engagement gilt Dörries als „Gehorsam gegen Gottes Ordnung“;107 die deutschen Gebietsverluste im Zuge der Versailler Vertrages betreffen „deutsche [...] Landesteile“ [...], die nicht als „Eigentum, sondern als göttliches Lehen zu verwalten“ seien.108 Die „Volkgemeinschaft“ dürfte Dörries als Schöpfungsordnung ansehen. Der Nationalsozialismus gilt ihm nicht als „religiöse“ 109 oder „christliche“, sondern als „politische Bewegung“.110 In ihm „[r]egen sich [je]doch [...] sehr verschiedene weltanschauliche und religiöse Gruppen [...], die mehr als eine neue Staatsform schaffen wollen.“ 111 An diesem Punkt setzt für Dörries die „Verpflichtung“ 112 an, für eine Trennung zwischen Kirche und Staat oder Religion und Politik einzutreten und den „geistigen Kampf mit den anderen Religionen und Weltanschauungen“ aufzunehmen.113 Als Theologe habe er für die jeweils „Unterlegenen“ einzutreten, „wo ihnen offenkundig Unrecht geschieht“.114 1932 sieht Dörries die Nationalsozialisten
102 KJ 1933–1944, 14 f. Richtlinien der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ (26. Mai 1932), in: Siegfried Hermle/Jörg Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, 47 f. [Nr. 11], hier: 47 [Nr. 5]. 103 Zehn Richtlinien der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“, in: Leopold Klotz, Die Kirche und das dritte Reich. Fragen und Forderungen Deutscher Theologen, Bd. 2, Gotha 1932, 16–18, hier: 17 [Nr. 5]. 104 Hermann Dörries, An die Kritik des Nationalsozialismus: ein Schutzwort statt einer Kritik, in: Klotz, Reich (Anm. 103), 38–46. 105 Ebd., 38. 106 Ebd. 107 Ebd., 41. 108 Ebd., 40. 109 Ebd., 43. 110 Ebd., 45. 111 Ebd. 112 Ebd. 113 Ebd., 46. 114 Ebd., 45.
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in dieser Lage. 1933 deutet sich mit der Festrede an, dass die „Deutschen Christen“ seiner Einschätzung nach die Grenzen zwischen Religion und Politik überschritten haben. Fragen kann man weiter, ob die in dem Luthervortrag begegnende Rede von dem „germanischen Pessimismus“ in „Luthers Weltbeurteilung“ 115 ein Einfallstor für völkische Christianisierungs- oder Reformationsdeutungen öffnet. Eindeutig ist, dass Dörries den Topos aufnimmt, zugleich aber relativiert. So erklärt er: „Luther ist es gewesen, der das Christentum in die Welt eingestiftet hat, nicht um sie zu beherrschen, sondern um ihr zu dienen, gerade weil seine Weltbeurteilung von dem germanischen Pessimismus an sich trägt. Luthers Ständelehre stammt aus dem pessimistischen Urteil über die Welt und dem Vertrauen auf Gottes Wirken in der Welt“.116 Welche Bedeutung kommt diesem Vorstellungskomplex im näheren zeitlichen Kontext zu? Ein Beispiel bietet der einflussreiche Publizist Graf Ernst zu Reventlow, der von 1920 bis 1943 den Reichswart herausgab und daneben monographisch hervortrat. 1928 veröffentlichte er Für Christen Nichtchristen Antichristen. Die Gottesfrage der Deutschen.117 Den Ausgangspunkt seiner religionsgeschichtlichen Betrachtungen nimmt Reventlow unter der Überschrift „Die Weltanschauung unserer vorchristlichen Vorfahren“. Er eröffnet mit einer seines Erachtens gebotenen Korrektur der etablierten kirchenhistorischen Sicht: Schreiber der Kirchengeschichte beider christlichen Bekenntnisse, besonders solche Theologen, welche die These von einer vollkommenen Verschmelzung des Deutschtums und des Christentums verfechten, sagen gern: der Deutsche bez[iehungs]w.[eise] der Germane sei durch die frohe Erlösungsbotschaft des Christentums vom verzweifelten Pessimismus seiner heidnischen Weltanschauung befreit worden. Hauptsächlich deshalb auch habe sich die Christianisierung der Deutschen so schnell vollzogen. Um diese letzte Behauptung vorweg zu nehmen, muß festgestellt werden, daß es recht lange gedauert hat, daß beinahe ein halbes Jahrtausend verfließen mußte, ehe man sagen konnte, die Deutschen seien auch nur äußerlich zu Christen geworden. Das genügt immerhin, um die Fabel zu widerlegen, daß das deutsche Gemüt und die deutsche Weltauffassung unter dem Druck eines düsteren Pessimismus gleichsam nur auf die christliche Erlöserlehre gewartet hätte, wie verdurstende Erde auf den Regen.118
Für einen nationalsozialistisch einflussreichen Autor wie Reventlow war der Pessimismus nicht ausreichend, um die weltanschauliche Weite des Germanen zu erfassen. Indem Dörries den Topos aufgreift und mit einem Überbietungsmoment ver-
115 Dörries, Deutschland (Anm. 3), 14. 116 Ebd. 117 Graf Ernst zu Reventlow, Für Christen Nichtchristen Antichristen. Die Gottesidee der Deutschen, Berlin [1928]. 118 Ebd., 6 f.
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bindet, hebt er sich von Deutungen wie denen Reventlows ab und kehrt zugleich zu der kirchengeschichtlichen Ausgangsthese zurück, die Reventlow ablehnt. Die Auseinandersetzung mit allfälligen Positionen der „Deutschen Christen“ erfolgt darin moderat, wobei man den an Luther illustrierten Widerspruch gegen das Anliegen, „die Einheit und den Frieden der Nation allem anderen überzuordnen“ 119 sowohl in politischer wie in kirchenpolitischer ausdeuten kann.
5 Das Thema in Dörries’ akademischer Lehre Gibt es weitere Quellen, die zu erhellen vermögen, wie Dörries in zeitlicher Nähe über die mit seinem Luthervortrag berührten Zusammenhänge urteilte? Aus dem Sommersemester 1934 hat sich eine Vorlesungsmit- oder -nachschrift erhalten. Sie wurde von dem 1911 geborenen Theologiestudenten und späteren Stader Superintendenten Walter Glawatz120 angefertigt und gilt Dörries’ Epochenvorlesung „K[irchen]G[eschichte] III“.121 Die Notate sind bereits darin aufschlussreich, dass sie Literaturangaben zu einzelnen Themenkomplexen bieten. Diese bewegen sich teils in dem zeitspezifisch und für Dörries persönlich zu erwartenden Rahmen. So wird wiederholt auf Scheels Luther-Biographie verwiesen;122 vor allem aber empfiehlt Dörries immer wieder die kirchengeschichtliche Gesamtdarstellung seines Lehrer Karl Müller.123 Weiter begegnen klassische, bisweilen auch überraschend alte Titel. Im Zusammenhang von „§ 4. Renaissance u.[nd] Humanismus“ ist zu erfahren, es gebe „viel Literatur“ und namentlich „Burckhard“.124 Zum „§ 7. Ablaßstreit“ nacheinander „W.[alther] Köhler: Docum.[ente] z.[um] Ablaßsstr.[,] A.[ugust] Dieckhoff: Der Ablaßstr.[eit] 1886 [und] N.[ikolaus] Paulus: Joh.[ann] Tetzel 1899“ zu lesen, ist zumindest mit Blick auf die dogmengeschichtliche Darstellung des Göttinger August Wilhelm Dieckhoffs ungewöhnlich. Im „§ 8 Luthers
119 S. oben Anm. 32. 120 Zu ihm s. seine Personalakte (Sign. B 7 Nr. 3712) im Landeskirchlichen Archiv Hannover. S. dazu https://www.arcinsys.niedersachsen.de/arcinsys/detailAction?detailid=b12341 (Zugriffsdatum: 31. März 2022). 121 S. dazu Universitätsarchiv Göttingen (Sign. Cod. Ms. 2005. 13/8), laut Beschriftung des Vorsatzes: „SS 34 KG III (Dörries)“. Ein Findbuch zu dem Göttinger Teil des Nachlasses gibt es nicht. Die Beschreibung der betreffenden Archiveinheit ist unter https://kalliope-verbund.info/DE-611HS-3209990 (Zugriffsdatum: 31. März 2022) verfügbar. 122 Sign. Cod. Ms. 2005. 13/8 (Anm. 121)., Bl. 3v: „§ 2. ‚Die Brüder des gemeinsamen Lebens.‘ (Devotio moderna) Lit.: […] Scheel: Luther Biographie.“ 123 Ebd., Bl. 8r: „§ 5. Die politisch-soziale Lage zu Beginn des 16. Jahr[hunder]ts. L.[iteratur] Müller: Lehrb. der KG Bd. III“. 124 Ebd., Bl. 7r.
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Jugend u.[nd] Werden (bis 1517)“ empfiehlt Dörries die beiden Lutherausgaben, mit denen er auch für seinen Vortrag gearbeitet hatte, die „Weimarer Ausgabe [und die] Erlanger“, und benennt sodann: „J.[ulius] Köstlin: M. Luther 19035. II Bde[,] [Otto] Scheel: Biographie bis 1513[,] Theodosius Harnack[...,] [Karl] Holl: Aufsätze Bd. I[,] H.[einrich] Boehmer: Luth.[er] im Licht der neueren Forsch[un]g. 19174. [Heinrich Boehmer ...]: Der junge Luther [und Leopold] Ranke: D[eu]tsche Gesch.[ichte] im Zeitalter der Ref.[ormation]“.125 Der Einfluss Holls und dessen Profilierung des jungen Luther ist auch inhaltlich zu greifen, wenn Dörries formuliert: „Luther geht in seinen [95] Thesen vom Zentralen aus, von da aus beurteilt er die Kirchlichen Zustände. Das Zentrale ist ihm seit mehreren Jahren aufgegangen.“ 126 Inhaltlich ist Dörries den Aufzeichnungen nach bemüht, den reaktiven, moderaten und konservativen Charakter der Reformation zu betonten. Mehrfach wiederholt er, die Reformation sei keine „Revolution“ gewesen.127 Auch betont Dörries in seinem Lehrvortrag Luthers akademischen Status, indem er zum Thesenstreit einleitend erklärt: „Die Universitäten bedeuten viel. Luther hat die wichtigste Professur. Es ging um eine Sache, die schon oft Anstoß erregte u.[nd] Mut erforderte.“ 128 Zugleich wird Luther als Vermittler profiliert: „Im ganzen schonend u.[nd] das Gute aus dem Ablaß suchend. Respekt vor dem Papst. Er will den Papst vor dem Mißbrauch der Organisatoren schützen.“ 129 In einer Diktion, die an die Frage der Kriegsschuld erinnert, halten die Aufzeichnungen von Dörries’ Hörer fest: „Luther hat damit nicht Kirche sprengen wollen. Es sollte akademisch bleiben im Rahmen der Kirche. Erst [...] der Thesenstreit bringt ihn zum Kirchenkampf, man hat ihn ihm aufgezwungen.“ 130 Nationalstereotypisch akzentuierte Charakterattribute sind für Luthers Engagement bezeichnend. Ausführungen von Dörries werden zusammengefasst: „Es
125 Ebd., Bl. 11v. 126 Ebd. Später s. auch. Bl. 14r „Die Entscheidungsstunde (Turmerlebnis) Datierung ungewiß. Predestination. Er entdeckt die neue Gotteserkenntnis (Justitia dei Röm 1,17) […] Aber er erkennt die eigentliche ,Justitia‘, Gott gibt sie, er liebt gerecht zu machen. Nicht Leistung wird belohnt, es gibt keine […] um die Sünde. Der Glaube ist die einzige mögliche Haltung Gott gegenüber. […] Das ist etwas vollkommen Neues.“ Ebd., Bl. 16r: „In der 2. These kommt Luthers Glaubensbegriff durch. Im übrigen fordert man einfach Widerruf. Disputation wird nicht zugelassen.“ Am Rand notiert Glawatz: „Luthers neuer Glaubensbegriff kommt durch. Man fordert Widerruf.“ 127 Ebd., Bl. 10v, zu den 95 Thesen: „Die Thesen sind kein Manifest. Die Thesen, im allg.[emeinen] scholastische Schulmeinung, nicht revolutionär“; zum „Sermon von Ablaß und Gnade“, Bl. 11r: „Auch hier will Luther nur verdeutlichen, ohne Revolution.“ 128 Ebd., Bl. 10v. 129 Ebd., Bl. 11r. 130 Ebd., Bl. 14v.
„Luther und Deutschland“ – Hermann Do ¨rries’ Lutherrede 1933
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lässt sich nicht leugnen, daß Luth.[er] ohne deutsche Mystik nicht dazugekommen wäre. Deutsche Voraussetzungen (Wahrheit[,] Mühe) sind natürlich wichtig.“ 131 Spannend ist in der unmittelbaren Folge ein Notat, das auf die Ausführungen zur deutschen Mystik folgt: „Aber er [Luther] ist anerkannte Autorität, kommt dann allerdings zum Disaster. Alles Diesseitige fällt zur Verzweiflung. Arisches Verständnis: (Reventlows) Der Mensch vor Gott verantwortlich. Aber das verwirft Luther. Die Aufrichtung der alleinigen Autorität Gottes. Es ist keine arische Religiosität gegeben bei Luther, eher bei Katholizismus.“ 132 Am Rand seiner Aufzeichnungen fasst der Hörer dies mit dem Satz zusammen: „Keine arische Religiosität bei Luther“.133 Als der einschlägigste Bezug bei Reventlow erweist sich das bereits oben angeführte Buch Für Christen Nichtchristen Antichristen. Die Gottesfrage der Deutschen von 1928. In dem Kapitel „Deutsche Mystik. Insbesondere Meister Eckart“ wird das „Formlose, das symbolisch Umkleidete, das allegorisch Umrissene“ als bezeichnend für die „alte arisch-germanische Gottanschauung, ,Weltauffassung‘ und ,Weltanschauung‘“ herausgestellt.134 Dem entsprach für Reventlow der Ansatz der Mystik:135 „Das, was wir Deutschen ursprünglich unter Religion verstehen und fühlen, ist eben Mystik.“ 136 Luther wird von Reventlow in diese Linie eingezeichnet.137 Bei Dörries geschieht dies auch, nicht aber als erschöpfende Erklärung des religiösen Propriums und ohne eine vollständige Deckungsgleichheit mit der arischen Religion. In ihrer Konfessionstypologie arbeiten beide, Reventlow und Dörries, mit Abgrenzungen vom Katholizismus. Während Reventlow138 diesen mit einschränkten Formen einer ursprünglich freien Religiosität gleichsetzt, identifiziert Dörries ihn mit einer Gesetzlichkeit, nach der die „arische Religiosität [...] eher beim Katholizismus“ zu suchen sei.139 Der „Reichstag zu Worms“ begegnet in den Vorlesungsaufzeichnungen mit vergleichbaren Konturen.140 17. April. Ist Luther vorm Reichstag, nachmittags 4 Uhr. Am 18. ist die entscheidende Verhandlung. Rede vor dem Reichstag. Das ist der Augenblick, wo die neue Beweg[un]g. mit den Offiziellen zusammentrifft. [...] Luther teilt seine Schrift in 3 Teile. 1) Harmlose Evangelienschriften 2) gegen Papst u.[nd] Papsttum. 3) Gegen Private als Verteidigung. Hierin er
131 132 133 134 135 136 137 138 139 140
Ebd. Ebd. Ebd. Reventlow, Gottesidee (Anm. 117), 68–84, hier: 72. Ebd. Ebd., 84. Ebd., 64, 78, 85. Ebd., 77. S. oben Anm. 132. Sign. Cod. Ms. 2005. 13/8 (Anm. 121), Bl. 20v.
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oft etwas scharf gewesen. Aber auch hier könne er nichts zurücknehmen. Kampf um das Evangelium bedeute Spaltung und Parteiung, daß sei die Art des Evangeliums. Unter Absehen vom Evangelium das Reich zu stützen, ist gleich Vernichtung des Reiches. Luthers Schlußwort ist nicht freies Gewissen, sondern Gottgebundenes.141
Abschließend notiert der Hörer: „Luther hat später vom Versagen Deutschlands gegen den Ruf [des] Evangeliums geredet. Deutschland werde nach seinem Tode im Krieg untergehen.“ 142 Argumentativ korrespondiert dies der Lutherrede, wobei sich der Deutungshorizont einer politisch oder kirchenpolitisch aktualisierenden Lesart aus den Aufzeichnungen allein nicht nahelegen dürfte.
Schluss Um diesen Beitrag selbst abzuschließen, mögen fünf kurze Thesen einzelne Aspekte hervorheben. 1. Als Forschungsbeitrag ist Dörries’ Lutherrede von eingeschränktem Wert. 2. Argumentativ werden Lutherdeutungen aktualisiert, die sich mehr an Treitschke als an Holl orientieren. 3. Thetisch bearbeitet und variiert Dörries religionstypologische Subtexte populärer nationalsozialistischer Autoren. 4. Die politische Ethik unterscheidet zwischen einander ergänzenden göttlichen Schöpfungsordnungen, womit sich Dörries in einem konservativen Spektrum des Luthertums bewegt. 5. Als politische Positionierung bleibt der Beitrag in einem hohen Maße ambivalent und fand vielleicht gerade darin seine eigentliche Bedeutung im zeitgenössischen Kontext.
141 Ebd., Bl. 20v, 21r. 142 Ebd., Bl. 21v.
Hansjörg Buss
Zwischen den Reichen: Hermann Dörries in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur 1 Die Kirchen und das Dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen 1932 veröffentlichte Leopold Klotz die zweibändige Sammlung Die Kirche und das dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen. Der protestantische Verleger hatte Religiöse Sozialisten, Kulturprotestanten und liberale Demokraten, nationalkonservative Lutheraner, christlich orientierte Völkische, Deutschkirchler sowie führende Mitglieder der noch jungen nationalsozialistischen Glaubensbewegung Deutsche Christen befragt, „ob und wie weit die große Freiheitsbewegung, die durch unser Volk geht, vor dem evangelischen Glauben bestehen“ könne.1 Auch zwei Göttinger Theologen gaben Antwort: der renommierte Alttestamentler Johannes Hempel und der Kirchenhistoriker Hermann Dörries. Als einer der wenigen stellte Dörries seinen Beitrag unter eine Überschrift: An die Kritiker des Nationalsozialismus: ein Schutzwort statt einer Kritik.2 Sein Beitrag, im Sommer 1932 verfasst, legt nahe, dass er bereits nationalsozialistische Parteiveranstaltungen besucht hatte. Dörries begrüßte den gegenwärtigen Kampf gegen die „Unfreiheit und Not unseres Volkes“ und rief seine Kirche auf, sich an diesem Kampf zu beteiligen. Es sei „ein schöner und wohlgefälliger Dienst“ und derjenige, der in Zuversicht kämpfe und erliege, solle vor Gott und den Menschen in höchsten Ehren gehalten werden (38). Das „Blut der Märtyrer“ tilge auch durchaus vorhandene Schuld und Makel (39). Es sei, so Dörries weiter, noch nicht ausgemacht, ob der Nationalsozialismus den „göttlichen Auftrag zur befreienden Tat“ habe und er sich letztendlich politisch durchsetze (45). Wie viele andere aber glaube er daran. Die Kirche solle für die Nationalsozialisten eintreten, denen offenkundig Unrecht geschehe: „Wie lange sind die Nationalsozialisten mit bru-
1 Leopold Klotz (Hg.), Die Kirche und das dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen, 2 Bd., Gotha 1932, hier Bd. 1, Vorwort des Herausgebers. Vgl. Hansjörg Buss, Wissenschaft – Ausbildung – Politik. Die Göttinger Theologische Fakultät in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, Göttingen 2021, 85–89. 2 Hermann Dörries, An die Kritiker des Nationalsozialismus: Ein Schutzwort statt einer Kritik, in Klotz, Reich (Anm. 1), Bd. 2, 38–46. Vgl. Leonore Siegele-Wenschkewitz, Nationalsozialismus und Kirche. Religionspolitik von Partei und Staat bis 1935, Düsseldorf 1974, 27–35, hier 29. https://doi.org/10.1515/9783110690095-004
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taler Gewalt niedergehalten, verfolgt, geschmäht, verspottet, von Meuchelmord bedroht!“ (45). In einer christlichen Bindung des Nationalsozialismus sah Dörries keine Notwendigkeit. Der aus seiner Sicht klug gewählte Begriff des ‚Positiven Christentums‘ im NSDAP-Parteiprogramm reiche vielmehr aus, um das Gewissen zu achten und der christlichen Verkündigung keine Hindernisse in den Weg zu legen. Mehr könne die Kirche nicht verlangen. An der Stelle des „politischen Hakenkreuzzeichens das Kreuz aufpflanzen zu wollen“ war für Dörries eine „schauerliche Vermischung“ der beiden Reiche und „so sicher der göttlichen Strafe ausgesetzt“, wie es bisher jedem Versuch in der Geschichte ergangen sei, der ein Gottesreich auf Erden aufzurichten versuchte (42). Konkret erkannte er im bewegten und politisch instabilen Inkubations- und Krisenjahr 1932 vielerlei Zeichen eines „religiösen Suchens und Verlangens“. Die Kirche dürfe ihre Türen nicht zuschlagen, sondern habe die „Pflicht zum geistigen Kampf mit den anderen Religionen und Weltanschauungen, die nach der Seele des deutschen Volkes greifen und gerade das noch Ungeformte und nach Gestalt Drängende der Jugend zu gewinnen suchen“ (46).
2 Stationen und politische Verortungen bis 1933 Dörries, Jahrgang 1895, war Sohn des Theologen und Pfarrers Bernhard Dörries und wuchs in Hannover auf. 1914 meldete er sich kriegsfreiwillig.3 Schwer verwundet und dauerhaft kriegsbeschäftigt schied er 1917 aus der Armee und setzte sein Studium der Theologie fort. 1922 promovierte Dörries bei Adolf Jülicher in Marburg, ein Jahr später habilitierte er bei Karl Müller in Tübingen. Nach ersten akademischen Stationen in Tübingen und Halle folgte er 1929 einem Ruf auf den kirchengeschichtlichen Lehrstuhl Carl Mirbts aus Göttingen. Politisch exponierte sich der aufstrebende Wissenschaftler nicht. Im März 1914, im Alter von 18 Jahren, war Dörries allerdings dem antisemitischen Reichshammerbund um den einflussreichen völkischen Publizisten und Verleger Theodor Fritsch beigetreten, dessen führende Vertreter nach der Auflösung 1919 den personellen Kern des
3 Zur Biografie vgl. Torsten-Wilhelm Wiegmann, Hermann Dörries, ein Göttinger Lehrer und Forscher in der Zeit des Nationalsozialismus, Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 91 (1993), 121–149; Peter Gemeinhardt, „Bekennende Kirche“ in Geschichte und Gegenwart. Hermann Dörriesʼ Erleben und Deuten des „Kirchenkampfes“, Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 113 (2015), 343–360; Aneke Dornbusch, Hermann Dörries (1895–1977). Ein Kirchenhistoriker im Wandel der politischen Systeme Deutschlands, Tübingen 2022.
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Deutsch-Völkischen Trutz- und Schutzbundes stellten.4 1930 schloss sich der Weltkriegsteilnehmer und mittlerweile verbeamtete Göttinger Professor dem deutschnationalen Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten an.5 Anfang 1932 trat Dörries in einer gemeinschaftlich mit seinem Fachkollegen Emanuel Hirsch verfassten Stellungnahme zu dem aufsehenerregenden Fall des Praktischen Theologen Günther Dehn an die Öffentlichkeit. Eine gezielte politische Kampagne nationalkonservativer und extrem rechter Kräfte hatte 1931 zur Rücknahme eines einstimmig erfolgten Rufes nach Heidelberg geführt.6 Als der religiöse Sozialist daraufhin mit tatkräftiger Unterstützung des sozialdemokratischen preußischen Kultusministers Adolf Grimme nach Halle berufen wurde, war er dort massiven Anfeindungen der nationalsozialistischen Studentenschaft sowie einem Vorlesungsboykott ausgesetzt. Wie die vornehmlich von völkischrechtsradikalen Studenten inszenierten politischen Auseinandersetzungen um die Theologen Otto Piper (Göttingen, 1923), Otto Baumgarten (Kiel, 1930), Erich Fascher (Jena, 1931) – Fascher war in den Jahren 1922 bis 1926 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Neutestamentlichen Seminar und hatte in Göttingen promoviert (1924) und habilitiert (1926) – sowie um den Philosophen Theodor Lessing (Hannover, 1926) und den Mathemathiker Emil Julius Gumbel (Heidelberg, 1930/32) war der Hallenser Universitätskonflikt nicht zuletzt ein Gradmesser für das politische Klima an den deutschen Hochschulen. Der ‚Fall Dehn‘ markierte das „gesellschaftliche und auch kirchlich-theologische Scheitern der Demokratie im akademischen Deutschland“.7 4 Aufnahmeantrag (Nr. 539) vom 4. Februar 1914, bestätigt von Bundeswart Alfred Roth am 11. März 1914. Bundesarchiv (Standort Koblenz), N 1271 (Nachlass Dörries), Nr. 35. Vgl. Uwe Lohalm, Reichshammerbund, in: Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus, Bd. 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen, Berlin 2012, 517–520. 5 Eigenangabe Hermann Dörries, Bundesarchiv (Standort Berlin), Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (R 4901) Professorenkartei. Vgl. Volker R. Berghahn, Der Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten 1918–1935, Düsseldorf 1966. 6 Anlass war der Vortrag Kirche und Völkerversöhnung vom 6. November 1928 in der Magdeburger Ulrichskirche. Zum 10. Jahrestag des Kriegsendes hatte sich Dehn u. a. gegen die Aufstellung von Gefallenendenkmälern in kirchlichen Räumlichkeiten ausgesprochen. Vgl. Günther Dehn, Kirche und Völkerverständigung. Dokumente zum Halleschen Universitätskonflikt, Berlin 1931; Kurt Meier, Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, Berlin/New York 1996, 12–16. 7 Friedemann Stengel, Die Universität und ihr Name – Martin Luther. Kontexte der Verleihung 1933, Kirchliche Zeitgeschichte 26 (2013), 289–318, hier 294. Den inkriminierten Wissenschaftlern wurde eine pazifistische und demokratische Haltung bzw. Gegnerschaft zur nationalen und extremen Rechten vorgeworfen, bei den Protesten gegen Lessing und Gumbel spielten auch antisemitische Vorbehalte eine Rolle. Im Falle Faschers entzündeten sich die Proteste an seiner kritischablehnenden Haltung von Alfred Rosenbergs ‚Mythus‘ in einem Kolleg. Vgl. Meier, Fakultäten (wie Anm. 6), 16–26; Hansjörg Buss, „Der Göttinger Zwischenfall hat sich nun wohl glücklich erledigt. Aber die große Schwüle nicht, die über uns brütet. Was für ein Gewitter wird sie noch ausbrüten?“
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Innerhalb der deutschen Theologenschaft fand Dehn breite Unterstützung, wobei nur wenige, unter ihnen die beiden früheren Göttinger Dozenten Karl Barth und Otto Piper, sich auch sachlich und persönlich mit Dehn solidarisch erklärten. Die meisten Professoren hoben vor allem auf die akademische Lehrund Wissenschaftsfreiheit ab.8 Dörries und Hirsch teilten derartige Einschätzungen nicht. Für einen „Lehrer der deutschen Jugend“ gelte, so der zentrale Satz ihrer Erklärung, „die Erkenntnis, daß die Nation und ihre Freiheit bei aller Fragwürdigkeit des kreatürlichen Lebens auch für den Christen von Gott geheiligte Güter sind, die eine ganze Hingabe des Herzens und des Lebens fordern und aus dieser Erkenntnis folgend dann das Bekenntnis zu dem leidenschaftlichen Freiheitswillen unseres Volkes, das von macht- und habgierigen Feinden geknechtet und geschändet wird.“ 9 Dehn erfüllte diese Anforderung in ihrem Urteil nicht. Die Einlassungen der beiden Göttinger Kirchengeschichtler zeigten, so der Herausgeber des Kirchlichen Jahrbuchs Hermann Sasse, Wirkung und trugen zur Stärkung der revoltierenden nationalsozialistischen Studentenschaft erheblich bei. Verschärfend wirkte auch Dörries’ an anderer Stelle vorgetragene Einlassung, nicht als Theologe, sondern als ehemaliger Frontsoldat und aus nationalem und kirchlichem Verantwortungsgefühl gesprochen zu haben. Als „das schlechthin Unerträgliche im Vorgehen Dehns und seiner Richtung“ erkannte er, dass dieser „der ihres Rechts bewussten, aber auch unsicheren jungen „Freiheitsbewegung“ ihr
Der ‚Fall Piper‘ und die Göttinger Theologische Fakultät (1923), in: Marco Hofheinz/Henrik Niether (Hg.), Otto Piper. Eine theologisch-politische Biographie zwischen den Welten [im Druck]; Martin Göllnitz, Völkische Opposition und politische Gewalt an den Hochschulen 1930/31. Die Angriffe auf Otto Baumgarten und Walther Schücking, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 67/1 (2019) 27–42; Rainer Marwedel, Theodor Lessing (1872–1933). Eine Biographie, Darmstadt/Neuwied 1987, 253–305; Heinrich Hannover, Erinnerung an einen vergessenen Friedens- und Freiheitskämpfer, in: Dietrich Heither/Adelheid Schulze, Die Morde von Mechterstädt 1920. Zur Geschichte rechtsradikaler Gewalt in Deutschland, Berlin 2015, 9–12; Wolfgang Benz, Gumbel, Emil Julius, in: ders. (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2.1: Personen A–K, Berlin 2009, 320 f. 8 „Zum Fall Dehn“, Theologische Blätter (November 1931), 332 f. Abgedruckt in: Dehn, Kirche (wie Anm. 6), 76–78. 9 Erklärung Hirsch/Dörries vom 27. 1. 1932, erschienen am 31. 1. 1932 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung und weiteren Zeitungen (u. a. Deutsches Volkstum, Preußische Kirchenzeitung, Glaube und Volk). Abgedruckt in Hermann Sasse, Der Hallesche Universitätskonflikt (der Fall Dehn), Kirchliches Jahrbuch für die evangelischen Landeskirchen Deutschlands auf das Jahr 1932, 77–100, hier 98 f. Vgl. Wiegmann, Dörries (wie Anm. 3), 132–136. Zu Hirschs politischer wie theologischer Radikalisierung während der Weimarer Republik vgl. Buss, Wissenschaft (wie Anm. 1), 73–84; Robert P. Ericksen, Theologen unter Hitler. Das Bündnis evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München/Wien 1986, 167–204; Heinrich Assel, Emanuel Hirsch. Völkisch-politischer Theologe der Luther-Renaissance, in: Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im ‚Dritten Reich‘, Göttingen 2016, 43–68.
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gutes Gewissen rauben wolle.10 Unausgesprochen bezog sich Dörries hier auf SA und den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund, der auch in Göttingen seit den Kammerwahlen im Mai 1931 die absolute Mehrheit stellte.11
3 Mitgliedschaft in NSDAP und bei den Deutschen Christen In der Spätphase der Weimarer Republik optierten mindestens fünf der zehn ordentlichen Göttinger Ordinarien für die NSDAP oder standen dem Nationalsozialismus zumindest offen gegenüber.12 Dörries zählte zu ihnen. Er teilte die in rechtskonservativen, völkischen und extrem rechten Kreisen und Parteien verbreitete und vehement vorgetragene Kritik an der vermeintlich auf Völkerverständigung und nationale Selbstaufgabe ausgerichteten Regierungspolitik: Die nach den Territorialbestimmungen des Versailler Vertrages abgetrennten deutschen Landesteile galten ihm nicht als verhandelbare Güter, sondern als „göttliche Lehen“, die man nicht einer internationalen Verständigung opfern dürfe.13 Nach durchaus glaubhaften Eigenangaben in seinem Entnazifizierungsverfahren wählte Dörries bei den Novemberwahlen 1932 und auch bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 die Deutschnationale Volkspartei, noch im März aber, also vor dem Inkrafttreten der Aufnahmesperre für Neumitglieder zum 1. Mai 1933, trat er der NSDAP bei.14 10 Hermann Dörries, Kirche und Völkerversöhnung, Die Wartburg. Deutsch-evangelische Wochenschrift 2 (1932), 47–56, hier 55. Dehn schrieb in seinen Lebenserinnerungen: „Im Ganzen ist mir der Aufsatz von Dörries sympathischer als der von [dem in Halle lehrenden Praktischen Theologen Karl] Eger, weil er mit völlig offenem Visier kämpft, gewiß als mein grimmiger Feind, bisweilen grob, aber mir Ernst, Verantwortungsgefühl und Überzeugungstreue zubilligend. Er verwundet nicht aus dem Hinterhalt, wie das Eger getan hat, sondern schlägt geradezu auf mich ein.“ Günther Dehn, Die alte Zeit, die vorigen Jahre. Lebenserinnerungen, München 1962, 282. Hirsch erwähnte Dehn mit keinem Wort. 11 Zum Göttinger NSDStB vgl. Buss, Wissenschaft (wie Anm. 1), 125–130. Vgl. Dörries’ Korrespondenz zum ‚Fall Dehn‘ in Bundesarchiv (Standort Koblenz), N 1271, Nr. 33. 12 Buss, Wissenschaft (wie Anm. 1), 89 f. Insbesondere die Studentenschaft orientierte sich in den frühen 1930er Jahren weniger an dem NSDAP-Parteiprogramm als vielmehr an dem umfassenden Weltanschauungsangebot einer ‚Lebensmacht‘ mit neuen, zeitgemäßen Heilsversprechen. Dem entsprach der auch von Dörries verschiedentlich verwendete Begriff der ‚deutschen Freiheitsbewegung‘. 13 Dörries, Kirche (wie Anm. 2), 40 f. 14 Anlage zum Fragebogen (Entnazifizierung), ausgefüllt am 16. August 1947. Niedersächsisches Landesarchiv (Abteilung Hannover), Nds. 171 Hildesheim, Nr. 9200 (Entnazifizierung Hermann Dörries).
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Für ein kurzes Zeitfenster gehörte Dörries auch der Glaubensbewegung Deutsche Christen an, mutmaßlich von Anfang Mai bis Ende Juni/Anfang Juli 1933.15 Im Juni 1932 als nationalsozialistische Kirchenpartei gegründet, versammelte die Glaubensbewegung sehr unterschiedliche, in ihren programmatischen Vorstellungen teils gegenläufige Strömungen unter ihrem organisatorischen Dach, ohne die sich daraus ergebenden Gegensätze auflösen zu können. Trotz der großen kirchenpolitischen Erfolge blieb ihre inhaltliche Ausrichtung umstritten und umkämpft, bis sie zum Jahresende 1933 an ihren internen Gegensätzen zerbrach.16 Dörries lässt sich dem konservativ-kirchlichen, national-lutherischen Flügel um die im September 1933 selbstaufgelöste Christlich-deutsche Bewegung zuordnen.17 Bezüglich der in der Forschung bisher unbeachtet gebliebenen Mitgliedschaft Dörries’ sind zwei Punkte bemerkenswert. Erstens brach er ungewöhnlich früh mit den Deutschen Christen. Die meisten Theologieprofessoren und Pfarrer vollzogen diesen Schritt erst in Folge des sogenannten Sportpalastskandals im Spätherbst 1933. Anlass war, so die Aussagen eines Dritten, die Ernennung des rigiden Juristen August Jägers zum Staatskommissar für die preußischen Landeskirchen.18 Zweitens wurde Dörries’ Entscheidung in der volatilen und von großer Unsicher-
15 Eine Mitgliedskarte ist nicht überliefert, die genauen Daten sind nicht bekannt. Die Mitgliedschaft ergibt sich aus den unten angeführten Schreiben von Hans Kropatschek und Edo Osterloh. Ein undatiertes [Ende 1946], streng vertrauliches Votum der Heidelberger Theologischen Fakultät bestätigt den Sachverhalt. Bundesarchiv (Standort Koblenz), N 1271, Nr. 27. Gegenüber seinem Freund Hans von Campenhausen bestritt Dörries am 19. Dezember 1946 eine formale Mitgliedschaft in der Glaubensbewegung (für diesen Hinweis danke ich Aneke Dornbusch, vgl. Dornbusch: Dörries [wie Anm. 3]). Als der früheste Eintrittstermin ist m. E. die Konstituierung der Göttinger Ortsgruppe der Deutschen Christen am 3. Mai 1933 anzunehmen. 16 Vgl. Claus P. Wagener, „Gott sprach: Es werde Volk, und es ward Volk!“ Zum theologischen und geistesgeschichtlichen Kontext der Deutschen Christen und ihren unterschiedlichen Strömungen, in: Peter von der Osten-Sacken (Hg.), Das mißbrauchte Evangelium. Studien zu Theologie und Praxis der Thüringer Deutschen Christen, Berlin 2002, 35–69, hier 46–53. 17 Vor allem die stark kirchenreformerisch angelegten ‚verbindlichen‘ Richtlinien von Dörries’ früherem Tübinger Kollegen Karl Fezer vom 16. Mai 1933, die einen im Einklang mit den Bekenntnisgrundlagen der Kirche stehenden ‚gemäßigten‘ Gegenentwurf zu den von Joachim Hossenfelder verfassten ‚radikalen‘ Gründungsrichtlinien der DC vom 6. Juni 1932 sein sollten, ermöglichten einer Reihe von Theologieprofessoren eine Mitgliedschaft. Vgl. Kurt Meier, Der evangelische Kirchenkampf, Bd. 1: Der Kampf um die ‚Reichskirche‘, Halle/Saale 1976, 77–122. Dörries gehörte der CdB nicht an, stand ihr aber „ideologisch sehr nahe“. Christoph Weiling, Die Christlichdeutsche Bewegung. Eine Studie zum konservativen Protestantismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1998, 209. 18 Ausweislich eines Schreibens von Hans Kropatschek hatte Dörries die DC „bei der Einsetzung der Staatskommissare“ verlassen, was den Zeitraum Ende Juni bzw. Anfang Juli nahelegt. Hans Kropatschek an Friedrich Gogarten am 4. 9. 1933. Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Gogarten: 407.
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heit gekennzeichneten kirchlichen Übergangsphase in der zweiten Jahreshälfte 1933 an der Göttinger Theologischen Fakultät durchaus wahrgenommen. So zeigte sich der Göttinger Führer des Studentenkampfbundes Deutsche Christen Edo Osterloh beeindruckt von der „ernste[n] Frage“, die Dörries mit seinem Austritt aus der Glaubensbewegung an ihn gerichtet habe.19 Auch Osterloh löste nach intensiven Gesprächen mit Dörries und Hans von Campenhausen seine Mitgliedschaft und schloss sich später der Bekennenden Kirche an.20 Dörries’ in den Quellen kaum fassbare und nur wenige Wochen währende DC-Mitgliedschaft ist eine unerzählte Episode. Ihr sollte einerseits nicht zu viel Bedeutung zugemessen werden, andererseits trug sie zu seiner kirchlich-theologischer Neubestimmung des Jahres 1933 wohl entscheidend bei. Dörries wurde zum schärfsten Kritiker des deutschchristlichen Wollens innerhalb der Göttinger Fakultät.
4 Luther und Deutschland (17. November 1933) Dörries selbst führte sein ‚Umdenken‘ auf seine intensive Auseinandersetzung mit Luther zurück, der ihm in der „Krise des Jahres 1933“ einen sicheren Standort geboten habe.21 Am 19. November 1933 feierte das evangelische Deutschland unter der prägnanten Überschrift Deutscher Luthertag 1933 den 450. Geburtstag Martin Luthers. Die aufwändig inszenierten Feierwochen in den vier Lutherstädten Eisleben, Wittenberg, Eisenach und Coburg und der Reichsluthertag waren symbolische Austragungsorte der schwelenden innerkirchlichen Konflikte, die wenige Tage zuvor
19 Osterloh an Dörries am 16. 10. 1933. Bundesarchiv (Standort Koblenz), N 1271, Nr. 22. 20 Hans Freiherr von Campenhausen, Die ‚Murren‘ des Hans Freiherr von Campenhausen. „Erinnerungen dicht wie Schneegestöber“, hg. von Ruth Slenczka, Norderstedt 2005, 146. An Rudolf Bultmann schrieb Osterloh am 12. Dezember 1933: „Ich habe mich in einem Irrtum befunden, innerhalb der Organisation der ‚Glaubensbewegung‘ für die ‚Freiheit eines Christenmenschen‘ kämpfen zu können. Von dieser Illusion bin ich restlos und endgültig durch die faktischen Erfahrungen und durch mein Lutherstudium befreit worden. Mein Examen hat mir geholfen, zunächst einmal äußerlich den Bruch mit Göttingen zu vollziehen […]. Ich will mich durch den Hinweis auf die ‚theologische‘ und ‚menschliche‘ ‚Luft‘ Göttingens nicht vor der Anerkennung meiner persönlichen Schuld und Unzulänglichkeit drücken.“ Zitiert nach Peter Zocher, Edo Osterloh – vom Theologen zum Politiker. Eine Fallstudie zum Verhältnis von Theologie und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, 33. Zum Göttinger Studentenkampfbund Deutsche Christen vgl. Buss, Wissenschaft (wie Anm. 1), 145–150. 21 Hermann Dörries, Wort und Stunde, Bd. III: Beiträge zum Verständnis Luthers, Göttingen 1970, V.
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ihrem Höhepunkt entgegengesteuert waren. Die Skandalrede des Berliner DCGauobmanns Reinhold Krause über Die völkische Sendung Martin Luthers am 13. November 1933 und die am selben Tag angenommene Entschließung des DCGaues Groß-Berlin führten zu einem kirchenpolitischen Erdbeben und leiteten den Zerfall der Deutschen Christen auf Reichsebene ein.22 Mit bis zu elftausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern soll es sich bei den Göttinger Lutherfeierlichkeiten um eine der größten religiösen Kundgebungen der Stadtgeschichte gehandelt haben.23 Für die Göttinger Zeitung war Dörries’ am 17. November in der Aula am Wilhelmsplatz gehaltener akademischer Festvortrag Luther und Deutschland eine der „eindrucksvollsten universitären Reden“ der letzten Jahre.24 Nicht Aufbruchstimmung, sondern Ernst und Skepsis prägten seinen Vortrag. Dörries’ Luther war kein voranschreitender Bannerträger, sondern Mahner und Unheilsprophet, die Konjunkturbegriffe ‚nationale Revolution‘ oder ‚nationale Erhebung‘, selbst das Wort ‚Nationalsozialismus‘ nahm das NSDAP-Mitglied nicht in den Mund. Wie anno 1521 sah Dörries Deutschland vor einer weichenstellenden Entscheidung. Für ihn lag die Bedeutung des Reichstags von Worms darin, daß die Nation in ihren Führern die Forderung erhob, die Einheit und den Frieden der Nation allem anderen überzuordnen, und daß da ein Professor der Theologie einer kleinen deutschen Universität ‚Nein‘ dazu sagte. Indem aber Luther sich die Vollmacht zutraute, sich gegen die Nation zu entscheiden, gebunden allein an Gottes Wort und sein Gewissen, entschied er zugleich über die deutsche Zukunft.25
Vor die Wahl gestellt zwischen Religion und Nation habe der Reformator, so Dörries, weder den religiösen Gehorsam geopfert, noch habe er den Stab genommen und sei wie viele vor ihm „aus Welt und Volk ausgegangen in die Wüste“. Für ihn stand fest: „Es gibt nur beides oder keins!“
22 Entschließung der Glaubensbewegung Deutsche Christen des Gaues Groß-Berlin vom 13. November 1933. Abgedruckt in: Georg Denzler/Volker Fabricius, Christen und Nationalsozialisten. Darstellung und Dokumente, Frankfurt 1993, 274 f. Vgl. Hansjörg Buss, Der Deutsche Luthertag und die Deutschen Christen, Kirchliche Zeitgeschichte 26 (2013), 272–288; Siegfried Bräuer, Der ‚Deutsche Luthertag 1933‘ und sein Schicksal, in: Horst Bartel u. a. (Hg.), Martin Luther. Leistung und Erbe, Berlin 1986, 423–434. 23 Vgl. Buss, Wissenschaft (wie Anm. 1), 155–160. 24 Lutherfeier der Universität, Göttinger Zeitung vom 18. 11. 1933. Vgl. Lutherfeier der GeorgiaAugusta, Göttinger Nachrichten/Niedersächsische Tageszeitung vom 18. 11. 1933; Die Göttinger Luther-Festtage (hier: Feier der Theologischen Fakultät. Dörries spricht über Luther und Deutschland), Göttinger Tageblatt vom 18./19. 11. 1933. 25 Hermann Dörries, Luther und Deutschland, Tübingen 1931, 17. Vgl. Wiegmann: Dörries (wie Anm. 3), 136–138 sowie den Beitrag von Martin Keßler in diesem Band.
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Nach einer kolportierten Aussage des bei dem Vortrag anwesenden Studentenpfarrers und Privatdozenten Georg Hoffmann soll Rektor Friedrich Neumann nach dieser Rede Dörries demonstrativ den obligatorischen Handschlag verweigert haben.26 Hans Walter Krumwiedes Urteil, sein Luthervortrag sei „eine der ersten öffentlichen Kritiken des Hitler-Staates aus dem Mund eines evangelischen Theologen“ gewesen, greift dennoch zu kurz.27 Dörries’ Appell bedeutete mitnichten eine Absage an den NS-Staat. Im November 1933 war er sich allerdings bezüglich seiner künftigen Entwicklung nicht sicher und ließ die selbstgestellte Frage, ob die „geschichtliche Stunde“ genutzt werde, ausdrücklich offen. Mit seinem Plädoyer einer Gotteswort-Bindung und für Gewissensfreiheit war er dennoch der erste Göttinger Theologe, der öffentlich einen Grenzpflock gegenüber der staatlichen Allmacht einschlug. Dörries begrenzte den nationalsozialistischen Totalitätsanspruch. Inhaltlich unterschied sich sein Vortrag fundamental vom dem nur wenige Tage zuvor gesprochenen uneingeschränkten Leipziger Bekenntnis Hirschs zum nationalsozialistischen Führerstaat.28
5 Dörries und die Bekennende Kirche Als einziger Göttinger Professor schloss sich Dörries der Bekennenden Kirche an.29 Besonders widmete er sich der Abwehr antichristlicher Populärthesen deutschchristlicher und deutschgläubiger Kreise. Im Juni 1934 griff er den Tübinger Professor für Religionswissenschaft und ‚Führer‘ der Deutschen Glaubensbewegung
26 Hans-Walter Krumwiede, Göttinger Theologie im NS-Staat, Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 85 (1987), 145–178, hier 166. 27 Ebd., 166. Krumwiede blendet zugleich die allerdings minoritäre Ablehnung des Nationalsozialismus durch Theologen verschiedener Richtungen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier stellvertretend die Namen Emil Fuchs (Religiöser Sozialist), Hermann Mulert (liberaler Theologe), Helmuth Schreiner (konservativer Lutheraner) und eben die ehemaligen ‚Göttinger‘ Karl Barth und Otto Piper genannt – aus. 28 Emanuel Hirsch, Rede an die ‚deutschen Volksgenossinnen, deutsche Volksgenossen‘ [vom 11. 11. 1933]. Abgedruckt in: Nationalsozialistischer Lehrerbund Sachsen (Hg.), Bekenntnis der Professoren an den deutschen Professoren zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat, Dresden 1934, 15–17, hier 17. Vgl. auch die Festpredigt des deutschchristlichen Göttinger Pfarrers Gerhard Ködderitz (St. Johannis) und insbesondere die als skandalös wahrgenommene Rede des späteren Staatssekretärs im Reichkirchenministerium Hermann Muhs bei dem zentralen landeskirchlichen Festakt in Hannover. Hansjörg Buss, „Muhs, Hermann“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01. 10. 2022, URL: https://www.deutsche-biographie.de/23110846.html#dbocontent. 29 Mitgliedskarte, undatiert. Bundesarchiv (Standort Koblenz), N 1271, Nr. 18. Der Neutestamentler Joachim Jeremias, der ebenfalls der Bekennenden Kirche angehörte, kam erst 1935 nach Göttingen.
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Wilhelm Hauer in einem offenen Brief direkt an und unterstellte ihm die Zurücksetzung der Christen als Deutsche zweiter Klasse.30 Derartige Initiativen endeten aber rasch, zum einen wegen entsprechender ministerieller Vorgaben, zum anderen wegen wirkungsvoll platzierten öffentlichen Anfeindungen.31 Gegen Dörries gerichtete Attacken wie beispielsweise ein ganzseitiger Beitrag des völkischen Schriftstellers Walter zur Ungnad im Göttinger Tageblatt oder die Tiraden des Leiter eines NSDAP-Gauschule, der in der vermeintlichen Parteinahme Dörries’ für den „Sachsenschlächter“ Karl den Großen eine Entscheidung gegen das ‚eigene‘ Volk sah und diese zur kirchlichen Bekämpfung des Nationalsozialismus übersteigerte, entfalteten zwar keine direkte Wirkung, hatten aber erhebliches Drohpotential und waren geeignet, die Reputation Dörries’ zu schmälern.32 Ohne den lärmenden Aufritt zu suchen, wirkte er ab Mitte der 1930er Jahre vor allem in seinem Universitätsamt. Kirchenpolitisch im engeren Sinne hielt sich Dörries bedeckt. Sein 1937 in der Jungen Kirche veröffentlichter Debattenbeitrag Äußere Ordnung und lutherisches Bekenntnis war eine Ausnahme.33 Dörries war weder in die Führungsgremien der landeskirchlichen Bekenntnisgemeinschaft noch in Aktivitäten der Bekennenden Kirche auf Reichsebene eingebunden.
6 Die Wirkungsfelder des Bekenntnistheologen Spätestens im Sommer/Herbst 1934 hatten sich die vor allem von Dekan Hirsch vorangetriebenen Pläne zur Schaffung einer deutschchristlichen Vorzeigeuniversität mit reichsweiter Ausstrahlungskraft zerschlagen. Im Mai 1935 schrieb er an Friedrich Gogarten zu seiner im dritten Anlauf tatsächlich bevorstehenden Beru-
30 Hermann Dörries, Ist der sogenannte Deutschglaube deutsch? Ein Beweisantrag. Offener Brief an Professor W. Hauer, Göttingen 1934. 31 Vgl. den Erlass des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 28. Februar 1935. Abgedruckt in: Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches, Bd. 2: Vom Beginn des Jahres 1934 bis zur Errichtung des Reichskirchenministeriums am 19. Juli 1935, bearb. von Carsten Nicolaisen, München 1975, 271 ff; Buss, Wissenschaft (wie Anm. 1), 344 ff. 32 Walter zur Ungnad, Germanische Religion und Sachsenbekehrung. Oder: Ein Göttinger Theologieprofessor schreibt einen Religionsroman, Niedersächsische Tageszeitung vom 10. 8. 1934; ders., Germanische Religion und Sachsenbekehrung, Göttinger Tageblatt vom 11. 8. 1934; Robert Fell, So kämpft der Feind gegen den Nationalsozialismus, NS-Briefe Schulungsblätter der NSDAP im Rhein-Main-Gebiet 50 (1936). Zur Deutung von Karl dem Großen zur Zeit des Nationalsozialismus vgl. Johannes Fried, Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie, München 2013, 617–624. 33 Hermann Dörries, Äußere Ordnung und lutherisches Bekenntnis, Junge Kirche 14 (1937), 582–586.
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fung nach Göttingen: „Wir werden mit Ihnen eine sehr tüchtige und sehr still arbeitende Fakultät sein.“ 34 Die Klammer der Fakultät war wissenschaftliche und pädagogische Befähigung – der Praktische Theologe Walter Birnbaum war diesbezüglich eine freilich gravierende Ausnahme –, politische Zuverlässigkeit und kirchenpolitische Enthaltsamkeit.35 Diese Trias ermöglichte ein teils beziehungsloses Mit- und Nebeneinander, weitgehend unabhängig von den jeweiligen unterschiedlichen kirchenpolitischen Entscheidungen. Bei all den folgenden Hintergrundkonflikten um die personelle und allgemeine Ausrichtung der Fakultät und dem Großkonflikt mit der Landeskirche der Jahre 1935 bis 1938 blieb Dörries in seiner Stellung unangetastet. Der Schlüssel dazu war neben seiner unbestrittenen fachlichen Anerkennung die Fähigkeit, seine Rolle als Bekenntnistheologe, verbeamteter Staatsdiener und Nationalsozialist verbinden und die Rechte und Pflichten eines „Amtsträgers des nationalsozialistischen Staates“ gewissenhaft wahrnehmen zu können.36 Gegen die nationalsozialistische Umgestaltung und ‚Gleichschaltung‘ der staatlichen Hochschulen erhob Dörries keine Einwände.
a) Protestnoten und fakultätsinterne Positionierungen Im November 1934 gehörte Dörries zu jenen 134 Professoren der Theologie, die Reichsbischof Müller zum Rücktritt aufforderten, am 12. März 1935 unterzeichnete er die Protestnote von sechs Göttinger Fakultätsmitgliedern gegen den FebruarErlass von Reichsminister Rust zur kirchenpolitischen Enthaltsamkeit der deutschen Theologieprofessoren. Ende 1935 forderte er in dem Konflikt um die Berufung Walter Birnbaums angesichts dessen als theologisch unrichtig und bekenntniswidrig erkannter Haltung zur Sicherstellung einer ordnungsgemäßen akademischen Lehre zusätzliche Lehraufträge für den Fachbereich Praktische Theologie.37 Im Universitätsamt bezog Dörries Stellung und verteidigte im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten die akademische Lehr- und Forschungsfreiheit und das professorale Recht auf öffentliche Äußerung. Selbst für Dekan Hirsch – Mitte der 1930er Jahre war das kirchenpolitische und auch das persönliche Tischtuch der
34 Hirsch an Gogarten am 22. 5. 1935. Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Gogarten: 400:304, Nr. 18. Vgl. Buss, Wissenschaft (wie Anm. 1), 172 f. 35 Zu Walter Birnbaum vgl. Buss, Wissenschaft (wie Anm. 1), 178–184, 390 f. 36 Gemeinhardt, Kirche (wie Anm. 3), 344. Vgl. Inge Mager, Göttinger theologische Promotionen 1933–1945, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Hg.), Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, Göttingen 1993, 347–360. 37 Vgl. Gemeinhardt, Kirche (wie Anm. 3), 345–350. Konkret schlug Dörries Carl Stange und Georg Hoffmann vor.
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beiden Fachkollegen bereits zerschnitten – waren derartige Äußerungen keine „grobe Verletzung der Fakultätsgemeinschaft“. Die „politisch-staatliche Erziehungsgemeinschaft der Theologischen Fakultät“ sah Hirsch durch Dörries nicht berührt.38
b) Publikationen Für Dörries’ wissenschaftliches Werk war ‚1933‘ eine Zäsur. Er reagierte auf die Zeit und nahm in der zweiten Phase seines literarischen Schaffens einen neuen Katalog geschichtlicher Themen in Angriff. Seine Veröffentlichungen über die Bekehrung der Sachsen bzw. der deutschen Stämme, das Heliand-Epos, den frühmittelalterlichen Gelehrten Gottschalk den Sachsen oder Meister Eckhardt weisen einen starken Bezug zur – nationalsozialistischen – Gegenwart auf. Dörries beteiligte sich an einer ‚Deutungsschlacht‘.39 All seine Schriften weisen einen ähnlichen Zuschnitt auf. Einleitend weist Dörries auf aktuelle, seiner Meinung nach falsche Deutungen des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes hin, die er dann mit einer zeitgebundenen Interpretation historischer Quellen argumentativ zu widerlegen sucht. Die apologetische Stoßrichtung ist evident. Es handelte sich um Abwehrschriften gegen die „propagandistische Inanspruchnahme der Vergangenheit durch den völkischen Glauben“.40 Für Dörries orientierte sich die „Religion der sogenannten Deutschgläubigen“ an einem ahistorischen und widerlegten Wunschbild, hinter dem er trotz eines verklärenden Rückgriffs auf die ‚eigene‘ Geschichte vor allem ideengeschichtliche Einflüsse der Aufklärung erkannte. Hier zeigt sich erneut der konfessionsbewusste antiliberale Lutheraner. In den Sätzen „Die deutsche Geschichte ist die Geschichte Deutschlands mit dem Christentum“ bzw. „Wir sind durch die Kirche ein Volk geworden!“ brachte 38 Hirsch an Birnbaum am 20. 12. 1935. Universitätsarchiv Göttingen, Theol. PA, Nr. 96. 39 Vgl. Hermann Dörries, Germanische Religion und Sachsenbekehrung, Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 38 (1934), 52–83; ders., Heliandfragen, Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 40 (1935), 1–22; ders., Die Bekehrung der deutschen Stämme, Potsdam 1936; ders., Wohin gehört Meister Eckhardt?, Junge Kirche 1 (1937), 9–21; ders., Gottschalk, ein christlicher Zeuge der frühen Neuzeit, Junge Kirche 16 (1937), 670– 784; ders., Heinrich I. und das altsächsische Christentum, Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 43 (1938), 5–31. Vgl. die inhaltlichen Zusammenfassungen einiger dieser Beiträge bei Wiegmann: Dörries (wie Anm. 3), 138–147 sowie auch den Beitrag von Uta Heil in diesem Band. Die bedeutendstes wissenschaftliche Schrift Dörries’ in der Zeit des Nationalsozialismus war seine Schrift: Symeon von Mesopotamien, Leipzig 1941. Vgl. dazu den Beitrag von Martin Illert in diesem Band. 40 Hans-Walter Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 2: Vom Deutschen Bund 1815 bis zur Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttingen 1996, 560.
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Dörries die von ihm konstatierte zentrale Bedeutung des Christentums für die Ausbildung des einen ‚deutschen Volks‘ prägnant zum Ausdruck.41 Die von ihm beschriebene freiwillig-evolutionäre Annahme des Christentums in der Zeit der frühen Reichsbildung ermöglichte ihm dabei eine positive Bestimmung einer irreversiblen Bindung von Volkstum und Christentum, die er zugleich von der pseudowissenschaftlichen Blut-und-Boden-Konzeption der Völkischen abgrenzen konnte. Damit aber gab Dörries seinen Arbeiten einen ebenso hohen Aktualitätsbezug wie seine weltanschaulichen Gegner, nur eben unter anderen Vorzeichen und mit anderen Ergebnissen. Die Grenzen zur Legitimationswissenschaft sind fließend.42 In seinem Eckhardt-Aufsatz, der weit über die Bekennende Kirche hinaus auf Zustimmung stieß, und dem ein Jahr später veröffentlichten Beitrag Germanische Nationalkirchen kam Dörries’ Intention am stärksten zum Tragen.43 Sein Aufsatz über ‚Meister Eckhardt‘ ist auch deshalb interessant, weil dieser seit seiner Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert in völkischen Kreisen breit rezipiert wurde. Alfred Rosenberg, seit Januar 1934 Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP, bezeichnete ihn in seinem ‚Mythus‘ als den „größten Apostel des nordischen Abendlandes“ und wies ihm als Stichwortgeber und Schöpfer einer nachchristlichen Religion geradezu eine Schlüsselstellung in der germanischen Kulturgeschichte zu.44 Dörries bezog demnach auch Stellung gegen eine mächtige Parteigröße, die er zugleich in eine geistige Linie von Aufklärung, Frühliberalismus und Judentum stellte.
41 Dörries, Bekehrung (wie Anm. 39), 32 bzw. 14. 42 Vgl. Wiegmann, Dörries (wie Anm. 3), 148 f. Bis 1939 lag die Anzahl der ‚Germanen‘-Veröffentlichungen, unter ihnen viele Broschüren, im dreistelligen Bereich. Der Ertrag nach einem engeren Wissenschaftsverständnis fiel gering aus. Am Beispiel der einflussreichen ‚Germanenschriften‘ Kurt Dietrich Schmidts verwirft Hanns Christof Brennecke sowohl die grundsätzliche Fragestellung als auch Schmidts methodisches Vorgehen. Vgl. Hanns Christof Brennecke, Der sog. germanische Arianismus als ‚arteigenes‘ Christentum. Die völkische Deutung der Christianisierung der Germanen im Nationalsozialismus, in: Thomas Kaufmann/Harry Oelke (Hg.), Evangelische Kirchenhistoriker im ‚Dritten Reich‘, Gütersloh 2002, 310–329; Sybille Ehringhaus, Germanenmythos und deutsche Identität. Die Frühmittelalter-Rezeption in Deutschland 1842–1933, Weimar 1996. 43 Dörries, Eckardt (wie Anm. 39). Die große Zustimmung zu Dörries’ Beitrag ergibt sich aus einem Schreiben des Herausgebers der Jungen Kirche, Fritz Söhlmann, vom 11. 8. 1937. Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin. Preußischer Kulturbesitz, NL 494, G 1926–1939, Tasche 38, Bl. 594. Vgl. Harald Iber, Christlicher Glaube oder rassischer Mythus. Die Auseinandersetzung der Bekennenden Kirche mit Alfred Rosenbergs ‚Der Mythus des 20. Jahrhunderts‘, Frankfurt (M) 1987; Wolfram Malte Fues, Mystik als Erkenntnis. Kritische Studien zur Meister-EckartForschung, Bonn 1981, 29–121. 44 Alfred Rosenberg, Der Mythus der 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München: 331934, 217–259, hier 218.
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Kirchenpolitisch konnotiert war sein Aufsatz Germanische Nationalkirchen über den sogenannten germanischen Arianismus des 4. bis 6. Jahrhunderts. Zwischen den arianischen Germanen und „der nationalkirchlichen Bewegung unserer Tage“ machte er zwar die „größten Unterschiede“ aus, sein Aufsatz war dennoch ein Frontalangriff auf die im Sommer 1937 erfolgte organisatorischprogrammatische Neuaufstellung des radikal völkischen Flügels der Deutschen Christen: „An ihrer Nationalkirche sind die arianischen Germanenreiche zugrunde gegangen.“ 45 Dörries begründete dies wie folgt: Die Staatsverbundenheit der Kirche war bezahlt mit der Preisgabe des der Kirche mitgegebenen Auftrags. Ihre Artgemäßheit hieß zuerst Beibehalten und dann Behaupten eines Großteils des heidnischen Volksglaubens. Ihr Bibelglaube vertrug es nicht, auf seine Schriftgemäßheit geprüft zu werden. Der von ihnen verkündigte Himmelsherr, mit alttestamentlichen Zügen geschildert als der Schöpfer und Gesetzgeber, oder nach heidnischer Weise vorgestellt als der mächtige Schutzherr im irdischen Kampf um Selbstbehauptung, Sieg und Ruhm – er ist nicht der Christus des Neuen Testaments.46
Diese Versuchung, der die arianischen Germanenreiche in seiner Deutung erlegen waren, projizierte er in einem vernichtenden Urteil auf die Gegenwart: „das Evangelium unserer Eigenart zu unterwerfen, statt uns ihm zueigen zu geben, und eine deutsche Kirche zu gründen, in der wir die Herren sind, nicht Gottes Wort.“ 47 Der (kirchen-)politischen Brisanz seines Beitrages war sich Dörries ohne Zweifel bewusst. Blieb sein Eckart-Aufsatz unbeanstandet, wurde der Sonderdruck des ursprünglich in der Jungen Kirche erschienenen Nationalkirchen-Beitrages im Februar 1938 von der Staatspolizeidienststelle Hildesheim gemäß § 7 der Verordnung zum Schutz des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933 verboten.48 Es handelte sich um die einzige derartige Maßnahme gegen ein Mitglied der Göttinger Theologischen Fakultät.
45 Hermann Dörries, Germanische Nationalkirchen, in: ders., Wort und Stunde, Bd. II: Aufsätze zur Geschichte der Kirche im Mittelalter, Göttingen 1969, 76–111, hier 110. Erstabdruck: Junge Kirche 6/1 (1938), 8–23 und ebenda 6/2 (1938), 65–69. 46 Dörries, Nationalkirchen (wie Anm. 45), 109 f. 47 Ebd., 111. 48 Staatspolizeidienststelle Hildesheim am 16. 2. 1938: Verbot Sonderdruck (Drucklegung) der Schrift Germanische Nationalkirchen nach § 7 der Verordnung zum Schutz von Ehre und Volk vom 4. 2. 1933. Niedersächsisches Landesarchiv (Abteilung Hannover), Nds. 171 Hildesheim, Nr. 9200 (Entnazifizierung Hermann Dörries). Da nur der erweiterte Sonderdruck, nicht aber die entsprechenden JK-Ausgaben verboten wurden, bezog Dörries das Verbot unmittelbar auf den Inhalt. Dörries an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung am 18. 2. 1938. Bundesarchiv (Standort Koblenz), N 1271, Nr. 70. Vgl. Gemeinhardt, Kirche (wie Anm. 3), 351 f.; Ralf Retter, Zwischen Protest und Propaganda. Die Zeitschrift ‚Junge Kirche‘ im Dritten Reich, München 2009, 271–288, hier 275.
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c) Lehrveranstaltungen Ausweislich der Vorlesungsverzeichnisse wiesen auch Dörries’ Lehrangebote einen bekenntnisorientierten Zuschnitt auf. Mit Lehrveranstaltungen wie beispielsweise Das Christentum der Germanenbekehrer im Wintersemester 1934/35 oder Protestantische Bekenntnisbildung (1937) gab er seinen Studenten – die Anzahl von Studentinnen war in diesen Jahren minimal bzw. bei null – wissenschaftliches Rüstzeug und Argumentationshilfen in besonders umstrittenen Konfliktfeldern an die Hand.49 Ähnliches ist für einen von Dörries geleiteten Lutherkreis anzunehmen, der auch, nachdem die meisten Teilnehmer die Universität verlassen hatten, fortgesetzt wurde.50
d) Dörries und die evangelische Studentengemeinde Jenseits seiner Lehrverpflichtungen bleibt das Verhältnis Dörries’ zu der im Frühjahr 1935 begründeten Studentischen Bekenntnisgemeinschaft unbestimmt. Dekan Hirsch führte jedoch die fachschaftsunabhängigen und damit außerhalb des Zugriffs der Theologischen Fakultät stehenden Theologenlager und -freizeiten der bekenntnisgebundenen Studentinnen und Studenten auch auf die „warme Befürwortung“ von Dörries zurück, ohne dass dieser sich an ihnen exponiert beteiligte.51 Vermittelnd setzte sich Dörries zudem dafür ein, dass bei den Lagern der deutschchristlich dominierten Theologischen Fachschaft die bekenntnisgebundenen Standpunkte Beachtung fänden bzw. zumindest diskutierbar sein sollten. Ein entsprechender Vermittlungsversuch Anfang 1936 endete allerdings in einem Kommunikationsdesaster bzw. einer Denunziation Hirschs und
49 Georg-August-Universität zu Göttingen (Hg.), Amtliches Namensverzeichnis (Sommerhalbjahr 1934) und Verzeichnis der Vorlesungen der Georg-August-Universität zu Göttingen (Winterhalbjahr 1934/35), Göttingen 1934, 3; Georg-August-Universität zu Göttingen (Hg.), Amtliches Namensverzeichnis. Verzeichnis der Vorlesungen der Georg-August-Universität zu Göttingen (Winterhalbjahr 1937/38), Göttingen 1937, 40. Ähnliche Hinweise finden sich für den Honorarprofessor Hermann Schuster sowie die Privatdozenten Georg Hoffmann und Hans von Campenhausen. 50 Vgl die Unterlagen in Bundesarchiv (Standort Koblenz), N 1271, Nr. 21. 51 Dekan Hirsch an den Kurator am 21. Februar 1936. Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA, Nr. 142. Vgl. Gemeinhardt, Kirche (wie Anm. 3), 350. Die unabhängigen Theologenlager und -freizeiten boten vor allem in den Jahren 1935 bis 1938 wichtige Austausch- und Verständigungsräume für die bekenntnisorientierten Göttinger Studentinnen und Studentinnen der Theologie – später auch für an anderen Universitäten studierende hannoversche ‚Landeskinder‘. In unterschiedlicher Anordnung zeichneten die Hannoversche Bekenntnisgemeinschaft bzw. die Landeskirche für ihre Durchführung verantwortlich. Vgl. Buss, Wissenschaft (wie Anm. 1), 298–303.
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führte zu einem Konflikt mit dem Göttinger Führer des NS-Dozentenbundes Arthur Schürmann, schließlich zu einem Parteigerichtsverfahren, das letztendlich aber im Kern ergebnislos blieb.52 Danach engagierte sich Dörries in dieser Frage nicht mehr. Einen bleibenden Beitrag leistete er ab Ende der 1930er Jahre für die entstehende studentische Gemeinde, die nach dem Verbot der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV) und der Deutschen Christlichen StudentinnenBewegung (DCSB) im Dezember 1937 rasch zum neuen Kristallisationspunkt des studentischen evangelischen Lebens in Göttingen wurde. Studentenpfarrer Adolf Wischmann, der „Übervater“ der Gemeinde, bescheinigte Dörries nach dem Krieg in einem Leumundsschreiben: „Sein Haus war in jeder Hinsicht unter den Studenten offen als Sammelpunkt der weltanschaulich antinationalsozialistisch eingestellten Gruppen bekannt.“ 53 Diese inhaltlich-sprachlich durchaus bemerkenswerte Aussage ist m. E. deutlich überzogen, Dörries’ Verdienst bei der Etablierung und dem dauerhaften Erhalt außerhalb der Fakultät angesiedelter studentischer Strukturen bleibt davon freilich unberührt.54 Er ist umso höher einzuschätzen, da Wischmann, im August 1939 eingezogen und bis 1945 im Kriegsdienst stehend, ‚seine‘ Gemeinde in der Kriegszeit nur schriftlich betreuen konnte.55
52 In dem im Bundesarchiv überlieferten Nachlass Dörries’ ist die entsprechende Akte Nr. 60 als Denunziation Hirsch betitelt. Dörries warf seinem Dekan, der vorab keine Klärung in einem persönlichen Gespräch gesucht hatte, einen massiven Vertrauensbruch vor. 1947 gab Dörries an, Schürmann habe ihm „Sabotage am Aufbauwerk des Führers“ vorgeworfen. Anlage zum Fragebogen, ausgefüllt am 16. August 1947. Niedersächsisches Landesarchiv (Abteilung Hannover), Nds. 171 Hildesheim, Nr. 9200 (Entnazifizierung Hermann Dörries). Am 14. Oktober 1972 teilte Dörries dem amerikanischen Historiker Robert P. Ericksen mit, Rektor Neumann habe ihn damals vor einer Einweisung in ein Konzentrationslager bewahrt. Ericksen, Theologen (wie Anm. 9), 228. Diese Angabe ließ sich anhand der ausgewerteten Unterlagen nicht verifizieren. 53 Entlastungsschreiben Adolf Wischmanns vom 2. 8. 1947. Landeskirchenarchiv Hannover, Nachlass Adolf Wischmann (NL 78), Nr. 48. 54 Die eingrenzende Konkretisierung auf die weltanschauliche Gegnerschaft zum Nationalsozialismus legt nahe, dass Wischmann eine politische Gegnerschaft weder für Dörries noch die Mitglieder der studentischen Gemeinde als gegeben ansah. Otto Eduard Müller, stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses Göttinger Schulen und Mitglied des Entnazifizierungs-Ausschusses der Stadtverwaltung, bezeichnete Dörries dagegen als einen der geistigen Köpfe gegen den Nationalsozialismus. In seiner Privatwohnung habe sich eine Art „Widerstandsgruppe“ getroffen. Müller am 4. 8. 1947. Bundesarchiv (Standort Koblenz), N 1271, Nr. 17. 55 Vgl. Adolf Wischmann, Die Wischmann-Briefe 1939–1945, eingeleitet und herausgegeben von Hans-Heinrich Harms, Stuttgart 1973; Buss, Wissenschaft (wie Anm. 1), 403–408.
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7 Bilanzierende Einordnung Im evangelischen Deutschland war die Unterscheidung zwischen dem ‚politischen‘ und dem ‚weltanschaulichen‘ Nationalsozialismus weitverbreitet. Dörries folgte dieser Figur: Den ihr innewohnenden Widerspruch konnte er zu keiner Zeit angemessen auflösen. Mit der Ablehnung der in der Kriegsniederlage geborenen Republik, die Anfang der 1930er Jahre in seiner Sicht schlicht abgewirtschaftet hatte, gehörte er zu jenen deutschen Professoren, die, so Ernst Wolf noch zu Lebzeiten Dörries’ im Jahr 1966, mit ihrem antiliberalen Staatdenken und ihren geschichtstheologischen Konzeption „auch weitergehenden Erwartungen eines völkischen Messias und der eschatologischen Vision des ‚Dritten Reiches‘ Vorschub“ leisteten und dem nationalsozialistischen Führerstaat den Boden bereiteten.56 Der Theologe Karl-Wilhelm Dahm, der in den 1950er Jahren u. a. in Göttingen studiert hatte, führte die von ihm breit zitierten Ausführungen Dörries’ aus dem Jahr 1932 in seiner Pionierstudie Pfarrer und Politik als ein Paradebeispiel für „das Denken der pro-nationalsozialistischen Pfarrer im konservativ-nationalen Lager“ an.57 Dabei war der eher nüchterne Dörries kein begeisterter Parteigänger, vielmehr skeptisch, aber mit politischer Sympathie und einer wagenden Offenheit für das Voranschreitende und Aufbrechende der nationalsozialistischen ‚Freiheitsbewegung‘. Der erwartete ‚nationale‘ Aufbruch sollte, so die Hoffnung Dörries’ wie die vieler anderer, auch zu einem christlich-religiösen Neubeginn führen. Die „Zeit der Illusionen“ endete für Dörries früher als für andere.58 Es gibt m.W. keinen anderen Theologen, der den Deutschen Christen zuerst beitrat und bereits zu so einem frühen Zeitpunkt mit der Glaubensbewegung brach. 1946 reflektierte Dörries in der Veröffentlichung seiner im Vorjahr vor der Studentengemeinde gehaltenen Vortragsreihe Das Bekenntnis in der Geschichte der Kirche recht ehrlich die durchaus vorhandenen Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen kirchenpolitischen Gruppierungen des Jahres 1933 und gestand Teilen der Deutschen Christen auch nachträglich ein ernstes und berechtigtes Anliegen zu. Erst an der uneingelösten Bekenntnisfrage seien sie zerschellt: „Als eine Lehre, die am Bekenntnis geprüft wurde und nicht bestand, ist das Deutsche Christentum
56 Ernst Wolf, Zum Verhältnis der politischen und moralischen Motive in der deutschen Widerstandsbewegung, in: Walter Schmitthenner/Hans Buchheim (Hg.), Der deutsche Widerstand gegen Hitler. Vier historisch-kritische Studien von Hermann Graml, Hans Mommsen, Hans-Joachim Reinhardt und Ernst Wolf, Köln 1966, 215–356, hier 226. 57 Karl-Wilhelm Dahm, Pfarrer und Politik. Soziale Position und politische Mentalität des deutschen evangelischen Pfarrerstands zwischen 1918 und 1933, Köln/Opladen 1965, 204–207, hier 206. 58 Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritten Reich, Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen, Frankfurt 1977.
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erkannt, abgewiesen und überwunden.“ 59 Der ‚Kirchenkampf‘ sei, so Dörries, unter „Fallen und Aufstehen, Hinsinken und Sich-Ermannen, Irren und Zurechtfinden“ geführt worden.60 Bezog er diese Worte unausgesprochen nicht zuletzt auf sich selbst? Über das Kriegsende hinaus blieb Dörries’ Kernargumentation bemerkenswert konsistent. Theologisch und kirchlich begründet verwarf er die nationalsozialistische Religions- und Kirchenpolitik mit ihren immer deutlich zu Tage tretenden antikirchlichen bzw. -christlichen Wendungen, nicht zuletzt im kirchlichen und akademisch-theologischen Bereich selbst, und kritisierte die schrankenlose weltanschauliche Totalität des nationalsozialistischen Weltanschauungsstaats. Eine darüberhinausgehende politische Kritik am NS-Staat formulierte er mit Ausnahme der nationalsozialistischen Verachtung des Rechtsstaats nicht. Er hielt es für möglich, die politische und die kirchlich-theologische Ebene trennen zu können.61 Dieser Befund ermöglichte Dörries kontextabhängige Modulationen. In den wenigen bekannten und aussagekräftigen Dokumente aus der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur hob er seine NSDAP-Mitgliedschaft hervor und betonte seine feste nationalsozialistische Haltung, nach 1945 die ablehnende weltanschauliche Distanz.62 Taktische Erwägungen spielten dabei, insbesondere in dem ihn in seiner Existenz bedrohenden Entnazifizierungsverfahren, selbstverständlich eine Rolle, andererseits zeigt sich in seinen Schreiben durchaus eine gewisse Stringenz. In der unmittelbaren Nachkriegszeit führte Dörries die Jahre der nationalsozialistischen Diktatur in konservativer, dezidiert unpolitischer Engführung auf das Narrativ des ‚Kirchenkampfes‘ zurück, den er zugleich auf seine kirchlichtheologische Dimension begrenzte. Die genannte Bekenntnis-Schrift war, so Peter Gemeinhardt, ein „ungewöhnlicher, historisch wie theologisch beachtlicher Versuch der Selbstorientierung“.63 Für eine abschließende kirchengeschichtliche Einordnung „des selbst Erlebten“ und dessen Bedeutung für die Kirche war es selbstredend zu früh, ausgespart blieb gleichwohl die Frage einer kirchlichen und auch einer persönlichen Mitverantwortung bzw. in damaliger Terminologie die Frage der ‚Schuld‘. Ungeachtet des Charakters einer akademischen Vorlesung ist die Ausblendung der gegenwärtigen Lage auffällig. Dörries äußerte sich weder zur
59 Hermann Dörries, Das Bekenntnis in der Geschichte der Kirche, Göttingen 1946, 102. 60 Ebd., 110. 61 Gemeinhardt, Kirche (wie Anm. 3), 352. 62 Vgl. exemplarisch Dörries an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung am 5. 4. 1938. Universitätsarchiv Göttingen, Theol. PA, Nr. 102; Anlage zum Fragebogen, ausgefüllt am 16. August 1947; Nachreichung der Gründe zu seinem Widerspruch am 18. Dezember 1947. Niedersächsisches Landesarchiv (Abteilung Hannover), Nds. 171 Hildesheim, Nr. 9200 (Entnazifizierung Hermann Dörries). 63 Gemeinhardt, Kirche (wie Anm. 3), 360.
Zwischen den Reichen
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Gestalt noch zur Politik des NS-Staates, weder zum Zweiten Weltkrieg noch zu den bereits bekannten deutschen Verbrechen und auch nicht zu den Verhältnissen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Gegenüber seinen oftmals traumatisierten Hörerinnen und Hörer verzichtete er auf ein Theologenwort zum Umgang mit der gegenwärtigen Situation. Hermann Dörries war und blieb in der Zeit des selbsternannten ‚Dritten Reiches‘ Universitätsprofessor, Wissenschaftler und akademischer Lehrer. Eine besonders hervorgehobene Rolle spielte er nicht, weder innerhalb der Fakultät noch innerhalb der Bekennenden Kirche. Die durch seine kirchenpolitische Entscheidung entstandene Angriffsfläche und beamtenrechtliche Vorgaben veranlassten Dörries zu sorgfältigen Abwägungsprozessen. Für die anhaltende Wertschätzung und Anerkennung, die er trotz seiner bekannten kirchenpolitischen Bindung erfuhr, spricht seine 1941 erfolgte Aufnahme in die Göttinger Akademie der Wissenschaften. Dennoch war er der einzige Göttinger Theologieprofessor, der wegen seiner kirchenpolitischen Überzeugung in Konflikt mit der NSDAP geriet und ad personam polemischer Kritik völkisch-deutschgläubiger Kreise ausgesetzt war. In seiner Stellung blieb er aber unangetastet, ‚ernsthafte‘ Repressionen hatte er nicht zu erleiden, obwohl sein subjektives Empfinden möglicherweise ein anderes war. Letztendlich ermöglichte die gezeigte Haltung Dörries, der nach den alliierten Entnazifizierungsvorgaben aufgrund seiner 12-jährigen Mitgliedschaft in der NSDAP als formal belastet galt, die uneingeschränkte Fortführung seiner akademischen Karriere.64 Seinem Göttinger Lehrstuhl blieb er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1963 treu.
