Geschichte lernen im digitalen Wandel 9783486858662, 9783486761368

Young people communicate through social networks, and seek information and opinion online. They participate publicly in

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German Pages 189 [190] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Geschichte lernen im digitalen Wandel Einleitung
Teil I: Historisch-politisches Lernen im Social Web
Lernen Schüler/innen Geschichte im Digitalen anders?
Narrative Bricolage. Jugendlicher Umgang mit digitalen Netzmedien zur Bewältigung des „narrativen Paradox“ von Neu-Nacherzählungen
Das World Wide Web als historisches Informations-Medium? Ausgewählte Ergebnisse zur Nutzung der historischen Website Vimu.info
Situative Erinnerungskultur
Teil II: Digitale geschichtsdidaktische Lehr-Lern-Projekte
Classroom4.eu Schüler schreiben ein multimediales Online-Schulbuch zur Kulturgeschichte Europas
Weblogs in der historisch-politischen Bildung
Medientheoretische und medienpädagogische Grundlagen einer. „Historischen Medienkompetenz“
Teil III: Konzeptionen und Theorien
Die Vermessung der (digitalen) Welt. Geschichtslernen mit digitalen Medien
Die Geschichtsdidaktik und die digitale Welt. Eine Perspektive auf spezifische Chancen und Probleme
Geschichte lernen digital? Ein Kommentar zu mehrfach gebrochenen Diskursen der Geschichtsdidaktik
Zwischen Deutungshoheiten und digitaler Offenheit. Ein Kommentar
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Geschichte lernen im digitalen Wandel
 9783486858662, 9783486761368

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Marko Demantowsky, Christoph Pallaske (Hrsg.) Geschichte lernen im digitalen Wandel

Geschichte lernen im digitalen Wandel

| Herausgegeben von Marko Demantowsky und Christoph Pallaske

ISBN 978-3-486-76136-8 e-ISBN (PDF) 978-3-486-85866-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039904-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Titelbild: © Getty Images/moodboard RF Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Marko Demantowsky, Christoph Pallaske  Geschichte lernen im digitalen Wandel  Einleitung | VII

Teil I: Historisch-politisches Lernen im Social Web  Bettina Alavi  Lernen Schüler/innen Geschichte im Digitalen anders? | 3 Jan Hodel  Narrative Bricolage Jugendlicher Umgang mit digitalen Netzmedien zur Bewältigung des „narrativen Paradox“ von Neu-Nacherzählungen | 17 Astrid Schwabe  Das World Wide Web als historisches Informations-Medium? Ausgewählte Ergebnisse zur Nutzung der historischen Website Vimu.info | 35 Manuel Altenkirch  Situative Erinnerungskultur | 59

Teil II: Digitale geschichtsdidaktische Lehr-Lern-Projekte  Daniel Bernsen  Classroom4.eu Schüler schreiben ein multimediales Online-Schulbuch zur Kulturgeschichte Europas | 79 Birgit Marzinka  Weblogs in der historisch-politischen Bildung | 91 Ulf Kerber  Medientheoretische und medienpädagogische Grundlagen einer „Historischen Medienkompetenz“ | 105

VI | Inhalt

Teil III: Konzeptionen und Theorien  Christoph Pallaske  Die Vermessung der (digitalen) Welt Geschichtslernen mit digitalen Medien | 135 Marko Demantowsky  Die Geschichtsdidaktik und die digitale Welt Eine Perspektive auf spezifische Chancen und Probleme | 149 Christoph Kühberger  Geschichte lernen digital? Ein Kommentar zu mehrfach gebrochenen Diskursen der Geschichtsdidaktik | 163 Oliver Baumann  Zwischen Deutungshoheiten und digitaler Offenheit Ein Kommentar | 169

Marko Demantowsky, Christoph Pallaske

Geschichte lernen im digitalen Wandel Einleitung

1 Dass die Digitalisierung die Gesellschaften in all ihren Aspekten wie wenig andere technischen Entwicklungen zuvor grundständig verändert, ist ein Allgemeinplatz. Dabei werden der „digitale Wandel“ oder die „digitale Revolution“ meist positivistisch als fortschrittlich konnotiert und ein enormer Einfluss „des Digitalen“ behauptet. Wer heute ohne Smartphone unterwegs ist oder ein Leben jenseits der diversen Social-Media-Kanäle führt, gilt als weltabgewandt und rückständig (woran selbst die jüngeren Debatten zu Ausspähung und Datensicherheit wenig geändert haben). Besonders die Lebenswelt junger Menschen, denen als „digital Natives“ bereits eine eigene Generationenbezeichnung zugeschrieben wird, hat sich in den letzten wenigen Jahren rasant und radikal verändert. Alterstypische Kommunikationen finden via InstantMessanger oder in sozialen Netzwerken statt, Informationen werden offenen Collaboratives (Wikipedia) oder Web-Angeboten entnommen, die nicht den herkömmlichen Reputationsregeln unterliegen (Weblogs etc.). An gesellschaftlichen Wandlungen und Ereignissen nimmt man spontan, öffentlich und in Echtzeit teil (Twitter, Online-Threads etc.). Das Ende der Gutenberg-Galaxis scheint in der Generation der heute Heranwachsenden bereits eine Tatsache zu sein. Gerade weil heutige Schüler-Generationen ganz selbstverständlich mit digitalen Medien aufwachsen und – nur wenige Jahre nach ihrer Markteinführung – fast jede/r Schüler/in der Schulen der Sekundarstufen (in denen fast überall Handy-Verbote gelten) ein Smartphone besitzt, ist es auf den ersten Blick erstaunlich, dass digitale Medien in der schulischen Unterrichtspraxis bislang eine nur geringe Rolle spielen. Zwar gab es in den vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreiche Versuche, die „Schulen ans Netz“ zu holen und entsprechend auszustatten. Auch an normativen Entwürfen zum Einsatz digitaler Medien in den Schulen seit den 1990er Jahren besteht kein Mangel. In der praktischen Umsetzung stießen solche Bemühungen an ihre Grenzen. Beispielsweise gelten Konzepte zum „E-Learning“ in einem Sinne, dass Computeranwendungen Lehrer/innen ersetzen können, im institutionellen Rahmen von Schule inzwischen

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als gescheitert. Auch die Strategien der Schulbuchverlage, ihre Lernmedien durch CD-Roms zu ergänzen, wurden angesichts geringer Nachfrage meist wieder eingestellt. Unter Lehrer/innen herrscht seither verbreitete Unsicherheit darüber, ob und wie sich digitale Medien sinnvoll in Unterrichtskonzepte implementieren lassen. Wie tief der digitale Wandel greift, lässt sich also kaum pauschal beantworten. Während der Einfluss der Digitalisierung in der Wirtschaft oder den Massen- und Kommunikationsmedien überall mit Händen zu greifen ist, ist es längst nicht ausgemacht, ob Lernen mit digitalen Geräten, dem so genannten Internet oder mittels digitaler Präsentationstechniken einen Vorteil gegenüber dem bislang etablierten Unterrichtspraktiken bietet. So kann beispielsweise die intensive und konzentrierte Arbeit mit einem auf Papier gedruckten Text für bestimmte Lernarrangements noch immer als die effektivste unterrichtliche Methode gelten. Zugleich lässt sich häufig beobachten, dass sich Schüler/innen erstens beim Surfen im Netz auf beliebigen Recherchewegen verlieren; viele von ihnen zeigen zweitens eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Abhängigkeit, online und stets „verfügbar“ zu sein, so dass Schule den Anspruch formulieren könnte, gerade deshalb die Nutzung digitaler Medien nicht weiter zu fördern. Allerdings verändert der digitale Wandel die Bedingungen schulischen Lernens und die Schulen müssen auf solche Veränderungen reagieren – gewollt oder nicht. Auf der 2013 in München durchgeführten Tagung „Geschichte lernen digital“, deren Beiträge sich in diesem Band dokumentiert finden, wurde vielfach über das „Lernen unter den Bedingungen der Digitalität“ diskutiert, z.B. dass Schüler/innen, selbst wenn der Unterricht noch ganz „analog“ durchgeführt wird, außerhalb von Schule digitale Netzmedien selbstverständlich einsetzen um zu recherchieren oder sich zur Bearbeitung von Hausaufgaben vernetzen etc. Zugleich ist zu beobachten, dass Jugendliche die Möglichkeiten digitaler Netzmedien oft nur wenig kennen und nur eingeschränkt nutzen. Sie dienen hauptsächlich dazu, um in der Freizeit Nachrichten auszutauschen, sich in Social Media-Kanälen zu bewegen oder Videos anzuschauen.

2 Die Geschichtsdidaktik reflektiert über den digitalen Wandel und den Einsatz digitaler Medien bereits seit den 1990er Jahren, und zwar auf drei Ebenen: erstens bezüglich pragmatischer Aspekte der (möglichen) Veränderungen des Ge-

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schichtslernens, zweitens der Entwicklung des Geschichtsbewusstseins der Einzelnen, ihrer Geschichtsbilder und historischen Imaginationen sowie der Geschichtskultur(en), schließlich drittens die Auswirkungen auf die Fachdisziplin selbst. Der vorliegende Band berücksichtigt alle drei Ebenen und kann als Überblicks- und Einstiegslektüre zu „Geschichte lernen im digitalen Wandel“ dienen. Allerdings kann angesichts der rasanten technologischen Entwicklungen auch nur ein aktueller Zwischenstand der geschichtsdidaktischen Diskussion abgebildet werden. Die sich aus neuen technologische Entwicklungen ergebenden zukünftigen Potenziale des Geschichtslernens mit digitalen Medien sind erst ansatzweise absehbar. Anlass für die Münchener Tagung 2013 war, dass sich mit dem Aufkommen des Web 2.0 (oder Social Web) vor etwa zehn Jahren eine neue Diskussionskultur im Internet entwickelte. Eine im Hinblick auf die große Zahl von Geschichtslehrer/innen im deutschsprachigen Raum sehr kleine Gruppe „digitaler Praktiker“ konzipierte auf selbst erstellten Portalen, in Weblogs, in Social Media-Kanälen (insbesondere Twitter) oder anderen Online-Formaten Lehr/Lernangebote für das historische Lernen und forderte darüber hinaus eine Neuorientierung der Geschichtsunterrichts hin zum „Lernen unter den Bedingungen der Digitalität“. So hat sich eine eigene „Net-Community“ herausgebildet, die seither, von der universitären Geschichtsdidaktik lange wenig beachtet, mannigfaltige, vielfach anregende, manchmal aber auch diskussionswürdige Ansätze und konkrete unterrichtsmethodische Konzepte entwickelt hat, die für das Geschichtslernen den digitalen Wandel aufnehmen und durch die schnellen Veröffentlichungswege im Netz zunehmend öffentlich wahrgenommen und nachgefragt wurden und werden. Die Unterschiede zur Scientific Community bestehen wesentlich darin, dass in ihrem Rahmen eine schriftliche Wortmeldung selten spontan erfolgt und auch nur innerhalb eines Experten-Kreises (also nur halb-öffentlich), dass schriftliche Auseinandersetzungen oft an der langen Frequenz ihrer Erscheinung leiden, dass aber die große Latenz der Erscheinung die Kontrolle über die Wortmeldungen sehr ausbaut (äußere Kontrolle über Peer-Reviewing, innere Kontrolle durch Antizipation des Peer Reviewing). Wenn man den Vergleich der Diskurse tabellarisch fasste, wäre leicht zu erkennen, dass sich kommunikative Vor- und Nachteile beider Diskurse aufwiegen, ihre starke Differenz aber nicht zu verkennen ist. Dazu kommt, dass sich die Regeln der Reputationszuweisung und der Disziplinierung (Foucault) ebenfalls unterscheiden und miteinander in Konflikt geraten können, wenn man auf dem gleichen thematischen Feld agiert.

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Im Jahre 2011 kam es zu einem bemerkenswerten Zusammenprall dieser beiden unterschiedlicher Diskurswelten,1 der sich als sehr fruchtbar bis in dieses Projekt erwiesen hat. Auf ein kurzes Telefoninterview auf dem L.I.S.A-Wissenschaftsportal, das sich auf einen akademischen Vortrag bezog, folgte eine ganze Reihe von sehr raschen, durchaus polemischen Wortmeldungen in einzelnen Weblogs von Autoren, die nicht der Scientific, sondern der „Net-Community“ zuzurechnen waren. Nun ist es mit solchen Gruppenzuweisungen immer so eine Sache. Man benutzt sie selbst gerne, um sich in der Welt zu orientieren; man unterliegt ihnen aber selbst sehr ungern, weil man sich durch die Zuweisung einer Gruppenzugehörigkeit identifikatorisch nicht aufgehoben fühlt. Diesen Widerspruch muss man lebensweltlich ertragen. In der genannten Auseinandersetzung lag offenbar der Umstand vor, dass ein Thema, nämlich der digitale Wandel in der Gesellschaft und in ihrem Umgang mit Geschichte, von Vertreterinnen und Vertretern verschiedenartiger Diskurse parallel bearbeitet, überdacht und verfochten worden ist. Es sind die Diskurse, die sich unterscheiden, und nicht eigentlich die Menschen, die in ihnen agieren. Diese Differenz kann naturgemäß leicht zu den symptomatischen Problemen führen, wie sich 2011 gezeigt hat. Deshalb war es dringend angesagt, wichtige Protagonisten beider Diskurse an einen Tisch zu bringen, um einen Austausch zu versuchen und zu etablieren, der die spezifische Ratio beider Diskurse und die differenten Perspektiven auf das gleiche Thema zu beiderseitigem Vorteil zu verbinden vermag. Daraus folgte der Ansatz der Tagung als „Forschung und Praxis im Gespräch“, wobei der so positiv aufgeladene doppelte Begriff der Empirie in beiden Hauptsektionen zur Geltung kommt, einmal als sozialwissenschaftliche Empirie, die Daten und evidenzbasierte Deutungen über das Geschichtslernen im Netz zu generieren beansprucht, und einmal als fundierte Erfahrungs-Empirie, die auf der Basis von reichhaltigem Anwendungswissen begründet, was didaktisch funktionieren könnte. Es ist genau diese empirische Ebene, auf der sich die Diskurse und ihre Vertreterinnen und Vertreter treffen können. Dieser Import-Ausgleich setzt wechselseitige Neugier und Anerkennung voraus. Gegenseitige Themen-Besitzansprüche, Kleingärtnerei und Ausgrenzungsverfahren führen dagegen nicht in einen Erkenntnis- und Entwicklungsfortschritt. In diesem Sinne will das vorliegende Publikationsprojekt verfahren und in diesem Sinne soll auch der neue KGD-Arbeitskreis (siehe unten) wirken:

|| 1 Siehe die Kommentarspalte unter dem Audio-Interview v. 5.8.2011 auf L.I.S.A.. Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung. Vgl. http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/content. php?nav_id=1750&focus_comments=1#comments (zuletzt am 4.7.2014).

Geschichte lernen im digitalen Wandel | XI

Der digitale Wandel stellt die Geschichtsdidaktik vor Herausforderungen, zu deren Bewältigung jede gute Idee gebraucht wird.

3 Ein wichtiges Ziel der Veranstaltung, nämlich die geschichtsdidaktischen Akteure der verschiedenen Diskursgemeinden (wissenschaftliche Disziplin und „Net-Community“) online und persönlich zusammenzubringen, sie sich gegenseitig vorzustellen und ihren direkten Austausch zu ermöglichen, wurde auf der Münchener Tagung „Geschichte Lernen digital 2013“ zweifellos erreicht. Daraus mag, wie wir hoffen, in Zukunft besseres gegenseitiges Verständnis und mehr Aufmerksamkeit erwachsen. Der Anfang ist, über die längst bestehenden einzelnen Kontakte und Kooperationen hinaus, kollektiv gemacht. Des Weiteren ist es gewiss die Bewährung des neuartigen Veranstaltungsformats, der „interaktiven Netz-Tagung“2, die für einen neuen Standard in Zukunft gesorgt hat. Die Bewährung zeigte sich nicht nur am allgemeinen positiven Echo auf die Veranstaltung, vielmehr gab auch die Anzahl der tagungsbezogenen Twitterpostings (#gld13) wie auch die „Einschaltquote“ des Livestreams deutliche Anzeichen des Funktionierens unseres Angebots. Ohne die professionelle und kreative Unterstützung durch das L.I.S.A.-Wissenschaftsportal wäre dieses Format nicht umzusetzen gewesen. Wissenschaftliche Projekte, so kann man nach unseren Erfahrungen behaupten, die wirklichen Wert auf öffentlichen Austausch und eine echte Rückbindung ihrer Diskussionen in einen breiten gesellschaftlichen Raum legen, können sich nicht mehr nur auf die Arbeit universitärer Pressereferate verlassen, sondern sollten ihre Forschungen und Diskussionen ungefiltert denen zugänglich machen, die sie finanzieren: den Steuerzahlenden. Und sie sollten interessierten und betroffenen Gruppen (in unserem Fall: die Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler) darüber hinaus auch ein direktes kommunikatives Einwirken auf diese Projekte und Diskussionen ermöglichen. Uns scheint, dass dies in besonderer Weise für das breite Spektrum der Bildungswissenschaften in ihrem Verhältnis zum Praxisfeld Schule gilt und als Argument ernsthaft geprüft werden sollte.

|| 2 „Man sollte dieses Format unbedingt weiterentwickeln.“ Interview von Georgios Chatzoudis mit Marko Demantowsky und Christoph Pallaske v. 26.3.2013. In: L.I.S.A.. Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung, online http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/content.php? nav_id=4281 (zuletzt am 5.7.14).

XII | Marko Demantowsky, Christoph Pallaske

Hier sind die wechselseitigen Klagen und Fehlwahrnehmungen notorisch und besonders ärgerlich. Aber es gab auch schon konkrete Ergebnisse, die im Rahmen der Tagung öffentlich gemacht werden konnten, die eine stärkere Hinwendung der universitären Geschichtsdidaktik und einer immer größeren Zahl von Geschichtslehrkräften zu den Potenzialen und Wirklichkeiten einer Welt im digitalen Wandel deutlich machen. Zum einen hat sich auf der Zweijahrestagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik im September 2013 in Göttingen der KGD-Arbeitskreis „Geschichtsdidaktik und digitaler Wandel“ unter der Leitung von Marko Demantowsky, Jan Hodel (beide Basel) und Christoph Pallaske (Köln) konstituiert.3 Dieser Arbeitskreis wird versuchen, das Anliegen der Münchener Tagung weiter zu verfolgen: ein Forum zu bieten für alle internetbasierten und internetorientierten geschichtsdidaktischen Forschungs- und Entwicklungsprojekte, gleich ob außeroder inneruniversitär. Dazu wird einmal jährlich ein Treffen des Arbeitskreises veranstaltet. So hat in diesem Jahr 2014 in Köln die erste Arbeitstagung stattgefunden zum Thema „Geschichtsdidaktische Medienverständnisse“.4 Alle zwei Jahre wollen wir an der Optimierung des Formats einer interaktiven NetzTagung arbeiten – als Piloten für die gesamte Disziplin. Außerdem kündigte Marko Demantowsky die baldige Verwirklichung zweier neuer netzbasierter geschichtsdidaktischer Entwicklungsprojekte an, die einerseits aktuelle geschichtsdidaktische Positionen einer breiteren Netzöffentlichkeit zur Diskussion stellen sollen5, andererseits geschichtsdidaktische Forschungs- und Entwicklungsarbeit durch ein kollaboratives Bibliographietool effektiver machen soll.