64 Vgl. Buss, Wissenschaft (wie Anm. 1), 455–457.
Aneke Dornbusch
Hermann Dörries und Hans Freiherr von Campenhausen Eine Freundschaft unter Theologen im Spiegel ihres Briefwechsels
1 Einführung Aber nun doch auch zu Ihrem Brief! Sie sollten Ihre Briefschaften keinesfalls vernichten, sondern in die dafür vorgesehenen Repositorien der Universitätsbibliothek tun. Dort tun sie niemand weh und können u. U. auch einem nützlich werden. […] Sie haben natürlich Recht, daß in den „Akten“ meist nur die unangenehmen Dinge hängen bleiben.1
Private Briefwechsel üben auf die Historikerin eine Faszination aus. Anders als in offiziellen Schreiben oder bürokratischem Aktenmaterial vermutet man in ihnen das Unbürokratische, Informelle, eben Private. So sind auch in der kirchlichen Zeitgeschichte Briefwechsel zu einer wahren Fundgrube der Informationen geworden. Wer kommt etwa bei der Bearbeitung der deutschen Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts ohne die von Kurt Aland edierten Briefe von Hans Lietzmann oder die vom Ehepaar Dinkler-von Schubert herausgegebenen Briefe und Dokumente von Hans von Soden aus?2 Nur durch die Lietzmannbriefe wissen wir, dass Emanuel Hirsch (1888–1972) 1929 der Berufung von Hermann Dörries nach Göttingen vehement entgegenstand 3 und dass er, nachdem er seinen Wunschkandidaten nicht durchsetzen konnte, fast selbst aus Göttingen fortgegangen wäre.4
1 H. v. Campenhausen an H. Dörries, 15. 7. 1976, Bundesarchiv N 1271, Nr. 28. 2 Kurt Aland (Hg.), Glanz und Niedergang der deutschen Universität: 50 Jahre deutsche Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892–1942), Berlin 1979; Erich Dinkler/ Erika Dinkler-von Schubert (Hg.), Theologie und Kirche im Wirken Hans von Sodens: Briefe und Dokumente aus der Zeit des Kirchenkampfes 1933–1945, Göttingen 1986. Weitere wichtige Briefeditionen sind Walter Bußmann (Hg.), Siegfried A. Kaehler: Briefe 1900–1963, Boppard am Rhein 1993; Werner Zager/Christof Landmesser (Hg.), Rudolf Bultmann: Briefwechsel mit Götz Harbsmeier und Ernst Wolf. 1933–1976, Tübingen 2017. 3 „Dörries ist die Konzession, die ich machen mußte, um die beiden andern zu bekommen“, Aland, Glanz (Anm. 2), Nr. 630. Die „beiden anderen“ waren Hermann Wolfgang Beyer und Heinrich Bornkamm. 4 Vgl. ebd., Nr. 681. Anmerkung: Dieser Aufsatz basiert auf verschiedenen Abschnitten meiner Dissertation Hermann Dörries (1895–1977) – ein Kirchenhistoriker im Wandel der politischen Systeme Deutschlands (Christentum in der modernen Welt 3), Tübingen 2022. Viele hier nur angedeutete Sachverhalte werden dort näher beleuchtet. https://doi.org/10.1515/9783110690095-005
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Briefwechsel bieten also scheinbar unendliche Chancen, gleichzeitig ist die Arbeit mit ihnen und insbesondere ihre Edition mit Schwierigkeiten behaftet: Oft betrifft dies schon die Suche nach Briefen, die nicht so selbstverständlich archiviert wurden wie offizielle Dokumente. Probleme bietet oft auch die inhaltliche Entschlüsselung der Schriftstücke, die durch Lücken im Briefwechsel und Fragen zum Kontext erschwert wird. Schwierigkeiten bezüglich des Zustands der Briefe und des Entzifferns schwieriger Handschriften kommen dazu. Ein Beispiel, das sowohl Chancen als auch Risiken der Arbeit mit Briefwechseln illustriert, ist die Korrespondenz zwischen Hans Freiherr von Campenhausen (1903–1989) und Hermann Dörries.5 Die beiden Kirchenhistoriker waren nicht nur Kollegen, sondern enge Freunde. Ihre Korrespondenz umspannt fast 50 Jahre und damit vier politische Systeme.6 Der erste Brief des Briefwechsels datiert auf den 26. Februar 1930, der letzte auf den 2. Oktober 1977. Der überwiegende Teil der Briefe und Postkarten ist mit der Schreibmaschine verfasst, etwa ein Viertel handschriftlich. Unter Abzug der von Hans von Campenhausen gewohnheitsmäßig archivierten Durchschläge ergibt sich ein Bestand von etwa 1000 verschiedenen Schriftstücken. Die Briefe von von Campenhausen aus Dörriesʼ Besitz finden sich im Nachlass von Hermann Dörries im Bundesarchiv in Koblenz.7 Die Gegenstücke, die Briefe von Hermann Dörries, lagern im Familienarchiv der Familie von Campenhausen im Herder-Institut in Marburg.8 Von der Existenz weiterer Schriftstücke, zum Beispiel in anderen Teilen der Nachlässe, ist auszugehen. Die Briefcorpora enthalten neben Briefen von Hermann Dörries und Hans von Campenhausen aneinander auch Briefe der Ehefrauen sowie der Kinder (die jeweils Patenkinder waren) und teilweise auch Briefe von anderen Personen, die man dem anderen zur Ansicht schickte oder die als zugehörig zum Briefwechsel abgeheftet wurden.
5 Zu von Campenhausen vgl. Bernd Moeller, Nekrolog. Hans Freiherr von Campenhausen. 16. 12. 1903 bis 6. 1. 1989, HZ 249 (1989), 740–743; Adolf Martin Ritter, Nachruf Hans Frhr. v. Campenhausen, Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 34 (1989), 113–116; Adolf Martin Ritter, Hans von Campenhausen und Adolf von Harnack, ZThK 87 (1990), 323–339; Wolfgang Wischmeyer, Hans von Campenhausen in Wien, in: Karl Schwarz (Hg.), Zeitenwechsel und Beständigkeit. Beiträge zur Geschichte der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien 1821–1996 (Wien 1997), 209– 215; Christoph Markschies (Hg.), Hans Freiherr von Campenhausen. Weg, Werk, Wirkung, Heidelberg 2008, sowie die autobiografischen Aufzeichnungen Hans v. Campenhausen, Die „Murren“ des Hans Freiherr von Campenhausen: „Erinnerungen, dicht wie ein Schneegestöber“, hg. von Ruth Slenczka, Norderstedt 2005. 6 Wenn man die Besatzungszeit als eigenständiges politisches System wertet. 7 Bundesarchiv N 1271, Nr. 26–28. 8 Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407a-d. Für den Zugang zum Archiv danke ich der Familie von Campenhausen.
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Es handelt sich bei der Korrespondenz insgesamt um eine Vermischung von Beruflichem und Privatem. Privat werden Dinge wie die Kinder, die Lebensumstände oder der jeweilige Gesundheitszustand thematisiert. Diese für die heutige wissenschaftsgeschichtliche Forschung weniger relevanten Abschnitte lassen sich jedoch gut abgrenzen. Im Fokus der fachlich geprägten Abschnitte stehen die jeweiligen Forschungsprojekte und -pläne sowie die Lehrtätigkeit an der Fakultät, Forschungsreisen oder Vorträge. Daneben geht es um Kollegen, Berufungsverfahren, Studierende und Doktoranden und Doktorandinnen. Auffällig ist die großflächige Aussparung des Themas Politik, nicht nur in Zeiten der Diktatur, sondern auch später zu Zeiten der BRD. Offensichtlich gab es hier keinen großen Redebedarf – man war sich in der politischen Grundhaltung weitestgehend einig (vgl. auch unten, Abschnitt 3). In der Zeit des Nationalsozialismus gibt es daneben auch Hinweise darauf, dass politische Diskussionen in Briefen dezidiert vermieden wurden.
2 Hermann Dörries und Hans von Campenhausen – eine Freundschaft unter Theologen im Spiegel ihres Briefwechsels Um diese allgemeinen Bemerkungen an einigen Punkten zu konkretisieren, werden nun einige Szenen der Freundschaft zwischen Hermann Dörries und Hans von Campenhausen im weitesten Sinne chronologisch dargestellt und anhand dieser Beispiele verdeutlicht, welche neuen Erkenntnisse der Briefwechsel hier generiert. Bereits die erste Begegnung des zum Göttinger Stiftsinspektors berufenen Hans von Campenhausens und des Professors Hermann Dörries 1930 begründete die Freundschaft, wie von Campenhausen in seinen Memoiren schildert: Ich war besonders gewarnt worden, mich durch die steife hannöversche Art des vielleicht etwas abweisend wirkenden Prof. Dörries nicht gleich abschrecken zu lassen. […] Die Warnung war überflüssig gewesen. Dörriessens, die damals am Hainholzweg wohnten, nahmen mich freundlich auf, und wir verstanden uns gleich so zwanglos und unmittelbar, daß der Grund zur lebenslänglichen Freundschaft schon in den ersten Stunden gelegt war. Ich empfand die angebliche „Steifheit“ nur als gebildeten Stil einer kultivierten, menschlich freien und persönlichen Umgangsweise, und er hatte vermutlich schon damals für meine ungenierte Lebhaftigkeit den erforderlichen Humor.9
9 Campenhausen, Murren (Anm. 5), 121.
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Direkt nach dieser ersten Begegnung setzt der Briefwechsel ein und offenbart, dass sich Hermann Dörries von Anfang an für den nach Göttingen geholten Nachwuchswissenschaftler von Campenhausen einsetzte. So gab er ihm augenscheinlich den Tipp, dass von Campenhausen durch das Vermieten des vierten Zimmers seiner Dienstwohnung im Stift seine Einkünfte aufbessern könne.10 Dörries vermittelte auch von Campenhausens Antrittsvorlesung in Göttingen zum frühen Wandermönchtum an den Verlag Mohr Siebeck, der den Text in seiner „Sammlung gemeinverständlicher Vorträge“ herausbrachte.11 Nachdem von Campenhausen 1931 geheiratet hatte, gehörten gegenseitige Besuche zum Alltag, wie eine humorvolle Einladung der von Campenhausens zeigt: Dr. theol Hans Freiherr von Campenhausen, weiland Privatdozent der Kirchengeschichte an der Universität Marburg a. L. und Frau geben sich die Ehre, Herrn und Frau Dörries zu Mittwoch, den 5.III.1933 um 7 ½ h zum Essen zu bitten. Menu: 1. Herzliche Begrüßung als hors dʼoevres [sic!]. 2. Etwas zu essen. 3. Etwas zu trinken. 4. Geistiger Auflauf. 5. Rauchwerk ‚Blauer Dunst.‘ 6. Herzlicher Abschied. Eventuellen weiteren Wünschen bitten wir rechtzeitig Ausdruck zu geben; Beschwerden werden auch nachträglich entgegengenommen. Weitere Gäste: fehlen.12
Der geistreiche Humor, den Hans von Campenhausen letztendlich ja auch in seinem Theologenspieß und -spaß in Buchform goss, ist ein durchlaufendes Merkmal des Briefwechsels.13 So antwortete Dörries 1943 auf das Geschenk einer Schachtel Streichhölzer: Der kühnsten Bildkraft unerreichbar, Pandorens Büchse nur vergleichbar, entsteigt aus der papierenen Hülle die unerschöpflich reiche Fülle geheimnisvoller Feuerköpfe, bald gelb, bald grün, bald roter Schöpfe. […]
10 H. v. Campenhausen an H. Dörries, 26. 2. 1930, Bundesarchiv N 1271, Nr. 26. 11 Hans v. Campenhausen, Die asketische Heimatlosigkeit im altkirchlichen und frühmittelalterlichen Mönchtum, (SGV 149), Tübingen 1930. Vgl. H. Dörries an Mohr Siebeck, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nachl. 488, A449, 2, 340. 12 Handschriftlich beschriebene Visitenkarte, Bundesarchiv N 1271, Nr. 26. 13 Vgl. Hans v. Campenhausen, Theologenspieß und -spaß: Kaum 400 christliche und unchristliche Scherze, Hamburg 1973.
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Was wärʼ das für ein Glück zu nennen, könntʼ ich noch Balten-Zigaretten mit den Pariser Alumetten anstecken und zusammen rauchen, in dem Erinnern untertauchen! Dankbar gedenk ich jederzeit geschwundener Gemeinsamkeit und lasse mir mit hundert Feuern treu das Gedächtnis stets erneuern!14
Wie diese Zeilen verraten, währte die gemeinsame Zeit in Göttingen nicht lange. Intensiv setzt der Briefwechsel erst im Jahr 1935 ein, als von Campenhausen Göttingen auf der Suche nach einer Professur verließ. Mehrfach scheiterte er dabei kurz vor dem Ziel an seiner Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche. Das erste Mal war dies 1935 in Gießen der Fall, wo von Campenhausen zuvor den vakanten Lehrstuhl vertreten hatte.15 Als Dörries hörte, dass die Berufung gescheitert war, schrieb er von „Empfindungen schmerzlichen Mitgefühls u. zornigen Ingrimms“.16 Dörries reflektierte, ob er von Campenhausen doch hätte raten sollen, seine Position im Kirchenkampf weniger deutlich zu zeigen.17 Doch er kam zu dem Schluss: „[…] wie hätten Sie eines Rufes froh werden können, der nur um den Preis des Schweigens zu haben war!“ 18 In dieser ersten Zeit ist der Briefwechsel durch ein Gefälle bestimmt, insofern Dörries als der in seiner Position gefestigte Professor versuchte, dem jungen Nachwuchswissenschaftler mit seiner Karriere zu helfen. Dabei trat Dörries keinesfalls paternalistisch auf, sondern behandelte von Campenhausen von Beginn an als ebenbürtig. Er nutzte jede Gelegenheit, für von Campenhausen zu werben oder ihm Buchaufträge zu vermitteln.19 Deutlich wird dies auch 1937, als eine weitere
14 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 25. 12. 1943, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407b, 30. Hier wird auf von Campenhausens baltische Herkunft und seine Stationierung in Paris angespielt. 15 Vgl. Campenhausen, Murren (Anm. 5), 157. 16 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 21. 8. 1935, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407a, 1. 17 „[…] auch ich habe mich von neuem gefragt, ob ich es nicht an freundschaftlicher Entschiedenheit fehlen ließ, Sie vor einem Weg zu warnen, der fast notwendig zu diesem Ausgang führen mußte.“ Ebd. 18 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 21. 8. 1935, ebd. 19 Das Angebot, zu Kriegsbeginn ein Lutherbuch mit Texten für Soldaten zu kompilieren, lehnte von Campenhausen jedoch ab. Vgl. H. Dörries an H. v. Campenhausen, 2. 9. 1939, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407a, 42 und H. v. Campenhausen an H. Dörries, 9. 10. 1939, Bundesarchiv N 1271, Nr. 26.
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Berufung von Campenhausens nach Heidelberg scheiterte. 20 Von Campenhausen, der bereits in Heidelberg weilte, informierte Dörries sofort und bat ihn, sich für eine Rückkehr von von Campenhausen ins Stift einzusetzen.21 Dörries schrieb als Antwort: „Gegen die politischen Beschuldigungen sollten Sie mit äußerster Schärfe angehen und weithin hörbar Ihrer Entrüstung Ausdruck geben.“ 22 Im Folgenden versuchte Dörries, von Campenhausen neue berufliche Perspektiven zu eröffnen, etwa als Leiter einer geplanten „kirchlichen Laienhochschule“ oder als Pfarrer.23 Von Campenhausen stand der Idee eines Pfarrerdaseins jedoch eher skeptisch gegenüber und bemerkte: „Ja – wenn ich nur Ihr Vertrauen in meine ‚grundsätzlichen‘ – ‚praktischen‘ Fähigkeiten teilen könnte!“ 24 Während von Campenhausen sich also von Vertretungsstelle zu Vertretungsstelle rettete und 1941 schließlich zur Wehrmacht eingezogen wurde, blieb Dörries in Göttingen relativ unangefochten.25 Neben seiner publizistischen Tätigkeit und seinem Einsatz für Kollegen war es auch sein Engagement für die Studierenden vor Ort, das ihn als BK-zugehörig auswies. Weitgehend unbeleuchtet ist bisher Dörriesʼ Aktivität in der Evangelischen Studentengemeinde, in der sich gerade BK-Studierende trafen. Hier hielt Dörries Bibelstunden – bemerkenswert für den Professor, der wohl aufgrund seiner fehlenden Ordination in keiner anderen Lebensphase als Prediger auftrat. Die Aufgabe fiel dem als steif geltenden Dörries schwer, wie er an von Campenhausen berichtete: Übrigens ist das etwas, was mich bekümmert, ich meine die Bibelstunden: eine zweite in diesem Semester, die ich übernommen hatte, da es an Leuten fehlt, über Johannes 14, 6 – es war viel schwerer als ich dachte – gelang schon darum nicht recht, da ich ablas – ich trau mich nicht, frei zu sprechen, was doch unumgänglich ist. Nun meint meine Frau, ich
20 Vgl. Campenhausen, Murren (wie Anm. 5), 170; Peter Gemeinhardt, Hans von Campenhausen (1903–1989) als Stiftsinspektor, in: Bernd Schröder/Heiko Wojtkowiak (Hg.), Stiftsgeschichte(n). 250 Jahre Theologisches Stift der Universität Göttingen (1765–2015), Göttingen/Bristol 2015, 221– 234, hier 222 f. Vgl. zu den Vorgängen auch Leonore Siegele-Wenschkewitz, Die Theologische Fakultät im Dritten Reich ›Bollwerk gegen Basel‹, in: Wilhelm Doerr/Peter A. Riedl (Hg.), Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986: Band III: Das Zwanzigste Jahrhundert 1918–1985, Berlin/Heidelberg 1985, 504–543, hier 536. 21 Vgl. H. v. Campenhausen an H. Dörries, 11. 4. 1937, Bundesarchiv N 1271, Nr. 26. 22 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 13. 4. 1937, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407a, 3. 23 Vgl. [Schuster] an A. Marahrens, 12. 5. 1937, Bundesarchiv N 1271, Nr. 26. 24 H. v. Campenhausen an H. Dörries, 19. 5. 1937, Bundesarchiv N 1271, Nr. 26. 25 Lediglich eine Aufsatzzensur und eine – später fallen gelassene – Vorladung vors NSDAPParteigericht sind als signifikante Angriffe auf Dörries nachgewiesen, vgl. dazu meine Dissertation (s. Anm S. 69) sowie, Hansjörg Buss, Wissenschaft − Ausbildung − Politik. Die Göttinger Theologische Fakultät in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, Göttingen 2021, 340–342.
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sollte es aufgeben, ich hätte nun einmal keine Gabe dafür. Sie hat wahrscheinlich recht: ich bin zu trocken und langweilig dazu. Andererseits halte ich es so durchaus für Pflicht auch jedes akademischen Theologen. So weiß ich nicht wirklich, was ich tun soll.26
Von Campenhausen antwortete: Wie sehr ich Ihre Nöte mit den Bibelstunden nachempfinden kann, das werden Sie mir glauben.[…] Aber ich stimme Ihnen trotzdem darin zu, daß ein gelegentliches Erscheinen auf der Kanzel oder in der Bibelstunde für einen theologischen Lehrer keine ‚Spezialität‘, sondern eine Pflicht ist, ein Bekenntnis, das er neben seiner wissenschaftlichen Arbeit und gewissermaßen zu ihrer Ergänzung ab und zu abzulegen einfach verpflichtet ist, und das in den vergangenen Jahrzehnten zum Schaden der Sache und des Standes allzu oft unterblieben ist.27
Dass hier das Wort Bekenntnis auftaucht, ist sicher kein Zufall. Dass Dörries in diesen Jahren als Verkündiger auftrat, war vor allem der Tatsache geschuldet, dass er die Zeit als eine besondere ‚Kampfzeit‘ wahrnahm und das Bekenntnis durch die staatlichen Eingriffe in die Kirche gefährdet sah. Nur unter dieser Voraussetzung lässt sich erklären, wieso Dörries sein sonst – beispielsweise auch später als Abt von Bursfelde – selbst auferlegtes striktes Predigtverbot aufweichte. Seine artikulierten Zweifel in Bezug auf das eigene Auftreten waren durchaus kein Bescheidenheitstopos, sondern sind Ausdruck einer im Briefwechsel immer wieder dokumentierten Unzufriedenheit mit dem eigenen öffentlichen Auftreten. 1945, nach der Kapitulation, wurde von Campenhausen, kaum wieder in Heidelberg angekommen, eine Professur angeboten.28 Tatsächlich hätte der nun vollständig rehabilitierte Theologe 1945 genauso gut nach Göttingen gehen können, denn hier träumte Dörries nach der Entlassung seines Kollegen Martin Gerhardt (1894–1952) von einer neuen Fakultät mit von Campenhausen. Er schrieb: Es ist garnich[t] auszudenken, wie schön es werden kann, wenn Sie wirklich – und warum sollte es nun nicht werden? – kommen! Ob es gelingt, für Hirsch Thielicke zu bekommen, für Bauer, der sich emeritieren lassen will, Stählin, und als praktischen Theologen entweder Thielicke […] oder etwa Merz oder Trillhaas? Was könnte das für eine Fakultät werden, wenn etwa noch v. Rad als Alttestamentler hinzukommt!29
Doch diese Träume scheiterten letztendlich an Lappalien: Die Briefe, die sich Dörries und von Campenhausen im Sommer 1945 hin und her schickten, erreich26 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 25. 11. 1939, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407a, Nr. 45. 27 H. v. Campenhausen an H. Dörries, 8. 12. 1939, Bundesarchiv N 1271, Nr. 26. 28 Vgl. Campenhausen, Murren (Anm. 5), 250 f. 29 Vgl. H. Dörries an H. v. Campenhausen, 17. 7. 1945, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407b, 39.
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ten ihre jeweiligen Empfänger nicht. Als von Campenhausen von der möglichen Berufung nach Göttingen erfuhr, hatte er sich in Heidelberg bereits verpflichtet.30 1946 wandte sich das Blatt jedoch: Nach einer abgelehnten Berufung nach Marburg konnte von Campenhausen in Heidelberg die Einrichtung eines zweiten kirchengeschichtlichen Lehrstuhls erwirken.31 Das für das Berufungsverfahren von von Campenhausen erstellte Gutachten zu Dörries ging neben dessen Veröffentlichungen auch dezidiert auf seine politische Haltung ein: Nach einer ganz kurzen Mitgliedschaft bei den Deutschen Christen gehörte Dörries seit 1935 mit Entschiedenheit der bekennenden Kirche an und wurde dadurch für die Fakultät und Landeskirche die wichtigste Persönlichkeit an der Universität, der allen Anfechtungen zum Trotz unermüdlich die Studenten sammelte, Aufrufe unterzeichnete, Kritik übte und unerschrocken für die Sache der Kirche eintrat.32
Dieses Gutachten an sich ist schon dadurch interessant, dass es einen der wenigen Belege für Dörriesʼ Mitgliedschaft bei den Deutsche Christen liefert. Dass Dörries im Frühjahr 1933 öffentlich seine Sympathie zu den DC betonte – auch wenn kein offizieller Nachweis der Mitgliedschaft existiert –, kann nach den Untersuchungen von Hansjörg Buss als gesichert gelten.33 Dörries’ spätere Einschätzung der Lage war jedoch anders und wird in der Reaktion auf das Gutachten deutlich, das ihm durch von Campenhausen unter der Hand zuging. Dörries schrieb: 1) habe ich den DC nie angehört. Als ich mich durch Hirsch in Gegenwart Mattiats zur Zustimmung zu den angeblichen Zielen Müllers bestimmen ließ, bedeutete das noch keine Eintrittserklärung, die denn auch durch einen vier Wochen später geschriebenen Absagebrief ersetzt wurde. Mitglied war ich nie, habe mich auch nie als DC betätigt. […] 2) bin ich nicht erst 1935, sondern 1933, einige Wochen vor der Sportpalastversammlung, der BK beigetreten: alter Kämpfer!34
Diese Selbstauskunft von Dörries ist bemerkenswert. Dörries gibt zu, dass er gegenüber Emanuel Hirsch und Eugen Mattiat (1901–1976), damals Landesleiter der DC, eine Sympathieerklärung für den Reichsbischofskandidaten der DC, Ludwig Müller, abgegeben hatte und sich später genötigt sah, sich schriftlich von den DC zu distan-
30 Vgl. die Briefe aus dem Sommer/Herbst 1945 in Bundesarchiv N 1271, Nr. 26 und Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407b. 31 Vgl. Campenhausen, Murren (Anm. 5), 283. 32 Gutachten zu Hermann Dörries, 27. 12. 1946, in Universitätsarchiv Heidelberg B-7149. 33 Vgl. Buss, Wissenschaft (Anm. 25), 196 sowie seinen Beitrag in diesem Band. 34 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 19. 12. 1946, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407b, 54.
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zieren.35 In der Rückschau bestreitet Dörries nun jedoch, dass dies als Mitgliedschaft zu verstehen gewesen sei. Vermutlich ist die Betonung dieses Sachverhalts Dörriesʼ späterem Selbstverständnis geschuldet: In den Jahren des Kirchenkampfs trat Dörries wiederholt als entschiedener Gegner der DC auf.36 Dass er selbst einmal mit ihnen sympathisiert hatte, passte damit nicht gut zusammen.37 Doch weniger als die Mitgliedschaft bei DC oder BK war es die NSDAPMitgliedschaft, an der Dörriesʼ Berufung nach Heidelberg zunächst scheiterte: Am 4. Februar 1947 musste von Campenhausen die traurige Nachricht überbringen, dass statt Dörries Hanns Rückert (1901–1974) berufen worden war und dass Dörriesʼ Parteimitgliedschaft für dessen Ablehnung ausschlaggebend gewesen sei.38 Wie sehr diese Ablehnung Dörries schmerzte, wird aus einem Brief seiner Frau ersichtlich, in dem sie von Campenhausen vorwarf, Dörriesʼ Einschränkungen während der NS-Zeit wie „Schriftverbot, Redeverbot (außer Kolleg), Anzeige wegen ‚Sabotage am Aufbauwerk‘ u. Anzeige wegen ‚fortgesetzten Verstoßes gegen das Heimtückegesetz‘“ nicht genug zur Sprache gebracht zu haben. Sie schrieb: „Ich wüsste hier an der Universität keinen Kollegen (außer den Juden), der so Schwierigkeiten gehabt hätte, wie mein Mann.“ 39 Dörries drückte sich in seinem eigenen Brief weniger emotional, aber im Kern doch ähnlich aus: Anfangs war neben der Trauer und doch auch gleich einem leisen Gefühl, es wäre „Vernunft in den Dingen“, eine Regung des Ärgers nicht abzuweisen, nach den Jahren, in denen ich nicht berufungsfähig war, weil ich nicht richtig lag, nun wieder in dieser Lage zu sein, und diesmal ohne zureichenden Grund.40
35 Zu Mattiat vgl. Isabella Bozsa/Carola Lipp, Eugen Mattiat (1901–1976): Vom „Deutschen Christen“ zum Volkskundeprofessor und wieder zurück ins Pastorat: Fallstudie einer Karriere im Nationalsozialismus (Göttinger kulturwissenschaftliche Studien 10), Göttingen 2014. 36 Beispielsweise in Hermann Dörries, Das Wort Gottes in der Geschichte, Evangelische Wahrheit (1934), 210–215. 37 Fragen wirft auch Dörriesʼ Auskunft auf, er sei 1933 in die Bekennende Kirche eingetreten, was faktisch nicht möglich gewesen sein kann, da diese sich erst 1934 konstituierte. Eventuell meint er hier die Jungreformatorische Bewegung, der er zumindest durch die Beteiligung an der Zeitschrift Junge Kirche nah stand. Wahrscheinlicher erscheint als Eintrittsdatum 1935: Der wichtigste Zeuge ist hier einmal mehr von Campenhausen, der in seinen Memoiren von einem fast gleichzeitigen Eintritt von ihm und Dörries in die BK im Frühjahr 1935 berichtet. Vgl. Campenhausen, Murren (Anm. 5), 157. 38 Vgl. H. v. Campenhausen an H. Dörries, 4. 2. 1947, Bundesarchiv N 1271, Nr. 27. 39 Annemarie Dörries an H. v. Campenhausen, 13. 2. 1947, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407b, 58. 40 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 15. 2. 1947, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407b, 61.
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Dörriesʼ nahm diese Vorgänge offensichtlich sehr persönlich. Zwar präsentierte er sich in der Öffentlichkeit nicht offensiv als Opfer des Nationalsozialismus, doch wenn er genötigt wurde, betonte er durchaus alles Übel, das ihm in dieser Zeit widerfahren war. Tatsächlich ermöglichte ihm dieses Selbstbild einen relativ offenen Umgang mit der jüngsten Vergangenheit. Dass er Zweifel an seinem Verhalten im Nationalsozialismus hegte, spielt nur ein einziges Mal im Briefwechsel mit von Campenhausen eine Rolle, als es um die Entnazifizierung geht. In dieser hatte die Spruchkammer Dörries zunächst als Mitläufer eingestuft und dabei vor allem auf seine NSDAP-Mitgliedschaft verwiesen.41 Wieder sah sich Dörries zu Unrecht verurteilt und schrieb an von Campenhausen: Kurzum, da mein angebotener Austritt aus der Partei nicht angenommen wurde, habe ich es recht darauf angelegt, hinausgeworfen zu werden. Nach Niemöllers Rede sollten Theologen nicht austreten, um der Partei keine Vorwände zu liefern, aber sie sollten reden − was ich nach meinen bescheidenen Kräften getan habe. (Daß ich wünschen muß, es noch mehr getan zu haben, ist eine Sache für sich und geht jedenfalls eine solche Spruchkammer nichts an; die hat gar kein Recht, mehr zu verlangen!)42
Dörries konnte also unterscheiden zwischen dem, was er von sich selbst moralisch verlangen konnte und den Maßstäben, die eine öffentliche Spruchkammer anlegen sollte. Nach letzten sah er sich eindeutig als entlastet an und konnte nach einem Widerspruch auch das Entnazifizierungsverfahren als Entlasteter verlassen. Nachdem Hanns Rückert abgelehnt hatte, wurde Dörries doch noch nach Heidelberg berufen.43 Daraufhin begann ein intensiver Entscheidungsprozess, in dem Dörries zwischen der Verpflichtung, als Hannoveraner in Göttingen zu bleiben, und der Aussicht, in Heidelberg in der besser ausgestatteten amerikanischen Zone zusammen mit dem besten Freund forschen und lehren zu können, hinund hergerissen war. Schließlich, nach Besprechungen mit dem Landesbischof Hanns Lilje und vielen Kollegen, siegte Dörriesʼ Loyalität zur Hannoverschen Landeskirche. An von Campenhausen schrieb er: So ist die Entscheidung denn gefallen: ich darf nicht zu Ihnen kommen! Wie schmerzlich ist mir der Verzicht gewesen und wird es immer neu werden! […] Da aber meine Heimatkirche […] erklärte, sie müsse auch solch ein Opfer von mir fordern, und die Fakultät das gleiche tut, so hielt und halte ich mich verpflichtet, allen anderen Wünschen zu entsagen.44
41 Unterlagen zu Dörriesʼ Entnazifizierungsverfahren finden sich in Bundesarchiv N 1271, Nr. 17. 42 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 7. 7. 1947, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407b, 80. 43 Vgl. H. v. Campenhausen an H. Dörries, 13. 6. 1947, Bundesarchiv N 1271, Nr. 27. 44 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 14. 10. 1947, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407b, 113.
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Dass die Berufungen in der Nachkriegszeit nicht zustande kamen, ist für den Briefwechsel natürlich ein Glücksfall, der sonst sicher in dieser Form nicht weiter existiert hätte. Ein Thema, das von Campenhausen und Dörries in der Zeit der Bundesrepublik berührte, waren Projekte im Rahmen wissenschaftlicher Akademien. Durch die Arbeit an der Makarios-Edition war Dörries eng mit der Deutschen Akademie der Wissenschaften verbunden. Allerdings bestand diese auf dem Gebiet der DDR, was sich mit der Zeit zu einem Problem entwickelte: Die Akademie wurde immer stärker ideologisch in den ostdeutschen Staat eingebunden, bis sie 1972 schließlich in Akademie der Wissenschaften der DDR umbenannt wurde.45 Als Dörries 1959 in die Kommission für Spätantike Religionsgeschichte (die Nachfolgerin der 1891 von Adolf von Harnack und Theodor Mommsen begründeten Kirchenväterkommission) gewählt wurde, schrieb ihm von Campenhausen, dies sei ein „‚Politicum‘ ersten Ranges und […] doch wissenschaftlich gewiß keine Notwendigkeit […].“ 46 Dörries rechtfertigte sich: Was mich bestimmt, war die Meinung, die ja auch von den westdeutschen Akademien vertreten wird, man solle alles tun, um die Verbindung mit der Berliner Akademie aufrecht zu halten. Solange nun die Kommission arbeitet […] und die Arbeit sachlich bleibt, besteht m. E. die Pflicht, die Tradition zu wahren. […] Das entschied für mich, auf die naheliegende Gefahr hin, daß Missbrauch damit getrieben werde und es politisch mißdeutet wird. Das muß man in Kauf nehmen, im Bewußtsein, so weit ab von der östlichen Ideologie zu stehen wie kaum ein anderer. […] Dagegen habe ich in der Tat kein großes Zutrauen zu dem Westplan.47
Mit dem „Westplan“ waren die zu jener Zeit akuten Bestrebungen gemeint, in der rein westdeutschen Max-Planck-Gesellschaft ein „Harnack-Institut“ zu gründen, das patristische Editionen herausgeben sollte.48 Von Campenhausen war in dieses Projekt stark involviert und erläuterte Dörries die Beweggründe: Ich glaube […] nicht, daß von Berlin jetzt, wo Aland raus ist 49 und die Ausländer sich immer mehr zurückziehen, noch Wesentliches zu erwarten sein wird. Die Führung wird nun also
45 Vgl. zu diesem Prozess Peter Nötzoldt, Die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin in Gesellschaft und Politik. Gelehrtengesellschaft und Großorganisation außeruniversitärer Forschung 1946–1972, in: Jürgen Kocka/ders. (Hg.), Die Berliner Akademien der Wissenschaften im geteilten Deutschland 1945–1990, Berlin 2002, 39–80. 46 H. v. Campenhausen an H. Dörries, 23. 8. 1959, Bundesarchiv N 1271, Nr. 27. 47 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 30. 8. 1959, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407c, 78. 48 Vgl. H. v. Campenhausen an H. Dörries, 12. 7. 1959, Bundesarchiv N 1271, Nr. 27. 49 Der Leipziger Neutestamentler Kurt Aland (1915–1994) war 1958 in den Westen geflohen, vgl. Martin Hengel, Laudatio Kurt Aland, in: ders., Theologische, historische und biographische Skizzen. Kleine Schriften VII, hg. von Claus-Jürgen Thornton/Jörg Frey, Tübingen 2010, 348–363, hier 358.
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ganz an Unternehmungen wie Sources chrétiennes und CC [Corpus Christianorum] übergehen – die Katholiken haben auch hier das Rennen gemacht, und wir Deutschen sind endgültig abgehalftert, was wir vielleicht auch verdient haben.50
Von Campenhausen und Dörries hatten also durchaus unterschiedliche Vorstellungen, wie mit der Akademie in Ost-Berlin zu verfahren sei. Dörries blieb ihr so lange wie möglich treu.51 Die Max-Planck-Gesellschaft finanzierte ein „Harnack-Institut“ letztendlich nicht, doch 1960 konnte die „Patristische Kommission der Westdeutschen Akademien der Wissenschaften“ unter dem Vorsitz von Hans von Campenhausen gegründet werden, der schließlich auch Dörries bis 1976 angehörte.52 Die Korrespondenz illustriert auch die späte Wiederbegegnung zwischen Dörries und Emanuel Hirsch, die sich in einem eigenen Briefwechsel niederschlug, der bereits von Thomas Kaufmann ediert worden ist.53 Vom ersten Wiedersehen 1968 nach 23 Jahren berichtet Dörries an von Campenhausen: Sonntag, […], Besuch beim 80jährigen Hirsch, das erste Wiedersehen nach 1945. Offenbar freute es ihn und er sprach 1 ½ Stunden lang davon, wie gut sich alles, was andere an ihm sündigten, für ihn gefügt habe. Alles beredt und in seiner Weise fesselnd, aber erschreckend egoman. […] Es hat etwas Erschreckendes, wie niemand in seiner Umgebung wagt, ihm Einwände zu machen und er von allen Seiten nur seine Größe bestätigt erhält. Trotz allem war der Anblick des blinden, wie einst redemächtigen und in allem unveränderten Mannes bewegend und beklemmend zugleich.54
Die unbedingte Treue zu seinem Idol hielt Dörries auch seinem späteren Kollegen Ernst Wolf (1902–1971) vor, der ein Barth-Schüler war: 50 H. v. Campenhausen an H. Dörries, 30. 8. 1959, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407c, 78. 51 Auch als die Kommission für Spätantike Religionsgeschichte im Rahmen der Akademiereform 1968 aufgelöst wurde, wurde Dörries Teil des sich bildenden transnationalen Herausgebergremiums der „Griechischen Christlichen Schriftsteller“, vgl. Johannes Irmscher, Das Korpus der „Griechischen Christlichen Schriftsteller“ − Historie, Gegenwart, Zukunft, in: ders./Kurt Treu (Hg.), Das Korpus der griechischen christlichen Schriftsteller: Historie, Gegenwart, Zukunft, Berlin 1977, 1–13, hier 2. Heute wird diese Reihe von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften fortgeführt. 52 Vgl. zu Campenhausens Vorsitz Ritter, von Campenhausen (Anm. 5), 324. Im Bundesarchiv N 1271, Nr. 39 lagern Unterlagen zu den Vorgängen der Kommission in den 1970er Jahren, die darüber Aufschluss geben, dass das Problem der Finanzierung permanent virulent war. 53 Vgl. Thomas Kaufmann, II. Anmerkungen zu generationsspezifischen Bedingungen und Dispositionen, in: ders./Harry Oelke (Hg.), Evangelische Kirchenhistoriker im „Dritten Reich", Gütersloh 2002, 32–62. Tatsächlich stammen einige der Erwiderungen von Dörries an Hirsch in dem von Kaufmann edierten Brief, der auf eine spätere zweite Begegnung folgte, ursprünglich von von Campenhausen, mit dem sich Dörries beriet, vgl. H. v. Campenhausen an H. Dörries, 30. 6. 1970, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407d, 121. 54 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 17. 6. 1968, ebd., 73.
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Gespräche mit Hirsch haben gewiß manchmal eine verwandte Funktion wie die mit Wolf, sofern beide kluge und fanatische Repräsentanten eines nicht von ihnen selbst erdachten Systems sind. (Ob W. die gleiche Treue seinem Helden beweisen wird, wie Hirsch seinem Hitler, den er noch immer für den Größten aller Deutschen ansieht?)55
Dörries, der sich selbst keiner Schule zurechnete, hatte mit keinem seiner beiden kirchenhistorischen Kollegen privat ein gutes Verhältnis, der Umgang an der Fakultät blieb aber höflich. Natürlich nahm von Campenhausen auch Anteil an Dörriesʼ Lebensprojekt, der Beschäftigung mit den Makarios-Homilien. Hier lässt sich aus den Briefen nicht zuletzt herauslesen, wie sehr Dörries über der Beschäftigung mit den Handschriften immer wieder aus dem Zeitplan geriet. Nachdem Dörries es 1941 endlich geschafft hatte, die von ihm neu gesammelten Handschriften der Homilien als Regesten zu publizieren,56 plante er einen weiteren Band, der die Theologie der Texte und ihres Autors Symeon von Mesopotamien auslegen sollte. Bereits 1941 schilderte er sein Bild von Symeon von Campenhausen: Dann käme doch wohl anstandslos mein Heiliger selber daran? Und zwar erst einmal das wenige, was an Lebensumständen und dgl. zu finden ist und dann, gleich mit seinen 4 von mir konstruierten Entwicklungsstadien, die Strothmann weise belächelt, die ‚Lehre‘? (I) Einsatz: will das Mönchtum reformieren. II) reformiert statt dessen seine Messalianer. III) gerät ins Handgemenge mit den kirchlichen Mönchen. IV) der große Konflikt. Eingestreut dazwischen Manichäerkritik usw.) Oder was nicht gänzlich verschieden wäre – soll ich ihn gleichsam aufblühen lassen: Knospe, Blüte, Hagebutte? (dh. zeigen, warum er Messalianer wird (geworden sein dürfte!), wo ihm sein Problem liegt, wie sich seine Entdeckung nach allen Seiten entfaltet. Erst danach, wenn man sein System hat, wie es mit der Umwelt zusammenstößt).57
Es ist spannend, diese Darstellung des Symeon mit der erst 30 Jahre späteren, posthum erschienenen Theologie des Makarios/Symeon zu vergleichen.58 Hatte Dörries in den 40er Jahren Symeon noch als Reformer des Messalianismus verstanden, so rückte er im Verlauf von 30 Jahren von dieser These ab. 1978 formulierte er nur noch ein großes Fragezeichen in Bezug auf die Beziehung zwischen Makarioshomilien und Messalianern. Doch gerade dadurch eröffnete er das Feld für die nächste Generation der Makariosforschung. Makarios/Symeon war für Dörries wirklich ein
55 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 2. 8. 1959, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407c, 76. 56 Hermann Dörries, Symeon von Mesopotamien. Die Überlieferung der messalianischen „Makarios“-Schriften (TU 55,1), Leipzig 1941. 57 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 10. 9. 1941, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407a, 78. 58 Hermann Dörries, Die Theologie des Makarios-Symeon (AAWG.PH III, 103), Göttingen 1978.
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Lebensprojekt, das ihn von seiner Dissertation 1922 bis zu seinem Tod begleitete. Von Campenhausen war dabei stets als interessierter Leser an seiner Seite, konnte jedoch auch nicht verhindern, dass sich die Arbeit immer weiter hinzog. 1972 schrieb Dörries: „Ja, Marakatios!59 In der Rückschau merke ich, daß ich manche unnötigen Umwege gemacht und Zeit verloren habe, die nicht wieder einzubringen ist.“ 60 Zu diesen „Umwegen“ gehörten beispielsweise die Bücher zu Basilius von Caesarea und zu Gottfried Arnold, die beide aus der Arbeit an den Makarioshomilien resultierten.61 Als Dörries Witwer geworden war, machten er und die von Campenhausens oft zusammen Urlaub in Bad Karlshafen. Am Lebensende von Dörries zeigt der Briefwechsel, dass der Professor nach der vorläufigen Beendigung seines Symeonbuches durchaus neue Pläne hatte: Dörries wollte Anfang 1977 „die Messalianer sich selbst überlassen, obwohl da noch manches aufzuarbeiten wäre, und mit einem Salto (hoffentlich nicht mortale) zu Luther zurückkehren – diesmal zum ‚Sendbrief‘, der die Bauernschriften beschließt und von dem niemand schreibt.“ 62 Doch dieses Projekt kam nicht mehr zustande, denn Dörries starb im November 1977. Die letzte Seite in den Akten des Herder-Instituts ist eine Danksagungskarte als Reaktion auf den Kondolenzbrief von von Campenhausen, auf der Dörriesʼ Sohn Reinhard handschriftlich vermerkte: „Du weißt, wie Vater zu Dir stand.“ 63
3 Schluss Die Freundschaft von Hermann Dörries und Hans von Campenhausen hatte über 40 Jahre Bestand. Worauf gründete sich die lebenslange Verbundenheit? Der baltische Freiherr, der als Jugendlicher die russische Revolution und die Ermordung seines Vaters hatte miterleben müssen, hatte zweifelsohne andere familiäre Voraussetzungen als der Hannoveraner Pfarrerssohn. Als von Campenhausen 1922 Abitur machte, reichte Dörries bereits seine Promotion ein. Während Dörries mit Karl
59 Im gemeinsamen Briefwechsel nutzten von Campenhausen und Dörries diese Verballhornung des Namens Makarios. 60 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 4. 1. 1972, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407d, 162. 61 Hermann Dörries, De spiritu sancto. Der Beitrag des Basilius zum Abschluß des trinitarischen Dogmas (AAWG.PH III, 39), Göttingen 1956; Hermann Dörries, Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold (AAWG III, 51), Göttingen 1963. 62 H. Dörries an H. v. Campenhausen, 8. 2. 1977, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407d, 213. 63 Ebd., 294.
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Müller und Adolf Jülicher zwei Zeitgenossen von Adolf von Harnack als Lehrer wählte, war Hans von Campenhausen von dem Harnack-Schüler Hans von Soden geprägt worden. Hermann Dörriesʼ Fixpunkt in der Kirchengeschichte war stets das Individuum, von Campenhausens Interesse galt stattdessen größeren Ideen, wie den Vorstellungen vom Martyrium oder von der Spannung zwischen Amt und Charisma.64 In der Rückschau berichtet von Campenhausen trotz alledem, dass die Freundschaft mit Dörries bereits in der ersten Begegnung im Jahr 1930 fußte und sich schon wenig später „wirklich intim gestaltete“.65 Er reflektiert, man habe sich „doch niemals ernsthaft missverstanden“, und begründet dies mit „der grossen Verschiedenheit unserer Naturen“.66 Sowohl Dörries als auch von Campenhausen waren, so dessen Einschätzung, ihrem „Wesen nach konservativ“,67 soweit dies die Ablehnung der nationalistischen Theologie der Hollschule und die kritische Einstellung zur dialektischen Theologie betraf. Allerdings galt Dörries vom Wesen her als trocken und zurückhaltend und beschrieb sich auch selbst im Vergleich mit von Campenhausen in diesem Sinne: „Aber ich bin ohnehin ein Eremit, während Sie ja Kraft und Lust zum öffentlichen Leben haben.“ 68 Trotz seiner Lebhaftigkeit zeigt sich von Campenhausen im Briefwechsel aber durchweg als bescheidene, selbstkritische und demütige Person, genau wie auch Dörries. Es ist also am Ende kein Wunder, dass Dörries mit von Campenhausen besser zurechtkam als mit Figuren wie Emanuel Hirsch oder Ernst Wolf, die Dörries allein durch ihr Charisma abschreckten. Abschließend kann man feststellen, dass sich in von Campenhausen und Dörries ‚zwei gefunden hatten‘, die viele gemeinsame Interessen und Überzeugungen vereinten, die sich in ihren Forschungsinteressen nicht ins Gehege kamen und die vom Gemüt zueinander passten. Im Findbuch des Herder-Instituts ist dazu
64 Vgl. Christoph Markschies, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Ideengeschichte – zum Werk Hans von Campenhausens, in: ders., von Campenhausen (Anm. 5), 9–27, hier 11. 65 Vgl. Campenhausen, Murren (Anm. 5), 212.137. Vgl. auch H. v. Campenhausen an H. Dörries, 15. 7. 1970, Bundesarchiv N 1271, Nr. 28: „Ich denke an den ersten Besuch im Jahre 1930, da mir in Ihrem Hause wider allen Erwarten und gegen alle guten Ratschläge und Warnungen sogleich das Herz aufging und jedes Gefühl der Befangenheit und Fremdheit wich“. Ähnlich äußerte sich auch Dörries: „Mein Vertrauen stand von Anfang an fest und ist nie wankend geworden, sondern wurde immer wieder neu beschenkt, mit Unerwartetem und Beglückendem.“ H. Dörries an H. v. Campenhausen, 14. 12. 1968, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407d, 84. 66 H. v. Campenhausen an H. Dörries, 8. 1. 1960, Bundesarchiv N 1271, Nr. 27. 67 Campenhausen, Murren (Anm. 5), 150. 68 H. Dörries an H. v. Campenhausen, [?].12.1969, Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407d, 109.
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folgende kleine Anekdote – vermutlich von Hans von Campenhausens Sohn Axel – überliefert: „Einmal, schon nach dem Kriege, entschieden sie, sich künftig zu dutzen [sic!]. Das gestaltete sich so schwierig, daß nach einiger Zeit einvernehmlich die Rückkehr zur alten Anredeform beschlossen wurde.“ 69 Bei der zukünftigen Forschung zu Hermann Dörries oder Hans von Campenhausen ist ihr Briefwechsel eine unverzichtbare Quelle. Er enthält eine Fülle an neuen Informationen: Dies betrifft die Forschungsprojekte beider Beteiligter und ihre Einstellung zum deutschen und internationalen Wissenschaftsbetrieb sowie wichtige Aussagen zur Selbstwahrnehmung in Gegenwart und Vergangenheit. Gerade Reflektionen über das eigene Verhalten im Nationalsozialismus lassen sich so kaum in anderen Quellen finden. Der Briefwechsel bietet durch die vielen Erwähnungen von Projekten und Kollegen auch Informationen zur Geschichte der Kirchengeschichtsschreibung im Deutschland des 20. Jahrhunderts allgemein. Es ist daher durchaus in Betracht zu ziehen, den Briefwechsel langfristig für die Forschung leichter zugänglich zu machen. Da die Briefe größtenteils maschinenschriftlich vorliegen, wäre eine digitale Bereitstellung der Briefe ein erster Schritt. Aus der Fülle der Quellen, die wir für die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts besitzen, stechen Briefwechsel wie der hier vorgestellte heraus. Auch wenn für ihre Erschließung eine intensive Einarbeitung in die Leben der Korrespondenten und die Kontexte der Zeit nötig ist, lohnt sich dieser Aufwand, da sich in Briefen Gedankenprozesse, Handlungsmotive und nicht zuletzt simple Informationen in einer Fülle niederschlagen, die oft ihresgleichen sucht. Es ist zu bedauern, dass mit der Einführung der Telefonie und des Internets Quellen dieser Art in der jüngsten Vergangenheit auszusterben scheinen.
69 Vgl. Findbuch Familienarchiv von Campenhausen, Herder-Institut Marburg.
Hermann Dörries und seine kirchengeschichtlichen Arbeitsfelder
Adolf Martin Ritter
Hermann Dörries als Erforscher der Kirchen- und Dogmengeschichte der Spätantike Reinhard Staats hat seinen Beitrag zu der Dörries-Tagung von vornherein als einen persönlichen Rückblick angelegt und angekündigt. Ich möchte daran nicht nur formal anknüpfen, weil das eben im Programm des Dörriesgedenkens 2020/ 2021 so vorgesehen war. Vielmehr will ich in meinem Beitrag ebenfalls mit einem persönlichen Rückblick wenigstens einsetzen. Mit anderen Worten habe ich vor, zunächst auf den Beginn meiner Beziehung zu dem Lehrer Hermann Dörries1 zu sprechen zu kommen, in der Überzeugung, dass dies auch der Verdeutlichung der Zeitumstände (des καιρός, der ihm stets so wichtigen „Stunde“) dienlich ist, mit denen wir es in dieser Publikation durchweg zu tun haben. H. D. war wohl, so will es mir in der Rückschau erscheinen, kaum weniger für mich prägend als mein „Doktorvater“ Hans von Campenhausen. Durch die Begegnung mit diesem war allerdings die Entscheidung für die Kirchengeschichte, zumal die des Altertums als Fluchtpunkt weiterer wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Theologie gefallen, nachdem in Marburg, durch ein begonnenes Slawistikstudium und die Befassung mit der russischen Religionsphilosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auch ein anderer Schwerpunkt in Betracht gekommen war. Campenhausen überzeugte – auch mich – durch seine „schiere intellektuelle Kraft und eine gewisse heroische Integrität“, wie Henry Chadwick einmal – in der Besprechung einer ersten Aufsatzsammlung aus meiner „Feder“ 2 – dessen hervorstechende Eigenschaften zutreffend auf den Punkt brachte („he stands out by sheer intellectual power and a certain heroic integrity“).3 Seinem gestrengen Auge unterwarf ich später außer meiner Dissertation, die auf seine Begutachtung hin als Heidelberger Promotionsleistung anerkannt wurde, solche patristischen Beiträge, bei denen ich mich unsicher fühlte, zum Beispiel besonders kritisch ausgefallene Rezensionen, solange das seinem nachlassenden Sehvermögen überhaupt zuzu-
1 In Zukunft werde ich mich der (leicht verständlichen) Abkürzung H. D. bedienen. – Der erwähnte Beitrag von Reinhart Staats stand für die Veröffentlichung nicht zur Verfügung. 2 Angelika Dörfler-Dierken u. a. (Hg.), Charisma und Caritas. Aufsätze zur Geschichte der Alten Kirche, Göttingen 1993; die Sammlung endete auf meinen Wunsch hin mit vier Texten zum Gedenken an diejenigen, die mir Lehrer, Freunde und Brüder waren, darunter – natürlich – Hans von Campenhausen. Deshalb kam überhaupt Henry Chadwick in seiner Rezension auf ihn zu sprechen. 3 In: Cristianesimo nella storia 17 (1993), 424. https://doi.org/10.1515/9783110690095-006
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muten war. Und als ich, zwei Jahrzehnte später, nach Heidelberg berufen, den inzwischen völlig erblindeten Lehrer regelmäßig aufsuchte, habe ich ihm alles unter meinen Arbeiten ihn Interessierende vorgelesen, wenn es irgend anging, noch bevor es veröffentlicht wurde. Ihm verdanke ich, außer der Methodik, in der Hauptsache die Einsicht in die Wichtigkeit der sogenannten (allerdings nie von ihm tatsächlich auch so genannten) „katholischen Normen“ (Bibelkanon, Bekenntnis, Amt) für das Werden der Kirche im Altertum (und darüber hinaus). Dem sind bekanntlich seine wichtigsten Forschungsbeiträge gewidmet: Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht,4 Die Entstehung der christlichen Bibel 5 sowie zur Bekenntnisfrage, statt einer abschließenden Monographie, zu der es nicht mehr kam, ein Bündel an basalen (oder, wie man im Englischen zu sagen bevorzugt, „seminalen“) Einzelstudien. Soweit das den Anschein einer „linearen Entwicklung“ vom „Urchristentum zur Großkirche“ erweckte – aber so war es vom Autor schwerlich gemeint –, ist es inzwischen zurecht kritisiert worden und kaum länger aufrecht zu erhalten. Eine solch „lineare“ Entwicklung nachzuzeichnen ist dem Historiker zweifellos verwehrt. Anders gesagt, ist die Polyphonie der Anfänge der Christentumsgeschichte, jüngst von dem Althistoriker Hartmut Leppin glänzend beschrieben,6 allzu offenkundig. Was mich jedoch an dem neuerdings vielfach favorisierten Gegenmodell vom „2. Jahrhundert als ,Laboratorium‘ (oder ,Labor‘) der Theologiegeschichte“ immer schon stört und unbefriedigt lässt, ist, dass wichtige – gegenläufige – Entwicklungslinien unberücksichtigt bleiben oder doch zumindest nicht gebührend berücksichtigt werden, sodass der (sicher irrige) Eindruck erzeugt wird, als sei das Christentum eines Irenäus von Lyon, Hippolyt, Tertullian, auch Klemens von Alexandrien, Origenes und Cyprian von Karthago, mit anderen Worten der gesamte (früher sogenannte) „Altkatholizismus“, sozusagen senkrecht vom Himmel gefallen oder verdanke sich einem reinen Zufall. Es gilt m. E. zu verbinden, nicht künstlich auseinanderzureißen und als Alternativen darzustellen, was sich im Gegenteil nach und nach, nicht zuletzt aneinander, herausgebildet, um nicht zu sagen: „aufgeschaukelt“ hat. Das Andere, was mich zeitlebens mit Hans von Campenhausen verbindet, ist das Verständnis der eigenen Arbeit nicht als Kirchenväterkunde („Patristik“), sondern als „Kirchengeschichte mit patristischem Schwerpunkt“. Das durchzuhalten ist, sicher nicht nur
4 Hans von Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten (BHTh 14), Tübingen (1953) 21963. 5 Hans von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel (BHTh 39), Tübingen 1968. 6 Hartmut Leppin, Die frühen Christen. Von den Anfängen bis Konstantin, München 2018; vgl. dazu meinen Beitrag zur Festschrift für Wolfram Kinzig zu seinem 60. Geburtstag: Kirchengeschichte – was ist das? Ein Gespräch mit Wolfram Kinzig und Hartmut Leppin, in: Claudia Kampmann u. a. (Hg.), Kirchengeschichte. Historisches Spezialgebiet und/oder theologische Disziplin, Leipzig 2020, 373–392; hier bes. 385–392.
Hermann Dörries als Erforscher der Kirchen- und Dogmengeschichte der Spätantike
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nach meiner Erfahrung, alles andere als bequem; zugleich aber ist es hilfreich, um sich nicht in Partikularitäten zu verlieren. Doch zurück zu H. D. und dem Beginn unserer Beziehung. Als ich an die Göttinger Universität, als Assistent seines de facto-Nachfolgers Carl Andresen,7 zurückkehrte, nachdem mein Vikariat abgeleistet, Promotion und Ordination (fast zeitgleich) erfolgt und ein einjähriger Pfarrdienst in demselben kurhessischen Kirchspiel (Kleinenglis bei Fritzlar) beendet war, in dem ich mein Gemeindevikariat absolviert hatte –, waren mir immerhin noch insgesamt vierzehn gemeinsame Jahre engsten Kontaktes mit ihm beschieden. Mit ihm konnte ich auch, wie schon in meinen Studiensemestern (vom Sommersemester 1956 bis zum Wintersemester 1957/58), in ganz und gar respektvoller Weise, manche Auseinandersetzung nachholen, die mir mit meinem eigenen Vater verwehrt geblieben war, da dieser (genauso wie mein ältester Bruder) aus dem Krieg nicht zurückkehrte. Ich begegnete in H. D. einer ähnlichen Frömmigkeit und einer ähnlichen politischen Gesinnung und Haltung wie bei meinem Vater, die mir so aber, nach allem, was der Nationalsozialismus an Unheil über unser Land wie (mindestens noch) fast das gesamte Europa gebracht hatte, unmöglich noch länger erschwinglich waren. Der Lehrer ertrug den Widerspruch; ob ich bei meinem Vater ebenso glimpflich davongekommen wäre, bezweifele ich beinahe.
Exkurs Um den Dissens zu konkretisieren, will ich, auch an dieser Stelle,8 vorübergehend noch einmal weiter in meine Vergangenheit zurücklenken. Geboren gegen Ende 1933 in einem evangelischen Pfarrhaus, erlebte ich, zunehmend bewusst, noch das Endstadium des 2. Weltkrieges mit. Und obwohl meine Familie, wie angedeu-
7 De iure hat man seinerzeit, wie mir Herr Kollege Kaufmann bei der Tagung Ende Juni 2021 in Erinnerung rief, eine andere Lösung treffen müssen, um diese Nachfolgeregelung abzusichern. Schon zwei Jahre, bevor H. D. emeritiert wurde, erging ein Ruf an Carl Andresen, den dieser auch ohne langes Zögern annahm. Auf Empfehlung Campenhausens bot er mir seine (patristische) Assistentenstelle an – eine weitere (christlich-archäologische) war mit Dr. Gernot Wießner besetzt –, die ich auch anzunehmen willens war, vorausgesetzt, ich könne meine Vikarsausbildung abschließen und in der Gemeinde, in der ich unter einem hervorragenden Lehrpfarrer (Johannes Beisheim, der zu jener Zeit im Begriffe war, ein übergemeindliches Amt in der Landeskirche zu übernehmen) mein Gemeindevikariat verbrachte, nach meiner Ordination (und dem Weggang besagten Pfarrers), wie versprochen, noch für ein Jahr den Pfarrdienst zu übernehmen. Andresen, selbst dem Kirchendienst sehr zugetan, erklärte sich damit einverstanden. Und so trat ich die Assistentenstelle zum Oktober 1963 an, ein halbes Jahr nach H. D.s Emeritierung. 8 S. die folgende Anmerkung.
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tet, durch den Krieg schmerzliche Verluste erlitten hatte, lernte ich dieses „Ende mit Schrecken“ einerseits als eine Befreiung, andererseits als einen politischen und moralischen Zusammenbruch (bislang) sondergleichen wahrzunehmen. Diese Erfahrung hat mich in meinem weiteren Leben und Denken vermutlich stärker bestimmt als (fast) alles andere. Entsprechend fühlte ich mich mehr und mehr verpflichtet, eine Antwort darauf zu finden, wie das alles zu erklären sei, besonders der mörderische Antisemitismus, der wohl die größte Schmach in der Geschichte unseres Volkes ist. Was ist schiefgelaufen in der deutschen Gesellschaft, auch in den deutschen Kirchen, dass man sich nicht stärker gegen den Nationalsozialismus zur Wehr setzte? Das waren Fragen, die mich früh umtrieben. Nun hatte ich das Glück, eine vorzügliche Gymnasialausbildung zu erhalten,9 von Lehrern gefördert zu werden, denen man Vertrauen schenken konnte. Denn nach der kriegsbedingten Pause von anderthalb Jahren trat uns im Wesentlichen dasselbe Lehrerkollegium unter demselben Direktor entgegen wie vor Kriegsende. Diesem Direktor (einem engen Freund Rudolf Bultmanns) konnte bei seiner Verabschiedung von einem Mitglied des Kollegiums, der es wissen musste – war er doch, wie jedermann bekannt, von den Nazis aus politischen Gründen aus Berlin an unsere Schule „zwangsversetzt“ worden – bescheinigt werden, er habe in der Zeit des Nationalsozialismus „die persönliche Freiheit, die unabhängige Meinung und die religiöse Überzeugung im Rahmen des nur irgend Möglichen gehütet, und es habe eine beruhigende und beglückende Atmosphäre der Freiheit geherrscht, wofür ihm viele dankbar seien“. Das schuf Vertrauen. Und es verstärkte sich, als bei Wiederbeginn des Unterrichts nach Kriegsende neue Lehrer in unser Gesichtsfeld traten, welche neue Akzente setzten, neue Maßstäbe an die Hand gaben und uns halfen, den von den Besatzungsmächten den Deutschen (zumindest in den drei Westzonen) „bescherten“ demokratischen Wandel als Befreiung zu erfahren und rückhaltlos zu bejahen. So gestimmt begann ich mein Studium, gegen dessen Ende ich H. D. begegnete. Ich hatte längst bereits die Erstauflage des Gemeinschaftswerkes von Hermann Schuster, Hermann Dörries und Hans von Campenhausen, Das Werden der Kirche, aus dem Jahre 1941 erworben und mir danach ein Bild von der Haltung der drei Autoren gebildet. Es spricht zweifellos für sie, dass in der 2. „verbesserten Auflage“, im selben Verlag (Töpelmann in Berlin) 1950 erschienen, am „Text des Buches nicht viel geändert“ werden musste (so, mit einigem Stolz, das Vorwort des alten und neuen Herausgebers.10 Von wie vielen anderen in Deutschland vor 1945 er-
9 Vgl. meinen Bericht: Das Philippinum zur Zeit des 2. Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren. Wie fünf Brüder ihre Schule erlebten und was sie ihnen bedeutet[e], erzählt einer von ihnen, Chronika. Gymnasium Philippinum Marburg, 9/1 (März 2020), 10–17. 10 Hermann Schuster, Das Werden der Kirche, Berlin (1941) 21950, VIII.
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schienenen Werken hätte man Ähnliches sagen können? Eher selten kam es zudem in vergleichbarer Literatur aus derselben Zeit vor, dass ein deutscher Autor mitten im 2. Weltkrieg, ausgerechnet kurz vor Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion sich ausführlich dafür entschuldigte, sich aus „Rücksicht auf den Raum und auf den Preis des Buches“ in einer von ihm verantworteten Geschichtsdarstellung „je länger je mehr, vorzüglich für die letzten hundert Jahre“, auf das Deutsche Reich und die dortigen Verhältnisse, in diesem Fall auf „die deutsche Kirche“, beschränkt zu haben. Genau das aber tat der Herausgeber im Vorwort zur Erstauflage: Wie „gern“, so versicherte er dort, hätte er „kirchliches Leben und Theologie in England und Amerika, in Frankreich, Holland und Skandinavien geschildert; hätte gern auch die Kirche des Ostens (!) bis in die Gegenwart begleitet, hat sie doch gerade in unseren Tagen den Beweis ihrer verborgenen Lebenskraft von neuem erbracht. Doch wird die Beschränkung auf die deutsche Kirche wohl dadurch gerechtfertigt, dass in ihr heute wieder11 die Probleme von Christentum und Kirche am eindringlichsten ins Bewusstsein treten und hier anscheinend wieder stellvertretend um die letzte Entscheidung gerungen wird.“ 12
Auf ihn geht auch die kurze Darstellung der „nationale(n) Revolution von 1933“ – in nicht mehr als vier knappen Sätzen – zurück, mit der der Text des Buches endet.13 Sie habe, heißt es, „auch für Christentum und Kirche in Deutschland eine neue Lage geschaffen. Noch treibt alles im Fluss der Entwicklung. Der für ein historisches Urteil nötige Abstand fehlt noch. Am Anfang steht verheißungsvoll die feierliche Kundgebung der Reichsregierung vom 23. März 1933“; es folgt das Zitat der in besagter „Kundgebung“ enthaltenen Garantien gegenüber den „beiden christlichen Konfessionen“ als den „wichtigsten Faktoren zur Erhaltung unseres Volkstums“, vorausgesetzt, die Arbeit der Regierung „an der nationalen und sittlichen Erneuerung unseres Volkes“ erfahre von ihnen „die gleiche Würdigung“.14 All das war zweifellos bewusst darauf angelegt, Skeptikern besonders in kirchlichen (zumal katholischen) Kreisen Sand in die Augen zu streuen, was auch funktionierte. Ob man allerdings noch 1940/1941 gegenüber den in der „Kundgebung“ gemachten Verheißungen ernstlich Vertrauen aufzubringen vermochte, darf getrost bezweifelt werden. In jedem Falle hatte H. D., als das 1941 – sicher im Konsens aller drei Autoren – veröffentlicht wurde, längst seiner Überzeugung
11 Vermutlich dachte der Verfasser hierbei an das Jahrhundert der Reformation. 12 Schuster, Werden (Anm. 10), VIII. 13 Ebd., 507. 14 Zum Text der von Schuster korrekt zitierten „Kundgebung“ – es handelt sich um Hitlers Regierungserklärung nach dem Erfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 – s. etwa Martin Greschat/Hans-Walter Krumwiede (Hg.), Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. V: Das Zeitalter der Weltkriege und Revolutionen, Neukirchen-Vluyn 22013, Nr. 33.
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auch schriftlichen Ausdruck gegeben: Es „pflegen in Zeiten, die nicht zu ihrem Wort stehen und die es deshalb nicht ernst nehmen, die Taten nicht mehr wert zu sein als die Worte“.15 „Die Beschlagnahme blieb denn auch nicht aus“, bemerkt hierzu Carl Andresen knapp und zutreffend in seinem Nachruf, auf den ich noch mehrmals zurückkommen werde.16 Irritierend war nun, dass in den Vorworten beider Auflagen von Das Werden der Kirche die jüngste Geschichte, weil der „für ein historisches Urteil nötige Abstand“ noch immer fehle, als nicht angemessen darstellbar bezeichnet wurde.17 Das klingt in unseren Ohren nach einer bequemen Ausrede, war freilich damals (seit Leopold von Ranke) allen Ernstes eine in der Historikerzunft nicht nur, aber vor allem Deutschlands noch immer weitverbreitete Überzeugung.18 Irritierend war erst recht, dass als die über „unser deutsches Volk“ (nur über dieses?) „inzwischen“ hereingebrochene „entsetzliche Katastrophe“ (so nochmals das Vorwort von 1950) offensichtlich nicht etwa die Machtergreifung des Nationalsozialismus (samt Vorgeschichte), sondern die militärische Kapitulation Deutschlands, Flucht und Vertreibung von 12 Millionen Deutscher aus den ehemaligen Ostgebieten des Reiches galt. Das hing wohl damit zusammen, dass die clausula Petri, der Primat des „Gottesgehorsams“ gegenüber dem „Menschengehorsam“ (Act 5,29), für den Herausgeber wie seine beiden Mitverfasser vor wie nach 1945 zwar religiös bindend war; für die politische Urteilsbildung aber war er nahezu bedeutungslos. Was das Politische anlangt, so verriet die Lektüre von Schriften H. D.s aus der Zeit vor 1945, nach denen natürlich auch ich, wie es damals unter Studikern gang und gäbe war, Ausschau hielt, eine bedrückende Nähe zu nationalsozialistischen Gemeinplätzen: von der Leugnung der deutschen Mitschuld (nicht Alleinschuld, an die ich niemals glaubte) am Ausbruch des 1. Weltkrieges und dessen katastrophalem Ausgang über die Ablehnung der Weimarer Republik und ihrer gesellschaftlichen, kulturellen und nicht zuletzt ,moralischen‘ Verfassung bis hin zum „Antibolschewismus“, welcher in letzter Konsequenz auch dazu verführte, was von den Verantwortlichen als Vernichtungskrieg gegen die slawische Bevölkerung Osteuropas, besonders den jüdischen Anteil daran, geplant war und so auch – so lange, wie irgend möglich – praktiziert wurde, als einen Verteidigungskampf des
15 S. H. D., Germanische Nationalkirchen, JK 6 (1938), 8–23.56–69; wieder abgedruckt in: H. D., Wort und Stunde, Bd. II: Aufsätze zur Geschichte der Kirche im Mittelalter, Göttingen 1969, 76–111, hier 77 Anm. 3. 16 Carl Andresen, Hermann Dörries (17. Juli 1895–2. November 1977), JAWG (1978), 40–53; hier 45. 17 So Schuster, Werden (Anm. 10), VIII. 18 Zur Kritik s. vor allem Hans Rothfels, Zeitgeschichtliche Betrachtungen, Göttingen (1959) 21962; dazu u. a. Johannes Hürter/Hans Woller (Hg.), Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005.
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,christlichen Abendlandes‘ gegen den bolschewistischen Atheismus zu missdeuten.19 Vorbildlich, und damit seien die einleitenden, zugebenermaßen recht ,persönlich‘ ausgefallenen, Überlegungen abgeschlossen, ist H. D. für meine eigene wissenschaftliche Arbeit vor allem darin geblieben, was er selbst als das verpflichtende Erbe seines „bewunderten Lehrers und väterlichen Freundes“ Karl Müller hervorgehoben hat:20 dem nur als ,klassisch‘ zu charakterisierenden Stil seiner Geschichtsschreibung und der Betonung des „Querschnitts“, der alles mit allem in Verbindung bringt und ,erklärt‘ (gegenüber dem beliebteren, didaktisch freilich auch in vielen Fällen günstigeren „Längsschnitt“), ohne allerdings die bewusste Urteilsenthaltung als dem dritten Charakteristikum Müllerscher Historiographie, die ihr alsbald den – keineswegs unberechtigten – Vorwurf des „Positivismus“ eintragen sollte. Auch der Schüler H. D. wollte, wie sein Nachruf auf den (am 10. Februar 1940) verstorbenen Lehrer wissen ließ, von einem Verzicht auf das Urteil, in erster Linie das kritische theologische Urteil, nichts wissen.21 Für mich, der ich – als alter Marburger (ohne im strengen Sinne jemals ,Bultmannianer‘ gewesen zu sein) – sozusagen mit Gerhard Ebelings Definition von Kirchengeschichte (als Auslegungsgeschichte des Evangeliums) ,aufgewachsen‘ bin, war das natürlich wesentlich.
1 Kaiser Konstantin Als Erstes behandle ich – entsprechend meiner Ankündigung –, oder streife doch wenigstens, den Themenbereich, der zu Anfang meiner Beziehung zu H. D. von diesem schwerpunktmäßig bearbeitet wurde. Auf anderes komme ich anschließend, dann allerdings in der ,richtigen‘ Reihenfolge, zu sprechen, d. h. unter Beachtung der zeitlichen Abfolge, in der sich seine Forschungsschwerpunkte, soweit sie die alte Kirchen- und Dogmengeschichte betrafen, herausbildeten. Als ich zum Abschluss des Studiums – nach jeweils drei Semestern in Marburg und Heidelberg – nach Göttingen wechselte, um dort das 1. Theologische
19 Zu den Belegen s. die Beiträge von Hansjörg Buss, Martin Keßler und Thomas Kaufmann in diesem Band, denen ich nichts hinzuzufügen habe. 20 Vgl. seinen Nachruf: H. D., Karl Müller zum Gedächtnis, ThBl 19 (1940), 177–185; wiederabgedruckt in: H. D., Wort und Stunde, Bd. III: Beiträge zum Verständnis Luthers, Göttingen 1970, 421– 436, ergänzt um einen gehaltvollen Nachtrag „Das Fortgelten Karl Müllers“ (436–457). Das Ganze war dem de facto-Nachfolger Carl Andresen (dazu s. o. Anm. 7) gewidmet. 21 Vgl. ebd., 433–436.
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Examen anzustreben,22 hat mich – in der Kirchengeschichte – fortan vor allem der Freund Hans von Campenhausens unter die Arme genommen und gefördert. Ich hatte auch – weil der naiven Auffassung, das gehöre sich so für einen Studienstiftler – bereits ein Dissertationsthema im Gepäck. Im 5. Studiensemester, also kaum trocken hinter den Ohren, hatte ich es von dem mich mächtig beeindruckenden baltischen Gelehrten erbeten, wurde indes je länger, desto weniger glücklich damit.23 Der Umgang mit H. D. sorgte bei mir überdies für eine Interessenverlagerung vom NT und von den ersten drei Jahrhunderten (als dem Bereich, mit dem die patristischen Forschungsbeiträge Campenhausens überwiegend befasst waren und dem auch mein von ihm vorgeschlagenes Thema entstammte) auf die Spätantike. Nach einigem Abwarten (wie es sich – nicht nur in der akademischen Lehre – empfiehlt) gab H. D. dem unsicher Gewordenen ein neues Thema mindestens in Erwägung zu ziehen. Es sollte um den Vergleich der Positionen der drei herausragend wichtigen Kaiser der Spätantike: Konstantin I., Theodosius I. und Justinian I., zum Verhältnis „Kaiser – Kirche“ gehen. Zu Konstantin allerdings erschienen binnen weniger Jahre allein drei wichtige Buchveröffentlichungen aus der Feder von H. D.24 Es stand deshalb zu befürchten, es werde für mich nicht einfach sein, Abstand zu seiner Sichtweise zu gewinnen und – durchzuhalten.
22 Dass ich es auch in Heidelberg nur drei Semester ,aushielt‘, erklärt sich daraus, dass ich mit der derzeit dort vertretenen Systematischen Theologie (noch) wenig anzufangen wusste und mir auch in der Praktischen Theologie Anregenderes vorstellen konnte, als es mir bis dahin begegnet war; in Göttingen aber sollte ich, bei Martin Doerne, finden, was ich suchte, und weit mehr als das! Nun aber hatte ich das Theologiestudium begonnen in der Absicht, wie mein Vater (und später auch zwei meiner Brüder samt den Männern meiner beiden Schwestern) Pfarrer zu werden – was ja auch für meinen Vater spricht. 23 Es lautete „Die Kirche im NT (anhand der verwendeten Lexik)“, so wie der Lehrer selbst zu arbeiten pflegte. Sehr viel später bot ein im Auftrag des ÖRK und seines Laienreferates (dessen derzeitiger Leiter war der mir gewogene Klaus von Bismarck) durchgeführtes Forschungsprojekt (gemeinsam mit dem Ratschowschüler P. Gottfried Leich) den passenden Rahmen für seine Weiterführung. Es handelte sich um die Veröffentlichung Wer ist die Kirche? Amt und Gemeinde im Neuen Testament und in der Kirchengeschichte in: Adolf Martin Ritter/Gottfried Leich, Amt und Gemeinde im NT, in der Kirchengeschichte und heute, Göttingen 1968. Dass ich meinen umfangreichen Beitrag dem verehrten Lehrer Hans von Campenhausen widmen durfte, bestätigte meine Annahme, es sei mir gelungen, seinen Vorstellungen am Ende zumindest ein Stück weit näherzukommen. 24 H. D., Das Selbstzeugnis des Kaisers Konstantin (AAWG.PH III, 34), Göttingen 1954; Ders., Konstantin der Große (UB 29), Stuttgart 1958; Ders., Constantine and Religious Liberty (The Terry Lectures), New Haven 1960. Letztere sind, fast zu einer Monographie ausgebaut, viele Jahre später, als Eröffnungsbeitrag zu den drei Bänden seiner gesammelten Aufsätze zur Kirchengeschichte, auch in Deutsch erschienen: H. D., Konstantinische Wende und Glaubensfreiheit, in: H. D., Wort und Stunde, Bd. I: Gesammelte Studien zur Kirchengeschichte des vierten Jahrhunderts, Göttingen 1966, 1–117.
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Darum setzte ich zunächst bei Theodosius an. Je länger ich mich aber mit dessen Edikt Cunctos populos und dem Konzil von Konstantinopel 381 befasste, was nur als Einstieg gedacht war, umso mehr wurde es mir zum eigenen, eigentlichen Thema.25 Wie das (von seinem hingebungsvollen ,Eckermann‘, Ernst Berneburg, – leider, wenn auch verständlicherweise, unter Verzicht auf einige „zeitgeschichtliche Stellungnahmen und kleinere Artikel sowie sämtliche Rezensionen“ – zusammengestellte) Schriftenverzeichnis26 bestätigt, hat sich H. D. in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts schwerpunktmäßig mit Leben, Werk und Wirkung des ersten „christlichen Kaisers“, Konstantins I., beschäftigt. Das war gewiss kein Zufall. Denn der Themenkreis „Staat und Kirche“ war ihm längst schon, und zwar seit der Zeit vertraut, als der junge Dozent in Tübingen bei Karl Müller in die Schule ging.27 Die 30er Jahre sorgten dann dafür, dass er ihn nicht mehr aus den Augen verlor. In den genannten drei Arbeiten hat er schließlich von Konstantin ein Bild von solcher Geschlossenheit entworfen, dass es bis heute seinen Eindruck nicht verfehlt. Durch die erwähnten „Terry Lectures“ des akademischen Jahres 1958/59, die ihm der Freund Roland H. Bainton (1894–1984), hoch angesehener Kirchen-, besonders Reformationshistoriker an der Yale University,28 vermittelte, ist es gerade auch in der englischsprachigen Welt bis heute präsent.29 Diesem Konstantinbild nun ist es zu einem nicht geringen Teil zuzuschreiben, dass das in Jacob Burckhardts erstem Hauptwerk Die Zeit Constantinʼs des Großen30
25 Näheres bei Adolf Martin Ritter, Konstantin – Theodosius – Justinian. Anmerkungen zum Bild dreier spätantiker Kaiser in der Darstellung von Hermann Dörries, in: Uta Heil u. a. (Hg.), Kirche und Kaiser in Antike und Spätantike (FS Hanns Christof Brennecke) (AKG 136), Berlin/Boston 2017, 204–224, hier 204 f. 26 Ernst Berneburg, Bibliographie Hermann Dörries. Zum 65. Geburtstag am 17. VII. 1960, ThLZ 86 (1961), 471–474 mit Anm. 1. 27 So mit Recht auch Carl Andresen in seinem aufschlussreichen Nachruf (Anm. 16). 28 Verfasser u. a. einer vielgelesenen Lutherbiographie: Here I stand. A Life of Martin Luther, Nashville 1950 (seither vielfach neu aufgelegt). Bereits 1952 erschien bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen eine deutsche Übersetzung, besorgt von H. D., unter dem Titel „Martin Luther“, die ebenfalls mehrere Neuauflagen erlebte und noch immer lieferbar ist, genau so wie das amerikanische Original. 29 Vgl. Peter J. Leithart, Defending Constantine, Downers Grove 2010; Edward L. Smither (ed.), Rethinking Constantine. History, Theology, and Legacy, Cambridge 2014; in beiden Publikationen wird die D.sche Vorlesungsreihe nicht nur zitiert, sondern auch umfänglich rezipiert. Leithart beruft sich überdies hierfür auf den Rat so erstklassiger Fachleute wie Timothy R. Barnes und Robert L. Wilken. 30 Jacob Burckhardt, Die Zeit Constantin’s des Großen, Basel (1853) 31880 = Ders., Die Zeit Constantin’s des Großen (Gesammelte Werke 1), Darmstadt 1970 = Hartmut Leppin u. a. (Hg.), Jacob Burckhardt Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band 1, Die Zeit Constantinʼs des Großen München 2013; dort auch Wichtiges zu der Aufnahme des Buches zu Lebzeiten des Autors und den Änderungen
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vermittelte gegenwärtig, soweit zu sehen, unter Wissenden zumindest kaum noch ungeteilten Beifall findet, auch wenn sich nach wie vor manche(r) allenfalls zu dem Urteil aufzuschwingen vermag: „Ja, Konstantin war ein Christ, […] aber, o Gott, was für ein Christ“! Das waren die Worte, mit denen vor vielen Jahren der bedeutende Romanist (Römischrechtler) Arnold (A[nton]. T[raugott].) Ehrhardt (1903–1965) seine Rezension der Akademieabhandlung Das Selbstzeugnis des Kaisers Konstantin31 beschloss. Man vergleiche zur Verdeutlichung von Ehrhardts Kontrastbild noch das abschließende Kap. VII (betitelt „Konstantin und Euseb“) in Bd. II seiner dreibändigen Monographie Politische Metaphysik von Solon bis Augustin;32 ferner den gewichtigen Beitrag des gleichen Autors Constantin der Große. Religionspolitik und Gesetzgebung.33 Selbstverständlich hat H. D. die Kritik besonders an seiner Interpretation der Rechtsquellen durch einen ausgewiesenen Fachmann wie Arnold Ehrhardt ernstgenommen und sie in seinen späteren Veröffentlichungen zu Konstantin berücksichtigt, ohne sich jedoch in seinen Grundannahmen beirren zu lassen. Es bedeutete ihm viel, dass er mit diesen, trotz völlig verschiedenen Hintergrundes, auch einen Mann wie den Pazifisten und Quaker(freund?) Roland Bainton zu überzeugen vermochte. Er war und blieb sich sicher, über Gründe dafür zu verfügen, dass sich Konstantin in mancher Hinsicht, zumal was die Freiheit der Glaubensforderung anlangt, als der ,bessere Christ‘ erwies, verglichen mit nicht wenigen Theologen und Bischöfen seiner Zeit, sogar dem großen Augustinus.34
zwischen Erst- und Zweitauflage (vgl. ebd. 569–582). Zu einer differenzierenden Würdigung s. etwa Hartmut Leppin, Constantin der Große und das Christentum bei Jakob Burckhardt, in: Dieter Hein u. a. (Hg.), Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse (FS für Lothar Gall zum 70. Geburtstag), München 2006, 441–451. 31 In GGA 209 (1955), 100–109; das Zitat findet sich auf der letzten Seite. 32 Arnold Ehrhardt, Politische Metaphysik von Solon bis Augustin, Bd. II: Die christliche Revolution, Tübingen 1959. 33 Arnold Ehrhardt, Constantin der Große. Religionspolitik und Gesetzgebung, ZSRG.R 72 (1955), 127–190. Zur Person des Autor-Rezensenten selbst s. das ebenso eindrückliche wie informative Vorwort des Freiburger Studiengenossen von einst, Franz Wieacker (in Göttingen wohl noch immer ein klangvoller Name), zu Bd. III des genannten Ehrhardtschen Werkes, posthum Tübingen 1969 erschienen. Daraus hier nur so viel: Der habilitierte Romanist Ehrhardt musste aus Gründen der nationalsozialistischen Rassepolitik aus Deutschland weichen, setzte das (von Lörrach aus) in Basel (bei Karl Barth) begonnene Theologiestudium in England fort und nahm nach Erlangung des PhD in Cambridge eine Tätigkeit als anglikanischer Gemeindepfarrer in einem Arbeiterviertel Manchesters auf; daneben aber blieb er der Wissenschaft, nun ausschließlich der theologisch-kirchengeschichtlichen, treu und konnte noch bis zu seinem frühen Tod (1965) mit bedeutenden Werken aufwarten, z. B. mit der genannten dreibändigen „Politische(n) Metaphysik“ (1959 ff.). 34 Vgl. H. D., Selbstzeugnis (Anm. 24), 18–45.56–63.
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Welches war das Motiv für seine intensive Beschäftigung mit Konstantin? H. D. nennt als seine (unvoreingenommene) Absicht, es sei ihm darum zu tun gewesen, den ersten christlichen Kaiser aus dem Anklagestand zu verhelfen, in den ihn „seit dem Buch des jungen Burckhardt […] die moderne Forschung (gemeint war vor allem Eduard Schwartz) […] versetzt“ habe.35 Von einer anderen zeitgenössischen Kontroverse, die – ausdrücklich oder nicht – auch das D.sche Konstantinbild in Frage zu stellen schien, es zumindest mit betraf, hat der Autor schriftlich, soweit ich nichts übersehen habe, nirgends Notiz genommen. Mündlich dagegen spielte sie sehr wohl eine Rolle. Dafür sorgten allein schon die Jüngeren in seiner Umgebung. Gemeint ist der Streit, den der berlin-brandenburgische Generalsuperintendent (mit Sitz in Cottbus/Niederlausitz), Günter Jacob, in dieser Zeit auslöste. In einem Vortrag vor der Synode der EKiD (1956) im Spandauer Johannesstift 36 erteilte er „zum ersten Mal vor einer repräsentativen Öffentlichkeit eine Absage an das konstantinische Zeitalter […], die er seitdem häufig wiederholte“. Er „hatte diese Überlegungen freilich […] schon 1944“ in französischer Gefangenschaft „zu Papier gebracht. Seine damalige Ausarbeitung trug den Titel: ,Die Zukunft der evangelischen Kirche‘. Hier bereits meinte er, das ,Ende der konstantinischen Epoche‘ diagnostizieren und die Volkskirche als ,künstlich gestützte Gestalt zur Pflege eines Firnischristentums‘ entlarven zu können. Der Bekennenden Kirche aber hielt er vor, sie habe gezögert, das ,konstantinische Vorzeichen‘ grundsätzlich zu sprengen, das heißt sich entschlossen dem Modell der Freikirche zuzuwenden“.37 Unsereinem ging diese Debatte ,buchstäblich‘ unter die Haut. H. D. aber blieb eher gelassen. Er war sich sicher – und das schien ihm zu genügen –, dass der ganze Streit mit dem ,historischen Konstantin‘ herzlich wenig zu tun hatte. Darin musste man ihm natürlich völlig Recht geben. Aber war das Problem damit aus der Welt geschafft? Mit dem Jacobschen Synodalvortrag lagen ja, so Wolfgang Huber,
35 Ebd., 15. 36 Sein Thema: „Der Raum für das Evangelium in Ost und West“, veröffentlicht in: Amtsblatt EKD 8 (1956), 17–28; vgl. auch bereits seinen Beitrag: Günther Jacob, Die Nachkonstantinische Situation, FAB 8 (1954), 226–242. 37 So Wolfgang Huber in seinem öffentlichen Vortrag im Rahmen eines Forschungskolloquiums aus dem Jahr 1998 in Heidelberg unter dem Titel „Beginn und Ende des Konstantinischen Zeitalters. Christen und Heiden in Spätantike und Gegenwart: Parallelen – Kontraste“. Der Vortrag trug den Titel „Die Zukunft der Kirche. Überlegungen an einer Zeitenwende“ und ist veröffentlicht in den Akten des Kolloquiums: Angelika Dörfler-Dierken u. a. (Hg.), Christen und Nichtchristen in Spätantike, Neuzeit und Gegenwart (FS Adolf Martin Ritter), Mandelbachtal/Cambridge 2001, 205–229; hier: 216 f.
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die Interpretationskategorien […] bereit, als der SED-Staat zu ihrer Anwendung einlud. Nun konnte das Ende des konstantinischen Zeitalters und mit ihm des ,unheiligen‘ Bündnisses von Thron und Altar verkündet werden. Die religionsrechtlichen Verhältnisse der DDR rückten damit freilich in ein unverdient positives Licht; die Unterdrückung der Religionsfreiheit, die schon 1957 – ein Jahr nach Jacobs Spandauer Vortrag – einem traurigen Höhepunkt zustrebte, wurde nicht in der nötigen Schärfe kritisiert, weil die DDR doch die erwünschte ,Trennung von Staat und Kirche‘ herbeigeführt hatte. Die ausdrückliche Anerkennung des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags im Westen Deutschlands geriet dabei in den Geruch des bloß Restaurativen und erschien als einfache Wiederherstellung eines antiquierten konstantinischen Kartells. – Man braucht die restaurativen Züge in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre nicht zu leugnen, um die Ambivalenz solcher Diagnosen zu durchschauen. Ihre Anziehungskraft liegt darin, dass sie mit großem Nachdruck eine eigenständige, nicht vom Staat abgeleitete Kirchenfreiheit proklamieren und die Kirche zu einer eigenständigen Bestimmung ihres gesellschaftlichen Ortes herausfordern. Aber die pauschale Kennzeichnung von 1600 bis 1700 Jahren Christentumsgeschichte als Konstantinismus verkennt, dass auch in dieser langen Epoche immer wieder die Freiheit der Kirche wahrgenommen, erkämpft und praktiziert wurde. Die Parole vom Ende des konstantinischen Zeitalters lässt das unumkehrbare Moment der konstantinischen Wende unberücksichtigt – nämlich die Zuwendung der Kirche zu ihrer öffentlichen Verantwortung und damit die Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Welt.38
2 Luther Sehr viel knapper kann nun darüber berichtet werden, dass aus einigen Nachrufen, Würdigungen des Lebenswerkes von H. D. aufgrund der Nachricht von seinem Tode,39 der Eindruck zu gewinnen war, von den Monographien vielleicht abgesehen, weise sein Schrifttum lediglich zwei Schwerpunkte auf: einerseits „Mönchtum“, auf der anderen Seite „Luther“. Das aber ist kaum zutreffend; und das nicht nur, weil sich der eben behandelte Problemkreis („Konstantin und die Folgen“) keiner der beiden Gruppen (ohne weiteres) zuordnen ließe, sondern auch, weil das Thema „Luther“ erst allmählich zentralere Bedeutung in Forschung und wohl auch Lehre40 von H. D. gewann. Natürlich taucht das Thema als solches auch schon früher auf, wie Thomas Kaufmann in seinem Beitrag zeigt. Allein,
38 Ebd., 217. Dass das damit Gesagte ganz in meinem Sinne war, zeigte u. a. mein Schlusswort auf dem Geburtstagskolloquium, Dörfler-Dierken, Christen (Anm. 37), 221–233 („Nachgedanken, besonders zu den Begriffen ,Konstantinische Wende‘ und ,Konstantinisches Zeitalter‘“). 39 Dazu zählt nicht C. Andresens schöner Nachruf (Anm. 16). 40 Die Relativierung hängt damit zusammen, dass ich meiner Erinnerung nach keine einzige Vorlesung von HD gehört habe. Denn an Überblicksvorlesungen meinte ich keinen Bedarf mehr zu verspüren. Umso mehr profitierte ich von der Lehre, wie sie H. D. den Teilnehmern (ausschließlich männlichen Geschlechts) wöchentlich in seinem Lutherlektürekreis zuteil werden ließ.
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zur normativen Instanz wird Luther für H. D. nach Ausweis seines vorliegenden Schrifttums erst nach und nach. So wird man es auch zu verstehen haben, wenn es im Vorwort zum dritten, „Beiträge(n) zum Verständnis Luthers“ gewidmeten Band seiner gesammelten Aufsätze heißt: „Zu Luther bin ich gekommen in der Krise des Jahres 1933, als gegenüber dem Angriff des ,Neuen‘ das mitgebrachte Erbe des 19. Jahrhunderts sich mir als nicht widerstandsfähig erwies und es galt, festes Gestein zu erreichen“.41 Über die Tragweite dieses „Selbstzeugnisses“, was es austrägt und ,beweist‘ und was nicht, war bei der Online-Konferenz Ende Juni 2021 im Anschluss an die Referate der Kollegen Keßler und Kaufmann Gelegenheit, sich ausführlicher auszutauschen. Ich will an dieser Stelle lediglich aufgreifen: So viel scheint zwischen uns unstrittig zu sein: Zum Bezugspunkt, bis zu dem sich nach Belieben Linien ausziehen ließen, was auch immer der jeweilige Ausgangspunkt sein mochte,42 und erst recht zu dem Kristallisationspunkt schlechthin für die theologische Urteilsbildung ist Luther für H. D. nachweislich lange vor dem Ende des „Dritten Reiches“ geworden, selbst als es nicht ohne Risiko war, deutlich andere Akzente zu setzen als der hochbegabte, aber schwierige, politisch völlig systemkonforme und darum (vor 1945) umso einflussreichere Göttinger Fachkollege und decanus perpetuus, der bis dahin gerade auch als Lutherforscher weithin hoch gehandelt wurde: Emanuel Hirsch!43
3 Makarios H. D.s erwähnter erster grundlegender Beitrag zur Konstantinforschung, die Monographie Das Selbstzeugnis des Kaisers Konstantin, fand zwar im Jahre 1954, ebenfalls als eine Göttinger Akademieabhandlung, ihren Weg in die wissenschaftliche Öffentlichkeit. Es war dem jedoch bereits ein Band mit Studien zu Symeon von Mesopotamien (mit dem Untertitel „Textuntersuchungen zur Überlieferung der messalianischen ,Makarios‘-Schriften“ 44) voraufgegangen, der seinem Verfasser im Jahre 1941 die Tür zur Mitgliedschaft in der Göttinger Akademie der Wissenschaften geöffnet hatte, der er für fast vierzig Jahre angehören sollte. Derselbe Band stieß Jahre später auf das gespannte Interesse eines der Großen der internationalen Gräzistik, nämlich des Wilamowitzschülers Werner Jaeger, welcher nach
41 H. D., Wort und Stunde, Bd. III (Anm. 20), V. 42 So geschah es fast regelmäßig in den wöchentlichen Sitzungen des Lutherkreises. 43 Nicht zuletzt von Hans Lietzmann: s. dazu etwa Kurt Aland (Hg.), Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutsche Wissenschaftsgechichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892–1942). Mit einer einführenden Darstellung von Kurt Aland, Berlin 1979, Reg. s.nn. 44 Erschienen in der Reihe TU als Band 55,1, Leipzig 1941.
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seiner unfreiwilligen Übersiedelung in die USA, von Harvard aus, die Fortsetzung der Herausgabe der Werke Gregors von Nyssa (Gregorii Nysseni Opera, GNO) betrieb. Hier hatte er, mit H. D. zu reden, „Mittel und Mitarbeiter gefunden für den Neubeginn des nach hoffnungsvollem Anfang zum Erliegen gekommenen Werkes“.45 Im Zusammenhang mit eigenen Studien zum makarianischen Schrifttum nahm Jaeger auch bereits den Dörries’schen Symeon von Mesopotamien aufmerksam zur Kenntnis und widmete dem Buch (in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen) eine ausführliche Würdigung; es sei jedoch mit Rücksicht auf den Beitrag von Herrn Kollegen Martin Illert darauf verzichtet, hierauf an dieser Stelle näher eingehen. Nur so viel sei bemerkt: Es waren damit die Voraussetzungen geschaffen zu einem intensiven Austausch zwischen beiden Gelehrten über mehrere Jahre. Durch den frühen Tod des Gesprächspartners (1961) sah sich H. D. in der Pflicht, sich der schriftlichen Hinterlassenschaft des Verstorbenen anzunehmen, soweit sie in seinen Kompetenzbereich fiel.46 Und das umso mehr, als er sich durch eine überaus freundliche Aufnahme einer dritten substanziellen Akademieabhandlung aus seiner Feder De Spiritu Sancto. Der Beitrag des Basilius zum Abschluss des trinitarischen Dogmas seitens Jaegers tief in dessen Schuld glaubte.47
4 Basilius von Caesarea Dieser Dörries’schen Abhandlung soll nun zum Abschluss unsere ungeteilte Aufmerksamkeit gelten. Gewiss ist sie innerhalb des Schrifttums von H. D. gleichfalls dem Schwerpunkt „Mönchtum“ im weiteren Sinne zuzurechnen, genauso wie bereits der Symeon von Mesopotamien und später dann vor allen Dingen der Höhepunkt seiner „Makarios“-Studien, die posthum erschienene, aber bis einschließlich der laufenden Titel von ihm noch selbst druckfertig gemachte Monographie unter dem Titel Die Theologie des Makarios/Symeon.48 Doch dieser Aspekt soll
45 So Dörries in einer Besprechung der Edition des Hohelied-Kommentars in den GNO durch den Jaegerschüler Hermann Langerbeck: H. D., Griechentum und Christentum bei Gregor von Nyssa. Zu H. Langerbecks Edition des Hohelied-Kommentars in der Leidener Gregor − Ausgabe 1, ThLZ 88 (1963), 569–582; hier 569. 46 Vgl. etwa den wichtigen Band: Werner Jaeger, Gregor von Nyssa’s Lehre vom Heiligen Geist, aus dem Nachlass hg. von Hermann Dörries, Leiden 1966. 47 AAWG III, 39, Göttingen 1956. Man lese Jaegers nur als begeistert zu bezeichnende Zeilen in seiner Rezension: Werner Jaeger, Basilius und der Abschluß des trinitarischen Dogmas 1958, ThLZ 83 (1958), 255–258. 48 AAWG.PH III, 103, Göttingen 1978. S. hierzu sowie zu den in der folgenden Anmerkung erwähnten Mönchtumsstudien auch den Beitrag von Peter Gemeinhardt im vorliegenden Band.
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uns jetzt nicht weiter beschäftigen, so wenig, wie er Werner Jaeger sonderlich interessierte. Ich bin mir jedoch bewusst, dass er für H. D. wesentlich war. So bedaure ich diese meine Entscheidung, wie ich es überhaupt bedaure, nicht eingehender auch auf die zahlreichen Beiträge von H. D. zur Geschichte des christlichen Mönchtums in Spätantike und Frühmittelalter49 eingegangen zu sein. Doch ich musste mich zwischen pro und contra entscheiden und will bei der getroffenen Entscheidung nun auch verbleiben. Der Rezensent Jaeger fand, die Ergebnisse der „Basilius“-Studie seien so überzeugend erarbeitet und dargelegt, dass sie sich in der weiteren wissenschaftlichen Diskussion in den Hauptlinien sicher behaupten würden; nur Ergänzungen seien denkbar. Bei diesen dachte der Autor gewiss nicht zuletzt an das große Unternehmen der GNO und die dieses begleitenden Studien der beteiligten Mitarbeitenden, nicht zuletzt Jaegers selbst. Der Fortgang der Diskussion um den Fragenkomplex „Basilius und der Abschluss des trinitarischen Dogmas“ bestätigte diese Annahme vollauf. In meiner Präsentation der Hauptergebnisse des Buches beschränke ich mich auf drei Hauptpunkte. Der eine betrifft die Reklamation der Unterscheidung zwischen „Wesen“ (οὐσία) und „Realisierung“ (ὑπόστασις) als eine wesentliche Errungenschaft des Basilius (4.1), der andere die Unterscheidung von „Kerygma“ und „Dogma“ (4.2), der dritte die Entfaltung der Theologie des Heiligen Geistes als Theologie der Erfahrung (4.3).
4.1 Die Unterscheidung von „Wesen“ und „Realisierung“ (οὐσία und ὑπόστασις; Epistula 236,6) Die Unterscheidung zwischen οὐσία und ὑπόστασις ist dieselbe wie zwischen Gemeinsamem (κοινόν) und Besonderem (τὸ καθ’ ἕκαστον), z. B. zwischen dem Lebewesen und einem bestimmten Menschen (ὁ δεῖνα ἄνθρωπος). Weshalb wir auch bezüglich der Gottheit eine [einzige] οὐσία bekennen, so dass wir das Sein [von Vater, Sohn und Hl. Geist] nicht in verschiedenem Sinne aussagen, die Hypostase jedoch als eigentümlich, damit unser Begriff von Vater, Sohn und Hl. Geist distinkt und klar sei (ἵν’ ἀσύγχυτος ἡμῖν καὶ τετρανωμένη ἡ
49 Besonders schade ist es um die Aufsätze Die Bedeutung der Bibel im ältesten Mönchtum (1947) und Die Beichte im alten Mönchtum (1960), vor allem aber um die Untersuchung zur vita Antonii als Geschichtsquelle (1949) – allesamt wieder abgedruckt in: H. D., Wort und Stunde, Bd. I (Anm. 24), 145–276 –, die auf ein breites Echo in der wissenschaftlichen Diskussion der nächsten Zeit traf. In den beiden Aufsätzen knüpfte der Autor an die oben erwähnten Vorkriegsarbeiten an. Alle drei Arbeiten basierten „wieder auf der Apophthegmataforschung von Wilhelm Bousset“, wobei allerdings nun „von Anfang an der kirchenhistorische, speziell frömmigkeitsgeschichtliche Aspekt vor(herrschte). Er erhielt im weiteren Verlauf der Beschäftigung mit dem altkirchlichen Mönchtum seine theologische Vertiefung“ (Andresen, Nachruf [Anm. 16], 47).
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περὶ Πατρὸς καὶ Υἱοῦ καὶ Ἁγίου Πνεύματος ἔννοια ἐνυπάρχῃ). Denn in der Tat, so wir nicht die genau bestimmbaren Merkmale (ἀφωρισμένοι χαρακτῆρες) an einer jeden [göttlichen Hypostase] – wie Vaterschaft, Sohnschaft, Heiligung – anerkennten, sondern Gott [ausschließlich] nach dem gemeinsamen Begriff des [göttlichen] Seins bekennten, dürfte es unmöglich sein, in rechter [,gesunder‘] Weise Glaubensrechenschaft abzulegen. Folglich müssen wir den Glauben, indem wir das Besondere (τὸ ἰδιάζον) dem Gemeinsamen hinzufügen, so bekennen: die Gottheit ist das Gemeinsame, die Vaterschaft das Besondere (ἴδιον); beides kombinierend sagen wir mithin: ,Ich glaube an Gott, den Vater‘ […].
Aus alle dem wird ersichtlich, dass man vollkommen an der Einheit festzuhalten vermag im Bekenntnis der einen Gottheit [Vaters. Sohnes und Hl. Geistes] und zugleich – in der Unterscheidung der Besonderheiten (ἰδιώματα), wie sie an einer jeden [der drei göttlichen Hypostasen] wahrgenommen werden – bekennen, was den Personen [Erscheinungsweisen? (πρόσωπα)] eigentümlich ist. Die aber die Begriffe οὐσία und ὑπόστασις als identisch bezeichnen, sind gezwungen, lediglich eine Verschiedenheit der πρόσωπα zu bekennen, und indem sie von drei Hypostasen zu reden vermeiden, sind sie außerstande, dem Übel des Sabellianismus [wörtlich: des Sabellius] zu entrinnen, der auch seinerseits unter vielfältiger Begriffsverwirrung den Versuch macht, die πρόσωπα zu unterscheiden, indem er behauptet, eine und dieselbe Hypostase nehme je nach Bedarf eine andere Gestalt an (τὴν αὐτὴν ὑπόστασιν λέγων πρὸς τὴν ἑκάστοτε παρεμπίπτουσαν χρείαν μετασχηματίζεσθαι).
4.2 Die Theologie des Hl. Geistes als Theologie der Erfahrung (De Spiritu sancto 9,22; 19,49) Prüfen wir [nun] die [uns] geläufigen Begriffe (κοιναι εννοιαι), die wir vom Heiligen Geist besitzen: sowohl die Begriffe von ihm, die wir aus der Schrift gesammelt haben, als auch diejenigen, die uns aus der mündlichen Überlieferung (ἄγραφος παράδοσις) der Väter überkommen sind. Wer ist nicht, wenn er die Namen des Geistes vernimmt, sogleich in seiner Seele emporgehoben? Wer erhebt nicht seine Gedanken hin zu der allerhöchsten Natur? Denn man nennt ihn ,Geist Gottes‘, ,Geist der Wahrheit‘, der ,aus dem Vater hervorgeht‘ [Joh. 15,26], ,rechten Geist‘, ,lenkenden Geist‘ [Ps. 50,12–15]. ,Heiliger Geist‘, das ist in besonderer Weise sein ureigenster Name, der Name des Unkörperlichsten von allen Wesen, des in reinster Weise Immateriellen, des Allereinfachsten, das es gibt. So lehrt der Herr die Frau, die glaubte, Gott an einem bestimmten Ort anbeten zu müssen, dass das Unkörperliche nicht zu umgreifen sei (ἀπερίληπτον) […] Was für ein Wirken ist es (sc. das Wirken des Geistes)? Ein Wirken – unsagbar in seiner Größe und unermesslich in seiner Vielfalt. Wie können wir uns eine Vorstellung machen, […] worin sein Wirken bestand, ehe es ein vernunftbegabtes Wesen gab; welch machtvolles Wirken er im Hinblick auf künftige Zeitalter entfaltet? Denn er war da, existierte vor allem anderen und war gegenwärtig vor aller Zeit, in Gemeinschaft mit dem Vater und mit dem Sohn. Würdest du dir daher etwas jenseits der Zeit [Existierendes] vorstellen, du würdest finden, dass es später ist als der Geist. Denkst du an die Schöpfung? Die Mächte des Himmels sind gefestigt worden durch den Geist […] Das Kommen Christi? Auch ihm ging der Geist
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mit seinem Wirken voraus. Christi Gegenwart im Fleisch? Der Geist ist untrennbar damit verbunden. Wunder und Heilungsgaben? Sie sind durch das Wirken des Geistes hervorgebracht worden. Dämonen wichen durch den Geist Gottes. Der Satan hat in der Gegenwart des Geistes seine gesamte Macht verloren. Die Sünden sind in der Gnade des Heiligen Geistes vergeben worden, denn ,ihr seid abgewaschen und geheiligt worden im Namen unseres Herrn Jesus Christus und im Heiligen Geist‘ [1. Kor. 6,11]. Der vertraute Umgang (οἰκείωσις) mit Gott vollzieht sich durch den Heiligen Geist, denn ,Gott hat den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!‘ [Gal. 4,6]. Die Auferstehung der Toten geschieht durch den Geist, denn ,Du sendest deinen Geist aus, und sie werden neu geschaffen, und du wirst das Antlitz der Erde erneuern‘ [Ps. 104,30] […]. Ist da wirklich die Sorge am Platze, man könne durch übertriebene Ehrungen [des Geistes] über das verdiente Maß hinausgehen? Müssen wir nicht im Gegenteil befürchten, dass wir hinter dem Angemessenen [unendlich] zurückbleiben […]? Wenn du das Wort vernimmst ,Wenn der Paraklet kommt, so wird er euch an alles erinnern und euch in alle Wahrheit führen‘ [Joh. 14,26], so mache dir von der Tätigkeit des Führens gemäß dem, was du gehört hast, ein Bild und rede nicht geringschätzig davon […].
Schon beim jungen Basilius bleiben, so weist H. D. nach, Denken und Erfahrung eng miteinander verbunden. Sind es später eher die Sondererfahrungen des Mönchtums, so entfaltet B. zuletzt seine Geistlehre ganz von der Anwesenheit des Geistes im Getauften her. Die Taufe ist nun die erste und wichtigste Erfahrung, auf die er sich beruft. Sie ist „der Anfang des Lebens“ und der „erste der Tage“: „Das bei der Gnadenmitteilung der Sohnschaft [der adoptio filiorum (υἱοθεσία) in der Taufe (Gal. 4,6; Röm. 8,15)] über mir gesprochene Wort ist das kostbarste aller Worte; es leitete mich zum Licht und schenkte mir die Erkenntnis Gottes“ [De Spiritu sancto 10,26]. Dabei wird ihm über alles Erfahrungsmäßige hinaus zunehmend wichtig, als Bollwerk gegen alle menschlich-kirchliche Eigenmächtigkeit, die feste Gegebenheit des trinitarischen Taufbefehls [Mt. 28]. Das ist der Grund, auf dem alles Weitere sich aufbaut: die Lehre wie das Leben, das Denken wie die Erfahrung, die ihrerseits, wo sie recht geschehen, einmünden in den Lobpreis, die Doxologie.
4.3 Die Unterscheidung zwischen Kerygma und Dogma Die Aufgabe, die Doxologie rein zu bewahren, hat für Basilius in der Darstellung von H. D. das „Bekenntnis“, die ὁμολογία, als die unverzichtbare Grundlage aller kirchlichen Gemeinschaft zu erfüllen, und zwar so, dass es Fremdes fernzuhalten trachtet, welches die Gemeinde zerstören müsste, aber auch jeweils nicht mehr zumutet, als die Gemeinde mitzutragen und mitzuvollziehen vermag. Und damit ist eine Unterscheidung berührt, die für Basilius ebenso charakteristisch ist wie die „feste Abfolge“ (ἀκολουθία) von Taufe, Glauben und Doxologie. Es ist die Un-
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terscheidung von κήρυγμα und δόγμα.50 Zu dieser kann B. in seiner Monographie De Spiritu sancto gelegentlich (27,66) bündig erklären: „Dogma und Kerygma sind etwas ganz Verschiedenes: über jenes schweigt man, die Kerygmata hingegen werden öffentlich verkündigt“. Mit Georg Kretschmar schließt man sich diese Unterscheidung in der Tat wohl am besten von der antignostischen Polemik der sog. altkatholischen Väter her auf, z. B. eines Irenäus von Lyon. In Anspielung auf die heidnische Philosophie, ihre Schulen und Schuldogmata, d. h. „die jeweiligen Sonderlehren der einzelnen Richtungen, die in Tradition und Interpretation der Worte des Stifters von den einzelnen aufeinander folgenden Schulhäuptern gehütet wurden“, hatte Irenäus „die Kirche scharf von den einander befehdenden und miteinander konkurrierenden gnostischen Schulen abgehoben und ihre tragende Wahrheit in der öffentlichen Missionspredigt der Apostel gefunden, ihrem Kerygma“, wie es sich im Neuen Testament niedergeschlagen habe.51 Auch Basilius dachte, wie H. D. zeigte, von der öffentlichen Verkündigung, dem Kerygma als der verbindlichen Lehre wahrlich nicht gering. War er doch maßgeblich an dem Versuch beteiligt, die zerspaltene Kirche um das κήρυγμα von Nizäa neu zu sammeln. Aber er wusste auch um die Grenzen – darum, „daß keineswegs alles vor die grosse Gemeinde, sondern höchstens vor den kleinen Kreis“ gehört, der, „in Lebensführung und Zielsetzung gleichartig, am ehesten die Stätte mündlicher Erörterung sein kann“, wie sie der aus dem ausgestreuten Samen des κήρυγμα erwachsenden höheren (,dogmatischen‘) Erkenntnis „fast allein angemessen erscheint“.52 Entsprechend hielt er es auch abseits vom Weltgetümmel, in der Gemeinschaft der Gleichgesinnten, für angemessen, den Hl. Geist ausdrücklich als „Gott“ zu bezeichnen und ihm die Wesenseinheit (ὁμοουσία) mit Gottvater und Gottsohn zuzuschreiben, was in der Öffentlichkeit einstweilen nur Verwirrung stiften würde. Und was das trinitarische Geheimnis insgesamt anlangt, so galten ihm die drei
50 Vgl. zum Folgenden meine Zusammenfassung in Adolf Martin Ritter, Dogma und Lehre in der Alten Kirche in: Ders./Carl Andresen (Hg.), Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. I, Göttingen 21999, 99–283, hier: 204 f. 51 So Georg Kretschmar, Der Heilige Geist in der Geschichte. Grundzüge frühchristlicher Pneuma-tologie, in: Walter Kasper (Hg.), Gegenwart des Geistes. Aspekte der Pneumatologie, Freiburg usw. 1979, 92–130; hier: 97, unter Berufung auf Martin Elze, Der Begriff des Dogmas in der Alten Kirche, ZThK 61 (1964), 421–438. 52 H. D., De Spiritu sancto (Anm. 47), 181. Zu dieser im Anschluss an H. D. vorgetragenen Deutung gibt es allerdings längst Anfragen; vgl. dazu neben der Rezension von Henry Chadwick, Dörries, H., De Spiritu Sancto, ZKG 69/3 (1958), 335–337 vor allem die engagierte und gehaltvolle Auseinandersetzung bei Emmanuel Amand de Mendieta, The Pair ΚΗΡΥΓΜΑ and ΔΟΓΜΑ in the Theological Thought of St. Basil of Caesarea, JThS.NS 16 (1965), 129–142, und zuletzt Volker Henning Drecoll, Die Entwicklung der Trinitätslehre des Basilius von Cäsarea. Sein Weg vom Homöusianer zum Neonizäner (FKDG 66), Göttingen 1996, 258–260.
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Hypostasen als κήρυγμα, ihre Einheit hingegen, anders gesagt: die „Monarchia“ Gottes, als δόγμα (De Spiritu sancto 10,25; 18,47; Epistula 52.90.125). Bei seinen engsten Vertrauten allerdings, vor allem bei dem wenig älteren Gregor von Nazianz, hat Basilius weder mit der Unterscheidung zwischen κήρυγμα und δόγμα noch mit dem daraus abgeleiteten Recht dogmatischen „Schweigens“ Verständnis oder gar Zustimmung gefunden. Sie sahen eher in der παῤῥησία, dem unumwundenen Bekenntnis der Wahrheit, das Gebot der Stunde, sodass der Freund Gregor etwa in der fünften seiner wirkungsvollen „Theologischen Reden“ ausrufen konnte: „Wie nun? Ist der Geist Gott? – Gewiss. – Ist er auch wesenseins (ὁμοούσιον)? Ja, ist er doch Gott“ (Gregor von Nazianz, Oratio 31,10).
Peter Gemeinhardt
Hermann Dörries und die Geschichte des Mönchtums 1 Einleitung Wo es um die Erforschung des Mönchtums in der Spätantike geht, darf der Name von Hermann Dörries1 nicht fehlen – sollte man meinen. Schaut man in die neueste Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart, fehlt er allerdings, wobei der entsprechende Artikel aus der Feder von Ulrich Köpf insgesamt nur spärlich, ja eklektisch bibliographiert ist.2 In der Theologischen Realenzyklopädie erwähnt Fairy von Lilienfeld immerhin Dörries’ Studie zur Bibel im ältesten Mönchtum,3 die auch der Verfasser dieser Zeilen in der Encyclopedia of the Bible and Its Reception zitiert.4 Im Artikel „Mönchtum“ im Reallexikon für Antike und Christentum kommt Samuel Rubenson dagegen ganz ohne Dörries aus.5 Wirft man einen Blick in Lehrbücher, ergibt sich ein ähnliches Bild: Im Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte von Wolf-Dieter Hauschild und Volker Henning Drecoll taucht Dörries lediglich im Zusammenhang mit der Konstantin-Forschung auf.6 Selbst sein Göttinger Kollege und faktischer Nachfolger Carl Andresen zitiert in den Kirchen der alten Christenheit Dörries’ Arbeiten zu Konstantin, nicht aber die zum Mönch-
1 Dörries’ Aufsätze werden – sofern darin enthalten – nach den von ihm selbst konzipierten Sammelbänden zitiert: Hermann Dörries, Wort und Stunde, Bd. I: Gesammelte Studien zur Kirchengeschichte des vierten Jahrhunderts, Göttingen 1966; Ders., Wort und Stunde, Bd. II: Aufsätze zur Geschichte der Kirche im Mittelalter, Göttingen 1969; Ders., Wort und Stunde, Bd. III: Beiträge zum Verständnis Luthers, Göttingen 1970 (im Folgenden abgekürzt: WuS I–III). Der Wiederabdruck erfolgte in vielen Fällen in stark überarbeiteter Form; auf Abweichungen des Wiederabdrucks von der Erstveröffentlichung wird hingewiesen, soweit diese für das Thema dieses Beitrags von Bedeutung sind. 2 Ulrich Köpf, Mönchtum III. Kirchengeschichtlich, RGG 4 5 (2002), 1414–1433. 3 Fairy von Lilienfeld, Mönchtum II. Christlich, TRE 23 (1994), 150–193, hier 160 und 188 (fälschlich „Heinrich“ Dörries zugewiesen). 4 Peter Gemeinhardt, Monasticism. Christianity. Greek and Latin Patristics, EBR 19 (2021), 707– 714, hier 712. 5 Samuel Rubenson, Mönchtum I (Idee und Geschichte), RAC 24 (2012), 1009–1064. 6 Wolf-Dieter Hauschild/Volker Henning Drecoll, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. I: Alte Kirche und Mittelalter, Gütersloh 52016, 216. Auch das Lehrbuch des Verfassers dieses Beitrags (Peter Gemeinhardt, Geschichte des Christentums in der Spätantike, Tübingen 2022, 234 und 440 Anm. 5) kommt mit zwei Nennungen von Dörries aus, mit seiner Akademieabhandlung zur Vita Antonii (1949) sowie dem 1938 publizierten Aufsatz zu Germanischen Nationalkirchen. https://doi.org/10.1515/9783110690095-007
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tum, ausgenommen die Untersuchungen zu Makarios/Symeon.7 Im Bereich spezialisierter Untersuchungen sind es vor allem die Messalianer und die Makarios-Texte,8 zu deren Deutung Dörries nach wie vor als Gesprächspartner herangezogen wird, in kritischer Abgrenzung wie in konstruktiver Anknüpfung. Das gilt schon weniger für die Apophthegmata Patrum und die Vita Antonii. Das Urteil von Samuel Rubenson, Dörries’ Aufsatz zur Antonius-Tradition sei „one of the most important contributions to research on the Vita“,9 findet in jüngeren Arbeiten nur wenig Widerhall, obwohl Dörries zur frühen Geschichte des ägyptischen Mönchtums seinerzeit wichtige und – wie zu zeigen sein wird – auch heute noch lesenswerte Beiträge vorlegte. Fassen wir also diesen ersten, kursorischen Durchgang zusammen: Wer zum ersten Mal auf das Mönchtum zugeht – seien es Studierende, Nichtpatristiker oder weitere Interessierte – und sich nicht von vorneherein mit den Messalianern oder bestimmten Aspekten der Wüstenväterliteratur befassen will, kommt offenbar ganz gut um Dörries-Lektüre herum. Das sieht aus der historiographischen Binnenperspektive ganz anders aus: Bernd Jaspert widmete ihm in seiner forschungsgeschichtlichen Aufarbeitung der Beziehung von Mönchtum und Protestantismus mit knapp 130 Seiten einer der umfangreichsten Personenartikel.10 Dem entspricht, dass Dörries zu seinen Zeiten als maßstabsetzender Autor in monastischen Fragen – und zwar weit über die Kellien in der ägyptischen Wüste hinaus – galt: Seine einschlägigen Artikel in der zweiten und dritten Auflage der RGG – von „Akoimeten“ über „Antonius“ und „Makarius“ bis „Paulus von Theben“ – dürften vielfach gelesen worden sein.11 Umso bedauerlicher und auch merkwürdiger ist es, 7 Carl Andresen, Die Kirchen der alten Christenheit (RM 29/1), Stuttgart 1971, 443 f. 8 Vgl. hierzu Näheres in Abschnitt 4. 9 Samuel Rubenson, The Letters of St. Antony. Monasticism and the Making of a Saint, Minneapolis 1995, 130; zu seiner kritischen Auseinandersetzung mit Dörries vgl. ebd. 130f.153–157.161. 10 Bernd Jaspert, Mönchtum und Protestantismus. Probleme und Wege der Forschung seit 1877, Bd. II (RBS.S 15), St. Ottilien 2006, 303–431. Im Umfang übertroffen wird dies innerhalb des Jaspert’schen Sammelwerkes nur von den Artikeln zu Ernst Benz (ebd. 514–670) sowie Ulrich Köpf (Bd. IV/1 [RBS 20], St. Ottilien 2010, 101–348). Praktisch gleich lang ist der Beitrag zu Christoph Joest (Bd. IV/2 [RBS 20], St. Ottilien 2010, 749–876), während z. B. Karl Holl (Bd. I [RBS 11], St. Ottilien 2005, 288–341) oder Fairy von Lilienfeld (Bd. III [RBS 19], St. Ottilien 2007, 181–271) trotz ihrer zahlreichen und gewichtigen Forschungsbeiträge vergleichsweise kürzerer Einträge gewürdigt werden. Der Befund wird zwar dadurch relativiert, dass Jasperts Exzerpte völlig unterschiedlich ausfallen (diejenigen zu noch lebenden Zeitgenossen sind tendenziell länger, ohne dass die Kriterien dafür ersichtlich wären). Andererseits ist die Breite von Dörries’ auf das Mönchtum bezogenem Werk tatsächlich größer als etwa die von Karl Heussi (ebd. Bd. II, 21–88 und unten Abschnitt 3), der sich neben dem grundlegenden Werk zu den Anfängen des Mönchtums monographisch auf Nilus von Ankyra beschränkte. 11 Dörries’ Werk wurde einschließlich kleinerer Genres (Lexikonartikel und Rezensionen) erstmals vollständig bibliographiert in: Aneke Dornbusch, Hermann Dörries (1895–1977): Ein Kirchen-
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dass er das Buch zum „Gang der Entwicklung des ältesten Mönchtums“, das er bereits 1931 angekündigt hatte, nie geschrieben hat.12 Es blieb bei mehreren themenorientierten Durchgängen durch die monastische Literatur der Spätantike, aus denen Dörries’ Vorstellungen von den Leitthemen und -motiven sowie von Entwicklung und Verfall des mönchischen Ideals herauspräpariert werden müssen. Genau so möchte ich im Folgenden vorgehen: Nach einem knappen Überblick über Themen und Texte (Abschnitt 2) zeichne ich Dörries’ Sicht des Mönchtums im Kontext der damaligen Forschung nach (3) und widme einen kurzen Seitenblick dem Mönchtum des Makarios/Symeon (4) als dem Aspekt, der in Dörries’ Arbeiten in signifikanter Weise neben anderen Studien zum Mönchtum steht, mit diesen aber vielfach verwoben ist. An den Schluss stelle ich drei Thesen zu Größe und Grenze von Dörries’ Beitrag zur Erforschung des Mönchtums (5).
2 Varietäten von Mönchtum: Die Spannweite von Dörries’ Forschungen Das Mönchtum war für Dörries erklärtermaßen eine Sache der Vergangenheit. So formulierte er es ausdrücklich in einem Aufsatz über Bursfelde und seine Reform, der zum Teil auf den Vortrag anlässlich seiner Einführung als Abt von Bursfelde am 11. Mai 1961 zurückging.13 Hier befand Dörries zwar einleitend, zu „ruhigem und nachdenklichem Sinne“ spreche „der edle alte Bau ein einfaches, aber unabweisbares Wort“ 14 – ein Urteil, das heutige Besucherinnen und Besucher der idyllisch an der Weser gelegenen romanischen Klosterkirche teilen mö-
historiker im Wandel der politischen Systeme Deutschlands (Christentum in der modernen Welt 3), Tübingen 2022, 315–327. 12 Hermann Dörries, Mönchtum und Arbeit, in: Walter Elliger (Hg.), Forschungen zur Kirchengeschichte und zur kirchlichen Kunst. FS Johannes Ficker, Leipzig 1931, 17–39, hier 18 Anm. 1: „Meine Auffassung vom Gang der Entwicklung des ältesten Mönchtums hoffe ich bald an anderer Stelle darlegen zu können.“ Die zitierte Ankündigung wurde beim Wiederabdruck (in: Dörries, WuS I, 277–301, hier 278 Anm. 1) gestrichen, ohne dass Gründe für ihr Nichteinlösen genannt würden. Eine mögliche Erklärung liegt in der zwischenzeitlichen Publikation des Grundlagenwerkes zum Mönchtum von Karl Heussi (s. u. S. 115 f.). 13 Die 1961 separat publizierte Inaugurationsrede (Hermann Dörries, Bursfelde und seine Reform, JGNKG 59 [1961], 5–18) wurde mit einem schon 1935 erschienenen Aufsatz (Die Bursfelder Reform. 1434–1934, ZGNKG 40 [1935], 23–40) für den Wiederabdruck zu einem einzigen Text verwoben (Ders., Bursfelde und seine Reform, WuS II, 295–321), ohne die Nahtstellen kenntlich zu machen. 14 Dörries, WuS II (Anm. 13), 295.
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gen. Allerdings sah er die spezifische Bursfelder Frömmigkeit,15 die im Spätmittelalter weit über das Weserbergland hinaus Wirkung entfaltet hatte, kritisch: Sie sei nicht aus der Predigt des Wortes hervorgegangen und habe daher der Reformation weichen müssen – obwohl sie in bedenkenswerter Weise bis in die Gegenwart des Abtes und Redners nachwirke: Die Reformation war das Ende der Reform. Auch wir können die tiefe Kluft, die beide trennt, weder überbrücken noch umgehen. Ist es dann nicht seltsam, wenn eine Landeskirche, die das Erbe der Reformation wahren will, dem Senior einer Fakultät, die sich auf Luther beruft, eine durch dessen Lehre gegenstandslos gewordene Würde überträgt, und eine Landesregierung, Rechtsnachfolgerin des Gründers wie des Herstellers des ehemaligen Klosters, daran teilhat?16
Dörries wies die ihm als dem Senior der Fakultät zugefallene Ehre nicht zurück, obwohl er sie – anders als sein Vorgänger, Carl Stange (1870–1959) – nicht durch eigene Initiativen mit Leben zu füllen trachtete.17 Eine Bedeutung des Mönchtums für Kirche und Theologie seiner Zeit sah Dörries trotz dieses Amtes nicht; das Wiederaufleben kommunitärer Lebensformen im evangelischen Christentum seit der Zwischenkriegszeit, in dessen Kontext ausdrücklich auf patristische Vorbilder rekurriert wurde, lag offenbar außerhalb seines Horizonts.18 Dass Bursfelde unter seinem zweiten Nachfolger als Abt, Götz Harbsmeier (1910–1979), 1978 zu einem „Geistlichen Zentrum“ wurde, hätte Dörries vermutlich mit Befremden aufgenommen.
15 Dörries, WuS II (Anm. 13), 313. Zur Kritik von Dörries’ Hervorhebung der Frömmigkeit zuungunsten der Predigt des Evangeliums vgl. die bei Jaspert, Mönchtum (Anm. 10), 321 genannte Literatur. 16 Dörries, WuS II (Anm. 13), 318. Zu Dörries’ Wahl zum Abt von Bursfelde und den dabei erfolgten Klärungen bezüglich des geistlichen und weltlichen Charakters dieses Amtes vgl. den Beitrag von Hans Otte in diesem Band. 17 Vgl. Dornbusch, Dörries (Anm. 11), 243–246. Charakteristisch ist die ebd. 263 zitierte, zustimmende Aufnahme eines Diktums von Landesbischof Hanns Lilje, die Übertragung der Amtswürde sei ein „freundlicher Schicksalsschlag“ gewesen (Hermann Dörries an Hans von Campenhausen, 13. 3. 1961; Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407c, 127). – Zitate aus dem Briefwechsel zwischen Dörries und Campenhausen sind der Dissertation von Aneke Dornbusch entnommen, die dieses Quellencorpus erstmals ausgewertet hat (s. auch ihren Beitrag in diesem Band). 18 Dazu vgl. Christoph Joest, Spiritualität evangelischer Kommunitäten. Altkirchlich-monastische Tradition in evangelischen Kommunitäten von heute, Göttingen 1995, 41–62; Reinhard Hempelmann, Ein Überblick über die evangelische Spiritualität in der Nachkriegszeit, in: Peter Zimmerling (Hg.), Handbuch evangelische Spiritualität, Bd. 1: Geschichte, Göttingen 2017, 783–803, hier 785–788; Írisz Sipos, Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften. Experimentierfeld für kreative Formen verbindlicher Spiritualität, in: Peter Zimmerling (Hg.), Handbuch evangelische Spiritualität, Bd. 3: Praxis, Göttingen 2020, 133–149, hier 138–141.
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Doch waren für Dörries – entgegen dem ersten Augenschein – Mönche mehr als nur antiquarisch interessant. Ein Beitrag für den Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts zum Bonifatius-Gedenkjahr 1954 enthielt die folgenden, nachdenklichen Worte: Es ist in mancher Hinsicht schmerzlich, daß wir zu den Heiligen des Mittelalters und der Kirchenväterzeit kein inneres Verhältnis mehr haben. Aber da sie auf die Altäre erhoben wurden und dem Ersten Gebot allzunahe kamen, blieb nichts übrig als der entschiedene Bruch; vom Altar führt kein Weg zurück in ein stilles Grab neben der Kirche! Und doch müssen wir uns immer wieder sagen, daß die Geschichte der Kirche nicht mit dem Jahre 1517 begann, daß vielmehr die Kirche des Mittelalters und der Frühzeit auch unsere Kirche ist. Doch indem uns das wieder bewußt wird, stehen ernste Fragen vor uns auf: was bedeuten die großen Gestalten der Vergangenheit für uns? Was sagen, was fordern sie?19
Der Text erschien unter dem Titel Von Bonifatius zu Luther und konzentrierte sich ursprünglich ganz auf die Möglichkeit eines evangelischen Zugangs zu Bonifatius. Interessanterweise baute ihn Dörries für den Wiederabdruck zu einer fünfzig Seiten umfassenden Abhandlung aus, in der sowohl die quellenkundlichen Passagen durch Bezugnahme auf die hagiographische Tradition als auch die Darstellung der Sicht anderer Konfessionen auf Bonifatius stark erweitert wurden; im Grunde wurde der Text erst dadurch zu einem konfessionskundlichen Beitrag sensu stricto.20 Auf diese Ausweitung der eigenen Perspektive auf Bonifatius dürfte Dörries Bezug nehmen, wenn er in der ersten Fußnote den Hinweis auf die Erstveröffentlichung ergänzt: „Das Thema wurde mir gestellt; es hat sich über der Arbeit als fruchtbar erwiesen“; man hört hier die anfängliche Skepsis mitschwingen, die sukzessive dem Ehrgeiz gewichen zu sein scheint, dem Mönch, Missionar und Bischof in päpstlichem und fürstlichem Auftrag gerecht zu werden. Das führte Dörries in einem für den Wiederabdruck neu geschriebenen Abschnitt zum „evangelischen Bonifatiusverständnis“ zu einer grundsätzlichen Formulierung der Aufgabe eines Kirchenhistorikers: Er habe am Leitfaden des Neuen Testaments zu überprüfen, „was an einer Gestalt der Kirchengeschichte gültig oder nur zeitbedingt ist“.21 Am Ende des so verfahrenden Aufsatzes gelangte Dörries 19 Hermann Dörries, Von Bonifatius zu Luther, MdKI 5 (1954), 42–52; wieder in: WuS II, 25–75, hier 26. 20 Der ursprünglich drei (große) Seiten umfassende Abschnitt zur mittelalterlichen BonifatiusRezeption wuchs auf 25 Seiten (WuS II, 27–52) an! Vgl. zu den Einzelheiten der Überarbeitung Dornbusch, Dörries (Anm. 11), 276 mit Anm. 626; zu den beiden Bonifatius-Aufsätzen auch Jaspert, Mönchtum (Anm. 10), 336–357. 21 Dörries, WuS II (Anm. 19), 52–57, hier 56. Aufgrund der Berufung auf die Schrift als Maßstab auf „eine gewisse Nähe zum Kirchengeschichtsverständnis Gerhard Ebelings“ zu schließen (so Jaspert, Mönchtum [Anm. 10], 348 Anm. 1230), erscheint mir nicht notwendig – Dörries hatte anders als Ebeling kein distinktes Interesse an der Auslegungsgeschichte.
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zu der Feststellung, unter Berücksichtigung des Zeitenabstandes und der unterschiedlichen Herausforderungen und Mitteilungsmöglichkeiten habe sich Luther durchaus als „Erbe des Bonifatius“ verstehen können.22 Und das gelte auch für ein historisch fundiertes, theologisch verantwortetes evangelisches Zeugnis in der Gegenwart: Über Bonifatius, so Dörries abschließend, wird man urteilen, daß sein Wirken von christlicher Vollmacht getragen war; was er wollte, war recht, wie nicht nur seine eigene Zeit überzeugt sein durfte. Er tat, wozu er berufen war. Können wir keinen Weihrauch herbeitragen zum Kult des Heiligen Bonifatius, so sollen doch auch wir einen Kranz dankbaren Gedenkens an seinem Grabe niederlegen.23
In solchem Gedenken – unterschieden von Heiligenkult und -verehrung nach römisch-katholischem Verständnis – sah sich Dörries durch Luther selbst legitimiert, der die Heiligen sehr wohl geehrt habe, wie auch die Confessio Augustana (Artikel XXI) den „Heiligendienst“ grundsätzlich als konsensfähig präsentiert habe.24 Zwar sei die kategoriale Differenz zwischen dem Zeugnis der Bibel und allen geschichtlichen Realisierungsversuchen christlichen Lebens zu wahren, so dass nicht das Leben von Aposteln, Heiligen und anderen Christen, sondern ihr Glaube und damit das Wort Gottes das alleinige Kriterium darstelle, womit Luther eine schroffe „Absage an alles Vorbilddenken“ vorgetragen habe, wie Dörries andernorts erklärte.25 Dörries mahnte: „Wir müssen lernen, die ‚lieben Heiligen‘ in ihrem Wort zu hören und zu verstehen“ 26 – das habe er selbst in seinem Aufsatz über Antonius versucht, auf den wir noch zu sprechen kommen werden. Schon das Beispiel Bonifatius, der nicht nur als Mönch, sondern auch als päpstlich beauftragter Missionar Herausforderungen für eine evangelische Rezeption bot,
22 Dörries, WuS II (Anm. 19), 73. 23 Dörries, WuS II (Anm. 19), 74 f. 24 Dörries, WuS II (Anm. 19), 26 Anm. 1. Zum reformatorischen Umgang mit Heiligen vgl. Peter Gemeinhardt, Die Heiligen. Von den frühchristlichen Märtyrern bis zur Gegenwart, München 2010, 91–100; Ders., Heilige als Vorbilder im Glauben – eine evangelische Perspektive, in: Jürgen Henkel u. a. (Hg.), Heilige und Heiligenverehrung in Ost und West. Sfinţii şi cultul sfilţilor în Răsărit şi Apus (Deutsch-Rumänische Theologische Bibliothek 18), Bonn/Hermannstadt 2018, 64–80, hier 70–72.77 f. 25 Hermann Dörries, Luthers Verständnis der Geschichte, WuS III, 1–83, hier 81 mit Bezug auf einen 1538 verfassten Brief Luthers an Melanchthon (WA.B 8, 344,28–32 = Nr. 3285): Quando et ipsorum Apostolorum vita longe alia est quam doctrina, sicut et nostra et omnium sanctorum ab initio mundi. Quare non secundum vitam vel dicta sanctorum, sed [Dörries: et] secundum fidem sanctorum omnia sunt iudicanda, id est, secundum verbum dei [vgl. Hebr 13,7]. Nach Jaspert, Mönchtum (Anm. 10), 427 f. ist dies die einzige Stelle in Dörries’ Werk, an dem er sich mit Luthers Stellung zum Mönchtum beschäftigt, wobei dieser sich an den entsprechenden Passagen von De votis monasticis gar nicht mit spezifisch monastischen Fragen befasst. 26 Dörries, WuS II (Anm. 19), 26 Anm. 1.
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zeigt: Die Mönche waren für Dörries nicht unproblematische, aber wichtige Gesprächspartner, die ihn in seinem ganzen wissenschaftlichen Schaffen begleiteten, wenn sie ihn auch zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Intensität beschäftigten. Das fällt besonders beim Blick auf Dörries’ Arbeitsschwerpunkte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Verkürzend könnte man sagen: Nachdem die Schlachten um die Germanenmission geschlagen waren, kamen Kaiser und Mönche in den Blick.27 Darunter nehmen einerseits Symeon/Makarios und die Messalianer, andererseits Mönche als Teilhaber an der Mission im frühen Mittelalter großen Raum ein, weshalb sie im vorliegenden Band gesondert behandelt werden.28 Ebenso machte sich Dörries aber mit Studien zum frühen östlichen Mönchtum einen Namen; man muss sogar feststellen, dass er sich dieser monastischen Emergenzphase wie nur wenige andere deutsche Kirchenhistoriker des letzten Jahrhunderts – zu nennen wären Karl Holl (1866–1926), Karl Heussi (1877–1961) oder Ernst Benz (1907–1978) – zuwandte. Während sein Büchlein über den Jesuitenorden für die Religionskundlichen Quellenhefte29 werkgeschichtlich Episode blieb, rückte Dörries 1931 in einer Festschrift für seinen vormaligen Hallenser Kollegen Johannes Ficker (1861–1944) unter dem Titel Mönchtum und Arbeit erstmals die Apophthegmata Patrum in den Mittelpunkt. Er sah in den Wüstenvätersprüchen Quellen für „die erste Zeit des Mönchtums“, die „grundlegend für alle späteren Perioden geblieben ist, deren eigene Gestalt hier vorgebildet wurde“.30 Aufgrund der Zeitumstände, die ihn zu verstärkter Arbeit am Verhältnis von Germanentum und Christentum nötigten, legte Dörries diese Quellen zunächst wieder zur Seite. Unterdessen publizierte Karl Heussi mit seinem Buch Der Ursprung des Mönchtums (1936) eine solche Gesamtdarstellung, wie Dörries selbst sie wohl auch hatte schreiben wollen. Jedoch war Heussis Bild dieser Ursprünge signifikant verschieden von Dörries’ bisher nur skizzierter Sichtweise. Ein Seminar zum Mönchtum im Wintersemester 1947/48 bot Dörries die Gelegenheit, in einer Akademieabhandlung über die Gestalt und Tradition des Antonius einschließlich einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Heussi seine Position weiter zu entfalten. Im selben Zusammenhang nahm er sich – seinem Interesse
27 Zu Dörries’ Arbeiten zum Themenkreis „Kaiser und Kirche“ vgl. Adolf Martin Ritter, Konstantin – Theodosius – Justinian. Anmerkungen zum Bild dreier spätantiker Kaiser in der Darstellung Hermann Dörries’, in: Uta Heil/Jörg Ulrich (Hgg.), Kirche und Kaiser in Antike und Spätantike. FS Hanns Christof Brennecke (AKG 136), Berlin/Boston 2017, 204–224 (sowie den Beitrag von Adolf Martin Ritter zu diesem Band). 28 Vgl. zu diesen Aspekten die Beiträge von Martin Illert und Uta Heil zu diesem Band. 29 Hermann Dörries, Der Jesuiten-Orden, Leipzig/Berlin o. J. (1926). 30 Dörries, WuS I (Anm. 12), 277.
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an der Schriftgebundenheit historischer Urteile nachgehend – das Thema „Mönchtum und Bibel“ vor; zehn Jahre später (1959) behandelte er auf der PatristikKonferenz in Oxford das Thema „Beichte“. Diese Beiträge sollen im folgenden Abschnitt als Nukleus der von Dörries betriebenen Mönchtumsforschung im Fokus stehen. Parallel dazu wandte er sich nach dem Krieg wieder verstärkt den Messalianern zu, um diese Mönche editorisch und theologisch ins rechte Licht zu rücken. Daher soll Dörries’ Bild des frühen Mönchtums in Abschnitt 4 mit Makarios/Symeon kontrastiert werden, der für ihn noch einmal ein anderer Mönch, ja sogar mehr als ein Mönch war.31
3 Ein direkter Blick ins Kellion? Dörries, Heussi und die Wüstenväter Karl Heussi, eine Generation älter als Hermann Dörries, hatte das Fach Kirchengeschichte durch sein erstmals 1907–1909 erschienenes Kompendium geprägt,32 war aber daneben auch als Mönchtumsforscher hervorgetreten, vor allem mit seinen 1917 publizierten Untersuchungen zu Nilus dem Asketen, einem kleinasiatischen Mönch.33 Weiterhin hatte er für die erste und zweite Auflage der Religion in Geschichte und Gegenwart zahlreiche Artikel zu monastischen Themen beigesteuert, u. a. „Askese“ und „Kloster“ sowie jeweils den umfangreichen Artikel „Mönchtum“.34 Zu den ägyptischen Wüstenvätern hatte er sich jedoch bis 1936
31 Dabei können nicht alle relevanten Texte diskutiert werden; auch tragen nicht sämtliche Erwähnungen des ägyptischen Mönchtums Neues aus: So kann z. B. der Aufsatz Das Bruderwort trotz der Analyse von drei Apophthegmen (Hermann Dörries, Das Bruderwort. Mutuum colloquium et consolatio fratrum, Junge Kirche 7 [1939], 858–930; 8 [1940], 2–8; wieder in: WuS III, 458– 482) hier außer Betracht bleiben. Er ist vielmehr als zeitgeschichtliche Quelle für die späten 1930er Jahre von Interesse; vgl. dazu jetzt Aneke Dornbusch, Hermann Dörries (1895–1977) – Patristics during the ‘Kirchenkampf’, Studia Patristica 130 (2021), 539–548. 32 Karl Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, Tübingen 11907–1909 (erschienen in drei Lieferungen). 1949, im Jahr von Dörries’ literarischer Intervention, erschien die 10., gegenüber den früheren Fassungen grundlegend veränderte Auflage (vgl. Jaspert, Mönchtum [Anm. 10], 27–31), wobei auch jede andere zu Heussis Lebzeiten publizierte Auflage (zuletzt 121960; Nachdruck 181991) eine mehr oder weniger tiefgreifende Überarbeitung darstellte. Vgl. dazu Peter Gemeinhardt, Karl Heussi, der Nationalsozialismus und das Jahr 1933, ZThK 104 (2007), 287–319, hier 312–315. 33 Karl Heussi, Untersuchungen zu Nilus dem Asketen (TU 42/2), Leipzig 1917. 34 Karl Heussi, Askese II. Kirchengeschichtlich, RGG 1 1 (1909), 727–729; Ders., Kloster, RGG 1 3 (1912), 1528–1530 sowie: Kloster II. Im Christentum, RGG 2 3 (1929), 1093–1097; Ders., Mönchtum, RGG 1 4 (1913), 427–446 sowie: Mönchtum II. Christliches Mönchtum, RGG 2 4 (1930), 134–145. Zum Vergleich der verschiedenen Auflagen vgl. Jaspert, Mönchtum (Anm. 10), 33–50.
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weder monographisch noch in Aufsätzen gesondert geäußert. Das Buch Der Ursprung des Mönchtums beinhaltete nun ein ausführliches Kapitel über „Die Apophthegmata Patrum als Geschichtsquelle“ 35 – also genau zu Dörries’ Interessenschwerpunkt. Heussi hatte, durch Wilhelm Bousset (1865–1920) angeregt,36 eine formgeschichtliche Herangehensweise an die Texte des ägyptischen Mönchtums verfolgt und bezüglich der historischen Zuverlässigkeit der Vita Antonii des Athanasius die Priorität eingeräumt: Zwar seien in dieser die Reden und narrativen Passagen vom Hagiographen gestaltet worden, doch enthielten die „perikopenartigen Einzelgeschichten“ ältere, vor Athanasius geformte Tradition.37 Man dürfe sich natürlich keiner Illusion hingeben, da scheinbar geschichtliche Züge sich der „Lust am Ausmalen“ des Erzählers verdanken könnten, wie sie aber eben auch in der Apophthegmentradition am Werke gewesen sei.38 Wenn man nun, so Heussis Fazit, etwas über Antonius und damit über die ersten Anfänge des Mönchtums erfahren wolle, biete am ehesten die Vita Auskunft, auch wenn zu konzedieren sei, dass deren „Antoniusbild“ geschichtlich wirksamer geworden sei als der Eremit selbst.39 In Bezug auf die Apophthegmata war Heussi skeptisch: Zwar meinte er, dass der Grundstock „auf die Generationen von 350/370 bis 430/450“ zurückgehe und damit älter sei als die Sammlungen,40 doch gelte in ihnen „das leitende Interesse [dem] Sachlichen“, während „die Personen […] zur Verdeutlichung der Sache“ dienten; sie böten keine „geschichtliche Überlieferung, die die Erinnerung an das Vergangene als solche sicherstellen will.“ 41 Dementsprechend erblickte Heussi „den Wert der Apophthegmen als Geschichtsquelle“ gerade in der „Fest-
35 Karl Heussi, Der Ursprung des Mönchtums, Tübingen 1936, 133–153. Diese Einführung in die Problemgeschichte der Apophthegmenforschung ist auch heute noch lesenswert; zur neueren Forschung vgl. einführend Barbara Müller, Der Weg des Weinens. Die Tradition des „Penthos“ in den Apophthegmata Patrum (FKDG 77), Göttingen 2000, 16–38; William Harmless, Desert Christians: An Introduction to the Literature of Early Monasticism, Oxford 2004, 167–186. 36 Wilhelm Bousset, Apophthegmata. Studien zur Geschichte des ältesten Mönchtums, aus dem Nachlass hg. von Theodor Hermann/Gustav Krüger, Tübingen 1923. 37 Heussi, Ursprung (Anm. 35), 87. Hier optierte Heussi anders als Bousset, Studien (Anm. 36), 91 f., der die Apophthegmata Patrum – wie Dörries – bezogen auf ihren Quellenwert der hagiographischen Tradition vorzog. 38 Heussi, Ursprung (Anm. 35), 98. 39 Heussi, Ursprung (Anm. 35), 100. 40 Heussi, Ursprung (Anm. 35), 141. 41 Heussi, Ursprung (Anm. 35), 142 (Hervorhebungen im Original). – Diesem grundsätzlichen Vertrauen, dass die Apophthegmata Patrum eine mit aller Vorsicht rekonstruierbare mündliche Tradition aus der ägyptischen Wüste bewahren, ist in jüngerer Zeit ein Bild dieser Texte als Schulmaterial im palästinischen Mönchtum des späten 5. und 6. Jahrhunderts entgegengestellt worden (Rubenson, Mönchtum [Anm. 5], 1032 f.1036).
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stellung des Typischen, Durchschnittlichen […], nicht des Individuell-Einmaligen, von der Anwendung des Begriffs ‚Persönlichkeit‘ ganz zu schweigen“.42 Hier hakte Dörries ein. Bereits in seiner 1937 erschienenen Rezension hatte er erklärt, dass seiner Auffassung nach das monastische Urbild nicht in Athanasius’ Vita Antonii, sondern in den Apophthegmata Patrum gegeben war, und zwar in Form historischer Miniaturen einzelner Wüstenväter, deren Worte individuell zugerechnet und untersucht werden konnten. Damit nahm er das später ausgeführte Anliegen vorweg, „die ‚lieben Heiligen‘ in ihrem Wort zu hören und zu verstehen“ (s. o.), und darum kritisierte er auch die von Heussi eingeführte durchlaufende Nummerierung der 948 Sprüche des Alphabetikon: Es erscheine ihm „wichtig zu hören, wem jedesmal ein Wort zugeschrieben ist; dagegen weckt es verdrießliche Erinnerungen an die Inflationszeit, wenn man sich erst ans Umrechnen geben muß.“ 43 Erst 1949 bot Dörries aber in Form einer Akademieabhandlung über Die Vita Antonii als Geschichtsquelle einen Gegenentwurf zu Heussi.44 Seinen eigenen Zugang zu den monastischen Ursprüngen bestimmte er gegenüber Hans von Campenhausen dahingehend, „den Einschmelzungsprozess zu verfolgen, der den geschichtlichen Rohstoff ergreift, um dann endlich das Ganze in eine ideale Form zu gießen – man könnte es auch eine ikonographische Aufgabe nennen.“ 45 Seine Replik auf Heussi begann mit der programmatischen Fragestellung:
42 Heussi, Ursprung (Anm. 35), 141 Anm. 1; vgl. ebd. 164 f. Anm. 1. 43 Hermann Dörries, Rez. Karl Heussi, Der Ursprung des Mönchtums, Tübingen 1936, ThLZ 62 (1937), 101–103, hier 103. Dessen ungeachtet hat Heussis Nummerierung sich im deutschsprachigen Raum und teils auch darüber hinaus bewährt. Ihr unbestreitbarer Vorteil ist, dass sie Übersichtlichkeit schafft, gerade angesichts des Umstandes, dass die „alphabetische“ Sammlung keineswegs strikt alphabetisch angeordnet ist! Der Nachteil ist allerdings, dass „das“ Alphabetikon, wie es in PG 65 abgedruckt ist, der 1677 veröffentlichten Edition Coteliers nach einer Handschrift des 12. Jahrhunderts entspricht, damit aber nicht „die“, sondern nur eine Sammlung von Wüstenvätersprüchen bietet (z. B. fehlt die in anderen Manuskripten zu findende Ergänzung durch „anonyme“ Sprüche). Das Problem liegt letztlich weniger in der Nummerierung an sich als in der Suggestion, schon damit eine extrem uneinheitliche und fluide Textüberlieferung in den Griff bekommen zu haben! 44 Hermann Dörries, Die Vita Antonii als Geschichtsquelle, NAWG.PH (1949), 357–410; wieder in: WuS I, 145–224. Der Wiederabdruck in WuS I wurde stark erweitert, einerseits durch eine Fortführung der ursprünglich mit dem Kirchenhistoriker des 5. Jahrhunderts, Sozomenus, endenden Rezeptionsgeschichte von Kyrill von Skythopolis († 558) bis zu Gustave Flaubert († 1880; Dörries, ebd., 204–209), andererseits durch die ausführliche Darstellung weiterer Quellen zu Antonius in einem abschließenden Exkurs (ebd. 209–224). 45 Hermann Dörries an Hans von Campenhausen, 13. 12. 1947 (Dokumentensammlung des Herderinstituts, Campenhausen 1407b, 116); zit. n. Dornbusch, Dörries (Anm. 11), 188.
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Ist die Wirklichkeit zugänglicher im verklärenden Widerschein als in ihr selbst? Bisweilen scheint die Geschichte diese Frage zu bejahen und schließt die Wirkungen einer bedeutenden Gestalt nicht an sie selbst, sondern an das Bild an, das von ihr entworfen ist.46
Dass Antonius der Nachwelt in erster Linie durch die Vita Antonii bekannt geworden sei, stand fest; dass deren Verfasser über eine historische Gestalt geschrieben habe, bezweifelte Dörries nicht. Doch konstatierte er mit Verwunderung, dass Athanasius’ hagiographischer Bestseller noch nicht „an den Worten des Antonius selbst“ geprüft worden sei, obwohl der „jüngeren Forschung“ – mit Ausnahme von Heussi selbst – klar sei, daß als die Hauptquellen für unsere Kenntnis des ägyptischen Eremitentums nicht die Berichte noch so urteilsfähiger Besucher, sondern die eigenen Aussagen dieser Einsiedler zu gelten haben; in Sammlungen aus ihren eigenen Reihen überliefert, bedeuten sie eine Selbstdarstellung von höchster Treue.47
Nur in diesen Aussprüchen sei „die Wirklichkeit des Mönchsvaters“ gegeben, so dass sich die Apophthegmata zur Vita verhielten „wie das Bild zum Abbild.“ 48 Damit war bereits auf der dritten Seite des Beitrags vorweggenommen, wie es sich nach Dörries’ Ansicht mit „Wirklichkeit“ und „verklärende[m] Widerschein“ (s. o.) verhielt. Dörries war natürlich über die sehr komplizierte Überlieferungsgeschichte der Apophthegmata Patrum im Bilde,49 ging aber davon aus, dass sich eine relative Chronologie rekonstruieren lasse, die es erlaube, konkrete Entwicklungsstufen von Begriffen und Praktiken und damit die Priorität konkreter Texte zu bestimmen.50 Ich will dies kurz am Beispiel der einzigen Passage vorführen, die sowohl in den Apophthegmata als auch in der Vita Antonii überliefert ist. Dabei handelt es sich um folgende, für das Wüstenmönchtum charakteristische Aussage:
46 Dörries, WuS I (Anm. 44), 145. 47 Dörries, WuS I (Anm. 44), 146. 48 Dörries, WuS I (Anm. 44), 147. 49 Dörries, WuS I (Anm. 44), 146 f.213–215. – Dieser Situation abzuhelfen war eines der Ziele der Gründung einer „Kommission zur Erforschung altchristlichen Mönchtums“, die später mit der von Carl Andresen, heute von Ekkehard Mühlenberg geleiteten Patristischen Kommission vereinigt wurde. Allerdings gelangten weder die Edition der ältesten Handschrift des Alphabetikon (Vat. Graec. 2592) noch diejenige der „Logoi“ des Isaias monachus (beide spätes 5. Jahrhundert) zum Abschluss. 50 Auf diesen Spuren wandeln noch heute Günther Schulz/Jürgen Ziemer, Mit Wüstenvätern und Wüstenmüttern im Gespräch. Zugänge zur Welt des frühen Mönchtums in Ägypten, Göttingen 2010, 313–316 (zum möglichen Prozess der Traditionsbildung von den Worten des Lehrers bis zur Sammlungstätigkeit des Poimen-Kreises). Zum Verhältnis der Vita Antonii zu den Apophthegmata Patrum vgl. Peter Gemeinhardt, Antonius: Der erste Mönch. Leben – Lehre – Legende, München 2013, 26–29.
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AP/G Antonius 10 Wie die Fische sterben, wenn sie auf dem Trockenen verweilen, so auch die Mönche: Halten sie sich außerhalb des Kellions auf oder verweilen bei Weltleuten, ermatten sie in Bezug auf die Spannung der Sitzruhe. Wie nun der Fisch ins Meer, so müssen auch wir in das Kellion eilen, damit wir uns nicht draußen aufalten und die Wachsamkeit für das Innere zu vergessen.51
Athanasius, Vita Antonii 85,3 f. Wie die Fische sterben, wenn sie auf der trockenen Erde verweilen, so auch die Mönche: Halten sie sich bei euch auf oder verweilen bei euch, ermatten sie. Wie nun der Fisch ins Meer, so müssen auch wir auf den Berg eilen, damit wir uns nicht (hier draußen) aufhalten und vergessen, was innen ist.52
Dörries erklärte, die Vita habe damit „die charakteristischen Züge des Zellenmönchtums aufgegeben“: die „Sitzruhe“ (ἡσυχία) und die „innere Wacht“ (ἔνδον φυλακή) sowie den Begriff der „Zelle“ (κέλλιον).53 Und da Antonius „fraglos ein Zellenmönch war“,54 war auch die Richtung der Abhängigkeit klar. Dieser eine Spruch, den Athanasius übernommen habe, sei zugleich die Ausnahme von der Regel, dass in der Vita das Logion als zentrale monastische Form der Kommunikation fehle,55 damit aber auch die besondere Lehrer-Schüler-Beziehung:
51 AP/G Antonius 10: Ὥσπερ οἱ ἰχθύες ἐγχρονίζοντες τῇ ξηρᾷ τελευτῶσιν, οὕτως καὶ οἱ μοναχοὶ, βραδύνοντες ἔξω τοῦ κελλίου, ἢ μετὰ κοσμικῶν διατρίβοντες, πρὸς τὸν τῆς ἡσυχίας τόνον ἐκλύονται. Δεῖ οὖν, ὥσπερ τὸν ἰχθὺν εἰς τὴν θάλασσαν, οὕτως καὶ ἡμᾶς εἰς τὸ κελλίον ἐπείγεσθαι, μήποτε βραδύνοντες ἔξω ἐπιλαθώμεθα τῆς ἔνδον φυλακῆς. 52 Athanasius, v. Ant. 85,3 f.: Ὥσπερ οἱ ἰχθύες ἐγχρονίζοντες τῇ ξηρᾷ γῇ τελευτῶσιν, οὕτως οἱ μοναχοὶ βραδύνοντες μεθ’ ὑμῶν καὶ παρ’ ὑμῖν ἐνδιατρίβοντες ἐκλύονται. Δεῖ οὖν, ὥσπερ τὸν ἰχθὺν εἰς τὴν θάλασσαν, οὕτως ἡμᾶς εἰς τὸ ὄρος ἐπείγεσθαι, μήποτε βραδύνοντες ἐπιλαθώμεθα τῶν ἔνδον. Im griechischen Text fehlt eine mit ἔνδον korrespondierende Wendung, die der Logik des Arguments nach ergänzt werden muss. 53 Dörries, WuS I (Anm. 44),151.196. – Dass mit ἡσυχία im frühen ägyptischen Mönchtum nicht ein Zustand bzw. eine Haltung der Ruhe gemeint sei, sondern der Ort, an dem man diese findet, das Kellion (so Barbara Müller, Ruhe vor Kirche und Kaiser? Reflexionen zur monastischen Hesychia ausgehend von Athanasius, Vita Antonii 85, in: Uta Heil/Jörg Ulrich [Hgg.], Kirche und Kaiser in Antike und Spätantike. FS Hanns Christof Brennecke [AKG 136], Berlin/Boston 2017, 153– 178, hier 158–163.172–176), erscheint mir unwahrscheinlich, weil im selben Satz ausdrücklich das κέλλιον genannt wird. Man müsste dann, Müller folgend, wortwörtlich in einem Atemzug mit zwei Begriffen für dieselbe Sache rechnen. Wie auch immer man hier urteilen mag: Dass ich begriffsgeschichtliche Analysen als „müßiges Verweilen bei Einleitungsfragen“ abgetan hätte – so Müller ebd., 153 mit Bezug auf Peter Gemeinhardt, „Wie der Fisch ins Meer, so muss der Mönch ins Kellion eilen“. Die Anfänge der Wüstenaskese im spätantiken Ägypten, BThZ 32 (2015), 60–83, hier 65 –, ist ein offensichtliches Missverständnis. 54 Dörries, WuS I (Anm. 44), 151 f. Anm. 29. 55 Dörries, WuS I (Anm. 44), 166.
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Was Antonius (sc. in der Vita Antonii) zum Nutzen seiner Hörer weitergibt, ist die Weisheit eines langen Lebens und die Erfahrungen, die er mit den Dämonen und der himmlischen Gnadenhilfe gemacht hat. Die besonderen Vollmachten und die Überzeugung, aneinander gewiesen zu sein, die im Eremitentum γέρων und Jünger verbinden, fehlen hier – mag auch mit dem Begriff des πατήρ die Erinnerung an Autorität und geistliche Fürsorge, die bisher mit dem Begriff des Logion verbunden waren, noch anklingen.56
Überhaupt sei der athanasianische Antonius nicht der erste unter den Einsiedlern, sondern ein Weltflüchtling, der – in die Welt zurückgekehrt – dieser „eine neue, bessere Antwort erteilen“ solle, und zwar im Namen seines Hagiographen.57 Dörries erklärte, Athanasius habe gleichsam den in der Stille wirkenden Geron aus seiner Zelle geholt, auf ein Postament gestellt und ihn der Welt gezeigt: „Seht, so ist der vollkommene Christ.“ 58
Stattdessen gelte es, „die volle Wirklichkeit des Eremiten zu erreichen“, und das bedeute, „Antonius an seinem eigenen Ort aufzusuchen, sich in sein Sprechen und Denken einzuleben und zu hören, was er denen sagt, die seinem Beispiel folgen und gleichem Ziel zustreben“.59 Denn nur hier komme er selbst zu Wort: „In der Vita sagt Antonius kein Wort, das nicht den Stempel der Theologie des Athanasius trüge.“ 60 Dörries sprach sogar vom „echten Mönchtum“, das dem Betrachter in den Apophthegmata Patrum entgegentrete, was sich daran zeige, dass nicht nur das Logion, sondern auch die Beichte fehle61 – ein Thema, das Dörries ein Jahrzehnt später ausführlich behandeln sollte (s. u.). Wie er mit den Apophthegmata Patrum und der Vita Antonii umging, zeigt die Grundrichtung an: Die Vätersprüche eröffneten ihm ein Fenster in die Wüste, einen direkten Blick ins Kellion und damit in die alltägliche Praxis der Mönche. Die Priorität der Apophthegmata Patrum und der Geronten gegenüber dem athanasianischen Antonius war freilich nicht die ganze Geschichte. Was ließ sich sachlich in den Kellien der Mönche finden? Am Anfang war die Arbeit, jedenfalls in Dörries’ Publikationen. Lebten die ersten Eremiten „sorglos wie die Engel“ 62 56 Dörries, WuS I (Anm. 44), 168. 57 Dörries, WuS I (Anm. 44), 198. 58 Dörries, WuS I (Anm. 44), 198. 59 Dörries, WuS I (Anm. 44), 198. 60 Dörries, WuS I (Anm. 44), 152 Anm. 29. – Das Problem ist allerdings, so Rubenson, Letters (Anm. 9), 156, dass Dörries’ Bild des „apophthegmatischen“ Antonius sich von dem der Vita gerade dadurch unterscheidet, dass es die Züge des typischen Wüstenmönches aufweist – und seine Individualität gerade deshalb zurücktritt (vgl. Gemeinhardt, Antonius [Anm. 50], 29). 61 Dörries, WuS I (Anm. 44), 170. 62 AP/G 317 Johannes Kolobos 2; zit. bei Dörries, WuS I (Anm. 12), 279. Allerdings wird Johannes Kolobos von seinem Zellengenossen schnell wieder auf den Boden der Tatsachen geholt und zur Arbeit verpflichtet!