4 Gliederung des Bandes Die Beiträge und Kommentare der Tagung Geschichte Lernen digital 2013 können ausdrücklich auch als Einführung in theoretische, empirische und pragmatische Annäherungen an das Geschichtslernen im digitalen Wandel dienen. Die drei Kapitel (resp. Sektionen der Tagung) verfolgen den Anspruch, den aktuellen Stand der Diskussion facettenreich und umfassend abzubilden. Das erste || 3 Siehe das Weblog des Arbeitskreises: http://dwgd.hypotheses.org (zuletzt am 5.7.14). 4 Siehe die Tagungshomepage: http://dwgd.hypotheses.org/gld14 (zuletzt am 5.7.14). 5 Siehe Public History Weekly. Blogjournal for History and Civics Education. Vgl. http:// public-history-weekly.oldenbourg-verlag.de (zuletzt am 5.7.14).

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Kapitel gibt einen Überblick zu empirischen geschichtsdidaktischen Forschungen zum Lernen mit digitalen Medien. Kapitel zwei macht anhand verschiedener konkreter Anwendungsbeispiele deutlich, wie digitale Medien das Geschichtslernen verändern können. Das dritte Kapitel und die Abschlussdiskussion, die im Tagungsband durch die zwei Kommentare dokumentiert wird, bilden den Versuch einer Synthese und einer theoretischen Reflexion grundsätzlicher Fragen des Geschichtslernens mit digitalen Medien.

4.1 Sektion 1: Historisch-politisches Lernen im Social Web. Empirische Studien Die Geschichtsdidaktik hat schon vor Jahren begonnen, durch sozio-empirische Forschung die Spezifika der geschichtsbezogenen Erkenntnisgewinnung und -verarbeitung von Heranwachsenden im Internet und an digitalem LehrLern-Material aufzuklären. Die Ansätze und Projekte hierzu sind sich weitgehend darin einig, dass Lernkonzepte mit digitalen Medien nicht Selbstzweck, sondern maßgeblich nach ihren didaktischen Potenzialen zu beurteilen sind. Kontrovers und noch immer nicht entschieden ist die Debatte, ob historisches Lernen mit digitalen Medien eher nur eine Erweiterung des Medienspektrums bedeutet oder einen veränderten Lernbegriff für sich beanspruchen kann. Bettina Alavi (Pädagogische Hochschule Heidelberg) knüpft in ihrem Beitrag an eine neuere geschichtsdidaktische Medientheorie an (Bernsen/König/ Spahn 2013) und blickt von dort aus noch einmal neu auf die von Ihr verantworteten Studien zum Umgang von Schülerinnen und Schülern mit digitalen Lernangeboten (CD-ROM). Jan Hodel (Pädagogische Hochschule FHNW, Basel u.a.) stellt wichtige Untersuchungsergebnisse seiner Dissertation zur Diskussion, insbesondere geht es ihm dabei darum, den Umgang mit fremden Texten in digitalen Umgebungen durch Schülerinnen und Schüler neu zu durchdenken und schließlich auch zu bewerten. Astrid Schwabe (Universität Flensburg) schöpft ebenfalls aus ihrer Dissertation, die sich der Nutzungsanalyse einer geschichtskulturellen Webangebots gewidmet hat. Sehr interessant sind die verschiedenen Typen von Nutzerinnen und Nutzern, die sie evident zu unterscheiden und daraus wichtige Fragen an die historisch-politische Bildung abzuleiten vermag. Schließlich Manuel Altenkirch (Pädagogische Hochschule Heidelberg), dessen Dissertationsschrift kurz vor der Vollendung steht und natürlich die Grundlage für sein Münchener Referat gebildet hat. Sein Referat bildet einen wichti-

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gen geschichtsdidaktischen Zugang zum Phänomen Wikipedia, das binnen weniger Jahre den Zugang und die Erzeugung öffentlichen Wissens grundlegend verändert hat. Eigene empirische Studien sind eine entscheidende Voraussetzung die grundlegend veränderten Bedingungen geschichtsbezogenen Lernens geschichtsdidaktisch adäquat zu reflektieren und auf sie unterrichtspragmatisch angemessen zu reagieren. Die Geschichtsdidaktik als akademische Disziplin steht im Hinblick auf ihre zentrale Aufgabe der historisch-politischen Multiplikatorenbildung (Lehreraus- und -fortbildung) in der Verantwortung, die Dynamik gesellschaftlicher Wirklichkeit immer aufs Neue zu reflektieren. Dabei ist sie allerdings nicht ausschließlich auf empirische Studien verwiesen, vielmehr kann sie von einem lebhaften und ernsthaften Austausch mit den schon angesprochenen netzaffinen geschichtsdidaktischen Praktikern außerordentlich profitieren.

4.2 Sektion 2: Digitale geschichtsdidaktische Lehr-Lern-Projekte. Erfahrungen und Best Practice Die Referent/innen der Sektion „Digitale geschichtsdidaktische Lehr-LernProjekte“ gehören mit ihren Weblogs und Lernplattformen zu wichtigen Multiplikatoren des digitalen Geschichtslernens und sind in der Community der „digitalen Praktiker“ bekannt und vernetzt. Auffällig ist der generationelle Zusammenhang: Sie gehören zu den Jahrgängen der 1970er Jahre – und zählen somit noch zu den sog. Digital Immigrants. Bezüglich ihrer professionellen Herkunft stellen sie nicht unbedingt eine homogene Gruppe dar, denn unter den „digitalen Praktikern“ finden sich sowohl Lehrer/innen und andere Akteure der historisch-politischen Bildungsarbeit als auch in der Lehreraus- und -fortbildung verankerte Akteure aus der Fachdidaktik. Diese unterschiedlichen Arbeitsfelder spiegeln die Referent/innen wider. Daniel Bernsen (Eichendorff-Gymnasium in Koblenz) und Birgit Marzinka (Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V., Berlin) stellen Ressourcen des Web2.0 als Kommunikationsraum vor. Bernsens Beitrag über das von Schüler/innen selbst verfasste eigene Schulbuch „Classroom4.eu“ im Format eines Wiki und die von Marzinka vorgestellten Beispiele für Blogs machen neue Möglichkeiten kooperativer und kollaborativer Schreibwerkzeuge beim Aushandeln historischer Narrative deutlich. Ulf Kerber (Pädagogische Hochschule, Karlsruhe) stellt ein Konzept zur medienpädagogischen Ausbildung „historischer Medienkompetenz“ für Lehramtsstudierende im Fach Ge-

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schichte vor, in dessen Rahmen die noch junge Anwendung des Mobile Learnings eine Rolle spielt. Die Beiträge der zweiten Sektion machen deutlich, dass man für das Geschichtslernen im Rahmen institutionell verankerter Bildung bislang von nur einer geringen Nutzung digitaler Medien sprechen kann. Während dabei die Verwendung von Blogs, Wikis oder WebQuests noch zu den (vergleichsweise) etablierten Anwendungen zählen, stehen sinnhafte Umsetzungen im Bereich des Mobile Learnings noch am Anfang. Empirische Forschungen zu allen vorgestellten Beispielen stehen noch weitgehend aus.

4.3 Sektion 3: Konzeptionen und Theorien. Geschichtsbezogenes Lernen in der digitalen Zukunft Die abschließende Sektion dient der Synthese und Reflexion der empirischen Forschungsergebnisse und der aktuellen Entwicklungen der Anwendungen digitaler Medien für das Geschichtslernen – um Ausmaß und Bedeutung des digitalen Wandels für den Geschichtsunterricht und die Fachdisziplin der Geschichtsdidaktik zu ermessen. Die Einschätzungen hierzu fielen in den Diskussionen der Tagung weit auseinander; sie reichen von der Annahme einer grundlegenden Neujustierung geschichtsdidaktischer Grundbegriffe und -kategorien bis zu einer verbreiteten Skepsis, dass sich zwar Formen, nicht aber Inhalte und Prinzipien historischen Lernens und Denkens verändern. Der Beitrag von Christoph Pallaske (Universität zu Köln) gibt einen Überblick über zurzeit diskutierte Potenziale digitaler Medien für das Geschichtslernen. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, welche geschichtsdidaktischen Prinzipien durch den digitalen Medieneinsatz grundlegend berührt werden – und welche Einsatzmöglichkeiten bezogen auf historisches Lernen irrelevant scheinen. Der Beitrag macht zugleich deutlich, dass angesichts der diffusen Verwendung des Medienbegriffs des Geschichtslernens das Ermessen solcher Potenziale erschwert wird. Marko Demantowsky (Pädagogische Hochschule FHNW, Basel u.a.) diskutiert die Potenziale digital formatierter Lehr-Lern-Angebote skeptisch. Dabei werden die didaktischen Potenziale nicht bestritten, aber gleichzeitig auch Risiken und Probleme bilanziert. Wesentlich ist ihm, dass der digitale Wandel, seine neuen geschichtskulturellen Formate von der Geschichtsdidaktik schnell, ernsthaft und kritisch aufgegriffen werden, man sich aber gleichzeitig nicht zu viel von digitalen Lernmaschinen verspricht.

XVI | Marko Demantowsky, Christoph Pallaske

Die abschließende Diskussion wird durch zwei Kommentare von Christoph Kühberger und Oliver Baumann dokumentiert. Kühberger macht in seinem Beitrag die verschiedenen Interessenlagen der an der Diskussion beteiligten Akteure deutlich. Baumann diskutiert die Bedeutung der Möglichkeit des Internets, Bildungsmedien frei verfügbar zu machen.

5 Danksagung Die Tagung „Geschichte Lernen digital 2013“ konnte nur durch die Unterstützung unserer Kooperationspartner: der Körber-Stiftung (Hamburg), dem Wissenschaftsportal L.I.S.A. der Gerda-Henkel-Stiftung (Düsseldorf), der Konferenz für Geschichtsdidaktik (KGD) und nicht zuletzt vor allem auch der Bayerischen Staatsbibliothek (München), unserem großzügigen und renommierten Gastgeber, so befriedigend realisiert werden. Wir bedanken uns sehr herzlich bei unseren Kooperationspartnern für die Unterstützung beim Zustandekommen und der Durchführung der interaktiven Netz-Tagung. Nur wenige Wochen nach der Tagung in München ist Peter Haber, der seinen geplanten Vortrag Digital Humanities im Klassenzimmer. Der nächste Hype oder neue Möglichkeiten nicht mehr halten konnte, verstorben. Peter Haber6 war einer der profiliertesten Geschichtswissenschaftler auf dem Gebiet der „Digital Humanities“, uns ein kluger Ratgeber und immer ein herausfordernder Denker.

|| 6 Zu Peter Haber siehe weitere Informationen hier: http://www.hist.net/peter-haber/ (zuletzt am 5.7.14).

| Teil I: Historisch-politisches Lernen im Social Web Empirische Studien

Bettina Alavi

Lernen Schüler/innen Geschichte im Digitalen anders? In der Geschichtsdidaktik sind empirische Untersuchungen zum Lernen mit digitalen Medien immer noch rar und finden sich sehr verstreut.1 Zur Beantwortung der Titelfrage „Lernen Schüler/innen Geschichte im Digitalen anders?“ gibt es bisher nur wenige Antworten. Deshalb wird in diesem Beitrag der Versuch unternommen, die vorhandenen Untersuchungen in einer Art Bestandsaufnahme zu systematisieren. Dazu wird zunächst anhand eines einführenden Beispiels die Relevanz solcher empirischer Forschungen verdeutlicht, dann die vorhandenen Untersuchungen zum einen mit Hilfe des Modells der vier Modi historischen Lernens im Digitalen sowie zum anderen bezugnehmend auf deren methodische Zugangsweisen systematisiert. Auf die pointierte Darstellung von einigen Ergebnissen dieser Forschungen folgt das Ausweisen dringend zu bearbeitender Desiderate.

Einführendes Beispiel Der elfjährige Sohn einer Kollegin besuchte diese im Praktikumsamt unserer Hochschule und kommt dort in die Küche, die ein älteres Modell mit zusammengestückeltem Mobiliar enthält. Erstaunt ruft er aus: „Hier sieht es so aus wie bei Anne Frank!“ Für ein Referat über die Stadt Amsterdam im Fach Geographie hatte er die Seiten des Anne-Frank-Hauses in Amsterdam besucht, auf denen ein virtueller 3D-Rundgang durch das Hinterhaus angeboten wird, in dem sich die Familie Frank versteckt hatte.2 Die Ausstattung der Einzelräume hatte er sich offensichtlich gut gemerkt, werden die Räume doch auf den Webseiten ästhetisch ansprechend und mit von Schauspielern eingesprochenen Geschichten angereichert || 1 Das gilt nicht nur für das Fach Geschichte, sondern beispielsweise auch für das Fach Deutsch, wo zwar der Einsatz digitaler Medien weiter verbreitet ist, empirische Studien darüber aber auch selten sind. Vgl. Thomas Möbius: Empirische Forschung zum Einsatz digitaler Medien im Deutschunterricht. In: Thomas Möbius/Volker Frederking/Axel Krommer (Hrsg.): Digitale Medien im Deutschunterricht. Hildesheim (erscheint voraussichtlich 2014). Der Autor hat mir dankenswerter Weise sein Manuskript vorab zur Verfügung gestellt. 2 Das Küchenbild, auf das er Bezug nahm, findet sich unter http://www.annefrank.org/de/ Subsites/Home/Betritt-das-3D-Haus/#/house/17/ (aufgerufen am 22.7.2013).

4 | Bettina Alavi

präsentiert. Aus seinem eigenen Lebensumfeld kannte der Schüler – worauf die Kollegin hinwies – keine älteren Küchen, sondern nur moderne Einbauküchen. Dies brachte ihn dazu, die heutige Küche des Praktikumsamtes mit der virtuell besuchten Küche der Franks in Amsterdam assoziativ zu verbinden. Dabei ist die Küche der Franks nur im virtuellen Rundgang zu sehen, denn im Museum selber sind die Räume leer, da die Möbel nach der Verhaftung der Versteckten abtransportiert wurden. Die im 3D-Rundgang präsentierten Räume orientieren sich an den Tagebuchbeschreibungen der Anne Frank. An dieser Geschichte kann beispielhaft gezeigt werden, wie sich die Bedingungen und Auswirkungen des digitalen Wandels auf das historische Lernen, aber auch auf das Geschichtsbewusstsein und auf die Geschichts- und Erinnerungskultur gestalten.

Multimedialität als Prägefaktor des Geschichtsbewusstseins Der 3D-Rundgang stellt eine rekonstruierte Visualisierung des Vergangenen dar, die auf der Basis einer schriftlichen Quelle – des Tagebuchs der Anne Frank – erstellt wurde. Diese Rekonstruktion ist im Internet weltweit schnell verfügbar und offensichtlich für die Benutzergruppe der heranwachsenden Schüler/innen äußerst wirkmächtig: Die lebensnahe und farbenfrohe Visualisierung, die eingesprochenen Geschichten aus dem Leben der versteckt Lebenden, die mit Bildern und dem Tagebuch angereicherte Kontextualisierung mit dem tragischen Schicksal eines gleichaltrigen Mädchens hat die Vorstellung des Jungen so nachhaltig geprägt, dass er sich viele Details gemerkt hat. Allein das Lesen des Tagebuchs hätte diese Wirkung wohl kaum erzielt. Vielmehr scheint das Zusammenspiel der Einzelelemente der multimedialen Präsentation, die mehrere Sinneseindrücke gleichzeitig anspricht (Hören, Sehen) und quellenmäßig Überliefertes in einer ästhetischen Umsetzung (eingesprochene Szenen, Rekonstruktion des Mobiliars) zur Verfügung stellt, die Adressatengruppe für das tragische biographische Schicksal eines gleichaltrigen Mädchens besonders anzusprechen.

Informelles Lernen Die Vorstellung des genannten Elfjährigen von einer älteren Küche orientiert sich an diesem rekonstruierten historischen Beispiel, wobei die Prägung dieser Küchenvorstellung nicht das Ziel seiner Internetrecherche über Amsterdam war, innerhalb derer der Besuch des virtuellen Rundgangs quasi nur ein Neben-

Lernen Schüler/innen Geschichte im Digitalen anders? | 5

schauplatz darstellte. Offensichtlich hat er für sein Geographiereferat über Amsterdam nach einer Google-Suche auf mehreren Webseiten gesurft und war aus Interesse am Anne-Frank-Haus „hängengeblieben“. Wahrscheinlich hat er bei seiner Recherche noch mehr über Anne Frank gelernt, wobei es durchaus interessant wäre, weitere nicht intendierte Lerneffekte zu erfassen, weil dadurch Rückschlüsse auf den Aufbau von Geschichtsbewusstsein gezogen werden könnten. Denn gerade das Zusammenspiel von formellem historischem Lernen im Geschichtsunterricht und informellem Lernen im Internet scheint eine neue Dimension der interdependenten Verarbeitung von Geschichte zu eröffnen. Wo Spielfilme, Fernsehsendungen, Computerspiele schon einen solchen Weg angebahnt haben, erscheinen die Möglichkeiten virtueller Exkursionen, der fast unbegrenzten Informationsangebote im Internet sowie der schnellen elektronischen Kommunikation für das informelle Lernen von Geschichte viele neue Impulse zu geben. Das informelle Lernen kann dadurch individueller werden, gerade weil es im Internet zunehmend adressatengerechtere Angebote gibt, wie das Amsterdamer Beispiel zeigt. So könnte es sehr gewinnbringend sein, den Zusammenhang zwischen formellem und informellem historischen Lernen empirisch zu erforschen und die Auswirkungen auf das Geschichtsbewusstsein zu untersuchen, weil dadurch die Angebote und Bedingungen von Digitalität für das historische Lernen bewusster genutzt werden könnten.

Globalisierung von Erinnerungskultur Diese kleine Geschichte macht auch deutlich, dass die Nutzung von Geschichtsangeboten durch das digitale Medium nicht nur individueller geworden ist, sondern auch internationaler. Der elfjährige Junge griff von Deutschland aus auf die Website des Anne-Frank-Hauses zu, diese ist weltweit verfügbar und wird in mehreren Sprachversionen zur Verfügung gestellt. Hinzu kommt die Repräsentanz des Anne-Frank-Hauses bei Facebook, so dass die Schüler/innen mit einfachem und für sie lebensnahen Zugriff kommunizieren können. Schüler/innen aus aller Welt „besuchen“ so das Anne-Frank-Haus – auch wenn eine Exkursion aus Kosten- oder aus Auslastungsgründen nicht möglich ist.3 So fragt sich, wie die Schüler/innen weltweit diese Website rezi|| 3 Auf die Website wird auch deshalb so viel Wert gelegt, weil die Kapazität des Anne-FrankHauses, was reale Besucher/innen angeht, seit Jahren an der Grenze des Machbaren liegt. Nach Aussage von Ita Amahorseija und Gerrit Netten vom Anne-Frank-Haus Amsterdam auf der Tagung „httpasts://digitalmemoryonthenet“ der Bundeszentrale für politische Bildung vom 14.–16.4.2011 in Berlin sollen dadurch auch Besucherströme reduziert werden.