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und „beteten ohne Unterlass“ (1 Thess 5,17),63 galt Arbeit bald als Mittel gegen den „Heilsüberdruss“ oder den „Mittagsdämon“, also gegen die ἀκηδία, der selbst Antonius ausgesetzt war.64 Dagegen half es, den seelischen Rhythmus durch körperliche Betätigung in Schwung zu halten, und da die Anfechtung stets drohte, wurde Arbeit zum Pflichtbestandteil monastischer Existenz und zu einem zentralen Instrument monastischer Erziehung.65 Dörries fasste dieses Prinzip mit Worten Johannes Cassians zusammen, dessen Instituta er unhinterfragt als Zeugen für das ägyptischen Mönchtums in Anspruch nahm: Mit solchen Exempeln durch die Väter aus Ägypten unterwiesen, dürfen wir auf keinen Fall zulassen, dass Mönche müßig bleiben, insbesondere die jungen […].66
Allerdings unterschied Dörries die pädagogische Inanspruchnahme der Arbeit zwecks Einschärfen des Gehorsams, was seit Benedikt von Nursia in den Klöstern der Fall gewesen sei, von der ursprünglichen Praxis in den Kellien, die nicht durch äußeren Druck, sondern durch innere Überzeugung zustande gekommen sei und gerade deshalb als historisch gelten dürfe: Man kann sogar an der Arbeitsordnung der Wüste einen Grad der Prinzipienfestigkeit wahrnehmen, der die Porträtähnlichkeit auch der anderen Züge des Bildes zu verbürgen scheint, das die anderen Bericht von der Anfangszeit des Mönchtums entwerfen: Das Ideal ist tatsächlich die Regel der Wirklichkeit gewesen!67
Dörries verband dies mit der Beobachtung, dass in der Wüste Bildung nichts gegolten habe und erst die Benediktiner im Mittelalter mit der „Kulturarbeit“ begonnen hätten – so „können wir uns von ihnen (sc. den Wüstenvätern) sagen lassen, daß unsere Arbeit nicht das Höchste ist und daß sie nicht auf sich selbst steht.“ 68 So fasziniert er von der Bedeutung der Arbeit unter den vermeintlichen Müßig-
63 AP/G 446 Lucius; zit. bei Dörries, WuS I (Anm. 12), 280. 64 AP/G Antonius 1; zit. bei Dörries, WuS I (Anm. 12), 282. 65 AP/G 128 Achilas 5; zit. bei Dörries, WuS I (Anm. 12), 286. 66 Johannes Cassian, inst. 10,2: His itaque exemplis per Aegyptum patres eruditi nullo modo otiosos esse monachos ac praecipue iuuenes sinunt. Vgl. Dörries, WuS I (Anm. 12), 289 (die Stelle wird hier nur teilweise zitiert). 67 Dörries, WuS I (Anm. 12), 299. 68 Dörries, WuS I (Anm. 12), 301. – Gewiss trachteten die Wüstenväter nicht nach der Tradierung hergebrachten Wissens (was mit der Ausnahme von Cassiodors Kloster Vivarium in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts erst die Mönche in karolingischer Zeit als ihre Aufgabe erkannten bzw. zugewiesen erhielten). Das Bild der Wüste als einer bildungsfreien Zone hat sich allerdings in der jüngeren Forschung erheblich gewandelt (vgl. die in Lillian Larsen/Samuel Rubenson [eds.], Monastic Education in Late Antiquity: The Transformation of Classical Paideia, Cambridge 2018 gesammelten Beiträge).
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gängern der Wüste war, eine religiöse Werkträchtigkeit oder gar Werkgerechtigkeit sollte ausgeschlossen bleiben. In diesem Kontext nahm Dörries ausdrücklich auf Luther Bezug. Er schloss den Aufsatz mit „der Einsicht, die ein Jahrtausend später ein großer Arbeiter ausgesprochen“ habe: „Deo servitur et otio, immo nulla re magis quam otio!“ 69 Dass Luther die Behauptung, durch nichts diene man Gott mehr als durch Muße, keineswegs im Kellion, sondern auf der Veste Coburg, also in einer Zeit erzwungener, für ihn gewiss nervenaufreibender Untätigkeit niederschrieb, blieb unerwähnt – ebenso wie der Umstand, dass es sich hier einmal mehr um eine Veränderung der Schlusspassage für den Wiederabdruck handelte. 1931 hatte am Ende ein Apophthegma des oben erwähnten Johannes Kolobos gestanden: Wenn das Kloster des Mittelalters zum Kulturträger geworden ist und der Welt reiche Früchte zu bieten gehabt hat, so mag es mit dem sketischen Greis sprechen: λάβετε, φάγετε καρπὸν ὑπακοῆς.70
„Nehmt und esst die Frucht des Gehorsams“ – dass ein derart charakteristisches Wort eines Altvaters durch ein Luther-Diktum ersetzt wurde, legt einen Grundzug von Dörries’ Überarbeitung seiner früheren Aufsätze für Wort und Stunde offen. Reformatorisches in der Wüste zu finden wurde zum Charakteristikum seiner Forschungen zum Eremitentum, sogar bei Themen, die auf den ersten Blick nicht protestantismusaffin wirkten. In seinem Oxforder Vortrag zur Beichte identifizierte Dörries „die versuchenden Gedanken“ (λογισμοί), die „Gedankensünden“, als das Problem, das den Mönch zu Beichte und Buße dränge: Hier werde „der Mensch als Sünder erkannt und damit die Sünde neu verstanden“,71 mit Antonius gesprochen: „Nimm die Versuchungen weg, und keiner wird gerettet!“ 72 Lossprechung wird aber nicht durch die Kirche vermittelt, sondern von Mönch zu Mönch, wobei sich – wie Dörries an einem Makarios-Logion zeigte – die Autorität des Abbas gerade darin erweist, dass auch der Erfahrene nicht den Versuchungen enthoben ist, also nicht mit der Autorität des Vollkommenen, sondern aus der Solidarität der angefochtenen Sünder heraus lehrt.73 Dörries folgerte: 69 Dörries WuS I (Anm. 12), 301; Zitat aus Luthers Brief von der Veste Coburg an Melanchthon, 12. 05. 1530 (WA.B 5, 317,40 = Nr. 1566). 70 Dörries, Mönchtum (Anm. 12), 39 mit Zitat von AP/G 316 Johannes Kolobos 1 (in variierter Form auch bei Johannes Cassian, inst. 4,24). 71 Hermann Dörries, Die Beichte im alten Mönchtum, in: Walther Eltester (Hg.), Judentum, Urchristentum, Kirche. FS Joachim Jeremias (BZNW 26), Berlin 1960 (21964), 235–259; wieder in: WuS I, 225–250; englische Fassung: The Place of Confession in Ancient Monasticism, in: Frank L. Cross (ed.), Papers presented to the Third International Conference on Patristic Studies, held at Christ Church, Oxford, 1959, vol. 3 (TU 80), Berlin 1962, 284–311. Hier Dörries, WuS I, 227. 72 AP/G Antonius 5: Ἔπαρον γὰρ τοὺς πειρασμοὺς καὶ οὐδεὶς ὁ σωζόμενος. Zit. bei Dörries, WuS I (Anm. 71), 227. 73 Dörries, WuS I (Anm. 71), 229 f. mit Bezug auf AP/G 456 Makarios 3. Vgl. ebd. 232.
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Erst in dieser Tiefe stellt sich eine menschliche Gemeinschaft her, die auf der Erkenntnis des Gerichts und dem Glauben an die Gnade beruht. Noch in dieser Welt des strengen Gesetzes spricht das Evangelium und gibt es eine Beichte, die zur Rettung führt.74
Dass „die Vollmacht, Logien zu erteilen“, später nicht mehr akzeptiert worden sei, müsse nach Dörries als „Gericht über das Wüstenmönchtum“ angesehen werden; in der Zeit der „Epigonen“, d. h. der Kompilatoren der Sammlungen von Apophthegmen, sei das Logion „ein Stück gesetzlicher Tradition“ geworden und habe „seinen individuell seelsorgerlichen Charakter“ verloren.75 Darum musste der auf Erziehung gerichteten kirchlichen Bußordnung immer wieder „in Geistesvollmacht ein Greis hindernd in den Weg“ 76 treten, und dies schon von Anfang an: Pachomius wurde ausdrücklich untersagt, „die da draußen“ zu richten; er möge sich mit „denen drinnen“ (im Kloster) begnügen.77 In der Wüste konnte die Frage „Wie kann ich gerettet werden?“ (πῶς σωθῶ) nur unter Gleichen ausgesprochen und individuell beantwortet werden; und nur hier konnte das ganze Leben als Buße gestaltet werden.78 Denn nicht einmal der erfahrenste Abbas ist gegen die Versuchungen gefeit; die Gefahr, den Dämonen zu erliegen und der Buße zu bedürfen, besteht lebenslang. Die Aufgabe des Menschen im Allgemeinen und des Mönches im Besonderen ist es, mit einem Wort des Antonius, „dass er vor Gott seine Schuld auf sich nimmt und Versuchung erwartet bis zum letzten Atemzug“.79 Was das bedeutet, zeigte Dörries am Beispiel eines der Großen unter den Vätern, Sisoes: Dieser will noch unmittelbar vor seinem Tod, als schon Engel kommen, um ihn abzuholen, Buße tun; als die bei ihm wachenden Alten ihn beruhigen wollen, das habe er doch nicht nötig, antwortet ihnen Sisoes: „Wahrlich, ich weiß selbst nicht, ob ich einen Anfang gemacht habe“ – woran seine Gefährten die von dem Altvater erlang-
74 Dörries, WuS I (Anm. 71), 230. 75 Dörries, WuS I (Anm. 71), 230 Anm. 20. – Man muss nüchtern feststellen, dass sich Dörries mit seiner Bevorzugung des „echten“ ägyptischen Mönchtums des 4. Jahrhunderts selbst den Blick für verwandte Phänomene verstellte, z. B. für das Reklusentum des Barsanuphius und Johannes nahe Gaza im frühen 6. Jahrhundert: Diese beiden Altväter lebten im Schweigen, kommunizierten aber durch hunderte von Briefen mit Mönchen, Klerikern und Laien außerhalb ihrer Klostermauern, worin tatsächlich die charismatische Autorität der Wüstenväter in veränderter Form wiederauflebte; vgl. Lorenzo Perrone, The Necessity of Advice. Spiritual Direction as a School of Christianity in the Correspondence of Barsanuphius and John of Gaza, in: Brouria Bitton-Ashkelony/Arieh Kofsky (eds.), Christian Gaza in Late Antiquity (JSRC 3), Leiden/Boston 2004, 131–149. 76 Dörries, WuS I (Anm. 71), 236. 77 AP/G 543 Makarios der Städter 2; Dörries, WuS I (Anm. 71), 234. 78 Es hätte jedenfalls im Blick auf die bei Dörries, WuS I (Anm. 71) 226 f. zitierten Apophthegmata nahegelegen, eine Parallele zur ersten der 95 Thesen Luthers von 1517 zu ziehen! 79 AP/G Antonius 4: Αὕτη ἐστὶν ἡ μεγάλη ἐργασία τοῦ ἀνθρώπου, ἵνα τὸ σφάλμα ἑαυτοῦ ἐπάνω ἑαυτοῦ βάλῃ ἐνώπιον τοῦ Θεοῦ, καὶ προσδοκήσῃ πειρασμὸν ἕως ἐσχάτης ἀναπνοῆς.
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te Vollkommenheit erkennen.80 Über diesen Grad der Perfektion hinaus führte für Dörries nur noch die mit dem Namen Symeon/Makarios verbundene monastische Theologie (s. u.). Schließlich findet sich die Tendenz zur reformatorischen Lektüre der ägyptischen Wüstenväter auch in Dörries’ Aufsatz über Die Bibel im ältesten Mönchtum, in dem er – meinem Eindruck nach – am einfühlsamsten der frühen monastischen Spiritualität nachspürte. Fast gleichlautend zu seinem oben zitierten Fazit zur Beichte stellte er bezüglich der Bibel fest: „Das Evangelium von der unverdienten Gnade hat auch in dieser Welt des strengen Gesetzes seine Zeugen gehabt!“ 81 Doch war damit zugleich das Problem der Autorität in voller Schärfe gestellt, denn mit dem „pneumatischen Logion“ entsteht nun auch die Spannung, die es zwischen Väterspruch und Schriftwort, zwischen Geist und Bibel, zwischen Bibelautorität und persönlicher Vollmacht gibt. Dabei trifft man auf eines der wichtigsten Probleme der Mönchsgeschichte, von dem aus Licht für das Verständnis der ganzen Bewegung zu erwarten ist.82
Dörries stellte fest, dass die Mönche keine Exegeten waren und auch nicht sein sollten, um nicht durch theologisches Forschen von ihrer Hauptaufgabe – der Buße – abgelenkt zu werden: „Es ist nicht der Geist des Origenes, der hier fortlebt!“ 83 Ebenso ausführlich wie nüchtern notierte Dörries, dass neben der Deutung von Schriftstellen vor allem deren Nutzung zur Legitimation monastischer Praxis den Schriftgebrauch prägte, so dass bisweilen das Schriftwort an die Stelle des Väterwortes treten konnte: Auf die Frage „Was soll ich tun?“ antwortete Poimen nur mit einem Psalmvers („Ich zeige meine Missetat an und sorge wegen meiner
80 AP/G 817 Sisoes 14: Καὶ λέγουσιν αὐτῷ οἱ γέροντες· Οὐ χρείαν ἔχεις μετανοῆσαι, Πάτερ. Εἷπε δὲ αὐτοῖς ὁ γέρων· Φύσει οὐκ οἶδα ἑμαυτὸν ὅτι ἔβαλον ἀρχήν. Καὶ ἔμαθον πάντες ὅτι τέλειός ἐστι. Ganz ähnlich wird argumentiert in AP/G 852 Sisoes 49; vgl. Hermann Dörries, Die Theologie des Makarios/Symeon (AAWG.PH III, 103), Göttingen 1978, 448. 81 Hermann Dörries, Die Bibel im ältesten Mönchtum, ThLZ 72 (1947) 215–222; wieder in: WuS I, 251–276, hier 258. Zum Vergleich mit der Vita Antonii, in der die asketische Praxis des Eremiten auf Schritt und Tritt durch Bibelbezüge legitimiert wird, vgl. Ders., WuS I (Anm. 44), 164–166. Zur Bibel in der Wüste vgl. seitdem vor allem Douglas Burton-Christie, The Word in the Desert. Scripture and the Quest for Holiness in Early Christian Monasticism, New York 1993; zum Bibelgebrauch in der Vita Antonii, den Apophthegmata Patrum und bei Johannes Cassian unter dem Aspekt der Bildung vgl. Peter Gemeinhardt, „Habe für alles ein Zeugnis aus der Heiligen Schrift!“ Monastische Diskurse über Schriftauslegung und Bildung in der Spätantike, in: Florian Wilk (ed.), Scriptural Interpretation at the Interface between Education and Religion. In Memory of Hans Conzelmann (TBN 22), Leiden/Boston 2019, 248–283; zu Cassian vgl. jetzt ausführlich Dorothee Schenk, Monastische Bildung. Johannes Cassians ‚Collationes Patrum‘ (SERAPHIM 16), Tübingen 2022, 220–248. 82 Dörries, WuS I (Anm. 81), 251 f. 83 Dörries, WuS I (Anm. 81), 254, mit Bezug auf AP/G 238 Zeno 4 und AP/G 444 Kopris 3.
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Sünde“, Ps 37,19 LXX).84 Für Dörries fand gerade in einer solchen nicht oder nur sehr sparsam kommentierten Aneignung und Zusprache von Bibelworten „die tiefe Sündenerkenntnis und Bußgesinnung des ältesten Mönchtums den rechten Ausdruck und ihr biblisches Recht.“ 85 Das aber funktionierte nicht nur aufgrund der Autorität der Schrift, sondern durch „die in Anspruch genommene Vollmacht des freien Zusprechens der biblischen Weisungen, der autoritativen Zuordnung gerade dieses Wortes zu diesem Menschen“ 86 – darum waren die Namen der Wüstenväter für Dörries wichtig. Gerade im spontanen Aussprechen eines Logion erweist sich deren besondere Autorität: Abbas Ammon von Raithu, selbst kein Geringer unter den Eremiten, beichtet dem Abbas Sisoes, dass ihm bei jedem Lesen der Schrift „ein Gedanke zuflüstert, ein Wort zu prägen, damit ich etwas habe, wenn ich gefragt werde.“ Sisoes erklärt ihm: „Dessen bedarf es nicht. Vielmehr aus der Reinheit des Sinnes erwirb dir sowohl die Sorglosigkeit als auch das Reden.“ 87 Der Mönch soll also nicht Logien wie Kalenderweisheiten mit sich tragen und bei Gelegenheit verteilen, sondern auf die Gegenwart des Geistes vertrauen: Man kann Logien nicht auf Vorrat machen, auch nicht mit Hilfe der Schrift. Sie gehören der Eingebung des Augenblicks und bleiben eine Gabe, über die man nicht verfügt. Es wäre also ein Mißbrauch der Schrift, wollte man ihr ohne besondere Vollmacht Logien entnehmen.88
Schließlich erforderte das rechte Hören auch die Anwendung des Gehörten auf das Leben: Erst durch die lebenspraktische Realisierung der biblischen Verheißung wird für die Mönche das Gesetz Evangelium – und werden die Apophthegmata, mit Luther, „Brosamen vom Tisch des Evangeliums“.89 Mehr aber auch nicht, denn das monastische Verhältnis von Geist und Schrift entfaltete nur unter den rigiden Bedingungen der Wüste, d. h. durch strikte Fokussierung seine Wirkung, die freilich wiederum nur für bestimmte Zeit aufrecht zu erhalten war:
84 AP/G 727 Poimen 153. 85 Dörries, WuS I (Anm. 81), 263. 86 Dörries, WuS I (Anm. 81), 267. 87 AP/G 820 Sisoes 17: Ἠρώτησεν ὁ ἀββᾶς Ἀμμὼν ὁ τῆς Ῥαϊθοῦ τὸν ἀββᾶν Σισόην· Ὅταν ἀναγινώσκω Γραφὴν, θέλει ὁ λογισμός μου φιλοκαλῆσαι λόγον, ἵνα ἔχω εἰς ἐπερώτημα. Λέγει αὐτῷ ὁ γέρων· Οὐκ ἔστι χρεία· ἀλλὰ μᾶλλον ἐκ τῆς καθαρότητος τοῦ νοὸς κτῆσαι σεαυτῷ καὶ τὸ ἀμεριμνεῖν καὶ τὸ λέγειν; zit. bei Dörries, WuS I (Anm. 81), 265. 88 Dörries, WuS I (Anm. 81), 265. 89 Martin Luther, Vorrede zu Georg Major, Vitae patrum, 1544 (WA 54, 111,20): Fragmenta Evangelicae mensae; vgl. Dörries, WuS I (Anm. 81), 271.
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Das Logion, das heißt der Geist, bindet alles Reden und Tun an die Schrift. Der Geist schränkt jedoch das Lesen und Bedenken der Hl. Schrift auf das ein, was den Mönch angeht […] Zuletzt aber […] zieht er sich von der Schrift zurück, als greife er mit seinem Fragen und Forschen zu hoch. Dadurch aber löst er die enge Verbindung dieses Mönchslebens zur Bibel, überläßt es seinem eigenen Gesetz und hebt zugleich die Bibel in die unaussprechliche Höhe des heiligen Bildes.90
Zugespitzt gesagt: Die Wüstenväter – jedenfalls die ersten, authentischen unter ihnen – pflegten im Umgang mit dem Evangelium geistliche Freiheit und stritten gegen die Anfechtung der gesetzlichen Vereindeutigung, der ihre Epigonen erlagen. Für Dörries sprachen die hermeneutischen Kapriolen, die man in den Apophthegmata Patrum finden konnte, nicht gegen die Ernsthaftigkeit, mit denen sie ausgesprochen wurden: „sie meinen, was sie sagen.“ 91 Dörries plädierte entsprechend dafür, den „abgelegenen und übersehenen Bezirk“, den die Eremiten in der Geschichte der Schriftauslegung besiedelten, zu beachten.92 Darin fand er, wie gesehen, manches, was ihm reformatorisch erschien – aber keinen Reformator. Oder doch?
4 Mehr als ein Mönch? Ein Seitenblick auf Makarios/Symeon Makarios/Symeon soll hier nur im Blick darauf berührt werden, wie sich Dörries’ Bild des ältesten Mönchtums von hier aus vertiefte, aber auch veränderte.93 Dem monastischen Autor, dessen Schriften unter dem Namen des Eremiten Makarios des Ägypters umliefen, begegnete Dörries erstmals in seiner Marburger Doktorandenzeit; in seiner 1941 erschienenen Monographie zur Überlieferungsgeschichte dieser Texte wies er sie einem gewissen Symeon von Mesopotamien zu.94 Die
90 Dörries, WuS I (Anm. 81), 274 f. 91 Dörries, WuS I (Anm. 81), 263 Anm. 64. 92 Dörries, WuS I (Anm. 81), 275. 93 Ich nehme vor allem auf Dörries’ letztes Buch über die Theologie dieses Lehrers und Autors Bezug, ohne die Editionsgeschichte und die innere Entwicklung von Dörries’ Symeon-Deutung zu berücksichtigen; zu beidem vgl. jetzt Martin Illert, Im Irrgarten der Macariushomilien. Evangelische Bilder der Ostkirche zwischen Inspiration zur Erneuerung und Projektion am Beispiel des Makarios, in: Irena Zeltner Pavlović/Martin Illert (Hgg.), Ostkirchen und Reformation 2017. Begegnungen und Tagungen im Jubiläumsjahr, Band I: Dialog und Hermeneutik, Leipzig 2018, 433– 449, hier 435–439 sowie den 3. Abschnitt seines Beitrags zu diesem Band (S. 143–145). 94 Hermann Dörries, Symeon von Mesopotamien. Die Überlieferung der messalianischen „Makarios“-Schriften (TU 55/1), Leipzig 1941.
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Edition und Interpretation der Symeon-Schriften blieb nach dem Zweiten Weltkrieg ein Hauptarbeitsgebiet von Dörries,95 das er mit der posthum publizierten Monographie zur Theologie des symeonisch-makarianischen Corpus krönte.96 Darin entdeckte Dörries eine andere Art von Wüstentheologie – und eine neue Variation von Mönchtum. Symeon war für Dörries unzweifelhaft Mönch97 und unter den Asketen ein monastischer Lehrer – aber in anderer Weise als die Altväter der Apophthegmata Patrum: „Seelsorger, Vorbild, Sprecher geistgegebenen Worts – der Geistesmann Symeon gemahnt an den Geron der Wüste und geht doch mit einem wesentlichen Zug über ihn hinaus.“ 98 Dass das unter dem Namen Makarios tradierte Schrifttum nicht von dem Wüstenvater Makarios dem Ägypter stammen konnte, hatte bereits 1920 Louis de Villecourt entdeckt, doch blieb nach Dörries Makarios „der stille Partner des Theologen Symeon“, der dessen Schriften zur Publizität und damit zur Erhaltung verholfen hatte, weshalb er sein letztes Buch unter beide Namen stellte.99 Symeons Denken transzendierte die Welt der Apophthegmata: Er war ein geistlicher Lehrer, ein Charismatiker, und also solcher „gesandt, eine Botschaft auszurichten“; diese galt „allen Menschen, in uneingeschränkter Universalität.“ 100 Mit Symeon war der „Geron“ zum „Prediger“ geworden, ohne die jenen charakterisierende Aufgabe der Seelsorge zu vernachlässigen.101 Symeon richtete seine Worte an eine monastisch lebende Gemeinschaft, adressierte aber nicht nur den Binnenraum, wie es die Wüstenväter getan hatten. Die Haltung des Abbas Arsenius, der sich zwischen Gott und den Menschen entscheiden zu müssen glaubte, war für Symeon, Dörries zufolge, nicht plausibel, für den „die Gottesliebe zu den Menschen“ wies.102 Zugleich richtete sich seine universal gemeinte Botschaft auf ein genuin monastisches Ziel – Reinheit und Vollkommenheit als Eintrittsbedingungen in das himmlische Reich –, während kirchliche Reformer wie Johannes Chrysostomus und Gregor von Nazianz, denen Symeon seinem „geistigen Rang“ nach zur Seite zu stellen sei, auf die „Welt“ in Form städtischer Gemeinden blick-
95 Die wichtigsten Stationen von Dörries’ Beschäftigung mit Makarios skizziert Dornbusch, Dörries (Anm. 11), 145–152.220–236. 96 Dörries, Makarios (Anm. 80). Dieses Buch liegt den folgenden Überlegungen zugrunde. Zur Argumentation und zur Behandlung des Mönchtums in diesem Werk vgl. Jaspert, Mönchtum (Anm. 10), 383–394. 97 Dörries, Makarios (Anm. 80), 360 u. ö. 98 Dörries, Makarios (Anm. 80), 337. 99 Dörries, Makarios (Anm. 80), 12; vgl. Otmar Hesse, Makarios, TRE 21 (1991), 730–735, hier 731. 100 Dörries, Makarios (Anm. 80), 337. 101 Dörries, Makarios (Anm. 80), 345. 102 Dörries, Makarios (Anm. 80), 343 mit Bezug auf AP/G 51 Arsenius 13.
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ten.103 Das hat allerdings gravierende Auswirkungen für das Kirchenverständnis Symeons: Die grundsätzliche Offenheit von Symeons Lehre hinderte nicht, daß sie gegen anders gesinnte Mönche und erst recht gegen alle Weltchristen eine Scheidelinie zog. Das bedeutete eine gänzliche Einengung des Kirchenbegriffs zugunsten einer durch Geisterfahrung ausgezeichneten Elite. Der Missionsbefehl, der alle Völker zu Jüngern machen will, scheint vergessen. In Symeons „Kirche der Heiligen“ ist kein Raum für den christlichen Hausvater, für eine in der Welt lebende Gemeinde, geschweige denn für die Großkirche mit ihren Bischöfen und Synoden.104
Es geht Symeon also nicht um das Vortragen und Abfragen des Katechismus – die Anspielung auf Luthers Bild des Hausvaters ist deutlich –, vielmehr muss der rechte Lehrer mit dem Geist begabt sein. Das lässt sich allerdings nicht durch Kirchenrecht und Ordination kontrollieren, sondern erfordert „eine eigene tiefe und durchdachte Erfahrung“.105 Der Lehrer, nicht der Bischof, wird daher zum Nachfolger der Apostel.106 Diese Spannweite zwischen einer alle Menschen angehenden Botschaft und der Anrede an einen kleinen Kreis Gleichgesinnter, denen gegenüber der „Geistesmann“ (πνευματικὸς ἀνήρ) Symeon unhinterfragt auf Gehör hoffen konnte,107 faszinierte Dörries offensichtlich. Allerdings legte er Wert darauf, dass Symeon nicht nur „Geisttheologe“, sondern auch „Schrifttheologe“ war, und zwar konsequenter als seine Zeitgenossen, die mit der Formulierung der altkirchlichen Dogmen befasst waren: „Mit der ausschließlichen Geltung der Heiligen Schrift“ – ohne Rekurs auf frühere christliche Literatur oder pagane Zitate und Argumentationsmuster – „steht Symeon unter den Vätern ziemlich allein da.“ 108 Dabei geht 103 Dörries, Makarios (Anm. 80), 362 f., dabei Bezug nehmend auf seiner Untersuchung zum Amtsverständnis dieser beiden Theologen: Ders., Erneuerung des kirchlichen Amtes im vierten Jahrhundert. Die Schrift De sacerdotio des Johannes Chrysostomus und ihre Vorlage, die Oratio de fuga sua des Gregor von Nazianz, in: Bernd Moeller/Gerhard Ruhbach (Hgg.), Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte. Kirchenhistorische Studien. FS Hans von Campenhausen, Tübingen 1973, 1–46; zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Autorisierungsstrategien bei Chrysostomus und in der Wüstenväterliteratur vgl. Peter Gemeinhardt, Tradition, Kompetenz und Charisma: Streiflichter auf das Spannungsfeld von Autorität und Bildung in spätantiken Religionskulturen, in: Ders./Tanja S. Scheer (Hgg.), Autorität im Spannungsfeld von Bildung und Religion (SERAPHIM 9), Tübingen 2021, 161–201, hier 175–182.184–189. 104 Dörries, Makarios (Anm. 80), 365; vgl. auch ebd. 345. Das ekklesiologische Denken Symeons kann hier nicht eigens behandelt werden; vgl. ebd. 396–410 zu seiner Sicht von irdischer und himmlischer Kirche. 105 Dörries, Makarios (Anm. 80), 339; vgl. ebd. 350. 106 Vgl. Dörries, Makarios (Anm. 80), 348 und 354 f. mit Anm. 32. 107 Vgl. Dörries, Makarios (Anm. 80), 341. 108 Dörries, Makarios (Anm. 80), 268 f.
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es nicht um ein formales Schriftprinzip: Bloßes Lesen ohne individuelle Anwendung und eine daraus hervorgehende Erfahrung nützt nichts,109 und diejenigen, die sich bemühen, „durch das eigene Begreifen und eigene Kraft eine geistliche Erkenntnis zu erlangen“,110 müssen daran notwendigerweise scheitern: Denn wie Kinder, die von einem Lehrer unterrichtet werden und die die Reden der besonders guten Redner lernen, zwar mit ihrem Mund die Worte der Weisen verkünden, die Macht der Worte aber nicht kennen und aufgrund ihres zarten Alters nicht wissen, was sie vortragen oder verkünden, so ist es auch mit denen, die die Schriften verkündigen und sich um sie bemühen: Wenn sie nicht von geistlichen Männern das darin liegende wahre Verständnis empfangen und wenn sie nicht in sich die lebendige Stimme in sich haben – das ist die göttliche Kraft selbst, die die Schriften diktiert –, ziehen sie nicht den Nutzen daraus, den sie daraus ziehen sollten.111
Geistliche Einsicht ist also nicht in gleicher Weise erlernbar wie rhetorische Kompetenz, die aus der Beobachtung und Nachahmung von Vorbildern unter Anleitung fachkundiger Lehrer erwächst. Vielmehr bedarf es geistlicher Kraft, um Geistliches erkennen und vermitteln zu können – und diesen hermeneutischen Zirkel kann niemand anderes als der Geist selbst in Gang setzen. Diese Wechselbeziehung zwischen der göttlichen Inspiration der Schrift, ihrer eigenständigen Aneignung und der aus ihr hervorgehenden, wiederum vom Geist getriebenen Verkündigung ist für Dörries’ Symeon-Bild essentiell. Dabei steht für ihn die Orthodoxie des Autors der Pseudo-Macariana nicht infrage. Zwar benennt Dörries ein aus dieser Schriftkonzentration resultierendes Problem: Der „Verzicht auf ein wissenschaftlich-philosophisches Erfassen des Glaubens […] mußte die Gemeinde wehrlos machen gegenüber den andringenden Häresien!“ 112 Genau dies wurde den Messalianern auf dem Konzil von Ephesus 109 Vgl. Dörries, Makarios (Anm. 80), 277 f. 110 Makarios/Symeon, Logos C 22,3 (TU 72, 82,12–14 Klostermann/Berthold): ὁ νοῦς αὐτῶν καταντᾷ διὰ τῆς ἰδίας συνέσεως καὶ ἰσχύος νομιζόντων πνευματικὴν καταλαμβάνειν γνῶσιν […] Übers. Martin Illert, Pseudo-Makarios: Predigten aus den Sammlungen C und H (BGrL 74), Stuttgart 2013, 149. 111 Makarios/Symeon, Logos C 22,3 (ebd. 82,15–22): ὥσπερ καὶ παιδία διδασκομένα παρὰ διδασκάλῳ ἐκμανθάνει τὰ τῶν δείνων ῥητόρων διηγήματα καὶ τῷ μὲν στόματι ἀπαγγέλλουσι τοὺς λόγους τῶν σοφῶν, τὴν δὲ δύναμιν τῶν λόγων οὐκ ἴσασιν, οὐδὲ ἐπίστανται, τί ἀναγινώσκουσιν ἢ ἀπαγγέλλουσιν διὰ τὴν νηπιότητα – οὕτω καὶ οἱ τὰς γραφὰς ἀπαγγέλλοντες καὶ μελετῶντες ἐὰν μὴ παρὰ πνευματικῶν ἀνδρῶν παραλάβωσι τὸν ἐγκείμενον ἀληθῇ νοῦν ἐν αὐταῖς καὶ ἐὰν μὴ ἔχωσιν ἐν ἑαυτοῖς τὴν ζῶσαν φωνήν (τουτέστιν αὐτὴν τὴν θεϊκὴν δύναμιν τὴν ὑπαγορεύσασαν τὰς γραφάς), ὡκ ἔδει ὠφεληθῆναι οὐκ ὠφηλήθησαν. Übers. Illert, ebd. Vgl. Dörries, Makarios (Anm. 80), 271 f. 112 Dörries, Makarios (Anm. 80), 365 f. Ebd. Anm. 5 zieht er eine Parallele zum Pietismus, dessen „begreifliche Kritik an der orthodoxen Kontroverstheologie die Gemeinde ohne Rüstzeug in den geistigen Auseinandersetzungen des 18. Jahrhunderts“ gelassen habe. Man mag ergänzen: Hier
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431 auch vorgeworfen; da Dörries aber, wie erwähnt, in seinem Opus magnum Symeon von den Messalianern unterschied, traf diesen die Verurteilung allenfalls mittelbar, galt sie doch primär missverständlichen Deutungen seiner Lehre durch die folgende Generation.113 Aber selbst wenn sich der leise Verdacht regen sollte, Symeon könne in heterodoxe Auffassungen abgeglitten sein, war Dörries bereit, dies um der charakteristischen Konzentration seines Protagonisten auf Schrift und Geist willen in Kauf zu nehmen: Dieser Lehrer steht […] für das Unbedingte, wenn er sowohl die Weisungen wie die Verheißungen der Heiligen Schrift beim Wort nimmt und verwehrt, sie auf ein Durchschnittsmaß herabzusetzen. Die Freiheit, das Selbsteigene, die Unabdingbarkeit des christlichen Glaubens – sofern Symeons geistlicher Lehrer für ein solches Dennoch steht, ist sein Wort wirklich ein „Wort der Wahrheit“, mag diese auch in fremdem Gewande, selbst dem des Irrtums, ausgesprochen sein. Es wäre nicht das einzige Mal in der Geschichte der Kirche.114
Symeon ist in Dörries’ Augen also kein Vernunfttheologe, sondern ein Geist- und damit zugleich Schrifttheologe – jemand, der die Konsistenz seiner Lehre nicht an externen Maßstäben, sondern ausschließlich an der Schrift als der alleinigen Äußerungsform des Geistes messen lassen will. Schrift und Geist lassen sich daher nicht gegeneinander ausspielen: „Heilige Schrift ist selber Geist, auf dauerndes Wort gebracht, Geist, nicht Buchstabe.“ 115 Auf dieser Basis argumentiert Symeon pneumatisch, aber auch logisch. Das unterscheidet ihn wiederum von den Wüstenmönchen. Waren diese, wie gesehen, jeder systematischen Durchdringung der geistlichen Lehre abhold, so ließ sich über die Theologie des Makarios/Symeon ein ganzes Buch schreiben. Schon seinem oben erwähnten Aufsatz zur Beichte fügte Dörries einen zweiten Teil über „Symeons Beichtrede“ an, den er mit einer klaren Abgrenzung einleitete: Christus die im Gewissen überführende und rettende Wahrheit: dies Wort bestimmt Symeons Platz in der Geschichte der Beichte. So hatte die Wüste noch nicht gesprochen.116
konnte auch die Makarios-Lektüre nicht helfen, für die im Pietismus vor allem Gottfried Arnold steht; zu Dörries’ diesbezüglichem Buch (Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold [AAWG.PH III, 51], Göttingen 1963) vgl. den Beitrag von Christoph Schönau in diesem Band. 113 Vgl. Klaus Fitschen, Messalianismus und Antimessalianismus. Ein Beispiel ostkirchlicher Ketzergeschichte (FKDG 71), Göttingen 1998, 45–50. 114 Dörries, Makarios (Anm. 80), 366. 115 Dörries, Makarios (Anm. 80), 280. 116 Dörries, WuS I (Anm. 71), 238; vgl. ebd. 247: „Bei Symeon wird deutlich, was schon die Wüste ergriff, daß Beichte mehr ist als eine gelegentliche Aushilfe, daß sich ohne sie kein menschliches Leben führen läßt, weil es kein menschliches Leben gibt ohne Wahrheit. Die strenge Bezogenheit der Wahrheit sowohl auf die tiefe Sündenerkenntnis wie auf die Wirklichkeit des Lebens ist der Beitrag, den Symeon zur Geschichte der Beichte zu geben hat.“ Der Abschnitt (ebd. 238–247) bezieht sich auf Logos B 39 (ebd. 248–250 = GCS 56, 57 f. Berthold).
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Das bezog sich nicht nur auf die monastische Bußpraxis, sondern auch auf die Autorität der diese begründenden Lehre. Gründete die Autorität der Eremiten in ihrer Akzeptanz als erfahrene Asketen und damit in einem intersubjektiv nachvollziehbaren Kriterium, so berief sich der Charismatiker Symeon alleine auf den Geist und kritisierte konkurrierende „geistlose Lehrer“ und „Theologen“, die ihren Mangel an pneumatischer Begabung durch Vernunftanstrengung wettmachen wollten.117 Seine Kritik galt jenen, „die durch (menschliche) Lehren die genaue Erfassung Gottes zu finden anstreben“,118 was mit Blick auf Röm 11,33 f. unmöglich erscheinen musste. Dagegen führte Symeon beim Anbruch des Zeitalters der Epigonen (s. o.) mit seiner „geisterfüllten Rede“ die Tradition des „geistgeschenkten Logions, das die Frühzeit des ägyptischen Eremitentums prägte“,119 weiter – und wurde paradoxerweise gerade dadurch zu einem Theologen, der über die Wüste hinaus, aber nicht in die Häresie hinein gelangt war: Symeon trat das Erbe des Wüstenmönchtums an. Er machte, was in der Wüste gelebte Einsicht war, zugleich zur durchdachten Erkenntnis.120
Es ist bemerkenswert, dass ausgerechnet dieser Mönchslehrer von Dörries mit einem lutherischen Heiligenschein versehen wurde. Denn während die Zuordnung Symeons zum Messalianismus, die Dörries 1941 vertreten hatte, in seiner Monographie von 1978 aufgegeben wurde – die Messalianer hätten seine Schriften benutzt, was aber nicht deren Autor in den Verdacht der Heterodoxie bringen dürfe121 –, blieb der von Dörries identifizierte Grundzug seiner Lehre derselbe: Symeon galt ihm als Gnadentheologe in Gewissensnot.122 Der Mönch sei zwischen Gnade und Bösem eingespannt, beides wirke zugleich (simul) auf das Herz des Menschen ein – diesem bleibe nur das Gebet, um Gott um Hilfe zu bitten.123 Die
117 Dörries, Makarios (Anm. 80), 357 f. 118 Makarios/Symeon, Logos C 29,1 (TU 72, 110,15–20 Klostermann/Berthold): οὔτε οὖν οἱ διὰ μαθημάτων τὴν ἀκριβῆ τοῦ θεοῦ κατάληψιν ζητοῦντες εὑρεῖν δύνανται, οὔτε οἱ διαβεβαιούμενοι διδάσκαλοι καὶ ἱκανοὺς ἑαυτοὺς λέγοντες εἶναι εἰς τὴν περὶ θεοῦ ἐξήγησιν φράσαι τι σαφὲςἢ καταλαβεῖν ἰσχύουσιν, ἀλλὰ ὑπερβαίνει ὁμοῦ πάντας τοὺς διδασκομένους καὶ τοὺς διδάσκοντας ἡ ἀλήθεια, καὶ λελήθασιν ἑαυτοὺς ἀμφότεροι πλανώμενοι. Vgl. Dörries, Makarios (Anm. 80), 342 mit Anm. 26. 119 Dörries, Makarios (Anm. 80), 359. 120 Dörries, WuS I (Anm. 71), 246. 121 Vgl. Dörries, Makarios (Anm. 80), 12 f. Zur Erforschung des Messalianismus in Verbindung mit den Makarios-Traditionen vgl. Reinhart Staats, Messalianer, TRE 22 (1992), 607–613; Fitschen, Messalianismus (Anm. 113), 153–158. 122 So in Anlehnung an eine Formulierung bei Illert, Macariushomilien (Anm. 93), 437, der sich wiederum auf Dörries, Symeon (Anm. 94), 36 bezieht. 123 Dörries, Makarios (Anm. 80), 118.131.
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Unmittelbarkeit des Menschen zu Gott drückte sich gerade im Gebetsverständnis aus: „Die christliche Erkenntnis, daß der Mensch als einzelner vor Gott steht, hat in Symeon gleichsam Gestalt gewonnen.“ 124 Diese Einsicht unterschied Symeon, so Dörries, von zeitgenössischen Mönchen, die in Werkgerechtigkeit verfangen gewesen seien.125 Eine Trennlinie verlaufe nicht nur zwischen Welt und Kirche oder Kirche und Mönchtum, sondern auch zwischen den Mönchen.126 Symeon wirkte als „Reformer“, der „Vorgefundenes […] reinigen will, indem er es vergeistigt und umprägt“.127 Während das Eremitentum „selbst keine Theologie hervorgebracht, sich vielmehr nur in Apophthegmen und knappen Erzählungen ausgesprochen“ habe, sei Symeons Lehre als „Reflexionsstufe des Eremitentums“ aufzufassen.128 An eine Selbstbeschreibung Schleiermachers angelehnt nannte Dörries ihn einen „Eremiten höherer Ordnung“.129 War dieser Reformer – so ist abschließend zu fragen – auch ein Reformator? Der unbekannte Autor – so legen die zahlreichen expliziten und impliziten Parallelen in Dörries’ Darstellung nahe – nahm in seinem Schrifttum Grunderkenntnisse Luthers vorweg.130 Ohne dass Dörries selbst dies ausspräche, mag man sich doch an Karl Holls Rede von Luthers „Gewissensreligion“ 131 erinnert fühlen: Dass der Böse „die Maske des Gewissens“ überstreife, erinnere an Luthers Gedanken, „die größte Verborgenheit sei die sub contrario“.132 Zwar schrieb Symeon in durchaus unlutherischer Weise für eine geistliche Elite und stellte die institutionelle Einbindung dieser Frömmigkeit in den Hintergrund; letztlich sei die einzelne Seele die wahre Kirche.133 Doch die „ecclesiola“, als die seine Gemeinschaft den Zeitgenos124 Dörries, Makarios (Anm. 80), 445. 125 Dörries, Makarios (Anm. 80), 415. 126 Dörries, Makarios (Anm. 80), 416. 127 Dörries, Makarios (Anm. 80), 143. Allerdings erscheinen auch Johannes Chrysostomus und Gregor von Nazianz als „Reformer“ (ebd. 362); ausführlich zu diesen Dörries, Erneuerung (Anm. 103). 128 Dörries, Makarios (Anm. 80), 451. 129 Dörries, Makarios (Anm. 80), 453. 130 Vgl. pars pro toto zum Schriftverständnis Luthers Unterscheidung von claritas externa und claritas interna (Dörries, Makarios [Anm. 80], 272 Anm. 40) oder zur Unterstützung des menschlichen Stammelns durch den Geist eine „Stelle ähnlichen Sinnes aus Luthers Genesis-Vorlesung“ (ebd. 341 Anm. 23). 131 Karl Holl, Was verstand Luther unter Religion?, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. I: Luther, Tübingen 4.51927, 1–110, hier 35; vgl. ebd. 47–52 zur Rolle des Bösen, worauf sich Dörries zu beziehen scheint. 132 Dörries, Makarios (Anm. 80), 36 Anm. 59. 133 „Die ganze sichtbare Ordnung der Kirche Gottes ist eingerichtet um der lebendigen und vernünftigen Wesenheit der Seele willen, die nach dem Bilde Gottes gemacht ist; sie ist die lebendige, wahre Kirche Gottes“ (Logos B 52,1,1; Ps-Macarius/Symeon, Reden und Briefe II, 138,2– 4: Πᾶσα ἡ φαινομένη τῆς ἐκκλησίας τοῦ θεοῦ οἰκονομία γέγονε διὰ τὴν ζῶσαν καὶ νοερὰν οὐσίαν
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sen erschien, zählte, so Dörries, zu den „fremdartigen Erscheinungen, deren Wirkung sich zuletzt als segensreich für die Kirche erwiesen hat“.134 Dies gelte auch für den Urheber dieser Gemeinschaft: Symeons Grunderkenntnisse enthalten des Großen und alle Angehenden genug, um ihm Anspruch auf Gehör zu sichern. Daß Symeon es in einem gefüllten Wort zu sagen wußte, wie der Mensch im Lichte des Evangeliums als ein einzelner coram Deo stehe, sichert ihm einen Platz in der Kirchengeschichte. Es entspricht der Einsicht Luthers, der Ruf Gottes löse den Menschen aus der Menge und stelle ihn, spätestens im Tode, als einzelnen vor Gott.135
5 Schluss Blicken wir auf die eingangs diagnostizierte, eher moderate Dörries-Rezeption in der neueren Forschungsliteratur zurück und fragen abschließend: Gilt, was Dörries für Makarios/Symeon gegeben sah, wider den Augenschein für seine Arbeiten zum Mönchtum? Enthalten sie „des Großen und alle Angehenden genug, um ihnen Anspruch auf Gehör zu sichern“? Sollte also da, wo es um Mönchtum geht, doch öfter der Name Dörries fallen? Ich formuliere drei Thesen zu Dörries’ bleibender Bedeutung für die Mönchtumsforschung und seinen Grenzen. 1. In seinem Aufsatz zur Bibel im ältesten Mönchtum schrieb Dörries: „Es lohnt, sich unter die Besucher zu mischen, die selbst die entlegensten Zellen und Höhlen aufsuchen, um sich ihre Fragen beantworten zu lassen. Denn es sind ausgeprägte Gestalten, die man dort antrifft, und die knappen Worte, die sie äußern, haben Ausdruckskraft und Gehalt.“ 136 Dieser Optimismus wird heute kaum noch geteilt, zu deutlich stehen die Herausforderungen der Textüberlieferung vor Augen. Dörries war an der lebendigen Interaktion der „historischen“ Eremiten interessiert, und er war überragend darin, inhaltliche Synthesen aus der Fülle der Sprüche zu erarbeiten. Hingegen fragte er nicht danach, wann, für wen und wozu diese aufgeschrieben wurden. Die Spuren dieser Tätigkeit führen historisch nach Palästina in späterer Zeit, nicht ins Ägypten des 4. Jahrhunderts. Dörries, der Kirchenhistoriker aus der Schule Karl Müllers, las die Apophthegmata (soweit er sie den frühen Eremiten zuordnete) geradezu intertextuell. Die Frage, ob die Apophthegmata Patrum, sobald sie in der Überlieferung überhaupt greifbar wer-
τῆς ψυχῆς τῆς λογικῆς τῆς κατ’ εἰκόνα θεοῦ ποιηθείσης, ἥτις ἐστὶν ἡ ζῶσα καὶ ἀληθινὴ θεοῦ ἐκκλησία); Übers. Dörries, Makarios (Anm. 80), 367. 134 Dörries, Makarios (Anm. 80), 410. 135 Dörries, Makarios (Anm. 80), 458 f. Zur Erläuterung der Lutherbezüge verwies der Autor auf seine eigenen Ausführungen in Dörries, WuS III (Anm. 25), 64 f. 136 Dörries, WuS I (Anm. 81), 254.
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den, nicht schon geformte Literatur sind, die für Leserinnen und Leser jenseits der ägyptischen Wüste verfasst wurde, wie in der jüngeren Forschung hervorgehoben wurde, beschäftigte ihn nicht. Dörries war sich über die Problematik der Überlieferung durchaus im Klaren, sie irritierte aber sein Bild des frühesten Mönchtums nicht nachhaltig.137 Im Blick auf die Schwierigkeit einer Auswertung der Apophthegmata Patrum als historisch präzise verortbarer Quelle hat Heussi recht behalten – und auch bezüglich des Quellenwerts der Vita Antonii.138 Das schließt eine kritische Analyse der einzelnen Sprüche und Spruchkomplexe als Quellen für die Spiritualität und Theologie des Eremitentums im 4. Jahrhundert nicht aus.139 Zeigen, wie es in der Wüste „eigentlich gewesen“, lässt sich mit ihnen jedoch nicht. 2. Interessant und anregend bleibt daher Dörries’ Blick auf Themen der monastischen Tradition, die man vor ihm nicht eingehender behandelt hatte: die Bedeutung der Arbeit, die Praxis der Buße respektive Beichte und der Umgang mit der Heiligen Schrift. Man kann hierin genuin protestantische Fragestellungen
137 Vgl. Dörries, WuS I (Anm. 81), 255: „Auch wenn die Stellen (sc. die Epiphanius-Apophthegmata) erst durch einen Sammler ausgewählt sein sollten, tragen sie ganz das Gepräge der mündlichen Tradition: knappe, behältliche, eingängige Sätze, sind sie dem Mönchsleben und seinen Aufgaben zugeordnet und wenden Schriftworte darauf an.“ Das sind aber Charakteristika spätantiker Schultexte; vgl. dazu Kathleen McVey, Chreia in the Desert: Rhetoric and the Bible in the Apophthegmata Patrum, in: Abraham J. Malherbe et al. (eds.), The Early Church in its Context. Essays in Honour of Everett Ferguson (NT.S 90), London 1998, 245–255; Lillian Larsen, Early Monasticism and the Rhetorical Tradition: Sayings and Stories as School Texts, in: Peter Gemeinhardt/Lieve Van Hoof/Peter Van Nuffelen (eds.), Education and Religion in Late Antique Christianity. Reflections, Social Contexts, and Genres, London/New York 2016, 13–33 und Dies., „Excavating the Excavations“ of Early Monastic Education, in: Dies./Samuel Rubenson (eds.), Monastic Education in Late Antiquity: The Transformation of Classical Paideia, Cambridge 2018, 101–124. Der mündliche Gebrauch in schulförmiger Unterweisung erlaubt nicht zwingend den Schluss auf mündliche Traditionsketten. Dass Dörries den lehrhaften Charakter monastischer Schriften durchaus erkannt hatte, zeigt der Artikel „Erotapokriseis“ im RAC (Hermann Dörries, Erotapokriseis. Christlich, RAC 6 [1964], 347–370). 138 Das bedeutet nicht, dass die Zurückhaltung gegenüber der historischen Zuverlässigkeit der Apophthegmata Patrum als Quellen für das Mönchtum des 4. Jahrhunderts zu einem Dekonstruktivismus führen müsste, der der Tradition keinerlei Eigenwert mehr zubilligt. Doch muss die Entwicklung monastischer Konzepte und damit die historische Verortung konkreter Sprüche in Abhängigkeit vom Handschriftenbefund einerseits und in Korrelation zu anderen monastischen Quellen andererseits vorgenommen werden, wie Andreas Müller, Das Konzept des geistlichen Gehorsams bei Johannes Sinaites. Zur Entwicklungsgeschichte eines Elements orthodoxer Konfessionskultur (STAC 37), Tübingen 2006, 349 am Beispiel des Gehorsamskonzepts zeigt, das nur in AP/G Antonius 36–38 enthalten sei – und damit in Sprüchen, die man nicht mithilfe der syrischen Parallelüberlieferung als alte Tradition verifizieren könne (so mit Bezug auf Dörries, WuS I [Anm. 44], 217). 139 Dies betont zurecht Müller, Weg (Anm. 35), 20.
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erblicken, die es Dörries erlaubten, bei aller Abständigkeit der Eremiten doch das Panorama eines geistlich und theologisch interessanten Mönchtums zu entwerfen. Dazu zählte für ihn nur eingeschränkt der von Athanasius auf ein Postament gestellte Antonius, den Dörries als von seinem bischöflichen Hagiographen für dessen eigene Agenda verzwecklicht ansah.140 Obwohl Dörries sich ausweislich seines Basilius-Buches natürlich auch der Dogmengeschichte widmete,141 war diese für ihn mehr mit der Kaiser- als mit der Mönchsgeschichte verknüpft. Die Wüstenväter waren hingegen keine Fachtheologen und wollten auch gar keine sein, was das Besondere an der Symeon/Makarios-Tradition umso deutlicher hervortreten lässt: Hier kam jemand, der zwar nicht in die dogmatischen Debatten seiner Zeit eingriff, die monastische Theologie aber in begriffliche Formen überführte, die sie anschlussfähig für die eigene Gemeinschaft und prinzipiell auch für die Umwelt machte, wo die sich auf Symeon berufende Gemeinschaft freilich vorwiegend auf Skepsis stieß. Dörries hat mit seinen Beiträgen zur MakariosForschung seine nachhaltigste Wirkung in der Mönchtumsforschung ausgeübt – paradoxerweise mit Bezug auf einen spirituellen und theologischen Autor, der über die Wüste hinausdachte und zum Reformator seiner Zeit hätte werden können.142 Mit der Idee großer „reformatorischer“ Einzelgestalten stand Dörries implizit in der Tradition Harnacks und der liberalen Theologie. Von hier aus erschließt sich auch die eingangs erwähnte Wertschätzung des Bonifatius (und die letztlich nur moderate Begeisterung für Bursfelde), vor allem aber gewinnt im
140 Diese schroffe Abgrenzung basierte auch auf der seinerzeit allgemein akzeptierten Pseudonymität der sieben Antonius-Briefe. Die darin deutlich vorgenommene Abgrenzung gegen Arius (ep. 4,17; vgl. Rubenson, Letters [Anm. 9], 44 f.) passt hingegen sehr gut mit dem Antiarianismus des Antonius in der Vita (68,2–69,6; 89,4; 91,4) zusammen, was Athanasius’ Darstellung als hagiographisch plausibel erscheinen lässt – ob die Formulierungen in der Vita von Antonius stammen, mag man füglich bezweifeln, die Abwehr der „Arianer“ durch den Eremiten dürfte aber kaum aus der Luft gegriffen sein. Dem widerspricht nicht, dass sich eine gleichlautende Abgrenzung auch in den letzten Worten des Pachomius findet (Vita Pachomii graeca secunda 88): Die Orthodoxie der Eremiten und Koinobiten scheint für die Hagiographen der ersten Mönche von größerer Bedeutung gewesen zu sein, als Dörries es einschätzte. 141 Hermann Dörries, De spiritu sancto. Der Beitrag des Basilius zum Abschluß des trinitarischen Dogmas (AAWG.PH III, 39), Göttingen 1956. 142 Dörries’ Beitrag zur Makarios-Forschung wird allerdings gerade aufgrund der untergründigen lutherischen Färbung seines Symeon-Bildes unterschiedlich eingeschätzt: Folgte der TREArtikel aus der Feder seines letzten Doktoranden Otmar Hesse (Hesse, Makarios [Anm. 99]) i. W. den Spuren des Lehrers, plädiert Marcus Plested, The Macarian Legacy: The Place of MacariusSymeon in the Eastern Christian Tradition, Oxford 2004, 16 dafür, die Zuweisung an „Symeon“ gänzlich fallen zu lassen (mit Hinweis auf Dörries’ eigene Rückkehr zu „Makarios“ in seinem Spätwerk) und auch nicht länger den Spuren der spätantiken Häresiologen zu folgen, deren Konstruktion des „Messalianismus“ weder eine konkrete Gruppe erkennen lasse noch dabei helfe, den Kontext des makarianischen Schrifttums zu erhellen (ebd. 27).
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Rückblick von Makarios/Symeon her die vorausgehende eremitische Bewegung an Profil. Darum war Dörries so sehr an den „authentischen“ Gestalten und an der individuellen Zurechenbarkeit ihrer Worte gelegen: Sie boten Identifikationspotenzial für damals, aber auch für seine Gegenwart. 3. Seine Ausführungen über die Beichte schloss Dörries wie folgt: „Was eine Zeit zu sagen hat, muß sie aussprechen, ohne daß wir ihr ins Wort fallen. Und gibt es hier nicht etwas, das wir hören, bedenken und uns gesagt sein lassen sollten?“ 143 Dörries sah das Missverhältnis der Protestanten zu den Heiligen in deren Erhebung zu den Altären durch die römisch-katholische Kirche begründet: Die Heiligsprechung bildete de facto ein Rezeptionshindernis, weil man von ihren kultischen, frömmigkeitspraktischen und theologischen Implikationen schlechterdings nicht absehen konnte. Eine Aneignung von Heiligengestalten des zweiten Jahrtausends, wie sie der reformierte Schweizer Pfarrer Walter Nigg (1903–1988) vertrat,144 kam für Dörries nicht in Betracht; hier war er sich mit Luther einig. Die Wüstenväter waren jedoch niemals formell kanonisiert worden, sie waren (und sind) in vielen kirchlichen Traditionen präsent, als Quellen für Kalenderweisheiten – aber eben auch als Leitbilder aus einer fernen Welt. Eine unmittelbar fruchtbar zu machende Ressource für den Protestantismus seiner Zeit sah der Abt von Bursfelde auch darin nicht.145 Jedoch erlaubte es die protestantische Freiheit dem lutherischen Kirchenhistoriker Dörries, einen erheblichen Teil seines Schaffens den frühen Mönchen, ja sogar einem vermeintlichen Häretiker unter ihnen zu widmen.146 Die Wüstenväter und insbesondere Makarios/Symeon boten die Chance zu einer individuellen Begegnung mit ihrem Denken und Handeln, auch mit ihrem Ringen um den Weg des Christen in der Welt. Die „Lebensechtheit“ und der „Ernst des Gehorsams“ in den Vätersprüchen faszinierten Dörries, den hannoverschen Lutheraner.147 Dieser Gehorsam richtete sich auf das Wort Gottes, das auch und gerade in der Wüste laut geworden war. Daher konnte Dörries auf der letzten Seite seines Buches über die Theologie des Makarios/ Symeon sogar sein Verständnis von Kirchengeschichte überhaupt im Gespräch
143 Dörries, WuS I (Anm. 71), 247. 144 Walter Nigg, Große Heilige, Zürich 1946 (zahlreiche Neuauflagen). 145 Vgl. Jaspert, Mönchtum (Anm. 10), 431. 146 Das blieb im liberalen Göttingen kein Einzelfall: Sein 1961 vorzeitig berufener Nachfolger Carl Andresen (1909–1985) hatte seine Kieler Habilitationsschrift sogar dem christentumskritischen „Heiden“ Celsus gewidmet! 147 Und nicht nur ihn: Für eine wissenschaftlich fundierte Annäherung an die Spiritualität des frühen eremitischen Mönchtums vgl. Schulz/Ziemer, Wüstenvätern (Anm. 50), bes. 293–298. – Ich komme hier zum selben Schluss wie Dornbusch, Dörries (Anm. 11), 289, die zum auffallenden Fehlen größerer kirchengeschichtlicher Gesamtdarstellungen aus Dörries’ Feder feststellt: „In diesen hätte er das Programm einer individuellen Begegnung nur schwer realisieren können.“
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mit dem Mönchtum formulieren: „Die Geschichte der Kirche ist nun einmal die Geschichte vom Wirken des Evangeliums in der Welt, Cursus Verbi.“ 148 Auch wenn wir nicht mehr wie er direkt in die Kellien schauen können, ihre Wirkungsgeschichte ist einen Blick wert. Sich von dieser Geschichte etwas gesagt sein zu lassen lohnt sich weiterhin, historisch wie theologisch. Was Carl Andresen in seiner Göttinger Abschiedsvorlesung über das „Geheimnis der Wirkung“ Augustins schrieb, nämlich dass er sich auf das „Weggespräch“ mit späteren Generationen über die großen Fragen nach Gott und der Welt verstehe, gilt auch für die spätantiken Mönche und Dörries, ihren kongenialen Deuter. Die Erschließung früher monastischer Spiritualität für eine evangelische Leserschaft war ein Anliegen von Dörries, das gerade angesichts populärer Vereinnahmungen der Wüstenvätersprüche seine Aktualität nicht verloren hat.149 Daher sei, nochmals mit Andresens Worten, die Hoffnung geäußert: „Er wird auch weiterhin gelesen werden.“ 150
148 Dörries, Makarios (Anm. 80), 459. 149 Vgl. etwa Hans Conrad Zander, Als die Religion noch nicht langweilig war. Die Geschichte der Wüstenväter, Gütersloh 2011. 150 Carl Andresen, Augustin – das Geheimnis seiner Wirkung, in: Ders., Theologie und Kirche im Horizont der Antike. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der Alten Kirche, hg. von Peter Gemeinhardt (AKG 112), Berlin/New York 2009, 215–225, hier 225.
Martin Illert
Hermann Dörries und „sein“ Makarios Von „Symeon von Mesopotamien“ (1941) bis zur „Theologie des Makarios/Symeon“ (1978) Aus der Fülle der Publikationen von Hermann Dörries zu Makarios sollen in diesem Beitrag drei zentrale Werke in den Blick genommen werden.1 Schwerpunktmäßig wird die Monographie Symeon von Mesopotamien vorgestellt, die 1941 in den Texten und Untersuchungen zur Geschichte der Altchristlichen Literatur erschien.2 Ergänzend berücksichtigen wir die von Dörries 1964 in den Patristischen Texten und Studien mitverantwortete Edition der 50 Geistlichen Homilien.3 Abschließend betrachten wir die 1978 posthum in den Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen erschienene Theologie des Makarios Symeon.4 Diese drei Publikationen haben die Makarios-Forschung nachhaltig geprägt.5 Sie belegen, dass sich Dörries über viele Jahre seines wissenschaftlichen Wirkens hinweg intensiv mit Makarios auseinandersetzte und dokumentieren den Wandel des Bildes, das Dörries von Makarios zeichnete.
1 Symeon von Mesopotamien Die Monographie Symeon von Mesopotamien greift auf drei Arbeiten anderer Forscher zurück.6 Aus einem 1920 erschienenen Aufsatz des belgischen Benediktiners
1 Der vorliegende Beitrag vertieft Beobachtungen einer früheren Arbeit vgl. Martin Illert, „Im Irrgarten der Macariushomilien“. Evangelische Bilder der Ostkirche zwischen Inspiration zur Erneuerung und Projektion am Beispiel der Homilien des Makarios, in: Irena Zeltner Pavlović/ Martin Illert (Hg.), Ostkirchen und Reformation 2017, Bd. 1, Leipzig 2018, 433–449. 2 Vgl. Hermann Dörries, Symeon von Mesopotamien. Die Überlieferung der messalianischen „Makarios“-Schriften (TU 55.1), Leipzig 1941. 3 Makarios/Symeon, Die fünfzig geistlichen Homilien des Makarios, hg. v. Hermann Dörries/Erich Klostermann/Matthias Kröger (PTS 4), Berlin 1964. 4 Hermann Dörries, Die Theologie des Makarios/Symeon (AAWG.PH III, 103), Göttingen 1978. 5 Vgl. Columba Stewart, Working the Earth of the Heart. The Messalian Controversy in Texts, History and Language to A. D. 431, Oxford 1991, 247, spricht von Dörries “magisterial Symeon von Mesopotamien”; auch Marcus Plested, The Macarian Legacy. The Place of Macarios-Symeon in the Eastern Christian Tradition, Oxford 2004, 9–10, unterstreicht die bleibende Bedeutung der Arbeiten von Dörries zu Makarios. 6 Vgl. Illert, Irrgarten (Anm. 1), 436. https://doi.org/10.1515/9783110690095-008
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Martin Illert
Louis Villecourt (1897–1930) wusste Dörries, dass einzelne Sätze der makarianischen Homilien auf dem Konzil zu Ephesos 431 als Irrlehren der Sekte der „Messalianer“ (syr. für „Beter“) verurteilt worden waren.7 Die verurteilten Sätze hatte Dörries’ Marburger Lehrer Adolf Jülicher (1857–1938) in seinem Aufsatz „Geheiligte Ketzer“ von 1921 zum Kernbestand des makarianischen Schrifttums erklärt, welcher von einer späteren ostkirchlichen Bearbeitung zu unterscheiden sei, die unter den Namen des Ägypters Makarios gestellt wurde.8 Schließlich hatte Werner Strothmann (1907–1996) in seiner von Dörries betreuten und 1934 publizierten Licentiatsschrift darauf hingewiesen, dass ein Teil der arabischen Überlieferung nicht dem Makarios, sondern dem Asketen Symeon Stylites (5. Jh.) zugeschrieben wird und den historischen Autor der makarianischen Schriften mit dem Messalianer Symeon identifiziert.9 Auf der Grundlage dieser drei Beiträge dekonstruierte Dörries das makarianische Schrifttum.10 Wie es Jülicher, dessen Andenken der Symeon von Mesopotamien zusammen mit dem Andenken Karl Müllers (1852–1940) gewidmet ist, mit den Gleichnissen Jesu getan hatte, so beschrieb es Dörries als seine Aufgabe, „dem als echt anerkannten seine ursprüngliche Form zurückzugeben“.11 „Eine blinde Verehrung“ habe redaktionell „das gesamte Schrifttum [scil. des Makarios] als eine strukturlose Masse behandelt“.12 Daher gelte es, „die an ihren geschichtlichen Ort zurückgebrachten Schriften in ihrem wahren Zusammenhang zu verstehen“.13 Indem er trennte, „was nicht zueinander passte“ und es „nach seinem eigenen Stilgesetz behutsam mit dem zu ihm gehörenden zusammenfüg[te]“ 14 rekonstruierte Dörries den „Katechismus der Messalianer“.15 Zur Zeit der Abfassung seines „Symeon“ kannte Dörries noch nicht die älteste griechische Sammlung, die erst 1961 von Erich Klostermann (1870–1963) und Heinz Berthold (1927–2017) ediert wurde.16 Mit Strothmann stütze sich Dörries bei der Rekonstruktion der vermeintlichen Urschrift deshalb auf die arabische
7 Vgl. Louis Villecourt, La date et l’origine des Homélies spirituelles attribuées à Macaire, CRAI 64.3 (1920), 250–258. 8 Vgl. Adolf Jülicher, Geheiligte Ketzer, PrM 25 (1921), 65–75. 9 Werner Strothmann, Die arabische Makariustradition. Ein Beitrag zur Geschichte des Mönchtums, Göttingen 1934, 29–31. 10 Vgl. Illert, Irrgarten (Anm. 1), 435–436. 11 Dörries, Symeon (Anm. 2), 5. 12 Dörries, Symeon (Anm. 2), 6. 13 Dörries, Symeon (Anm. 2), 4. 14 Dörries, Symeon (Anm. 2), 6. 15 Dörries, Symeon (Anm. 2), 8. 16 Makarios/Symeon, Neue Homilien des Makarios/Symeon I aus Typus III, hg. v. Erich Klostermann/Heinz Berthold (TU 72), Berlin 1961.
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Sammlung TV.17 Hinzu nahm er die damals neu entdeckte griechische Sammlung B18 und zwei Moskauer Handschriften eines Anhangs zu den Geistlichen Homilien (H 51–57).19 Diese Texte verglich er auf der Grundlage einer Synopse Strothmanns mit der Sammlung der seit dem sechzehnten Jahrhundert in Westeuropa verbreiteten Fünfzig Geistlichen Homilien.20 Bei der Untersuchung der Moskauer Manuskripte stellte Dörries fest, dass diese den Anhang zu den geistlichen Homilien (H 51–57) einem gewissen „Symeon“ zuschreiben.21 Diese Angabe kombinierte Dörries mit der Zuschreibung der arabischen Sammlung TV an Symeon Stylites und identifizierte (wie bereits Strothmann vor ihm) den Autor der Makariosschriften mit Symeon, einer Leitfigur „der enthusiastischen Bewegung der Messalianer“.22 Das theologische Profil dieses Symeon sei bald verkannt worden, stellte Dörries fest: „Es hat nicht lange gedauert, so wurde die Besonderheit der darin [scil. in seinem Schrifttum] enthaltenen Lehren nicht mehr begriffen“ 23 und „die Schriften des Messalianertheologen“ erschienen nur noch „als ein Stück der allgemeinen kirchlichen Mönchsliteratur“.24 Dass die makarianischen Schriften in der Tat in ihrer Rezeption als ostkirchliche Erbauungsschriften „von einer anderen geistigen Welt aus gedeutet“ 25 und fälschlich für Werke des ägyptischen Mönchsvaters Makarios (4. Jahrhundert) gehalten wurden, deutete Dörries, wie vor ihm Jülicher als Heiligsprechung von Ketzern.26 Aufgabe der Theologie war es nach Dörries, durch die historische Kritik der makarianischen Traditionsbestände zu den ursprünglichen Fassungen zu gelangen.27 Hierbei wurden Gottesdienst und Sakramentstheologie als „verkirchlichende“ Interpolationen ausgeschieden.28 Dass die pneumatologischen Aussagen der Homilien Anklänge an die Geist-Epiklesen der ältesten syrischen Gottesdienst-
17 Vgl. die Einleitung zu Martin Illert (Übers.), Pseudo-Makarios, Predigten. Aus den Sammlungen C und H (BGL 74), Stuttgart 2013, 1–3. 18 Später ediert von Heinz Berthold, Makarios/Symeon, Reden und Briefe (GCS o. Nr.), 2 Bde, Berlin 1973. 19 Vgl. George L. Marriott, Macarii Anecdota. Seven unpublished Homilies of Macarius (HTS V), Cambridge Mass. 1919. 20 Vgl. Macarii Aegyptii, Macarii Alexandrini opera, quae supersunt omnia (PG 34), Paris 1869. 21 Zur Zuschreibung einzelner Abschnitte der Manuskripttradition an „Symeon“ vgl. Klaus Fitschen, Messalianismus und Antimessalianismus. Ein Beispiel ostkirchlicher Ketzergeschichte (FKDG 71), Göttingen 1998, 171. 22 Dörries, Symeon (Anm. 2), 4. 23 Dörries, Symeon (Anm. 2), 450. 24 Dörries, Symeon (Anm. 2), 450. 25 Dörries, Symeon (Anm. 2), 4. 26 Vgl. Dörries, Symeon (Anm. 2), 4, und Jülicher, Ketzer (Anm. 8), 65. 27 Vgl. Dörries, Symeon (Anm. 2), 4; vgl. Illert, Irrgarten (Anm. 1), 436–437. 28 Vgl. Dörries, Symeon (Anm. 2), 4.
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tradition enthalten oder dass die Akoluthie der zitierten Bibeltexte in manchen Homilien den ältesten syrischen Lektionaren entspricht, geriet bei dieser Dekonstruktion rasch aus dem Blick.29 Werfen wir einen Blick auf das Profil der von Dörries rekonstruierten Urschrift: „Symeon“ war für Dörries ein „Messalianertheologe“,30 für den das „Warten auf die göttliche Kraft nach der Weisung der Schrift besser als die selbstgenügsame Äußerlichkeit seines bisherigen Lebens“ 31 gewesen sei. „Symeon“ habe das „Pochen auf die Werke“ 32 kritisiert und sei in der „Not (s)eines Gewissens“ 33 zur Erfahrung gelangt, „dass er das Eigentliche nicht zu leisten vermag“.34 Seine Einsichten habe „Symeon“, der das Mönchtum habe „reformieren“ 35 wollen, in einem „Katechismus“ zusammengefasst. Manche Züge „Symeons“, etwa sein Beharren auf Schriftgemäßheit gegenüber vermeintlicher monastischer Äußerlichkeit, die Bedeutung, die er der Gnade Gottes gegenüber den „Werken“ zuwies oder die Darstellung seiner Lehre in Form eines Katechismus ließen ihn wie einen Vorläufer des Reformators Martin Luther erscheinen.36 Außerdem steht Dörries’ Deutung auch in der Tradition der pietistischen Makariosrezeption Gottfried Arnolds (1666–1714).37 Dies gilt in Besonderheit, wenn er die spirituelle Integrität des Autors der geistlichen Homilien als „Unparteilichkeit“ von der vermeintlichen Verweltlichung seiner Gegner mit den Worten abhebt: „Aber die kirchlichen Parteien bedeuten ihm nichts und ihre Unterscheidungslehren sind ihm eitle Worte […] in denen sich ein völlig weltlicher Hochmut verbirgt, während ahnungslose Laien sie als wirkliche Bekenntnisse ansehen und sich ihren Ansprüchen unterwerfen zu müssen glauben. Die wahre Kirche und
29 Vgl. Illert, Irrgarten (Anm. 1), 437 sowie Martin Illert, Die Erfahrung des Heiligen Geistes bei Pseudo-Makarios, in: Peter Bruns/Thomas Kremer (Hg.), Studia Syriaca. Beiträge des IX. Deutschen Syrologentages (EBCO 6), Wiesbaden 2018, 89–92 sowie ders., Pseudo-Makarios und die ältesten syrischen Perikopenordnungen, in: Shabo Talay (Hg.), Überleben im Schatten. Geschichte und Kultur des syrischen Christentums, Beiträge des 10. Deutschen Syrologentages an der FU Berlin 2018 (GOF I.58), Wiesbaden 2020, 103–110. 30 Dörries, Symeon (Anm. 2), 450. 31 Dörries, Symeon (Anm. 2), 36. 32 Dörries, Symeon (Anm. 2), 62. 33 Dörries, Symeon (Anm. 2), 36. 34 Dörries, Symeon (Anm. 2), 62. 35 Dörries, Symeon (Anm. 2), 450. 36 Vgl. das Bild vom Gewissenskonflikt Luthers bei Karl Holl, Was verstand Luther unter Religion, Tübingen 1917, 17. 37 Zu Dörries’ pietistisch eingefärbter Makarios-Interpretation vgl. Siegfried Wollgast, Zu den philosophischen Quellen Gottfried Arnolds und zu Aspekten seines philosophischen Systems, in: Dietrich Blaufuss/Friedrich Niewöhner (Hg.) Gottfried Arnold 1666–1714 (WoF 61), Wiesbaden 1995, 301–335, hier 315.
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das wahre Christentum sind vielmehr durch Früchte des Geistes ausgezeichnet“.38 Wenn Dörries in anderen Passagen den Konflikt der Reichskirche mit dem Kreis des Makarios beschreibt, so mag der Leser des „Symeon“ nicht nur an die Pietismusstreitigkeiten, sondern auch an den Kirchenkampf denken.39 Wo der Autor des „Symeon“ schließlich die Messalianer als „arbeitsscheu“ oder den Autor der Homilien als den „geistige(n) Führer“ 40 einer „Bewegung“ 41 und das messalianische „Asketikon“ als „Grundbuch der Bewegung“ 42 bezeichnet, erinnert dies an die Sprache der nationalsozialistischen Diktatur.
2 Die 50 Geistlichen Homilien Drei Jahre nach dem Erscheinen von Dörries’ „Symeon“ stellte der Hallenser Kirchenhistoriker Erich Klostermann (1870–1963) in seinem Aufsatz Symeon und Makarius mit dem Untertitel Bemerkungen zur Textgestalt zweier divergierender Überlieferungen die Arbeit an einer kritischen Ausgabe des Makarios auf eine neue Grundlage.43 Dass der Urtext des Makarios eine Bearbeitung erfahren hatte, bestritt Klostermann nicht.44 Mit Dörries unterschied Klostermann deshalb originale, „Symeon“ zuzuweisende Stücke von Überarbeitungen, die „Makarios“ zugehörig seien.45 Doch anders als Dörries in seinem „Symeon“ strebte Klostermann keine Rekonstruktion verlorener Schriften an, sondern forderte die Konzentration auf die Ausgabe der „tatsächlich vorliegenden […] Sammlungen“.46 Die „Textwandlungen“ 47 der späteren Überlieferungsstufen seien „nicht eine sozusagen belanglose Fortentwicklung gegenüber einem Ursprünglichen“.48 „In voller Absicht und Autorität“ hätten die Redaktionen auf den Text „gestaltend eingewirkt“.49 Die revidierte Fassung des „Makarios“ verdiene daher keine geringere
38 Dörries, Symeon (Anm. 2), 366. 39 Vgl. Illert, Irrgarten (Anm. 1) 437. 40 Dörries, Symeon (Anm. 2), 6. 41 Dörries, Symeon (Anm. 2) 6. 42 Dörries, Symeon (Anm. 2) 447. 43 Vgl. Erich Klostermann, Symeon und Macarius. Bemerkungen zur Textgestalt zweier divergierender Überlieferungen (APAW.PH 11), Berlin 1944. 44 Vgl. Illert, Irrgarten (Anm. 1), 439. 45 Illert, Irrgarten (Anm. 1), 439. 46 Vgl. Klostermann, Symeon (Anm. 43), 5. 47 Klostermann, Symeon (Anm. 43), 24. 48 Klostermann, Symeon (Anm. 43), 24. 49 Klostermann, Symeon (Anm. 43), 24.
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Beachtung als die Ursprungsversion „Symeon“.50 „Makarios und Symeon“ müssten gleichermaßen Beachtung finden.51 Damit wendete sich Klostermann von Dörries’ Gedanken ab, eine „Urschrift“ zu rekonstruieren und orientierte sich an den methodischen Standards der klassischen Altertumswissenschaften. Nach dem Vorbild Theodor Mommsens (1817–1903) setzte Klostermann der Makariosforschung die Erschließung des gesamten Quellenbestandes als Ziel vor Augen.52 Diese Herangehensweise hatte Klostermann bei der Arbeit an Origenes für die „Kirchenväterkommission“ der Preußischen Akademie der Wissenschaften von Mommsen und Adolf von Harnack (1851–1930) gelernt.53 In diesem Sinne sollten auch die Makarios-Editoren nach der Vorstellung Klostermanns arbeiten. Klostermanns Sicht prägte auch die 1964 von Dörries, Klostermann, der zum Zeitpunkt des Erscheinens der Edition bereits verstorben war, und dem klassischen Philologen und Theologen Matthias Kröger veranstaltete Ausgabe der 50 Geistlichen Homilien des Makarios in den Patristischen Texten und Studien.54 Den Paradigmenwechsel brachte Dörries im Vorwort der Edition mit dem Umstand der Entdeckung neuer Manuskripte zusammen und behauptete, Klostermann habe versucht, „dem ursprünglichen Text des Symeon möglichst nahe zu kommen“.55 Durch die Neuentdeckung der Handschriften sei jedoch „die Eigenart der 50 Geistlichen Homilien und ihrer Textgestalt deutlicher hervorgetreten. Ihre Sonderstellung verwehrt, sie so nah an die anderen Überlieferungen heranzurücken […] Von Erich Klostermanns Arbeit wurde außer einigen Konjekturen weithin der Nachweis der Bibelzitate bewahrt. Sein Name ist auf dem Titel schon aus Pietätsgründen zu nennen“.56 Der bahnbrechenden Leistung des Aufsatzes Klostermanns zu Symeon und Makarius werden diese Worte nicht gerecht. Klostermann, den Dörries im Vorwort nur als „verdienten Origenes-Herausgeber“ bezeichnet, war im Übrigen auch ein Makarios-Herausgeber, hatte er doch drei Jahre vor der Edition der 50 Geistlichen Homilien gemeinsam mit Heinz Berthold mit der Ausgabe des Sondergutes der Sammlung C die erste kritische Makarios-Edition
50 Klostermann, Symeon (Anm. 43), 26. 51 Klostermann, Symeon (Anm. 43), 26 (Unterstreichung im Text). 52 Zum Ansatz Mommsens vgl. Stefan Rebenich, Die Deutschen und ihre Antike. Eine wechselvolle Beziehung, Stuttgart 2022, 98–115. 53 Bereits in einem Brief an Hans Lietzmann von 1906 spricht Klostermann mit Blick auf seine wissenschaftliche Methodik vom „Ideal einer für alle verbindlichen Wissenschaft“ (Kurt Aland [Hg.]: Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann [1892–1942], Berlin/New York 1979, 231). 54 Vgl. Makarios/Symeon, Homilien (Anm. 3). 55 Vorwort von Dörries zu Makarios/Symeon, Homilien (Anm. 3), V. 56 Vorwort von Dörries zu Makarios/Symeon, Homilien (Anm. 3), V.
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nach den von ihm 1944 auf die Makariosforschung übertragenen Prinzipien herausgegeben.57 Während Dörries’ Beurteilung der Leistung Klostermanns befremdet, verdient der Beitrag, den die Kommentierung zentraler theologischer Begriffe der makarianischen Homilien in der Edition leistete, Anerkennung. Anders als im „Symeon“ stellte die Kommentierung nicht länger die Analyse der vermeintlich „messalianischen“ Signalworte in den Mittelpunkt, sondern untersuchte breit die theologische Lexik des Makarios durch Vergleiche mit zahlreichen Autoren der griechischen Patristik.58 Stärker als noch im „Symeon“ wurde Makarios durch den Kommentar in den Kontext der Theologie- und Kirchengeschichte des 4. Jahrhunderts eingeordnet. Zusätzlich präsentierte der Apparat eine breite Sammlung von Belegen zu Begriffen aus dem Makarianischen Corpus selbst. Diese synchrone Betrachtung des Makarios behandelte dessen Texte nicht länger – wie noch im „Symeon“ – als Steinbruch, aus dem das vermeintlich ursprünglich „messalianische“ Gebäude rekonstruiert werden soll, sondern würdigte die vorliegenden Texte im Sinne der Ausführungen Klostermanns als eigenständige Produkte. Weiterhin unberücksichtigt blieben – wie schon im „Symeon“, so auch im Kommentar – lediglich zwei Aspekte: Dabei handelte es sich erstens um den seit den 1950er Jahren in der Forschung thematisierten syrischen Zusammenhang des Makariosschrifttums.59 Der zweite Aspekt betraf die vom ersten Aspekt der syrischen kulturellen Einbettung der Überlieferung nicht zu trennende liturgische Kontextualisierung der Stücke, die nach wie vor von Dörries ausgeblendet wurde.60
3 Die Theologie des Makarios/Symeon Nachdem bereits die Edition der 50 Geistlichen Homilien die Überwindung des noch im „Symeon“ gezeichneten Dekadenzschemas befördert hatte, verstärkte die posthum veröffentlichte Theologie des Makarios-Symeon den synchronen Blick auf die Homilien. Nicht länger lag der Schwerpunkt von Dörries’ Analyse auf dem Messalianismus und der Kontroverse mit der Reichskirche. Vielmehr arbeitete Dörries in drei großen Kapiteln die theologischen Grundanschauungen des Makarios zum Bösen, zum Gebet und zum Heiligen Geist heraus. Dass er mit seinem Gesamtentwurf einer „Theologie“ des Makarios die Rezeption des Makariosschrift-
57 Vgl. Makarios/Symeon, Homilien (Anm. 16). 58 Zur Einordnung der Theologie des Makarios zwischen syrischer und griechischer Tradition vgl. die Einleitung zu Pseudo-Makarios, Predigten (Anm. 17), 12–23. 59 Vgl. die Einleitung zu Pseudo-Makarios, Predigten (Anm. 17), 12–28. 60 Zu diesen Aspekten vgl. Illert, Erfahrung (Anm. 29) und ders., Pseudo-Makarios (Anm. 29).
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tums auch im interkonfessionellen Dialog beförderte, erlebte Dörries selbst nicht mehr.61 So behandelte das deutsch-finnische orthodox-protestantische MakariosSymposium, dessen erste Tagung 1980 stattfand, das von Dörries in den Mittelpunkt gestellte Thema des „Bösen“ bei Makarios, um in späteren Tagungen auch nach dem Gebet und dem Heiligen Geist zu fragen.62 Dörries’ zunehmende Tendenz zur „Verkirchlichung“ des Makarios kam auch den ostkirchlichen Lesarten der Makariosschriften entgegen. Bereits John Meyendorff (1926–1992) hatte auf die theologische Wirkungsgeschichte des Makarios im Palamismus, hingewiesen.63 Kallistos Ware (1934–2022), der Herausgeber der „Philokalia“, die die Homilien des Makarios enthält, betreute zwei Studien, die die Rezeption des Makarios in der patristischen Theologie belegten.64 Auf protestantischer Seite empfahl der Göttinger Syrologe Jouko Martikainen (*1936),65 der bereits aus seiner finnischen Heimat mit dem Dialog zwischen Luthertum und Orthodoxie vertraut war,66 die Verwendung des Makarios als Referenztext für das Gespräch des Protestantismus mit der Ostkirche.67 In diesem Dialog wurden die makarianischen Homilien nicht allein als Werke des spätantiken syrischen Christentums,68 sondern auch als Brücke zwischen ostkirchlicher Theosis- und lutherischer Rechtfertigungslehre gedeutet.69 Martikainen ging später noch über diesen interkonfessionellen Ansatz hinaus und verglich die Homi-
61 Vgl. Illert, Irrgarten (Anm. 1) 445–449. 62 Vgl. Werner Strothmann (Hg.), Makarios-Symposium über das Böse. Vorträge der ersten finnischdeutschen Theologentagung in Goslar 1980 (GOF I.24), Wiesbaden 1983; Fredric Cleve/Esko Ryökäs (Hg.), Makarios Symposium über den Heiligen Geist. Vorträge der zweiten finnisch-deutschen Theologentagung in Karis 1983, Abo 1989; Jouko Martikainen/Hans-Olof Kvist (Hg.), Makarios-Symosium über das Gebet, Vorträge der dritten finnisch-deutschen Theologentagung in Amelungsborn 1986, Abo 1989, 47–60. 63 Vgl. John Meyendorff, Messalianism or Anti-Messalianism? A Fresh Look at the ,Macarian‘ Problem, in: Patrick Granfield/Josef A. Jungmann (Hg.), Kyriakon, Festschrift für Johannes Quasten, Bd. II, Münster 1970, 585–590. 64 Vgl. Steward, Earth (Anm. 5); Plested, Legacy. (Anm. 5). 65 Vgl. Illert, Irrgarten (Anm. 1) 445–449. 66 Zum bilateralen finnisch-lutherisch/russisch-orthodoxen Dialog vgl. Risto Saarinen, Faith and Holiness, Lutheran-Orthodox Dialogue 1959–1994 (KuK 40), Göttingen 1997, 20–83. 67 Vgl. Jouko Martikainen: Timotheus I und der Messalianismus, in: Martikainen/Kvist (Hg.), Makarios-Symposium (Anm. 62), 47–60. 68 Fitschen, Messalianismus (Anm. 21), 311–341, belegt die Instrumentalisierung des seines Inhaltes entleerten Messalianertitels in byzantinischer Zeit. 69 Vgl. Georg Kretschmar, Rechtfertigung und Vergottung, in: Klaus Schwarz (Hg.), Rechtfertigung und Verherrlichung (Theosis) des Menschen durch Jesus Christus. Fünfter bilateraler theologischer Dialog zwischen der Rumänischen Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 18. bis 27. Mai 1998 im Kloster Kirchberg/Sulz am Neckar, Hermannsburg 1995, 168.
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lien mit dem Predigtstil des Korans.70 Damit verwies er auf das Potenzial der makarianischen Homilien für den interreligiösen Dialog. Freilich mussten die konfessionsverbindenden und die interreligiösen Einordnungen die sakramentalen und liturgischen Dimensionen der Makariosschriften ausblenden. Damit wird abschließend auch neben der Veränderung des Makarios-Bildes von Dörries eine Konstante seiner Makariosdeutung deutlich, die sich seit den 1940er Jahren bis zur „Theologie“ der 1970er Jahre fortsetzte und die wir als Adaption der pietistischen Makariosdeutung beschreiben können. Tatsächlich orientierte sich Dörries durchgehend an der pietistischen Auslegung des Kirchenvaters, die u. a. bei Gottfried Arnold zu finden ist.71 Dörries hat diese pietistische Makariosdeutung in allen drei vorgestellten Werken beibehalten und in seiner Monographie zu Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold auch explizit herausgestrichen.72 Zusammenfassend können wir an Dörries Einordnung des Makarios eine zunehmende „Verkirchlichung“ beobachten. Klostermanns editorischer Ansatz, nach dem die vorfindlichen Texte nicht dekonstruiert werden sollten, dürfte diesen Wandel des Makariosbildes bei Dörries hin zu einem stärker „kirchennahen“ Schriftsteller ermöglicht haben. Das veränderte Bild, welches Dörries im Spätwerk seiner „Theologie“ von Makarios zeichnete, war dann in einem solchen Maß „verkirchlicht“, dass sich der in Dörriesʼ ursprünglicher Sicht „häretische“ Makarios nun sogar als Brücke für die ökumenische Verständigung zwischen den Konfessionen anzubieten schien.
70 Vgl. Illert, Irrgarten (Anm. 1) 447. 71 Vgl. Wollgast, Quellen (Anm. 37), 153. 72 Dörries las die Fünfzig Geistlichen Homilien im Lichte der Kirchen- und Ketzergeschichte Arnolds, vgl. Hermann Dörries, Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold (AAWG.PH III, 51), Göttingen 1963, 178.
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Hermann Dörries als Erforscher des frühen Mittelalters 1 Vorbemerkungen Die akademischen Lebensstationen von Hermann Dörries (1895‒1977) erwecken einen recht gradlinigen Eindruck:1 Nach seinem Studium in Marburg und Tübingen promovierte er in Marburg 1922 mit einer Dissertation Zur Geschichte der Mystik. Erigena und der Neuplatonismus (Tübingen 1925); es folgte im Jahr 1923 die Habilitation zu Augustinus und 1926 die Ernennung zum a. o. Professor; nach einem Ruf nach Halle 1928 nahm er 1929 einen Ruf nach Göttingen an, wo er bis 1963 seine Professur ausübte; 1941 wurde er auch Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Die Jahreszahlen lassen allerdings erkennen, dass er wechselvolle Zeiten vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschlands erlebte, mit den Jahren der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus dazwischen. Und schon die Tatsache der ununterbrochenen Tätigkeit als Professor zwischen 1928 und 1963 provoziert Rückfragen zu seiner politischen Haltung. Außerdem wird man hellhörig, wenn seine Publikationsliste zeigt, dass das Frühmittelalter, die Germanenbekehrung und Germanisierung des Christentums seit den 1930er Jahren einen neuen Schwerpunkt bilden. Wie flossen die politischen Entwicklungen seiner Gegenwart in zu diesem Thema publizierten Studien ein? Als Dörries selbst sich seit den 1930er Jahren zu der Christianisierung der Germanen im Frühmittelalter äußerte, war dieses Feld bereits intensiv erforscht worden. Inzwischen war es selbstverständlich, die Völkerwanderung als ein erstes Kapitel in die Geschichte der Deutschen aufzunehmen, natürlich unter der Voraussetzung, dass die Deutschen die Nachfolger der Germanen seien. Exemplarisch sei auf zwei Werke verwiesen: Im Jahr 1846 publizierte der Kirchenhistoriker Friedrich Wilhelm Rettberg (1805‒1849), seit 1838 Professor in Marburg, den ersten Band seiner Kirchengeschichte Deutschlands: Die Römerzeit und die Geschichte der austrasischfränkischen Kirche bis zum Tode Karls des Großen enthaltend. Er verband in seiner Darstellung die aufklärerische Dogmengeschichte als Dogmenkritik, vor allem die Ablehnung der spätantiken dogmatischen Debatten über Trinität und Christolo-
1 Aneke Dornbusch, Dörries, Hermann (Wilhelm August), BBKL 54 (2022), 334‒340; TorstenWilhelm Wiegmann, Hermann Dörries, ein Göttinger Theologe als Lehrer und Forscher in der Zeit des Nationalsozialismus, JGNKG 91 (1993), 121‒149. https://doi.org/10.1515/9783110690095-009
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gie,2 mit einem Verständnis des Wesens des Christentums als vornehmlich praktische Aufgabe und schrieb in seinem Paragraphen über „Die Germanen und das Christentum“ (§ 36): In den Sturz des Römerreichs durch die Barbaren, in die gewaltigen Zuckungen, womit dieser Anschluss der alten Welt begleitet war, wird man sich nicht leichter und freudiger finden können, als durch die Gewissheit, dass die Römerwelt des ihr anvertrauten Schatzes des Evangeliums nicht mehr werth war, dass aber als würdiger Erbe eine Nation auftrat, die in frischer unverdorbener Jugendkraft für die eigentliche Heilsbotschaft im Christentum eine so viel größere Empfänglichkeit bewies.3
Aufgrund ihrer Prädisposition für das Christentum hätten die Germanen intuitiv den Kern des Evangeliums „ohne Formel und Dogma“ erfasst.4 Im Jahr 1854 veröffentlichte der Bonner Kirchenhistoriker Wilhelm Krafft (1821‒1897) ein zweibändiges Werk Die Kirchengeschichte der germanischen Völker, deren erster Band mit „Die Anfänge der christlichen Kirche bei den germanischen Völkern“ (Berlin 1854) betitelt war. Er betonte, dass die Bedeutung der neu gegründeten arianisch-germanischen Nachfolgestaaten nicht verkannt werden dürfte (S. VIII). Denn im Römischen Reich sei nicht nur das Heidentum trotz Christianisierung stark geblieben, sondern auch das Christentum selbst sei im Niedergang und mit heidnischen Elementen durchsetzt gewesen. Aber der alten absterbenden Welt stünden jugendliche, frische, sittlich kräftige Völker gegenüber (S. 52; 72; 230), prädisponiert für das Christentum in ihrem tapferen, mannhaften Glauben, ihrer Sühnopfervorstellung, ihrer Überzeugung von einer unsterblichen Seele und einem Leben nach dem Tod sowie ihrem Gerechtigkeitssinn und Freiheitssinn (S. 126 f.). Die Wahl des Arianismus sei nicht nur politisch bedingt gewesen (S. 224), sondern beruhe auf drei Gründen: Dieser ermögliche, theologischen Streit zu vermeiden, biete zweitens eine einfachere, ursprünglichere und bibli-
2 Inzwischen waren vom Aufklärungsgeist geprägte, kritische Werke zur Dogmengeschichte erschienen wie: Samuel Gottlieb Lange (1767‒1823), Ausführliche Geschichte der Dogmen oder der Glaubenslehren der christlichen Kirche. Nach den Kirchenvätern ausgearbeitet, Leipzig 1796; Wilhelm Münscher (1766‒1814), Handbuch der christlichen Dogmengeschichte, Bd. 1, Marburg 1797; ders., Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte, Marburg 1811; Johann Christian Wilhelm Augusti (1772‒1841), Über die Methoden der Dogmengeschichte, Neue theologische Blätter 2 (1799), 11‒22; ders., Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte, Leipzig 1805; David Friedrich Strauß (1808‒1874), Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt, 2 Bde., Tübingen 1840‒1841; die Kernthese steht in Bd. 1, S. 71: „Die wahre Kritik des Dogmas ist seine Geschichte.“ 3 Friedrich Wilhelm Rettberg, Kirchengeschichte Deutschlands, Bd. 1: Die Römerzeit und die Geschichte der austrasisch-fränkischen Kirche bis zum Tode Karls des Großen enthaltend, Göttingen 1846, 246 f. 4 Rettberg, Kirchengeschichte (Anm. 3), 251.
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schere Lehre und könne drittens leichter mit germanischer Götterlehre verknüpft werden (S. 339 f.). Die Grundlinien dieses Werkes wird auch Dörries später aufnehmen – auch wenn die im Folgenden angeführten Publikationen der Verweise auf andere kirchenhistorische Werke ermangeln.5 Ein apologetischer Ansatz machte sich bereits hier in der Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkbar, der um 1900 verstärkt in den Vordergrund rückte, nachdem im Jahr 1899 Arthur Bonus6 als Ausweg aus der Modernitätskrise des Christentums, seiner konfessionellen Spaltungen und der Entfremdung weiter Teile der Deutschen vom Protestantismus eine „Germanisierung“ des Christentums anregte. Als dann im aufkommenden Nationalsozialismus sogar eine „Ent-Christianisierung“ bzw. „Re-Germanisierung“ der Gesellschaft gefordert wurde, geriet die Erforschung des Frühmittelalters endgültig in das Fahrwasser der politischen Auseinandersetzungen. Umkämpft war die Frage, ob der Übertritt der Germanen zum Christentum eine schwere Fehlentscheidung gewesen und ihnen sogar nur mit Zwang auferlegt worden sei und ob das Christentum überhaupt zu einem „germanischen Wesen“ passe. Als Spezialfrage ist damit die Einschätzung des sogenannten „germanischen Arianismus“ verwoben.7 Bis in die 1930er Jahre wurde das Thema auch in Streit5 Nur in Germanische Religion und Sachsenbekehrung von 1934 (s. u. Anm. 16) wird zwei Mal (S. 18 Anm. 41 und S. 28 Anm. 53) kurz auf den dritten Band von Albert Hauck, Kirchengeschichte Deutschlands, Leipzig 1906, verwiesen. 6 Der Begriff „Germanisierung“ wurde geprägt von Arthur Bonus, Von Stöcker zu Naumann. Ein Wort zur Germanisierung des Christentums, Heilbronn 1896; ders., Vom deutschen Gott. Zur Germanisierung des Christentums, ChW 13 (1899) 57–59.81–85.101–103.125–127.147–150.171–173.195– 197.219–222; vgl. auch seine Aufsatzsammlung Zur religiösen Krisis, Bd. 1: Zur Germanisierung des Christentums, Jena 1911. Germanisierung meine nicht nur Anleihen aus der Völkerwanderung, sondern auch aus der Mystik und von Martin Luther. Eine Germanisierung des Christentums sei gleichbedeutend mit seiner Modernisierung: „Die Frage des deutschen Geistes an den vollkommenen Menschentypus ist eine andere als die Frage der Juden. Es ist nicht die Frage: Wie schicke ich mich in die Welt?, auch nicht die griechische: wie verkläre ich die Welt?, auch nicht die römische: wie rechtfertige ich die Welt?, sondern die deutsche Frage ist: wie herrsche ich über die Welt? Der deutsche Christus ist weder das Lämmlein noch der Mann mit dem Heiligenschein, noch der Weltrichter, er ist der Freie und der Königliche“ (Bonus, Krisis, 15 f.). Vgl. dazu damals Hans Weichelt, Arthur Bonus und die „Germanisierung des Christentums“, ZThK 42 (1934), 167‒189. Vgl. Hans Manfred Bock, Modernitätskrise und Fortschrittsoptimismus in der Christlichen Welt, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.), Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900. Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im Wilhelminischen Reich, Frankfurt/M. 2010, 73‒94, hier 83 f.; Rainer Lächele, Germanisierung des Christentums – Heroisierung Christi. Arthur Bonus – Max Brewer – Julius Bode, in: Stefanie von Schnurbein/Justus H. Ulbricht (Hg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne, Würzburg 2001, 165‒183; Angelo Radmüller, Zur Germanisierung des Christentums. Verflechtungen von Protestantismus und Nationalismus in Kaiserreich und Weimarer Republik, Zeitschrift für junge Religionswissenschaft 7 (2012), 2‒16. 7 Hanns Christof Brennecke, Christianisierung und Identität – Das Beispiel der germanischen Völker (1996), in: Uta Heil/Annette von Stockhausen/Jörg Ulrich (Hg.), Ecclesia est in re publica.
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schriften oder kleineren Broschüren behandelt.8 Die Forschungsfragen stehen also in einem schon länger intensiv geführten historischen Diskurs und gleichzeitig in einer politischen Debatte der damaligen Gegenwart zur Völkerwanderung und zu den Germanen als Teil der Vorgeschichte des Deutschen Reichs, verwoben mit einer Auseinandersetzung über die Rolle von Religion, genauer dem Christentum, in der Gesellschaft und in der Politik, herausgefordert durch die völkische Bewegung und den sog. Deutschglauben. Und genau hier sind auch die Äußerungen von Dörries einzuordnen. Seine Stellungnahmen hängen also nicht mit den Themen seiner Qualifikationsarbeiten zusammen, sondern wurden erst nach den 1930er Jahren von ihm verfasst, als er bereits Professor in Göttingen war, und sind auf diese Debatte ausgerichtet. Abgesehen von diesem zeitgeschichtlichen Kontext zeigt sich bei Dörries ein pointiertes Geschichtsverständnis, das sich nach einer Durchsicht seiner Veröffentlichungen als der eigentliche problematische Punkt herauskristallisiert hat. Details der Forschung können korrigiert werden; jeder/jede ist Kind ihrer oder seiner Zeit und wird von den jeweils aktuellen Fragen beeinflusst und politische Einstellungen können sich wandeln. Aber die theologische Überhöhung von geschichtlichen Momenten als von Gott bereiteten Herausforderungen bleibt ein grundsätzliches Problem, das auch seinen Irrwegen in der Kirchenpolitik (s. 2.1)
Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte im Kontext des Imperium Romanum (AKG 100), Berlin/New York 2007, 145‒156; ders., Der sog. germanische Arianismus als „arteigenes“ Christentum. Die völkische Deutung der Christianisierung der Germanen im Nationalsozialismus, in: Thomas Kaufmann/Harry Oelke (Hg.), Evangelische Kirchenhistoriker im „Dritten Reich“ (VWGTh 21), Gütersloh 2002, 310‒329; ders., Christianisierung der Germanen oder »Germanisierung des Christentums«. Über Ideologisierung und Tabuisierung in der Geschichtsschreibung, Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Geisteswissenschaftliche Klasse, Sitzungsberichte 5, Klassensitzungsvorträge 2000‒2004 (2006), 153–172; Knut Schäferdiek, Germanisierung des Christentums, TRE 12 (1984), 521‒524; ders., Germanisierung des Christentums?, EvErz 48 (1996), 333‒ 342. Vgl. ferner zur Forschungsgeschichte allg. Janos Bak/Jörg Jarnut/Pierre Monnet/Bernd Schneidmüller (Hg.), Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.‒21. Jahrhundert, München 2009; Hubert Fehr/Philipp von Rummel, Die Völkerwanderung, Stuttgart 2011. Interessant sind die schon damals relativ kritischen Ausführungen zu dieser Thematik von Adolf Herte, Die Begegnung des Germanentums mit dem Christentum, Paderborn 1935, 9‒13. 8 Vgl. die vielen kleineren Schriften, die hier nur exemplarisch aufgelistet seien: Hans von Schubert, Das älteste germanische Christentum oder der sogen. ‚Arianismus‘ der Germanen, Tübingen 1909; Reinhold Seeberg, Christentum und Germanentum, Vortrag vom 27. 6. 1913 (von der Treitschke-Stiftung veröffentlicht), Leipzig 1914; Heinrich Boehmer, Das germanische Christentum. Ein Versuch, ThStKr 86 (1913), 165‒280; Edmund Weber, Das erste Germanische Christentum. Eine Studie zum gotischen Arianertum, Leipzig 1934; Karl Heussi, Die Germanisierung des Christentums als historische Problem, ZThK 15 (1934), 119‒145; Adolf Herte, Begegnung (Anm. 7); Helmut Lother, Die Christusauffassung der Germanen, Gütersloh 1937; Heinz-Eberhard Giesecke, Die Ostgermanen und der Arianismus, Leipzig 1939.
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zugrundeliegt. Dies führt zu Äußerungen, die eine Unbedingtheit aufzeigen und kaum eine kritische Distanz erkennen lassen – und natürlich voraussetzen, dass er selbst quasi prophetisch den göttlichen Willen zur Stunde erkannt habe.
2 Literaturbericht 2.1 Schutzwort für die nationalsozialistische Bewegung (1932) Im Jahr 1932 verfasste Dörries ein achtseitiges kirchenpolitisches Votum, veröffentlicht in dem zweiten Band der vom Verleger Leopold Klotz gesammelten Einschätzungen verschiedener Theologen zur Lage der Zeit: Die Kirche und das Dritte Reich, Fragen und Forderungen deutscher Theologen.9 Dörries fordert darin die Christen auf, sich an der nationalsozialistischen Bewegung zu beteiligen und eine bisher geübte Distanz oder Zurückhaltung zur nationalsozialistischen Bewegung aufzugeben. In seiner Stellungnahme schreibt er von der jetzt notwendigen geschichtlichen Tat oder Aufgabe, erklärt den Kampf zur Pflicht und die Opfer zu Märtyrern. Es gehe um die Interessen der Selbstbehauptung und des nationalen Erstarkens, nicht um Pazifismus: Der Theologe „kann den Schwankenden und Unruhigen ein gutes Gewissen machen, dass sie sicher wissen, sie tun recht daran und es gefalle Gott wohl, was für die Freiheit der Nation und die Herstellung einer gerechten Neuordnung geschieht“ (S. 44). „Es ist zugleich eine Pflicht zum geistigen Kampf mit den anderen Religionen und Weltanschauungen, die nach der Seele des deutschen Volkes greifen und gerade das noch Ungeformte und nach Gestalt Drängende der Jugend zu gewinnen suchen“ (S. 46).10
9 Hermann Dörries, An die Kritiker des Nationalsozialismus: ein Schutzwort statt einer Kritik, in: Leopold Klotz (Hg.), Die Kirche und das Dritte Reich, Fragen und Forderungen deutscher Theologen, Bd. II, Gotha 1932, 38‒46; vgl. dazu Karl-Wilhelm Dahm, Pfarrer und Politik. Soziale Position und politische Mentalität des deutschen evangelischen Pfarrerstandes zwischen 1918 und 1933 (Dortmunder Schriften zur Sozialforschung 29), Wiesbaden 1965, 204‒206. 10 Weitere Zitate aus der Stellungnahme: „Wer eine Not sieht und hat die Kraft zu helfen, dem ist es geboten. Wenn sich jetzt tüchtige Männer finden, die in der Unfreiheit und Not unseres Volkes das schwere Werk der Befreiung anzugreifen wagen, so dürfen sie sich als in Gottes Dienst stehend betrachten“ (S. 38). „… so hat die Kirche ebensowenig ein Recht, ein Werk zu hemmen, das in heiligem Eifer und leidenschaftlicher Hingabe begonnen wird. Sie müsste fürchten, Gott selbst in den Arm zu fallen. Unserem Volke, das 1918 seiner Pflicht zu entlaufen suchte, ersteht von neuem das Bild seiner Aufgabe. Soll die Kirche fehlen, wo die geschichtliche Tat getan werden muss, wo eine junge Mannschaft ehrfürchtig und freudig sich bereitet, in die Schlacht zu ziehen?“ (S. 38). „… damit die Streiter nicht ermatten in ihrer Pflicht und sich der
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Die politische Richtung des Deutschnationalen klingt durch, unterfüttert mit einer theologischen Aufwertung der nationalsozialistischen Bewegung als Gottesdienst sowie einer Überhöhung des aktuell Geforderten als „geschichtliche Tat“ oder „geschichtliche Aufgabe“: Hier öffne sich ein Weg zur Rettung des deutschen Volkes. Einen geschichtlichen Moment bzw. einen von Gott geschickten Auftrag zu erkennen und dementsprechend zu handeln und hier an Gottes Plänen mitzuwirken, das sah er offenbar am Anfang der 1930er Jahre gegeben. So forderte er gerade die Christen auf, die nationalsozialistische Bewegung zu unterstützen.11 Analog beurteilte Dörries auch die Völkerwanderung als einen besonderen historischen Moment, als eine den Germanen von Gott bereitete Gelegenheit, um durch die Übernahme des Christentums sich selbst sowie auch das Christentum zu retten und die ihnen gestellte göttliche Aufgabe in der Geschichte anzunehmen. Es ist offensichtlich, dass erst die damals ausführlich diskutierte Epoche des Frühmittelalters und der Germanenbekehrung ihn auf dieses Forschungsfeld
göttlichen Hilfe dabei getrösten. Die Kirche soll bestärkt und gewiss machen, dass es ein schöner und Gott wohlgefälliger Dienst ist und dass, wer in dieser Zuversicht kämpft und dabei einer meuchlerischen Kugel erliegt, in hohen Ehren gehalten werden muss und als Märtyrer gelten darf vor Gott und den Menschen. Dann ist der Tod der höchste Dienst“ (S. 38). Auf den Lebensopfern, die die Bewegung verlangt, beruhe der Fortschritt der Bewegung: „Und die Religion, die durch das Blut ihrer Märtyrer sich ausgebreitet hat, sollte dafür kein Verständnis haben?“ (S. 39). ‒ Befriedete Menschheit, soziale Gerechtigkeit, Völkerversöhnung, Weltfrieden, Umgestaltung Europas, Pazifismus – „darin hat man die besondere Aufgabe unseres Volkes gesucht und diesen Ideen die Interessen der Selbstbehauptung und des nationalen Erstarkens geopfert“ (S. 40). „Wenn diese Hoffnung [auf ein Friedensreich] uns auch nur auf ein einziges Mittel der Verteidigung verzichten lehrte und zur Ursache würde, uns wehrlos zu machen, so wäre sie aus einem Glaubensgedanken zum satanischen Blendwerk geworden“ (S. 40). „Um der internationalen Verständigung willen etwa Ostpreußen oder die in Versailles abgetrennten deutschen Landesteile ihrem Schicksal zu überlassen, hieße, anvertrautes Gut, das wir nicht als Eigentum, sondern als göttliches Lehen zu verwalten haben, vergeuden“ (S. 40). „Wo aber jetzt der Wille zur Volksgemeinschaft zu suchen ist, kann beantworten, wer einmal eine Hitlerversammlung mitgemacht hat und das Verbundenheitsgefühl gespürt hat, das seit langen Jahren zum ersten Male wieder die Kluft von Stand und Klasse schloss“ (S. 41). „Der Theologe soll schließlich nach seinem Vermögen für die Nationalsozialisten eintreten, wo ihnen offenkundig Unrecht geschieht, so wie er einst, wenn sie einmal zum Sieg gelangt sein werden, für Schonung der dann Unterlegenen eintreten wird“ (S. 45). „Der Theologe soll nach Kräften mitarbeiten an der Reinigung unseres öffentlichen Lebens“ (S. 45). „Denn kein Mensch weiß, ob wirklich einmal dem großen Vorhaben Erfolg beschieden sein wird, ob und wann der Nationalsozialismus zum Siege kommen wird, wie ja auch niemand von außen her über einen anderen aussagen kann, ob er in Wahrheit die Fähigkeit und also den göttlichen Auftrag zur befreienden Tat besitzt – mögen auch viele Theologen mit mir überzeugt sein, dass es hier so ist!“ (S. 45). 11 Zu seiner weiteren politischen Entwicklung, mithin seiner wachsenden Distanz zum Nationalsozialismus sowie der Hinwendung zur Bekennenden Kirche, vgl. Dornbusch, Dörries (Anm. 1), 334 f.
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geführt hatte. So bildeten im Folgenden auch eher knappe Stellungnahmen das gewählte Medium seiner Publikationen, die nicht in seinen späteren Sammelbänden Wort und Stunde mit aufgenommen wurden.
2.2 Ist der sogenannte Deutschglaube deutsch? (1934) In seiner ersten Stellungnahme springt er mitten in die damalige Diskussion und distanziert sich von der Vorstellung eines aus der deutschen Substanz erwachsenden Deutschglaubens – im Gegenzug verteidigt er die geschichtliche Entwicklung der Christianisierung der Germanen während der Völkerwanderung. Am 16. Juli 1934 publizierte er nämlich einen vierseitigen offenen Brief an Jakob Wilhelm Hauer (1881‒1962) unter dem Titel Ist der sogenannte Deutschglaube deutsch? 12 und übte Kritik an einem angeblich vom Christentum verdrängten deutschen Glauben bzw. an einer aus der „Deutschen Substanz“ erwachsenden Religion oder besseren Religion der germanisch-deutschen Vorväter, zu der nun zurückzukehren sei. Dörries behandelt neben Martin Luther und Meister Eckehard auch die Völkerwanderung und schreibt, er halte „die Lehre von der Rassegebundenheit des sogenannten Deutschen Glaubens für Einbildung und die Behauptung von religiösen Urteilen aus deutscher Substanz heraus für einen gefährlichen, weil verführerischen Wahn“ (S. 3). Einzelne von Hauer genannte Elemente seien nämlich nicht „deutsch“, sondern stammten aus diversen anderen Hintergründen, wie beispielsweise die Lehre von der „Wiederbringung“, die auf Origenes zurückgehe. Es gebe also weder eine eindeutige indogermanische noch eine kleinasiatischsemitische religiöse Haltung. Und der Anspruch der christlichen Predigt gelte überdies allen Rassen, „Ariern wie Semiten“.13 Die Ausführungen sind natürlich apologetisch gemeint, um die Christianisierung der Germanen nicht als Fehlentwicklung deklarieren zu müssen: Man könne guter Christ und zugleich guter Deutscher sein! In diesem „Glaubenskampfe“ will
12 Hermann Dörries, Ist der sogenannte Deutschglaube deutsch? Ein Beweisantrag (offener Brief ) an Professor W. Hauer, Göttingen am 16.7. 1934 (als Flugblatt von Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen publiziert). 13 Auch Luther habe nicht die Kirche neu erbauen wollen „von der religiösen Wirklichkeit des deutschen Volkes aus“, sondern von Gottes Wort ausgehend. Und Meister Eckehard spreche nicht von etwas naturhaftem Göttlichen in der Seele, von einem der Seele von Natur aus zugänglichen Gotterleben. Dörries will also das nicht-Germanische oder nicht-Nordische des „deutschen Glaubens“ nachweisen; so stamme die Vorstellung von der Wiederbringung aller Dinge von Origenes, also aus dem Orient, nicht dem Norden. Dörries bietet Hauer als Experiment an, anonymisierte religiöse Texte gemeinsam zu lesen, um zu überprüfen, ob es eine eindeutig indogermanische neben einer semitischen Religiosität gebe.
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Dörries ein „minderes deutsches Recht der Christen“ abwehren. Adressat war ja der Tübinger Religionswissenschaftler Jakob Wilhelm Hauer, einer der wichtigen Gründungsgestalten der sogenannten Deutschen Glaubensbewegung.14 Dennoch meinte auch Dörries, die – in sich synkretistische – vorchristliche Religion der Germanen beschreiben zu können, wie die folgende Publikation zeigt, nur eben als eine dann überwundene Vorstellungswelt, die ehedem im Niedergang und in Auflösung befindlich gewesen sei.
2.3 Germanische Religion und Sachsenbekehrung (1934) Das Christentum stehe also nicht in einem Gegensatz zu germanischen Vorstellungen, wie Dörries im selben Jahr 1934 in einem weiteren Beitrag von 30 Seiten zur germanischen Religion und Sachsenbekehrung ausführt.15 Gleich zu Beginn betont er, dass der „Übergang der Germanen zum Christentum als Schlachtfeld für Gegenwartskämpfe“ (S. 1) diene. Auch bei den Sachsen des 8. Jahrhunderts stelle sich die Grundfrage, ob ihnen das Christentum in den Kriegen aufgezwungen worden sei, ob es sich also um ein „Sich-Aufgeben an Fremdes“, mithin um eine „geistige Knechtschaft“ handele (S. 20). Zitierter Hauptgegner ist in diesem Fall, neben Hauer, der Germanist der nordischen Philologie Andreas Heusler (1865‒ 1940), vor allem dessen 1934 publizierter Aufsatz Germanentum. Vom Lebens- und Formgefühl der alten Germanen.16 Zwei Drittel von Dörries’ Beitrag behandeln 14 Hauer gründete 1933 die „Arbeitsgemeinschaft der deutschen Glaubensbewegung“, gehörte seit diesem Jahr auch Alfred Rosenbergs „Kampfbund für deutsche Kultur“ an und publizierte die „Grundlinien einer deutschen Glaubensbewegung“ (Stuttgart 1935). Vgl. Schaul Baumann, Die Deutsche Glaubensbewegung und ihr Gründer Jakob Wilhelm Hauer (1821–1962) (Religionswissenschaftliche Reihe 22), Marburg (Lahn) 2005; Gregory T. Alles, The Science of Religions in a Fascist State: Rudolf Otto and Jakob Wilhelm Hauer During the Third Reich, Religion 32 (2002), 177–204. 15 Hermann Dörries, Germanische Religion und Sachsenbekehrung, Göttingen 1934, 2. durchgesehene Auflage 4. 10. 1935 (= Sonderdruck aus der Zeitschrift für Niedersächsische Kirchengeschichte), 3. durchges. Auflage 1935 (37 S.). Das Thema ist politisch: „Müssen wir im Hinblick auf Karls Sachsenkriege sagen, Deutschland sei das Christentum aufgezwungen worden“? (S. 21). Ein Wiederabdruck des Beitrags erfolgte in: Walter Lammers (Hg.), Die Eingliederung der Sachsen in das Frankenreich (WdF 185), Darmstadt 1970, 281‒306. In der Gegenwart spielt Dörries aber keine Rolle mehr, vgl. Matthias Becker, Der Prediger mit Eiserner Zunge. Die Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen unter Karl den Großen, in: Hermann Kamp/Martin Kroker (Hg.), Schwertmission. Gewalt und Christianisierung im Mittelalter, Paderborn u. a. 2013, 23‒52. 16 Andreas Heusler, Germanentum. Vom Lebens- und Formgefühl der alten Germanen (Kultur und Sprache 8), Heidelberg 1934 (134 S.). Vgl. die hymnische Rezension von einem Gleichgesinnten, dem Archäologen Karl Hermann Jacob-Friesen, ebenfalls Mitglied des Kampfbundes für deutsche Kultur von Alfred Rosenberg, in Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 8 (1934), 118: „Wenn H. das Lebensgefühl der Saga-Adelsbauern schildert und deren Herrenethik der Sklavenethik jüdisch-
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„Die germanische Religion“, wo er sich auf Karl Helm, Carl Clemen, Karl Hermann Jacob-Friesen und Eugen Mogk bezieht,17 bevor er dann ab S. 20 auf die Sachsenbekehrung zu sprechen kommt. Heuslers Ansatz sei schon aus dem Grunde falsch, als die germanische Religion selbst bereits ein Gewordenes, ein Gemisch aus Eigengewachsenem und Fremdbürtigem sei: „Nichts Urtümliches, sondern ein Gewordenes steht dem Christentum in der Bekehrungszeit gegenüber“ (S. 1). Beispielsweise seien gerade ein Sonnengott und die Sonnenverehrung nichts ursprünglich Germanisches.18 Und dieses Gewordene des Germanischen sei darüber hinaus bereits im Nieder-
christlicher Richtung gegenüberstellt, wenn er weiter sagt, das Heidentum hat Seiten, die uns vertraut berühren: unmorgenländisch, wohltuend heimisch, so lernen wir die Nordländer kennen als Menschen, die keine weichlichen Genießer sind, die aber unbefangen ihre Lebensgüter: Reichtum, Macht und Ruhm, bejahen.“ Siehe die Hinweise auf Heusler bei Dörries, Religion (Anm. 15), 9 Anm. 15; 14 Anm. 29; 29 Anm. 55. Vgl. Heinrich Beck, Andreas Heuslers Begriff des ,Altgermanischen‘, in: Ders. (Hg.), Germanenprobleme in heutiger Sicht (Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Ergänzungsbände 1, 2), um ein Vorwort erweiterte Auflage, Berlin/ New York 1999, 396–414. Dörries bezieht sich auch auf den Sammelband: Hermann Nollau (Hg.), Germanische Wiedererstehung. Ein Werk über die germanischen Grundlagen unserer Gesittung, Heidelberg 1926, worin Heusler den Aufsatz Altgermanische Sittenlehre und Lebensweisheit veröffentlichte (156‒204) und der Volkskundler und Altgermanist Otto Lauffer über „Die Entwicklungsstufen der germanischen Kultur. Umwelt und Volksgebrauch in altgermanischer Zeit“ (17‒155) schrieb; vgl. Dörries, ebd., 17 Anm. 36. Vgl. Gudrun M. König/Elisabeth Timm, „Deutsche“ Dinge. Der Germanist Otto Lauffer zwischen Altertums- und Volkskunde, in: Lisa Regazzoni (Hg.), Schriftlose Vergangenheiten. Geschichtsschreibung an ihrer Grenze von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, Berlin/Boston 2019, 157‒191. 17 Dazu hatte ja Dörries keine eigenen Forschungen angestellt; vgl. seine Verweise auf S. 2 Anm. 1; 5 Anm. 7 und 8: Carl Helm, Altgermanische Religionsgeschichte, Bd. I (Germanische Bibliothek 2), Heidelberg 1913; Carl Clemen, Urgeschichtliche Religion. Die Religion der Stein-, Bronze- und Eisenzeit, Bonn 1932/33; ders., Fontes historiae religionis germanicae, Berlin 1928; Eugen Mogk, Mythologie (Grundriss der germanischen Philologie 6), Straßburg 1900; ders., Menschenopfer bei den Germanen (ASGM.PH 27), Leipzig 1909; Karl Hermann Jacob-Friesen, Einführung in Niedersachsens Urgeschichte, Hildesheim/Leipzig 1931 (s. zu Friesen auch Anm. 16); Wilhelm Boudriot, Die altgermanische Religion in der amtlichen kirchlichen Literatur des Abendlandes vom 5. bis 11. Jh., Bonn 1928. Vgl. dazu allg. die kritischen Bemerkungen (auch zur neueren Gegenwart) von Jörn Meyers, Ist die Religion der Germanen wiedererweckt? Mögliche Traditionslinien und historische Wurzeln bei rechtsgerichteten Neugermanen, Zeitschrift für junge Religionswissenschaft 1 (2006), online (http:// journals.openedition.org/zjr/741; DOI: https://doi.org/10.4000/zjr.741, Abruf am 02. April 2022). 18 Der Sonnenglaube (S. 3) sei nicht zentral, seine Herkunft liege im Süden; die Wintersonnenwende sei römischen bzw. syrisch-semitischen Ursprungs (S. 12). Dies ist wieder gegen Hauer (s. o.) gerichtet. Kritisch bemerkt Dörries auch, dass die germanische Religion eine Sklavenhaltung den Göttern gegenüber kannte (erschauernde Ehrfurcht und Sklavendemut [S. 8 f.]), dass die Menschopfer nicht wegzudiskutieren seien (S. 13 f.), so dass es auch bei den Germanen, nicht nur den Christen, Lebensangst gegeben habe (S. 14 Anm. 29) und ein Hexenglaube nicht ein christlicher Irrtum, sondern heidnisch sei (S. 17).
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gang befindlich gewesen („Stadium der Auflösung“ [S. 7]; schleichende Krise [S. 10]), es sei eine Unzulänglichkeit des bisherigen Glaubens erkennbar (S. 10 mit Anm. 35), was sich besonders am Schicksalsglauben zeige (S. 18)19 – diese Dekadenztheorie der germanischen Völker bzw. ihrer Religion, die er gegen eine angeblich „besondere Kulturhöhe der Germanen“ (S. 15 Anm. 21) herausstellt, ist bis hin zu seiner späteren Darstellung in „Das Werden der Kirche“ 20 eine Konstante bei Dörries: Das germanische Heidentum war auch ohne das Christentum dem Tode verfallen. Da aber kein Volk ohne Religion zu leben vermag, so müsste eigentlich auch der nichtchristliche Historiker urteilen, dass das Christentum den Germanen recht eigentlich das Leben gerettet hat! (S. 20)
Die Sachsenkriege seien keine Schwertmission gewesen; es handele sich nicht um Bekehrungskriege, sondern um Eroberung, bei der die Mission erst hinzu kam;21 und die Bekehrung und Taufe der Sachsen sei eine ehrliche und ernste Entscheidung gewesen: Man sollte doch endlich begreifen, wie sehr man das Andenken unserer Vorväter schändet, wenn man sie zu widerstandslosen Opfern von „machtgierigen Priestern“, gerissenen Mönchen und „blutdürftigen Tyrannen“ macht. […] Man […] entschließe sich, zuzugestehen, dass die Germanen an ihrer Religion nicht festgehalten haben, weil sie ihnen eben nicht mehr das Leben bedeutete, wie wirkliche Religion es tut. (S. 26)
Die apologetische Geschichtsdeutung der Sachsenkriege ist unverkennbar; wieder arbeitet Dörries pathetisch mit einer theologischen Überhöhung des geschichtlichen Moments und die Anklänge an die damalige Gegenwart werden explizit genannt (S. 24 f.) wie der Krieg von 1866 und die Eingliederung Hannovers in das Königreich Preußen. Die Sachsen hätten den göttlichen Ruf in der Geschichte bzw. die geschichtliche Stunde und Aufgabe wahrgenommen:
19 Ein Schicksalsglaube (s. die Schicksalsnorne Urd) verrate den Zweifel an der Macht der eigenen Götter. Dazu s. u. S. 160–162. 20 Dazu s. u. S. 166 f. 21 Dörries erklärt weiterhin, das Blutbad an der Aller (S. 23) sei eine Bestrafung eines Aufstands, nicht ein Martyrium heidnischer Religion (S. 24), und er wendet sich gegen „Phantastereien, die in den 4500 Sachsen heidnische Priester oder Eingeweihte urgermanischen Weistums wiederfinden möchten“. Damals war die Historizität dieses Blutbades ein umkämpftes Thema; Dörries (S. 23 Anm. 46) verweist auf den Aufsatz des Berliner Historikers Dietrich Schäfer, Schüler von Heinrich von Treitschke, der hier die Historizität verteidigt: Dietrich Schäfer, Die Hinrichtung der Sachsen durch Karl den Großen, Historische Zeitschrift 78 (1897), 18‒38. Vgl. zu den Sachsenkriegen gegenwärtig Matthias Becher, Karl der Große, München 52007, 56‒74; auch Uta Heil, Swords in Christian Hands: Reflections on the Emergence of “Schwertmission” in the Early Middle Ages, in: Ellora Bennett/Guido M. Berndt/Stefan Esders/Laury Sarti (eds.), Early Medieval Militarisation, Manchester 2021, 196‒210.
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Denn das christliche Verständnis sieht in der Geschichte das Gotteshandeln, das uns bestimmt und einordnet, das also Schicksal macht und uns vor die gerade uns fordernden Aufgaben stellt. Dagegen meint das liberalistische Denken sich willkürlich darüber wegsetzen zu können, um sich in ein ungebundenes geschichtsloses Dasein zu flüchten. … So haben die Sachsen die ihnen von der Vorsehung mit harter Hand aufgenötigte Aufgabe, nicht mehr sich allein, sondern Deutschland zu leben, mit williger und kraftvoller Hingabe aufgenommen. Ihre kriegerischen Kräfte haben sie an Unstrut und Lech eingesetzt … und sich selbst dann zum Träger der Botschaft im Norden und Osten gemacht (S. 27 f.).22
Die Geschichte der Sachsen wird sogar zum Beweis dafür, dass die Kirche zum Träger der Reichseinheit wurde – und noch ist. Der Ruf der Geschichte habe sie ereilt; es war eine geschichtliche Stunde und Aufgabe; es sei ein großartiger Moment gewesen besonders für die Geschichte der Niedersachsen. Das zeige sich auch darin, dass sie dann gleich zwei große Werke, Gottschalks Thesen zur Prädestinationslehre und den Heliand, in die Welt setzten – dazu hat Dörries später ja auch selbst publiziert (s. u.). Diese Werke dienen ihm als Beleg dafür, dass die Bekehrung der Sachsen freiwillig und in tiefster Überzeugung geschehen sei.
2.4 Germanenmission (1935) Im Jahr 1935 folgte eine weitere kleine Publikation von elf Seiten zur Germanenmission,23 diesmal fokussiert auf die Mission bei den Angelsachsen sowie durch die Angelsachsen auf dem Festland (Bonifatius), aber erneut vor dem Hintergrund der damals aktuellen Debatte: „Wie das Christentum zu den Germanen kam, ist eine oft verhandelte Frage. Von mancherlei Anklagen hallt der Markt, wie damals äußerlich und innerlich den Germanen Gewalt angetan sei. Wir haben die Pflicht, darauf zu antworten […]“ (S. 105).24
22 Dörries schreibt ferner: „In Wahrheit ist der Schlüssel für das Verständnis der Sachsenbekehrung nur in der hingebenden Arbeit der Missionare zu finden“ (S. 27). 23 Hermann Dörries, Germanenmission, Evangelische Wahrheit. Monatsschrift für das lutherische Niedersachsen (1935), 105‒114. 24 Vgl. dazu Michel Aaij/Shannon Godlove (Hg.), A Companion to Boniface (Brill’s Companions to the Christian Tradition 92), Leiden u. a. 2020, mit einem abschließenden Kapitel zur Rezeptionsund Forschungsgeschichte (Michel Aaij, Popular Veneration and the Image of Boniface in the Modern Era, S. 428‒471, mit Ausführungen besonders auch zum 19. Jh. bis zum Ausgang des Nationalsozialismus über den missionarischen, römisch-katholischen sowie deutschen „Bonifatius“). Vgl. allg. Ian Wood, The Missionary Life. Saints and the Evangelisation of Europe 400‒ 1050, London 2001; Lutz E. von Padberg, Christianisierung im Mittelalter, Darmstadt 2006; Knut Schäferdiek, Die Grundlegung der angelsächsischen Kirche im Spannungsfeld insular-keltischen und kontinental-römischen Christentums, in: ders. (Hg.), Kirchengeschichte als Missionsgeschichte, Bd. II/1: Die Kirche des früheren Mittelalters, München 1978, 149‒191.
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Dörries verteidigt hier das Recht zur Mission im Allgemeinen und die missionarische Strategie der Angelsachsen im Besonderen.25 Diese sei nicht wegen einer problematischen Orientierung nach Rom bzw. zu dem Papst zu hinterfragen, sondern wegen ihrer inhaltlichen Tiefe zu würdigen. In der Gegenwart werde zwar „für unser eigenes Volk von einer Fehlentscheidung für die römische Form des Christentums gesprochen, während wir eine unserer Art und der Reformation Luthers gemäßere, eben die irische, hätten haben oder behalten können“ (S. 110). Dagegen habe die angelsächsische Mission keineswegs eine für Deutschland (abzulehnende) Bindung an und Fesselung durch Rom eingeführt, sondern überhaupt erst eine tiefe Auffassung des Christentums nahegebracht. Eine Spitze gegen das Frankenreich, die sich auch als Spitze gegen französische Verhältnisse lesen lässt, läuft hier mit (die Anbindung der angelsächsischen Mission an Rom wurde gesucht, um „die Abhängigkeit von der durch die Nachbarschaft nächst berechtigten verwilderten fränkischen Staatskirche zu vermeiden“ [S. 110]). Aus diesem Anlass geht er näher auf die Missionsmethoden und die Missionspredigten und die dafür relevanten Briefe ein, um eben die angebliche „Vergewaltigung“ der Germanen auszuschließen. Demgegenüber versucht er zu verdeutlichen, welchen theologischen Gewinn das Christentum den Germanen brachte – eine Vorstellung von der Ewigkeit, der Gerechtigkeit, der Allmacht Gottes, was eben nicht einfach nur Germanisches in neuem Gewande sei. Erkennbar wird hier eine inzwischen erfolgte Hinwendung von Dörries zur Wort-Gottes-Theologie mit der Betonung der Predigt bzw. des Wortes Gottes: Bonifatius sei Diener des Wortes, die Missionare seien Prediger und Wortverkündiger – was eben je nach der geschichtlichen Lage eine Form finden müsse, ohne darin aufzugehen. „Wir glauben ja nicht an Menschen, sondern an das Wort, dessen Träger sie [die Missionare] sind“ (S. 105). Das Wort ‒ von der Ewigkeit in der Mission bei Angelsachsen; von der Gerechtigkeit und Allmacht Gottes in der Mission bei Sachsen ‒ sei bei der Missionspredigt zentral gewesen. Überdies träfe die Mission auf eine germanische Religion in der Krise: Das Hauptthema sei damals gewesen, den germanischen Schicksalsglauben zu über-
25 Das Thema ist also das „Recht zur Germanenmission“ (Dörries, Germanenmission [Anm. 23], 105): Was predigten die Missionare wie? Dörries beschreibt den Prozess unter Rückgriff auf Beda Venerabilis und die Briefe Gregors des Großen. Der Inhalt der Predigt sei: das Wort von der Ewigkeit, seinem Ernst, seine Verheißung zu künden (S. 106); von der Diesseitsverhaftung zur Ewigkeit zu kommen; Gott als Schöpfer und Richter zu sehen (S. 109); von der Lebenssehnsucht zum Ewigkeitsglauben zu kommen; den Ernst der Forderung und den Gedanken der Ewigkeit, Gerechtigkeit, Allmacht Gottes zu sehen (S. 113). Es stehe nicht nur die Vorstellung eines stärkeren Gottes und eines Sieges im Krieg im Vordergrund, sondern auch inhaltliche Tiefe – Angelsachsen seien hier anders als Merowinger und Franken. Außerdem sei es nicht nur durch eine persönliche Bekehrung des Herrschers geschehen, sondern via Volksversammlung (S. 108).
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winden. Wenn Schicksalsglaube vorherrsche, dann helfe keine germanische Religion mehr noch gewähre sie eine Lebenssicherung, so dass man nur noch auf eigene Kraft und Stärke traue, was Dörries unter Rückgriff auf damalige Deutungen heroischen Atheismus nennt.26 Hier sei nämlich das Vertrauen auf einen Sinn des Geschehens zerbrochen, wogegen die christliche Lehre mit ihrer Lehre von der Vorherbestimmung und der Allmacht Gottes einen Ausweg biete – das seien die Hauptthemen sowohl bei Gottschalk also auch dem Heliand: „Der Hauptgegensatz, in dem er steht, ist der gegen das dreiste Prahlen, die trotzige Vermessenheit der selbstgewissen Gottlosigkeit, die nur mehr der eigenen Kraft und Stärke vertraut.“ Deutlich ist, dass Dörries sowohl gegen einen damaligen germanischen Atheismus als auch den seinerzeitigen Atheismus und Heroismus anschreibt.
2.5 Heliandfragen (1935) Daran anknüpfend veröffentlicht er eine ebenfalls 15-seitige kleine Einschätzung des Heliands, ebenfalls noch im Jahr 1935 und im ähnlichen Stil.27 Gleich zu Beginn wird der zeitgeschichtliche Kontext angesprochen – der Text sei angeblich ein Hauptbeispiel germanischen Christentums (S. 5), hier sei angeblich eine Germanisierung des Christentums erfolgt und das Germanische habe die Führung übernommen (S. 6). Daher sei dieser Text auch für die Gegenwartsfragen wichtig geworden: „was deutsches Christentum sein soll oder sein darf, wie Religion und heimische Art sich zueinander verhalten, was Germanisierung des Christentums
26 Dörries, Germanenmission (Anm. 23), 113: „Denn der heidnische Glaube, mit dem der Helianddichter sich auseinandersetzen muss, ist nicht mehr ein Glaube an Götter, sondern an ein unenträtselbares wie unentrinnbares Schicksal. Vor diesem dunklen Geschick mag Heldenstolz und Heldenehre noch glühender aufleuchten, ein Sinn, ein Gotteswille ist in ihm nicht mehr zu erkennen. Diesem Schicksalsglauben setzt der Dichter den christlichen Glaubensmut entgegen, der gerade in der scheinbar sinnlosen Geschehensgewalt Gottes Führungswillen am Werk sieht. Auf heidnischem Boden hatte die Erfahrung, dass die Religion keine Lebenssicherung gewährt, zur Steigerung der menschlichen Selbstherrlichkeit geführt. An eben der Stelle aber, wo den Heiden das Vertrauen in einen Sinn des Geschehens zerbrach, erschließt der Missionar das Tor zum christlichen Glauben. Die christliche Lehre von der Vorherbestimmung ist nicht die Übernahme des germanischen Schicksalsglaubens in den christlichen Bereich, wie man wohl gemeint hat, sondern die christliche Antwort auf die … Frage, in die die germanische Religion ausließ. … Der Hauptgegensatz, in dem er stehet, ist der gegen das dreiste Prahlen, die trotzige Vermessenheit der selbstgewissen Gottlosigkeit, die nur mehr der eigenen Kraft und Stärke vertraut.“ In dieser Beschreibung der dunklen Schicksalsbedrohung ist wieder das Dekadenzmodell greifbar, s. o. S. 156 und unten S. 160–162. 27 Hermann Dörries, Heliandfragen, Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 40 (1935), 5‒22.
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heißt, lässt sich bei ihm erfahren“ (S. 5). So werden auch, meist in Klammern gesetzt, Zwischenbemerkungen eingefügt als Kommentar zur seinerzeitigen zeitgenössischen Diskussion.28 Der Heliand erweise sich allerdings gerade nicht als ein „Dokument für das Fortleben des alten germanischen Glaubens, sondern ein Zeugnis für die Aneignung des Christentums durch die Germanen.“ (S. 19) Es geht also um die Frage des Synkretismus (S. 6 f.), insbesondere um die Deutung der verwendeten Begriffe. Im Heliand sei dieses allerdings gelungen; es liege mithin kein falscher Synkretismus, der mit den Begriffen die Sache aufgebe, vor; keineswegs sei ein „arteigenes Denken in die christliche Verkündigung“ eingetragen worden (S. 12). Das wird an einigen Beispielen kurz vorgeführt wie der Vorstellung des Daseins der Menschen auf der Erde (Midgard; S. 10), der weltbejahenden Lebensfreude (S. 11), der Inkarnation (S. 12), der Missionspredigt (S. 13), dem Sippengefühl (S. 14 f.) oder der Gefolgschaftstreue (S. 15). Zur angeblichen ungermanischen Sündhaftigkeit bzw. Erlösungsbedürftigkeit schreibt Dörries: Lohnte es sich, dem Gerede von dem Sündengefühl als einem „Bewusstsein der Rassenbarbarisierung“ mit geschichtlichen Gründen entgegenzutreten, so böte das in einer Zeit noch nicht entarteter Rasse von einem reinblütigen Sachsen geschriebene große Dichtwerk alles Nötige (S. 11).
Auf den Zwang, die Schwertmission und Sachsenkriege geht er nur am Rande ein (S. 20) und versucht am Ende seiner Darlegungen das gewinnbringend zu deuten: Es sei für uns viel besser gewesen, wenn die Übernahme des neuen Glaubens nach einem heißen Kampfe erfolgt sei – gerade so sei einem falschen Synkretismus vorgebeugt worden, wo man nur die Namen austausche. Ebenfalls wird wieder der Schicksalsglaube angesprochen und als durch christliche Lehre von der Vorsehung überwunden erklärt (S. 16 f.). Besonders hier sei erkennbar gewesen, dass die Germanen und ihre Religion damals bereits im Niedergang befindlich gewesen seien. Es habe nur noch ein auf die eigene Kraft
28 Allerdings kommt der Text fast ganz ohne Fußnoten aus (nur S. 19: Edward Schröder, Sünde und Schande, Zeitschrift für deutsche Sprachforschung 56 [1928], 106–116; dort ist ferner wohl gemeint Georg Baesecke, Der Vocabularius Sti Galli in der angelsächsischen Mission, Halle 1933) – die Front, gegen die Dörries anschreibt und die er kritisiert, bleibt ungenannt (er schreibt stets pauschal von den „Neueren“), nicht einmal die verwendete Ausgabe des Heliand wird genannt, auch wenn er auf S. 5 schreibt, dass die Germanisten uns den Zugang zu dem Werk gebahnt hätten. Evtl. war es Otto Behaghel (Hg.), Heliand und Genesis (Altdeutsche Textbibliothek 4), 1. Auflage Halle 1882, 5. Auflage 1933, inzwischen in der 10. bearbeiteten Auflage von Burkhart Taeger, Tübingen 1996 veröffentlicht. Möglich wären auch Moritz Heyne, Heliand. Mit ausführlichem Glossar, Paderborn 1905, oder Eduard Sievers, Heliand. Titelauflage vermehrt um das Prager Fragment und die Vatikanischen Fragmente, Halle 1935.
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pochender, heroischer Atheismus und ein gleichfalls an der Göttermacht zweifelnder Schicksalsglaube geherrscht. Die Opfer seien eingestellt worden; die Germanen hätten nur mehr auf eigene Stärke gebaut; der sächsische Glaube habe sein letztes Stadium erreicht (S. 17).29 So habe die geschichtlich wichtige Epoche der Christianisierung dem Germanentum nicht geschadet, sondern es vielmehr gerettet. Dörries übernimmt hier die Thesen zur germanischen Religion und Schicksalsglauben, wie sie in der damaligen germanischen Religionsgeschichte entwickelt wurden und weit verbreitet waren,30 allerdings ohne weitere Literaturangaben:31 Über allem herrsche das Schicksal, entweder als abstrakte Macht oder verkörpert in den Schicksalsmächten der drei Nornen, dem auch die Götter unterliegen. Auch die Menschen seien dagegen machtlos, woher die germanische Grundhaltung des Heroischen rühre: Wenn die Germanen meinten, sich mit aller Macht dagegen stemmen zu müssen, gingen sie letztlich, wenn auch heldenhaft, in den ihnen und den Göttern vorherbestimmten Tod. Das Ganze hat sich inzwischen als ein Forschungsirrtum herausgestellt: Die Quellen sind spät; der Einfluss einer christlichen Prädestinationslehre des Augustinus ist deutlich und ein allgemeiner
29 Hier sind parallele Aussagen wie in der vorgenannten Schrift Germanenmission zu lesen: „Denn wie man daran ablesen kann, dass auch der sächsische Glaube sein letztes Stadium erreicht hatte, so sieht man nun zugleich, dass beide, heroischer Atheismus und Schicksalsglaube, für den Dichter noch Gegenwartsmächte sind. … Für den heidnischen Glauben bedeutete die Erkenntnis, dass es unmöglich ist, Gott uns zu willen zu machen, die Erschütterung der Religion, die Überordnung des Schicksals über die Göttermacht. Der christliche Glaube greift höher und sieht gerade hinter und über dem Todesgeschick Gottes Willen am Werk“ (S. 16). 30 Vgl. die kritische Aufarbeitung dieses Forschungszweigs mit weiterer Literatur bei Debora Dusse, Grundzüge der Erforschung germanischer Religion in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Uwe Puschner/Clemens Vollnhals (Hg.), Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 47), Göttingen 2012, 417‒435 mit S. 429‒432 zum Schicksalsglauben, sowie Rudolf Simek, Schicksalsglaube, RGW 27 (2004), 8‒10. Eine einheitliche germanische Religion (aus überwiegend späteren Texten) rekonstruieren zu können, die per se vorchristlich sei, wird inzwischen mehrheitlich infrage gestellt. 31 Nur einmal (S. 18 Anm. 2) verweist er auf Hans Naumann, Germanischer Schicksalsglaube, Jena 1934. Auch Andreas Heusler (s. o. Anm. 16) spricht von dem Schicksalsglauben. Weitere Publikationen bis zu der Publikation von Dörries waren: Friedrich Kauffmann, Über den Schicksalsglauben der Germanen, Zeitschrift für deutsche Philologie 50 (1926), 361‒408; Karl Helm, Schicksal und Heldentum. Rede zur akademischen Feier der Reichsgründung am 18. Januar 1926, Marburg 1926; Mathilde von Kienle, Der Schicksalsbegriff im Altdeutschen, Wörter und Sachen 15 (1933), 81‒111; Walter Baetke, Germanischer Schicksalsglaube, Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 10 (1934), 226‒236; Bernhard Kummer, Midgards Untergang. Germanischer Kult und Glaube in den letzten heidnischen Jahrhunderten, Leipzig 21935; Martin Ninck, Wodan und germanischer Schicksalsglaube, Jena 1935; Wolfgang Mohr, Schicksalsglaube und Heldentum, Leipzig 1934. Vgl. danach besonders Walter Gehl, Der germanische Schicksalsglaube, Berlin 1939.
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Schicksalsglaube ist auch in der Antike und Spätantike verbreitet (fatum) wie auch astrologisches Denken. Dörries erweist sich hier als Kind seiner Zeit, greift den angeblichen Schicksalsglauben als für ihn passende Negativfolie auf, um die Christianisierung als religions- und kulturgeschichtlichen Aufstieg zu werten.
2.6 Bekehrung der deutschen Stämme (1936) Noch ein weiteres Mal fasst er deutlich und pathetisch seine Ansichten zur Missionsgeschichte zusammen, und zwar in einer kurzen Darstellung der Bekehrung der deutschen Stämme in einer Schriftenreihe des Deutschen Evangelischen Männerwerks.32 In groben Zügen geht Dörries hier die einzelnen Stationen der Missionsgeschichte des Frühmittelalters durch, und die immer wieder verwendeten Attribute sind Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit der jeweiligen Entschlüsse zur Bekehrung. Die Bekehrung sei ein innerer Gewinn gewesen – „Wir sind durch die Kirche ein Volk geworden!“ (S. 14) – und sei die Grundlage der Volksgemeinschaft. Erneut verbindet er das mit einem Dekadenzbild – aber diesmal nicht mit der germanischen Religion, sondern mit dem Christentum der Spätantike, also „der Glaubenslosigkeit so vieler Romanen jener Zeit, die nur noch dem Namen nach Christen waren. Inmitten einer greisenhaften, religionslosen Welt wirken die jugendkräftigen Germanen, die im Guten und Bösen ganz sind, selbst in ihren Irrtümern und Leidenschaften beinahe fromm“ (S. 5).33 Er positioniert sich selbst wie folgt: Die kühnen germanischen Heervölker, die in stürmischem Siegeslauf das morsche römische Weltreich als Beute errangen, sind – es ist überraschend zu sehen – ausnahmslos zu der Erkenntnis gekommen, dass ihre altheimische Religion den neuen geschichtlichen Aufgaben und Erfahrungen nicht gewachsen sei. Alle germanischen Staatengründungen sind von einem Religionswechsel begleitet. Und wie die Goten, Sueven und Vandalen das Christentum annahmen – in freier Entscheidung, wer hätte sie zwingen können! – so ging es auch bei uns (S. 3).34
32 Hermann Dörries, Die Bekehrung der deutschen Stämme, Schriftenreihe des Deutschen Evangelischen Männerwerkes 1, Potsdam 1936. Man beachte das Adjektiv „deutsch“. Der Text umfasst 15 Seiten und ist ohne Anmerkungen publiziert. 33 S. o. die Darstellung von Krafft, S. 148. 34 Aber ein tieferes Verständnis vom Christentum haben Franken dann erst von Iren und Angelsachsen bekommen (S. 6; 10). S. o. S. 158. Auch weitere Äußerungen wiederholen sich: Bonifatius wird gegen die Klage verteidigt, dass damit eine Bindung an Rom einherginge (S. 9); bei den Sachsenkriegen handele es sich um Eroberung, nicht um einen Missionskreuzzug (S. 10); das Blutgericht in Verden an der Aller 782 war nicht „ein Martyrium heidnischer Religion, sondern ein Strafgericht über den Aufstand – das kann nicht eindringlich genug gesagt werden!“ (S. 12, dazu s. Anm. 21), sowie der Schicksalsglaube (S. 14).
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So kommt er zu seinem Ziel: „Die deutsche Geschichte ist die Geschichte Deutschlands mit dem Christentum!“ (S. 16).
2.7 Gottschalk, ein christlicher Zeuge der deutschen Frühzeit (1937) Im Jahr 1937 folgt seine 16‒seitige Studie zu Gottschalk, die auch in Wort und Stunde wieder abgedruckt ist und in den Flugblättern der Jungen Kirche der jungreformatorischen Bewegung erschienen war.35 Er eröffnet den Beitrag mit der Bemerkung, dass erst die Kritik der Gegenwart ihn auf dieses Forschungsfeld des Frühmittelalters geführt habe: Was uns schaden sollte, ist uns zum Gewinn geworden. Wir wurden genötigt, auf die heftigen Anschuldigungen zu antworten, die gegen die Missionare, die einst die christliche Botschaft nach Deutschland brachten, und gegen unsere Vorfahren erhoben wurden, die dieser Botschaft Glauben schenkten. Dadurch ist unser Blick auf ein Gebiet gelenkt, das lange abseits lag … (S. 112).
Wieder geht es um die Christianisierung der Germanen sowie um den Synkretismus: Zeige sich bei Gottschalk germanischer Schicksalsglaube36 oder spätantikes Erbe Augustins? Sein Dasein als Oblate sei zwar ein Stück germanisierten Christentums, aber nicht seine späteren Ansichten zur Vorherbestimmung. Hier sei eine Abgrenzung zum germanischen Schicksalsglauben erkennbar ‒ nicht das Schicksal, sondern die Vorherbestimmung nach Augustinus werde bei ihm durchdacht; so habe er ein „Verständnis seines eigenen Geschicks“ als gnädiges Walten Gottes begreifen können (S. 123), da in allem die führende Hand Gottes zu sehen sei. Gottschalk sei ein gedankenreicher, selbständiger Theologe gewesen und beschreibe demzufolge nicht ein rätselvolles, zweckfremdes, dunkles Geschick (S. 124), sondern den guten Willen Gottes. Nur die Sachsen hätten überdies in der Zeit zwischen Augustinus und den Reformatoren die Prädestinationslehre verstanden: „Für sie trat der Macht des Schicksals bezwingend und befreiend die Allmacht Gottes gegenüber, dem sinnlosen Schicksal der vorbedachte Heilsplan, der bestim-
35 Hermann Dörries, Gottschalk, ein christlicher Zeuge der deutschen Frühzeit, Flugblätter der Jungen Kirche 5 (1937), 670‒684 (wieder in: Ders., Wort und Stunde, Bd. II: Aufsätze zur Geschichte der Kirche im Mittelalter, Göttingen 1969, 112‒128). Inzwischen war ja erschienen: Germain Morin, Gottschalk retrouvé, Revue bénédictine 43 (1931), 303‒312, der hier erstmals Werke von Gottschalk zur Prädestinationslehre und zur Trinitätslehre identifiziert. Ob diese Studie aber als Anregung diente, kann nur vermutet werden, da Dörries nicht auf sie verweist. 36 Zum Schicksalsglauben, s. o. Anm. 31.
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menden Gewalt des Verhängnisses die göttliche Vorherbestimmung!“ (S. 124). Dörries würdigt Gottschalk entsprechend: […] die Demut, die er bekundet, ist wahrlich nicht Unterwürfigkeit, sein Sündengefühl schließt das stärkste Selbstbewusstsein nicht aus, der Knecht, der im Dienst Christi die höchste Ehre sieht, findet in der Niederlage die Kraft, die ihn der ganzen Welt widerstehen lässt! (S. 128)37
Inzwischen hat sich die Einschätzung gewandelt: Nicht löst Gottschalk unter Rückgriff auf Augustinus einen – angeblichen ‒ germanischen Schicksalsglauben ab, sondern Quellen für diesen beruhen wesentlich auf eben der Rezeption von Augustins Prädestinationslehre selbst.
2.8 Germanische Nationalkirchen (1938) 1938 folgt dann eine etwa 30-seitige Stellungnahme zum germanischen Christentum, genauer zum germanischen Arianismus.38 Die Folie ist die kirchenpolitische Frage seiner Gegenwart nach einer nationalen Kirche. Eröffnet wird die Stellungnahme mit dem bekannten Schluss-Satz aus Orosius, Historiae adversus paganos 7,41,8: Wenn nur darum die Barbaren über die römischen Grenzen geschickt wären, damit allenthalben die Kirchen Christi mit Hunnen, Sueben, Vandalen, Burgundern und den anderen unzählbaren Völkern erfüllt würde, dann müsste man die Barmherzigkeit Gottes loben und preisen; weil dann ja, wenn auch verbunden mit Erschütterungen für uns, so große Nationen die Erkenntnis der Wahrheit erhielten, die sie nicht anders als bei solcher Gelegenheit finden konnten (S. 9).39
37 Vgl. Reinhold Rieger, Gottschalk, in: Volker Henning Drecoll (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 570‒573; Gangolf Schrimpf, Die ethischen Implikationen der Auseinandersetzung zwischen Hraban und Gottschalk um die Prädestinationslehre, Archiv für Geschichte der Philosophie 68 (1986), 153‒173 – ein „germanischer“ Schicksalsglaube ist mittlerweile aus der Forschung verschwunden; s. o. S. 161 f. 38 Hermann Dörries, Germanische Nationalkirchen 1. Die Arianer, und 2. Der Arianismus, Junge Kirche 6 (1938), 8‒23; 56‒69 (wieder in: Ders., Wort und Stunde II [Anm. 35], 76‒111). In der Erstveröffentlichung lautet die Anm. 1: „Die Arianer leiten sich nicht von den Ariern her, sondern sind die Anhänger des Arius, eines Presbyters der ägyptischen Stadt Alexandria“ – was im Wiederabdruck in Wort und Stunde II wegfällt. Allerdings hat Dörries den Wiederabdruck genutzt, mehr Quellenangaben und ein paar Fußnoten nachzutragen, die in der Erstveröffentlichung gänzlich fehlten (nur im zweiten Teil auf S. 61 f. werden ein paar Quellen genannt; Sekundärliteratur fehlt gänzlich). Die ursprüngliche Anm. 25 darüber, was dagegen helfe, „dass wir Deutschen den Weg der Juden gehen, durch Verwerfung Christi selbst von Gott, dem Herrn, verworfen zu werden“, hat er allerdings ersatzlos gestrichen. 39 Allerdings ohne Quellennachweis.
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Das entspricht gewissermaßen auch seiner Einschätzung. Er spannt nun den Bogen von Wulfila über Salvian von Marseille, dessen Dekadenzbild er übernimmt (S. 18‒20), bis zu den Vandalen unter Thrasamund (S. 20‒23) mit einem Exkurs zum arianischen Streit seit Arius (S. 12‒14, wobei Arius’ Lehre allerdings in der klassischen Verzerrung durch Athanasius wiedergegeben wird: der Sohn ist Geschöpf, Übermensch, wohl Vorbild) und den Homöern (hier handele es sich um ehrgeizige und kampfscheue Theologen, die vorgaben, die Bibel kümmere sich um solche Fragen wie die Trinitätslehre nicht [S. 14]). Die zeitliche Koinzidenz, die Staatsverbundenheit, der Biblizismus und die Distanz zu den ihnen sowieso unverständlichen griechischen Lehren führten dazu, dass die Germanen Homöer wurden. Wulfila selbst vertrete homöische Ansichten, allerdings zum Arianismus hinneigend, verbunden mit germanischen Akzenten, denn Christus werde von ihm vor allem als Schöpfer, Weltregent und Gesetzgeber beschrieben (S. 14‒16). Die Deutung des heiligen Geistes im Bekenntnis des Wulfila ist merkwürdigerweise wieder beeinflusst von der Annahme der germanischen Schicksalsmacht: Sein Bekenntnis lasse „die Kraft, deren Walten der spürt, dessen Augen das Dunkel und dessen bösen Willen die Macht genommen wird, den Geist Christi sein“ (S. 15). Dörries übernimmt also trotz des Hinweises auf die zeitliche Koinzidenz für die Konversion das Konzept eines „germanischen Arianismus“ und einer Affinität der Germanen für ebendiesen.40 Unüberhörbar fließt in die Deutung der Entwicklung, dass die Goten auch nach 381 Homöer blieben, zeitgeschichtliches Kolorit mit ein, inzwischen nun des Kirchenkampfes und der bekennenden Kirche, wenn er schreibt: „Als dann aber der neue Herrscher ihm die Änderung seines Glaubens zumutete, stellte er die Bekenntnispflicht über den staatlichen Gehorsam (383)“ (S. 16). Zugleich werde sichtbar, „dass sein Bekenntnis nicht als antirömisches gemeint ist, und dass es nicht völkischen Unabhängigkeitssinn atmet, sondern nichts anderes ist als was es sein will, Zeugnis des Glaubens“ (S. 16). Das Religionsgespräch von Karthago (484) wird mit dem Reichstag von Augsburg (1530) analog gestellt (S. 21 f.); und insgesamt liest sich die Beschreibung der Glaubenskämpfe der Vandalenzeit wie der damals gegenwärtige Kirchenkampf – die „Staatskommissare“ ziehen durchs Land, wiedertaufend und Bescheinigungen ausstellend, ohne die künftig niemand mehr handeln und wandeln darf. Das zeigt auch die Schlussbemerkung: „Was sagt uns die Geschichte?“ Der gegenwärtige Ruf nach einer Nationalkirche sei falsch und könne durch das historische Vorbild widerlegt werden: Gerade an ihrer Nationalkirche seien die arianischen Germanenreiche zugrunde gegangen. Dörries schreibt:
40 S. o. S. 148.
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In den germanischen Arianerkirchen sind in der Tat die den heutigen vorschwebenden Ziele der innigen Verbindung von Kirche und Staat, von Religion und Volksleben in hohem Grade verwirklicht gewesen. Aber um welchen Preis […] Ihre Artgemäßheit hieß zuerst Beibehalten und dann Behaupten eines Großteils des heidnischen Volksglaubens. […] So ist denn diese so volksverbundene Religion mitschuldig geworden am Untergang ihrer Völker (S. 67).
Besonders die arianische Staatskirchenverfassung, gekennzeichnet durch eine Vermischung der beiden Reiche, sei also eine germanische Eigenart – so sei dann auch mit Volk und Staat diese Religion untergegangen. Denn hier habe sich der Glaube an das politische Geschehen ausgeliefert; er könne somit geschichtliche Krisen nicht überstehen. Auffällig ist der Widerspruch, dass Dörries zum Beispiel in Die Bekehrung der Sachsenstämme die Christianisierung in einem positiven Sinne mit der Volkwerdung oder Einheit des Volkes verbindet, eben diese Funktion aber bei dem „Arianismus“ kritisiert und diesem die Ursache für den Untergang der „arianischen“ Reiche anlastet. Der germanische Arianismus sei außerdem halb heidnisch oder ein Mischglaube („Der Arianismus“, S. 56‒66) wegen der Annahme mehrerer Götter; das Christentum werde zur alten Religion dazugenommen, wobei beispielsweise ein Rest des germanischen Schicksalsglaubens beibehalten werde (Gott, Vater, als unbegriffene Macht des Urgrunds allen Seins, rätselhaft und gewaltig wie das Schicksal) – mithin liege hier ein misslungener Synkretismus vor, der aber doch nur Episode geblieben sei. Auch in der Wiedertaufe zeige sich der Mischglaube: Wichtig sei hier allein der korrekte Vollzug wie beim heidnischen Weihezauber. Der germanische Arianismus habe demnach nur als ein erster Schritt den Weg zu einem tieferen Verständnis des Christentums, wie es ihm gegenüber das katholische nun mal sei, geebnet.
2.9 Das Werden der Kirche (1941) In dem von Hermann Schuster publizierten Überblickswerk Das Werden der Kirche (Berlin 1941) sind die §§ 18‒32 (S. 71‒133) über die germanische Religion, die Germanenbekehrung und die katholischen Germanenkirchen, insgesamt 60 Seiten, von Hermann Dörries verfasst worden. Der Bogen reicht von der Religion der Germanen bis hin zu den Ottonen, also den Bekehrungen um 1000 n. Chr. – ohne Diskussion von Literatur, ohne Quellenbelege, wie in vielen Darstellungen als Handbuch damals üblich. Hier fließt vieles ein von dem, was zuvor ausgeführt wurde und nicht wiederholt zu werden braucht. Der überwiegende Teil widmet sich der vorchristlichen germanischen Religion. Diese Seiten wurden in der zweiten Auflage des Werkes, die 1950 erschien, fast unverändert übernommen, bis auf
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kleinere Korrekturen der Zeichensetzung u. ä.41 Es handelt sich im Grunde um eine erweiterte Fassung seines Werkes Germanische Religion und Sachsenbekehrung von 1934, wo er ebenfalls weit ausführlicher erst die „germanische Religion“ beschrieben hatte, bevor er sich der Sachsenbekehrung widmete.
2.10 Zur Frage der Germanisierung des Christentums (1965) In seinem Sammelband Wort und Stunde II ließ Dörries Beiträge zur Mittelalterforschung wieder abdrucken, allerdings nicht die oben vorgestellten kleineren Stellungnahmen, sondern zwei Beiträge zu Bonifatius von 1954 und die beiden in Junge Kirche 5 und 6 veröffentlichten Aufsätze zum germanischen Arianismus und zu Gottschalk. Seine Studie zu Ansgar bietet er hier in einer überarbeiteten Fassung, ergänzt um einen Exkurs über die Germanisierungsfrage (1965) von 20 Seiten.42 Erst blickt er hier forschungsgeschichtlich zurück auf Jakob Grimm und August Vilmar (die Germanisches mit Christlichem verbinden), Paul de Lagarde (der einen Gegensatz aufbaute), Arthur Bonus43 (S. 195: „Ohne gelehrte Arbeit haben in einer Zeit religiöser Krise die Stimmführer einer verbreiteten Bewegung das Stichwort der Eindeutschung oder Germanisierung des Christentums in Umlauf gesetzt.“), die Lexikoneinträge in den verschiedenen Auflagen der RGG (S. 19644) sowie auf die vielen Äußerungen dazu in den 1930er Jahren (Heinrich Boehmer; Walter Baetke; Hans von Schubert; Karl Heussi45). Dörries konstatiert: „Hier bestimmt offenbar nicht nur die Forscherpersönlichkeit das Werk, sondern auch der Zeitgeist prägt sich darin aus“ (S. 197), und redet von einem Germanenrausch der dreißiger Jahre (S. 198). Inzwischen habe allerdings der Begriff seinen Kampfcharakter verloren (S. 202), die Wunschvorstellungen hätten sich als Wahn erwiesen. Sogar der von ihm selbst oft bemühte germanische Schicksalsglaube lasse sich tatsächlich nicht generalisieren und überall voraussetzen.46 Allerdings unterzieht 41 Z. B. wird aus „Wodanverehrung“ (S. 76) dann „Verehrung Wodans“ (S. 81). Ein genauer Abgleich ergab 30 derartige kleinere Veränderungen. 42 Hermann Dörries, Zur Frage der Germanisierung des Christentums (1965), in: Ders., Wort und Stunde II (Anm. 35), 190‒209. 43 S. o. Anm. 6. 44 Wo der Antisemit und Deutsche Christ Paul Jäger die entsprechenden Artikel in der ersten und zweiten Auflage der RGG verfasste (2 [1910], 1336‒1339; 2 [1938], 1069‒1071) und Andreas Heusler den Artikel zur germanischen Religion in der zweiten Auflage der RGG (2 [1938], 1063‒1069). 45 S. o. Anm. 8. 46 S. 203 unter Bezug auf Walter Baetke: „Nicht einmal der Schicksalsglaube, der den südlichen Germanen eignet, findet sich in der nordischen Skaldendichtung, unserer besten Quelle. Man muß also, wie in der neutestamentlichen Formgeschichte, die Anschauungen der Berichter von denen der Dargestellten unterscheiden, Zeiten und Länder auseinanderhalten, das bisher als gesichert
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er in seinem kritischen Rückblick nicht seine eigenen Publikationen einer Revision – oder hat man das stillschweigende Auslassen dementsprechend zu interpretieren? Wie sehr er selbst sich von dem „Germanenwahn“ hatte anziehen lassen, zeigen ja seine oben vorgestellten Publikationen sehr deutlich. Dörries fragt: Wie sollte man heute mit dieser Epoche umgehen? Was war die Germanisierung? Wie sollte man darüber urteilen? Er spricht sich für eine kritische Historisierung des Prozesses aus und fordert eine differenzierte Betrachtung der Welt der Germanen (S. 203‒205). Dennoch fragt er schließlich generalisierend (S. 206): Als Christentum und Germanentum aufeinandertrafen, kam es zu einem Germanisieren. Aber fanden sie wirklich zusammen? Wie konnte es überhaupt zu einer Begegnung des Christlichen und des Germanischen kommen, zweier Welten, die sich schwerlich zu verstehen und darum auch kaum zu verständigen vermochten? Der Gegensatz war tief. […] Christliche Demut, germanischer Ehrbegriff – war die Kluft je zu überbrücken?