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pieren und worin interkulturelle Unterschiede bestehen könnten. Gerade bei der derzeitigen Tendenz der Universalisierung des Holocaust wäre die empirische Untersuchung des sich globalisierenden Geschichtsbewusstseins im Spannungsfeld interkultureller Unterschiede reizvoll, weil dadurch mehr über die Veränderungsprozesse des Geschichtsbewusstsein durch die digitalen Medien erfahrbar gemacht werden könnte. Die Titelfrage meines Vortrags „Lernen Schüler/innen Geschichte im Digitalen anders?“ kann also so interpretiert werden, dass die digitalen Medien die historische Erkenntnisse wesentlich mit formen, die Zugänge zum historischen Lernen informeller und unberechenbarer geworden sind und es Ziel der Geschichtsdidaktik sein muss, die Wechselwirkung zwischen dem historischen Lernen und den Bedingungen der Digitalisierung stärker zu untersuchen – insbesondere auch empirisch. Gleichzeitig kann hier schon die Titelfrage modifiziert werden, denn es ist offenbar, dass es nicht um anderes historisches Lernen geht, denn die Denkoperationen, die das historische Lernen bedingen (wie Analysieren, Kontextualisieren, Interpretieren, Datieren) scheinen gleich geblieben. Was sich aber verändert hat und die Erkenntnis von Geschichte wesentlich mitgestaltet sind die Bedingungen für das historische Lernen. Das Internet gleicht einem eigenen Kulturraum mit eigenen Regeln, Sprache und Kommunikationsverfahren,4 die Virtualität durchdringt zunehmend die Realität, so dass deren Grenzen verschwimmen. Die Titelfrage könnte also umformuliert werden in: Wie gestaltet sich historisches Lernen unter den Bedingungen der Digitalität? Um die empirischen Forschungen systematisieren zu können, erscheint ein Theoriemodell zweckmäßig, das die Besonderheiten des historischen Lernens im digitalen Medium erfasst. Deshalb wird hier Bezug genommen auf die vier Modi des historischen Lernens im Digitalen, wie sie 2012 von Bernsen/König/Spahn formuliert wurden.5 Sie unterscheiden in Lernen an digitalen Medien, Lernen mit digitalen Medien, Lernen über digitale Medien und Lernen im digitalen Medium. Um das Theoriemodell besser veranschaulichen zu können, werden relevante Forschungsfragen aufgeführt, die sich inhaltlich auf das Einstiegsbeispiel der Website des Anne-Frank-Hauses beziehen. Dabei wird auch deutlich werden, || 4 Darauf hat insbesondere Thomas Krüger in seinem Vortrag auf der dieser Publikation zugrunde liegenden Tagung hingewiesen. 5 Vgl. Daniel Bernsen/Alexander König/Thomas Spahn: Medien und historisches Lernen: Ein Verhältnisbestimmung und ein Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften, 1/2012. http://universaar.uni-saarland.de/journals/ index.php/zdg/article/view/294 (aufgerufen 03.03.2013). Vgl. für die Ausführungen zu den Modi S. 17f.

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dass sich die einzelnen Modi nicht immer trennscharf unterscheiden lassen, sondern dass es Interdependenzen und Überlappungsbereiche gibt. Lernen an digitalen Medien nimmt die Medien in ihrer Potentialität für das Lernen in den Fokus und berücksichtigt dabei sowohl intentionale als auch informelle Lernprozesse: Wie recherchieren Schüler/innen auf der Website des Anne-Frank-Hauses? Was merken sie sich? Welche informellen Lernprozesse sind damit verbunden? Wovon sind diese informellen Lernprozesse abhängig? Was merken sich argentinische, südafrikanische, israelische oder japanische Schüler/innen? Welche Vorstellungen integrieren sie wie in ihr Geschichtsbewusstsein? Wie funktionieren intentionale historische Lernprozesse im 3D-Rundgang? In welchen Kompetenzstufen erkennen und dekonstruieren die Schüler/innen den Konstruktcharakter des 3D-Rundgangs? Welche Rolle nimmt der 3D-Rundgang im Lernensemble von Tagebuch, Anne-Frank-Haus, Website und Geschichtsunterricht für das Lernen über Anne Frank als Beispiel für ein Schicksal im Nationalsozialismus ein? Lernen mit digitalen Medien stellt den Werkzeugcharakter digitaler Medien in den Mittelpunkt und untersucht, wie Medien als Lern- und Denkwerkzeuge eingesetzt werden, um historisches Lernen zu unterstützen: Wie kommunizieren die Schüler/innen mittels digitaler Medien über Anne Frank, z.B. mit Hilfe von Facebook? Was geschieht, wenn sie in Blogs ihre Arbeitsergebnisse zu Anne Frank kommunizieren? Wie funktionieren kooperative historische Lernprozesse? Lernen über digitale Medien bedeutet zum einen die Geschichte der Medien zu betrachten und zum anderen deskriptiv Aufbau, Funktion und Handhabung der einzelnen Medien in den Mittelpunkt zu stellen: Wie entsteht ein 3D-Rundgang zum Anne-Frank-Hinterhaus? Was steht genau so im Tagebuch? Was schreibt Anne Frank vielleicht nicht? Welche Lücken füllt die Visualisierung wie aus? Wie wirkt ein solcher 3D-Rundgang auf unterschiedliche Nutzer? Im 3D-Rundgang fehlen Gerüche und haptische Elemente, außerdem Sinneseindrücke durch Sonne/Helligkeit – zu welchen Erkenntnissen kann es deshalb nicht kommen? Inwiefern ist ein solcher 3D-Rundgang weltweit verständlich? Lernen im digitalen Medium fokussiert auf die Nutzung des Mediums als Denk- und Lernraum und nimmt das medienspezifisch begrenzte Set an Funktionalitäten in den Blick, d.h. schaut nach deren Angemessenheit im Hinblick auf das Lernobjekt, den Prozess und das Produkt des historischen Lernens: Wie hat der Schüler seine Aufgabe gelöst, ein Referat über Amsterdam zu halten: Welche Recherchemedien nutzt er? Welche Recherchewege geht er? Welche Präsentationsform mit spezifischen Möglichkeiten und Grenzen wählt er?

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Ordnet man die vorhandenen empirischen Arbeiten zum historischen Lernen unter den Bedingungen der Digitalität mit ihren Forschungsfragen diesen Modi zu, so ergibt sich folgendes Bild: Zum historischen Lernen an digitalen Medien liegen mehrere empirische Arbeiten vor: So wurde von Alavi 20076 und Alavi/Schäfer 20107 untersucht, wie Schüler/innen mit Selbstlernsoftware lernen. Diese Selbstlernsoftware beinhaltet Aufgaben zu historischen Themen, die den Anspruch haben, ergänzend zum Geschichtsunterricht den Schüler/innen eine selbständige Bearbeitung zu gewährleisten. Hier werden Lern- und Kooperationsstrategien zur Lösung der „historischen“ Lernaufgabe, die Verzahnung mit Wissen und Methodenkenntnissen aus dem Geschichtsunterricht, die beobachteten Schwierigkeiten und die Lerneffekte untersucht.8 Auch die empirischen Untersuchungen von Danker/Schwabe 20109 und insbesondere Schwabe 201210 erforschen, wie ein Internetangebot, nämlich die regionalgeschichtliche Website www.vimu.info genutzt wird. Schwabe nahm bspw. das Nutzerverhalten in den Blick und konnte verschiedene Nutzertypen unterscheiden und deren Potentiale für historisches Lernen bestimmen. Auch die empirischen Untersuchungen von Schmitt/Kowski 201111 und || 6 Vgl. Bettina Alavi: Wie lernen Schüler/innen mit historischer Selbstlernsoftware? In: Judith Martin/Christoph Hamann: Geschichte, Friedensgeschichte, Lebensgeschichte. Herbolzheim 2007. S. 205–220. 7 Vgl. Bettina Alavi/Marcel Schäfer: Historisches Lernen und Lernstrategien von Jugendlichen. Eine empirische Untersuchung zu historischer Selbstlernsoftware. In: Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010. S. 75–93. 8 Eine erste Studie dieser Art war Michele Barricelli/Ruth Benrath: „Cyberhistory“. Studierende, Schüler und Neue Medien im Blick empirischer Forschung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 337–353. Hier wurde die Nutzung einer „Infotainment-CD-ROM“ zur Industrialisierung durch ältere Schüler/innen untersucht. Da es sich um eine sehr kleine Studie handelt, die bereits mehrere Jahre zurückliegt, bleibt diese im Folgenden unberücksichtigt. 9 Vgl. Uwe Danker/Astrid Schwabe: Zielloses Wandern im ‚Cyberspace‘ oder autonomes Lernen im virtuellen Raum? Ein empirischer Werkstattbericht zur (außer-)schulischen Nutzung des regionalhistorischen Virtuellen Museums www.vimu.info. In: Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010, S. 95–130. 10 Vgl. Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web: Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info. Göttingen 2012 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik. Bd. 4). Vgl. ihre Ausführungen in diesem Band zu genaueren Informationen über ihre Forschungen. 11 Vgl. Christine Schmitt/Nicola Kowski: Zwischen Handbuch und „Facebook“. Was erwarten Studierende von einem geschichtlichen Fachportal? Online-Umfrage zu historicum.net Geschichtswissenschaften im Internet. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 62, (2011), H.11/12, S. 655–668.

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John 201312 widmen sich dem Lernen an digitalen Medien. Schmitt/Kowski untersuchten die Nutzung von www.historicum.net durch Geschichtsstudierende, während John 2013 die Nutzung ihrer onlinebasierten geschichtsdidaktischen Einführungsveranstaltung bei ihren Studierenden erfragt. Bei letzterem spielt auch das Lernen mit digitalen Medien eine Rolle, wenn erfragt wird, ob die Studierenden im Wiki der Veranstaltung kommunizieren oder die Blog-Funktion nutzen. Dem Lernen im digitalen Medium widmete sich Hodel 2010.13 Er untersuchte, wie sich Jugendliche im Rahmen schulischen Geschichtsunterrichts selbständig Informationen, z.B. für ein Referat beschaffen, untersuchte also die im Anfangsbeispiel aufgegriffene Situation, in der ein Schüler zu „Amsterdam“ recherchierte. Hodel ging es dabei einerseits um die Nutzung von Mediensystemen für die Recherche, zum anderen aber auch um die Verarbeitung der Online zugänglichen Inhalte für ein schriftliches Referat zu einem historischen Thema. Er fand heraus, dass Schüler/innen das Internet als Nachschlagewerk nutzen und dabei Textstellen bevorzugen, die frei von historischen Deutungsmustern sind, also nach ihrer Ansicht „neutrales Wissen“ enthalten. Dieses Wissen nehmen sie als Allgemeingut wahr, das lediglich gesammelt und in eine gut rezipierbare Form gebracht werden muss. Dazu werden die Textstellen kopiert und nach zwei Mustern zusammengefügt: 1. Mehrere unterschiedliche, meist unbenannte Textstellen werden mit kurzen eigenen Einschüben wie in einem Mosaik zusammengefügt. 2. Unterschiedliche Elemente wie eine Zeitleiste, ein Wikipedia-Artikel, Bilder werden aneinandergehängt und als Basisinformation zu einem mündlichen Vortrag genutzt. Hodel fragt kritisch, ob der Typ 1 (Mosaik) nicht ein neuer, digitaler Typus einer historischen Erzählform darstellt, da ein erfolgreiches Plagiat (und das wäre Typ 1) eine Bestimmung der Triftigkeit des Ausgangstextes und damit historisches Denken voraussetzt. Betrachtet man die vorliegenden wenigen empirischen Untersuchungen insgesamt, so fällt auf, dass diese vorrangig das Lernen an digitalen Medien erfor|| 12 Vgl. Anke John, Anke: Geschichtsdidaktik 2.0. Vom Nutzen und Nachteil internetbasierten Studierens im Lehramt Geschichte. In: Susanne Popp u.a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern. Göttingen 2013 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik. Bd. 3) S. 279–298. 13 Vgl. Jan Hodel: Geschichtslernen mit Copy and Share. In: Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010, S. 111–130. Vgl. Seine Ausführungen in diesem Band für genauere Informationen über seine Forschungen.

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schen. Nur eine Untersuchung liegt zum Lernen im digitalen Medium vor. Das Lernen mit digitalen Medien wird gestreift; keine Untersuchung widmet sich aber intensiv und allein diesem Modus. Zum Lernen über digitale Medien liegt keine empirische Untersuchung vor, obwohl auch da internationale Studien über die weltweite Verständlichkeit von „historischen“ Webseiten denkbar wären. Strukturiert man die vorliegenden empirischen Untersuchungen nach methodischen Gesichtspunkten, so findet man quantitative Studien, wie die von Schwabe 2012 und John 2013 sowie Schmitt/Kowski 2011 sowie qualitative Studien wie die von Hodel 2010 und Alavi/Schäfer 2010. Strukturiert man weiter nach der Art der Datenerhebung so finden sich empirische Untersuchungen, 1. die die Schüler/innen direkt beobachten (Alavi 2007, Alavi/Schäfer 2010) oder aber den Entstehungsprozess ihrer Produkte untersuchen (Hodel 2010); 2. die die Studierenden per online-Fragebogen nach deren Einschätzung von digitalen Lernangeboten mit historischen Inhalten fragen (Schmitt/Kowski 2011, John 2013); 3. die digital erhobenen Nutzerdaten auswerten (Danker/Schwabe 2010, Schwabe 2012). Die geringe Zahl empirischer Untersuchungen, die sich nur beschränkt allen vier Modi des historischen Lernens im Digitalen widmen, lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass es sich bei der geschichtsdidaktischen Community, die über die Auswirkungen des Digitalen Wandels auf das historische Lernen arbeitet, um einen sehr kleinen Kreis handelt – er ist mit den Autor/innen dieser Publikation schon fast erschöpft. Innerhalb dieses Kreises liegt das Interesse eher auf theoretischen Weiterentwicklungen und praktischen Anwendungen, denn auf empirische Untersuchungen. Zudem sind solche Untersuchungen zeitaufwändig und ihre Aussagekraft – gerade bei qualitativen Untersuchungen mit niedriger Fallzahl – äußerst begrenzt. Auch setzen viele Lehrkräfte digitale Medien im Geschichtsunterricht immer noch selten ein, sodass das Untersuchungsobjekt fehlt. Im Folgenden werden die Ergebnisse von drei Studien näher betrachtet, nämlich die von Alavi 2007 und Alavi/Schäfer 2010 und die von Schmitt/Kowski 2011 sowie John 2013. Die beiden anderen genannten Studien (Hodel 2010, Schwabe 2012) sind mit Einzelbeiträgen in dieser Publikation vertreten.

Erkenntnisse aus empirischen Untersuchungen Im Unterschied zum eingangs beschriebenen Beispiel des Umgangs mit der Website des Anne-Frank-Hauses ging es bei meinen Forschungen (Alavi 2007, Alavi/Schäfer 2010) um formelle Lernprozesse, also um eigens für die Bearbei-

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tung in den neuen Medien entwickelte Lernaufgabe mit historischem Inhalt, die von einem Schulbuchverlag noch heute als Zusatzmaterial zu einem Schulbuch angeboten wird.14 Solche CDs werden heute aber kaum noch produziert, da die Entwicklung teuer und deren Gewinn für das auf kommunikative Prozesse und einen breiten Informationszugriff angewiesene historische Lernen begrenzt ist. Eine sinnvolle historische Lernaufgabe15 für ein solch in sich geschlossenes Medium zu entwickeln ist sehr schwierig. Für Geschichte werden heute eher Moodle-Lernumgebungen oder Webquests entwickelt. Gleichwohl können viele Ergebnisse der Untersuchung darauf übertragen werden. Untersucht wurde, wie Schülerpaare einer 6. Klasse (Alavi 2007) und einer 9. Klasse (Alavi/Schäfer 2010) mit einer solchen Lernaufgabe arbeiten, welche Lernstrategien sie verfolgen und wie sie zur Lösung kommen. Dazu wurden die Schülerpaare per Videoscreening aufgenommen, deren Kommunikation transkribiert und mit der Methode des lauten Denkens analysiert. Ein anschließend verteilter Fragebogen fragte die Einschätzung der Schüler/innen bezüglich ihrer Arbeit mit der Lernaufgabe ab. Die Lernaufgabe der 6. Klasse (Realschule) bestand darin, das Giebelfeld einer Kirche mit der Abbildung des Jüngsten Gerichts in ein Schaubild zu abstrahieren. Die 9. Klasse (Realschule) sollte das Kriegstagebuch einer Handwerkerfrau aus dem 1. Weltkrieg mit Bildern (Foto, Plakat etc.) illustrieren und damit kontextualisieren.16 Im Folgenden bündele ich die wichtigsten Ergebnisse beider Untersuchungsabschnitte: Bei beiden Durchgängen waren diejenigen Schülerpaare am erfolgreichsten, die eine systematische Strategie der Aufgabenbearbeitung verfolgt haben. Diese bestand darin, sich zunächst einen Überblick über die zu lösende Aufgabe zu verschaffen und sich dann besonders intensiv mit den zugrunde liegenden Quellen auseinanderzusetzen. Erfolgreiche Schülerpaare strukturierten bspw. aus der intensiven Betrachtung des Giebelfeldes heraus eine Grundsystematik, die || 14 Vgl. für diese Untersuchung Zeitreise multimedial. Leipzig: Mittelalter 2005 sowie das lange 19. Jahrhundert 2006. 15 Unter einer Lernaufgabe versteht man eine lehrerseitige Vorlage, die die Lerner zu einer problemorientierten kommunikativen und/oder kognitiven Handlung auffordert. Der Schwerpunkt einer Lernaufgabe liegt auf kommunikativen Problemlöseprozessen. Vgl. für den Versuch Kriterien für eine gute Lernaufgabe zum historischen Lernen im digitalen Medium zu entwickeln Bettina Alavi/Marcel Schäfer: Elemente sinnvoller netzbasierter historischer Lernaufgaben – aufgezeigt an einem Beispiel. In: Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010. S. 239–252. Für Anregungen aus dem Fremdsprachenlernen vgl. Karin Biebighäuser/Marja Zibelius/Torben Schmidt: Aufgaben 2.0. Konzepte, Materialien und Methoden für das Fremdsprachenlehren und -lernen mit digitalen Medien. Tübingen 2012. 16 Beide Lernaufgaben wiesen unter geschichtsdidaktischen Gesichtspunkten große Schwächen auf, die hier aber nicht im Detail aufgezeigt werden können.