Er beendet dementsprechend seine Überlegungen mit folgender Bilanz zum Prozess der Christianisierung der Germanen: Die überkommene Sitte galt es zu sichten. Die oft ganze Geschlechter ausmordende Blutrache ist verworfen. Die Ehre hat sich nicht länger durch immer neue Bluttaten zu bestätigen; Raubfahrten erscheinen nicht mehr als angemessener Broterwerb. Gewahrt aber ist die Ursprungskraft der Sprache und die Unmittelbarkeit der Empfindung, der nachdenkliche Ernst eines Königs Edwin und eine männliche Härte, wie sie dem Heliand eignet, dazu bei Gottschalk ein dunkler Grundzug – das Erbteil ihres Stammes haben sie festgehalten (S. 208).
Hier scheint Dörries selbst das seit der Romantik aufgebaute Germanenbild noch nicht überwundern zu haben inklusive Resten der Theorie des dunklen Schicksalsglaubens. Das ist auch mit einem Blick auf die beiden Auflagen seiner Abschnitte im Überblickswerk Das Werden der Kirche auffällig. Die ausführliche Beschreibung der Religion der Germanen (auf 22 Seiten) bleibt identisch, inklusive der religionsgeschichtlichen Dekadenzerzählung, dass die Germanen ihren eigenen Göttern nicht mehr trauten und einem fatalistischen Schicksalsglauben anhingen (§ 19; S. 83‒89).
Angenommene kritisch nachprüfen, alles mit größter Behutsamkeit und methodischer Vorsicht. Noch die Vorstellung eines germanischen ‚Sakralkönigtums‘, die weithin als selbstverständlich hingenommen wird, hält der Kritik Baetkes nicht stand.“ Zum Schicksalsglauben s. o. S. 160–162; inzwischen wird diese These allgemein abgelehnt.
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3 Nachwort Was bleibt also von diesen Studien von Dörries zu den Germanen aus den 30er Jahren? Überdeutlich ist, wie ihn die damals aktuellen Debatten auf das Thema geführt haben. Als Apologet des Christentums wollte er die Christianisierung der Germanen verteidigen und die Germanisierung des Christentums als insgesamt notwendige und erfolgreich bewältigte Aufgabe, vor die Gott die Deutschen gestellt habe, erweisen. Neben der Zeitbedingtheit ist selbstverständlich auch zu berücksichtigen, dass die Beiträge zu den Sachsen und zu Gottschalk in den Kontext der Regionalgeschichte Niedersachsens gehören. So handelt es sich nicht nur um die Vorgeschichte der Deutschen, sondern insbesondere auch um die Vorgeschichte der Niedersachsen, deren Leistungen er würdigen möchte. Die Veröffentlichungen hat er mit nur wenigen Fußnoten und Quellenbelegen ausgestattet; und wenn doch, dann beziehen sie sich eher auf andere Publikationen, die ebenso in dem zeitgenössischen Diskurs steckten. Dörries hat damalige Forschungen kommentierend zusammengefasst, um eher ein Wort zur Stunde herauszugeben, und sich dann auch entschieden, diese Publikationen nicht in seine Sammelbände Wort und Stunde mit aufzunehmen. Die m. E. problematische theologisch-heilsgeschichtliche Deutung eines Ereignisses oder einer Epoche wurde zu Beginn bereits erwähnt. Verwunderlich ist ferner sein Beitrag in dem Gemeinschaftswerk Das Werden der Kirche, wo viele der in den Einzelpublikationen genannten Themen zusammenfassend aufgegriffen werden, inklusive einer ausführlichen Darstellung der Religion der Germanen. Besonders überrascht, dass die zweite Auflage nach 1945 fast keine Veränderung erfahren hat, wie ein detaillierter Seitenabgleich ergeben hat. Dörries war kein Germanist und kein Religionshistoriker und auch kein Spezialist für die germanische Religiosität der Frühzeit. Gerade hier wird deutlich, dass diese sowie die anderen früheren kleineren Arbeiten von Dörries zu Recht ad acta gelegt wurden47 – im Unterschied zu anderen Studien, die noch heute mit Gewinn zu lesen sind wie zum Beispiel sein langer Aufsatz zur Arbeit bei den Mönchen oder auch seine Studien zu Makarios.48 47 Heute wird allenfalls noch zurückgegriffen auf: Hans-Dietrich Kahl, Die ersten Jahrhunderte des missionsgeschichtlichen Mittelalters. Bausteine für eine Phänomenologie bis ca. 1050, in: Schäferdiek (Hg.), Kirchengeschichte als Missionsgeschichte II/1 (Anm. 24), 11–76. 48 Vgl. Hermann Dörries, Symeon von Mesopotamien. Die Überlieferung der messalianischen »Makarios«-Schriften (TU 55,1), Leipzig 1941; ders./Erich Klostermann/Matthias Kroeger (Hg.), Die 50 geistlichen Homilien des Makarios (PTS 4), Berlin 1964; ders., Mönchtum und Arbeit, in: Walter Elliger (Hg.), Forschungen zur Kirchengeschichte und zur christlichen Kunst, Leipzig 1931, 17‒39. Vgl. dazu die Beiträge von Peter Gemeinhardt (zum Mönchtum) und Martin Illert (zu Makarios) in diesem Band.
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Dörries’ Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold im Kontext der Arnold-Forschung Hermann Dörries’ Arnold-Buch fügt sich thematisch nur vermittelt in das Werk dieses Göttinger Kirchenhistorikers, denn er widmete sich nicht vornehmlich frühneuzeitlichen Themen.1 Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold von 1963 ist sein einziges Werk, das sich eingehend mit einem Protagonisten des Pietismus auseinandersetzt. Warum interessierte sich Dörries, der neben Arnold nur einer weiteren Figur der neueren Kirchengeschichte, Martin Luther, umfangreiche Studien widmete,2 für diesen Radikalen an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert? Sucht man eine Antwort auf diese Frage, so sollte man bei den Anknüpfungspunkten, die Dörries für seine eigenen patristischen Interessen bei Gottfried Arnold (1666–1714) fand, ansetzen: Es scheint sinnvoll zu sein, davon auszugehen, dass Arnolds Verhältnis zur Alten Kirche Dörries’ Interesse weckte und ihn veranlasste, den Blick auf das Œuvre des Spiritualisten und radikalen Pietisten zu richten. Denn Hermann Dörries fand Zugang zum Pietismus über Arnold, der mit seiner Unparteyischen Kirchen- und Ketzerhistorie eine ausgesprochen pointierte Wertung der Kirchengeschichte vorgelegt und zuvor auch zu einem Interessengebiet Dörries’, der Makarios-Tradition, publiziert hatte. In der Weite des Dörriesschen Werks spiegelt sich, obwohl Themen der Alten Kirche als sein vornehmliches Forschungsgebiet gelten können, ein gewisses, für seine Generation noch übliches, aber die gegenwärtig zu beobachtenden zeitlichen Grenzen der wissenschaftlichen Beschäftigung und Qualifikation zwischen Spätantike und Mittelalter einerseits, Früher Neuzeit und Neuzeit andererseits sprengendes, Epochen vor und seit 1500 berührendes Interesse an Themen der Kirchengeschichte.
1 Vgl. nur Ernst Berneburg, Wissenschaftliche Bibliographie Hermann Dörries, in: Hans-Walter Krumwiede (Hg.), Festschrift zum 70. Geburtstag von Professor D. Hermann Dörries, Abt von Bursfelde (JGNKG 63), ohne Erscheinungsort, 1965, 309–315, hier 309.314. – Eckige Klammern – [ ] – stehen im Folgenden, wenn sie nicht innerhalb einer runden Klammer stehen, für erschlossene Angaben, etwa von Druckorten. 2 Vgl. Hermann Dörries, Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold (AAWG.PH III, 51), Göttingen 1963; ders., Wort und Stunde, Bd. III: Beiträge zum Verständnis Luthers, Göttingen 1970; vgl. hierzu zuletzt Thomas Kaufmann, Grundzüge des Lutherverständnisses Hermann Dörries’, vor allem anhand des dritten Bandes seiner Aufsatzsammlung Wort und Stunde dargestellt, in: Ders., Aneignungen Luthers und der Reformation. Wissenschaftsgeschichtliche Beiträge zum 19.–21. Jahrhundert (Christentum in der modernen Welt 2), hg. v. Martin Keßler, Tübingen 2022, 371–395 (in leicht veränderter Form auch abgedruckt in diesem Band). https://doi.org/10.1515/9783110690095-010
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Dörries verfolgte in seinem siebten Lebensjahrzehnt zugleich das Wirken des Theologen, dessen Verse ihm sein Lehrer Karl Müller in einer Schlüsselstunde seines eigenen Lebens, der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ von 1933, dem Jahr, in dem Dörries selbst Mitglied der NSDAP geworden war, nahegelegt hatte: „Das Widerspiel legst du vor Augen dar Von dem / was du in deinem Sinne hast. Wer meynt / er hab den Vorsatz recht gefast / der wird am End ein anders offt gewahr.“ 3 Dass Müller diese Verse Arnolds als Widerspruch zu einem Glauben an die Offenbarung Gottes im Zeitgeschehen gedeutet habe, hob Dörries in seinem Nachruf auf den verstorbenen Müller 1940 hervor. Es dürfte kein Zufall sein, dass der Schüler Dörries erst in einem Wiederabdruck des Nachrufes 1970 den Kontext dieser brieflichen Äußerung Müllers mitteilte: Die Verse waren 1933 die deutende Antwort des Tübinger Kirchenhistorikers auf den Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft gewesen.4 Knappe Hinweise zur Gliederung der folgenden Ausführungen sind sinnvoll. Das Arnold-Bild, das Dörries zeichnet, soll in diesem Beitrag vor dem Hintergrund von Arnolds Biographie und dem Forschungsstand, den Dörries berücksichtigt, skizziert werden. Dieser Skizze und der Dörries-Forschung dienen die folgenden Kapitel des Beitrags: Arnolds Lebensweg wird im Lichte der Forschung kurz vorgestellt, weil sich an dessen divergierender Deutung verschiedene Zugänge zu seinem Werk festmachen lassen (1). Der ‚Sitz im Leben‘ des Arnold-Buchs war die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, denn als Abhandlung für die Akademie wurde das Buch vorgelegt. Da die Umstände, die zu Dörries’ Mitgliedschaft führten, in der Forschung bisher nur knapp behandelt wurden, soll seine Aufnahme in die Akademie im Folgenden in den historischen Kontext eingeordnet wer-
3 Gottfried Arnold, So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen, in: Erich Seeberg (Hg.), Gottfried Arnold. In Auswahl, München 1934, 284–286, hier 285. Melodie ediert in: Johannes Zahn, Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder, Bd. 3, Gütersloh 1890, Nachdr. Hildesheim 1963, 680, Nr. 6200. Zur Problematik des Begriffs Machtergreifung vgl. nur Eberhard Kolb/Dirk Schumann, Die Weimarer Republik (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 16), München 82013, 277. 4 Zu Karl Müllers Auseinandersetzung mit Gottfried Arnold und der Prägung von Müllers Leben durch den Pietismus vgl. Hermann Dörries, Karl Müller und sein Werk, in: Ders., Wort und Stunde III (Anm. 2), 421–457, hier 435 mit Anm. 34. Müller habe, so Dörries, die neunte Strophe von Arnolds Lied So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen (s. Zitat oben) „[d]em modernen Glauben an eine Gottesoffenbarung im Zeitgeschehen“ (so Hermann Dörries, Karl Müller zum Gedächtnis, ThBl 19 [1940], 177–185, hier 183) entgegengehalten. Dörries ordnete in Wort und Stunde dieses Zitat einer brieflichen Mitteilung Müllers von 1933 zu (vgl. Dörries, Müller [1970, s. o.], 434 mit Anm. 30; auf den Brief verweist Dörries bereits 1963, vgl. ders., Geist [Anm. 2], 197 Anm. 96; s. u. Anm. 70). Zu weiteren, allgemeinen Aspekten des 1970 vorgelegten Müller-Bildes Dörries’ vgl. Kaufmann, Grundzüge (Anm. 2), 383 f. Dörries setzte mit seinen auf Luther bezogenen Studien (vgl. Dörries, Wort und Stunde III [Anm. 2]) in gewisser Hinsicht das Erbe seines Lehrers Müller fort. Zu Müller s. u. Anm. 80.
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den (2). Sodann wird der Kontext der Veröffentlichung im wissenschaftlichen Werk Dörries’ und vor dem Hintergrund der ihm vorliegenden Forschung skizziert; Grundzüge der Arnold-Interpretation, die Dörries vorlegt und die bisher nicht eingehend untersucht wurde, werden vorgestellt (3). Schließlich soll ein summarischer Blick auf die neuere Forschung zu Gottfried Arnold und seiner Unparteyischen Kirchen- und Ketzerhistorie geworfen werden, wobei von den unmittelbaren Reaktionen auf Dörries’ Geist und Geschichte ausgegangen wird und zeitgleiche Beiträge vorgestellt werden (4). Ein kurzer Ausblick fragt unter anderem nach der bleibenden Bedeutung von Dörries’ Beitrag (5).
1 Gottfried Arnolds Lebensweg im Lichte der Forschung Ein vollständiger Überblick über die Arnold-Forschung, zumal die ältere, die Dörries berücksichtigte, sprengt den Rahmen dieses Beitrags.5 Gottfried Arnolds Leben und Werk erfreuten sich auch eines stabilen Interesses in der kirchengeschichtlichen Forschung der zweiten Hälfte des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts.6 Kurze Anmerkungen zum weiteren Kontext, in den die Forschung Arnold
5 S. nur die Hinweise zu Franz Dibelius u. bei Anm. 57.68, wegweisend Albrecht Ritschl (s. u. Anm. 67; bei Anm. 72–74), und die Hinweise zu Erich Seeberg (s. u. bei Anm. 33–35; Anm. 42; bei Anm. 68.71.74–81.83). Vgl. jetzt zum Pietismus im Allgemeinen den Überblick über die ältere Forschung bei Hans Otte, Geschichte der Pietismusforschung bis ca. 1970, in: Wolfgang Breul (Hg.), Pietismus Handbuch, Tübingen 2020, 18–26. Von den älteren Forschungsbeiträgen daneben wichtig dürfte Baurs Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung gewesen sein, vgl. Ferdinand Christian Baur, Die Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung (1852). Dogmengeschichtliche Vorreden aus den Jahren 1838–1858 (Ferdinand Christian Baur, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben 2), Tübingen 1852, Nachdr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1963, zu Arnold 96–119, zu Arnolds Bewertung der Ketzer bes. 97.109–119. 6 Von der Forschungsliteratur der letzten Jahrzehnte ohne Anspruch auf Vollständigkeit etwa die Beiträge im Sammelband Dietrich Blaufuß/Friedrich Niewöhner (Hg.), Gottfried Arnold (1666–1714) (Wolfenbütteler Forschungen 61), Wiesbaden 1995; außerdem Katharina Greschat, Gottfried Arnolds ‚Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie‘ von 1699/1700 im Kontext seiner spiritualistischen Kirchenkritik, ZKG 116 (2005), 46–62; Wolfgang Breul, Vom schnellen Ende der „ersten Liebe“. Die Reformation in Gottfried Arnolds Unparteiischer Kirchen- und Ketzerhistorie, in: Wolf-Dietrich Schäufele/Christoph Strohm (Hg.), Das Bild der Reformation in der Aufklärung (SVRG 218), Gütersloh 2017, 235–251. Zur Forschungsgeschichte vgl. auch die Auswahl der Arnold gewidmeten Werke in: Hans Schneider, Arnold-Literatur 1714–1993, in: Blaufuß/Niewöhner, Arnold (s. o.), 415–424; zudem Johannes Wallmann, Pietismusforschung. Gesamt- und übergreifende Darstellungen und Aufsatzbände, ThLZ 76 (2011), 222–254.296–322. Grundlegend auch Hans Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, in: Martin Brecht (Hg.), Geschichte des
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stellt, sind sinnvoll. Arnold wird dem Milieu zugeordnet, das man seit dem Ende des 19. Jahrhunderts radikaler Pietismus nennt.7 Die Diskussion um die Anfänge des Pietismus kann hier nicht eingehend aufgenommen werden. Geboten scheint es mir im Rahmen der Arnold-Forschung zu sein, auf die Verwandtschaft Arnolds zu älteren, heute häufig unter dem Begriff Mystischer Spiritualismus subsumierten Phänomenen hinzuweisen.8 Von den zeitgenössischen Wahrnehmungen zum Verhältnis verschiedener Spielarten des Pietismus sei nur an das Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf zugeschriebene Diktum erinnert, der Pietismus habe sich „bald Anfangs in zwey Branchen getheilet“.9 Zinzendorf setzt damit offenbar einen Anfang des Pietismus zur Zeit Speners voraus und zeigt ein Bewusstsein von der Weite und Disparität des Phänomens des Pietismus. Die Veröffentlichung der monumentalen Unparteyischen Kirchen- und Ketzerhistorie (1699–1700) setzte bekanntlich während Arnolds kurzer Tätigkeit an der zu dieser Zeit bereits pietistisch geprägten Universität Gießen ein.10 Für die Re-
Pietismus, Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, 391–437, zu Arnold bes. 393–395.410–418; Hans Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, in: Brecht/Klaus Deppermann (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1995, 107–197, hier 116–119; Forschungsüberblick in: Hans Schneider, Der radikale Pietismus in der neueren Forschung, PuN 8 (1982), 15–42; 9 (1983), 117–151; ergänzt wieder abgedruckt in: Hans Schneider, Gesammelte Aufsätze, Bd. I: Der radikale Pietismus, hg. v. Wolfgang Breul und Lothar Vogel (AKThG 36), Leipzig 2011, 9–80; zu Arnold zuletzt Lothar Vogel, Gottfried Arnold (1666–1714), in: Breul, Pietismus (Anm. 5), 137–146. 7 Wallmann etwa gilt Arnold „im strengen Sinn“ nur in jenen wenigen Jahren seiner Separation vom kirchlichen Amt als radikaler Pietist (Johannes Wallmann, Der Pietismus [UTB 2598], Göttingen 2005, 136 Anm. 1; vgl. auch ders., Kirchlicher und radikaler Pietismus. Zu einer kirchengeschichtlichen Grundunterscheidung, in: Wolfgang Breul/Marcus Meier/Lothar Vogel [Hg.], Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung [AGP 55], Göttingen 2010, 19–43). 8 S. zu Dörries’ Aufnahme dieses Begriffs u. bei Anm. 31. 9 „Es ist bekant, daß der so genante Pietismus sich bald Anfangs in zwey Branchen getheilet: In diejenigen Mysticos, die gemeiniglich ihre Aemter aufgegeben, und weil sie nichts mehr zu risquiren hatten, sehr wohl leiden konten, daß man sie mit dem Namen der Pietisten von andern unterschiede, und in diejenigen eifrigen und christlichen Lehrer, welche ihre Aemter und Beruff beyzubehalten vor gut befanden, und deshalb diese Notam gaenzlich ablehneten, auch in verschiedenen Laendern sich in contradictorio maintenirten.“ ([Nikolaus Graf von Zinzendorf], Denk- und Dank-Lied des Hauses Ebersdorf..., Ebersdorf: Waisenhaus 1746; VD18 10091548; Exemplar ULB Halle/Saale AB 154137 [6], digitalisierte Ressource [im Folgenden: digit.], 23 f. Anm. 48; Zuschreibung zu Zinzendorf nach Schneider, Pietismus im 17. Jahrhundert [Anm. 6], 391 Anm. 1). 10 Arnold wird um Ostern 1698 Gießen verlassen und um seine Entlassung gebeten haben. Zu den Umständen seines Ausscheidens aus dem Gießener Amt und der Datierung vgl. Gottfried Arnold, Gießener Antrittsvorlesung sowie andere Dokumente seiner Gießener Zeit und Gedoppelter Lebenslauf, hg. v. Hans Schneider (Edition Pietismustexte 4), Leipzig 2012, Nr. 6, 96, vgl. auch Nr. 7.1, 97–102; von der Forschungsliteratur nur Hans Schneider, Gottfried Arnold in Gießen, in: Ders., Aufsätze (Anm. 6), 89–121.
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zeption dieses Geschichtswerks war Arnolds zügige Aufgabe des Gießener Lehramts nach einem guten halben Jahr von Bedeutung. Arnold lebte schon mit dem Ausscheiden aus dem Universitätsamt eine Radikalität, die sich in der Abwendung von den historiographischen Grundsätzen des lutherischen Protestantismus, die die Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie bedeutete, wiederfindet. Dass er gleichwohl kein völlig neues Prinzip entwickelte, sondern die Verfallstheorie im Blick auf die Geschichte der Alten Kirche etwa bei Friedrich Spanheim dem Jüngeren bereits angewandt wurde, ist in der Forschung unbestritten.11 In den Randfiguren, den Ketzern, hatte Arnold den Mittelpunkt der wahren Kirche erblickt; er wandte dieses Prinzip auch auf die Reformationszeit an und brach so konsequent mit einer geläufigen protestantischen Deutung der Reformation im 17. Jahrhundert. Eine wesentliche Phase, an der sich divergierende Deutungen von Arnolds Werk und Leben festmachen, sind die auf die Abreise aus Gießen folgenden etwa drei Jahre, die Arnold in Quedlinburg im mystisch-spiritualistisch geprägten Umkreis des dortigen Hofpredigers, Johann Heinrich Sprögel (1644–1722), verbrachte. Arnold heiratete Sprögels Tochter Anna Maria im September 1701 und wirkte nach der Eheschließung und der Rückkehr in das kirchliche Amt bis zu seinem Tode 1714 als Hofprediger, Pfarrer und Inspektor in Allstedt, in Werben/Altmark und in Perleberg. Einige der Weggefährten brachen wegen der Entscheidung für die Heirat mit Arnold.12 Ob und wie das Ende von Arnolds radikaler Phase einen Bruch mit seinem bisherigen Lebensweg, auch seinen Überzeugungen und theologischen Grundsätzen, bedeutete, hat die Forschung beschäftigt. Bevor die Frage, wie Arnolds Lebenslauf zu deuten ist, inwieweit die Gießener, die Quedlinburger und die spätere Zeit im kirchlichen Amt zusammenhängen, und das Problem, wie er theologiegeschichtlich einzuordnen ist, im Rahmen der Ausführungen zu Dörries’ Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold aufgenommen werden, soll nun
11 Vgl. zu den Zusammenhängen nur Johann Fr. G. Goeters, Gottfried Arnolds Anschauung von der Kirchengeschichte in ihrem Werdegang, in: Bernd Jaspert/Rudolf Mohr (Hg.), Traditio – Krisis – Renovatio aus theologischer Sicht, FS Winfried Zeller, Marburg 1976, 241–257, hier 248 f.; im Blick auf die Rezeption der Geschichte des Urchristentums Stefan Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin (BHTh 83), Tübingen 1993, 5–14. 12 Arnolds Eheschließung stand im Widerspruch zu den ehekritischen Inhalten seiner von Jacob Böhme und Johann Georg Gichtel beeinflussten Sophienlehre, an deren Grundzügen er aber nach dem Stand der Forschung nach der Hochzeit festgehalten hat (vgl. nur Wolfgang Breul, Gottfried Arnold und das eheliche und unverehelichte Leben, in: Udo Sträter [Hg.], Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005, Bd. 1 [Hallesche Forschungen 28], Tübingen 2009, 357–369; zu Arnolds Vorstellungen im Kontext anderer pietistischer Entwürfe auch Wolfgang Breul/Stefania Salvadori [Hg.], Geschlechtlichkeit und Ehe im Pietismus [Edition Pietismustexte 5], Leipzig 2014).
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mit dem Eintritt des Göttinger Kirchenhistorikers in die Göttinger Akademie der Kontext der Veröffentlichung erhellt werden.
2 Dörries’ Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold erschien als Abhandlung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, deren Mitglied Dörries war. Mit welcher Begründung er in die Göttinger Akademie aufgenommen wurde, ist in der Forschung, die Dörries’ Wirken im Dritten Reich einige Aufmerksamkeit zukommen ließ, bisher unbeachtet geblieben.13 Der Vorschlag, die Wahl durch die Mitglieder der Akademie und die Bestätigung durch das Reichsministerium fallen in das Jahr 1941. Dörries wurde für die Aufnahme von Walter Bauer, dem neutestamentlichen Kollegen an der Fakultät, vorgeschlagen. Eine überzeugende Einordnung Walter Bauers (1877–1960) in die Geschichte der Fakultät im Nationalsozialismus steht noch aus.14 13 Andresen weist in seinem Nachruf auf Dörries auf die Aufnahme knapp hin und nennt die Mitglieder der Akademie, die Dörries vorschlugen, vgl. Carl Andresen, Nachruf auf verstorbene Mitglieder: Hermann Dörries (17. Juli 1895 – 2. November 1977), JAWG (1978), 40–53, hier 40 f. Vgl. von den vorliegenden Beiträgen zum Wirken Dörries’ im Dritten Reich insbesondere TorstenWilhelm Wiegmann, Hermann Dörries, ein Göttinger Theologe als Lehrer und Forscher in der Zeit des Nationalsozialismus, JGNKG 91 (1993), 121–149; Hansjörg Buss, Wissenschaft – Ausbildung – Politik. Die Göttinger Theologische Fakultät in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, Göttingen 2021, 339–349 (mit Lit.). Für weitere Fragen sei auf die einschlägigen Beiträge in diesem Sammelband (für die Zeit des Nationalsozialismus besonders Hansjörg Buss; zu Dörries’ Makarios-Bild Martin Illert) verwiesen; daneben nur Kaufmann, Grundzüge (Anm. 2). Bezogen auf die Anzahl der von ihm betreuten Promotionen, die zum Abschluss gebracht wurden, war Dörries das produktivste Mitglied seiner Fakultät im Dritten Reich, vgl. Inge Mager, Göttinger theologische Promotionen 1933–1945, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz/Carsten Nicolaisen (Hg.), Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus (AKZG.B 18), Göttingen 1993, 347–359, hier 352. 14 Was die weitgehend nicht auf archivalischen Quellen, sondern vermutlich auf mündlicher Überlieferung beruhende Einordnung anbetrifft, so überwiegt die Wertschätzung für den liberalen, in einer relativen Entfernung zum nationalsozialistischen Staat stehenden Hochschullehrer (insgesamt von apologetischen Zügen durchsetzt, in Blick auf Bauer auf Anekdoten und die Deutung, er sei ein Gegner des Hitler-Staats gewesen, beschränkt: Hans-Walter Krumwiede, Göttinger Theologie im Hitler-Staat, JGNKG 85 [1987], 145–196, hier 163–165; vgl. weiterhin Rudolf Smend, Eine Fakultät in kritischer Zeit. Die Göttinger Theologie zwischen 1930 und 1950, in: Ders., Zwischen Mose und Karl Barth. Akademische Vorträge, Tübingen 2009, 170–203, hier 177.179.192. Smend lässt kritische Distanz erkennen und konstatiert, dass die Göttinger Theologen vom festen, klaren und Orientierung bietenden Kurs der Marburger Kollegen im Blick auf den Nationalsozialismus weit entfernt gewesen seien, vgl. ebd., 194), der sich vor 1933 zur Weimarer
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Den Vorschlag unterzeichneten außerdem der Germanist Edward Schröder, der Historiker Karl Brandi, der klassische Philologe Max Pohlenz und der Historiker Siegfried Kaehler.15 Ob diejenigen, die Dörries vorschlugen, einem Milieu zuzuordnen sind, kann in diesem Kontext nicht eindeutig geklärt werden. Instruktiv sind, um gewisse Zusammenhänge zu verstehen, kurze Hinweise zu Karl Brandi (1868–1946) und der Verweis auf einige Grundlinien. Brandi agierte schillernd in entscheidenden Momenten der Göttinger Universitäts- und Akademiegeschichte im Dritten Reich. In der Weimarer Republik war er Landtagsabgeordneter für die Deutsche Volks-
Republik bekannt und eine „anhaltend vernunftrepublikanische Einstellung“ gezeigt haben soll (so Buss, Wissenschaft [Anm. 13], 90, vgl. ebd., 71.333 f.). Zu Vertretern der Theologischen Fakultät Marburg s. auch u. bei Anm. 75. Sabine Leibholz-Bonhoeffer erinnert sich daran, dass Bauer, wenn er ihren Mann, den Hochschullehrer Gerhard Leibholz (vgl. zu Leibholz, der als Sohn jüdischer Eltern christlich getauft wurde, Werner Heun, Leben und Werk verfolgter Juristen – Gerhard Leibholz [1901–1982], in: Eva Schumann [Hg.], Kontinuitäten und Zäsuren. Rechtswissenschaft und Justiz im „Dritten Reich“ und in der Nachkriegszeit, Göttingen 2008, 301–326), auf der Straße gesehen habe, nicht so, wie es andere getan hätten, auf die andere Straßenseite gewechselt sei, sondern, wegen seiner Schwerhörigkeit gut vernehmlich, auf Hitler und die Nazis geschimpft habe, vgl. Sabine Leibholz-Bonhoeffer, vergangen erlebt überwunden. Schicksale der Familie Bonhoeffer, Gütersloh 41983, 99. Georg Strecker beschränkt sich in seinem Beitrag zu Bauer auf die Werkgeschichte; ihn erinnert Bauers Rechtgläubigkeit und Ketzerei (vgl. Walter Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, hg. v. Georg Strecker [BHTh 10], Tübingen 2 1964) an Arnolds Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie, weil auch Arnold die traditionelle Unterscheidung von Rechtgläubigkeit und Ketzerei fragwürdig erscheinen lasse. Zu Bauer als Universitätslehrer in den 1930er und 1940er Jahren äußert sich Strecker nicht (vgl. Georg Strecker, Bauer, Walter, TRE 5 [1980], 317–319, hier 319). Abschließend sollen hier die Erinnerungen zweier Göttinger Fakultätskollegen stehen: Anlässlich des Todes Bauers erschien Zimmerlis Hinweis, dass Bauer „wohl nicht nur zufällig nach dem Zusammenbruch von 1945“ erster Dekan der Fakultät gewesen sei (Walther Zimmerli, In memoriam Walter Bauer. Ansprache bei der Trauerfeier, ThLZ 86 [1961], 313–315, hier 314). Joachim Jeremias erinnert sich im selben Jahr, dass bei seiner Berufung nach Göttingen 1935 der Kirchenkampf auf seinem Höhepunkt angelangt gewesen sei; viele Hunderte von Pfarrern hätten in Gefängnissen gesessen; an den Universitäten und theologischen Fakultäten sei „der geistige Kampf erbittert entbrannt. Ich werde bis zu meinem Lebensende nicht vergessen, nicht nur wie gütig mich der ältere Kollege aufnahm und wie vornehm er dem Jüngeren neben sich Raum gab, sondern vor allem, wie mannhaft und aufrecht er stand, und wie er in diesen wirren Jahren ein immer absolut verläßlicher Kollege und Berater war.“ (Joachim Jeremias, In memoriam Walter Bauer. Gedenkworte am Sarge von Walter Bauer, ThLZ 86 [1961], 315 f., hier 316). Dass Bauers Rolle in der Fakultäts- und Universitätsgeschichte bis 1945 weder 1961 noch 1980 einen Platz in der wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung spielte, dürfte zu den Lücken in der Erinnerung und im Zusammentragen einschlägiger Befunde und Beobachtungen gehören, die man generationsspezifisch nennen mag. 15 Vgl. Archiv der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Depositum SUB Göttingen), Pers 16: Vol. 3, Nr. 472 (Bauer, Schröder, Brandi, Pohlenz, Kaehler an die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 2. Juni 1941).
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partei gewesen. Die Versuche des Göttinger Althistorikers Ulrich Kahrstedt, die Provinzialisierung der deutschen Universität 1934 zum nationalsozialistischen, sich an den Bedürfnissen der Studenten orientierenden Programm zu stilisieren, verurteilte er entschieden.16 Brandi äußerte 1934 deutliche Kritik an der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik, wie Kahrstedt sie propagierte. 1938 wirkte Brandi an einer Denkschrift mit, die den Grundgedanken der traditionellen, herkömmlichen Akademie der Wissenschaften gegen die neu geschaffenen NS-Akademien verteidigte.17 Er hatte aber, möglicherweise bereits 1933, spätestens aber 1942, die Berufung des Rektors der Göttinger Universität, des Germanisten und Nationalsozialisten Friedrich Neumann, in die Akademie der Wissenschaften befürwortet. Etliche Mitglieder leisteten im Vorfeld der Wahl erheblichen Widerstand gegen den Vorschlag Neumanns und begründeten die Ablehnung mit einer offensichtlichen Diskrepanz zwischen seiner wissenschaftlichen Leistung und den Ansprüchen der Akademie.18 Neumanns Berufung in die Akademie trübte auch das Verhältnis zwischen der Mathematisch-Physikalischen und der Philologisch-
16 Zu Kahrstedts Rede von 1934 und der Reaktion Brandis, der diesen zum Duell herausforderte, vgl. die materialreiche Studie von Cornelia Wegeler, „... wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik“. Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921–1962, Wien/Köln/Weimar 1996, 147–158. 17 Vgl. Norbert Schappacher, NS-Akademien der Wissenschaften, in: Dirk Schumann (Hg.), Forschen im „Zeitalter der Extreme“. Akademien und andere Forschungseinrichtungen im Nationalsozialismus und nach 1945, Göttingen 2020, 163–190, hier 173–175, vgl. auch Désirée Schauz, Wissenschaft und Politik. Zum Selbstverständnis der Göttinger Akademiemitglieder im Nationalsozialismus, in: Schumann, Forschen (s. o.), 191–226, hier 219. 18 Brandi legte zu dem Vorschlag, Neumann in die Akademie aufzunehmen, der aus der Reihe seiner Klasse kam, ein zusätzliches positives Sondervotum vor, vgl. Archiv der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Depositum SUB Göttingen), Pers 16: Vol. 3, Nr. 480b (10. Februar 1942, Wahlvorschlag Brandi) und hatte wohl bereits 1933 für die Aufnahme Neumanns votiert (so Hermann Kees an Friedrich Karl Drescher-Kaden, 1. März 1942; Archiv der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Depositum SUB Göttingen], Pers 16: Vol. 3, Nr. 483, [1]; vgl. auch den Hinweis im Wahlvorschlag Brandis, s. o.; zu Drescher-Kaden s. u. Anm. 19). Zu Dörries’ Kontakten zu Neumann, der nach einer aus zweiter Hand berichteten, einem Göttinger Zuhörer der Luther-Rede Dörries’ von November 1933, dem Privatdozenten Georg Hoffmann, zugeschriebenen Erinnerung nach der Rede Dörries zum Zeichen seines Missfallens „provokativ“ den Handschlag verweigert haben soll (Krumwiede, Theologie [Anm. 14], 166; zum Kontext s. auch den Beitrag Martin Keßlers in diesem Band; vgl. auch Buss, Wissenschaft [Anm. 13], 155–160), dem Dörries aber auch das Abwenden von politischen Maßnahmen gegen ihn im Dritten Reich zugeschrieben haben soll (vgl. Peter Gemeinhardt, „Bekennende Kirche“ in Geschichte und Gegenwart. Hermann Dörries’ Erleben und Deuten des „Kirchenkampfes“, in: Inge Mager [Hg.], Überliefern – Erforschen – Weitergeben. FS Hans Otte [JGNKG 113], Hannover 2015, 343–360, hier 350 f. [mit Lit.]), in der Nachkriegszeit vgl. Buss, Wissenschaft (Anm. 13), 456 Anm. 1756.466 Anm. 1794.
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Historischen Klasse der Akademie; seiner Wahl gingen tiefgreifende Spannungen zwischen Mitgliedern der beiden Klassen voraus.19 Wenn sich die Haltung Göttinger Hochschullehrer zum Nationalsozialismus auch am Verhalten gegenüber den Kollegen misst, die nach der nationalsozialistischen Rassenlehre als Juden galten, so ist es notwendig zu betonen, dass aus diesem Quintett, wie auch von allen Mitgliedern der Göttinger Akademie, niemand gegen das Herausdrängen jüdischer Mitglieder aus der Akademie seine Stimme erhoben hat.20 Die Mitglieder der Akademie, die Dörries unterstützten, dürften mit ihrer nationalkonservativen Überzeugung zu den Gehilfen des nationalsozialistischen Regimes gezählt haben. Es spricht aber wenig dafür, der Berufung Dörries’ in die Akademie wie jener Neumanns eine Note zu geben, die sie in die Nähe dezidiert nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik rückt. Wie begründeten die Göttinger Fünf Dörries’ Eignung? Der Vorschlag der Kollegen verweist auf die Breite seines wissenschaftlichen Œuvres und besonders auf Dörries’ im selben Jahr erschienene Arbeit zu Symeon von Mesopotamien, die
19 Gegen die Wahl Neumanns zum Mitglied der Akademie sprachen sich mehrere Mitglieder der Mathematisch-Physikalischen Klasse aus, darunter auch entschieden der Präsident der Akademie, Drescher-Kaden, vgl. hierzu Schauz, Wissenschaft (Anm. 17), 191–196.220–224. 20 Krumwiede hätte hier eine Antwort auf die in seinem Beitrag gestellte, aber nicht weiter thematisierte Frage finden können, wie sich „die Solidarität mit amtsvertriebenen nichtarischen [sic!] Professoren [...] auf der Ebene der Gesamtuniversität“ bewährt habe (Krumwiede, Theologie [Anm. 14], 147). Im Kontext der Göttinger Akademie im Nationalsozialismus vgl. zu ihren jüdischen Mitgliedern Schauz, Wissenschaft (Anm. 17), 197–215, zur Causa Neumann ebd., 191– 194 (mit Lit.).220–224. Die Mitglieder der Akademie, die Dörries’ Aufnahme unterstützten, in ihren jeweiligen historischen Zusammenhang einzuordnen, kann nicht Aufgabe dieses Beitrags sein, vgl. nur einführend zu Max Pohlenz (1872–1962) neben Hans-Ulrich Berner/Stefan Kipf, Pohlenz, Max, in: Peter Kuhlmann/Helmuth Schneider (Hg.), Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon (DNP.S 6), Stuttgart 2012, 996 f., auch Wegeler, Gelehrtenrepublik (Anm. 16), 84–88.229–234.271–276. Pohlenz setzte sich 1934/35 für die Weiterbeschäftigung des jüdischen Altphilologen Hermann Fränkel an der Philosophischen Fakultät der Göttinger Universität ein, vgl. Wegeler, Gelehrtenrepublik (Anm. 16), 162–172. Zu Siegfried Kaehler (1885–1963) nur Bernd Faulenbach, Kaehler, Siegfried August, in: Rüdiger vom Bruch/Rainer A. Müller (Hg.), Historikerlexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart (BSR 405), München 22002, 173 f. Kaehler zog in seiner Korrespondenz 1944 bei der Bewertung Gogartens Dörries zum Vergleich heran: „[...] in seinem außerordentlichen Individualismus ist er [Gogarten, Anm. C. S.] doch ein ernster und ernstzunehmender Christ, dessen Auseinandersetzung mit den Zeitkämpfen sehr viel ernster und eindrücklicher ist, als etwa bei Dörries, der als ‚liberal‘ vor 15 Jahren hierherkam und nun ‚BK‘ Richtung vertritt, ohne sehr überzeugende Fundamentierung.“ (Kaehler an Peter Rassow, 28. Dezember 1944, ediert in: Siegfried A. Kaehler, Briefe 1900–1963, hg. v. Walter Bußmann und Günther Grünthal [DGQNJ 58], Boppard am Rhein 1993, Nr. 85, 284–287, hier 286; zu Dörries vgl. auch ebd., Nr. 93, 302–310, hier 304). Zu Edward Schröder (1858–1942) nur Dorothea Ruprecht, Schröder, Edward, NDB 23 (2007), 559 f. (mit Lit.).
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ihn – so das Votum des Fakultäts- und der Universitätskollegen – „wohl befähigt erscheinen läßt, einer gelehrten Körperschaft vom Range unserer Akademie anzugehören“.21 Die Kollegen nahmen also Bezug auf die Monographie, die wohl Dörries zu einem Klassiker machte, der über seine Zeit hinaus gelesen wird: Die These, dass Makarios Symeon sei, ein Führer der Messalianer, hatte Dörries in diesem Buch vorgetragen. Beachtenswert mag sein, dass Dörries hier auf die gattungsgeschichtliche Forschung Wilhelm Boussets zugreift und an die Tradition der Göttinger Religionsgeschichtlichen Schule anknüpft.22 Mit Dörries, der von den Mitgliedern der Akademie gewählt 23 und dessen Berufung in die Akademie im September desselben Jahres vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung bestätigt wurde, war das Fach der Kirchengeschichte wieder in der Akademie vertreten.24 Das Interesse an Makarios/Symeon hat nicht
21 Archiv der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Depositum SUB Göttingen), Pers 16: Vol. 3, Nr. 472 (Bauer, Schröder, Brandi, Pohlenz und Kaehler an die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, 2. Juni 1941), [2]. Vgl. Hermann Dörries, Symeon von Mesopotamien. Die Überlieferung der messalianischen „Makarios“-Schriften (TU 4,10), Leipzig 1941; zur bleibenden Bedeutung der späteren Arbeit Dörries’ zu Makarios (vgl. Hermann Dörries, Die Theologie des Makarios/ Symeon [AAWG.PH III, 103], Göttingen 1978) nur Klaus Fitschen, Messalianismus und Antimessalianismus. Ein Beispiel ostkirchlicher Ketzergeschichte (FKDG 71), Göttingen 1998, 342. 22 So Andresen, Nachruf (Anm. 13), 43. 23 Vgl. Holger Krahnke (Hg.), Die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1751– 2001 (AAWG.PH III, 246), Göttingen 2001, 71. Im selben Jahr, in dem Dörries Mitglied der Akademie wurde, scheiterte sein Ansinnen, dem Ruf der Landeskirche Hannovers in die Spruchkammer über die Anstellungsfähigkeit der Geistlichen der Landeskirche zu folgen, am Widerspruch des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung: Dörries’ Antrag auf Mitgliedschaft in der Spruchkammer nach § 15 des Kirchengesetzes über die Anstellungsfähigkeit der Geistlichen (vgl. Universitätsarchiv Göttingen, Personalakte Hermann Dörries, UniA GÖ Kur. 10165, Bd. 1, Nr. 42, Bl. 72) vom 30. Juli 1941, mochte der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung nicht entsprechen, „da ich [es zeichnet „im Auftrage Frey“, ebd.; es dürfte sich um HermanWalther Frey (1888–1968), der als Referent im Amt Wissenschaft des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung arbeitete, handeln, vgl. zu Frey Michael Grüttner, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 6), Heidelberg 2004, 53; Anm. C. S.] die Tätigkeit solcher Kammer in den kirchlichen Auseinandersetzungen für untunlich halte.“ (Universitätsarchiv Göttingen, Personalakte Hermann Dörries, UniA GÖ Kur. 10165, Bd. 1, Nr. 43, 73). Zu Dörries’ Verwicklung in die früheren Auseinandersetzungen von Fakultätsmitgliedern mit dem Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung um das Verhältnis zur Bekennenden Kirche vgl. neben Buss, Wissenschaft (Anm. 13), 339, auch Gemeinhardt, Kirche (Anm. 18), 345–350. 24 Vgl. Archiv der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Depositum SUB Göttingen), Pers 12: Vol. 4, Nr. 625 (Bestätigung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 15. September 1941); vgl. außerdem Archiv der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Depositum SUB Göttingen), Pers 16: Vol. 3, Nr. 474 (Dörries an den Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, 27. September 1941). Carl Mirbt (1860–1929), der Herausgeber der Quellen
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nur aus der Sicht seiner Kollegen die Berufung in die Akademie gerechtfertigt, sondern mag auch ein in seiner eigenen Forschung begründetes Motiv sein, das Dörries bewog, sich später Gottfried Arnold zuzuwenden.
3 Dörries’ Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold im Kontext der Veröffentlichung (1963) Zwei Jahrzehnte nach Dörries’ Aufnahme in die Akademie, kündigte die Tagesordnung der ordentlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften vom 28. Juli 1961, wenige Tage nach Dörries’ 66. Geburtstag, knapp an: „Herr Dörries legt vor: Das Geschichtsverhältnis Gottfried Arnolds.“ 25 Die Studie über Arnold geht nach Auskunft ihres Verfassers auf Gastvorlesungen in Lund und Uppsala zurück.26 Ihre Veröffentlichung fiel mit Dörries’ Emeritierung zusammen, die mit dem Ende des Sommersemesters 1963 erfolgte.27 Im selben Jahr, in dem er sein Hans von Campenhausen, „dem Freunde“,28 gewidmetes Buch zu Arnold als dritte seiner
zur Geschichte des Papsttums (vgl. die letzte von Mirbt verantwortete Ausgabe Carl Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, Tübingen 41924), war der letzte Kirchenhistoriker gewesen, der zum Mitglied der Göttinger Akademie gewählt worden war (vgl. Krahnke, Mitglieder [Anm. 23], 170). 25 Archiv der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Chron. 4.10, Sitzungsprotokolle 1953– 1965, Auszug aus der Tagesordnung der 5. Ordentlichen Sitzung am Freitag, 28. 7. 1961. Bei der Datierung der Vorlage in der Druckfassung („[v]orgelegt in der Sitzung am 21. Juli 1961“, Dörries, Geist [Anm. 2], 2) liegt ein Versehen vor, denn die Sitzung vom 28. Juli, die dem regulären zweiwöchigen Turnus folgte, und Dörries’ Beitrag an diesem Tag sind nicht nur im Protokollbuch, sondern auch durch eine weitere Quelle belegt: vgl. o. Vf., Plenarsitzungen 1961 (wissenschaftlicher Teil), JAWG (1961), 65–68, hier 68. 26 Die Teile I. („Geheimnis der Bosheit und Geheimnis der Gottseligkeit“, 11–46) und III. („Begegnung mit Macarius“, 148–193) waren seit diesen Vorlesungen erweitert worden, Teil II. („Arnolds Stellungnahme zu seinen Lebensentscheidungen“, 47–147) verfasste Dörries für diese Veröffentlichung (vgl. Dörries, Geist [Anm. 2], 5). 27 Vgl. Universitätsarchiv Göttingen, Personalakte Hermann Dörries, UniA GÖ Kur. 10165, Bd. 2, Bl. 41 (Dankurkunde des niedersächsischen Kultusministers, beglaubigte Abschrift, 30. September 1963). 28 Dörries, Geist (Anm. 2), 3. Hans von Campenhausen feierte 1963 seinen 60. Geburtstag (vgl. nur Adolf Martin Ritter, Campenhausen, Hans Frhr. v., RGG 4 2 [1999], 49). Dörries’ kirchengeschichtliches Seminar trug im Wintersemester 1960/61 den Titel „Gottfried Arnold“ (GeorgAugust-Universität Göttingen, Personal- und Vorlesungsverzeichnis. Wintersemester 1960/61, ohne Ort, [1960], 78; online abrufbar, https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN721546412_1960_1961_WS? tify={%22pages%22:[79],%22view%22:%22info%22}, letzter Zugriff: 8. Februar 2022).
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insgesamt vier Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen vorlegte,29 schloss er auch den Satz der Makarios-Ausgabe ab.30 Was den Kontext der Arnold-Forschung anbetrifft, in dem sich Dörries bewegte, so sind von der wissenschaftlichen Literatur, die ihm vorlag, auch die Arbeiten zu nennen, an deren Entstehen er beteiligt war und die im unmittelbaren Göttinger Umfeld entstanden. Die Auswahl der hier knapp vorgestellten Beiträge orientiert sich am Maßstab, im Wesentlichen die Werke zu skizzieren, deren Bearbeitung durch Dörries Spuren in Geist und Geschichte hinterlassen hat. Eine gewisse Rolle spielt Ernst Troeltschs Arnold-Bild. Dem maßgeblich durch Troeltschs Soziallehren geprägten Begriff Spiritualismus konnte Dörries nicht viel abgewinnen. Neben „allerhand krähwinkelhaften Begebenheiten“ hält Troeltsch Arnold und Johann Konrad Dippel für die „sehr bedeutende[n] Geister“ des Spiritualismus.31 Troeltschs Arnold-Bild schien Dörries schließlich das Gesicht des Gelehrten der Kaiserzeit und weniger des historischen Arnold, den Troeltsch zu den wesentlichen Vertretern des Spiritualismus gezählt hatte, zu zeigen: „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, es sei hier gegangen wie bei den Porträtmalern, in deren Bilder unvermerkt die eigenen Züge hineingeraten: Troeltschs Arnoldbild hat einige Ähnlichkeit mit seinem eigenen!“ 32
29 Vgl. Hermann Dörries, Das Selbstzeugnis Kaiser Konstantins (AAWG.PH III, 34), Göttingen 1954; ders., De Spiritu Sancto. Der Beitrag des Basilius zum Abschluß des trinitarischen Dogmas (AAWG.PH III, 39), Göttingen 1956; ders., Theologie (Anm. 21). Dörries war dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht „seit meinen [sc. Dörries, Anm. C. S.] Göttinger Anfängen verbunden“ (ebd. 5) und hatte dort die weit überwiegende Zahl seiner Monographien veröffentlicht. 30 Vgl. Oskar Glemser, Tätigkeitsbericht für das Jahr 1963, JAWG (1963), 7–17, hier 11. Die von Dörries verantwortete Makarios-Ausgabe erschien im Folgejahr (vgl. Hermann Dörries/Erich Klostermann/Matthias Kroeger [Hg.], Die 50 Geistlichen Homilien des Makarios [PTS 4], Berlin 1964). 31 Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, hg. v. Friedrich Wilhelm Graf (Ernst Troeltsch. Kritische Gesamtausgabe 9), Teilbd. 2, Berlin/New York 2021, 1751. Den Zusammenhang zwischen Spiritualismus und Individualismus (vgl. etwa im Kontext der nachreformatorischen Entwicklung bei Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt [1906/21911], in: Ders., Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt, hg. v. Trutz Rendtorff [Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe 8], Berlin/New York 2001, 183–316, hier 310) nimmt Dörries bei seiner Definition des Spiritualismus auf und unterscheidet einen Enthusiasmus, „der Herren eigener Geist“, und den auf den Spiritus Sanctus verweisenden Aspekt, der den Zusammenhang zur Geschichte festhalte – dies führe zu „theologischen Bedenklichkeiten“, verlasse aber „nicht den christlichen Boden“ (Dörries, Geist [Anm. 2], 27 Anm. 27). Zum mystischen Spiritualismus bei Troeltsch vgl. bes. Troeltsch, Soziallehren (s. o.), 1779–1781.1836; passim. Zur Unterscheidung zwischen asketisch-sektenhafter und mystisch-indifferentistischer Richtung im radikalen Pietismus vgl. ebd., 1751–1756 Anm. 499, hier 1754 f. 32 Dörries, Geist (Anm. 2), 16 f. Anm. 7.
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Zu den Arnold-Abhandlungen, die Dörries vorlagen, zählte Erich Seebergs 1923 erschienener Beitrag mit dem Titel Gottfried Arnold. Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit. In einer forschungsgeschichtlichen Perspektive dürfte dieser Beitrag die wichtigste Monographie zu Arnold aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein. Sie hatte Seeberg 1920 die theologische Ehrendoktorwürde der Berliner Fakultät eingebracht, an der sein Vater lehrte und er selbst promoviert worden war. Ein Jahr nach Dörries’ Abhandlung zu Arnold erschien Seebergs Buch 1964 in einem Nachdruck.33 Nach eigenem Bekunden war es „aus dem Bestreben erwachsen, die Motive, die der Kirchen- und Ketzerhistorie zugrunde liegen“,34 zu verstehen und das Werk in seinem historischen Kontext zu verorten. Der wesentliche Gegenstand der Abhandlung war die Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie, deren historiographische Grundzüge Seeberg in chronologischer, teils auch topischer Gliederung im Blick auf ihre Quellen in der Alten Kirche, im Mittelalter, im Humanismus, der lutherischen Orthodoxie und der Mystik untersucht. Das Werk, dessen Inhalt sich nach meinem Eindruck dem Leser nicht vornehmlich als ein einheitliches Ganzes erschließt, dürfte der Arnold-Forschung seit seinem Erscheinen als wichtige und ergiebige Fundgrube gedient haben. Seeberg konstatierte drei deutliche Brüche in Arnolds Lebenslauf: die Bekehrung zum Pietismus unter dem Einfluss Speners, die radikale Absage an die Welt, die besonders im Abschied vom Gießener Lehrstuhl Niederschlag fand, und schließlich die Lossagung vom radikalen Spiritualismus und die Rückkehr zum Pietismus. Ausdruck findet die Vorstellung von den Brüchen auch in der ArnoldAusgabe, die Seeberg 1934 herausgab: Hier konstatiert er einen „dreifache[n] Bruch“,35 der Arnolds Leben auszeichnet. Für die Rezeption der Vorstellung von den Brüchen dürfte nicht unwichtig sein, dass Walther Köhler diese Deutung in seinem Beitrag zu Arnold aufnahm, der in der zweiten Auflage von Die Religion in Geschichte und Gegenwart erschien, und er die Vorstellung von den Brüchen damit
33 Vgl. Erich Seeberg, Gottfried Arnold. Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit, Meerane 1923; Nachdr. Darmstadt 1964. Präliminarstudien zu diesem 1920 abgeschlossenen Buch hätten vermutlich als Qualifikationsschrift für Seebergs (1888–1945) 1913 erfolgte Habilitation in Greifswald gedient (so Thomas Kaufmann, Der Berliner Kirchenhistoriker Erich Seeberg als nationalsozialistischer Theologiepolitiker, in: Ders., Aneignungen [Anm. 2], 249–270, hier 254; vgl. auch ders., „Anpassung“ als historiographisches Konzept und als theologiepolitisches Programm. Der Kirchenhistoriker Erich Seeberg in der Zeit der Weimarer Republik und des ‚Dritten Reiches‘, in: Ders./Harry Oelke [Hg.], Evangelische Kirchenhistoriker im ‚Dritten Reich‘ [VWGTh 21], Gütersloh 2002, 122–272, zum Arnold-Buch und der Berliner Ehrendoktorwürde bes. 132–134.176). Vgl. auch Erich Seeberg, Gottfried Arnolds Anschauung von der Geschichte, ZKG 38 (1920), 282–311. 34 Seeberg, Arnold (Anm. 33), VII. 35 Erich Seeberg, Einleitung, in: Ders., Arnold (Anm. 3), 6.
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einer breiteren Wirkung zugeführt haben dürfte. Vor und neben der Arbeit Seebergs dürfte insbesondere Franz Dibelius die Arnold-Forschung geprägt haben.36 Auch Dörries’ Göttinger Kollege Emanuel Hirsch widmet sich Arnold in seiner Geschichte der neuern evangelischen Theologie. Arnolds Grundanschauung, so Hirsch, entspreche einem Gedanken Jacob Böhmes. Nach Arnold werde das wahre Reich Christi von der Welt nicht erkannt und seine Glieder stünden nach dem äußeren Menschen unter dem gezückten Schwert Babels. Den Gegensatz zu inneren Lehren Christi, das ganze Schema, habe Arnold von Böhme, also von dem Autodidakten des frühen 17. Jahrhunderts, übernommen, die Durchführung mit einer bestechenden Fülle an Stoff sei Arnolds wesentliche Leistung.37 Gottfried Arnold spielt insgesamt keine herausragende Rolle in Hirschs Theologiegeschichte. Am radikalen Pietismus lassen sich gleichwohl zentrale Grundsätze, die nach
36 Vgl. Walther Köhler, Arnold, Gottfried, RGG 2 1 (1927), 562 f., hier 562; von dieser Phrasierung des Arnoldschen Lebenslaufs noch unberührt [Wilhelm] Landgrebe, Arnold, Gottfried, RGG 1 (1909), 721 f. Auch Schmidt konstatiert, die Heirat mit Anna Maria Sprögel habe vor dem Hintergrund von Das Geheimnis der göttlichen Sophia (vgl. Gottfried Arnold, Das Geheimniß der Goettlichen Sophia oder Weißheit, Leipzig: Thomas Fritsch 1700; VD17 1:073401X; Exemplar SLUB Dresden 6.A.904 [digit.]; s. auch u. Anm. 43) einen Bruch bedeutet (vgl. Martin Schmidt, Arnold, Gottfried, TRE 4 [1979], 136–140, hier 137,46). Zu Dibelius’ Beiträgen (vgl. Franz Dibelius, Arnold, Gottfried, RE3 2 [1897], 122–124; ders., Gottfried Arnold. Sein Leben und seine Bedeutung für Kirche und Theologie. Eine kirchenhistorische Monographie, Berlin 1873 [digit.]) s. u. bei Anm. 57 und 68. Einen „Bruch“ Arnolds mit Spener, der in die separatistische Periode führte, konstatiert Dibelius (ebd., 51). Dass es eine separatistisch-mystische ‚Periode‘ in Arnolds Leben gegeben habe und Heirat und Übernahme des Pfarramts „der größte Wendepunkt in seinem Leben“ gewesen seien, auch bei Dibelius (ders., Arnold [s. o.], 124,28; vgl. auch ders., Arnold [s. o.], 149). 37 Vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. 2, Gütersloh 31964, 251.260–275, hier bes. 264 f. Zu Hirschs Geschichtsdeutung der Neuzeit vgl. Ulrich Barth, Die Christologie Emanuel Hirschs. Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, Berlin/New York 1992, 567; zur Entstehung der Geschichte der neuern evangelischen Theologie vgl. auch Jochen Hose, Die „Geschichte der neuern evangelischen Theologie“ in der Sicht Emanuel Hirschs (EHS.T 654), Frankfurt u. a. 1999, 34–40. Zum Verhältnis der Göttinger Kollegen Hirsch und Dörries vgl. nur Thomas Kaufmann, Evangelische Kirchenhistoriker im ‚Dritten Reich‘. Anmerkungen zu generationsspezifischen Bedingungen und Dispositionen (mit Anhang: Später Rückblick. Ein Briefwechsel Hirsch-Dörries aus dem Jahre 1970), in: Ders./Oelke, Kirchenhistoriker (Anm. 33), 32–62, hier 55– 62. Zu Jacob Böhme von der neueren Literatur nur Bo Andersson/Lucinda Martin/Leigh T. I. Penman/Andrew Weeks (Hg.), Jacob Böhme and His World (Aries Book Series 25), Leiden/Boston 2019. Zur Aufnahme Böhmes bei Arnold in der neueren Forschung vgl. etwa Lothar Vogel, Beobachtungen zur Böhmerezeption in Gottfried Arnolds Sophienschrift, in: Breul/Meier/ders., Pietismus (Anm. 7), 271–292. Vogel sieht etwa in der Möglichkeit zur geistlichen Vollkommenheit und dem Grundsatz zur Willensfreiheit ein Erbe Böhmes, das sich in dieser Schrift Arnolds zeige (vgl. ebd., 286 f.).
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Hirsch die Zeit nach dem Westfälischen Frieden prägten, nachzeichnen: In Arnolds Unparteyischer Kirchen- und Ketzerhistorie trete etwas Neues, nämlich die erste deutschsprachige Kirchengeschichte hervor; gerade der radikale Pietismus, der legitimer Erbe der Reformation sei, trage zur Überwindung des Altprotestantismus bei.38 In seiner radikalen Gestalt führe der Pietismus zur Aufklärung hin. „Von Arnold führt kein Weg zurück ins sechzehnte Jahrhundert, sondern nur einer vorwärts, der zum achtzehnten und da und dort sogar noch weiter zum neunzehnten geht.“ 39 Schließlich hatte Friedrich Meinecke zwar im Zuge seiner Arbeit zur Entstehung des Historismus Arnold als „Denker minderen Ranges“ 40 bewertet, ihn aber „als Vertreter seelisch bewegter Kreise auch zu den Vorbereitern eines neuen historischen Denkens“ 41 gezählt. Dörries’ Arbeit spiegelt daneben auch die Auseinandersetzung mit den Forschungsbeiträgen Erich Beyreuthers und Martin Schmidts.42 Dass die Zeit um das 250jährige Todesjahr Arnolds 1964 ein Kulminationspunkt des Arnold-Interesses war, mag neben den bereits genannten Beiträgen auch ein weiterer Beitrag, nämlich der Faksimile-Druck der Sophia, belegen, einer von zwei in den 1960er Jahren erschienenen Arnold-Nachdrucken.43
38 Vgl. Hirsch, Geschichte (Anm. 37), 274; vgl. auch 257; vgl. Ulrich Köpf, Die Theologiegeschichte der Neuzeit in der Sicht Emanuel Hirschs, in: Joachim Ringleben (Hg.), Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewusstsein. Studien zur Theologie Emanuel Hirschs (TBT 50), Berlin/New York 1991, 63–97, hier 69–72; zu Hirschs Reformationsdeutung vgl. auch Barth, Christologie (Anm. 37), 568–578. 39 Hirsch, Geschichte (Anm. 37), 274; vgl. Köpf, Theologiegeschichte (Anm. 38), 90–92. 40 Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, hg. v. Carl Hinrichs (Friedrich Meinecke Werke 3), München 1965, 15. 41 Ebd. Der Pietismus habe die Individualität eingeschnürt, gleichzeig aber auch aufgerührt und sei ihr damit letztlich doch zugutegekommen. Das neue individuelle Leben wurde, so Meinecke, wiederum Nährboden des Historismus (vgl. ebd., 45–53). 42 Nach Beyreuther versteht man Arnold weder ausgehend vom Spiritualismus noch von Jacob Böhme her vollständig (vgl. Erich Beyreuther, Die Gestalt Mohammeds in Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie, ThLZ 84 [1959], 255–264, hier 258 mit Anm. 7); Dörries urteilt, Beyreuther habe mit dieser Abgrenzung gegen Seeberg und Hirsch recht (vgl. Dörries, Geist [Anm. 2], 108–111 Anm. 118, hier 109). Zur Aufnahme der Arbeit Erich Seebergs in der Nachkriegszeit vgl. etwa Martin Schmidt, Die Interpretation der neuzeitlichen Kirchengeschichte, ZThK 54 (1957), 174–212, hier 185 f.; vgl. Dörries, Geist (Anm. 2), 108–111 Anm. 118, hier 110; 202 Anm. 90. 43 Vgl. Gottfried Arnold, Das Geheimnis der göttlichen Sophia. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Leipzig 1700, Stuttgart-Bad Cannstatt 1963; ders., Historie und Beschreibung der Mystischen Theologie. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Frankfurt 1703 (Gottfried Arnold. Hauptschriften in Einzelausgaben 2), Stuttgart-Bad Cannstatt 1969. Die Ausgabe von 1963 wurde nachträglich vom Verlag als Bd. 1 gezählt; über diese beiden Bände hinaus sind in dieser Reihe keine weiteren Schriften erschienen.
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Auch in Dörries’ unmittelbarem Göttinger Umfeld beteiligten sich in einer Zeit, in der insgesamt die Pietismusforschung eine Renaissance erfuhr,44 andere an der Arnold-Forschung: Hans-Walter Krumwiede hielt 1958 ein Referat zu dem radikalen Pietisten beim Deutschen Evangelischen Theologentag.45 Dörries’ praktisch-theologischer Kollege Martin Doerne, der an Dörries’ Seminarübungen zu Arnold im Wintersemester 1960/61 teilgenommen hatte,46 betreute die Dissertation Traugott Stählins zu Gottfried Arnolds geistlicher Dichtung von 1963, bei der Dörries als Korreferent fungierte.47 Schließlich stellte Dörries’ langjähriger
44 Wallmann nennt Dörries’ Arnold-Buch 1972 und urteilt: „Wir befinden uns momentan in einer sehr intensiven Forschungsperiode. Es sind in den letzten Jahren mehr Bücher über den Pietismus erschienen als in dem halben Jahrhundert zuvor.“ (Johannes Wallmann, Reformation, Orthodoxie, Pietismus, JGNKG 70 [1972], 179–200, hier 191; wieder abgedruckt in: Ders., Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze III, Tübingen 2010, 1–21, hier 12 f.). Martin Greschat betont dabei im selben Jahr, dass der Bereich des radikalen Pietismus in der Forschung „stark zurückgetreten“ sei (Martin Greschat, Zur neueren Pietismusforschung. Ein Literaturbericht, JVWKG 65 [1972], 220–268, hier 251; zu Geist und Geschichte vgl. ebd., 252). Vgl. jetzt Wolfgang Breul, Pietismusforschung seit 1970, in: Ders., Pietismus (Anm. 5), 26–41. 45 Ein Kurzbericht über das Sektionsreferat wurde 1960 veröffentlicht (vgl. Hans-Walter Krumwiede, Zur Theologie von Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie, ThLZ 85 [1960], 223 f.); vgl. Dörries, Geist (Anm. 2), 202 Anm. 90. Krumwiede hatte bei Dörries studiert und war auch als wissenschaftliche Hilfskraft bei ihm beschäftigt, vgl. Hans-Walter Krumwiede, Eine Jugend unter Hitler. Zwischen Christus-Kreuz und Hakenkreuz. Fragmente und Erinnerungen, Norderstedt 2007, 190.196. 46 In Carl Andresens Nachlass befindet sich eine Sammlung von zu Dörries’ 70. Geburtstag erstellten Manuskripten, die nicht als Festschrift, sondern an verschiedenen Stellen erschienen, unter ihnen auch ein Beitrag Doernes (vgl. Martin Doerne, Pascals Pensées in Alexandre Vinets Deutung, ZThK 62 [1965], 403–429) und ein Beitrag des Göttinger Historikers Reinhard Wittram (vgl. Reinhard Wittram, Die Zukunft in den Fragestellungen der Geschichtswissenschaft, in: Ders./ Hans-Georg Gadamer/Jürgen Moltmann, Geschichte. Element der Zukunft. Vorträge an den Hochschultagen 1965 der Evangelischen Studentengemeinde Tübingen, Tübingen 1965, 7–32). Beide Beiträge sind Dörries gewidmet (vgl. Doerne, Pensées [s. o.], 403; Wittram, Zukunft [s. o.], 7. Wittram war ein Teil des Luther-Bandes Dörries’ gewidmet, vgl. Kaufmann, Grundzüge [Anm. 2], 386 f. [mit Lit.]). Ob Andresen ursprünglich eine Veröffentlichung der Beiträge als Festschrift plante, lässt sich aufgrund der vorliegenden maschinenschriftlichen Fassungen nicht sicher entscheiden; da aber die Beiträge bereits 1965, ein Beitrag im Folgejahr, erschienen, müsste er bereits sehr frühzeitig von diesem Projekt Abstand genommen haben (vgl. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Nachlass Carl Andresen, Beiträge für Festschrift zum 70. Geburtstag von Hermann Dörries, Cod. Ms. Andresen S 1). Eine territorialgeschichtlich fokussierte Festschrift gab Krumwiede heraus (vgl. Krumwiede, Festschrift [Anm. 1]). 47 Die Arbeit wurde mit dem Titel „Glaube und Mystik bei Gottfried Arnold. Studien zu Arnolds geistlicher Dichtung als Beitrag zur Hymnologie der spätbarocken Lyrik“ angenommen; am 15. Mai 1963 fand das Rigorosum statt (vgl. Georg-August-Universität Göttingen, Dekanat der Theologischen Fakultät, Kartei der Promotionen, Karteikarte Stählin, Traugott); publizierte Fassung: Traugott Stählin, Gottfried Arnolds geistliche Dichtung. Glaube und Mystik (VEGL 15), Göttingen 1966. Stählin gibt
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Mitarbeiter Ernst Berneburg seine Dissertation zu Arnolds Konstantinbild 1966 fertig; Dörries war Referent in Berneburgs Promotionsverfahren.48 An der Entstehung einer weiteren Dissertation zu einem mit seinen eigenen Interessen verwandten Thema, der Rezeption des makarianischen Schriftguts im niederländischen Pietismus, war Dörries beteiligt.49 Hinweise zum Raum, den Dörries dem Pietismus in seinen weiteren Publikationen widmete, helfen, die Publikation, die im Zentrum dieses Beitrags steht, zu kontextualisieren. Dörries hatte Themen der Theologiegeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts bis zur Veröffentlichung von Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold nicht eingehend in seinen Veröffentlichungen traktiert, hatte aber doch kursorisch den Pietismus bereits bei vorausgegangenen Studien und Darstellungen gestreift. Schwerpunkt des Dörriesschen Interesses war zweifellos Arnolds Makarios-Rezeption. Dörries gibt im Vorwort von Geist und Geschichte 1963 an, sich zunächst für einen Abschnitt der Wirkungsgeschichte des Symeon-Makarios interessiert zu haben, und darüber „zog mich [...] Arnold selber immer stärker an.“ 50 Schon bei seiner Symeon/Makarios-Studie von 1941 hatte er auf die ArnoldRezeption hingewiesen. Dörries sah sich mit seinem Interesse an Makarios in guter Gesellschaft: Makarios’ Geistliche Homilien brächten Trost, sie riefen „‚von den vergänglichen Nichtigkeiten dieser Welt zu Himmlischem‘“,51 sie lehrten „‚gut
an, Dörries habe ihm „durch kritische Ratschläge im Blick auf die grundlegende Konzeption der Arbeit und die Straffung“ seiner „Aussagen im einzelnen [...] zur Seite“ gestanden (ebd., 8). Dörries verweist im Kontext der Interpretation von Arnolds Lied „So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen“ (s. o. Anm. 3) auf die Studie Stählins (vgl. Dörries, Geist [Anm. 2], 197 Anm. 76). 48 Vgl. Ernst Berneburg, Untersuchungen zu Gottfried Arnolds Konstantinbild – zugleich ein Beitrag zu seiner Historiographie, Diss. Göttingen 1966. Die Arbeit wurde am 27. Mai 1967 verteidigt (vgl. Georg-August-Universität Göttingen, Dekanat der Theologischen Fakultät, Kartei der Promotionen, Berneburg, Ernst); eine Verlagsveröffentlichung erfolgte nicht. Berneburg, in dem Dörries einen treuen Mitarbeiter gefunden hatte, war nach eigener Auskunft ab 1956 wissenschaftliche Hilfskraft bei Dörries (vgl. Berneburg, Untersuchungen [s. o.], o. S.). 49 So Andresen, Nachruf (Anm. 13), 50 mit Anm. 5 (mit Lit.). Der Verfasser der Arbeit (vgl. Johannes Hendrikus van de Bank, Macarius en zijn invloed in de Nederlanden. Macarius and His Influence in the Low Countries, [Amsterdam] 1977) erwähnt Dörries in seinem Vorwort und dankt ihm, weil er vor Drucklegung ein Exemplar seiner Theologie des Makarios/Symeon (vgl. Dörries, Theologie [Anm. 21]) zur Verfügung gestellt habe (vgl. van de Bank, Macarius [s. o.], o. S.). 50 Dörries, Geist (Anm. 2), 5. 51 Dörries, Symeon (Anm. 21), 2. Dörries dürfte sich auf die Ausgaben Jean Picots beziehen (vgl. nur die lateinische Ausgabe Makarios, Homiliae Qvinqvaginta, hg. v. Jean Picot, Paris: Guillaume Morel 1559; Exemplar Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, Th Kv G 132 [digit.], vgl. das Vorwort ebd., * 2r–** 6v); vgl. zur Druckgeschichte auch die Hinweise bei Dörries/Klostermann/Kroeger, Homilien (Anm. 30), XLII–XLVI; Hans Schneider, Johann Arndt und die makarianischen Homilien, in: Ders., Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621) (AGP 48), Göttingen 2006, 9–42, hier 11–13.
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und selig zu leben‘“.52 Die Erinnerung daran, dass schon Johann Arndt die Homilien eingeprägt hätte und Arnold sie schließlich in der Volkssprache zugänglich gemacht habe, stellt Dörries an den Anfang seines Buches zu Symeon/Makarios.53 Denn Arnold hatte bekanntlich 1696 eine Ausgabe des Makarios vorgelegt; Arnolds Interesse an der Relativierung der Heilsbedeutung von Sakrament und Kirche überrascht vor dem Hintergrund seiner eigenen theologischen Grundsätze nicht sonderlich.54 In seinem Büchlein über das Bekenntnis in der Geschichte der Kirche würdigte Dörries dann 1946 den Pietismus als legitime Fortführung der Reformation. Der Münchener Kirchenhistoriker Heinrich Hermelink rezensierte und urteilte knapp: „Es scheint mir, daß der Pietismus zu gut, und die Aufklärung zu schlecht behandelt wird.“ 55 Dörries lässt seine Darstellung des Pietismus in ein Referat der Bekenntnisse einer schönen Seele aus Goethes Wilhelm Meister münden: Es mache, so Dörries, die Grundkräfte der Bewegung des Pietismus deutlich: „die Führung durch innere Erfahrung, die an Überliefertem nur das ihr Gemäße aufnimmt, das andere beiseite läßt, ohne Auseinandersetzung und ohne Bekenntnis; Aussprache, aus Gemeinschaftsbedürfnis, ist doch Gefährdung. Bekenntnispflicht gibt es erst bei der Lebensgestaltung [...].“ 56
52 Dörries, Symeon (Anm. 21), 2. Siehe zum Zitat Anm. 51. 53 Vgl. Dörries, Symeon (Anm. 21), 1 f. Zu Arndt und den Geistlichen Homilien vgl. Schneider, Arndt (Anm. 51). 54 Vgl. Gottfried Arnold, Des Heiligen Macarii Homilien/ Oder Geistliche Reden..., Goslar: Johann Christoph König 1696, VD17 1:053241F; Exemplar Staatsbibliothek zu Berlin B 9275 (digit.); zu König vgl. nur David L. Paisey, Deutsche Buchdrucker, Buchhändler und Verleger: 1701–1750 (BBBW 26), Wiesbaden 1988, 138. 55 Heinrich Hermelink, Rezension zu: Hermann Dörries, Das Bekenntnis in der Geschichte der Kirche, ThLZ 74 (1949), 411–414, hier 413; vgl. Hermann Dörries, Das Bekenntnis in der Geschichte der Kirche, Göttingen 1946; vgl. zu dieser auf Vorträgen beruhenden Monographie auch Gemeinhardt, Kirche (Anm. 18), 353–359; Buss, Wissenschaft (Anm. 13), 469–471. 56 Dörries, Bekenntnis (Anm. 55), 77; zu Pietismus und Aufklärung 69–85. Dörries geht in seinem dem Pietismus gewidmeten Abschnitt auf die Hauptvertreter Philipp Jakob Spener, August Hermann Francke und Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf ein und schließt dann mit Ausführungen zu Bekenntnisse einer schönen Seele: Das dort dargestellte Leben vereine gemeinsame pietistische Züge; die Grundkräfte der pietistischen „Bewegung“ seien hier deutlich greifbar (ebd., 77; vgl. 75–77; vgl. Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre [Goethes Werke 7, Romane und Novellen 2], München 101981, 358–420; zu Goethes Verhältnis zur Unparteyischen Kirchenund Ketzerhistorie vgl. Hans Schneider, „Mit Kirchengeschichte, was hab’ ich zu schaffen?“ Goethes Begegnung mit Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie, in: Ders., Aufsätze [Anm. 6], 150–185). Vgl. außerdem Dörries, Geschichte der vocatio zum kirchlichen Amt, in: Georg Hoffmann/Karl Heinrich Rengstorf (Hg.), Stat crux dum volvitur orbis, FS Hanns Lilje, Berlin 1959, 108–130, hier 121–123; wieder abgedruckt in: Dörries, Wort und Stunde III (Anm. 2), 347–386, hier 370–375.
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Nach diesen auf das Dörriessche Œuvre im Allgemeinen und das Arnold-Buch im Speziellen hinführenden Ausführungen folgt nun eine Analyse der ArnoldDeutung Dörries’ in Geist und Geschichte. Da sich Dörries besonders für dessen Makarios-Rezeption interessiert, widmet er ihr ein knappes Viertel seiner Abhandlung. Das Neue an Dörries’ Zugang lässt sich auch hier am Vergleich mit der vorangegangenen Forschungsliteratur beschreiben, denn gegenüber den älteren Arbeiten, etwa von Dibelius und Seeberg, ist die Herausstellung der MakariosRezeption das Spezifikum der Dörriesschen Abhandlung.57 Dörries betont die Stellung des Makarios bei der Rezeption der Alten Kirche durch Gottfried Arnold; nur Augustin komme ihm von der Menge der herangezogenen Stellen, freilich aber nicht an bestätigten und positiv aufgenommenen Referenzen nahe. Makarios diene Arnold als Vorbild und als Lehrmeister, so Dörries. Er arbeitet heraus, dass Arnold sich und seine Quedlinburger Abgeschiedenheit, wie auch die anschließende Hinwendung zum Nächsten, bei Makarios wiederfinde, ja er lese sie zum Teil gegen den Text in Makarios hinein.58 Dörries führt minutiös durch die Interpretationen, die Arnolds MakariosAusgabe bot. Kurze Hinweise zu den in diesem Kontext wichtigsten Werken Arnolds sind notwendig: In wenigen Jahren erschienen neben und nach Arnolds Makarios-Ausgabe Schriften, die für die Rezeption dieses Pietisten von entscheidender Bedeutung waren: die Erste Liebe, die in mehreren Ausgaben ab 1696 erschien und Arnold berühmt machte, schließlich sein wohl bedeutendstes Werk, die Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie, die 1699 und 1700 in zwei Bänden publiziert wurde; von den späten Schriften kommt Arnolds Wahrer Abbildung des inwendigen Christentums von 1709 bei Dörries besondere Bedeutung zu. Dörries hebt auch in diesen Schriften jeweils Makarios-Zitate und -Referenzen hervor. Seine Arbeit geht dabei über ein Register der Makarios-Erwähnungen hinaus, denn er kennt dieses Schriftkorpus so gut, dass er Makarios auch dort zu entdecken vermag, wo sein Name nicht genannt wird. Der Abstand zwischen Alter Kirche und Arnold bleibt Dörries gleichwohl bewusst. Trotz des insgesamt großen Einflusses der Patristik, den Dörries konstatiert, geht es ihm also nicht darum, Arnold aus den Bezügen seiner Zeit zu lösen.
57 Vgl. Dibelius, Arnold (Anm. 36); ders., Arnold (Anm. 36). Dibelius erwähnt die Übersetzung von Homilien des Makarios in seinem Beitrag zur dritten Auflage der Realenzyklopädie nur knapp (vgl. ebd., 123,29). Bisher in der Forschung zu Dörries’ Arnold-Buch im Kontext seiner Forschung zur Geschichte des Mönchtums vgl. Bernd Jaspert, Mönchtum und Protestantismus. Probleme und Wege der Forschung seit 1877, Bd. 2: Von Karl Heussi bis Karl Barth (RBS.S 15), St. Ottilien 2006, 366–371. 58 Vgl. Dörries, Geist (Anm. 2), 162, zur Adaption von Makarios-Zitaten und -Belegstellen vgl. auch ebd., 182 Anm. 44.
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Ausdrücklich bestätigt der Göttinger Kirchenhistoriker die Verortung Arnolds in den Kontexten seiner Zeit. So wird etwa seine Abhängigkeit von Jacob Böhme, die schon Seeberg herausgestellt hatte und die für Hirsch zentral gewesen war, in Geist und Geschichte bekräftigt. Arnold sei, so Dörries, „Kind seines Jahrhunderts. Man verfehlte sein Verständnis, wollte man ihn diesem entnehmen und ihn den ‚Alten‘ zugesellen, zu denen er sich so gerne hielt.“ 59 Aber Arnold „begegnete der fernen Vergangenheit; sie war dem Ursprung des Lebens nahe, nach dem es ihn selbst verlangte“.60 Makarios verweist nach Dörries exemplarisch auf die ganze erste Christenheit; ja sie rede durch ihn. Wie sich die „Kirchen- und Ketzerhistorie [...] zum Anwalt der Stillen im Lande“ 61 mache, so sei Makarios das Vorbild der Stillen im Lande, weil er von prächtigen Bauten und hoffärtigen Ämtern der Weltkirche und auch von bitteren Lehrkämpfen Abstand gehalten habe. Arnold rühmte bekanntlich den Segen, der von den Stillen im Lande ausgehe, in seiner Auseinandersetzung mit Ernst Salomon Cyprian.62 Diesen Stillen im Lande gelte, so Dörries, Arnolds eigentliches Interesse. Nicht auf die Sondergruppen, sondern auf jene, die „Unparteilichkeit und Gemeinschaft über Grenzen und Gegensätze hinweg“ 63 zu ihrer Losung machten, richte er seinen Fokus. Geist und Geschichte steht in Zusammenhang mit Dörries’ vorangegangener MakariosForschung, denn er führt hier seine Arbeit weiter, insoweit er den theologischen Gehalt dieses altkirchlichen Schriftguts ins Zentrum seines Zugangs stellt und von ihm aus einen Zugang zu Arnold findet.64 Über die Makarios-Rezeption habe ihn, so Dörries, folglich auch Arnold selbst immer mehr angezogen. In Bezug auf die wesentlichen Streitfragen der ArnoldForschung, die Stellung der Unparteyischen Kirchen- und Ketzerhistorie und ihr Urteil, schließlich den Zusammenhalt oder das Auseinanderfallen der Stationen im Leben Arnolds, vermochte Dörries eigenständige Urteile zu treffen, die die Neubewertung der Biographie des radikalen Pietisten in der weiteren Forschung des 20. Jahrhunderts begleiteten. Was die Relativierung der Absolutheitsansprü-
59 Ebd., 193. 60 Ebd. 61 Ebd., 26. Zur Auseinandersetzung zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus um das Recht, Anwalt der ‚Stillen im Lande‘ zu sein, vgl. einführend nur Christian Peters, Stille im Lande, RGG 4 7 (2004), 1738. 62 Vgl. Dörries, Geist (Anm. 2), 178. Zur Verteidigung der Stillen im Lande bei Arnold vgl. Gottfried Arnold, Erklaerung/vom gemeinen Secten-wesen/Kirchen- und Abendmahl-gehen ..., Leipzig: Thomas Fritsch 1700; VD17 14:008760U; Exemplar HAB Wolfenbüttel H: S 20.4° Helmst. (digit.), B 2v = 12. 63 Dörries, Geist (Anm. 2), 105; vgl. ebd., 105 f. 64 Vgl. Andresen, Nachruf (Anm. 13), 44.50. Andresen deutet Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold als Anzeichen für Dörries’ theologische Reflexion (vgl. ebd., 49).
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che der Konfessionen anbetrifft, die die Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie darstellt, so ist es Dörries wichtig, zugleich die vermittelnde Position Arnolds herauszustellen: Er sei kein Ketzerpatron, mehr noch als gegen die verketzernde Orthodoxie und die herrschgewaltigen Inhaber des kirchlichen Amtes wende er sich „mit größter Schärfe gegen die Konventikel“;65 die Gefahr, die von kleinen Gruppen ausgehe, sei ungleich größer als jene der „‚offenbarlich bösen und ganz verwerflichen großen Kirchengemeinden‘“.66 Arnold verurteile das Verketzern, rechtfertige aber nicht die Ketzer.67 Auch wenn die Grundgedanken von Arnolds Werk nicht biographisch zu verstehen seien, müsse sich dessen Historiographie an seiner eigenen Geschichte messen lassen. Und in den Stellungnahmen, die Dörries vorführt, zeige sich eben, dass Arnold an der Aufgabe eines geistlichen Lehrers festhalte. Wie Seeberg von Brüchen zu sprechen, gehe deshalb nicht an. Innere Konsequenz und Folgerichtigkeit überwiegen, so Dörries, und es erscheint ihm im Lichte der Arnold-Zeugnisse allenfalls sinnvoll, von einer Phase der Klärung und einem Wandel zu sprechen, der ihn schließlich das Pfarramt habe anstreben lassen.68 In Arnolds Aussagen zeige sich, so Dörries, dass Arnold an der Aufgabe eines geistlichen Lehrers festhalte, von überkommenen Bindungen abberufe, aber nicht zur Selbstvollendung, sondern zur Verantwortung für andere hinführe. Dörries wertet Arnolds Rückkehr ins Pfarramt als konsequente Vollendung seines Lebens. Arnold habe „in häufiger Rückbesinnung die Stationen seines Weges bedacht“.69 Sein Leben ver-
65 Dörries, Geist (Anm. 2), 26; vgl. ebd. 66 Dörries, Geist (Anm. 2), 16. Dörries zitiert aus dem „Beschluß dieser Kirchen- und Ketzerhistorie“, mit dem der zweite Teil des ersten Bandes endet (vgl. Gottfried Arnold, Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie..., Teil 2, [Leipzig]/Frankfurt am Main: Thomas Fritsch 1699; VD17 12:116527G; Exemplar HAB Wolfenbüttel H: S 87.2° [digit.], Yyy 3r–Yyy 4v = 725–728, hier Yyy 3v = 726). 67 Vgl. Dörries, Geist (Anm. 2), 194; vgl. ähnlich Albrecht Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts, 1. Abteilung, Bonn 1884, Nachdr. Berlin 1966, 294–322, hier 311. Zu Ritschls Geschichte des Pietismus vgl. von der Literatur nur Wallmann, Reformation (Anm. 44) (1972), 179–185; (2010), 1–6; zu Aspekten des Arndt-Bildes bei Ritschl vgl. Maren Bienert, Das 17. Jahrhundert als Gegenstand theologischer Wahrnehmung. Albrecht Ritschls Geschichte des Pietismus (1880–1886), in: Mona Garloff/Christian Volkmar Witt (Hg.), Confessio im Konflikt. Religiöse Selbst- und Fremdwahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Ein Studienbuch (VIEG.B 129), Göttingen 2019, 279–305. Ob Dörries der Schärfe des Arnoldschen Urteils gegen die Ketzermeister, auch in Hinblick auf dessen Urteil über die Reformation und die lutherische Kirche seiner Zeit, gerecht wird, wäre zu fragen. Zweifellos legt Dörries keinen Schwerpunkt auf die Invektiven Arnolds gegen die Kirche seiner Zeit (vgl. so etwa die Aussagen von Arnold, Ketzerhistorie, Teil 1 [Anm. 66], A 2v = 4). 68 Vgl. Dörries, Geist (Anm. 2), 91 f. Anm. 88; im Vergleich hierzu Seeberg, Anschauung (Anm. 33), 283 f. 69 Dörries, Geist (Anm. 2), 195.
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stehe er als zusammenhängend durch ein früh gebildetes Ideal und den lenkenden Geist. Insoweit könne an seiner eigenen Biographie sein Verhältnis zur Geschichte begriffen werden. Der Geist wirke doppelt: Er entnehme ihn, Arnold, der Tyrannei der Geschichte und erschließe ihm den rechten Zugang zur geschichtlichen Welt. Das teleologische Geschichtsbild, das Dörries bei Arnold angelegt sieht, findet sich so auch in der Biographie wieder.70 Die Zeit der Zurückgezogenheit, Arnolds zweiter Aufenthalt in Quedlinburg, bereite den Weg zu einer neuen Aufgabe. Diese radikale Phase, nach Seeberg der Bruch in Arnolds Leben, ist somit doch untrennbar mit dem eigentlichen Zentrum des Wirkens dieses Pietisten verbunden, dem Dienst am Nächsten. Denn Separatismus habe nicht Arnold, sondern erst „sein ihm geistesfremder Schüler“ 71 Johann Konrad Dippel gelehrt. Gegen Albrecht Ritschl und die Arnold-Deutung in dessen Geschichte des Pietismus, in der die Willkür Arnolds gegen die lutherische Kirche angeprangert und Arnold abgesprochen wird, Kirche zu lehren, vermag Dörries keinen Separatismus bei Arnold zu erkennen.72 Während Ritschl eine Kontinuität in der theologischen Entwicklung Arnolds konstatierte, die allerdings Mystik und christliche Frömmigkeit nur „nach lutherischer Formel“ 73 lehre und „über die Linie des Werthes innerlicher Frömmigkeit“ 74 hinaus nichts mit dem Luthertum gemein habe, ist es zwar auch nach Dörries’ Interpretation kein Auseinanderfallen der Biographie Arnolds, sondern vielmehr ein sich anbahnender und einer inneren Konstanz folgender Weg, der sich auch durch seine Schriften ziehe, der ihn aber gleichwohl zum Luthertum hinführe und Arnold nicht als Scheinlutheraner, der nur in politischer Hinsicht dem Luthertum zugehörig sei, enden lässt.
70 Vgl. ebd., 195. „Den schönsten Ausdruck“ habe Arnolds Verständnis der Geschichte im Lied, in So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen (s. o. Anm. 3), gefunden, dem „‚tiefsinnigste[n] Lied unseres Gesangbuchs‘“ (ebd., 197; Zitat nach einem Brief Karl Müllers von 1933, vgl. ebd., 197 Anm. 76; siehe zu Karl Müller und der Korrespondenz Müllers mit Dörries von 1933 auch oben bei Anm. 4). 71 Ebd., 103 Anm. 104. Zu Dippel vgl. Stephan Goldschmidt, Johann Konrad Dippel (1673–1734). Seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung (AGP 39), Göttingen 2001. Zur Zurückweisung des Gedankens, dass Arnold ein Spiritualist sei, vgl. auch Dörries, Geist (Anm. 2), 27. 72 Vgl. ebd. Zu Ritschls Arnold-Bild vgl. Ritschl, Geschichte (Anm. 67), bes. 311.314. 73 Ritschl, Geschichte (Anm. 67), 320. 74 Ebd. Hier auch die sowohl von Ritschl als auch von Dörries abweichende Deutung Erich Seebergs, s. o. Anm. 68.
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4 Zur Rezeption und zur weiteren Forschung Dörries’ Geist und Geschichte wurde in Literaturberichten verzeichnet und in weiteren Forschungsbeiträgen aufgenommen. Soweit ich sehe, gibt es nur eine Rezension, die dem Buch gewidmet ist; verfasst hat sie der Marburger Kirchenhistoriker Winfried Zeller. Zeller war mit einer 1940 veröffentlichten Abhandlung über Valentin Weigel in Berlin bei Erich Seeberg promoviert worden, der in dieser Zeit auch für ihn gutachtete; Zeller unterstützte Seebergs Verbleib in Berlin, als dieser von der dortigen Universität versetzt werden sollte.75 Wenn Zeller darauf hinweist, dass Arnolds „sprunghafte Entscheidungen nicht minder als seine genialen unbürgerlichen Charakterzüge den Nachweis einer geradlinigen Entwicklung schwierig“ 76 machten, so lässt er damit Zustimmung zu dem Bild anklingen, dass sein Lehrer und Förderer Seeberg von Arnolds Biographie gezeichnet hatte. Vor dem Hintergrund der Forschung, er nennt Schmidt, Beyreuther und Krumwiede,77 identifiziert Zeller zwei Schwerpunkte der Forschung: Zum einen gehe sie der Frage nach, inwieweit Arnold Begründer einer säkularen Kirchengeschichtsschreibung sei, zum anderen frage sie nach der Vereinigung von Werk und Leben bei Arnold und danach, wie er in die Geschichte des Pietismus einzuzeichnen sei.78 Dörries setze, so der Rezensent, bei der Frage nach der Verbindung von Werk und Leben so ein, dass er die abrupten Wechsel, die Arnold vollzogen
75 Vgl. Winfried Zeller, Die Schriften Valentin Weigels. Eine literarkritische Untersuchung (HS 370), Berlin 1940. Zeller (vgl. nur Inge Auerbach [Hg.], Catalogus professorum academiae Marburgensis. Die akademischen Lehrer der Philipps-Universität Marburg, Bd. 2: Von 1911 bis 1971 [VHKH 15], Marburg 1979, 54 f.) verdankte, so gibt er im Vorwort an, Erich Seeberg die Anregung zu seiner Lizentiatsschrift (vgl. Zeller, Schriften [s. o.], 3). Seeberg gutachtete auch für Zeller gegenüber dem Reichsamtsleiter Walter Schultze vom NS-Dozentenbund München, als dieser an der von Ernst Benz (1907–1978; s. u. bei Anm. 80–83) verantworteten Eckart-Ausgabe mitarbeiten wollte und hierfür gegenüber dem Reichsamtsleiter vom NS-Dozentenbund in München ein Gutachten für ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft benötigte (vgl. Kurt Meier, Die Theologischen Fakultäten im Dritten Reich, Berlin/New York 1996, 342 mit Anm. 4); Zeller scheint dieses Stipendium nicht erhalten oder angetreten zu haben (vgl. Auerbach, Catalogus [s. o.], 55). Zu Zellers Eingabe den Verbleib Seebergs an der Humboldt-Universität Berlin bei der drohenden Abordnung nach Marburg betreffend vgl. Kaufmann, Anpassung (Anm. 33), 262–264 Anm. 698, hier 263, vgl. auch 127 Anm. 13. 76 Winfried Zeller, Rezension zu: Hermann Dörries, Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold, ZRGG 18 (1966), 289 f., hier 290; vgl. zu dem Marburger Kirchenhistoriker Winfried Zeller (1911– 1982) neben Anm. 75 (mit Lit.) nur Rudolf Mohr, Theologie und Frömmigkeit in der Kirchengeschichte. Zum Werk Winfried Zellers, JHKGV 23 (1972), 197–211. 77 Zu Beyreuther s. o. Anm. 42; zu Krumwiede s. o. Anm. 45. 78 Vgl. Zeller, Rezension (Anm. 76), 289 f.
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habe, nach Zeller, der hier Seeberg folgt, „oft sprunghafte Entscheidungen“,79 weniger als schwer begreifbare Brüche, sondern als biographische Wegscheiden, als stufenförmige Verwirklichungen seines pietistischen Lebensgefühls deute. Gegenüber der im Ganzen stärker die Kontinuität in Arnolds Biographie ins Zentrum stellenden Deutung Dörries’ zeigt sich Zeller insgesamt zurückhaltend. Interessant ist, dass sich zeitgleich mit dem Göttinger auch ein Marburger Kirchenhistoriker, Ernst Benz, der Rezeption des Makarios zuwandte: Neben Dörries, der nach eigenem Bekunden über die Makarios-Rezeption zu Arnold hinfand, widmete sich Benz der Arbeit Arnolds, als er die Makarios-Rezeption im 17. und 18. Jahrhundert untersuchte. Das auf einen Mainzer Akademievortrag von 1961 zurückgehende Manuskript wurde zwei Jahre später, im selben Jahr wie Dörries’ Arnold-Buch, gedruckt.80 Benz interessierte sich für Makarios-Spuren in einem größeren zeitlichen und geographischen Zusammenhang und zeichnet sie als Teil der Wiederentdeckung der christlichen Mystik, die vom radikalen Pietis-
79 Vgl. Zeller, Rezension (Anm. 76), 290. 80 Vgl. Ernst Benz, Die protestantische Thebais. Zur Nachwirkung Makarios des Ägypters im Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa und Amerika (AAWLM.G 1963,1), Wiesbaden 1963; zur Wiederentdeckung der Mystik im 17. und 18. Jahrhundert ebd., 7–9. Jaspert vermerkt die Gleichzeitigkeit der beiden Beiträge; sie seien, so Jaspert, unabhängig voneinander entstanden (vgl. Jaspert, Mönchtum [Anm. 57], 366; zu Die protestantische Thebais 621–631). Zu einigen Aspekten der Editionsgeschichte bei Benz vgl. Schneider, Arndt (Anm. 51), 13 Anm. 27. Arnold deutete die Rückkehr von Gießen nach Quedlinburg als eremitische Thebais (vgl. Schneider, Pietismus im 17. Jahrhundert [Anm. 6], 415). Zu Dörries und Benz findet sich bei Karl Müller die folgende Einordnung, die eine Bearbeitung und Fortsetzung seiner Kirchengeschichte betraf: „Wie anders ist das als mit der Fortsetzung von KG! Ich habe die Hoffnung aufgegeben, daß das MA noch einmal zu Stande komme. Wo findet sich denn noch jemand dafür außer Dörries, der aber eben mit anderem noch nicht fertig ist und so gründlich arbeitet, daß er nicht fertig wird? Ja Benz! Aber wer wird einen noch so begabten Schüler E. Seebergs an seine alten Produkte hinlassen wollen!“ (Karl Müller an Hans Lietzmann, 3. Oktober 1937, Kurt Aland [Hg.], Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann [1892–1942], Berlin/New York 1979, Nr. 1025, 902 f. hier 903). Müller zog schließlich Hans von Campenhausen zu seiner Arbeit an diesem Lehrwerk hinzu. Bei der schließlich 1941, nach dem Tode Müllers, erschienenen dritten Auflage der Kirchengeschichte beteiligte sich Dörries an den Korrekturen (so Hans von Campenhausen, Vorrede, in: Karl Müller, Kirchengeschichte, Bd. 1, 1. Halbbd., Tübingen 31941, IX). Zu Seebergs Rolle bei der Berufung Benz’ nach Marburg vgl. Kaufmann, Anpassung (Anm. 33), 242 f. mit Anm. 623. An einen in diese Zeit fallenden Konflikt um Seebergs LutherBuch zwischen Seeberg und Lietzmann, in den Hirsch als Rezensent verwickelt war, erinnert jetzt Christoph Markschies, Kirchenhistoriker als Herausgeber der „Theologischen Literaturzeitung“. Überlegungen zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft einer Rezensionszeitschrift (ThLZ.F 38), Leipzig 2021, 141–156; vgl. auch Kaufmann, Anpassung (Anm. 33), 222 f.; Martin Keßler, Luthers Schriften für die Gegenwart. Drei konkurrierende Editionsvorhaben in den 1930er und 1940er Jahren, Tübingen 2019, 79–82.
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mus ihren Anfang nahm.81 Neben Arnold untersucht er die Rezeption bei John Wesley und auch im nordamerikanischen Pennsylvania.82 Ebenso wie Dörries stellt Benz die Makarios-Rezeption in Beziehung zum Lebenslauf Arnolds, wenn er den Lobpreis des Makarios in einen unmittelbaren Zusammenhang mit Arnolds Hinwendung zu einem schroffen Spiritualismus bringt: Arnold habe bei Makarios das Ideal des praktischen Christentums, ein radikales Heiligungs- und Vollkommenheitsstreben, als Zentrum entdeckt.83 Jürgen Büchsel weist in seiner Marburger Dissertation, die Benz anregte und die dem Zusammenhang von Wiedergeburt und Kirche in Arnolds Werk nachgeht,84 die Vorstellung zurück, dass das Leben Arnolds durch drei Brüche gekennzeichnet sei. Er folgt insoweit der Kritik an Erich Seebergs Konzeption, beklagt aber, dass Dörries durch die Ausklammerung der radikalen Phase einen „noch viel stärkeren Bruch entstehen“ lasse.85 Büchsel findet in Arnolds Abbildung eine Synthese früherer Positionen.86 Für die Entwicklung zum radikalen Pietismus hat
81 Benz, der als Schüler Erich Seebergs in die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik verstrickt gewesen war, folgte damit in gewisser Hinsicht dem Programm seines Lehrers Seeberg, vgl. zu Benz Auerbach, Catalogus (Anm. 75) 8 f.; Andreas Lippmann, Marburger Theologie im Nationalsozialismus (Academia Marburgensis 9), München 2003, 42 Anm. 127; 229–231.244–249; passim. Zu Benz’ Einfluss, seinen Kontakten und seiner Beteiligung an nationalsozialistisch orientierter Wissenschaftspolitik vgl. Kaufmann, Anpassung (Anm. 33), 226 f. Anm. 559; passim. 82 Zu Arnold vgl. Benz, Thebais (Anm. 80), 10–25. Dass die Kontakte zum nordamerikanischen Raum in dieser Zeit in Benz’ Œuvre einen gewichtigen Raum einnehmen, mögen die beiden folgenden, im Abstand eines Jahrzehnts veröffentlichten Aufsätze zeigen: Ernst Benz, Ecumenical Relations between Boston Puritanism and German Pietism. Cotton Mather and August Hermann Francke, HTR 54 (1961), 159–193 (dieser Aufsatz geht auf einen Vortrag an der Harvard Divinity School und der Episcopal Theological School zurück, vgl. ebd., 159 Anm. *); ein Hinweis darauf, dass auch Benz das bei Dörries zu beobachtende Programm einer Öffnung zur nordamerikanischen Wissenschaft vertrat (von den prominenten deutschsprachigen Theologen vergleichend nur Ebelings Vorlesungstätigkeit in den USA in dieser Zeit, vgl. Albrecht Beutel, Gerhard Ebeling. Eine Biographie, Tübingen 2012, 237–242). Vgl. daneben Benz, Pietist and Puritan Sources of Early Protestant World Missions, ChH 20, H. 2 (1951), 28–55 (zum Kontext, in dem dieser Beitrag entstanden ist, vgl. ders., Relations [s. o.], 159 f.). Dörries lehrte im Wintersemester 1958/1959 an der Yale University, und nahm auch eine Einladung des National Lutheran Council an, vgl. Universitätsarchiv Göttingen, Personalakte Hermann Dörries, UniA GÖ Kur. 10165, Bd. 2, Bl. 1–12. Zu Dörries’ wohl im Wesentlichen aus Vorträgen auf dieser Reise hervorgegangenem Beitrag zu Luthers Verständnis der Geschichte und weiteren Aspekten des Verhältnisses zur amerikanischen Wissenschaft vgl. die Hinweise bei Kaufmann, Grundzüge (Anm. 2), 381 f. 83 Vgl. Benz, Thebais (Anm. 80), 14.16. 84 Vgl. Jürgen Büchsel, Gottfried Arnold. Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt (AGP 8), Witten 1970, 5. 85 Ebd., 21; vgl. ebd., 20–22. 86 Vgl. ebd., 201–203.
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er in einer jüngeren Veröffentlichung Unterschiede zwischen den Auflagen der Makarios-Ausgaben von 1696 und 169987 als Belege angeführt: Die Beschäftigung mit Makarios sei ein Element, an dem sich die Radikalisierung Arnolds zeige.88
5 Ausblick Einige knappe resümierende und weiterführende Anmerkungen sind sinnvoll. Die Frage nach der Kontinuität zwischen den Schriften, die vor der Gießener Zeit entstanden – insbesondere Arnolds Erste Liebe – und dem mystischen Spiritualismus, der die Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie präge, ist in der Forschung der letzten Jahre weiter diskutiert worden, wobei insgesamt primär in Arnolds Schriften Spuren seiner theologischen Entwicklung aufgesucht wurden. Denn die Anfänge bestimmter Gedankengänge des einen Arnold nachzuzeichnen, scheint gelegentlich wichtiger als die Schriften in ihren jeweiligen Kontexten zu verorten und zu interpretieren.89 Dass Dörries darüber hinaus bleibende Bedeutung zukommt, weil er in Geist und Geschichte für einzelne Schriften Arnolds minutiöse
87 Vgl. Gottfried Arnold, Ein Denckmahl Des Alten Christenthums Bestehend in des Heil. Macarii und anderer Hocherleuchteten Männer aus der Alten Kirche Höchsterbaulichen und Außerlesenen Schrifften, Goslar: Johann Christoph König 1699; VD17 23:243235F; Exemplar Staatliche Bibliothek Regensburg 999/Patr.239 (digit.). Zu der Makarios-Ausgabe von 1696 s. o. bei Anm. 54. 88 Vgl. Jürgen Büchsel (Hg.), Gottfried Arnolds Weg von 1695 bis 1705. Sein Briefwechsel mit Tobias Pfanner und weitere Quellentexte (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien 12), Halle 2011, bes. 20–22. 89 So postuliert Katharina Greschat, dass Arnolds Erste Liebe (vgl. Gottfried Arnold, Die Erste Liebe, hg. v. Hans Schneider [KTP 5], Leipzig 2002) „in nuce sämtliche Grundgedanken“ der Unparteyischen Kirchen- und Ketzerhistorie enthalte (Greschat, Ketzerhistorie [Anm. 6], 52). Die Frage, was die Entscheidung, ob es sich um ‚Brüche‘, um ‚Wandlungen‘ oder um Modifikationen (so Greschat, die davon ausgeht, Arnold habe seine Überzeugungen „den Gegebenheiten entsprechend modifiziert“, ebd., 47) in Arnolds Lebenslauf oder seinen Anschauungen handele, für die zeitgenössische Wahrnehmung der Schriften auszutragen verheißt, übersteigt den Rahmen dieses Aufsatzes, wäre aus meiner Sicht aber vornehmlich zu beantworten. Ohne die Diskussion erneut aufgreifen zu wollen, sei vielleicht darauf hingewiesen, dass der graduelle Unterschied, den die ältere Forschung zwischen Erster Liebe und Unparteyischer Kirchen- und Ketzerhistorie wahrzunehmen vermochte, in der Konsequenz, auch die Reformation mit einer immerhin ein Viertel des gesamten Unternehmens umfassenden ‚unparteiischen‘ Historie zu dekonstruieren, liegt (vgl. so schon knapp bei Schneider, Nachwort, in: Arnold, Erste Liebe [s. o.], 187–208, hier 192; in diese Richtung zielt auch Oelke, vgl. Harry Oelke, Martin Luther und die Reformation in Gottfried Arnolds „Unparteiischer Kirchen- und Ketzerhistorie“, in: Jörg Haustein/ders. [Hg.], Reformation und Katholizismus. Beiträge zu Geschichte, Leben und Verhältnis der Konfessionen, FS Gottfried Maron [RNZ 2], Hannover 2003, 200–221).
Dörries’ Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold im Kontext der Arnold-Forschung
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Einzelbeobachtungen zusammentrug, zeigt sich in der historisch-kritischen Edition seines Offenherzigen Bekenntnisses.90 Die Vermischung von biographischen Etappen und dezidiert theologischen und historiographischen Entwicklungslinien erinnert vielleicht nicht zufällig an die Diskussionen zur Entwicklung anderer Theologen der protestantischen Tradition und des Pietismus. So zeigen sich durchaus Parallelen etwa zu dem Pietisten August Hermann Francke, der, bevor er in Glaucha in das Pfarramt berufen wurde und an der Universität Halle zu lehren begann, bekanntlich auch eine ‚radikale Phase‘ durchlief und mit dem Eintritt in diese Ämter, für deren Vermittlung ihn Philipp Jakob Spener nach Berlin beorderte, zögerte.91 Dörries’ Geist und Geschichte wird man aus meiner Sicht weniger gerecht, wenn man seine Deutung Arnolds ausgehend von den ‚Wandlungen‘, denen er für dessen Leben breiten Raum einräumt, als ein Auseinanderfallen seiner Biographie beschreibt. Denn die Doppelheit der „Frontstellung der Kirchen- und Ketzerhistorie“,92 die Dörries konstatiert, findet er ja schließlich zumindest auch in der Gegenüberstellung von geschichtslosem Traditionalismus und Enthusiasmus in der Arnoldschen Spätschrift über das Inwendige Christentum wieder und schafft somit in Arnolds Werk einen Rahmen, der sein Leben zusammenhält. Was gilt Dörries als das ‚Bleibende‘, das uns Werk und Leben Arnolds lehren können? Arnolds Theologie ist nicht unsere. Er wird weithin bestimmt von der geistigen Luft, die er atmet, redet die Sprache seiner Zeit und bedient sich, ohne festgelegte Begrifflichkeit, der Denkformen und Vorstellungen seiner Umwelt. Die Systeme samt ihren Schulworten verbrauchen sich rasch und lösen einander ab, selten für mehr als Einzelerkenntnisse einige Dauer erlangend. [...] Aber die Bewegung seines Denkens von der früheren zur späteren Gestalt, die Richtung der über den Erfahrungen und Einblicken seines Lebens vollzogenen Wandlungen verdient alle Beachtung, und hier lassen sich Einsichten gewinnen, die auch für uns Bedeutung gewinnen können.93
90 Vgl. [Gottfried Arnold], Offenhertzige Bekäntniß, hg. v. Dietrich Blaufuß, in: Antje Missfeldt (Hg.), Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter, Köln/Weimar/Wien 2011, 191–261, hier passim. 91 Zu Francke vgl. Veronika Albrecht-Birkner/Udo Sträter, Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke, in: Breul/Meier/Vogel, Pietismus (Anm. 7), 57–84. Zur Diskussion um den für die protestantische Tradition wohl wichtigsten Protagonisten, dessen Wirken anhand seiner Biographie geordnet und bewertet wurde, Martin Luther – für diese Diskussion kann auch bei Arnold Anhalt gefunden werden (für diesen Aspekt aufschlussreich Oelke, Luther [Anm. 89]) –, vgl. nur Thomas Kaufmann, Fragmentarische Existenz. Der „alte“ und der „junge“ Luther als theologisches Problem, in: Ders., Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (SHR 67), Tübingen 22018, 589–605. 92 Vgl. Dörries, Geist (Anm. 2), 13–20 (Zitat ebd., 13). 93 Ebd., 5.
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Gewiss wird man konstatieren dürfen, dass Arnold, wie er in seiner akademischen Lehramts- und in seiner Pfarramtszeit waltete und wirkte, die besondere Aufmerksamkeit des Göttinger Kirchenhistorikers und treuen Kindes seiner Landeskirche genießt.94 Denn so wie Arnolds Interesse nach Dörries der Kritik an der Verketzerung gewidmet gewesen sein soll,95 so bleibt das Arnold-Bild, das Dörries zeichnet, konsequent seinen historiographischen Grundsätzen und ethischreligiösen Leitlinien treu. Und diese Grundsätze und Leitlinien führten Gottfried Arnold nach der Lesart und Interpretation des Patristikers und Kirchenhistorikers Hermann Dörries aus tiefer Überzeugung in den Schoß ‚seiner‘ Kirche und in das Wirken im Pfarramt. Die Forschung ist Dörries in dem Urteil, dass die Wahrnehmung von Arnolds Kritik an der Kirche seiner Zeit der „Hauptabsicht“ 96 der Unparteyischen Kirchen- und Ketzerhistorie zuwiderlaufe, also nicht eigentlich vom Verfasser intendiert sei, nicht gefolgt. Dörries mochte in den entsprechenden Urteilen von Arnolds Zeitgenossen nur Fehlwahrnehmungen der Kirchen- und Ketzerhistorie zu entdecken. Weniger den Inhalten als vielmehr dem Weg, der Entwicklung des radikalen Pietisten Arnold, konnte Dörries bleibende Bedeutung abgewinnen. So schließt sich nach drei Jahrzehnten auch ein Kreis, wenn Dörries am Ende seines Buches selbst seine eigene Geschichte mit Arnolds Werk verbindet, indem er an die früheste belegbare Verbindung, die sich zwischen ihm und dem Werk des radikalen Pietisten ausmachen lässt, das Arnold-Zitat Karl Müllers von 1933, anknüpft und So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen als Schlusswort, als „schönsten Ausdruck“ 97 von „Arnolds Verständnis der Geschichte“ 98 zur Deutung von Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold heranzieht.
94 Dörries’ Beziehung zu seiner, der Landeskirche Hannovers, untersucht Hans Otte in seinem Beitrag im vorliegenden Band. 95 Dörries konnte in Arnolds Kritik an der „Absonderung von dem einen unparteiischen Meister“ (Dörries, Geist [Anm. 2], 194) das Aufleuchten der Idee einer ökumenischen Kirchengeschichte sehen (vgl. ebd., 194 Anm. 71; vgl. auch Ernst Benz, Kirchengeschichte in ökumenischer Sicht [OeS 3], Leiden 1961, 46). 96 Dörries, Geist (Anm. 2), 200: „Man hielt sich dabei an das Auffallendste, Arnolds Angriff auf die herrschsüchtige Klerisei und sein Eintreten für die Verketzerten. Das war nicht einfach ein Mißverständnis, verkannte aber die Hauptabsicht des Werkes, seine Warnung, sich einer der Parteien, großen wie kleinen, auszuliefern.“ Von den gegenwärtigen Zugriffen vgl. knapp Vogel, Arnold (Anm. 6), 143. 97 Ebd., 197. 98 Ebd., vgl. ebd., 197–199.
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Grundzüge des Lutherverständnisses Hermann Dörriesʼ, vor allem anhand des dritten Bandes seiner Aufsatzsammlung Wort und Stunde dargestellt 1 Einleitende Überlegungen zum Umgang mit der eigenen Vergangenheit Zu Luther bin ich gekommen in der Krise des Jahres 1933, als gegenüber dem Angriff des ‚Neuen‘ das mitgebrachte Erbe des 19. Jahrhunderts sich mir als nicht widerstandsfähig erwies und es galt, festes Gestein zu erreichen. Erst bei Luther fand sich der sichere Standort.1
Diese Aussage des 74-jährigen Göttinger Kirchenhistorikers im Vorwort seines Luther-Bandes ist in mehrfacher Hinsicht interessant: Zum einen setzt sie als unbezweifelbar voraus, dass das Symboljahr „1933“ negativ, als „Krise“, bewertet werden müsse; zum anderen enthält sie eine konservativ-traditionalistische Selbstpositionierung als jemand, der 1933 dem „Erbe“ des 19. Jahrhundert verpflichtet gewesen und durch das „‚Neue‘“ attackiert, erschüttert und überwältigt worden sei. Erst durch Luther, zu dem Dörries, Orientierung suchend, nun gekommen sei, habe sich das geändert. Was das „Erbe“ des 19. Jahrhundert – gewiss eine Chiffre für den theologischen Liberalismus bzw. den Historismus – nicht vermocht habe, nämlich ‚Widerstandsfähigkeit‘ zu mobilisieren, habe die Beschäftigung mit Luther bewirkt.
1 Hermann Dörries, Wort und Stunde (= WuS), Bd. III: Beiträge zum Verständnis Luthers, Göttingen 1970, [V.] (Vorwort, dat. 14. 10. 1969). Die Aufsätze, aus denen im Folgenden zitiert wird, sind: Hermann Dörries, Luthers Verständnis der Geschichte, in: Ders., WuS III, 1–83. Hermann Dörries, Augustin als Weggenosse Luthers, in: Ders., WuS III, 84–108. Hermann Dörries, Gottesgehorsam und Menschengehorsam bei Luther, in: Ders., WuS III, 109– 194. Hermann Dörries, Luther und das Widerstandsrecht, in: Ders., WuS III, 195–270. Hermann Dörries, Geschichte der vocatio zum kirchlichen Amt, in: Ders., WuS III, 347–386. Hermann Dörries, Ludwig Harms, in: Ders., WuS III, 387–420. Hermann Dörries, Karl Müller und sein Werk, in: Ders., WuS III, 421–457. Anmerkung: Der Erstabdruck des Vortrags erfolgte in: Thomas Kaufmann, Aneignungen Luthers und der Reformation. Wissenschaftsgeschichtliche Beiträge zum 19.–21. Jahrhundert, unter Mitwirkung von Marlene Pape hg. von Martin Keßler (CMW 2), Tübingen 2022, 371–395. https://doi.org/10.1515/9783110690095-011
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Im Grunde präsentierte sich Hermann Dörries in diesem Rückblick als das, was auch der Vorstand der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte2 und der schwedische Kollege Ragnar Bring3 in ihm sehen zu können meinten und aus Anlass seines 70. Geburtstages mitteilten: einen Gegner des nationalsozialistischen Staates.4 Dass diese insbesondere für die kollektive Disposition akademischer Eliten der Bundesrepublik Deutschland in den späten 1960er Jahren charak-
2 Schreiben des Vorstands der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte zum 70. Geburtstag (17. 7. 1965), Privatarchiv Roggenkamp und Kaufmann (im Folgenden mit „PARK“ zit.). Der Vorstand erklärt, dass Dörries „einer Dogmatisierung der Historie ebenso abhold“ gewesen sei „wie einem tiefelosen Pragmatismus“ und dankt dem Jubilar, dass er ab 1933 dem „Mythos von Blut und Boden“ entgegengetreten sei. Der Kampf gegen den Deutschglauben habe Dörries „sehr heftige persönliche Angriffe eingetragen und zu der Forderung ihrer [sic] Abberufung geführt“; Abdruck in: JGNKG 63, 1965, 9 f. Die Hermann Dörries betreffenden Materialien, die sich derzeit noch in meinem Besitz befinden, entstammen dem Nachlass von Dr. Ernst Berneburg, des letzten Assistenten und langjährigen Amanuensis von H. Dörries. Herr Berneburg war meiner Frau Antje Roggenkamp und mir aus dem Kirchengeschichtlichen Doktorandenkolloquium in Göttingen und sonstigen persönlichen Begegnungen bekannt; in seinem Testament waren wir in Bezug auf seine Bibliothek hinter dem Kloster Loccum, wo Berneburg als Archivar und Bibliothekar tätig war und weiteren ehemaligen Göttinger Assistenten der Kirchengeschichte an letzter Stelle berücksichtigt. Als wir die Hinterlassenschaft in Augenschein zu nehmen aufgefordert wurden, gab es nurmehr wenige Bücher; doch in den Kellern des Berneburgschen Hauses in Hannover-Kleefeld standen einige Kisten mit handschriftlichen Materialien, aus denen wir einiges sichern und in unseren Besitz überführen konnten. Meine Frau hat daraus bisher Materialien aus dem Nachlass von Hermann Schuster, eines ehemaligen Lehrers Hermann Dörries’ (Ruth Slenczka [Hg.], Die „Murren“ des Hans Freiherr von Campenhausen. „Erinnerungen, dicht wie ein Schneegestöber“. Autobiographie, Norderstedt 2005, 160) und ich habe daraus einen Brief Emanuel Hirschs an Dörries und dessen Antwort publiziert (Thomas Kaufmann, Anhang zu: Evangelische Kirchenhistoriker im ‚Dritten Reich‘. Anmerkungen zu generationsspezifischen Bedingungen und Dispositionen, in: Ders./Harry Oelke [Hg]., Evangelische Kirchenhistoriker im ‚Dritten Reich‘ [VWGTh 21], Gütersloh 2002, 32–62, hier: 55–62). Aus diesem Bestand stammende Vorlesungsmitschriften haben wir 1996 an das Universitätsarchiv [UA] Göttingen abgegeben; Bestandverzeichnung unter „Nachlass Ernst Berneburg“ (Cod. M Berneburg) über Kalliope einsehbar. 3 „Während des Zweiten [sc. Weltkrieges] haben Sie [sc. Dörries] sich ebenso tapfer [sc. wie im Ersten] gezeigt – aber dann auch durch die schwerere Aufgabe, in Opposition gegen ihre Regierung zu stehen.“ PARK. 4 Zu punktuellen Konflikten mit der NS-Wissenschaftsadministration im Spiegel seiner Personalakte (UA Göttingen Theol. PA 0102, Dörries Hermann) vgl. Kaufmann, Kirchenhistoriker (Anm. 2), 47 Anm. 35. Der nicht zuletzt von Wiegmann verbreiteten, wohl auf mündliche Äußerungen von Dörries (Robert P. Ericksen, Die Göttinger Theologische Fakultät im Dritten Reich, in: Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, München/London u. a. 1987, 61–67, hier 64; aufgenommen von Torsten-Wilhelm Wiegmann, Hermann Dörries, ein Göttinger Theologe als Lehrer und Forscher in der Zeit des Nationalsozialismus, in: JGNKG 91, 1993, 121–149, hier 129 f. mit Anm. 41) zurückgehenden These einer Denunziation durch Hirsch stehen anderslautende Quellennachweise entgegen.
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teristische Sicht auf die eigene Rolle im NS-Staat nicht ohne weiteres mit jenen Befunden harmoniert, die sich aus dem Studium der Quellen der 1930er Jahre ergeben, ist einigermaßen trivial. Im Falle Dörries aber kann als erwiesen gelten, dass der im Mai 1933 der NSDAP beigetretene Theologe, der – wiewohl in apologetischem Zusammenhang – 1938 nachdrücklich versichert hatte, auf dem „Boden“ 5 des Nationalsozialismus zu stehen, den kirchenpolitischen Tendenzen des Regimes und der Gruppierung der Deutschen Christen schon im Herbst 1933 kritisch gegenüberstand, sich seit ca. 1935 zur Bekennenden Kirche (BK) hielt 6 und dieser auch als zugehörig galt und nach dem Krieg und gewiss auch in Kenntnis der Kriegsverbrechen Hitler-Deutschlands in einen immer tieferen Gegensatz zu seinen früheren Haltungen geriet. Allerdings möchte ich bezweifeln, dass Dörries das öffentliche Bild seiner ‚Widerständigkeit‘, in dem ihn seine Umwelt bestätigte, ohne jeden Gewissensskrupel vortrug. Vielleicht trug auch die Stimmung infolge der Studentenrevolte dazu bei, dass er sich 1969 öffentlich ‚besser‘ darstellte, als er es gegenüber einem Weggefährten wie von Campenhausen vier Jahre zuvor getan hatte. Denn diesen7 hatte er in Planung des dritten, Luther gewidmeten Bandes von Wort und Stunde um seine Meinung bezüglich der Luther-Rede von 19348 gebeten. Campenhausen, der wohl engste Freund, den Dörries in der Wissenschaft besaß, hatte ihm daraufhin geantwortet: „Mit der Lutherrede ist es ein Problem. Sie brauchen sich ihrer ‚Deutschheit‘ natürlich nicht zu schämen, und die hübschen Zusammenstellungen, die sie u. a. enthält, möchte man nicht verloren sehen. Andererseits ist es natürlich eine ‚Rede‘, und eine Rede ist darauf angelegt, Widerhall zu finden, den sie im Gegensatz zu einst heute so in der Tat kaum mehr finden wird. Ich würde die Entscheidung über ihre Aufnahme davon abhängig machen, wie sie sich ins Ganze der Sammlung hineinkomponiert: erscheint sie überzählig, so kann man sie zur Not opfern; bliebe ihr Platz sonst leer, würde ich sie aufnehmen. Und auch wenn ich es nicht täte, würde ich sie dann in jedem Fall mit einer Begründung dafür im Vor- oder Nachwort nennen, damit niemand auf die Idee kommt, sie wollten sie verleugnen.“ 9
5 Brief Dörries an Reichswissenschaftsministerium (5. 4. 1938), in: UA Göttingen Theol. PA 0102, Hermann Dörries. 6 In seiner Autobiographie erinnerte sich Hans von Campenhausen seines unter dem Einfluss Hans von Sodens getätigten Beitritts zur BK in Hessen, wo er eine Lehrstuhlvertretung in Gießen wahrnahm, Anfang Mai 1935. Und er schloss an: „Als ich bald danach Dörries meinen Schritt mitteilte, nickte er freundlich lächelnd: auch er, der bis dahin wie ich gezögert hatte, war soeben gleichfalls eingetreten.“ Slenczka, Murren (Anm. 2), 157. 7 Dörries an von Campenhausen (vor 11. 7. 1965) (PARK). 8 Hermann Dörries, Luther und Deutschland (SGV 169), Tübingen 1934. 9 Campenhausen an Dörries, 11. 7. 1965 (PARK).
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Dörries ist diesen gewiss gut gemeinten Überlegungen nicht gefolgt; weder hat er die Rede aufgenommen noch hat er ihr Fortlassen erwähnt.10 Das ‚schlechte Gewissen‘ wurde vielmehr durch eine rhetorische ‚Flucht‘ nach vorn kompensiert, und zwar durch die eingangs zitierte Formel der an Luther gewonnenen ‚Widerständigkeit‘ gegen das ‚Neue‘. Geht man vom Text der Lutherrede aus, die Dörries bei der Jubiläumsfeier der Universität Göttingen am 17. 11. 193311 hielt, ist verständlich, dass er sie in seinen Luther-Band nicht aufnahm. Dörries’ Schüler Hans-Walter Krumwiede berichtete, vermutlich aufgrund mündlicher Überlieferung, dass der nationalsozialistische Rektor Neumann dem Redner nach dieser Rede demonstrativ den Handschlag verweigert habe.12 Dadurch habe Neumann sein Unbehagen über ihren Inhalt zum Ausdruck gebracht und Dörries’ „mehr oder weniger verhüllte Kritik an den gegenwärtigen Prozessen von Gleichschaltung und Umgestaltung nach dem Führerprinzip“ – so die Lesart der Rede durch Wiegmann – 13 zurückgewiesen. Ob diese Überlieferung Teil der retrospektivischen Stilisierung einer ‚Widerständigkeit‘ Dörries’ ist, muss offenbleiben. Nennenswerte Repressionen seitens des Rektorats widerfuhren ihm, soweit ich sehe, in den folgenden Jahren nicht. Dass Dörries „unsere“ 14 – wie er in der Lutherrede ausführt – nationalsozialistische ‚Revolution‘ im Unterschied zu anderen durch einen ausgeprägten Re10 Oder soll man in folgender änigmatischen Formulierung im Vorwort zu WuS III eine Art Nachhall von Campenhausens Empfehlung sehen: „Die Retractatio hat deren [seiner Aufsätze] Thesen nicht verändert, mag auch der Verfasser [Dörries über sich selbst] ein wenig zugelernt haben. Wer früher Geschriebenes durchgeht, wird die Mängel deutlicher sehen als damals, wo auch das nicht Ausgesprochene noch gegenwärtig war.“ Dörries, WuS III, VII. 11 Zu den Umständen, die zur Verlegung des ursprünglich auf Luthers 450. Geburtstag terminierten Jubiläums führten und die seitens einiger Kirchenvertreter mit Ernüchterung aufgenommen wurden, vgl. Siegfried Bräuer, Die Lutherfestwoche vom 19. bis 27. August in Eisleben. Ein Fallbeispiel en détail, in: Stefan Laube/Karl-Heinz Fix (Hg.), Lutherinszenierung und Reformationserinnerung (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt Bd. 2), Leipzig 2002, 391–451; Ders., Der „Deutsche Luthertag 1933“ und sein Schicksal, in: Horst Bartel u. a. (Hg.), Martin Luther. Leistung und Erbe, Berlin 1986, 423–434; Ders., Der urdeutsche und tief christliche Reformator. Zur Planung und Vorbereitung der Wittenberger Luther-Festtage 1933, in: Stefan Oehmig (Hg.), 700 Jahre Wittenberg. Stadt – Universität – Reformation, Weimar 1995, 545–563; Dorothea Wendebourg, So viele Luthers… Die Reformationsjubiläen des 19. und 20. Jahrhunderts, Leipzig 2017, 137–169. 12 Hans-Walter Krumwiede, Göttinger Theologie im Hitler-Staat, JGNKG 85, 145–178, hier 166; aufgenommen von: Wiegmann, Dörries (Anm. 4), 127. Krumwiede studierte seit dem Wintersemester 1945/46 in Göttingen; bei Dörries hörte er zunächst eine Vorlesung über „die Kirchengeschichte der Reformation“. Im Rahmen eines Seminars über „Staat und Glaube in der Reformation“ bei Dörries hielt er ein Referat über Friedrich den Großen, Hans-Walter Krumwiede, Eine Jugend unter Hitler, Norderstedt 2007, 190. 13 So die Lesart Wiegmanns, Dörries (Anm. 4), 127. 14 Dörries, Luther und Deutschland (Anm. 8), 3.
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kurs auf die deutsche Geschichte ausgezeichnet und legitimiert sah, bildete freilich ein zentrales Motiv seines Bezugs auf die Gegenwart. Luther war für den Göttinger Kirchenhistoriker der Maßstab des als Höchstwert hypostasierten Deutschen: „Wenn wir wissen wollen, was deutsch ist, stellen wir uns Luther vor Augen.“ 15 Zentralgestalten der deutschen Geschichte wie die Sachsenkaiser, Arminius, Fichte oder Ernst Moritz Arndt erhielten von Luther her Format und Kontur. Bei der Deutung des Wormser Reichstages annoncierte Dörries allerdings Aspekte, in denen man eine verhaltene Distanzierung gegenüber NS-Ideologemen sehen könnte. In Worms habe nicht „der freie deutsche Mann die Fesseln einer nicht artgemäßen Religion zerbrochen“ 16 Vielmehr habe sich Luther der von den politischen Führern des Reichs erhobenen Forderung, die „Einheit und den Frieden der Nation allem anderen überzuordnen“,17 widersetzt. Diese Interpretation nahm Dörries zum Anlass, die Unbedingtheit des Gotteswillens als letztverbindlicher Instanz und als Dreh- und Angelpunkt von Deutschlands Schicksal herauszustellen.18 Gewiss stand dies implizit einer metaphysischen Überhöhung des NS-Staates und seines Führers entgegen. Faktisch brachte Dörries seiner Hörer- und Leserschaft nahe, dass nur der deutsche Luther zeit- und sachgemäß sei und angemessene Kriterien für die Bestimmung des „Deutschen“ zu liefern vermöge. Deutschland bedürfe Luthers und solle im Anschluss an ihn dem Primat des „Gotteswillen[s]“ 19 folgen. Dass Dörries in seiner Lutherrede gewiss keine Naziideologie zum Vortrag brachte, ist unstrittig. Anhaltspunkte für explizit rassistische oder antisemitische Überzeugungen finde ich bei ihm nicht. Die Fokussierung auf den „deutschen Luther“, der eine ideologische Brücke zu bestimmten Aspekten der NS-Ideologie bildete, war Gemeingut nationalprotestantischer Lutherbilder von Heinrich von Treitschke bis zu Gerhard Ritter und dominierte die Jubiläen von 1917 und 1921.20 In den 1960er-Jahren aber war der „deutsche Luther“ stillschweigend ad acta gelegt worden, auch von denen, die ihm – wie Dörries – einstmals gehuldigt hatten.
15 A. a. O., 3. 16 A. a. O., 16. Bei Dörries findet sich die zitierte Formulierung in einer rhetorischen Frage, die eine Verneinung intendiert. 17 A. a. O., 16. 18 „Über Sein oder Nichtsein aber bestimmt nur die Entscheidung vor dem absoluten Ziel und dem einzigen schlechthin unbedingten Anspruch, den es gibt, dem Gotteswillen.“ A. a. O., 19. 19 Ebd. 20 Vgl. Gottfried Maron, Luther 1917. Beobachtungen zur Literatur des 400. Reformationsjubiläums, ZKG 93, 1982, 177–221, hier 190–198; Wendebourg, So viele Luthers … (Anm. 11), 94 ff.; 245 ff.
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2 Werkbiographische Rekonstruktion der Lutherstudien Dörries’ Das Eingangszitat – „Zu Luther bin ich gekommen in der Krise des Jahres 1933“ 21 – evoziert die Rückfrage nach den werkbiographischen Anfängen von Dörries’ Beschäftigung mit Luther. Diese liegen eindeutig vor 1933. In seine Tübinger Zeit (1923–28)22 fällt nicht nur eine interessante Arbeit über „Calvin und Lefèvre“,23 in der er – gegenläufig zu einer älteren Studie zu Calvins Prädestinationslehre24 – darlegte, dass der Genfer Reformator nicht primär von dem französischen Humanisten, der weiten Teilen der zeitgenössischen Historiographie als Ursprungsgestalt des französischen Reformiertentums galt, her zu interpretieren sei. Überdies arbeitete Dörries, durchaus innovativ, heraus, dass bei Lefèvre Glaube und Werke koordiniert seien, ein theologisch im Sinne der Reformation zu deutender Bruch mit der katholischen Tradition also nicht vorliege. Ich halte es für wahrscheinlich, dass Dörries auf die auch im Lichte der deutsch-französischen ‚Erbfeindschaft‘ aufgeladene, historisch allerdings in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgehende Debatte25 um die Bedeutung des Faber Stapulensis’ für die Reformation durch den 21 S. o. Anm. 1. 22 Hannelore Braun/Gertraud Grünzinger (Bearb.), Personenlexikon zum deutschen Protestantismus 1919–1949 (AKG, Reihe A 12), Göttingen 2006, 63; über Dörries vgl. auch: Inge Mager, Art. Dörries, H., RGG 4 2 (1999), 955; Bernd Moeller mit Bruno Jahn (Hg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie der Theologie und der Kirchen 1, 2005, 315; Adolf Martin Ritter, Charisma und Caritas, Göttingen 1993, 333 f.; Bernd Jaspert, Mönchtum und Protestantismus. Probleme und Wege der Forschung seit 1877, Bd. II (RBS.S 15), St. Ottilien 2006, 303–431. 23 Hermann Dörries, Calvin und Lefèvre, ZKG 44 (1925), 544–581. 24 Max Scheibe, Calvins Prädestinationslehre. Ein Beitrag zur Würdigung der Eigenart seiner Theologie und Religiosität, Halle (Saale) 1897; vgl. zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext: Christoph Schönau, Jacques Lefévre d’Etaples und die Reformation (QFRG 91), Gütersloh 22019, 44 f. 25 Für die Diskussion um die historische Einordnung Faber Stapulensis wurde die von Dörries (Dörries, Calvin [Anm. 23], bes. 567) in ihrer Bedeutung herausgestellte Studie von Karl Heinrich Graf (Karl Heinrich Graf, Jacobus Faber Stapulensis, ZHTh 22 (1852), 3–86; 165–237; dazu Schönau, Lefèvre (Anm. 24), 9; 27 f.; passim) wegweisend. Graf stellte zum einen fest, dass Lefèvre in katholischen Anschauungen befangen geblieben, zum anderen „innerlich“ (a. a. O., 212), „seiner Überzeugung nach vollkommen Protestant“ (a. a. O., 213) gewesen sei. Anknüpfend an Graf hatte Scheibe (Scheibe, Calvins Prädestinationslehre [Anm. 24]) diese These des intellektuell protestantischen Profils Lefèvres zu der Idee weitergeführt, dass der wichtigste Repräsentant des französischen Protestantismus, nämlich Calvin, von Faber abhängig sei. Diese These hat sogar Emil Doumergue in seine berühmte Calvin-Biographie aufgenommen (Emil Doumergue, Jean Calvin. Les hommes et les choses de son temps, Bd. 1: La jeneusse de Calvin, Lausanne 1899, 551), was Holl (Karl Holl, Die Kulturbedeutung der Reformation, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 2/31923, 468–543, hier 468 Anm. 2) nicht verborgen geblieben war. Dörries
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Tübinger Historiker Johannes Haller bzw. Karl Holls Refutation von dessen Studie Ursachen der Reformation26 aufmerksam geworden ist. Allerdings zeichnete sich seine Untersuchung durch Sachlichkeit und nüchterne Urteilsbildung aufgrund gründlicher Quellenstudien aus. Zum einen zeigte Dörries, dass sich Fabers von der Sorbonne zurückgewiesene These, geistbegabte Laien seien verstockten Theologen überlegen, an etwa bei Tauler begegnende Auffassungen anschloss.27 Zum anderen führte der Tübinger Privatdozent vor, dass die Verhältnisbestimmung von Glauben und einer rechtschaffenen, die Gebote haltenden, in eine Stufung des Handelns eingefügten Lebensführung bei Faber von einem reformatorischen ‚sola fide‘ weit entfernt sei.28 Implizit positionierte sich Dörries in dem Beitrag auf der Seite einer traditionellen protestantischen Sicht der Reformation, die in dieser einen im Kern theologisch begründeten Bruch mit der mittelalterlich-katholischen Lehr- und Lebensgestalt der lateinischen Kirche sah. Auch wenn Luther nur sehr am Rande eine Rolle spielte, so dürfte doch das an Holls Lutherbuch gewonnene Verständnis der Rechtfertigungslehre des Wittenberger Reformators den prägenden Maßstab seiner theologiegeschichtlichen Zuordnung des „Evangelischen“ und des „Katholischen“ geliefert haben. Auch die Offenheit, mit der der Hannoversche Lutheraner Dörries an Calvin heranging, könnte von Holl inspiriert worden sein.29 Im Jahre 1926 legte der inzwischen zum außerordentlichen Professor in Tübingen aufgestiegene Dörries in den von Lietzmann herausgegebenen Religions-
machte sich mit seinem Beitrag also an eine seit langem schwelende Frage und führte sie einer überzeugenden Lösung zu. 26 Johannes Haller, Die Ursachen der Reformation, Tübingen 1917, bes. 41 f., sprach der sogen. reformatorischen Rechtfertigungslehre wegen ihrer vermeintlichen, in der einschlägigen Literatur (vgl. Schönau, Lefèvre (Anm. 24), 34–36) behaupteten Übereinstimmung mit der in einem Pauluskommentar Lefèvres entfalteten Lehre eine Bedeutung als ‚Ursache‘ der Reformation ab. Dies löste in der zeitgenössischen evangelischen Theologie erhebliche Turbulenzen aus, die sich u. a. in Holls epochalem Lutherbuch von 1921, das Dörries spätestens 1924 kannte (s. u. Anm. 34) niederschlug, vgl. Holl, Luther (Anm. 25), 468 f. Anm. 2; auch Thomas Kaufmann, Der Anfang der Reformation (SMHR 67), Tübingen 22018, 10 f.; zu Haller vgl. auch: Benjamin Hasselhorn, Johannes Haller. Eine politische Gelehrtenbiographie. Mit einer Edition des unveröffentlichten Teils der Lebenserinnerungen Johannes Hallers (SHKBA 93), Göttingen 2015. 27 Dörries, Calvin (Anm. 23), 568. 28 A. a. O., 574 ff. Mit seiner Zentrierung auf Christus und die Bibel habe Faber „das Tor geöffnet, durch das evangelische Motive einströmen konnten.“ A. a. O., 579. „Die Grundlagen der katholischen Frömmigkeit sind von ihm [sc. Faber Stapulensis] nie ernstlich in Frage gestellt.“ 581. 29 Vgl. bes. Karl Holl, Johannes Calvin, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte; Bd. 3: Der Westen, Tübingen 1928, 254–284 (Erstveröffentlichung: Tübingen 1909); Heinrich Assel, Karl Holl *15. Mai 1866, † 23. Mai 1926, in: Ders. (Hg.), Karl Holl. Leben – Werk – Briefe, Tübingen 2021, bes. 47 ff.
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kundlichen Quellenheften ein Bändchen über die Jesuiten vor.30 Ob günstige Äußerungen, die Holls Tübinger Nachfolger Otto Scheel seinethalben gegenüber Lietzmann getätigt hatte,31 diesen veranlassten, Dörries wegen dieser kleinen Textausgabe zu fragen, ist ungewiss. Möglicherweise hatte sich Dörries auch durch ein entsprechendes Heftchen über Augustin, das kurz zuvor erschienen war, empfohlen.32 Vielleicht tat auch eine Charakterisierung seiner Person, die der Doyen des Faches, Karl Müller, zum Zeitpunkt seiner Berufung auf das durch Scheels Wechsel nach Kiel frei gewordene Tübinger Extraordinariat gegenüber Lietzmann abgab, ihre Wirkung.33 Dass Dörries’ erste intensivere wissenschaftliche Beschäftigung mit Luther und der Reformation in die Tübinger Zeit fällt, ergibt sich auch aus einem im Nachlass von Ernst Berneburg überlieferten Notizbuch mit Exzerpten und Seminarvorbereitungen Dörries’ aus dem Jahr 1924, die auf eine gründliche Beschäftigung mit Luther und Calvin hindeuten.34 Überdies
30 Hermann Dörries (Hg.), Der Jesuiten-Orden (RKQH 24), Leipzig 1926. 31 Kurt Aland (Hg.), Glanz und Niedergang der deutschen Universität, Berlin/New York 1979, Nr. 507, 479. Zu Scheel in Tübingen s. Carsten Mish, Otto Scheel (1976–1954). Eine biographische Studie zu Lutherforschung, Landeshistoriographie und deutsch-dänischen Beziehungen (AKIZ.B 61), Göttingen 2015, 56–79. 32 Hermann Dörries (Hg.), Augustin (RKQH 3), Leipzig 1926. 33 „Ich freue mich sehr, daß dieser treffliche Mensch es nun erreicht hat. Er war nach schwerer Verwundung ½ Semester hier gewesen und hatte dann wieder nach Hause gemußt, weil er nicht heil genug war. Aber ich habe in dieser Zeit, da er in meinem Seminar war, ihn genügend kennengelernt, als Persönlichkeit und ganz außerordentlich tüchtigen und kenntnisreichen Studenten. Schüler ist er von Jülicher. Er machte dann bei der Habilitation durch verschiedene Dinge, für die er nichts konnte, keinen so günstigen Eindruck, wie ich erwartet hatte und seine ruhige, niedersächsische, etwas schwerfällige Art ließ die Sorge aufkommen, daß er als Lehrer nicht lebendig genug sei. Aber u. a. ist unser Senatsreferent [Johannes] Haller, der ein besonders scharfer Zensor ist und gerade an den theologischen Vorschlägen immer zu flicken findet, sehr warm für ihn eingetreten, gerade auch als Lehrer: er ist unvermutet in eine Stunde bei ihm eingetreten und war sehr befriedigt von der Klarheit, dem Gehalt und der Form des Vortrags.“ Müller an Lietzmann 30. 7. 1926, in: Aland, Glanz (Anm. 31), Nr. 557, 525. 34 Württembergische Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Vorlesungs-Verzeichnis für das Sommerhalbjahr 1924, Tübingen 1924, 2: Dörries las über die „Geschichte der Mystik“ und hielt eine Übung zu „Luther und Calvin“. Die ursprüngliche Benutzung eines grünen Heftchens (PARK; Beschriftung Vorderseite: „Lu. + C.“ [= Luther und Calvin]) ist aufgrund einer auf der Rückseite von Dörries beschriebenen Quittung und anhand einer 19 Teilnehmer umfassenden Liste, die u. a. den Namen des späteren Kirchenhistorikers Erwin Mülhaupt („3. Sem.“) enthält (über ihn: Hans-Ludwig Slupina, In memoriam Erwin Mülhaupt, LuJ 65, 1998, 15–18; Erstimmatrikulation Tübingen Sommersemester 1523, a. a. O., 15), auf das Sommersemester 1924 zu datieren; eine zweite, lediglich acht Namen umfassende Teilnehmerliste, die in dieses Heftchen eingelegt ist, könnte darauf hindeuten, dass Dörries es zumindest während zweier Semester im Gebrauch hatte. Das Heftchen enthält Exzerpte und Kommentare zu einzelnen Lutherschriften wie dem Großen Katechismus, Von den guten Werken, De servo arbitrio, den 95 Thesen und ihren Resolutio-
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ist es wegen Karl Müllers, seines Tübinger Lehrers, Beschäftigung mit Luther wahrscheinlich, dass sich auch Dörries schon in den 1920er-Jahren nicht zuletzt mit Fragen der politischen Ethik bei Luther auseinandersetzte. Spätere Erinnerungen Dörries’ machen das wahrscheinlich.35 Gewiss – Luther und Deutschland von 1934 war Dörries’ erste Publikation zum Wittenberger Reformator. Doch für jenes an Luther gewonnene theologische Wiederständigkeitspotential, das Dörries im Rückblick reklamierte, steht dieser Text gerade nicht. Dass Dörries im Sommersemester 1934 „mit seinen Lutherabenden kursorischer Lektüre, die er […] dann Jahrzehnte lang ohne Unterbrechung fortgeführt“ 36 haben soll, begann, deutet allerdings doch darauf hin, dass Luther mit neuartiger Intensität ins Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit und seiner theologischen Interessen rückte.
3 Dörries’ Konzeption des Luther-Bandes im Rahmen der Trilogie seiner Aufsatzbände Wie die ursprüngliche Konzeption der schließlich dreibändigen Aufsatzsammlung des Emeritus Dörries aussah, ist m.W. nicht bekannt. Im Vorwort zum 1966 erschienenen 1. Band erfährt man, dass die Anregung zu einer wohl zunächst nur zweibändigen Ausgabe auf den Göttinger Fachkollegen Carl Andresen zurückging, der sich aus Anlass des 70. Geburtstags Dörries’ in diesem Sinne geäußert und entsprechende Mittel im Landeskirchenamt in Hannover eingeworben hatte.37 nes, Notizen zur Geschichte des Ablasses, Einige Notizen zu Holls Aufsatz Neubau der Sittlichkeit (Karl Holl, Neubau der Sittlichkeit, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 2/31923, 155–287), zu den Sakramentssermonen des Wittenbergers von 1519, zu Theodosius Harnacks Darstellung der Theologie Luthers (1862) und – überschrieben mit „C.“ – zu Calvin. 35 Hermann Dörries, Karl Müller und sein Werk, in: Ders., WuS III, 421–457. Gegenüber der Erstfassung (erschienen in: ThBl 19, 1940, 177–185) hat Dörries die in WuS III erschienene Version erheblich erweitert. Insbesondere in Müllers Beiträgen zu Luthers Auffassung vom bewaffneten Widerstand gegen den Kaiser (1915) und zu Kirche, Gemeinde und Obrigkeit nach Luther (1910) sah Dörries wertvolle wissenschaftliche Anregungen „zur Vorbereitung einer Aufgabe, die unserer Zeit obliegt“ (Dörries, WuS III, 430). 36 Slenczka, Murren (Anm. 2), 150. Als Datum der ersten Veranstaltung dieser Art notierte Campenhausen den 4. März 1934, ebd. 37 Hermann Dörries, Wort und Stunde, Bd. 1: Gesammelte Studien zur Kirchengeschichte des vierten Jahrhunderts, Göttingen 1966, [VI]. Offenbar reichte der Hannoversche Druckkostenzuschuss allenfalls für den ersten Band; im zweiten (s. u.) dankte er nämlich den Landeskirchen Braunschweigs, Bremens und Oldenburgs, Dörries, WuS II, VII. Im Vorwort des 2. Bandes sprach Dörries von der „durch die Geburtstagsgabe ergangene[n] Aufforderung, alte und neue Aufsätze zu sammeln“
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Den Gesamttitel Wort und Stunde unterzog Dörries in jedem der drei Vorworte einer leicht variierenden Deutung. Im 1. Band akzentuierte er ihn vom Wort her: „Das Wort, das eine Geschichtsstunde prägt, das Wort, das in Vollmacht eines einzelnen gesagt wird, das Wort, das seine Stunde hat und von ihr wahrgenommen sein will – Wort und Stunde […].“ 38 Im Vorwort zum zweiten Band akzentuierte er die Koinzidenz von Wort und Stunde: „Das eine Mal verbirgt sich das Wort in seiner Stunde – so ist es beim Tode des Bonifatius. Ein andermal – beim Heliand – nimmt ein Wort die Stunde exemplarisch wahr. An der Bursfelder Reform schließlich kann man sehen, wie die einem Wort gewährte Stunde dessen Wirken auch die Grenze setzt.“ 39 In dem Vorwort zu dem ein Jahr später, 1970, erschienenen dritten und letzten Band von 1970 gab Dörries dem Gesamttitel dann eine Deutungsperspektive im Lichte der Theologie Luthers, die ihm besonders durch die Wartburgpostille aufgegangen sei und den maßgeblichen „Zugang“ 40 zu Luther eröffnet habe: „Dem Wort ist eine Stunde zugeteilt, in der es seine Gewalt übt, während es zu anderer Zeit ohne Wirkung bleibt.“ 41 Wenn das Wort seine Stunde habe, und sei es auch eine „schwache Stunde“,42 könne der Teufel es nicht überwältigen. Im Kern wollte Dörries mit dem bewusst theologisch gewählten Titel seiner Aufsatzsammlung das Verhältnis von Normativität und Situativität, von Evangelium und Geschichte, bzw. des Ewigen in der Zeit – also ein christologisches Motiv – als unveräußerliches Spezifikum der Kirchen- gegenüber der Allgemeinen Geschichte annoncieren.43
(Hermann Dörries, Wort und Stunde, Bd. 2: Aufsätze zur Geschichte der Kirche im Mittelalter, Göttingen 1969, VII. Hier setzt er bereits „drei Bände“ des Gesamtwerks (a. a. O., VI) voraus. 38 Dörries, WuS I, [VI]. 39 Dörries, WuS II, VI. 40 Dörries, WuS III, VI. 41 Dörries, WuS III, [V]. 42 Dörries, WuS III, [V]; Dörries erweckt den Eindruck, dass es sich bei der Wendung ‚schwache Stunde‘ um eine Formulierung Luthers handelt; das konnte ich nicht verifizieren. 43 Wenn Dörries das Fachverständnis seines Lehrers Karl Müller dahingehend zuspitzte, dass er feststellte, dass es für diesen „keinen Unterschied zwischen Welt- und Kirchengeschichte geben“ (Dörries, WuS III, 425 Anm. 7) durfte und die „Kirchengeschichte ein Teil der allgemeinen Geschichte“ (a. a. O., 417) gewesen sei, dann markiert dies eine Differenz zu seinem eigenen, theologisch grundierten Selbstverständnis als Kirchenhistoriker. Im Vorwort zum zweiten Band von Wort und Stunde postulierte Dörries, dass der Kirchenhistoriker nicht „umhin“ komme, „sich der theologischen Sachfrage zu stellen, um zu einem theologischen Urteil zu kommen.“ Dörries, WuS III, [V]. In Bezug auf die Wirkungsgeschichte des Wortes habe der Kirchenhistoriker an der „Unruhe des Nie-Abgeschlossenen“ (Dörries, WuS II, V.) teil. In folgender Wendung dürfte in nuce angedeutet sein, inwiefern Dörries über Müller hinausgehen zu müssen meinte: „Die Kirchengeschichte ein Teil der allgemeinen Geschichte und doch ein Eigenes, nicht in ihr aufgehend […].“ Dörries, WuS III, 450. Materialiter versuchte Dörries diese Differenz gegenüber Müller an dessen Unverständnis gegenüber der Bedeutung und Wirkkraft des Wortes Gottes bei Luther
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Auch mit der Textgestalt der Erstfassungen der in Wort und Stunde vereinigten Aufsätze zu den vier Epochen der Kirchengeschichte ging Dörries unterschiedlich um. Im ersten Band sprach er davon, dass er „[d]ankbar […] die Gelegenheit“ ergriffen habe, die älteren Beiträge „wieder durchzugehen und zu überdenken.“ 44 Er habe die Texte „lesbarer“ machen, „manche Gedanken“ präzisieren, Lücken ergänzen wollen; hinsichtlich der Nacharbeit der seither erschienenen Literatur sei er nicht „überall“ 45 konsequent verfahren. Die Durchsicht der Texte sei gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Berneburg erfolgt, der auch „die mühevollen Redaktionsgeschäfte“ 46 übernommen habe. Im zweiten Band sprach Dörries dann davon, dass er „das früher Gesagte auf [s]einen gegenwärtigen Stand“ 47 gebracht habe; den Forschungsstand zu erreichen, beanspruche er nicht, da er sonst „das seither Erschienene vollständig [hätte] verarbeiten und vielleicht manches neu schreiben müssen.“ 48 Nur anders sei er bei zwei Beiträgen aus den 30er-Jahren verfahren, einem über den sächsischen Mönch Gottschalk und einem über die Germanischen Nationalkirchen; sie seien „als Zeitdokumente aufgenommen, zu zeigen, was im Jahr 1936 zu drucken noch möglich war und was im Jahr 1938 nicht mehr erlaubt wurde.“ 49 Diese Aussage erweckte den Eindruck, dass Dörries in der NS-Zeit zensurpolitischen Repressionen ausgesetzt gewesen sei. Der Aufsatz über die „Germanischen Nationalkirchen“ war tatsächlich in der „Jungen Kirche“ erschienen; lediglich ein „Sonderdruck“ war Dörries zu Folge „verboten“ 50 worden. Im Lutherband teilte Dörries dann mit, dass die dort enthaltenen Aufsätze „überholt und ergänzt“ 51 worden seien; auf eine erhebliche Erweiterung seines Aufsatzes zu Gottesgehorsam und Menschengehorsam, der v. a. Hobbes und die Neuzeit betraf, wies er eigens
fest zu machen, vgl. a. a. O., 453. In seiner „Selbstdarstellung“ hatte Müller formuliert: „[…] die Kirchengeschichte bildet trotz ihrer Eigenart nur einen Teil der allgemeinen Geschichte und kann nur in stetem Zusammenhang mit ihr geschrieben werden, und sodann: sie darf nicht mit festen, vorgefaßten Meinungen betrieben werden.“ Karl Müller, Aus der akademischen Arbeit, in: Ders., Aus der akademischen Arbeit. Vorträge und Aufsätze, Tübingen 1930, 1–44, hier 12. 44 Dörries, WuS I, [VI]. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Dörries, WuS II, VII; im Original: „meinem“. 48 Dörries, WuS II, VII. 49 Der Beitrag über Germanische Nationalkirchen war 1938 in der Jungen Kirche (Hermann Dörries, Germanische Nationalkirchen, JK 6, 1938, 8–23; 56–69) erschienen; in Unterschied zum Gottschalk-Aufsatz (Hermann Dörries, Gottschalk, ein christlicher Zeuge der deutschen Frühzeit, JK 5, 1937, 670–684) sei von dem erstgenannten ein „erweiterter Sonderdruck […] verboten“ (Dörries, WuS II, 76 Anm.) worden. 50 S. vorige Anm. 51 Dörries, WuS III, VII.
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hin. Die Rolle Berneburgs schien bei der Arbeit am dritten Band abermals gewachsen zu sein.52 Den genannten Aufsatz zu Gottesgehorsam und Menschengehorsam, der zuerst 1942 im Archiv für Reformationsgeschichte (ARG)53 erschienen war und um das berühmte Petruswort Apg 5,29, dass man Gott mehr gehorchen solle als den Menschen, kreiste, stellte Dörries als Zentrum seiner Beschäftigung mit Luther heraus; es war einer von zwei Lutherbeiträgen aus der Zeit vor 1945, der im dritten Band von Wort und Stunde enthalten war. Von hier aus seien zwei weitere in den Band eingegangene Aufsätze entstanden: der Beitrag über das Widerstandsrecht bei Luther und jener über das Verhältnis von Evangelium, kanonischem und weltlichem Recht anhand klandestiner Eheversprechen, die Luther in einer „Juristenpredigt“ abhandelte. Indem Dörries jenen Luther, der Apg 5,29 im Verhältnis zu Röm 13 bedacht und stark gemacht habe, als „Helfer in dem Streit“ 54 um den Anspruch des totalen Staates apostrophierte, suggerierte er, seinerseits mit und durch Luther ‚widerständig‘ gewesen zu sein. Dörries’ Interesse an Luther war primär auf Fragen seiner theologischen Ethik fokussiert; dies zeigte sich auch an der 1946 erschienenen Rede Luther und die deutsche Nation, die allerdings nicht in Wort und Stunde III aufgenommen wurde.55 Auch der Beitrag zu Luthers Verständnis der Geschichte, der den Band
52 „Vor allem war es der altvertraute Mitarbeiter Ernst Berneburg, der beim gemeinsamen Durchdenken, dem Suchen nach sicherem Ausdruck, im unermüdlichen Herbeischaffen der Literatur seine gesamte Freizeit darangab – er hat hohen Anteil an der Neufassung der Aufsätze.“ Dörries, WuS III, VII. 53 Zur Situation des Vereins für Reformationsgeschichte und seiner Publikationsorgane in der Zeit des ‚Dritten Reichs‘ vgl. Thomas Kaufmann, Heinrich Bornkamm als zweiter und als erster Vorsitzender des Vereins für Reformationsgeschichte (1931–1976), in: Luise Schorn-Schütte (Hg.), 125 Jahre Verein für Reformationsgeschichte (SVRG 200), Gütersloh 2008, 100–158; zuletzt in: Kaufmann, Aneignungen (s. o. S. 199), 271–320. 54 Dörries, WuS III, VI. 55 Hermann Dörries, Luther und die deutsche Nation [Gedenkrede in Hannover 1946], Die Botschaft. Hannoversches Sonntagsblatt; Kirchenblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers 1, 1946, Nr. 1/2 und 3/4 (ohne Seitenzählung). Es handelt sich um den Text einer Rede, die Dörries auf Einladung von Bischof Marahrens aus Anlass einer Gedenkfeier zu Luthers 400. Todestag hielt. „Luther und die deutsche Nation – das ist eine Frage an die Geschichte und an uns.“ Luthers Auftritt in Worms stilisiert Dörries hier zur wichtigsten Szene der deutschen Geschichte (s. auch: Thomas Kaufmann, „Hier stehe ich!“ Luther in Worms – Ereignis, mediale Inszenierung, Mythos, Stuttgart 2021, 117 f.; 166) – mit der bemerkenswerten Wendung, dass die „Autorität des Reiches“ hier eine Einschränkung erfuhr. An Karls V. Verhalten zeige sich, dass das Wort Gottes Widerstand hervorrufe. „Er [sc. Luther] ist für uns, was er sein wollte, ein Diener des Worts, das uns zu Gott zurückruft, indem es uns vergibt, das uns neu in Pflicht nimmt, indem es uns heilt, das uns zu uns selbst macht, indem es uns von uns befreit. Luther ist uns nichts anderes als die Stimme des Evangeliums.“ Dörries’ Studie Luther nach dem Bauern-
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eröffnete und im Wesentlichen auf Vorlesungen zurückging, die Dörries im Herbst 1958 in den USA gehalten hatte, war durch eine deutliche Tendenz zu politisch-ethischen Themen gekennzeichnet. Den Abschluss des Bandes bildete eine Art Florilegium, das den Wittenberger Reformator vor allem auf der Basis seines Briefwechsels als Meister des brüderlichen Trostes zeigte. Es war ursprünglich 1939 in der Jungen Kirche, Dörries’ bevorzugtem Publikationsort in der Zeit des „Dritten Reichs“, erschienen.56 In zwei Aufsätzen ging Dörries über die Konzentration auf Luther hinaus. In einem Beitrag über Ludwig Harms, der ursprünglich für ein amerikanisches Publikum vorgesehen gewesen war, auf das sich Dörries seit Anfang der 1950erJahre einzulassen begann,57 zeichnete er eine wirkungsgeschichtliche Linie Luthers in die Erweckungsbewegung hinein nach. Indem er Harms’ intensive Verbundenheit mit Luthers Relationierung von Wort und Sakrament und seiner Unterscheidung von Rechtfertigung und Heiligung58 oder den praktischen Gebrauch des Kleinen Katechismus als Prüfstein der Lehre und die Präsenz von „Worten und Gedanken Luthers“ 59 in des Heidepastors Predigten betonte, rückte er ihn in eine Interpretationslinie lutherischer Geschichtstheologie, nach der das Wort ge-
krieg (Hermann Dörries, Luther nach dem Bauernkrieg, in: Ecclesia und Res Publica. Festschrift für K. D. Schmidt, Göttingen 1961, 113–124), bildete den dritten Teil der Reu Memorial Lectures, die er im Herbst 1958 im Lutheran Wartburg Seminary zu Dubuque Iowa hielt (Dörries, WuS III, 19 Anm.). Sie ist als dritter Teil in den Eröffnungsbeitrag Luthers Verständnis der Geschichte in WuS III ( 36 ff.) eingegangen. 56 Hermann Dörries, Das Bruderwort, JK 7, 1939, 918–930 und JK 8, 1940, 3–8. 57 PARK Akte „Erweckung“; die Akte enthält ein älteres Typoskript mit dem Titel Ludwig Harms, ein deutscher Heide- und Heidenpastor (unter diesem Titel gedruckt in: Hermann Dörries, Ludwig Harms, ein deutscher Heide- und Heidenpastor, JGNKG 49, 1951, 114–129). Aus der Einleitung des Typoskriptes geht hervor, dass Dörries von amerikanischer Seite aufgefordert worden war, ein aus seiner Sicht für amerikanische Leser interessantes Beispiel nachreformatorischer deutscher Kirchengeschichte vorzuführen. Der erste direktere Bezug zu den USA ist m. W. Dörries’ Rezension von Roland H. Baintons Lutherbiographie: Hermann Dörries, Rezension zu Roland H. Bainton, Here I stand. A Life of Martin Luther, 1950, ARG 42, 1951, 265 f., die sich in die strategische Neuorientierung des Vereins für Reformationsgeschichte (VRG) nach 1945 kongenial einfügte (dazu Kaufmann, Bornkamm [Anm. 52]) und den Anlass für Dörries’ Übersetzung, zuerst unter dem Titel: Roland H. Bainton, Hier stehe ich. Das Leben Martin Luthers, Übers. Hermann Dörries, Göttingen 1952, bildete. Über Bainton vgl. Steven H. Simpler, Roland H. Bainton. An examination of his Reformation historiography (TSR 24), Lewiston N. Y. 1985. In seinem Vorwort hob Dörries den ‚amerikanischen‘ Charakter des Buches hervor. Sein den Quäkern zugehöriger Verfasser bringe „humanistisches, katholisches und täuferisches Denken“ in die Darstellung Luthers ein und schildere dessen Biographie als „Weg der Anfechtungen“ (a. a. O., 5). Gerade darin sei die Hilfe für den „modernen Menschen“ (ebd.; vgl. 7) zu sehen. 58 Vgl. bes. Dörries, WuS III, 393. 59 A. a. O., 401.