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sich auf das abstrahierende Schaubild übertragen ließ. Sie kommunizierten bei der Entwicklung der Grundsystematik über diese, aber auch über ihre „Theorie“, nämlich, dass die Quelle (Giebelfeld) und das Schaubild die gleiche Grundstruktur haben müssten. Ähnlich war es im zweiten Durchgang. Erfolgreiche Schülerpaare sahen sich zunächst die Bilder intensiv an und gingen diese immer wieder von Anfang an durch, um sie einem Tagebuchausschnitt zuzuordnen. Dadurch erarbeiteten sie sich ein Bildarchiv, was zu Beginn erhebliche Zeit in Anspruch nahm. Dann aber wurden die Zuordnungen immer schneller und treffsicherer. Die weniger erfolgreichen Schülerpaare hingegen waren zur Entwicklung einer solchen Strategie nicht fähig. Sie lieferten sich den Einzelheiten aus, weil sie sich keinen Gesamtüberblick über die Aufgabe verschafften, sondern sogleich Details betrachteten, die sie nicht zur Entwicklung eines systematischen Lösungswegs nutzen konnten. Das führte bspw. dazu, dass bei der Beschriftung des Schaubildes als Abstraktion des Giebelfeldes alles Mögliche ausprobiert wurde und die Lösung erst nach längerer Zeit nach dem Prinzip „Trial and Error“ gefunden werden konnte. Die Schülerpaare waren eher zur Entwicklung einer systematischen Aufgabenbearbeitung fähig, wenn sie konstruktiv mit ihren Partnern kooperierten, indem sie sich gegenseitig auf dem gleichen Stand hielten (z.B. beim Leseverständnis), sich gegenseitig etwaige Lösungswege kommunizierten und diese dann auch mit einer gewissen Hartnäckigkeit verfolgten. Fiel ein Partner etwa durch eine Konzentrationsschwäche aus, versuchte der andere diesen durch Erläuterungen wieder an die Aufgabe heranzuführen. Dieses Ergebnis bedeutet, dass im Geschichtsunterricht ein größeres Gewicht auf die Entwicklung einer solchen Fähigkeit zur Erarbeitung einer Systematik der Aufgabenbearbeitung gelegt werden müsste. Gleichzeitig gibt es aber noch keine Typik der historischen Lernaufgaben anhand derer diese Kompetenz zielgerichtet aufgebaut werden könnte. Es ist auch noch ungeklärt, was die Spezifik von „historischen“ Lernaufgaben ausmacht (hier vielleicht die Quellengrundlage) und welche Anteile zu einer fachunabhängigen Kompetenz gehören. Die Abstraktion eines Bildes in ein Schaubild wäre nämlich auch in anderen Fächern denkbar, z.B. als Abstraktion des Handlungsmusters einer Kurzgeschichte in ein Schaubild. Die Untersuchungen haben auch gezeigt, dass spezifische historische Kenntnisse die Bearbeitung der Aufgabe erleichterten bzw. sie erst ermöglicht haben. Dies waren zum einen Kenntnisse über die Spezifik einer Quellenart. Nicht allen Schüler/innen war bspw. präsent, dass ein Tagebuch chronologisch aufgebaut ist und deshalb eine Zuordnung der Bilder nach einem Jahreszahlenabgleich relativ mühelos erfolgen konnte. Auch die Kenntnis, dass das Giebelfeld ein typisches Bildprogramm des Mittelalters enthält, das die christliche Jenseitsvorstellung stilisiert, hätte den Schüler/innen einen Hinweis darauf

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gegeben, die Hauptcharakteristika dieses Bildes zu abstrahieren. Somit wäre es sinnvoll im Geschichtsunterricht gerade die Spezifik der verschiedenen Quellenarten immer wieder anzusprechen, um den Schüler/innen den Umgang mit diesen zu erleichtern.17 Hinzu kommt dass die Schüler/innen bei ihrer Bearbeitung der Lernaufgabe Verknüpfungen mit ihrem Vorwissen aus dem Geschichtsunterricht vornehmen. So kommentierten sie etwa ein Bild zum 1. Weltkrieg mit „Stellungskrieg“, obwohl dies den Hinweisen in der Selbstlernsoftware nicht zu entnehmen war. Auch methodische Kompetenzen, z.B. zur Bildanalyse (Einteilung in Bildabschnitte, Entschlüsselung von Symbolen etc.), die im Geschichtsunterricht angebahnt wurden, werden angewendet, wenn die Aufgabe dieses verlangt. Diese Interdependenzen klarer zu fassen wäre eine reizvolle Aufgabe für die weitere Forschung. Ein weiteres deutliches Ergebnis der Untersuchung war, dass die Schüler/innen sehr ökonomisch arbeiten, d.h. nur genau das machen, was von ihnen explizit gefordert wird und was minimal zur Lösung ausreicht. Schüler/innen lesen den Inhalt (z.B. des Tagebuchs) nicht genau durch, wenn eine Schlagwortsuche ausreicht; sie schlagen unverstandene historische Begriffe nicht nach, wenn ihnen kein Glossar angeboten wird und wenn sie vermuten, dass das „Überlesen“ des Begriffs nicht der Lösung der Lernaufgabe entgegensteht. Dies bedeutet, dass die Denkoperationen, die zum Lösen der Aufgabe und damit zum historischen Lernen durchgeführt werden, vorab ganz genau überlegt werden müssen. Hier scheint mir noch eine große Entwicklungsaufgabe für Lernaufgaben zum historischen Lernen zu bestehen. In diesem Zusammenhang wird von den Schüler/innen explizit ein Feedback eingefordert, das ihnen Sicherheit gibt und das sie im Geschichtsunterricht von der Lehrperson gewöhnt sind. Gerade auch ein Zwischenfeedback gibt den Schüler/innen Sicherheit und vermeidet gleichzeitig ein orientierungsloses Suchen nach dem Prinzip „Trial and Error“. Generell positiv gesehen wurde von den Schüler/innen, aber auch von den Studierenden der im Folgenden dargestellten Untersuchungen, dass Lernaufgaben im digitalen Medium in der eigenen Geschwindigkeit bearbeitet werden können und die Möglichkeit besteht, sich Bestandteile immer wieder anzusehen. Im Folgenden fasse ich die Ergebnisse der Untersuchungen von Schmitt/ Kowski 2011 wie von John 2013 pointiert zusammen: Ein Ergebnis beider Umfragen war, dass Studierende Internetangebote, sei es auf einem historischen Fachportal wie historicum.net, sei es in einer Blended Learning-Umgebung „Grund-

|| 17 Hans-Jürgen Pandel spricht von Gattungskompetenz, die aber mehr beinhaltet als das hier Angesprochene. Vgl. Hans Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Schwalbach/Ts. 2005.

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lagen historischen Lernens“, primär dazu nutzen (wollen), um einen fachlich abgesicherten Einstieg ins Thema zu bekommen, sich thematisch zu orientieren und aktuelle weiterführende Literaturhinweise zu finden. Sie nutzen diese Internetangebote also wie ein herkömmliches Handbuch, aber eines, das überall zugänglich ist und das aktueller erscheint. Diese Angebote, die instruktiv den Erwerb deklarativen Wissens fördern, sind beliebt und werden als sinnvolle Ergänzung im Studium angesehen, auch wenn bei den Angeboten häufig eine mediengerechtere Gestaltung angemahnt wird, also z.B. ein strukturiertes Design mit Visualisierungen, Hypertextstrukturen und intertextuelle Vernetzungen. Allerdings nimmt dieses Bedürfnis nach strukturierten Themeneinstiegen mit der Studiendauer ab, an fast die gleiche Stelle treten die Möglichkeiten der Fachrecherche, die das Internet bietet.18 Dass die Fachrecherche im Internet mit zunehmender Studiendauer an Bedeutung gewinnt, könnte bedeuten, dass diese im Studium erlernt wird/erlernt werden muss und dann die einfache Google-Suche durch die gezielte und effektivere Recherche auf Fachportalen ersetzt werden kann. Aufgrund der Vielzahl und Diversität der Angebote ist die schlichte Kenntnis von Adressen und der damit verbundenen Potenziale wichtig, ähnlich dem Wissen über Handbücher, Lexika, Bibliographien, wie es traditionell im Geschichtsstudium erworben wird. Dies scheint eine fachspezifische Online-Kompetenz zu sein, die im Studium erlernt werden muss, denn wo man gewünschte Informationen zu historischen Sachverhalten schnell und zuverlässig findet, wo Quellen oder aber didaktisches Material digital zugänglich ist, das muss erlernt werden und sollte in den Kanon der im Geschichtsstudium zu erwerbenden Kompetenzen aufgenommen werden. Als weiteres Ergebnis ergeben beide Untersuchungen, dass Studierende interaktive Elemente und Formen des gemeinschaftlichen Lernens wie das Erstellen von Wikis und die Teilnahme an Blogs nur ungern nutzen (wollen). Sie beschränken sich gerne auf die Möglichkeiten des Web 1.0 und drücken sich geradezu in Lernsituationen um die interaktiven Lernangebote des Web 2.0. Die Gründe hierfür sind unklar. Die Autorinnen der genannten empirischen Untersuchungen verweisen auf die in der JIM-Studie19 festgestellte private Nutzung von Facebook und Chat-Rooms. Anscheinend besteht hier unter den Heranwachsenden und jungen Erwachsenen eine Trennung der Sphären, die noch nicht miteinander verzahnt sind. M.E. könnten Gründe für die mangelnde Partizipation bei der Erstellung von Wikis, bei Kommentaren und Blogs in Situatio-

|| 18 Schmitt/Kowski 2011 (wie Anm. 11), S. 660. 19 D.i. die Studie Jugend, Information, (Multi-)Media, die 2012 vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest zum 15. Mal vorgelegt wurde.

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nen des historischen Lernens auch darin bestehen, dass diese sich inhaltlich und formal von den privaten Anmerkungen in Form von „Wie geht’s?“ oder „Dein Bericht über die Geburtstagsparty ist super!“ substantiell unterscheiden. Zum einen müssen sich die Beiträge in Form von Wikis und Blogs inhaltlich durch historisches Wissen, strukturierte Argumente und einem klarem Bezug zu einer historischen Fragestellung ausweisen, zum anderen erfordern fachliche Wikis und Blogs formale Kenntnisse, z.B. über die konzeptionelle Mündlichkeit eines Blogs20 sowie über soziale Kompetenzen, z.B. bei Überarbeitungen von Wiki-Eintragungen eines anderen. Die Verarbeitung von Wissen in einem spezifischen neuen Medium, also das spezifische Schreiben, muss erst erlernt und geübt werden; die Vorstellung, dass „Digital Natives“ diese Kompetenzen bereits beherrschen, scheint obsolet zu sein. Leider gibt es noch keine geschichtsdidaktischen Untersuchungen über die Wirksamkeit kollaborativer und kooperativer Lernformen mithilfe dieser Formate, genauso wenig wie über die Verzahnung von digitalen Angeboten für den Erwerb deklarativen Wissens und konstruktivistisch angelegten Angeboten zum interaktiven Lernen. Auch die Scharnierstellen zwischen Präsenzphasen und Onlinephasen bei Blended Learning Angeboten, wie sie die zitierte Veranstaltung „Grundlagen historischen Lernens“ enthält, müsste genauer untersucht und dabei bestimmt werden, was sich in den unterschiedlichen Phasen wie am effektivsten gelernt wird.21 Mit den gerade genannten Leerstellen bin ich bei den Forschungsdesideraten, die noch einmal prägnant markiert werden sollen.

Forschungsdesiderate Kompetenzaufbau Hier müsste zum einen ausformuliert werden, welche Kompetenzen zum fachspezifischen Umgang mit den digitalen Medien gehören und dann empirisch untersucht werden, wie diese erworben werden. Dabei müssten auch in Langzeitstudien zwischen kurzfristigen und langfristigen Lerneffekten unterschieden werden.22 || 20 Vgl. Jan Hodel: Historische Narrationen im digitalen Zeitalter. In: Uwe Danker/Astrid Schwabe: Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und neue Medien. Schwalbach/Ts. 2008. S. 182– 195. Hier besonders S. 193. 21 Vgl. John 2013 (wie Anm. 12), S. 284. 22 Vgl. Barricelli/Benrath 2003 (wie Anm. 8), S. 351.

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Kooperatives und kollaboratives historisches Lernen In welchen Lernsettings gelingt kooperatives und kollaboratives historisches Lernen? Welche interaktiven Elemente sind besonders effektiv? Dazu gehören aber auch das Betrachten von Hemmnissen und die Formulierung von Möglichkeiten, diese abzuschwächen.23

Lehrerforschung Geschichtslehrer/innen nutzen im Unterricht – von Ausnahmen abgesehen – relativ wenig digitale Medien. Häufig fühlen Sie sich den Schüler/innen unterlegen oder aber sehen keinen Zusammenhang zwischen Facebook, das ihre Schüler/innen nutzen, und der Veränderungen des Geschichtsbewusstseins und der Geschichtskultur. Hier wäre eine Lehrerforschung sinnvoll, die beispielsweise untersucht, wie Innovationen implementiert werden können.

Interdisziplinäre empirische Untersuchungen Lernsituationen in digitalen Medien sind auch dadurch gekennzeichnet, dass Kompetenzen aus mehreren Domänen abgerufen und angewendet werden müssen. Um ein Wiki auszuführen braucht es Medienkompetenz, d.h. Wissen, wie ein Wiki aufgebaut ist und welche formalen Funktionen es hat. Daneben braucht es historische Kompetenzen, d.h. u.a. Wissen, was an historischen Inhalten gesichert und was strittig ist. Sprachliche Kompetenzen sind nötig, um den Wiki-Eintrag auszuführen und soziale Kompetenzen, wenn der Beitrag eines anderen redigiert wird. Reizvoll wäre es beispielsweise auch zu überlegen, wie Medien- und historische Kompetenzen in Unterrichtssituationen gemeinsam aufgebaut werden (müssen) und was das Fach Geschichte spezifisch zur Medienkompetenz beitragen kann.

|| 23 Eine Anregung dazu könnte aus der Grundschuldidaktik Deutsch kommen, vgl. Natascha Naujok: Zu zweit am Computer. Eine Studie zur gemeinsamen Rezeption von Spielgeschichten im Deutschunterricht der Grundschule. München 2012. Sie beobachtete wie Grundschulkinder miteinander agierten, während sie am Computer mit Spielgeschichten beschäftigt waren.

Jan Hodel

Narrative Bricolage Jugendlicher Umgang mit digitalen Netzmedien zur Bewältigung des „narrativen Paradox“ von Neu-Nacherzählungen

1 Der Fall: Helene und Emma In einer Klasse des 10. Schuljahrs in einem Gymnasium in der Nähe Basels wird ein Zeitzeugen-Projekt durchgeführt. Die Jugendlichen sollen Menschen aus ihrer persönlichen Umgebung zu einem selbst gewählten Gegenstand befragen, das im Zusammenhang mit dem Oberthema „Kalter Krieg“ steht. Als Ergebnis wird ein kurzes Referat in der Klasse mit einer Handreichung erwartet, sowie – im Sinne einer Dokumentation – ein Hypertext auf der schuleigenen Lernplattform.1 Im Folgenden interessieren die Hypertexte von Emma und Helene.2 Sie zeigen exemplarisch, wie Schüler/innen unter Bedingungen des digitalen Wandels den Herausforderungen solcher Aufträge begegnen.3 Der Text von Helene behandelt die Suez-Krise von 1956.4 Der Hypertext besteht aus einem einzigen Dokument. Er ist vergleichsweise umfangreich (10 128 Zeichen) und herkömmlich angelegt: Nach Nennung von Angaben zum Suezkanal (Lage, Ausdehnung, Geschichte) folgt eine Aufzählung der wichtigsten Akteure, eine Schilderung der Ereignisse vom Juli bis November 1956, Erläuterungen der wichtigsten Begriffe sowie eine kurze Darstellung der Fol-

|| 1 Das Beispiel stammt aus dem Dissertationsprojekt des Autors. Es handelt sich um Beispiele aus dem Dokumentenbestand 4. Ausführlichere Informationen in Jan Hodel: Verkürzen und Verknüpfen. Bern, 2013. 2 Bei den realen Personen handelt es sich um einen Schüler und eine Schülerin. Um zu vermeiden, dass die hier präsentierte Analyse durch geschlechtsspezifische Stereotypen beeinflusst wird, werden hier beide Personen als Schülerinnen vorgestellt. 3 Die beiden Texte wurden bereits in einem früheren Beitrag behandelt, allerdings weniger detailliert und auf der Basis von Zwischenauswertungen: Jan Hodel: Geschichtslernen mit Copy and Share. In: Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010, S. 111–130. In der Analyse von 2010 werden auch die unterschiedlichen Texterstellungsprozesse, wie sie die Schüler/innen darstellen, genauer beschrieben. 4 Dokument 4F1, vgl. Hodel, Verkürzen und Verknüpfen, 2013, S. 427–432.

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gen. Bemerkenswert an diesem Text ist der Umstand, dass in ihm wörtlich kopierte Textpassagen ohne Nachweis aus 19 verschiedenen, im Internet zugänglichen Dokumenten ermittelt werden können. Die Herkunft der kopierten Textpassagen wechselt sich zuweilen in kurzen Abständen ab (vgl. Abbildung 1). Die kopierten Passagen und machen insgesamt mehr als 70% des Textes aus. Acht der als Vorlage genutzten Dokumente stammen aus Wikipedia, der Rest aus den Webangeboten der Bundeszentrale für politische Bildung,5 der österreichischen Presseagentur6 und der Neuen Zürcher Zeitung,7 aber auch von einem „Europainstitut“ in Wien8, der Website „Hausarbeiten.de“9 sowie von der Website eines Schweizer Gymnasiums10 und anderen privaten Websites. Im Kontrast hierzu steht der Hypertext von Emma, der aus mehreren Dokumenten besteht. Das Eingangsmodul11 trägt den Titel „Vietnam – the uncensored war“ worunter, gleichsam als Motto der Darstellung, der amerikanische Politologe Daniel C. Hallin aus seiner gleichnamigen Abhandlung zitiert wird: Vietnam became the first war in which journalists were routinely accredited to accompany military forces, but not subject to formal censorship.12

Es handelt sich bei diesem Hypertext um eine Zusammenstellung von Texten, die ohne weitere Bearbeitung aus dem Internet übernommen worden sind: Ein chronologischer Abriss der Geschichte Vietnams (ohne Nachweis) von der Website13 eines privaten Vietnamkenners, eine Chronologie mit den wichtigsten

|| 5 http://www.bpb.de/publikationen/XIYAV9,2,0,Die_Suezkrise.html (Abruf vom 1.6.2013). 6 http://www.historisch.apa.at/cms/apa-historisch/dossier.html?dossierID=AHD_19560306_ AHD0001 (Abruf vom 1.6.2013). 7 http://www.nzz.ch/2006/10/28/al/articleEHAA8.html (Abruf vom 1.6.2013). 8 http://www.europainstitut.at/upload/publikationen/publikation_11.pdf (Abruf vom 1.6.2013). 9 http://www.hausarbeiten.de/faecher/vorschau/99563.html (Abruf vom 1.6.2013). 10 http://www.kssursee.ch/schuelerweb/kalter-krieg/kk/suezkrise.htm (Abruf vom 1.5.2009), verfügbar unter: http://web.archive.org/web/20090501094652/http://www.kssursee.ch/ schuelerweb/kalter-krieg/kk/suezkrise.htm (Abruf vom 1.6.2013). 11 Dokument 4A3, vgl. Hodel, Verkürzen und Verknüpfen, 2013, S. 450. 12 Daniel C. Hallin: The „uncensored war“. The media and Vietnam. New York/Oxford 1986, S. 128. 13 Heiko Mrozik: Zusammenfassung der vietnamesischen Geschichte, ohne Datum, verfügbar unter: http://www.vietnam-kompakt.de/zusammenfassung-der-vietnamesischen-geschichte. html (1.3.2013).

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Ereignissen des Vietnam-Kriegs (mit Nachweis) aus Wikipedia,14 ein längerer Essay (ebenfalls mit Nachweis) aus einem politischen Diskussionsforum.15 Der Hypertext umfasst noch ein Dokument mit einem Link16 auf einen Dokumentarfilm im Internet.17 Den Abschluss macht das begleitende Handout zum mündlichen Vortrag, das als Word-Dokument zum Download angeboten wird. Dieses besteht aus einer leicht redigierten Version des Wikipedia-Artikels zum Vietnam-Krieg, wobei die Herkunft der Inhalte nicht nachgewiesen wird.18 Emmas Hypertext stellt somit im Wesentlichen eine Dokumentation dar, die ihre mündliche Präsentation ergänzen und erweitern, gleichsam als Grundlage dafür dienen soll. Diese Dokumentation umfasst unterschiedliche Text- und Medientypen (Chronologie, Film, Essay).

2 Copy/Paste als Realität digitaler Narrationen In den Texten von Emma und Helene lassen sich unterschiedliche Formen des Copy/Paste-Verhaltens nachweisen. Dieser Befund passt in vieler Hinsicht in den laufenden Diskurs über die Veränderungen, die der digitale Medienwandel in der Jugendkultur, dem Mediennutzungsverhalten und der Bildungslandschaft bewirke. Er scheint die Klage über die Generation „Google-Copy-Paste“19 zu bestätigen, die sich in „Abschreiben 2.0“20 übe, jeglicher Anstrengung ausweiche und stattdessen sich der Zerstreuung mittels digitaler Medienangeboten hingebe. Zugleich lässt sich das beobachtete Textbearbeitungs-Prozedere von Emma und Helene auch mit medien- und sprachtheoretischen Aussagen in || 14 Die Zeittafel ist in der neusten Version nicht mehr vorhanden, sie ist unter den archivierten Versionen zu finden: Vietnamkrieg. In: Wikipedia, 12.5.2008, Verfügbar unter: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Vietnamkrieg&oldid=45947342#Zeittafel (1.3.2013). 15 Ohne Autor: Kurze Nachlese zum Vietnamkrieg, ohne Datum. Verfügbar unter http://www.politik.de/forum/showthread.php?t=31033 (9.9.2010). 16 Dokument 4A4 „Links“, vgl. Hodel, Verkürzen und Verknüpfen, 2013, S. 451. 17 Jürgen Eike/Sebastian Dehnhardt: Apokalypse Vietnam (Film, 2 Teile), Deutschland 2000, verfügbar unter: http://video.google.com/videoplay?docid=3014764135603483834 (27.12.2011 – nicht mehr verfügbar). Link in Unterlagen von „Emma“ (Schülerin ID 233): http:// www.veoh.com/watch/v6449595WXx3p6m6 (nicht mehr verfügbar). 18 Vietnamkrieg. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 26.12.2011, 12:14 UTC. Verfügbar unter: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Vietnamkrieg&oldid= 97546947 (1.3.2013). 19 Stefan Weber: Das Google-Copy-Paste-Syndrom. Wie Netzplagiate Ausbildung und Wissen gefährden. Hannover 2006. 20 Julia Bonstein: Abschreiben 2.0. In: Spiegel, 11.8.2008, Nr. 33, S. 86–87.