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rade im „Unbeachteten“ und ‚Schlichten‘60 zu geschichtlicher Wirkung gelange. In Dörries’ Nachruf auf Karl Müller, der drei Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung ein durchaus eindrückliches Porträt des bedeutenden Tübinger Kirchenhistorikers zeichnete, wurden unter den auf Luther bezogenen Arbeiten besonders jene hervorgehoben, die seinem eigenen ethisch-politischen Zugriff auf den Reformator nahestanden. Während Holl die Spannungen zwischen Luthers Kirchenbegriff und dem landesfürstlichen Kirchenregiment stark betont hatte61 arbeitete Müller – ähnlich wie später Kattenbusch62 – deren Ambivalenz bzw. die innerliche und äußerlich-defensorische Aspekte verbindende Doppelseitigkeit heraus. Dörries entnahm diesem Diskussionsstand, dass die Aufgabe der ‚Übersetzung‘ der lutherschen Ekklesiologie, „die sich nicht auf die Gegenwart anwenden läßt und auf die wir doch zurückgreifen müssen“,63 ungelöst sei. Im Unterschied zu dem an Auszehrungserscheinungen leidenden, diese aber nicht überwindenden Historisten Müller64 sah sich Dörries, der Zeitgenosse der ‚antihistoristischen Revolution‘,65 mit normativen Herausforderungen konfrontiert, die schließlich im NS-Staat kulminieren sollten. In Müllers Anliegen, der Bedrohung des von Gott in den Seelen gewirkten Glaubens durch Enthusiasmus zu begegnen,66 konnte 60 Dörries, WuS III, VI; vgl. 8; 387; unter Rekurs auf Luthers theologia crucis a. a. O., 412. Auch bei Harms sieht er Luthers Interpretationslinie von Apg 5,29 fortgeführt, a. a. O., 418. Harms habe sich permanent mit Luther auseinandergesetzt; sein Rechtfertigungsverständnis erreiche aber die „Tiefe und Freiheit“ Luthers nicht, a. a. O., 420. 61 Karl Holl, Luther und das landesherrliche Kirchenregiment, in: Ders., Gesammelte Aufsätze (wie Anm. 25), 326–389. 62 Ferdinand Kattenbusch, Die Doppelschichtigkeit in Luthers Kirchenbegriff, TSK 100, 1927, 197– 346. 63 Dörries, WuS III, 430. 64 „Er [sc. K. Müller] empfand doch diesen Verzicht [sc. auf eine sach- und zeitgemäße Theologie] als ein Übel: das verleite dazu, mit dem ‚Mark‘ und der ‚Nuß‘ der Theologie weniger in Berührung zu kommen. Aber die Theologie seiner Zeit bot ihm kein Mittel, die so empfundene Gefahr zu bannen. Ein solches Mittel fand der Geschichtsforscher auch nicht einfach in seiner Arbeit.“ Dörries, WuS III, 435. Dörries erwähnte auch, dass Müller dem „enthusiastischen Glauben an eine Gottesoffenbarung im Zeitgeschehen“ 1933 mit Liedversen Gottfried Arnolds begegnet war, die die Verborgenheit Gottes in der Geschichte – ein theologisches Motiv Luthers – betonten, Dörries, WuS III, 434 mit Anm. 30 f. 65 Friedrich-Wilhelm Graf, Die „antihistoristische Revolution“ in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Jan Rohls/Gunther Wenz (Hg.), Vernunft des Glaubens: Festschrift zum 60. Geburtstag von Wolfhart Pannenberg, Göttingen 1988, 377–405; vgl. verschiedene Beiträge dess. in: Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen 2011; Kurt Nowak, Die „antihistoristische Revolution“. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Horst Renz/ Friedrich-Wilhelm Graf (Hg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs (Troeltsch-Studien 4), Gütersloh 1987, 133–171. 66 Dörries, WuS III, 448; auch o. Anm. 64.
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Dörries zwar ein an Luther anschließendes, zentrales Motiv des kirchenhistorischen Wirkens seines Tübinger Lehrers identifizieren. Ansonsten markierte er aber gegenüber dem liberalen Verständnis der Reformation bei Müller67 ein deutliches, vor allem in dessen Unverständnis gegenüber der Kategorie des Wortes Gottes bei Luther fokussiertes Abstandsbewusstsein. Für den sich in „Wort und Stunde“ präsentierenden späten Dörries war die Geschichte der Kirche als Weg des Wortes Gottes in der Geschichte definiert.68
4 Zu Dörries Umgang mit dem Nationalsozialismus 1932, also ein Jahr bevor Dörries seiner eigenen Erinnerung zufolge „[z]u Luther“ 69 kam, war er in einem Text mit dem Titel An die Kritiker des Nationalsozialismus: ein Schutzwort statt einer Kritik70 „vom Standort lutherischer Staatsgesinnung aus“ 71 Stimmen und Kräften entgegengetreten, die es, anders als er selbst, nicht als Berufung der evangelischen Kirche ansahen, den noch ‚unausgesprochenen‘ und ‚ungestalteten‘ Nationalsozialismus „mitzuformen“.72 Verweigere sich die Kirche dieser Aufgabe, müsse sie fürchten, „Gott selbst in den Arm zu fallen“.73 Angesichts der bevorstehenden Kämpfe zur Durchsetzung des Nationalsozialis-
67 „Ihm [sc. K. Müller] prägte sich der Sinn der Reformation in drei ‚ursprünglichsten und wesentlichsten‘ Gedanken Luthers aus: der in Christus begründeten Unmittelbarkeit der Seele zu Gott; gut ist nur, was aus Glauben kommt und der Vervollkommnung dient, der eigenen wie der Gemeinschaft; für die Kirche darf nur die innere Verbundenheit maßgebend sein […]. An solcher Bestimmung der Grundgedanken der Reformation ist uns nicht nur der sprachliche Ausdruck fremd. […] Wir suchen überdies hinter den von Karl Müller herausgestellten ‚Grundgedanken‘ das eigentliche Zentrum von Luthers Theologie, sein Verständnis des Wortes.“ Dörries, WuS III, 453. 68 „Teil hat sie [sc. die Kirche] auch an dem Schicksal ihres Herrn, bald gehört und aufgenommen, bald mißachtet und verworfen zu werden. Sie ist gewiesen allein an das Wort, das mit ihr geht, sie erneuert und erhält – sein Weg ist ihre Geschichte.“ Dörries, WuS III, 457. 69 S. Anm. 1. 70 Hermann Dörries, An die Kritiker des Nationalsozialismus: ein Schutzwort statt einer Kritik, in: Leopold Klotz (Hg.), Die Kirche und das dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen, Bd. 2, Gotha 1932, 38–46; dort auf 9–15 werden nationalsozialistische Urteile über den 1. Band dieser Publikation referiert. Diese Publikation fehlt in der Dörriesbibliographie; dass ihr Verfasser Ernst Berneburg den Dörries-Text gleichwohl kannte, ergibt sich aus der in meinem Besitz befindlichen Kopie aus Berneburgs Besitz, auf der er die bibliographische Referenz mit eigener Hand verzeichnet hat. 71 A. a. O., 38. 72 Ebd. 73 Ebd.
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mus sparte der sonst immer wieder als nüchtern beschriebene Hannoveraner nicht mit pathetischen Formulierungen: „Auf den Opfern beruht der Fortschritt der Bewegung. Nicht das zieht die Seele der Nation hierhin, was an Auffälligem und Lautem sich daran zeigt, sondern das hier allein der Lebenseinsatz gebracht wird. […] Das Blut der Märtyrer tilgt auch hier wieder, was an Schuld und Makel unausbleiblich an das Gewand der Kämpfenden sich heftet. Und die Religion, die durch das Blut ihrer Märtyrer sich ausgebreitet hat, sollte dafür kein Verständnis haben?“ 74 Dörries bediente sich auch eines sinnentstellten Lutherzitates, um die Teilnahme am nationalsozialistischen Kampf zur „Rettung unseres Volkes“,75 also am ‚Mittun‘, zu begründen. Insbesondere die die Klassengegensätze überwindende „Volksgemeinschaft“ zog den 37-jährigen Göttinger Ordinarius in ihren Bann. „Wo aber jetzt der Wille zur Volksgemeinschaft zu suchen ist, kann beantworten, wer einmal eine Hitlerversammlung mitgemacht und das Verbundenheitsgefühl gespürt hat, das seit langen Jahren zum ersten Male wieder die Kluft von Stand und Klasse schloß.“ 76 Im Bekenntnis der NSDAP zum „positiven Christentum“ sah Dörries „ein Zeichen staatsmännischer Einsicht Hitlers“,77 die mit Luthers eine „schauerliche Vermischung beider Reiche“ wehrender Überzeugung koinzidiere, „daß es widerchristlich wäre, unter dem Zeichen des Kreuzes Krieg zu führen“.78 Der Behauptung Alfred Rosenbergs, die Partei werde selbst „keinerlei religiöse Dogmen […] verkünden oder irgendwelche Inquisition gegen religiöse Anschau-
74 A. a. O., 39. 75 Ebd. Dort das Zitat: „‚Das Schwert und die Gewalt als ein sonderlicher Gottesdienst gebührt den Christen zu eigen vor allen anderen auf Erden.‘“ Ebd. Dörries verkehrt den Skopus der Aussage aus Luther Von weltlicher Obrigkeit (1523), vgl. WA 11, 258,1–3 und Kontext. Denn bei Luther geht es nicht darum, dass jeder Christ auch ein „Gewaltamt“ (Dörries, ebd.) wahrnehmen könne, also „mitzutun“ (ebd.) berechtigt sei, sondern um das von Christen, sc. der weltlichen Obrigkeit, auszuübende Schwertamt. Das ergibt sich aus dem unmittelbar anschließenden Rekurs auf die Drei-Stände-Lehre: „Darumb solltu das schwerd oder die gewalt schetzen gleych wie den ehlichen stand oder ackerwerck oder sonst eyn handwerck, die auch Gott eyngesetzt hatt.“ WA 11, 258,3–5. Zur Drei-Stände-Lehre vgl. nur: Luise Schorn-Schütte, Die Drei-StändeLehre im reformatorischen Umbruch, in: Dies.: Perspectum. Ausgewählte Aufsätze zur Frühen Neuzeit und zur Historiographie anlässlich ihres 65. Geburtstages (HZ.B 61), München 2014, 251– 280. Zwei weitere „Lutherzitate“, die in antipazifistischer Abzweckung die Teilnahme jedes Christen an Schwertdienst und Gewalt einschärfen (a. a. O., 41), konnte ich nicht verifizieren. Dörries nimmt Luther für die These in Anspruch: „Aber der Rat, um einer besseren Gerechtigkeit willen dem Staat, der zur Grenzwacht fordert, den Dienst zu verweigern, ist Verrat am Christentum wie am Volk.“ A. a. O., 41. 76 A. a. O., 41. 77 A. a. O., 42. 78 Ebd.
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ungen […] treiben“,79 begegnete Dörries mit Zutrauen. Allerdings setzte er folgende kritische Wendung hinzu: „Was man verlangen muß, ist nur, daß der Sinn der Sätze im Programm [sc. der NSDAP] sicherer bestimmt wird, da der Wortlaut das Mißverständnis nahe legt, als werde der Staat ermächtigt, Grenzen der christlichen Verkündigung zu stecken. Kein Staat darf daran denken wollen, die Gewissen zu meistern!“ 80 Das Ja zum Nationalsozialismus ergab sich für Dörries im Kern aus dem „dringendste[n] Interesse [des Luthertums] an einem starken Staat“.81 Nur vor dem Hintergrund dieses, soweit ich sehe in der bisherigen Auseinandersetzung mit Dörries unbeachtet gebliebenen solennen Bekenntnis zum Nationalsozialismus aufgrund der ‚lutherischen‘ Affinität zum „starken Staat“ wird m. E. verständlich, warum er den Luther-Band seiner gesammelten Aufsätze so anlegte, wie er es schließlich tat.
5 Der Luther-Band Dörries’ Luther-Band wurde durch einen aus vier Teilen bestehenden Beitrag mit dem Titel Luthers Verständnis der Geschichte eröffnet, dem vier 1958 in den USA gehaltene Vorlesungen zugrunde lagen. Dieser Teil des Luther-Bandes war dem baltischen Historiker Reinhard Wittram gewidmet, der 1925 bei Johannes Haller in Tübingen promoviert worden war und den Dörries vermutlich schon von daher kannte. 1945 war Wittram, der seit 1939 als führender Exponent nationalsozia-
79 A. a. O., 43. Das Rosenberg-Zitat stammt aus den Nationalsozialistischen Monatsheften: Alfred Rosenberg, Evangelische Kirche und N. S. D. A. P., Nationalsozialistische Monatshefte 3,27, 42. (282 f.), hier: 43 (283). Dörries nahm den Nationalsozialismus durchaus differenziert wahr, sah in ihm aber vor allem eine Chance für die Kirche: „Regen sich doch in der sehr verschiedene weltanschauliche und religiöse Gruppen umfassenden nationalsozialistischen Bewegung Kräfte, die mehr als eine neue Staatsform schaffen wollen. Zeichen des religiösen Suchens und Verlangens sind vielfach zu bemerken. Der Kirche tut sich damit ein Tor auf, das sie nicht selbst zuschlagen darf.“ A. a. O., 45. 80 Ebd. Die einschlägige Formulierung des Art. 24 NSDAP-Parteiprogramms lautete: „Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, daß eine dauernde Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz vor Eigennutz.“ Zit. nach: Martin Greschat/Hans-Walter Krumwiede (Hg.), Das Zeitalter der Weltkriege und Revolutionen (KTGQ 5), Neukirchen 1999, 72. 81 Dörries, An die Kritiker (Anm. 70), 43.
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listischer Wissenschaftspolitik an der „Reichsuniversität Posen“ gewirkt hatte,82 nach Göttingen geflohen, dort zunächst mit Lehraufträgen bedacht und 1955 auf einen Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte berufen worden.83 Dörries’ Beitrag begann mit einem Lincoln-Zitat – „We cannot escape history“ – und führte dann auf die gegenwartsbezogene Bemerkung hin, dass nicht wenige Menschen angesichts der „undurchdringlichen Rätsel der Geschichte“ von „Resignation“ und „Betroffenheit“ 84 heimgesucht würden. Sogleich aber wurde Luther als Antidot eingeführt: „Sehen wir zu, wie Luther Geschichte versteht. Vielleicht kann er uns lehren, ihr standzuhalten, uns auf die Geschichte einzulassen und ihr doch nicht zu verfallen.“ 85 Dieser Zugang – so möchte ich behaupten – ist charakteristisch
82 Błażej Białkowski, Utopie einer besseren Tyrannis. Deutsche Historiker an der Reichsuniversität Posen (1941–1945), Paderborn 2011, 353 ff.; Ders., Reinhard Wittram an der „Reichsuniversität Posen“. Die Illusion einer baltischen Variante des Nationalsozialismus, in: Michael Garleff (Hg.), Deutschbalten, Weimarer Republik und Drittes Reich, 2., durchgesehene und ergänzte Auflage. Bd. 2, Köln u. a. 2008, 353–384; Jörg Hackmann, Reinhard Wittram, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar/Alexander Pinwinkler (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften, Bd. 1, Berlin 2017, 908–911. 83 In den Sommersemestern 1935–1938 hatte der damals noch in Riga lehrende Wittram eine Gastprofessur in Göttingen wahrgenommen, die der weltanschaulichen Anbindung an die NSIdeologie diente, Białkowski, Utopie (Anm. 82), 178. In welchem Maße Wittram in seiner Arbeit als Historiker in Posen in die Kriegsziele Nazideutschlands involviert war, hat Białkowski eindrucksvoll herausgearbeitet. In nicht unerheblicher Spannung dazu warb Wittram für sich selbst gegenüber dem Rektor der Universität Göttingen [Rudolf Smend] im September 1945. (Personalakte des philosophischen Dekanats UA Göttingen, Phil. Per 561, 21. 9. 1945). Für sein Geschichtsverständnis berief er sich auf Luther: „Ich habe mich lange und mit Zähigkeit dagegen gewehrt, die bolschewistischen Züge am Nationalsozialismus, die ich nicht verkannte, für wesensbestimmend zu halten; ich hielt es immer noch für möglich, daß es die historisch so oft nachweisbaren Anpassungen an den Gegner waren, und ich wollte nicht glauben, daß sie das Ganze, das doch aus Deutschland emporgestiegen war, zerfressen könnten. Als ich spüren mußte, daß aus den Zügen des Nationalsozialismus das Nachtgesicht des Bolschewismus hervortrat, war es mir gewiß, weshalb Gott uns das Schwert aus der Hand nahm. – Das ist nun doch eine heilsgeschichtliche Erfahrung. Vielleicht darf immer nur das lebende Geschlecht für sich solche Feststellungen treffen; gleiten sie in die Vergangenheit, so stoßen sie auf die geheimnisvollen Verhüllungen aller Geschichte. Ich möchte bei Luthers Wort von ‚Gottes Mummerey‘ nicht stehen bleiben, aber es ist doch eine gewaltige Warnung vor historischen Urteilen nach dem Augenschein. – Sicher ist, daß wir die Geschichte mit dem Gewissen neu durchdenken müssen.“ (Brief Wittram an Rektor der Universität Göttingen 21. 9. 1945, Bl. 1). Ob und inwiefern die hier skizzierten Überzeugungen und Ansätze auf die 1949 bei Wittram abgeschlossene Dissertation Hans-Walter Krumwiedes (Hans-Walter Krumwiede, Glaube und Geschichte in der Theologie Luthers. Untersuchung zur Entstehung des geschichtlichen Denkens in Deutschland [FKDG 1], Berlin 1952) einwirkten, wäre von Interesse. 84 Dörries, WuS III, 1. 85 Ebd.
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für Dörries’ Umgang mit Luther. Luther gilt als normative Instanz; die „Geschichte“ ist kein mit rationalen, analytischen Strategien zu bearbeitendes Feld, sondern ein Mysterium. Gerade dieses Verständnis der Geschichte bestätigt Luther, obschon es bei ihm nach Dörries durchaus ‚moderne‘ Tendenzen des Verstehens des Eigenen und des Fremden zu erkennen gilt.86 Luther sensibilisiert dafür, Geschichte nicht nur im Großen, den Weltreichen, Kulturen und „schicksalhaften Ereignissen“,87 sondern auch im Kleinen, „im einzelnen Haus“ 88 zu entdecken. Das erst unlängst von Otto Brunner in die nach dem Krieg entstehende deutsche Sozialgeschichte als heuristische Kategorie eingeführte „ganze Haus“ 89 wurde von Dörries für eine Polemik gegen die „Dämonie moderner Massensuggestion“ 90 genutzt: Mit der Verlagerung des Interesses vom Fürsten auf das Volk, der bloßen Verbreiterung des Geschichtsbildes ist es nicht getan, auf seine Vertiefung kommt es an. Bedeutung gewinnt das ‚Haus‘ nicht erst in der Masse der Häuser, die durch ihre Zahl Gewicht bekommt […]. […] Menschliches Leben ist persönliches Leben […]. Deshalb kann es nicht gleichgültig für ein Volk sein, wenn der Blick auf das Haus gelenkt wird. Solche Einsicht hilft, die Gefahr zu bannen, daß der einzelne in der Menge aufgeht.“ 91
Hatte der junge Dörries sich in die Volksgemeinschaft zu entäußern imaginiert, so nistete sich der alte Ordinarius behaglich in der bürgerlichen Eigenheimidylle der frühen Post-Adenauerschen Persönlicheitskultur ein; erneut war Luther an seiner Seite. Ansonsten entfaltete Dörries Luthers „tiefe Einsicht“ 92 in die „Unberechenbarkeit des Weltgeschehens“.93 Gleichwohl gilt, dass jeder, der regiert, von Gott eingesetzt ist. Gott handelt in der Geschichte in „Güte und Zorn“ 94 vermittels seines Glauben oder Unglauben evozierenden Wortes. Das christologische Motiv
86 Dörries, WuS III, 7. 87 A. a. O., 8. 88 Ebd. 89 Otto Brunner, Adliges Landleben und europäischer Geist, Salzburg 1949, bes. 237 ff.; zur Aufnahme des Konzepts im Zusammenhang mit der Erforschung des Pfarrhauses vgl. bes. die Arbeiten von Luise Schorn-Schütte, zuletzt: Luise Schorn-Schütte, Das ganze Haus. Evangelische Pfarrhäuser im 16. und 17. Jahrhundert, in: Thomas Seidel/Christopher Spehr (Hg.), Das evangelische Pfarrhaus. Mythos und Wirklichkeit, Leipzig 2013, 37–53. 90 Dörries, WuS III, 9. 91 Dörries, WuS III, 9. Bereits in seinem Vorwort hatte Dörries vor dem „uns“ einst bedrängenden ‚totalen Staat‘ – „auch heute noch die schwere Gefährdung der Menschheit“ (Dörries, WuS III, VI) – gewarnt. Damit spielte er gewiss auf die DDR bzw. das Sowjetsystem an. 92 Dörries, WuS III, 13. 93 Dörries, WuS III, 13. 94 Dörries, WuS III, 18.
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des „finitum capax infiniti“ 95 wird zum Prinzip auch des worttheologisch vermittelten Geschichtshandelns Gottes. Gottes Handeln bewegt die Geschichte; das ‚offene Buch‘ der Geschichte, die wie ein Spiel Gottes anmutet, in dem er sich hinter Larven verbirgt, zeugt von ihrem Geheimnis.96 Auch das Auftreten der ‚Wundermänner‘ und das „Anbrechen der großen Stunden der Menschheit“ 97 haben an dem „Geheimnis der Geschichte“ Teil. In poetisch-verklausulierten oder schlicht änigmatischen Wendungen beschwor Dörries mit Luther das ‚tiefe‘98 „Geheimnis der Geschichte“, das in der dem Glauben durchsichtigen Vorläufigkeit der Welt bestehe. Dörries’ Tiefsinnigkeitsinsinuation des Geschichtsverständnisses Luthers, dessen Geltung er normativ voraussetzte, bildete eine probate ideologische Trutzburg gegen den Ansturm elementarer Fragen nach menschlicher Verantwortung, schuldhafter Verstrickung und glaubwürdigem Tun in der Geschichte. In einem Abschnitt über Luther nach dem Bauernkrieg versuchte Dörries, Luthers Verständnis der Geschichte exemplarisch deutlich zu machen. Ungeachtet der zeitbedingten Verhältnisse und der unterschiedlichen politischen Strukturen aber ging es ihm vor allem darum, eine bleibend gültige „Wahrheit“ im „Wort“, dessen „Bote“ 99 Luther gewesen sei, zur Geltung zu bringen. Offenbar sah Dörries diese „Wahrheit“ in der aus Luther abgeleiteten Affirmation politischer „Ordnung“ an sich, unbeschadet ihrer jeweiligen verfassungsrechtlichen Form.100 In der doppelten Opposition zu Erasmus, dem der Vergangenheit verpflichteten Konservativen, und Müntzer, dem der Zukunft ergebenen Revolutionär, erscheint Luther als der Mann der gegenwartsfähigen Mitte.101 In einem Aufsatz über Augustin als Weggenossen Luthers tritt ein Zug auch der Lutherdeutung hervor, der für Dörries’ Arbeit als Kirchenhistoriker im Ganzen charakteristisch sein dürfte: Es ging ihm immer auch um den Aufweis epochenübergreifender, die Kirchengeschichte als ganze bestimmender, worttheolo-
95 Dörries, WuS III, 17. 96 Dörries, WuS III, 18–23. 97 Dörries, WuS III, 31. 98 Man beachte etwa die mehrmalige Verwendung des Adjektivs „tief“ (Dörries, WuS III, 35)! 99 Dörries, WuS III, 50. 100 „[…] Luthers Überzeugung, Gott halte die Ordnung der Welt aufrecht durch menschliches Regieren, ist nicht an dessen Form gebunden.“ Dörries, WuS III, 58; vgl. auch die wohl dem amerikanischen Kontext der Vorträge geschuldeten demokratiefreundlichen Äußerungen a. a. O., 50. 101 Dörries, WuS III, 59 ff; vgl. Bernd Moellers Rezension zur „schönen“ Erstveröffentlichung dieses Teils des Aufsatzes (der unter dem Titel Hermann Dörries, „Neuheit und Zusammenhang – Zu Luthers Geschichtsverständnis“, LuJ (1961), 86–103 erschien): Bernd Möller, Rezension zu Hermann Dörries, „Neuheit und Zusammenhang – Zu Luthers Geschichtsverständnis“, HZ 195 (1962), 747: „Erasmus birgt sich in der Vergangenheit, Müntzer springt in eine selbsterdachte Zukunft. Luther hält der Gegenwart stand.“
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gisch vermittelter Zusammenhänge. Der bleibende „Umgang mit Augustin“ habe Luther zu einem „sichereren Ausformen seiner Lehre“ 102 und zu der Gewissheit geführt, der Kirchenvater werde es mit ihm und seiner Reformation halten.103 Der nach Dörries’ Selbstverständnis104 für die Konzeption des Luther-Bandes und sein Verständnis des Wirksamwerdens eines Wortes des Evangeliums in der Geschichte zentrale Text war der Aufsatz Gottesgehorsam und Menschengehorsam bei Luther. Er bot eine von der Antike bis in die Neuzeit fortgeschriebene Auslegungsgeschichte von Apg 5,29, in deren Zentrum Luther stand. Der zuerst 1942 mit einer Widmung an den profilierten BK-Theologen Hans von Soden105 im Archiv für Reformationsgeschichte erschienene Aufsatz wurde für seine erneute Publikation 1970 um etwa das Doppelte seines ursprünglichen Umfangs, auf 85 Seiten, erweitert. Diese Erweiterungen bestanden in der Einfügung von Zwischenüberschriften, in der Aufnahme von Zitaten, zusätzlich zu den Referenzbelegen insbesondere bei altkirchlichen Quellen, in aktualisierenden Textzusätzen, die die Thematik im Lichte der Erfahrungen des Kirchenkampfes ‚spiegelten‘, in Erweiterungen der auf Luther bezogenen Passagen, die sich auf den Gebrauch von Apg 5,29 in den seither erschienenen Bänden der Weimarer Lutherausgabe bezogen,106 in einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Hobbes’ Leviathan im Horizont der einschlägigen Interpretation dieses Werkes durch Carl Schmitt aus dem Jahre 1938 sowie in einigen weiterführenden Hinweisen zur Rezeptions-
102 Dörries, WuS III, 103. 103 A. a. O., 106 f. Ähnlich breit wie sonst nur noch in dem Beitrag über Apg 5,29 setzte Dörries in seinem Lilje gewidmeten Beitrag über die Geschichte der vocatio (Dörries, WuS III, 347–386) an, in die er Luther einzeichnete. Für Dörries’ Selbstverständnis als Kirchenhistoriker dürfte dies besonders aufschlussreich sein. 104 Der Bezug auf diesen Text bzw. Apg 5,29 durchzieht das Vorwort zu WuS III, V–VIII. Das worttheologische Verständnis des Faches bei Dörries ist dem Ebelings ähnlich, vgl. nur Gerhard Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift (SGV 189), Tübingen 1947; wieder abgedruckt in: Ders., Wort Gottes und Tradition (KiKonf 7), Göttingen 1964; 19662, 9–27; dazu zuletzt: Martin Keßler, „Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift“. Gerhard Ebelings handschriftliche Vorbereitung seiner Habilitations-Probevorlesung (1946), in: Claudia Kampmann/Ulrich Volp/Martin Wallraff/Julia Winnebeck (Hg.), Kirchengeschichte – Historisches Spezialgebiet und/oder theologische Disziplin. Festschrift für Wolfram Kinzig (Theologie – Kultur – Hermeneutik 28), Leipzig 2020, 283–320. 105 Dinkler, Erich/Dinkler-von Schubert, Erika (Hg.), Theologie und Kirche im Wirken Hans von Sodens (AKG Reihe A 2), Göttingen 21986; DBETh 2, 2005, 1262. Vgl. Heinz Liebing (Hg.), Die Marburger Theologen und der Arierparagraph in der Kirche: Eine Sammlung von Texten aus den Jahren 1933 und 1934, aus Anlaß des 450-jährigen Bestehens der Philipps-Universität Marburg, Marburg 1977; Jochen-Christoph Kaiser/Andreas Lippmann/ Martin Schindel (Hg.), Marburger Theologie im Nationalsozialismus, Neukirchen 1998, 35–41. 106 Vgl. Dörries, WuS III, 155 Anm. 96; hier gibt Dörries Hinweise auf die Erweiterung seiner Stellenbelege zu Luthers Verwendung von Apg 5,29 zwischen 1942 und 1969.
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geschichte von Apg 5,29 in der Neuzeit. Dabei ging Dörries so vor, dass er den Text von 1942 zu Grunde legte, einige Sätze umformulierte, vor allem aber erweiternde Zusätze einfügte, die seine Aussagen vor allem dahingehend zuspitzten, dass die Grenzen des Gehorsams gegenüber staatlicher Autorität deutlicher markiert wurden.107 Profilierte Abgrenzungen gegenüber einer Interpretationsgestalt der sogenannten „Zwei-Reiche-Lehre“,108 die die „Eigengesetzlichkeit“ 109 des weltlichen Regiments betonte, begegneten erst in der Neubearbeitung des Textes vom Ende der 1960er-Jahre.110 Dass da, wo das Gewissen verletzt und Gott verleugnet würde, Widerstand gegen eine sich selbst überhebende weltliche Gewalt „nicht Rebellion, sondern Gottesgehorsam“ 111 sei, hatte Dörries bereits 1942 deutlich herausgestellt. Neu an der im Luther-Band publizierten Version war freilich, dass Dörries eine systematisierende Zusammenschau der unterschiedlichen Verwendungskontexte von Apg 5,29 bei Luther bot;112 Luther konnte mit diesem Vers sowohl gegen kirchliche als auch gegen weltliche Obrigkeiten oder beide zugleich, aber auch gegen zu große Nachgiebigkeit in kirchenpolitischen Kontroversen vorgehen. „Wo immer Gewalt den Willen zwingen möchte, erhebt das Wort seine mahnende Stimme. Auch gegenüber den weltlichen Mächten übt das Apostelwort sein Amt.“ 113 Dem Vorrang des Gottes- gegenüber dem Menschengehorsam entsprach
107 Pars pro toto sei ein Beispiel für dieses Verfahren angeführt: „Wie also das 4. Gebot angewandt wird auf das Verhältnis des Untertanen zum Fürsten, so das Apostelwort, das die Freiheit der christlichen Verkündigung wahrte, auf die durch keine menschliche Gewalt einzuschränkende Geltung aller Gottesgebote, durchaus auch der der zweiten Tafel “ Hermann Dörries, Gottesgehorsam und Menschengehorsam bei Luther, ARG 39, 1942, 47–84, hier 58; Zusätze in Dörries, WuS III, 126 mit gekennzeichnet. 108 Vgl. Reiner Anselm, Zweireichelehre, TRE 36 (2004), 776–784. 109 Dieser Begriff spielte, soweit ich sehe, insbesondere in Reinhold Seebergs Ethik (31936) eine Rolle; dazu: Stefan Dietzel, Reinhold Seeberg als Ethiker des Sozialprotestantismus: die „Christliche Ethik“ im Kontext ihrer Zeit (Universitätsdrucke Göttingen), Göttingen 2013. 110 Der folgende Passus etwa hat in der Erstausgabe von 1942 keine Entsprechung: „Der Glaube ist keiner menschlichen Autorität unterworfen und greift doch auch in das politische Handeln hinein. Dieses ist jetzt dem sichtenden Urteil sogar der Soldaten ausgesetzt, nach höheren Maßstäben als denen der Zweckmäßigkeit; es wird ganz und gar nicht seiner ‚Eigengesetzlichkeit‘ überlassen. Zur selben Zeit, da die Kontrolle des weltlichen Regiments durch die Hierarchie grundsätzlich ihr Ende gefunden hat, beginnt für die einzelnen Christen die Pflicht, sich nun selbst ein Urteil zu bilden und sich danach zu verhalten.“ Dörries, WuS III, 133 (in Anm. 38 positive Anknüpfung an den profilierten württembergischen Kirchenkämpfer Paul Schempp). Vgl. auch Dörries, WuS III, 159 Abs. 3–160, Abs. 1. 111 Dörries, Gottesgehorsam (Anm. 107), 67; Dörries, WuS III, 141, dort aber statt „Gottesgehorsam“: Gehorsam. 112 Dörries, WuS III, 154 ff. 113 Dörries, WuS III, 155.
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eine Prävalenz des ersten gegenüber allen anderen Geboten. Eine prinzipielle Überordnung des Gottes- gegenüber dem durch Röm 13 verbindlichen „Staatsgehorsam“ 114 vertrat Dörries, soweit ich sehe, erst in der finalen Fassung seines Beitrages im dritten Band von Wort und Stunde. Als besonders interessant stellt sich Dörries’ Weiterarbeit an der Wirkungsgeschichte von Apg 5,29 in der Neuzeit dar. In der Version von 1942 war er relativ knapp auf die Suspendierung von Apg 5,29 in Thomas Hobbes’ Leviathan eingegangen, hatte allerdings dann mit dem Appell geschlossen, die unveräußerliche Geltung des seine Macht auf die Gewissen ausübenden Apostelwortes für die Kirche anzuerkennen.115 Dass man dies unter den Bedingungen des „Dritten Reiches“ kaum anders denn als eine Parteinahme für die „Bekennende Kirche“ lesen konnte, versteht sich von selbst. In der erweiterten Version im Luther-Band stellte Dörries dann heraus, dass Müntzer mittels Apg 5,29 die Gehorsamspflicht von Röm 13 annulliert und die Täufer das Apostelwort verwendet hätten, um die weltlichen Obrigkeiten aufzuheben.116 Der späte Dörries ließ ein verstärktes Interesse an der Breite der reformatorischen Entwicklungen auch jenseits von Luther erkennen. Die Auseinandersetzung mit Hobbes erfolgte nun einerseits auf Basis einer substantielleren Kenntnis seines Schrifttums und der einschlägigen Literatur, andererseits in deutlich kritischerer Positionierung. Denn nach Hobbes sei ein sich auf den Vorrang des Gottesgehorsams berufenes Gewissen illegitim. Da Gott durch den souveränen Herrscher, den irdischen Gott, zu uns spreche, könne es keinen legitimen Gottesgehorsam geben, der gegen den Staatsgehorsam gerichtet sei. Im Luther-Band versuchte Dörries nun die fatalen Wirkungen des Hobbesschen Staatsverständnisses unter Rekurs auf den NS-Staat zu illustrieren. Die Folgen der Dispensation eines persönlichen Gewissens machte er an Heinrich Himmler klar, der den „SS-Grundsatz ‚Mein Vorgesetzter ist mein Gewissen‘“ dadurch konkretisiert habe, dass er stets ein Papier bei sich führte, auf dem Hitler für alle vom Reichsführer SS getroffenen Maßnahmen die Verantwortung übernahm.117 Das „tief Verruchte von Hobbes’ Staatslehre“ 118 verdeutlichte Dörries sodann an der „bewundernden Aufnahme [derselben] im Dritten Reich durch
114 Dörries, WuS III, 160 f. 115 Dörries, Gottesgehorsam (Anm. 107), 83 f. Auch darin, dass Dörries deutlich betonte, dass Calvin in seinem Verständnis von Apg 5,29 „dicht bei Luther“ (A.a.O, 81) bzw. „[i]n der Nähe Luthers“ (Dörries, WuS III, 161) gewesen sei, dürfte die Tendenz wirksam sein, die traditionellen Polarisierungen zwischen lutherischer und reformierter politischer Ethik zu reduzieren. Dass dies im Ganzen auf der Linie innerprotestantisch konfessionell integrierenden Tendenzen der Bekennenden Kirche lag, ist evident. 116 Dörries, WuS III, 164–168. 117 Dörries, WuS III, 174 f. Anm. 47. 118 Dörries, WuS III, 175, Anm. 48.
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den Staatsrechtler Carl Schmitt, in seinem Buch über Hobbes’ Leviathan“.119 In diesem Buch von 1938 habe Schmitt sogar die von Hobbes unter Vorbehalt anerkannte innerliche Glaubens- und Gewissensfreiheit desavouiert. Und in der Tat: Der nationalsozialistische Staatsrechtler hatte nachzuweisen versucht, dass „der erste liberale Jude“,120 Baruch Spinoza, die individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit als „Einbruchstelle des modernen Liberalismus“ in die Hobbessche Staatstheorie genutzt und damit die von Schmitt negativ beurteilte Entwicklung zum liberalen Rechts- und Verfassungsstaat initiiert habe. Am Schluss seiner Schrift hatte Schmitt unmissverständlich deutlich gemacht, dass er die maßgeblichen Ideen des Thomas Hobbes im NS-Staat verwirklicht sah.121 Ob Dörries die Schmittsche Leviathan-Interpretation bereits 1942 kannte, ist ungewiss. Für wahrscheinlicher halte ich es, dass er 1965 durch den Göttinger Staatsrechtler Rudolf Smend auf eine Rezension Schmitts hingewiesen wurde, die unter dem Titel Die vollendete Reformation einige neuere Arbeiten zu Hobbes diskutierte und den Leviathan in die Wirkungsgeschichte der Reformation einordnete.122 Vor diesem Hintergrund ging es Dörries darum, einerseits einer von Schmitt insinuierten Verbindung zwischen Hobbes und dem Protestantismus entgegenzutreten, andererseits die fatale Wirkung der Hobbesschen Lehre im totalitären NS-Staat deutlich zu machen. In seiner pointierten Polemik gegen Schmitt, so scheint es, führte Dörries nun endlich jenen Kampf zu Ende, den er unter den Bedingungen des „Dritten Reiches“ gewiss aufgrund äußerlicher, aber wohl auch wegen innerer Hemmnisse nicht zu führen willens und fähig gewesen war. Dörries’ Neubearbeitung seines Beitrages über die Rezeptionsgeschichte von Apg 5,29 kulminierte denn auch in seinen Ausführungen zum Kirchenkampf, insbesondere zum unter Dietrich Bonhoeffers Einfluss entstandenen Betheler Bekenntnis123 und zur Aufnahme des Apostelwortes
119 Dörries, WuS III, 175 Anm. 48. 120 Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes, Stuttgart 62018, 86 (Kasus von mir geändert). 121 „Über die Jahrhunderte hinweg rufen wir ihm zu: Non jam frustra doces, Thomas Hobbes!“ Schmitt, Leviathan (Anm. 120), 132. 122 Carl Schmitt, Die vollendete Reformation. Zu neueren Leviathan-Interpretationen, Der Staat 4/1 (1965), 51–69; ND in: Schmitt, Leviathan (Anm. 120), 137–178, bes. 151 ff.; für den Zusammenhang zwischen Hobbes und einer Rezeptionsgeschichte im Luthertum konnte sich Schmitt übrigens auf Troeltsch berufen (a. a. O., 155); vgl. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Teil 2 (Uni-Taschenbücher 1812), Tübingen 1994 (Neudruck von 1912), 702; zur Sache auch: Jürgen Overhoff, The Lutheranism of Thomas Hobbes, History of Political Thought 18 (1997), 604–623; ders., Hobbes’s theory of the will, Lanham 2000. 123 Dörries, WuS III, 188; Kurt Dietrich Schmidt, Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage des Jahres 1933, Göttingen 1934, 120; Dietrich Bonhoeffer, Gesammelte Schriften, Bd. 2: Kirchenkampf und Finkenwalde: Resolutionen, Aufsätze, Rundbriefe; 1933 bis 1943, hg. von Eberhard Bethge, München 1965, 80–89.
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durch den norwegischen Bischof Eivind Berggrav,124 der sich für seinen Widerstand gegen die nationalsozialistische Okkupation seines Heimatlandes auf den Wormser Luther berufen hatte.125 Deutlich aber trat Dörries einer Aktualisierung von Apg 5,29 durch Karl Barth entgegen, der sich unter Rekurs auf die Confessio Scotica (1560) dafür ausgesprochen hatte, im Falle einer völligen Pervertierung der politischen Macht den Tyrannenmord für legitim zu erklären:126 „Das ist eine Anwendung des Apostelworts, die nicht nur das Luthertum, das Barth kritisch erwähnt, ablehnen würde; vielmehr hätte sie auch Luther selbst und nicht minder Calvin gegen sich.“ 127 In einem für den Luther-Band geschriebenen Text über Luther und das Widerstandsrecht 128 führte Dörries die skizzierten Interpretationslinien auf der Basis aller maßgeblichen politiktheoretischen Äußerungen des Wittenberger Reformators weiter. Im Unterschied zu Karl Müller, der schon Ende 1529 einschlägige Veränderungen in Luthers Haltung zu einem bewaffneten Widerstand gegen ein das Evangelium verfolgendes Reichsoberhaupt wahrnehmen zu können meinte,129 begründete Dörries zum einen, dass der ‚Torgauer Wende‘ und dem dort hervortretenden Einfluss der Juristen Ende Oktober 1530 eine entscheidende Bedeutung für Luthers Positionswechsel in dieser Frage zugekommen sei. Dörries zeigte auf, dass Luthers veränderte Einstellung von einzelnen Theologen des eigenen Lagers kritisch aufgenommen wurde. Als ‚Mann der Mitte‘, jenseits von katholischer Reaktion und schwärmerischer Revolution,130 sei Luther einem unbedenklichen Wahrnehmen des prinzipiell zuerkannten Widerstandsrechts entgegengetreten und habe auch weiterhin die Leidensbereitschaft eingeschärft; insofern sei der Gedanke eines Ver-
124 Dörries, WuS III, 191. Dörries, WuS III, 189; vgl. 242 Anm. 109; Eivind Berggrav, Der Staat und der Mensch, Hamburg 1946, 254; vgl. zur Person: Gunnar Heiene, Eivind Berggrav. Eine Biographie, Göttingen 1997; Edwin Hanton Robertson, Bishop of the Resistance. The life of Eivind Berggrav, Bishop of Oslo, Norway, Concordia, Saint Louis 2000. 125 Vgl. Kaufmann, „Hier stehe ich!“ (Anm. 55), 118; 166. 126 Karl Barth, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre, Zollikon 1938, 214; zu Barths Auseinandersetzung mit der Lehr- und Bekenntnistradition des Reformiertentums vgl. Matthias Freudenberger, Karl Barth und die reformierte Theologie (Neukirchner theologische Dissertationen und Habilitationen 8), Neukirchen 1997. 127 Dörries, WuS III, 191. 128 Dörries, WuS III, 195–270. 129 Karl Müller, Luthers Äußerungen über das Recht des bewaffneten Widerstands gegen den Kaiser (SBAW.PPH 1915 Nr. 8), München 1915. Wilhelm Maurer erkannte Dörries’ Aufsatz zum Widerstandsrecht bei Luther durchaus zu Recht die Qualität einer „abschließende[n] Antwort“ (Maurer, Wilhelm, Rezension zu Hermann Dörries, Wort und Stunde I–III, in: ZEvKR 16, 1971, 87–91, hier 91) zu. Vgl. Dörries, WuS III, 250; Dörries, WuS III, 264. 130 Dörries, WuS III, 229; vgl. 231.
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Thomas Kaufmann
zichts auf Widerstand bei Luther lebendig geblieben.131 Angesichts der durchaus spannungsreichen, spezifischen Kontextbedingungen geschuldeten Äußerungen des Reformators sah Dörries auch in Fragen des Widerstands ‚Luther gegen Luther‘132 stehen. Anhand seines Aufsatzes über das Widerstandsrecht wird sehr viel deutlicher als an anderen Arbeiten, dass es Dörries ein zentrales Anliegen war, „die Theologie Luthers in actu wahrzunehmen“ 133 und insofern an dem Wittenberger Reformator zu verdeutlichen, „was eine geschichtliche Stunde bedeutet: was eben noch überzeugen konnte, büßte über Nacht seine Kraft ein und – so darf man vielleicht hinzusetzen – verlor auch sein Recht.“ 134 Dass Dörries die Sensibilität für die „geschichtliche Stunde“ auch seinen eigenen politischen Irrungen und Wirrungen in der späten Weimarer Zeit verdankte, dürfen wir getrost unterstellen. Insofern war es das „Wort“, das seiner theologischen Existenz und seiner kirchenhistorischen Arbeit am Ende Konstanz und auch Gradlinigkeit verlieh.
6 Abschließende Bemerkungen Der dritte Band von Wort und Stunde erschien im Umkreis von Dörries’ 75. Geburtstag. Gewiss Dörries selbst, aber auch der Redner bei einer abendlichen Geburtstagsfeier, mutmaßlich Martin Doerne,135 empfanden den Abschluss der Auf131 Dörries, WuS III, 250. 132 Bei der Befassung mit Dörries’ Luther-Band ist mir aufgefallen, dass die von mir im Zusammenhang der durchaus widersprüchliche abendmahlstheologische Positionen Luthers spiegelnden oberdeutsch-schweizerischen Rezeption der Abendmahlsschriften Luthers auftretende Argumentation mit Luther gegen Luther, die ich als „Luther gegen Luther-Argument“ bezeichne (Thomas Kaufmann, Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren [BHTh 81], Tübingen 1992, 394 Anm. 678; 435; 442) eine Analogie in meines Vor-Vorgängers auf dem Göttinger kirchengeschichtlichen Lehrstuhl Bezeichnung der variierenden Positionen Luthers im Zusammenhang des Widerstandsrechts hat. Zur neueren Literatur zum Widerstandsrecht im Luthertum vgl. Thomas Kaufmann, Apokalyptik und politisches Denken im lutherischen Protestantismus in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Ders., Konfession und Kultur (SuR Neue Reihe 29), Tübingen 2006, 29–66, bes. 43 Anm. 61. 133 Dörries, WuS III, 264. 134 Dörries, WuS III, 226. 135 Die Rede mit dem Titelblatt „Für Hermann Dörries zum Abend des 17. Juli 1970“ hat sich in zwei Exemplaren im Nachlass Ernst Berneburgs (PARK) erhalten; eines davon ist das Originaltyposkript. Auch die eingestreuten persönlichen Bemerkungen des Redners, die Diktion und die Hinweise auf die Dauer der Bekanntschaft – seit ca. 1954 – sprechen dafür, dass Doerne als Verfasser dieser Rede anzusprechen ist. Die folgenden Zitate beziehen sich auf diesen Text. Die Verfasserschaft Doernes ist aufgrund eines Briefes, den Dörries am 3. 8. 1970 an Campenhausen schrieb, wahrscheinlich (Dokumentensammlung des Herder-Instituts, Familienarchiv v. Campen-
Grundzüge des Lutherverständnisses Hermann Dörriesʼ
225
satzsammlung als Einbringung der „stattliche[n] Ernte“ seines „Lebenswerks“, dessen „heimlicher Mittelpunkt und Maßstab“ Luthers Theologie gebildet hatte. Dörries’ Entscheidung, einen wesentlichen Teil der Luther betreffenden Beiträge zu überarbeiten, bewertete der Jubiläumsredner folgendermaßen: „Sie [sc. Dörries] haben sich Zeit und Mühe nicht leid sein lassen, diese Studien aus vier Jahrzehnten zu ergänzen und an den heutigen Stand der Forschung heranzuführen. Eben dieses Ineinanderfügen von Altem und Neuem bringt uns die vollkommene Lebendigkeit Ihrer theologischen und forscherischen Existenz beglückend zu Bewußtsein.“ Das Ansprechende an diesem Urteil besteht darin, den sich in Dörries Arbeiten zu Luther spiegelnden Revisions- als fortschreitenden Forschungsund Lernprozess zu verstehen. Dörries hat durch die Vertiefung in die theologischen Grundlagen von Luthers politischem Denken den Götzen des „deutschen Luther“, dem er einst selbst huldigte, beharrlich und konsequent niedergerungen und damit eigene Irrwege korrigiert. Insofern hat sich der deutschnationale Apologet des ‚starken Staates‘, befördert wohl auch durch die nach 1945 einsetzenden wissenschaftlichen Kontakte in die USA, in die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Bundesrepublik hinein entwickelt, ja hineingeschrieben. Indem Dörries aus der Geschichte und an Luther lernte, trug der zeitweilige Verehrer des Nationalsozialismus das Seine dazu bei, dass Demokratie in Deutschland wirklich wurde.
hausen, 1407d, Nr. 127 f.; den Hinweis verdanke ich Frau Aneke Dornbusch, Göttingen/Bonn, deren Dissertation zu Dörries jüngst erschienen ist).
Die Autorinnen und Autoren Hansjörg Buss, Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Evangelische Theologie der Universität Siegen. Aneke Dornbusch, Dr. theol., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Peter Gemeinhardt, Dr. theol., ist Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. Uta Heil, Dr. theol., ist Professorin für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Martin Illert, Dr. theol., ist Oberkirchenrat im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland in Hannover und apl. Professor am Seminar für Ostkirchenkunde der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Thomas Kaufmann, Dr. theol., Dr. h. c. Dr. h. c., ist Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. Martin Keßler, Dr. theol., ist Professor für Kirchengeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Hans Otte, Dr. theol., ist Leitender Archivdirektor i. R. in Hannover und apl. Professor für Niedersächsische Kirchengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Adolf Martin Ritter, Dr. theol., Dr. h. c. Dr. h. c., ist Professor i. R. für Historische Theologie an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Christoph Schönau, Dr. theol., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen.
Register Personen und Schriften aus vormoderner Zeit Alphabetikon 116 f. Ammon von Raithu 124 Ansgar 167 Antonius 108, 112 f., 115–122, 133 f. Apophthegmata Patrum 6, 101, 108, 113–117, 119, 121–126, 131–133 Arius 134, 164 f. Arminius 203 Arndt, Johann 187 f. Arnold, Gottfried VI, 7, 82, 129, 140, 145, 171– 198, 212 Arsenius 126 Athanasius von Alexandrien 115–119, 134, 165 Augustin von Hippo 96, 136, 147, 161, 163 f., 189, 199, 206, 218 f. Barsanuphius und Johannes 122 Basilius von Caesarea 6, 82, 100 f., 103–105, 134, 182 Beda Venerabilis 158 Benedikt von Nursia 120 Böhme, Jacob 175, 184 f., 190 Bonifatius 111 f., 134, 157, 162, 167, 208
Gottschalk der Sachse 60, 157, 159, 163 f., 167– 169, 209 Gregor der Große 158 Gregor von Nazianz 105, 126 f., 131 Gregor von Nyssa 100 Heliand 60, 157, 159 f., 168, 208 Hippolyt 88 Irenäus von Lyon 88, 104 Isaias monachus 117 Johannes Cassian 120 f., 123 Johannes Chrysostomus 126, 131 Johannes Kolobos 119, 131, 165 Johannes von Gaza → Barsanuphius und Johannes Justinian I. 4, 94 f., 113 Karl der Große 58, 154, 156 Klemens von Alexandrien 88 Konstantin I. 4, 6, 88, 93–99, 107, 182, 187 Kyrill von Skythopolis 116
Calvin, Johannes 26, 204–207, 221, 223 Cassiodor 120 Celsus 135 Cotelier, Jean-Baptiste 116 Cyprian von Karthago 88 Cyprian, Ernst Salomon 190
Lefèvre siehe Faber Stapulensis, Jacobus Luther, Martin V f., 3, 5–7, 13, 16, 18, 25–48, 51 f., 55–57, 82, 93, 95, 98 f., 107, 110– 112, 121 f., 124, 127, 131 f., 135, 140, 144, 149, 153, 158, 171 f., 178, 186, 194–197, 199–225
Dippel, Johann Konrad 182, 192
Makarios der Ägypter V, 3, 6 f., 79, 81 f., 99 f., 108 f., 113, 121–123, 125–132, 134–145, 169, 171, 176, 180, 182, 187–190, 194–196 → Symeon von Mesopotamien Meister Eckhardt (auch Eckehard) 17, 47, 60 f., 153 Melanchthon, Philipp 112, 121 Müntzer, Thomas 218, 221
Erasmus von Rotterdam 218 Faber Stapulensis, Jacobus 204 f. Francke, August Hermann 188, 195, 197 Gerbel, Nikolaus 33 Gichtel, Johann Georg 175 Goethe, Johann Wolfgang von 188 https://doi.org/10.1515/9783110690095-012
Nilus von Ankyra 108, 114
230
Register
Origenes 88, 123, 142, 153 Orosius 164 Pachomius 122, 134 Poimen 117, 123 f. Salvian von Marseille 165 Sisoes 122–124 Sozomenus 116 Spanheim, Friedrich (der Jüngere) 175 Spener, Philipp Jakob 174, 183 f., 188, 197 Spinoza, Baruch 222 Sprögel, Anna Maria 175, 184 Sprögel, Johann Heinrich 175
Symeon Stylites 138 f. Symeon von Mesopotamien V, 60, 81, 99 f., 125, 129, 137 f., 169, 170 f. → Makarios der Ägypter Tauler, Johannes 205 Tertullian 88 Theodosius I. 4, 94 f., 113 Thrasamund 165 Weigel, Valentin 193 Wulfila 165 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von 174, 188
Personen und Autoren ab 1800 Aaij, Michel 157 Aland, Kurt 1, 69, 79, 99, 142, 194, 206 Albrecht-Birkner, Veronika 197 Alkier, Stefan 175 Alles, Gregory D. 154 Andersson, Bo 184 Andresen, Carl 89, 92 f., 95, 104, 107 f., 117, 135 f., 176, 180, 186, 207 Anselm, Reiner 220 Arndt, Ernst Moritz 203 Assel, Heinrich 52, 205 Augusti, Johann Christian Wilhelm 148 Baesecke, Georg 160 Baetke, Walter 161, 167 f. Bainton, Roland H. 95 f., 211 Bak, János 150 Bank, Johannes Hendrikus van de 187 Barnes, Timothy R. 95 Bartel, Horst 56, 202 Bartels, Friedrich 22 Barth, Karl 12 f., 18, 26, 52, 57, 80, 96, 176, 189, 223 Barth, Ulrich 184 f. Bauer, Walter 75, 176 f., 180 Baumann, Schaul 154 Baumgarten, Otto 51 f. Baur, Ferdinand Christian 173 Beck, Heinrich 155
Becker, Matthias 154 Behaghel, Otto 160 Beisheim, Johannes 89 Benz, Ernst 108, 113, 193–195, 198 Benz, Wolfgang 51 f. Berggrav, Eivind 223 Berghahn, Volker R. 51 Bering, Dietz 29 Berneburg, Ernst 27, 95, 171, 187, 200, 206, 209 f., 213, 224 Berner, Hans-Ulrich 179 Berthold, Heinz 128–130, 139 f., 142 Bethge, Eberhard 222 Beutel, Albrecht 195 Beyer, Hermann Wolfgang 69 Beyreuther, Erich 185 Białkowski, Błażej 216 Bienert, Maren 191 Birnbaum, Walter 14 f., 59 f. Bismarck, Klaus von 94 Blaufuß, Dietrich 140, 173, 197 Bock, Hans Manfred 149 Boehmer, Heinrich 46, 150, 167 Bonhoeffer, Dietrich 222 Bonus, Arthur 149, 167 Bornkamm, Heinrich 1, 28, 36, 38, 69, 210, 211 Boudriot, Wilhelm 155 Bousset, Wilhelm 101, 115, 180 Bozsa, Isabella 77
Personen und Autoren ab 1800
Brandi, Karl 177 f., 180 Bräuer, Siegfried 56, 202 Braun, Hannelore 204 Brennecke, Hanns Christof 61, 95, 113, 118, 149 Breul, Wolfgang 173–175, 184, 186, 197 Bring, Ragnar 200 Brunner, Otto 217 Bruns, Peter 140 Büchsel, Jürgen 195 f. Bultmann, Rudolf 56, 69, 90 Burckhardt, Jacob 95–97 Burton-Christie, Douglas 123 Buss, Hansjörg V, 2, 5, 15, 26, 49, 51–53, 55–59, 63 f., 67, 74, 76, 93, 176–178, 180, 188, 227 Bußmann, Walter 69, 179 Campenhausen, Axel Freiherr von 5, 84 Campenhausen, Hans Freiherr von V, 1, 6, 54 f., 63, 69–84, 87–90, 94, 110, 116, 127, 181, 194, 200–202, 224 Chadwick, Henry 87, 104 Clemen, Carl 155 Cleve, Fredric 144 Dahm, Karl-Wilhelm 65, 151 Dehn, Günther 3, 51–53 Denzler, Georg 56 Dibelius, Franz 173, 184, 189 Dieckhoff, August Wilhelm 45 Dietzel, Stefan 220 Dinger, Florian 38 Dinkler, Erich 69, 219 Dinkler-von Schubert, Erika 69, 219 Doerne, Martin 94, 186, 224 Dörfler-Dierken, Angelika 87, 97 f. Dornbusch, Aneke 4, 6, 15, 25, 50, 54, 69, 108, 110 f., 114, 116, 126, 135, 147, 152, 225, 227 Dörries, Annemarie 77 Dörries, Bernhard 5, 11 f., 50 Dörries, Reinhard 82 Doumergue, Emil 204 Drecoll, Volker Henning 104, 107, 164 Drescher-Kaden, Friedrich Karl 178 f. Dusse, Debora 161 Ebeling, Gerhard 30, 93, 111, 195, 219 Eger, Karl 53
231
Ehrhardt, Arnold (Anton Traugott) 96 Elze, Martin 104 Emmelmann, Moritz 38 Ericksen, Robert P. 2, 52, 64, 200 Fabricius, Volker 56 Fahlbusch, Michael 216 Fascher, Erich 51 Faulenbach, Bernd 179 Fausel, Heinrich 36 Fehr, Hubert 150 Fell, Robert 58 Fezer, Karl 54 Fichte, Johann Gottlob 203 Ficker, Johannes 31, 109, 113 Fitschen, Klaus 129 f., 144, 180 Fix, Karl-Heinz 202 Flaubert, Gustave 116 Freudenberger, Matthias 223 Frey, Herman-Walther 180 Frey, Jörg 79 Fried, Johannes 58 Fritsch, Theodor 50 Fritsch, Thomas 184, 190 f. Fuchs, Emil 57 Fuchs, Monika E. 38 Fues, Wolfram Malte 61 Garleff, Michael 216 Gehl, Walter 161 Gemeinhardt, Peter 1, 6, 13, 33, 37, 50, 59, 62 f., 66, 74, 100, 107, 112, 114, 117–119, 123, 127, 133, 136, 169, 178, 180, 227 Gerhardt, Martin 75 Giesecke, Heinz-Eberhard 150 Glawatz, Walter 45 f. Glemser, Oskar 182 Godlove, Shannon 157 Goeters, Johann Fr. G. 175 Gogarten, Friedrich 54, 58 f., 179 Goldschmidt, Stephan 192 Göllnitz, Martin 52 Götte, Urte M. 38 Graf, Friedrich-Wilhelm 182, 212 Graf, Karl Heinrich 204 Granfield, Patrick 144 Greiffenhagen, Otto 37
232
Register
Greschat, Katharina 173, 196 Greschat, Martin 91, 186, 215 Grimm, Jakob 167 Grimme, Adolf 51 Grisar, Hartmann 29 Grünzinger, Gertraud 204 Grüttner, Michael 180 Gumbel, Emil Julius 51 Gussmann, Wilhelm 26, 28 f., 35 f., 40 f. Haar, Ingo 216 Hackmann, Jörg 216 Haller, Johannes 205 f., 215 Harbsmeier, Götz 18 f., 24, 69, 110 Harmless, William 115 Harms, Ludwig 199, 211 f. Harnack, Adolf von 70, 79 f., 83, 134, 142 Harnack, Theodosius 46, 207 Hasselhorn, Benjamin 205 Hauck, Albert 149 Hauer, Jakob Wilhelm 58, 153–155 Hauschild, Wolf-Dieter 13, 107 Heiene, Gunnar 223 Heil, Uta VI, 4, 7, 17, 39, 60, 95, 113, 118, 156, 227 Hein, Dieter 96 Helbich, Peter 11 Helm, Karl 155, 161 Hempel, Johannes 49 Hempelmann, Reinhard 110 Hengel, Martin 79 Hermelink, Heinrich 37 f., 188 Herte, Adolf 150 Hesse, Otmar 126, 134 Heun, Werner 177 Heusler, Andreas 154 f., 161, 167 Heussi, Karl 2, 33, 37 f., 108 f., 113–117, 133, 150, 167, 189 Heyne, Moritz 160 Himmler, Heinrich 221 Hirsch, Emanuel 2 f., 6, 12, 14–16, 27, 51–53, 57–60, 63 f., 69, 75 f., 80 f., 83, 99, 184 f., 190, 194, 200 Hitler, Adolf 2, 27, 42, 52, 57, 65, 81, 91, 152, 176 f., 186, 201 f., 214, 221 Hoffmann, Florian 19 Hoffmann, Georg 15 f., 27 f., 38–40, 57, 59, 63, 178
Hohensee, Elisabeth 38 Holl, Karl 28, 35 f., 46, 48, 83, 108, 113, 131, 140, 204–207, 212 Hose, Jochen 184 Hossenfelder, Joachim 42, 54 Huber, Wolfgang 97 Hürter, Johannes 92 Iber, Harald 61 Illert, Martin V, 6, 60, 100, 113, 125, 128, 130, 137–145, 169, 176, 227 Irmscher, Johannes 80 Jacob, Günter 97 Jacob-Friesen, Karl Hermann 154 f. Jaeger, Werner 99–101 Jäger, August 54 Jäger, Paul 167 Jarnut, Jörg 150 Jaspert, Bernd 108, 110–112, 114, 126, 135, 175, 189, 194, 204 Jeremias, Joachim 57, 121, 177 Joest, Christoph 108, 110 Jülicher, Adolf 50, 83, 138 f., 206 Jungmann, Josef A. 144 Kaehler, Siegfried 69, 177, 179 f. Kahl, Hans-Dietrich 169 Kahrstedt, Ulrich 178 Kaiser, Jochen-Christoph 219 Kampmann, Claudia 30, 219 Kattenbusch, Ferdinand 212 Kauffmann, Friedrich 161 Kaufmann, Thomas VI, 7, 27, 61, 80, 89, 93, 98 f., 150, 171 f., 176, 183 f., 186, 193–195, 197, 199 f., 205, 210 f., 223 f., 227 Kees, Hermann 178 Keßler, Martin V, 7, 16, 28–30, 56, 93, 99, 171, 178, 194, 199, 219, 227 Kienle, Mathilde von 161 Kinzig, Wolfram 88 Kipf, Stefan 179 Klostermann, Erich 128, 130, 137 f., 141–143, 145, 169, 187 Klotz, Leopold 42 f., 49, 151, 213 Klügel, Eberhard 15 Ködderitz, Gerhard 57
Personen und Autoren ab 1800
Koehler, Walther 36 Kolb, Eberhard 172 Köpf, Ulrich 107 f., 185 Köstlin, Julius 46 Kraemer, Richard 36 Krafft, Wilhelm 148, 162 Krahnke, Holger 180 f. Krause, Reinhold 56 Kremer, Thomas 140 Kretschmar, Georg 104, 144 Kroeger, Matthias 169, 182, 187 Kropatschek, Hans 54 Krumwiede, Hans Walter 2, 27, 57, 60, 91, 171, 176, 178 f., 186, 193, 202, 215 f. Kück, Thomas J. 16 Kummer, Bernhard 161 Kvist, Hans-Olof 144 Lächele, Rainer 149 Lagarde, Paul de 167 Landmesser, Christof 69 Lange, Samuel Gottlieb 148 Langerbeck, Hermann 100 Larsen, Lilian 120, 133 Laube, Stefan 202 Lauffer, Otto 155 Leibholz, Gerhard 177 Leibholz-Bonhoeffer, Sabine 177 Leich, Gottfried 94 Leithart, Peter J. 95 Leppin, Hartmut 88, 95 f. Lessing, Theodor 51 f. Liebing, Heinz 219 Lietzmann, Hans 1, 69, 99, 142, 194, 205 f. Lilienfeld, Fairy von 107 f. Lilje, Hanns 21–24, 78, 110, 188, 219 Lipp, Carola 77 Lippmann, Andreas 195, 219 Lohalm, Uwe 51 Lohse, Eduard 24 Lother, Helmut 150 Mager, Inge 2, 59, 176, 178, 204 Mahrenholz, Christhard 19–22 Marahrens, August 13, 16, 74, 210 Marcks, Erich 29 Markschies, Christoph 70, 83, 194
233
Maron, Gottfried 29 f., 196, 203 Marriott, George L. 139 Martikainen, Jouko 144 Martin, Lucinda 184 Marwedel, Rainer 52 Mattiat, Eugen 76 f. Maurer, Wilhelm 223 McVey, Kathleen 133 Meier, Kurt 51, 54, 193 Meier, Marcus 174 Meinecke, Friedrich 185 Meyendorff, John 144 Meyer, Philipp 11, 13 Meyers, Jörn 155 Mirbt, Carl 50, 180, 181 Mish, Carsten 206 Moeller, Bernd 12, 70, 127, 204, 218 Mogk, Eugen 155 Mohr, Rudolf 175, 193 Mohr, Wolfgang 161 Mommsen, Theodor 79, 142 Monnet, Pierre 150 Morin, Germain 163 Muhs, Hermann 57 Mulert, Hermann 57 Mülhaupt, Erwin 206 Müller, Andreas 133 Müller, Barbara 115, 118 Müller, Karl 1, 13, 18, 45, 50, 93, 95, 132, 138, 172, 192, 194, 198 f., 206–209, 212 f., 223 Müller, Konrad 21 Müller, Ludwig 76 Müller, Otto Eduard 64 Münscher, Wilhelm 148 Naumann, Hans 149, 161 Neumann, Friedrich 57, 64, 178 f., 202 Niemöller, Martin 78 Niewöhner, Friedrich 140, 173 Nigg, Walter 135 Ninck, Martin 161 Nollau, Hermann 155 Nötzoldt, Peter 79 Nowak, Kurt 212 Oehmig, Stefan 202 Oelke, Harry 61, 80, 150, 183 f., 196 f., 200 Oppermann, Karl-Friedrich 11
234
Register
Osterloh, Edo 54 f. Otte, Hans V, 5, 13, 21, 110, 173, 178, 198, 227 Overhoff, Jürgen 222 Padberg, Lutz E. von 157 Pape, Marlene 199 Paulus, Nikolaus 45 Pavlović, Irena Zeltner 125, 137 Penman, Leigh T. I. 184 Perlitt, Lothar 19 f. Peters, Christian 190 Petri, August Ludwig 11 Pinwinkler, Alexander 216 Piper, Otto 51 f., 57 Plested, Marcus 134, 137, 144 Pohlenz, Max 177, 179 f. Rad, Gerhard von 17 f. Radmüller, Angelo 149 Ranke, Leopold von 46, 92 Rassow, Peter 179 Rebenich, Stefan 142 Renz, Horst 212 Rettberg, Friedrich Wilhelm 147 f. Retter, Ralf 62 Reventlow, Ernst zu 44 f., 47 Rieger, Reinhold 164 Ritschl, Albrecht 11, 13, 173, 191 f. Ritter, Adolf Martin V, 4, 6, 70, 80, 87 f., 90, 94 f., 104, 113, 181, 204, 227 Ritter, Gerhard 203 Robertson, Edwin Hanton 223 Roggenkamp, Antje 200 Rohls, Jan 212 Rosenberg, Alfred 51, 61, 154, 214 f. Roth, Alfred 51 Rothfels, Hans 92 Rubenson, Samuel 107 f., 119 f., 133 f. Rückert, Hanns 1, 77 f. Ruhbach, Gerhard 127 Rummel, Philipp von 150 Ruppel, Erich 22 Ruprecht, Dorothea 179 Ryökäs, Esko 144 Saarinen, Risto 144 Salvadori, Stefania 175
Sasse, Hermann 52 Schäfer, Dietrich 156 Schäferdiek, Knut 150, 157, 169 Schappacher, Norbert 178 Schauz, Désirée 178 f. Scheel, Otto 36, 38, 45 f., 206 Scheibe, Max 204 Schempp, Paul 220 Schindel, Martin 219 Schmidt, Kurt Dietrich 61, 211, 222 Schmidt, Martin 184 f., 193 Schmitt, Carl 219, 222 Schneider, Hans 173 f., 187 f., 194, 196 Schneidmüller, Bernd 150 Scholder, Klaus 65 Schönau, Christoph VI, 7, 129, 204 f. Schorn-Schütte, Luise 210, 214, 217 Schreiner, Helmuth 57 Schrimpf, Gangolf 164 Schröder, Bernd 1, 38, 74 Schröder, Edward 160, 177, 179 Schubert, Hans von 167 Schultze, Walter 193 Schulz, Günther 117, 135 Schumann, Dirk 172, 178 Schürmann, Arthur 64 Schuster, Hermann 38, 40, 63, 74, 90–92, 166, 200 Schwartz, Eduard 97 Schwarz, Klaus 144 Seeberg, Erich 7, 37, 172 f., 183, 185, 189–195 Seeberg, Reinhold 150, 220 Seidel, Thomas 217 Siebeck, Oskar 25, 31, 40, 72 Siegele-Wenschkewitz, Leonore 49, 59, 74, 176 Sievers, Eduard 160 Simek, Rudolf 161 Simpler, Steven H. 211 Sipos, Írisz 110 Slenczka, Ruth 55, 70, 200 f., 207 Slupina, Hans-Ludwig 206 Smend, Rudolf 2, 26, 176, 216, 222 Smither, Edward L. 95 Soden, Hans von 38, 69, 83, 201, 219 Söhlmann, Fritz 61 Spehr, Christopher 217
Orte und Sachen
Staats, Reinhard 5, 87, 130 Stählin, Traugott 75, 186 f. Stange, Carl 19–21, 59, 110 Steinbeck, Lukas 38 Stengel, Friedemann 51 Stewart, Columba 137, 144 Sträter, Udo 175, 197 Strauß, David Friedrich 148 Strecker, Georg 177 Strothmann, Werner 81, 138 f., 144 Taeger, Burkhart 160 Talay, Shabo 140 Thierfelder, Jörg 43 Treitschke, Heinrich von 29, 32–34, 48, 150, 156, 203 Trillhaas, Wolfgang 12, 75 Troeltsch, Ernst 182, 212, 222 Uhlhorn, Gerhard 11 Ulrich, Jörg 4, 113, 118, 149 Ungnad, Walter zur 58 Utermöhlen, Rudolf 19 Villecourt, Louis de 126, 138 Vilmar, August 167 Vogel, Lothar 174, 184, 197 Vogelsang, Erich 28, 36, 40 f. Volp, Ulrich 30, 219 Wagener, Claus P. 54 Wagenmann, Karl 13, 21 Wallmann, Johannes 173 f., 186, 191 Wallraff, Martin 30, 219
235
Ware, Kallistos 144 Weber, Edmund 150 Weeks, Andrew 184 Wegeler, Cornelia 27, 178 f. Weichelt, Hans 149 Weiling, Christoph 54 Wendebourg, Dorothea 29, 203 Wenz, Gunther 212 Wesley, John 195 Wieacker, Franz 96 Wiegmann, Torsten-Wilhelm 50, 52, 56, 60 f., 147, 176, 200, 202 Wieneke, Friedrich 42 Wießner, Gernot 89 Wilk, Florian 123 Wilken, Robert L. 95 Winnebeck, Julia 30, 219 Winter, Helmut 19 Wischmann, Adolf 64 Wischmeyer, Wolfgang 70 Wittram, Reinhard 186, 215 f. Wolf, Ernst 2, 65, 69, 80 f., 83 Woller, Hans 92 Wollgast, Siegfried 140, 145 Wood, Ian 157 Zager, Werner 69 Zahn, Johannes 172 Zander, Hans Conrad 136 Zeller, Winfried 175, 193 f. Ziemer, Jürgen 117, 135 Zimmerli, Walther 177 Zocher, Peter 55
Orte und Sachen 20. Jahrhundert 7, 19, 69, 84, 87, 183, 190 95 Thesen 46, 122, 206 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 7, 67, 99, 147, 172, 176–178, 180–182 Altes Testament 18 Antisemitismus 50–52, 90, 167, 203 Apg 5,29 210, 212, 219–223 Arianismus 61 f., 134, 148–150, 164–167
Beichte 114, 119, 121–124, 129, 133, 135 Bekennende Kirche, Bekenntnisgemeinschaft 13 f., 16 50, 57 f., 61, 63, 77, 178, 221 Bekenntnis 13, 38, 52, 57 f., 65 f., 75, 102, 105, 165, 188, 214 f. Besatzungszeit → Nachkriegszeit Bibel 107, 112, 123, 125, 132, 165, 206 BRD, Bundesrepublik Deutschland 2 f., 6, 79, 98, 147, 200, 225
236
Register
Briefwechsel – mit Hans von Campenhausen V, 1, 6, 69–84, 110 – mit Karl Müller 172, 192 Bursfelde – Abt V, 5, 11–24, 75, 109 f., 134 f., 208 – Kloster 18–24, 109 f. Buße 121–123, 133 Christentum 17, 19, 39, 44, 60 f., 63, 65, 88, 91, 97 f., 110, 113, 141, 144, 147–150, 152–160, 162 f., 166–169, 189, 195, 197, 214 f. Christianisierung der Germanen → Germanenmission DDR, Deutsche Demokratische Republik 7, 79, 98, 217 Demokratie 2, 51, 90, 218, 225 Deutsche Akademie der Wissenschaften (Ost-Berlin) 79 Deutsche Christen 42 f., 49, 55 f., 65, 76, 149, 167 Deutschland V, 2, 15 f., 25–52, 55 f., 60 f., 65, 69, 79, 84, 90–92, 98, 147, 157 f., 163, 200–203, 207, 216, 225 Deutschnational 53, 152, 225 Dialektische Theologie 12–14, 83, 158 Dissertation 4 f., 25, 69, 82, 87, 94, 110, 147, 187, 195, 216, 225 Dogma 100 f., 104, 148 Ekklesiologie 127, 212 Entnazifizierung 53, 62, 64, 66 f., 78 Erster Weltkrieg 1 f., 29, 92, 212 Evangelium 18, 36, 48, 93, 97, 122–125, 132, 136, 148, 208, 210, 219 Fachschaft 63 Fakultät → Theologische Fakultät Göttingen Fall Dehn 3, 51–53 Führer 29, 37, 55, 64, 180 Gehorsam → Gottesgehorsam Germanen 17, 44, 61 f., 147–169 – Mission 3, 113, 157–159, 161 Germanischer Arianismus → Arianismus Germanisierung (des Christentums) 39, 147, 149 f., 159, 163, 167–169
Geschichte 2, 13, 20, 24, 30 f., 50, 60 f., 65, 84, 101, 111, 115, 117, 125, 134–136, 147, 152, 156 f., 163, 171, 175, 180, 185, 187 f., 191 f., 198, 203, 208–221, 225 Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 17, 28, 38, 50, 57, 60, 154, 159, 200 Gießen 73, 174 f., 183, 194, 196, 201 Glaube 39 f., 46, 62, 112, 153, 155 f., 159–162, 166 f., 204, 220 Gott 36, 46 f., 49, 52, 102 f., 121 f., 126, 130 f., 136, 150–152, 158, 161, 169, 210, 212, 214, 216–218, 220 f. Gottesgehorsam 33, 39, 92, 199, 209 f., 219–221 Göttingen 2–4, 7, 12–23, 26–30, 50–55, 59, 64– 66, 69, 72–78, 93–96, 147, 150, 172, 176– 178, 182, 200, 202, 216, 227 – Akademie der Wissenschaften 79, 147, 172, 176–178, 180–182 – Theologische Fakultät 2, 12 f., 24, 52 – Universität 1–6, 16, 20, 22, 26 f., 30–32, 36 f., 56, 58 f., 63, 89, 177–180, 202 Göttinger Tageblatt 1, 30 f., 40, 56, 58 Habilitation 30, 33, 135, 147, 183, 206, 219, 223 Halle 13, 50–54, 113, 141, 147, 197, 227 Hannover 3, 11 f., 14, 21 f., 50, 207, 227 Hannoversche Landeskirche V, 2, 5, 11, 13–24, 59, 76, 89, 180, 198, 207 Heidelberg 1, 11, 36, 51, 54, 74, 76–78, 87 f., 93 f., 227 Heilige 112 Heiliger Geist 101–105, 123–131, 143–145, 165, 192 Historiker 1, 4, 6, 11, 19, 21 f., 28, 32, 36 f., 49 f., 64, 70, 88, 95, 113, 116, 132, 135, 141, 147 f., 156, 169, 177, 181, 183 f., 188, 193, 203, 205, 208, 215 f., 218 f. Historismus 12, 185, 199 Judentum 52, 61, 77, 149, 164, 149 Junge Kirche 58, 60, 62, 77, 114, 164, 167 Kaiser (Spätantike) 4, 6, 36, 93–99, 113, 118, 134, 182, 203 Kaiserreich, Deutsches 147, 149, 207, 223 Katholizismus, (römisch-)katholisch 22, 47, 91, 122, 135, 157, 204 f., 223
Orte und Sachen
237
Kirche → Ekklesiologie Kirchengeschichte V, 1, 3, 6 f., 13, 17, 26, 30, 38, 44 f., 50, 52, 66, 72, 76, 83 f., 87, 94, 96, 111, 132, 135, 143, 148, 171, 173, 180, 185, 194, 200, 208 f., 211, 218 f., 227 Kirchenkampf 13, 50, 54, 66, 69, 73, 77, 114, 141, 165, 177 f., 219, 222 Konstantinisches Zeitalter 94, 97 f.
Patristische Kommission der Westdeutschen Akademien der Wissenschaften 80 Pietismus 3, 6, 128 f., 140 f., 145, 171–175, 183– 198 Preußen 20, 30, 34 f., 38, 51, 54, 152, 156 Protestantismus, protestantisch 6 f., 23, 49, 63, 121, 133, 135, 144, 149, 175, 182, 197, 203– 205, 212, 221 f., 224
Liberale Theologie 11–13, 18 f., 57, 134 f. Lutherforschung 7, 26, 28, 38, 99, 206 Lutherkreis 63, 99 Luthertum 48, 192, 215, 222–224
Rechtfertigungslehre 144, 205, 212 Reformation 3, 21, 23, 26, 29, 46, 110, 158, 175, 185, 191, 196, 204–206, 213, 219, 222 Reichsbischof 59, 76 Reichskirche 54, 58, 141, 143 Reichsministerium/-minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) 51, 58, 62, 180 Religion 3, 17 f., 39, 43 f., 47, 56, 61, 153–162, 166–169, 203 Religion in Geschichte und Gegenwart 107 f., 114, 167, 183 f. Religionsgeschichtliche Schule 180 Rezension, Rezensent 26, 28, 34 f., 39 f., 87, 95, 100 f., 104, 108, 116, 154, 188, 193 f., 211, 218, 222 f. Rezeption 26, 28, 61, 111 f., 116, 132, 135, 140, 143 f., 157, 164, 175, 183 f., 187, 189 f., 193– 195, 219, 222, 224 Röm 13 210, 221
Makarios – Edition V, 3, 7, 79, 126, 137–146 – Homilien 6, 81, 138, 143–145, 187–189 Marburg 37, 50, 70, 72, 76, 87, 93, 125, 138, 147, 176 f., 193 f., 195 Messalianer 81 f., 99, 108, 113 f., 125, 128–130, 134, 137–141, 143 f., 180 Mittelalter VI, 7, 21, 37, 101, 111, 113, 120 f., 147– 169, 171, 183, 205 Mönchtum V, 3, 6, 72, 98, 100 f., 103, 107–136, 139 f., 169, 209 Mystik 17, 26, 32, 47, 147, 149, 174 f., 182–185, 192, 194, 196, 206, 217 Nachkriegszeit 66 f., 70, 79 Nachlass Dörries 4, 45, 51, 64, 70, 100 Nation 16, 31, 32–38, 45, 52, 56, 148, 151, 203, 214 Nationalismus 149 Nationalsozialismus V, 2, 4 f., 17, 27, 32, 43 f., 48–67, 71, 74, 78, 84, 89 f., 82, 96, 141, 147, 149–152, 157, 172, 176, 178–180, 195, 200 f., 213–216, 222 f., 225 Neues Testament 51, 57, 79, 94, 104, 167, 176 Niedersachsen 1, 20 f., 157, 169 NSDAP 3, 50, 53, 56, 58, 61, 66 f., 74, 77 f., 91, 172, 201, 214 f. NS-Zeit 13, 77, 209 Orthodoxie 128, 144, 183, 190 f. Patristik 3, 79 f., 87–89, 94, 110, 114, 117, 137, 143 f., 171, 189, 198
SA 53 Sachsen 60, 154, 156–158, 160, 162 f., 169 Schicksalsglaube 156, 159–162, 164, 167 Spätantike V, 79 f., 87–105, 107, 109, 147, 162 f., 171 Sportpalastskandal 54, 76 Staat und Kirche 16, 25–48, 56 f., 201–227 Studentengemeinde 63 f., 74, 186 Theologie 1, 4, 7, 11–18, 27 f., 31, 36, 50, 56, 63, 81, 83, 87, 91, 94, 100–102, 110, 119, 123, 125 f., 129, 131, 133–137, 139, 143 f., 197, 205, 208, 212, 224 f. Theologiegeschichte 7, 69, 84, 88, 175, 187, 205 Tübingen 3, 13, 25, 30, 50, 95, 205 f., 215 USA 100, 195, 211, 215, 225
238
Register
Versailler Vertrag 43, 53, 152 Vita Antonii 101, 107 f., 115–119, 123, 133 Völkisch, völkischer Glaube 34, 40, 44, 49–53, 56, 58, 60–62, 67, 149 f., 161, 165, 216 Weimarer Republik 2, 19 f., 52–54, 92, 147, 177, 183 Widerstand 21, 64, 99, 156, 199, 207, 210, 220, 223 f. Widerstandsrecht 199, 223 f.
Wissenschaft 1, 4 f., 12, 15, 21, 50–52, 59–63, 67, 71, 75, 79 f., 84, 87, 93, 99, 101, 113, 128, 137, 142, 173, 178–183, 195, 201, 206 f., 216, 225 Wormser Reichstag 36–39, 47, 56, 203, 210, 223 Wort-Gottes-Theologie → Dialektische Theologie Wüstenväter → Mönchtum Zwei-Reiche Lehre → Staat und Kirche Zweiter Weltkrieg 13, 15, 19, 67, 89–92, 113, 200