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Verbindungen bringen, die seit Barthes „Tod des Autors“21 in der HypertextTechnologie die Auflösung der Grenze zwischen Autor- und Leserschaft sieht,22 die den kreativen Autor zum „bloßen Verknüpfer von Zitaten“23 schrumpfen lässt. Über die Folgen für die historiographische Praxis hat Krameritsch bereits überzeugende Erwägungen dargelegt.24 Unter diesen – hier lediglich verkürzt dargestellten – Diskursbedingungen sollen die Texte von Emma und Helene im Folgenden in geschichtsdidaktischer Hinsicht analysiert werden. Dabei interessieren zwei Fragen. Können mit kopierten Texten, bzw. mit Plagiaten narrative Leistungen erbrachten werden? Und welche Rolle spielt dabei der digitale Medienwandel? Die erste Frage impliziert ein Verständnis von historischem Lernen, das hier nicht im Detail ausgeführt werden kann. Darin verbinden sich das narrativistische Paradigma von Geschichte als Konstrukt, das mittels methodischem, reflektiertem, geschichtsbewusstem Vorgehen untersucht und erstellt wird, mit einem konstruktivistischen Lernverständnis und neueren Ansätzen der Kompetenzförderung. Diese Verbindung resultiert in der Auffassung, dass Jugendliche im Geschichtsunterricht möglichst selber Geschichte darstellen und präsentieren sollen, um sich diese anzueignen, zu durchdringen und zu verstehen. Schüler/innen sollen somit auf eine Art historisch lernen, bei der nicht träges Wissen akkumuliert wird, das gleich wieder vergessen wird, sondern bei der sie zu einer reflektierten und methodisch kontrollierten Auseinandersetzung mit Vergangenheit gelangen, die sinnbildende Einsichten generiert und um die Orientierungsleistung weiß, die aus der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit resultiert. Kurzum: Indem die Schüler/innen selber Geschichte darstellen, soll ihre Auseinandersetzung mit Vergangenheit nicht in ein stofforientiertes Lernen von Geschichte sondern in ein prozessorientiertes und kritisch hinterfragtes Lernen aus der Geschichte münden.25 Eine solche Leistung wird durch das Ver|| 21 Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis u.a. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 185–193. 22 Hypertext-Theoretiker Landow prägte hierfür den Neologismus „Wreader“ (aus reader und writer). George P. Landow: What’s a Critic to Do? Critical Theory in the Age of Hypertext. In: Ders. (Hrsg.): Hyper text theory. Baltimore (Md.) 1994, S. 1–48. 23 Matias Martinez: Autorschaft und Intertextualität. In: Fotis Jannidis u.a. (Hrsg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999, S. 465–479, hier S. 465. 24 Jakob Krameritsch: Geschichte(n) im Netzwerk. Hypertext und dessen Potenziale für die Produktion, Repräsentation und Rezeption der historischen Erzählung. Münster 2007. 25 Die Bedeutsamkeit, die Schüler/innen zum Verfertigen eigener Narrationen anzuregen, wird von Barricelli und Lücke im neu erschienenen Handbuch zur Praxis des Geschichtsunterrichts hervorgehoben: Michele Barricelli/Martin Lücke: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Band 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 9–21. Doch die Betonung

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wenden von kopierten Textpassagen aus vorgefundenen Texten konterkariert. Beim Kopieren, so der erste Eindruck, kann keine Sinnbildung, keine narrative Leistung, keine Reflexion erfolgen. Somit sind Copy-Paste-Vorgänge nicht nur allgemein unter pädagogisch-ethischen Gesichtspunkten (mangelnde kognitive Auseinandersetzung, Vortäuschung von Leistungen), sondern aus geschichtsdidaktischer Perspektive als problematisch einzuschätzen.

3 Das narrative Paradox der Neu-Nacherzählung Dagegen sind zwei Einwände vorzubringen. Zunächst ist zu berücksichtigen, dass Erzählvorgänge verschiedene Ausprägungen aufweisen können. Pandel unterscheidet vier verschiedene Formen der Erzählung. Einerseits führt er das Erzählen im ursprünglichen Sinne an: hierbei wird eine originale Narration erstellt, also gleichsam erfunden, in der dem Publikum noch unbekannte Sachverhalte aus der Vergangenheit präsentiert werden. Das Umerzählen führt hingegen zu Narrationen, die bereits bekannte Sachverhalte „nach neuen Sinnmustern“ darstellen. Nebst der Erzählung im ursprünglichen Sinne ist diese Erzählform die von Historikerinnen und Historiker meist benutzte, denn „Geschichtsschreibung ist prinzipiell Umerzählen, da sie stets auf neue Orientierungsbedürfnisse antwortet.“26 Außerdem benennt Pandel noch das rezensierende Erzählen, die eine vorliegende Erzählung im Hinblick auf die darin vorfindlichen Triftigkeiten beurteilt. Für den hier verhandelten Zusammenhang bedeutsam ist jedoch die Nacherzählung: Sie wiederholt die wesentlichen sinnbildenden Aussagen der Vorlage und enthält keine neuen Informationen. Diese Nacherzählung ist nach Pandel ein „Mittel zur Vergemeinschaftung“27 von jenen geschichtlichen Inhalten, denen Identität stiftende Bedeutsamkeit zugesprochen wird und die daher als

|| von Problem- und Handlungsorientierung, die sowohl Konstrukt-Charakter und Perspektivität historischer Erkenntnis deutlich und nachvollziehbar machen sollen, sind in verschiedener Form in die einschlägige Methodenliteratur der Geschichtsdidaktik eingegangen, vgl. etwa Hilfe Günther-Arndt: Methodik des Geschichtsunterrichts. In: Dies. (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2003, S. 151–196, oder Michael Sauer: Geschichte unterrichten. 10. Aufl. Seelze 2012, S. 87ff. 26 Hans-Jürgen Pandel: Erzählen und Erzählakte. Neuere Entwicklungen in der didaktischen Erzähltheorie. In: Demantowsky, Marko (Hrsg.): Neue geschichtsdidaktische Positionen. Bochum 2002, S. 39–55, hier S. 50. 27 Pandel, Erzählen und Erzählakte, 2002, S. 49.

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wichtig genug erachtet werden, um in der Schule behandelt zu werden.28 Aus diesem Grund hat das Nacherzählen im Geschichtsunterricht noch immer seinen festen Platz – das Nacherzählen symbolisiert den Auftrag der Schule als Institution zur Tradierung von kulturellen Werten. Es wird deutlich, dass diese Aufgabe der Nacherzählung mit dem didaktischen Anliegen kollidiert, Reproduktionen zu vermeiden und stattdessen Aufgabenstellungen zu formulieren, die eigenständige, kreative Auseinandersetzungen mit dem Lerngegenstand, hier Geschichte, herausfordern. Bei Nacherzählungen, so Barricelli, müsse Individualität sich notgedrungen auf Abweichungen in Wortwahl und Satzbau beschränken, was für die Schüler/innen zumeist eine unbefriedigende Angelegenheit darstelle. Solle die Nacherzählung den gleichen Sinn beinhalten, wie die Ursprungserzählung, könne „die perfekte Nacherzählung eigentlich immer nur deren Faksimile vorstellen.29 Dies bedeutet zweierlei. Zum Einen: die perfekte Nacherzählung wäre eine Kopie der Originalerzählung. Und selbst wenn sie in „eigene Worte“ gefasst würde: Nacherzählungen erfüllen, wenn sie korrekt durchgeführt werden, die Kriterien eines Struktur-Plagiats.30 Mit dem Anspruch auf eine „Neu-Nacherzählung“ konfrontiert man die Schüler/innen mit dem Handlungsproblem eines „narrativen Paradox“, das sie schlicht nicht lösen können. Denn wie genau sollen Schüler/innen denn glaubhaft belegen, dass sie in Nacherzählungen keine Täuschungsabsichten hegen – und folglich kein Plagiat erstellt haben?31 Wie sollen Schüler/innen verstehen, in welchen Situationen und unter welchen Bedingungen Reproduktionen erwartet oder erwünscht sind und wann nicht?

|| 28 Bernhardt u.a. sprechen von Basis-Narrativen, die sie definieren als „historische Themen, die im gesellschaftlichen Diskurs (…) so präsent sind, das man auf ihre Behandlung im Geschichtsunterricht nicht verzichten möchte.“ Markus Bernhardt u.a.: Historisches Lernen angesichts neuer Kerncurricula. Von Bildungsstandards und Inhaltsfeldern zur Themenbestimmung und Unterrichtsplanung im Geschichtsunterricht (=Fachbezogener Begleittext 1). Wiesbaden 2011, S. 20. 29 Michele Barricelli: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2005, S. 143. 30 „Als Strukturplagiat wird die Übernahme eines Gedankengangs, einer Argumentenkette oder der Fußnoten in aufsteigender Reihenfolge aus einem anderen Werk bezeichnet.“ Vgl. Deborah Weber-Wulff/ Katrin Köhler: Kopien-Jäger. In: iX 6 (2011), S. 78–79, verfügbar unter http://www.heise.de/ix/artikel/Kopienjaeger-1245288.html (20.6.2013). 31 Rommel und Schlie definieren als Plagiat „die Übernahme fremden Gedankenguts mit dem Ziel der Täuschung über eigene Leistung“. Vgl. Emma Rommel/Isabel Schlie: Einleitung. Kopierkultur und Wissenschaft. Zur Diskussion des Plagiats. In: Dies. (Hrsg.): Plagiate – Gefahr für die Wissenschaft? Eine internationale Bestandsaufnahme. Münster 2011, S. 1–14, hier S. 1.

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4 Nacherzählungen als Form der Kontextualisierung Hier lässt sich einwenden, dass es mehr geschichtsdidaktischen Einfallsreichtum benötige, um Aufgaben im Geschichtsunterricht zu formulieren, die die Schüler/innen vor solchen Handlungsproblemen bewahren. Gerne werden dabei auch Settings benannt, in denen Schüler/innen eigene und neue Narrationen erstellen müssen (Erzählen „im ursprünglichen Sinne“ nach Pandel): Sei es durch die Bearbeitung von noch nicht erforschten regional- oder lokalgeschichtlichen Themen oder durch die Befragung von Zeitzeug/innen. Interessanterweise sind die hier vorliegenden Texte ja tatsächlich im Rahmen eines Zeitzeugen-Projekts entstanden, auch wenn die bislang vorgestellten Texte dies nicht zu erkennen geben. Denn in ihnen kommen keine Zeitzeug/innen zu Wort und es werden auch keine Zeitzeug/innen erwähnt. Dabei erklärt Helene in einem Nachgespräch, in dem die Erstellung von Referat und Hypertext-Dokumentation thematisiert wird, den familiären Bezug, durch den sie auf die Suezkrise gestoßen ist: … ja, also meine Grossmutter hat eben dort [in Ägypten, JH]eine Zeit lang gelebt und mein Vater wurde dort geboren. Und also geschäftlich einfach. Und dann, ja, haben die natürlich auch eine Zeit erlebt, und das war natürlich und das war genau diese Zeit auch mit den Sowjets, wie die da reinkamen. Also die haben das wirklich eins zu eins miterlebt. Und auch wirklich persönliche Ereignisse.32

Doch von diesen persönlichen Bezügen ist in der Hypertext-Dokumentation, die eine Collage aus verschiedenen Textvorlagen darstellt, nichts zu finden. Ob sie die familiären Erlebnisse im mündlichen Referat darlegte, ist im Rahmen des Forschungsprojektes nicht erhoben worden. Es spielt für die Beurteilung des plagiatorischen Charakters des Hypertexts jedoch auch keine Rolle. Helenes Text weist dafür auf die Schwierigkeit hin, Zeitzeugenberichte zu kontextualisieren. Für die Herstellung von Kontext ist der Rückgriff auf vorhandenen Narrationen im Sinne von Nacherzählungen nötig. Diese Schwierigkeit ist nicht einfach eine Nachlässigkeit in der konkreten Aufgabenstellung. Diese hält sich im Wesentlichen an die Vorgaben in der einschlägigen geschichtsdidaktischen Methodenliteratur.33 Die Schwierigkeit, dass || 32 „Helene“ (Schülerin ID 238), 15:32–16:29. 33 Beispielsweise Sabine Moller: Befragungen. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): GeschichtsMethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2007, S. 180–190, oder Michael Sauer: Geschichte unterrichten. 10. Aufl. Seelze 2012, S. 234–241.

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spätestens bei der Kontextualisierung, bei der Einbettung in die curricular vorgegebenen Basis-Narrative wieder im Modus der Nacherzählung auf bestehende Narrationen zurückgegriffen werden muss, liegt in der Natur der Sache. Eine Schülerin aus der gleichen Klasse löst in ihrer Dokumentation das Problem der Kontextualisierung, indem sie in einem Hypertextmodul die Lebensgeschichte des aus der Tschechoslowakei geflüchteten Zeitzeugen darstellt und in einem zweiten Modul die Hintergründe des Prager Frühlings zusammenfasst.34 Dabei stützt sie sich auf den einschlägigen Wikipedia-Eintrag und zitiert daraus eine längere Textpassage. Andere Schüler/innen bekunden – wie Helene – grundsätzliche Mühe, Themen des Kalten Krieges, die sie interessieren, mit Zeitzeugenbefragungen in Verbindung zu bringen.35 So verhält es sich auch bei Emma. Zeitzeugenberichte aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld von Emma kommen in seinen Texten nicht vor. Auf Nachfrage spricht er etwas unbestimmt von einer Nachbarin, die zur Zeit des Vietnamkrieges in den USA gelebt habe. Von ihr sind aber keine Einschätzungen oder Aussagen in den Unterlagen zu lesen oder im Gespräch zu erfahren. Zeitzeugenschaft ist in Emma Wahrnehmung primär über die medialen, vor allem audiovisuellen Darstellungen des Vietnamkriegs präsent. Emma hat aber eine klare Vorstellung davon, was sie erzählen will: sie möchte die Rolle der Medien beim Wandel der öffentlichen Wahrnehmung von Krieg am Beispiel der Vietnam-Krieges thematisieren. Denn dort sei die US-Armee selbstbewusst aufmarschiert … mit den Kameras und mit den Fernsehteams sozusagen, und sagten ja kommt, das wird eine mega einfache Sache. (…) Und dann sind halt die Bilder dann plötzlich zu Hause im Fernsehen. Und dann sieht man halt einfach, wie die Jungen, so neunzehnjährige erschossen werden irgend in einem Dschungel oder einfach verrückt sind, und die, die heimkommen dann sowieso völlig psychologisch, psychologisch völlig am Arsch sind.36

Es folgt eine Gesprächsphase, in der Emma über die Rolle von Medien im Krieg sinniert und dabei den Wandel dieser Rolle vom Beispiel des Romans „Im Westen nichts Neues“ für den ersten Weltkrieg, über die propagandistisch angelegten Wochenschauen des zweiten Weltkriegs und über den Vietnamkrieg bis in die Gegenwart skizziert. Dass Emma dabei eine dezidierte Haltung einnimmt, || 34 Dokumente 4D1 bis 4D6 aus Dokumentenbestand 4, siehe Anmerkung 1. 35 Eine Schülerin berichtet über politisch engagierte Popmusik der 1960er Jahre (Dokumente 4E1 bis 4E4), ein Schüler über die Außenpolitik Israels während 6-Tage-Krieg und Jom-KippurKrieg (4C), beide ohne Erwähnung von Zeitzeugenaussagen. Dokumente aus Dokumentenbestand 4, siehe Anmerkung 1. 36 „Emma“ (Schülerin ID 233), 31:59–32:54.

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die in expliziten Werturteilsäußerungen zu Tage tritt, wird noch verständlicher, als sie etwas später von einer emotional aufwühlenden Erfahrung erzählt, die am Anfang ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema stand. Sie habe mit ihrem Vater einen Dokumentarfilm über ein Militärhospital in Bagdad gesehen, wo 19-jährige mit Bauchverletzungen von Sprengsätzen mit Nägeln … dann einfach so durchlöchert sozusagen in das Spital kommen und dann dort einfach ja, auf grausamste Weise eigentlich sterben. Und das Bild will, will eigentlich wieder ein bisschen hergestellt werden, so das Tolle und Heldenhafte. Aber es hat sich ja nichts geändert. Es ist ja immer noch so.37

Emmas Sinnbildung, die am Ende eher kritisch-exemplarisch als genetisch erscheint, ist deshalb hier bedeutsam, weil sie bei der Bewertung von Emmas Hypertext-Dokumentation hilft, in der Kopien nachweisbar sind. Mit ihrer Dokumentation verfolgt Emma nicht die Absicht, einen Sachverhalt nachzuerzählen. Vielmehr will sie transparent machen, auf welche Grundlagen sich ihre Präsentation abstützt. Dieses Unterfangen mag nicht geglückt sein, da Chronologien wenig geeignet sind, Werturteile und Sinnbildungen argumentativ zu stützen. Und doch wählt Emma einen anderen Umgang mit der Herausforderung, grundlegende Kontextinformationen bereitzustellen, als Helene. Sie macht die Herkunft dieser Grundlagen nicht nur (in der Regel) deutlich, sie erklärt auch deren Funktion: „Da ich in meinem Vortrag speziell den Kriegsverlauf erklärt habe, möchte ich auf meiner Website allfällige Wissenslücken zur Vergangenheit Vietnams, etc. möglichst schliessen.“38 Darüber hinaus verweist sie sogar explizit auf die Möglichkeiten, sich eingehender mit der Problemstellung auseinander zu setzen, etwa mit einem Link auf den Dokumentarfilm „Apokalypse Vietnam“:39 „Man muss aber hinzufügen, dass er vor allem aus westlicher Sicht erzählt wird und nicht immer beide Seiten darstellt.“40

|| 37 „Emma“ (Schülerin ID 233), 33:49–34:37. 38 Dokument 4A3 „Vietnam – The Uncensored War“, vgl. Hodel, Verkürzen und Verknüpfen, 2013, S. 450. 39 Jürgen Eike/ Sebastian Dehnhardt: Apokalypse Vietnam (Film). Deutschland 2000, verfügbar unter: http://video.google.com/videoplay?docid=3014764135603483834 (27.12.2011). 40 Dokument 4A4 „Links“, vgl. Hodel, Verkürzen und Verknüpfen, 2013, S. 451

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5 Auf der Suche nach Ausprägungen narrativer Kompetenz In dieser Äußerung zeigt sich – wenngleich nur angedeutet – ein Verständnis von Perspektivierung und Standortgebundenheit historischer Darstellungen, die dem geschichtsdidaktischen Ziel, historisch reflektiertes Denken zu initiieren, möglicherweise näher kommt, als die geflissentliche Umformulierung eines Ausgangstexts in „eigene Worte“. Die Äußerung von Emma, eingestreut zwischen Links und aus dem Internet kopierten Texten wirft die Frage auf, was als „narrative Leistung“ im Kontext historischer Lernprozesse bezeichnet werden darf und bezeichnet werden soll und wie diese Leistungen einzuschätzen sind. Folgt man Pandels Vorschlag zur Benennung verschiedener Komponenten narrativer Kompetenz,41 kann die in obiger Äußerung erkennbare Wahrnehmung der Perspektive in der filmischen Darstellung des Vietnamkriegs zwar einer Teilkompetenz zugeordnet werden. Doch für Pandel ist die Fähigkeit umfassend: Narrativ kompetente Schüler müssen „perspektivisch schreiben und Gegenperspektiven einnehmen“ können, oder bestehende Darstellungen „perspektivisch umschreiben“.42 Die kurze Äußerung von Emma kann folglich bestenfalls als Fragment eines umfassenderen Erzählvorgangs verstanden werden. Ähnlich liegt der Fall beim Text von Helene. Wohl wird man anerkennen müssen, dass sie in ihrer Zusammenstellung von Textausschnitten aus verschiedenen Vorlagen die Textstückediese in eine sinnvolle Abfolge zu bringen versteht – dennoch erfüllt sie damit nur teilweise die Anforderungen einer narrativen Kohärenzbildung in der Logik der von Pandel definierten narrativen Fähigkeiten. Doch bildet sich – gerade bei Nacherzählungen – die narrative Leistung allein und ausschließlich in der umfänglichen Produktion eines eigenständig erstellten Textes ab? Was genau umfasst die Erstellung eines solchen Textes und wie eigenständig kann die narrative Leistung eigentlich sein? Kann sich nicht auch in Zusammenstellungen (im Sinne der bereits zitierten „Kompilationen“) narrative Sinnbildung manifestieren? Hierfür wäre die Erstellung einer Narration als Sequenz von einzelnen Teilschritten zu konzipieren, gleichsam als Narrativierungsprozess, der in diesem Falle auch Auswahl und Anordnung von

|| 41 Vgl. Hans-Jürgen Pandel: Historisches Erzählen. Narrativität im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2010, S. 128. 42 Pandel, Historisches Erzählen, 2010, S. 128.

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bereits vorfindlichen Einzelaussagen umfasst.43 Bislang hat die geschichtsdidaktische Theorie die Erstellung von Narrationen nicht als Abfolge von Teilschritten, sondern vor allem als Kombination verschiedener Teiloperationen beschrieben. Die Analyse ihrer (idealerweise vollständigen und umfassenden) Anwendung ermöglichte dabei im Sinne von Gütekriterien Aussagen über die Qualität der Narrativierungsleistung.44 Diese Ansprüche an umfängliche historische Denkleistungen bei der Erstellung von Narrationen bleiben im schulischen Alltag, bei dem die Verhandlung geschichtskultureller Konventionen im Vordergrund steht, schwer zu erreichen. Dessen ungeachtet verdienen die Selektionsprozesse, die der Auswahl und Verarbeitung von Texten vorausgehen, unter den Prämissen des digitalen Medienwandels eine eingehendere Betrachtung. Die Aussagen von Emma deuten darauf hin, dass sie bereits eine erste Vorstellung ihrer Narration entwickelt hatte, als sie die Materialien sammelte, die sie schließlich in ihrer Dokumentation präsentierte. Die verschiedenen Teilschritte im iterativen Prozess der Narrativierung sind folglich bei der Beurteilung des Umgangs mit digitalen Textkorpora zu berücksichtigen. Typisch hierfür ist die Beschreibung dieses Arbeitsprozesses durch eine andere Schülerin: [Ich] suche mir einfach einmal ein gutes Grundgerüst und dann schaue ich, wie ich das noch erweitern kann, und dann setze ich verschiedene Texte einfach mal in Word ein, damit ich nicht noch einmal muss die Internet-Seite suchen gehen und dann, ja, und dann strei-also [sic!] lösche ich das raus und drucke es aus und schreibe es dann meistens um, streiche mir das noch an, was ich brauche oder lösche es direkt raus.45

Die Identifizierung und Stratifizierung eines narrativen „Gerüsts“ kann wohl auch als ein Teil des Narrativierungsprozesses verstanden werden.

|| 43 Dies unter der Prämisse, dass nicht einfach die Einzelschritte der historischen Methode (Heuristik, Kritik, Interpretation), die der Darstellung vorangehen, als Teiloperationen der Narrativierung verstanden würden. Hier ließe sich zweifellos an entsprechende Überlegungen der Linguistik und der Sprachdidaktik anknüpfen, wie sie zum Beispiel von Sieber dargestellt werden: Peter Sieber: Modelle des Schreibprozesses. In: Ursula Bredel (Hrsg.): Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. Paderborn 2003, S. 208–223. 44 Vgl. Pandel, Historisches Erzählen, 2010, aber auch Barricelli, Schüler erzählen Geschichte, 2005, und Olaf Hartung: Geschichte schreiben und lernen, eine empirische Studie. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Sprache. Berlin 2010, S. 61–78. Barricelli nimmt jüngst Bezug auf mögliche Anleihen bei der Schreiberziehung und Schreibförderung der Sprachdidaktik, vgl. Michele Barricelli, Narrativität. In: Michele Barricelli/Martin Lücke: Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Band 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 255–280, hier S. 277. 45 „Mirjam“ (Schülerin ID 37), 31:06–32:27.

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6 Nacherzählungen mit digitalen Medien Hier drängt sich die Frage auf, was die Diskussion über „Neu-Nacherzählungen“ und „iterative Narrativierungsprozesse“ mit digitalen Medien zu schaffen hat. Die Beobachtungen und Aussagen gelten ja gleichermaßen bei Narrationen, die unter Verwendung analoger Medien entstehen. Folglich, möchte man annehmen, sind die Erwägungen gar nicht spezifisch für die Nutzung digitaler Medien. Diese verkürzte Sichtweise auf die Effekte von Mediengebrauch führt in die Irre. Sie fußt auf einer technikdeterministischen Vorstellung von Medienentwicklung, nach der Medien zu einem bestimmten Zeitpunkt erfunden werden und dann die gesellschaftliche Kommunikationspraxis verändern. Daran knüpfen das Konzept der „Leitmedien“ und die damit verbundenen Vorstellungen einer Mediengeschichte an, die von einer Stufe zur nächsten aufsteigt. Crivellari und andere halten dagegen, dass mit diesen Vorstellungen die Wechselwirkungen von sozialen Gemeinschaften samt ihren kulturellen Praktiken und den dabei verwendeten Medien nicht ausreichend differenziert erschlossen werden können. Vielmehr sind Gesellschaft und Medien in einem wechselseitigen Verhältnis zu verstehen, aus dem sich sowohl neue Praktiken der Mediennutzung und wie auch neue Medientechnologien entwickeln.46 Es ist folglich davon auszugehen, dass die kulturelle Praxis des historischen Denkens ebenso auf die Art des Gebrauchs digitaler Medien Einfluss nimmt, wie die digitalen Medien auf die Praktiken historischen Denkens. Es ist sogar plausibel, davon auszugehen, dass die neuen Möglichkeiten der digitalen Medien zunächst zur Ausübung bewährter und etablierter Formen des historischen Denkens genutzt werden. Im hier vorliegenden Falle wäre etwa die vereinfachte Möglichkeit der wörtlichen Übernahme aus bestehenden Texten mittels Copy/Paste zu nennen. Das wörtliche Kopieren aus Vorlagen wird ja keineswegs als eine neue Form der Textaneignung und -verarbeitung bezeichnet werden können. Im Mittelalter galt die Tätigkeit des scriptor, der nichts anderes tat, als vorliegende Schriften zu kopieren, sogar gleich viel wie jene des auctor, der einen eigenen Text mit Verweis auf andere Schriftstücke erstellte und somit als Vorläufer des heutigen Konzepts von Autorschaft gelten kann.47 Und noch heute

|| 46 Vgl. Fabio Crivellari u.a.: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive. Konstanz 2004, S. 9–45, hier S. 26–27. 47 St. Bonaventura zit. nach Martha Woodmannsee: Der Autor-Effekt. Zur Wiederherstellung von Kollektivität. In: Fotis Jannidis u.a. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 298–314, hier S. 302f.

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hat das wortgetreue Kopieren der von der Lehrperson angebrachten Wandtafelanschrift seinen festen Platz im Unterrichtsalltag. Das Kopieren ist folglich keine neuartige, durch digitale Medien entstandene Form des Umgangs mit Texten, und die unstatthafte Form des Kopierens, das Plagiieren, ist entsprechend nicht ein neuartiges Problem, das erst durch den digitalen Medienwandel aufgekommen ist. Vielmehr akzentuiert der digitale Medienwandel bereits vorhandene Handlungsprobleme und Paradoxa, wie das Beispiel der „Neu-Nacherzählung“ zeigt. Dass dank digitaler Technik Kopien von Texten so viel einfacher als bislang zu bewerkstelligen (aber auch einfacher nachzuweisen) sind, führt zu einer neuartigen Situation, die die Geschichtsdidaktik dazu herausfordert, die Funktion von Nacherzählungen und den Umgang damit im Geschichtsunterricht grundsätzlich zu überdenken.

7 Kopie oder Übernahme? Die Bedeutung von Nachweisen Andererseits wäre es eine unstatthafte Verkürzung, die Technik des Copy/Paste nur als Form des Plagiierens zu verstehen. Copy/Paste wird primär als Technik des Bearbeitens von digitalen Texten verwendet und wird von den Schüler/innen insbesondere auch beim Sammeln von Informationen (alternativ zum Ausdrucken) eingesetzt. Wenn sie im Netz Texte finden und für zweckmäßig halten, kopieren sie diese in einen Text-Container. Ausgehend vom Nutzungskontext des Sammelns ist auch die Täuschungsabsicht, die konstituierend für ein Plagiat ist, zu beurteilen. Schüler/innen wollen nicht zwingend fremde Leistungen als eigene ausgeben. Vielmehr ist auch in Betracht zu ziehen, dass die Jugendlichen gerade bei Referaten die technischen Möglichkeiten des Zusammentragens von sinnvoll erscheinenden Texten nutzen, um die Informationen mit ihren Altersgenossen und Klassenkamerad/innen zu teilen. Es wäre folglich zu prüfen, ob das Vorgehen der Schüler/innen nicht eher dem Internet-Gebot des „Share, don’t steal“48 zuzuordnen wäre und gleichsam als Copy/SharePrinzip gedeutet werden könnte.49 || 48 Douglas Rushkoff/Leland Purvis: Program or be programmed. Ten commands for a digital age. Berkeley 2011, S. 118. 49 Vgl. hierzu auch Hodel, Historisches Lernen mit Copy and Share, 2010 sowie zum Aspekt des sozialen Lernens im Geschichtsunterricht: Albert Scherr: Sozialisation und Identitätsbildung bei Jugendlichen heute. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 1. Schwalbach/Ts. 2012, S. 59–69.

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Als sinnvolles Kriterium zur Abgrenzung gegenüber dem Schummeln, das bei Schüler/innen durchaus auch verbreitet ist, wäre das Anbringen von Nachweisen zu erwägen. Die Einführung in die Funktion von Nachweisen als Teil des wissenschaftlichen Systems von Transparenz, Attribution und Legitimation wird damit auch für die Arbeit im Geschichtsunterricht an Bedeutung gewinnen. Es gilt hier möglichst einfache Regeln zu benennen und diese möglichst konsequent einzufordern und anzuwenden. Dies gilt für Schülertexte gleichermaßen wie für Lehrertexte. Die digitale Medientechnik der Hyperlinks bietet hier ideale Anknüpfungspunkte – gerade auch in der Realität des Internets selbst, obwohl oder gerade weil diese Realität die Anfordernisse des Nachweises nicht immer ausreichend erfüllt. Gerade die bei Schüler/innen oft genutzte Wikipedia kann hier mit ihrer konsequenten (manchmal gar verwirrenden) Verwendung von Nachweisen als Vorbild dienen. Jedenfalls muss das Konzept des Nachweises, sein Sinn und Zweck den Jugendlichen klar sein. So vertritt Helene die Ansicht, in ihrem Text zur Suezkrise seien Nachweise nicht nötig: „Das ist nicht wie, wie bei der Maturaarbeit, wo man die Quellen noch angeben muss.“50 Halten wir zunächst fest, dass – abgesehen von einer alltagssprachlichen Verwendung des Begriffs „Quelle“ – Helene das Prinzip des Nachweises wohl kennt. Darüber hinaus nimmt sie sogar eine Differenzierung vor, bei welchen Textgattungen Nachweise sinnvoll sind und wo nicht. Und doch stellen wir fest, dass in ihrem Text der Tatbestand des Plagiats erfüllt ist. Es bleibt jedoch unklar, ob es sich in diesem Fall um eine bewusste Verletzung einer bekannten Regel, eine abweichende Auslegung dieser Regel und Beanspruchung eines Interpretationsspielraums oder Unkenntnis der Regeln oder Fehlkonzepte über deren Charakter und Geltungsbereiche vorliegen. Es bleibt eine nicht einfach zu bewältigende Herausforderung, bei Schülerprodukten eine klare Grenze zu ziehen zwischen gleichgültigem Abarbeiten von Aufgaben mit dem geringstem Aufwand, absichtsvollem Schummeln und verkürzten Vorstellungen eines „Allgemeinwissens“, das als Gegenstand der Allgemeinbildung51 keiner Attribution bedarf.

|| 50 „Helene“ (Schülerin ID 238), 21:06–22:02. 51 Bromme und Kienhues definieren wie folgt: „Mit Allgemeinbildung bezeichnet man sowohl den Prozess als auch das Ergebnis der Vermittlung von allgemeinen Kenntnissen, Fertigkeiten und Einstellungen, die man für die Teilhabe in der Gesellschaft, in der man lebt, benötigt.“ Rainer Bromme/Dorothe Kienhues: Allgemeinbildung. In: Wolfgang Schneider (Hrsg): Handbuch der Pädagogischen Psychologie. Göttingen 2008, S. 619–628, hier S. 619.

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8 Narrativierung mit digitalen Medien: eine Form der Bricolage? Gerade diese bei Jugendlichen beobachteten vorwissenschaftlichen Nutzungsformen digitaler Medien belegen die Annahme, dass sich als Phänomene des Übergangs nicht einfach neue Praktiken etablieren, sondern vor allem auch althergebrachte Praktiken unter veränderten medialen Bedingungen neu ausprägen. Der Umgang mit hypertextuellen Fragmenten aus dem Netz zum Zwecke des Lernens ist von Theo Hug mit dem Konzept der „Bricolage“ in Verbindung gebracht worden,52 dass Lévi-Strauss 1962 zur Beschreibung vorwissenschaftlichen Denkens in nicht-westlichen Kulturen eingeführt hat.53 Auch wenn die Übertragung eines ethnologischen Konzepts auf Formen der Mediennutzung oder der Auseinandersetzung mit Geschichts-Erzählungen mit Bedacht vorzunehmen ist, so sind die Ausführungen Lévi-Strauss’ zur Bricolage auch für die hier betrachteten Schülerhandlungen äußerst anregend. Eine wesentliche Eigenart der Bricolage bestehe darin, dass sie strukturierte Gesamtheiten zu entwickeln suche, jedoch „nicht unmittelbar mit Hilfe anderer strukturierter Gesamtheiten, sondern durch Verwendung der Überreste von Ereignissen: […] Abfälle und Bruchstücke, fossile Zeugen der Geschichte eines Individuums oder einer Gesellschaft.“ Die Bricolage erarbeite folglich Strukturen, indem sie „Ereignisse oder vielmehr Überreste von Ereignissen ordnet, während die Wissenschaft (…) sich in Form von Ereignissen ihre Mittel und Ergebnisse schafft, dank den Strukturen, die sie unermüdlich herstellt und die ihre Hypothesen und Theorien bilden.“54 Der Bricoleur bzw. die Bricoleuse ist ebenso unwissenschaftlich wie undogmatisch, pragmatisch und flexibel: … die Welt seiner Mittel ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht immer darin, jederzeit mit dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen, d.h. mit einer stets begrenzten Auswahl an Werkzeugen und Materialien, die überdies noch heterogen sind, weil ihre Zusammensetzung in keinem Zusammenhang zum augenblicklichen Projekt steht, wie überhaupt zu keinem besonderen Projekt, sondern das zufällige Ergebnis aller sich bie-

|| 52 Theo Hug: Mikrolernen und bricolierende Bildung. Theoretisch motivierte Erwägungen und Praxisbeispiele. In: Ben Bachmair (Hrsg.): Medienbildung in neuen Kulturräumen. Die deutschsprachige und britische Diskussion. Wiesbaden 2010, S. 197–212. 53 Lévi-Strauss, Claude: La pensée sauvage. Paris 1962 (deutsch: Das wilde Denken. Frankfurt a.M. 1973). 54 Lévi-Strauss, Das wilde Denken 1973, S. 35.

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tenden Gelegenheiten ist, den Vorrat zu erneuern oder zu bereichern oder ihn mit den Überbleibseln von früheren Konstruktionen oder Destruktionen zu versorgen.55

Das unwissenschaftliche Verhalten Jugendlicher (und vermutlich nicht nur Jugendlicher) bei der Nutzung digitaler Medien und im Umgang mit Geschichte könnte man unter dem Konzept der „Bricolage“ zu fassen versuchen. Die Jugendlichen sehen sich konfrontiert mit der Informationsflut der digitalen Netzmedien, in der das kollaborativ zusammengetragene Wissen „too big to know“56 ist und erst noch in einer unstrukturierten, nicht erschlossenen „miscellaneous order“57 vorliegt, in der dafür Algorithmen und Schwarmintelligenz Ordnung in die Unmengen an „Big Data“ zu bringen versuchen – sei es Flickr, Wikipedia oder Prism – und in der personalisierte Datendienste zur Filter Bubble58 führen, in der man nur noch bereits Bekanntes und Vertrautes auffindet. Sie wenden hier ebenso pragmatische, bricolierende Verhaltensweisen an wie im Umgang mit dem Handlungsproblem der „Neu-Nacherzählung“.

9 Verkürzen und Verknüpfen: Handlungsstrategien der Narrativierung mit digitalen Medien Die Handlungsstrategien der Jugendlichen, um das Handlungsproblems des „narrativen Paradox“ mithilfe der überwältigenden und unbeherrschbaren digitalen Netzmedien zu lösen, bewegen sich zwischen zwei Polen, die hier als „Verkürzen“ und „Verknüpfen“ bezeichnet werden. Das Verkürzen beschreibt ein Handeln der Reduktion und der Vereinfachung, der Glättung und Amalgamierung. Diese Strategie prägt beispielsweise den Text von Helene. Die verschiedenen und unterschiedlichen narrativen Fragmente, die Helene gefunden hat, und die ihrer Ansicht nach zu ihrem vorgestellten Plot der Geschichte passen, fügt sie in die Narration ein – und zwar dergestalt, dass ihre Herkunft nicht mehr erkennbar ist und eine abgeschlossene und abschließende Darstellung resultiert. Helenes Narration ist eine digitale Bricolage des || 55 Ebd., S. 30. 56 David Weinberger: Too Big to Know. Rethinking Knowledge Now That the Facts Aren’t the Facts, Experts Are Everywhere, and the Smartest Person in the Room. New York 2012. 57 David Weinberger: Everything is miscellaneous. The power of the new digital disorder. New York 2007. 58 Eli Pariser: The filter bubble. What the Internet is hiding from you. New York 2011.

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„Verkürzens“: eine irgendwie sinnvoll zusammengestellte Sammlung von narrativen Fragmenten, die zu einem einheitlich erscheinenden Text zusammengefasst werden. Im Vordergrund steht die Erscheinung der Narration. Im Kontrast dazu steht das Vorgehen von Emma, die keinen geschlossenen Text herstellen will, dafür den Charakter der Bricolage transparent macht: eine Bricolage des „Verknüpfens“. Emma macht die deutlich, dass sie hier Fragmente gesammelt hat, sie stellt die Verbindung zum digitalen Netz narrativer Fragmente her. Sie macht die Verknüpfungen und damit die Zugehörigkeit zu einer letztlich unermesslich großen Menge an verfügbaren und allenfalls nützlichen Informationen sichtbar. Es handelt sich hier um zwei Strategien im Umgang mit der Zumutung einer Neu-Nacherzählung. Bei der Strategie der „Verkürzung“ entstehen Narrationen, die zumindest oberflächlich dem Anspruch nach „Neuheit“ zu genügen versuchen. Diesem Anspruch entziehen sich die Narrationen, die mit der Strategie der „Verknüpfung“ entstehen: hier wird auf Bestehendes verwiesen, die intellektuelle Leistung liegt in der Auswahl und im Hinweis. Das „Verkürzen“ gleicht dabei der wissenschaftlichen Methode des Exzerpierens und Zusammenfassens, das „Verknüpfen“ jener des Nachweises und der Fußnote. Doch die Jugendlichen beziehen sich nicht auf diese wissenschaftliche Methodologie, ihre Handlungsstrategien sind als sozialisierte, informell übernommene Formen der Mediennutzung und des Umgangs mit Geschichte zu analysieren. Ein solcher Zugang zum Umgang mit Geschichte, der sich nicht nur auf die normative Größe des „bewussten und reflektierten“ Umgangs mit Geschichte und auf neuartige, von digitalen Netzmedien evozierte Formen des Umgangs mit Geschichte fokussiert, könnte zu interessanten Erkenntnissen über eine sich ausbildende digitale Geschichtskultur führen – ganz im Sinne der Aussage, die Emma den Links zum Vietnam-Dokumentarfilm beigefügt hat: „Es lohnt sich!“59

|| 59 Dokument 4A4 „Links“, vgl. Hodel, Verkürzen und Verknüpfen, 2013, S. 451.

Astrid Schwabe

Das World Wide Web als historisches Informations-Medium? Ausgewählte Ergebnisse zur Nutzung der historischen Website Vimu.info Julia und ihre Freundinnen sitzen im Café. Nachdem alle aktuellen Neuigkeiten ausgetauscht sind, kommen sie auf die Living-History-Serie der ARD „Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus“ (2004) zu sprechen, über die Julia beim Stöbern auf YouTube gestolpert ist: 20 Personen, die – nach Werbung der Sendeanstalt – angeblich mehrere Wochen das Leben auf einem Gutshof um die Jahrhundertwende lebten, von Kameras begleitet.1 Nach einigen Minuten stoßen die jungen Frauen auf die Frage: Gab es bei uns in Kiel eigentlich auch Dienstmädchen? Oder lebten die nur auf Gutshöfen? Julia greift zu ihrem Smartphone und gibt in die Suchmaske des Browsers die Begriffe „Dienstmädchen“ und „Kiel“ ein. Alltagsbeobachtungen und Untersuchungen zur Nutzung des WWW zeigen: Diese, zugegebenermaßen fiktive, Situation ist durchaus realistisch: Für viele Userinnen und User hat sich das WWW zum zentralen Informations-Medium entwickelt.2 Sie suchen dort – über PC, Tablet oder Smartphone – nach Informationen zu einem sie interessierenden Gegenstand. Ihre Recherche führt sie in der Regel über Suchmaschinen zu unterschiedlichsten Websites, auf denen sie oft nur kurz bleiben, um nach Antworten auf ihre Frage(n) zu „jagen“ und – bei Erfolg – die betreffende(n) Information(en) häppchenweise zu konsumieren („Informationen Snacking“), außerhalb sinnstiftender Kontexte.3 Eine ausführ-

|| 1 Vgl. http://www.daserste.de/abenteuer1900/projekt.asp, aufgerufen am 28. Juni 2013. 2 Vgl. Norbert Lang/Bernard Bekavac: World Wide Web. In: Werner Faulstich (Hrsg.): Grundwissen Medien. 5. vollst. überarb. u. erh. erw. Aufl. Paderborn 2004, S. 433–453, S. 445; Birgit van Eimeren/Beate Frees: 76 Prozent der Deutschen online – neue Nutzungssituationen durch mobile Endgeräte. Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2012. In: media perspektiven (2012), S. 362–379, S. 363 und S. 369f.; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.): JIM-Studie 2012. Jugend, Information, (Multi)-Media. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-jähriger. Stuttgart 2012, S. 31–38; Katrin Busemann/Bernhard Engel: Wandel der Mediennutzungsprofile im Zeitalter des Internets. Analysen auf Basis der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation. In: media perspektiven (2012), S. 133–146, S. 136–140. 3 Vgl. hier und im Folgenden Jakob Nielsen/Hoa Loranger: Web Usability. München 2006, S. XIX u. S. 28–38; auch Sebastian Erlhofer: Informationssuche im World Wide Web. Taktiken und Strategien bei der Nutzung von Suchmaschinen. Berlin 2007.

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liche Beschäftigung mit einzelnen spezifischen Webangeboten steht dabei nicht im Fokus, da das Web als Gesamtraum angesehen wird, der alle benötigten Informationen bereithält. Es spielt für die Suchenden demzufolge selten eine Rolle, wer der eigentliche Urheber der jeweiligen Information(en) ist. Diese Vorstellungen lassen sich auf den Umgang mit historischen Inhalten im World Wide Web übertragen.4 Viele Userinnen und User, vor allem jüngere, scheinen das Medium als durchaus vertrauenswürdige Info-Börse zur Geschichte zu betrachten, in der sie schnell und flexibel Geschichts-„Wissen“ finden.5 Das WWW muss mittlerweile als bedeutendes geschichtskulturelles Phänomen gelten, das Geschichte auf eine spezifische Weise vermittelt.6 Es ist als potenzieller Einflussfaktor des individuellen und kollektiven Geschichtsbewusstseins und als Auslöser historischer Lernprozesse ernst zu nehmen und zu analysieren. – Julia könnte bei ihrer Recherche durch eine Suchmaschine auf eine Seite im Virtuellen Museums Vimu.info geführt werden,7 die eine historische Darstel-

|| 4 Vgl. hier und im Folgenden auch Uwe Danker/Astrid Schwabe: Zielloses Wandern im ‚Cyberspace‘ oder autonomes Lernen im virtuellen Raum? Ein empirischer Werkstattbericht zur (außer-)schulischen Nutzung des regionalhistorischen Virtuellen Museums www.vimu.info. In: Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010 (Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Bd. 54), S. 95–110, S. 100; vgl. auch Oliver Näpel: Historisches Lernen im Internet? Legitimation, Anspruch und Wirklichkeit geschichtsdidaktischer Normative für Geschichtsangebote im Cyberspace. In: Uwe Danker/Astrid Schwabe (Hrsg.): Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und Neue Medien. Schwalbach a.T. 2008 (Forum Historisches Lernen), S. 90–107, S. 92f. 5 Vgl. für erste empirische Ergebnisse Dörte Hein: Erinnerungskulturen online. Angebote, Kommunikatoren und Nutzer von Websites zu Nationalsozialismus und Holocaust. Konstanz 2009, hier S. 255 und die Ergebnisse aus dem Dissertationsprojekt von Jan Hodel, ders: Geschichtslernen mit Copy and Share. In: Alavi (Anm. 4), S. 111–130, S. 126f. sowie den Beitrag des Autors in diesem Band. 6 Vgl. Wolfgang Schmale: Digitale Geschichtswissenschaft. Wien u.a. 2010, hier S. 13; Andreas Körber: Neue Medien und Informationsgesellschaft als Problembereich geschichtsdidaktischer Forschung. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), S. 165–181, S. 177, Anm. 1; auch Saskia Handro: „Wie es Euch gefällt!“ Geschichte im Fernsehen. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 6 (2007), S. 213–231, bes. S. 214. 7 http://www.vimu.info/general_01.jsp, aufgerufen am 28. Juni 2013. Das Virtuelle Museum zur Geschichte des deutsch-dänischen Grenzraums zwischen 1830 und 2000. Beteiligte: Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte der Universität Flensburg (Leitung: Uwe Danker), Institut for Historie, Kultur og Samfundsbeskrivelse der Syddansk Universitet, Odense (Martin Rheinheimer), Institut for Fagsprog, Kommunikation og Informationsvidenskab der Syddansk Universitet, Sønderborg (Klaus Robering), Zentrum für Multimedia der Fachhochschule Kiel (Bernd Vesper). Siehe zu Vimu.info auch Uwe Danker/Astrid Schwabe: Normative fachdidaktische Anforderungen an virtuelle Geschichtspräsentationen.

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lung über Dienstmädchen im 19. und frühen 20. Jahrhundert enthält. Diesen Text könnte sie etwas länger als eine Minute lesen, bevor sie das Webangebot wieder verlässt. Auch wenn Julia und der Hintergrund ihrer Recherche fiktiv sind; ein aufgezeichneter Besuch auf der didaktisch reflektierten, regionalhistorischen Website Vimu.info zur jüngeren Geschichte der deutsch-dänischen Grenzregion zwischen 1830 und 2000 zeigte den beschriebenen Verlauf und wirft Fragen auf: Ist das beobachtete Verhalten repräsentativ für den Umgang der Userinnen und User mit dem historischen Web-Angebot? Wie verhalten sich Besucherinnen und Besucher auf dieser an ein heterogenes Publikum gerichteten Website, die auf einer spezifischen didaktischen Konzeption beruht und Anfang 2009 immerhin durchschnittlich 11.000 Besuche pro Monat verzeichnete? Spiegelt ihr Verhalten auf dem konkreten historischen Webangebot die vorwiegende Nutzung des WWW als Informations-Medium wider, die für das Medium zumindest außerhalb gelenkter Lernarrangements im Allgemeinen festzustellen ist? Bestätigt sich die These von einer starken lexikalischen Nutzung, unter der die Suche nach Daten, Fakten, Begriffen, Personen und kurzen Erläuterungen zur Geschichte mit Hilfe von Suchmaschinen zu verstehen ist? Oder zeichnen sich auch andere Formen des Umgangs mit dem Virtuellen Museum ab, beispielsweise eine ausführliche, strukturiert-systematische Beschäftigung mit den historischen Darstellungen? Der vorliegende Beitrag basiert auf umfangreichen Forschungen im Rahmen eines Qualifikationsprojekts zum ungesteuerten historischen Lernen im World Wide Web.8 Im Fokus steht hier die konzentrierte Zusammenstellung der zentralen (publizierten) empirischen Ergebnisse zur Nutzung des Web-Angebots Vimu.info, die einen Versuch darstellten, sich den bisher kaum erforschten Userinnen und Usern historischer Websites9 mittels eines empirisch-evaluativen Zugriffs beispielhaft anzunähern. || Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung am Projektbeispiel eines ‚Virtuellen Museums‘. In: Danker/Schwabe (Anm. 4), S. 60–89 und Dies.: Einleitung. In: Ebd., S. 5–12. 8 Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web: Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info. Göttingen 2012 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Bd. 4). Zur komprimierten Diskussion der empirischen Hauptbefunde vgl. auch Astrid Schwabe: Suchen, flanieren oder forschen? Empirische Erkundungen zur Nutzung historischer Angebote im World Wide Web am konkreten Beispiel. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 156–175. 9 Für verdienstvolle Analysen im schulischen Kontext vgl. Bettina Alavi: Wie lernen Schüler/innen mit ‚historischer‘ Selbstlernsoftware? In: Judith Martin/Christoph Hamann (Hrsg.): Geschichte – Friedensgeschichte – Lebensgeschichte. Herbolzheim 2007, S. 205–220; Bettina

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1 Anmerkungen zur korrespondierenden empirischen Untersuchung Grundlage für die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse bildet die auf quantitative Methodik gestützte, methodenexplorative Analyse von etwa 107.000 in ihrem Verlauf aufgezeichneten, gültigen Besuchen im Virtuellen Museum www.vimu.info mit mehr als 275.000 zugehörigen Seitenaufrufen.10 Als theoretisch-methodische Grundlagen wurden museologische Besucherforschungen11 und Untersuchungen des Web Usage Mining12 herangezogen. Die so durch „ver-

|| Alavi/Marcel Schäfer: Historisches Lernen und Lernstrategien von Schüler/innen. Eine empirische Untersuchung zu historischer Selbstlernsoftware. In: Alavi (Anm. 4), S. 75–93 und der Beitrag der Autorin in diesem Band; die Forschungen von Jan Hodel, (Anm. 5) und ders.: „… dann schreib ich es in meinen eigenen Wörtern“. Geschichtslernen im Zeitalter von Social Software. In: Ders./Béatrice Ziegler (Hrsg.): Forschungswerkstatt Geschichtsdidaktik 07. Beiträge zur Tagung „geschichtsdidaktik empirisch 07“. Bern 2009 (Geschichtsdidaktik heute, Bd. 2), S. 226–236; Michele Barricelli/Ruth Benrath: „Cyberhistory“. Studierende, Schüler und Neue Medien im Blick empirischer Forschung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 337–353. 10 Anonyme Aufzeichnung unter Berücksichtigung des Datenschutzes durch eine speziell für diese Evaluation von den Projektpartnern der Syddansk Universitet Sønderborg entwickeltes User-Tracking-Programm. Die Auswertung erfolgte durch eine eigens programmierte Filemaker-Datenbank „vimu.stats“ (Dr. Volker Krambrich, Fa. Norsult). 11 Vgl. u.a. Bernhard Graf/Heiner Treinen: Besucher im technischen Museum. Zum Besucherverhalten im Dt. Museum München. Berlin 1983 (Berliner Schriften zur Museumskunde, Bd. 4); Heiner Treinen: Was sucht der Besucher im Museum? Massenmediale Aspekte des Museumswesens. In: Gottfried Fliedl (Hrsg.): Museum als soziales Gedächtnis? Kritische Beiträge zu Museumswissenschaft und Museumspädagogik. Klagenfurt 1988 (Klagenfurter Beiträge zur bildungswissenschaftlichen Forschung, Bd. 19), S. 24–41; Hans-Joachim Klein: Der gläserne Besucher. Publikumsstrukturen einer Museumslandschaft. Berlin 1990 (Berliner Schriften zur Museumskunde, Bd. 8); Heiner Treinen: Besucherforschung und Vermittlungsstrategien in kulturhistorischen Ausstellungen. In: Haus der Bayrischen Geschichte (Hrsg.): Besucherforschung und Vermittlungsstrategien in historischen Ausstellungen. Kolloquiumsbericht zu den Ergebnissen der Ausstellung „Geschichte und Kultur der Juden in Bayern“. München 1991, S. 11–13. 12 Vgl. Sebastian Schulz: Surfverhalten und -erleben. Erfassung, Determinanten und Wirkungen. Göttingen 2006 (Beitrag zur Tracking-Forschung, Bd. 14); Markov Zdravko/Daniel T. Larose: Data mining the web. Uncovering patterns in web content, structure and usage. Hoboken, NJ 2007; Asem Omari/Stefan Conrad: Web Usage Mining for Adaptive and Personalized Websites 2006, S. 342–348, verfügbar unter http://web1.bib.uni-hildesheim.de/edocs/2007/ 522113354/meta/, aufgerufen am 29. Januar 2013.

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steckte Beobachtung“13 entstandenen Daten, die der Verfasserin als Mit-Herausgeberin der Website zur Verfügung standen, konnten aufbereitet – und unter Berücksichtigung der Herausforderungen, die automatisch erhobene Daten bereithalten14 – Aufschluss darüber geben, welche Seiten des Virtuellen Museums in welcher Reihenfolge und wie lange rezipiert wurden. Die DatenAnalyse erfolgte durch eine rechnergestützte, deskriptiv-statistische Auswertung, die vor allem Mittelwerte und Häufigkeitsverteilungen umfasste. Besuchsherkunft, Besuchssprache, Besuchsintensität, Besuchsdauer, Besuchsverlauf und Besuchsinhalt – diese Schlagwörter charakterisieren die erfassten äußeren Merkmale der Besuche im Virtuellen Museum. Ihre jeweils isolierte Untersuchung lieferte nur Erkenntnisse begrenzter Aussagekraft, zentral für die Analyse waren Kombinationen der Aspekte unter Berücksichtigung konzeptioneller und inhaltlicher Fragen. Ein Besuch konnte beispielsweise mehrere, jeweils länger aufgerufene Seiten auf verschiedenen Ebenen des Museums umfassen. Die Besuche auf Vimu.info wurden deshalb anhand eines mehrdimensionalen Modells analysiert, das auf der spezifisch-didaktischen Konzeption der Website fußte. Diese soll hier nicht erneut ausführlich vorgestellt werden,15 doch die für die Evaluation zentralen Punkten seien erwähnt: Das Virtuelle Museum besteht entsprechend der grundlegenden Hypertextstruktur16 aus sinnvollen, für sich stehende Informationseinheiten, die untereinander so miteinander verlinkt sind, dass historische Narrationen entstehen und Sinnbildung ermöglicht wird. Eine hierarchische Baumstruktur auf fünf Ebenen – Startseite (I), Dimensionen (II), Themenseiten (Topics, III) mit kurzen Einführungstexten und Verlinkungen zu den zugehörigen Modulen (IV) als eigentlicher inhaltlicher Darstellungsebene und, hier zugeordnet, Formate (V) als Vertiefungsangebote – soll Orientierung bieten, Userinnen und User zu den Inhalten führen und sie dort in Sinnzusammenhängen halten, also die kontextualisierte Beschäftigung mit Geschichte fördern. Die Verlinkung innerhalb eines Themas und auch zwischen || 13 Vgl. Carlos Kölbl: Qualitative and Quantitative Approaches in the Research of historical Learning: Potentials and Limitations. In: Elisabeth Erdmann/Susanne Popp/Jutta Schumann (Hrsg.): Jahrbuch 2010 Internationale Gesellschaft für Geschichtsdidaktik. Empirische Forschung zum empirischen Lernen. Schwalbach a. T. 2010, S. 139–152, bes. S. 145. 14 Das methodische Vorgehen wird ausführlich erläutert und diskutiert in Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 289–312; siehe auch Schwabe 2013 (Anm. 8), S. 155–160 und Danker/Schwabe (Anm. 4), S. 28–33. 15 Ausführliche Darstellungen dieser Konzeption finden sich in Danker/Schwabe (Anm. 7), S. 76–86 und Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 157–286. 16 Vgl. aus der umfänglichen Literatur bes. Jakob Krameritsch: Geschichte(n) im Netzwerk. Hypertext und dessen Potentiale für die Produktion, Repräsentation und Rezeption der historischen Erzählung (Medien in der Wissenschaft, Bd. 43). Münster u.a. 2007.

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Tab. 1: Mehrdimensionale Erfassung der Besuche im Virtuellen Museum Vimu.info. Dimension

Schlagwort

Merkmal

Besuchssprache

Sprache der aufgerufenen Seiten

Besuchsherkunft

Zugriffsquelle des Besuchs

numerische Dimension

Besuchsintensität

Anzahl der aufgerufenen Seiten

zeitliche Dimension

Besuchsdauer

Verweildauer im Museum und auf einzelnen aufgerufenen Seiten

räumliche Dimension

Besuchstiefe

Strukturebene der aufgerufenen Seiten innerhalb des Museums

kontextuelle Dimension

Thementreue

aufgerufene Seiten im Sinnzusammenhang

inhaltliche Dimension

Besuchsinhalt

Themengebiete der aufgerufenen Seiten

verschiedenen Themen ist begrenzt, erfordert enge thematische Zusammenhänge. Gleichzeitig bietet Vimu.info zahlreiche lexikalische Artikel, wie Begriffserklärungen oder Biografien, um die Nutzung der historischen Darstellungen ohne weitere Nachschlagewerke zu ermöglichen; und um die angenommene Rezeption der Website als historisches Informations-Medium zu erlauben. Das Dimensionen-Modell für die empirische Evaluation berücksichtigte neben der Sprache der aufgerufenen Seiten (Vimu.info ist vollständig zweisprachig – deutsch und dänisch) zunächst die Zugriffsquelle: Wie gelangten die Userinnen und User auf Vimu.info? Vor allem aber erfasste es fünf in ihrer Komplexität zunehmende Dimensionen der Besuche – die numerische, die zeitliche, die räumliche, die kontextuelle und die inhaltliche Dimension (Tab. 1) –, die für sich stehend und kombiniert untersucht wurden. Analog zur museologischen Besucherforschung fokussierte die Untersuchung also auf das beobachtbare Nutzungsverhalten von Userinnen und Usern des Virtuellen Museums, um auf Basis medientheoretischer Grundlagen und vorliegender Erkenntnisse zu Rezeptionsgewohnheiten des WWW am konkreten Beispiel Erkenntnisse über den Umgang des heterogenen Publikums mit didaktisch reflektierten historischen Web-Angeboten zu gewinnen. Diese erlaubten in der Folge vorsichtige Ableitungen über potenzielle historische Lernprozesse auf beziehungsweise mit der hypertextuellen historischen Darstellung Vimu.info.17

|| 17 Vgl. hierzu Schwabe 2012 (Anm. 8), bes. S. 406–416; siehe auch David T. Schaller u.a.: How Do You Like to Learn? Comparing User Preferences and Visit Length of Educational Web Sites. In: Visitor studies today 2 (2002), S. 1–10, S. 9.

Das World Wide Web als historisches Informations-Medium? | 41

Denn: Auch wenn die Anlage der Untersuchung keine „direkte Messung“ potenzieller historischer Lernprozesse im resp. durch das Virtuelle Museum zuließ; der Verlauf der Besuche sollte zumindest Rückschlüsse darauf zulassen, ob innerhalb eines Besuchs im Virtuellen Museum eine ausführliche Rezeption historischer Inhalte stattfand oder (nur) „zielloses Wandern im Cyberspace“.18

2 Die durchschnittliche Nutzung des Virtuellen Museums Wie nutzten die Userinnen und User die Website Vimu.info während des mehr als neunmonatigen Untersuchungszeitraums (2008/2009) im Durchschnitt? Auf welchen Wegen kamen sie? Wie lange blieben sie und wie viele Angebote auf Vimu.info sahen sie sich an? Etwa jeder siebte Besuch auf Vimu.info (14 Prozent) ließ sich als bewusster Besuch durch den direkten Aufruf einer zum Museum gehörenden URL oder durch die Verfolgung eines Links charakterisieren. Wie erwartet, dominierten die Zugriffe über Suchmaschinen (80 Prozent) (Abb. 1).19 Diese Beobachtung gab einen ersten Hinweis auf eine intensive lexikalische Nutzung der Website, der sich durch (korrigierte)20 Mittelwerte in Bezug auf die Dauer und den Umfang der Besuche im Virtuellen Museum bestätigte: Ein durchschnittlicher Besuch auf Vimu.info dauerte etwas über zweieinhalb Minuten und umfasste 2,1 Seitenaufrufe. Durchschnittsnutzungswerte für Web-Angebote im Allgemeinen liegen bei einer Verweilzeit von etwa einer Minute und

|| 18 Danker/Schwabe (Anm. 4). 19 ‚Vimu intern‘ bezeichnet Besuche, deren Ausgangspunkt eine Seite ist, die schon auf Vimu.info liegt. Dies konnte bei bestimmten Konstellationen, Abläufen und Einstellungen auftreten. Besuche mit dieser Zugriffsquelle waren eigentlich mit einem anderen Besuch auf Vimu.info verbunden. Die Besuche wurden auf Grund ihres Einflusses auf die Analyse konsequent gesondert betrachtet, hier werden sie nicht gesondert diskutiert (vgl. Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 319f.). 20 Um zu vermeiden, dass wenige nicht plausibel erscheinende Besuche, die entweder außergewöhnlich viele Seitenaufrufe umfassten oder sehr lange dauerten, zu Verzerrungen führen, wurden bei der Betrachtung der Mittelwerte Besuche mit mehr als 50 zugehörigen Seitenaufrufen bzw. Besuche, die länger als fünf Stunden dauerten, ausgeschlossen. Grundsätzlich sind gerade in Bezug auf die Verweilzeiten bei der Interpretation und Bewertung der Ergebnisse bestimmte Einschränkungen und Setzungen zu berücksichtigen. Vgl. hierzu Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 299–312.

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Zugriffsquelle der Museumsbesuche direkter Aufruf

10,7% 3,5% 5,4% 0,1%

80,3%

verweisender Link

Vimu intern hidden referrer

Suchmaschine

Abb. 1: Besuchsherkunft: Verteilung der Besuche auf unterschiedene Zugriffsquellen. Quelle: Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 319.

50 Sekunden und 3,2 Seitenaufrufen.21 Für andere deutschsprachige historische Angebote im WWW wurden mittlere Verweildauern von zwischen zwei und drei Minuten ermittelt, und bis zu drei Seitenaufrufe pro Besuch.22 Die VimuUserinnen und -User nutzten das Virtuelle Museum folglich in ähnlicher Weise. Die Untersuchung der Verweildauer auf den einzelnen Seiten des Virtuellen Museums ergab allerdings eine Besonderheit: Während andere Nutzungsstudien einen Durchschnittswert von etwa 30 Sekunden auf den einzelnen Web-

|| 21 Vgl. Nielsen/Loranger (Anm. 3), S. 25. 22 Dörte Hein ermittelte bei ihrer Untersuchung von Websites zu Nationalsozialismus und Holocaust eine mittlere Verweildauer von etwa drei Minuten (vgl. Hein (Anm. 5), S. 227); Ralf Blank und Stephanie Marra kamen bei einer Untersuchung von fünf historischen Websites und Museumsportalen im Jahr 2000 im Schnitt auf bis zu drei Seitenaufrufe pro Besuch sowie eine durchschnittliche Verweildauer von bis zu zwei Minuten (vgl. Ralf Blank/Stephanie Marra: Besucherforschung und Qualitätsmanagement. In: Stuart Jenks/Dies. (Hrsg.): Internet-Handbuch Geschichte. Köln u.a. 2001, S. 229–248, S. 236).

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Abb. 2: Durchschnittliche Verweildauer, unterschieden nach Zugriffsquelle. Quelle: Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 322.

seiten ergaben,23 verblieben die Vimu-Userinnen und -User im Mittel beachtlich lange 62 Sekunden auf einer Seite. Detailanalysen der Vimu-Besuche ergaben, dass die Seiten auf den eigentlichen inhaltlichen Darstellungsebenen im Schnitt zwischen 65 und 75 Sekunden aufgerufen wurden, die vornehmlich der Navigation dienenden Webseiten (Topic, Dimension) mit zwischen 24 und 40 Sekunden deutlich kürzer. Viele historische Informationseinheiten auf Vimu.info wurden also vergleichsweise ausführlich rezipiert. Die Zugriffsquelle eines Besuchs hatte sowohl erheblichen Einfluss auf die durchschnittliche Besuchsdauer als auch auf die durchschnittliche Anzahl der zugehörigen Seitenaufrufe (jeweils korrigierte Werte). Bewusste Besuche, die über einen verweisenden Link oder einen direkten Aufruf zustande kamen, dauerten im Schnitt mit etwa vier bzw. fünf Minuten deutlich länger als Besuche, die über eine Suchmaschine erfolgten (Abb. 2)

|| 23 27 Sekunden für Webseiten generell (vgl. Nielsen/Loranger (Anm. 3), S. 20) und etwa eine halbe Minute für historische Webseiten (vgl. Blank/Marra (Anm. 22), S. 236.

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Bewusste Besuche umfassten im Schnitt etwa vier Seitenaufrufe, während Suchmaschinen-Besuche mit im Schnitt 1,7 Seiten deutlicher weniger umfänglich waren (Abb. 3). Die Untersuchung der durchschnittlichen Rezeption des Virtuellen Museums schien die These vom historischen Informationsmedium zu bestätigen. Die Vimu-Nutzung entsprach den Gepflogenheiten des Mediums WWW: Ein „typischer“ Besuch kam über eine Suchmaschine zu Stande, dauerte nicht länger als drei Minuten und umfasste meist nicht mehr als zwei Seitenaufrufe, die jeweils etwa eine Minute rezipiert wurden. Doch es deutete sich eine zweite Form der Vimu-Nutzung an, die sich in bewussten Aufrufen des Web-Angebots und vergleichsweise längeren und umfangreicheren Besuchen widerspiegelte. Würde die mehrdimensionale Analyse der Museumsbesuche mit Hilfe von Häufigkeitsverteilungen diese mit Vorsicht zu bewertenden Durchschnittszahlen bestätigen?

Abb. 3: Durchschnittliche Anzahl aufgerufener Seiten, unterschieden nach Zugriffsquelle. Quelle: Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 323.

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3 Die Analyse der numerischen und zeitlichen Dimension: Besuchsintensität und Besuchsdauer Aus der Anzahl der Seiten, die die Userinnen und User während ihrer jeweiligen Besuche auf Vimu.info aufriefen, ließen sich Erkenntnisse über die Intensität der Besuche im Virtuellen Museum ableiten. Die überwiegende Mehrheit der Besucherinnen und Besucher betrachtete nur eine Seite des Virtuellen Museums, bevor sie es wieder verließ.24 Weitere 13 Prozent der Besuche umfassten zwei oder drei Seiten. Fast zwölf Prozent der Besucherinnen und Besucher betrachten vier oder mehr Seiten, allerdings beinhaltete nur ein geringer Teil der Besuche – weniger als ein Prozent – mehr als 21 Seitenaufrufe (Abb. 4).

Abb. 4: Häufigkeitsverteilung der Besuchsintensität bei allen Besuchen. Quelle: Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 327. || 24 Diese Quote ist im WWW nicht unüblich. In der kommerziellen Web-Analyse ist die so genannte „bounce rate“ (deutsch: Absprungrate) eine zentrale Kennzahl. Vgl. Pedro Sostre/Jennifer Leclaire: Web Analytics for Dummies. Hoboken NJ 2007, S. 336.

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Wie ließen sich die Zahlen interpretieren? Unter den 80.000 Usern, die nur eine Seite aufriefen, mögen sicherlich viele Fehlgeleitete sein, die über irgendwelche Wege ins Virtuelle Museum gelangt waren und dann schnell feststellten, dass sie hier nicht hin wollten. Doch ein nach einem Seitenaufruf beendeter virtueller Museumsbesuch konnte auch eine gezielte, erfolgreiche Suche im Rahmen einer lexikalischen Nutzung widerspiegeln, wenn die Seite im inhaltlichen Angebot der Website platziert und die Verweildauer ausreichend hoch war. Ebenso konnte ein Besuch mit mehr als vier aufgerufenen Seiten eine intensive inhaltliche Beschäftigung bedeuten; vorausgesetzt, es fand kein extrem kurzes, wahlloses Klicken statt. Um aussagekräftigere Schlüsse zu ziehen, galt es, die Analyse der numerischen Dimension mit anderen zu kombinieren. Die Kombination der Anzahl aufgerufener Seiten mit der Verweildauer im Museum insgesamt und auf einzelnen Seiten zeigte: Die Besuche dauerten immer länger, je höher die Anzahl der aufgerufenen Seiten war. Während die durchschnittliche Verweildauer im Virtuellen Museum für alle Besuche mit einem Seitenaufruf nur eine knappe Minute betrug, dauerten Besuche mit zwei Seitenaufrufen etwas unter drei Minuten und solche mit drei Seitenaufrufen schon länger als vier Minuten. Besuche, die mehr als acht Seitenaufrufe umfassten, dauerten im Mittel schon mehr als elf Minuten. Die durchschnittliche Seitenverweildauer lag allerdings bei wenigen aufgerufenen Seiten höher als bei Besuchen mit zahlreichen Seitenaufrufen, was sich durch den steigenden Navigationsaufwand erklären lässt. Besuchsintensität und Besuchsherkunft standen in Korrelation: Besuche mit höherer Besuchsintensität wiesen einen vergleichsweise hohen Anteil an direkten Aufrufen oder Aufrufen über eine Verlinkung auf, also an bewussten Besuchen. Und: Während Besuche mit hoher Besuchsintensität einen höheren Anteil an bewussten Aufrufen der Website hatten, beruhten Besuche mit bis zu drei aufgerufenen Seiten überwiegend auf Suchmaschinenzugriffen. Diese Beobachtungen deuteten die Bestätigung von zwei differierenden Nutzungsmustern an: Neben der dominierenden Nutzung von Vimu.info, die sich durch den Zugriff über eine Suchmaschine und den Aufruf weniger Seiten auszeichnete, zeichnete sich eine andere, gezielte Nutzung der historischen Website mit höherer Besuchsintensität ab. Wie verteilten sich die Verweildauern in ihrer Häufigkeit? Mehr als die Hälfte aller Besuche im Virtuellen Museum waren nach weniger als einer Minute Verweilzeit wieder beendet,25 über 70 Prozent aller Besuche endeten nach ma-

|| 25 Auf Grund der Beschaffenheit des Datenmaterials war es nicht möglich, nähere Informationen über die Dauer dieser Besuche zu erhalten. Bei der Untersuchung der Häufigkeitsvertei-

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ximal zwei Minuten. Elf Prozent der Besuche umfassten eine Verweilzeit zwischen zwei und fünf Minuten, weitere neun Prozent dauerten länger als fünfeinhalb Minuten. Nur wenige Userinnen und User (drei Prozent) blieben 15 Minuten oder länger im Museum (Abb. 5). Besuchsdauer und Zugriffsquelle standen wiederum in Korrelation: Je länger Besuche auf Vimu.info dauerten, desto höher war der Anteil an Besuchen, die auf direkte Aufrufe zurückgingen, und desto geringer war der Anteil an Suchmaschinen-Besuchen. Auch der Anteil der Besuche, die über einen verweisenden Link ins Virtuelle Museum kamen, war bei den längeren Besuchen größer als bei den kurzen. Die Untersuchung von Intensität und Dauer der Besuche auf Vimu.info unter Berücksichtigung der Zugriffsquelle bestätigte die These von einer starken lexikalischen Nutzung des Virtuellen Museums: Der überwiegende Teil aller Besucherinnen und Besucher kam über eine Suchmaschine auf die Website, rief eine Seite auf und verließ das Museum nach weniger als einer Minute wieder. Besuche, die sich auf diese Weise reproduzierten, konnten einerseits „irrtümliche“ Besuche auf Vimu.info darstellen, also auf Userinnen und User zurückgehen, die zufälligerweise fälschlich dort landeten oder auf der aufgerufenen Seite nicht das fanden, was sie suchten. Andererseits konnten sie auch sinnvolle lexikalische Nutzung abbilden, etwa eine erfolgreiche Suche nach Daten, Namen und knappen Fakten. Denn: Existierende Usability-Untersuchungen wiesen einerseits aus, dass Userinnen und User innerhalb von 15 Sekunden entschieden, ob sie die besuchte Website interessierte oder nicht,26 andererseits || lung der Verweilzeiten hatten bestimmte im Rahmen der Datenaufbereitung vorgenommene Setzungen für die Verweilzeit auf den jeweils letzten Seitenaufrufen eines Besuchs erheblichen Einfluss. Da die Verweildauer auf einer Seite im Zusammenspiel mit der Zeitangabe des Seitenaufrufs der folgenden Seite berechnet wurde, existierte für die letzten Seite eines Besuchs keine Angaben zur Dauer des Seitenaufrufs (vgl. Zdravko/Larose (Anm. 12), S. 178f.). Bei Verweildauern auf den letzten Seiten der Besuche von über einer Minute existierten dennoch aufgezeichnete Rohdaten, allerdings nur in ganzen Minutenschritten. Bei einer Verweildauer auf einer letzten Seite unter einer Minute fehlten die Angaben, so auch für alle Besuche mit nur einem zugehörigen Seitenaufruf, der kürzer als eine Minute war. Alle Besuche, die nach den Datenaufzeichnungen auf der letzten zugehörigen Seite eine Verweildauer von fünf Minuten oder länger auswiesen, bekamen als maximale Verweildauer den Wert von 300 Sekunden zugewiesen. Aus diesem Grund wird das Intervall zwischen fünf und fünfeinhalb Minuten in den Grafiken besonders gekennzeichnet. Es enthielt alle Museumsbesuche, die einen Seitenaufruf umfassten und länger als fünf Minuten dauerten, wie auch Besuche, bei denen User zügig eine oder mehrere Seiten anklickten, um dann länger als 300 Sekunden auf der letzten Seite zu verweilen. Vgl. hierzu Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 308–312. 26 Vgl. Stefan Heijnk: Texten fürs Web. Grundlagen und Praxiswissen für Online-Redakteure. Heidelberg 2002, S. 54.

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Abb. 5: Häufigkeitsverteilung der Verweilzeiten bei allen Besuchen. Quelle: Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 334.

zeigten sie, dass Userinnen und User in weniger als einer Minute sogenannte Retrieval-Aufgaben lösen konnten, also die konkrete Suche nach einer spezifischen (hier: historischen) Information.27 Weitere größere Anteile der Besuche zeichneten sich durch den Aufruf von zwei oder drei Seiten und/oder kurze Verweilzeiten zwischen einer und zwei Minuten aus. Auch diese Besuche beruhten mehrheitlich auf Suchmaschinenanfragen. Oft lagen die Seitenverweildauern dabei bei zwischen einer und eineinhalb Minuten, und damit bei einem Wert, der deutlich über den bisher bekannten Durchschnittswerten für die Rezeption von Webseiten lag. Er konnte als Indiz auf eine wirkliche Lektüre der angebotenen Inhalte gewertet werden, da viele Informationseinheiten auf Vimu.info durchaus in diesem Zeitraum zumindest teilweise gewinnbringend rezipiert werden könnten.

|| 27 Vgl. Erlhofer (Anm. 3), S. 113–117 und S. 141f.

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Neben dieser dominierenden lexikalischen Nutzung zeichnete sich als zweites Nutzungsmuster die gezielte Rezeption der Webangebote ab, um sich im Rahmen eines mehrminütigen Besuchs intensiver mit den angebotenen historischen Darstellungen auseinanderzusetzen. Zehn Prozent der Besuche waren durch eine höhere Verweilzeit von mehr als fünfeinhalb Minuten oder eine größere Besuchsintensität mit mehr als vier aufgerufenen Seiten zu charakterisieren. Eine tiefgreifende Beschäftigung mit den im Virtuellen Museum präsentierten Inhalten, auf die die Betrachtung von mehr als zwölf Seiten und eine Besuchszeit von mehr als 15 Minuten hindeutete, war die Ausnahme; diese traf jeweils nur auf zwei bis drei Prozent der Besuche zu.

4 Die Analyse der räumlichen Dimension: Besuchstiefe Der Einbezug konzeptioneller und thematischer Aspekte in die Analyse sollte die bisher vorgestellten Ergebnisse bestätigen oder entsprechend korrigieren. Dabei richtete sich der Fokus zunächst auf die Untersuchung der Strukturebenen der aufgerufenen Seiten innerhalb der hierarchisch strukturierten Website: Auf welchen der fünf Ebenen bewegten sich die Userinnen und User bei unterschiedlichen Besuchen bevorzugt?28 Knapp drei Viertel aller Seitenaufrufe auf Vimu.info galten den Ebenen der Module oder Formate, die die ausführlichen historischen Darstellungen bereithalten. Nur etwa 17 Prozent der Seitenaufrufe galten den eher der Navigation dienenden Topic- oder Dimension-Ebenen. Aufrufe der Startseiten bildeten einen Anteil von acht Prozent (Abb. 6). Das Interesse der Userinnen und User galt vor allem dem eigentlichen inhaltlichen Angebot des Virtuellen Museums.

|| 28 In der Analyse wurden neben den vorgestellten fünf Ebenen – Startseite, Dimension, Topic, Modul und Format – die Besuche auf der in das Museum integrierten Navigationsgrafik ,Spider‘ und die Aufrufe der abstrakten Seiten, welche Metainformationen oder Erläuterungen zu Vimu.info beinhalten, gesondert ausgezeichnet; beide Ebenen werden hier nicht berücksichtigt.

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Abb. 6: Verteilung aller Seitenaufrufe auf die verschiedenen Ebenen. Quelle: Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 347.

Wer über Suchmaschinen auf Vimu.info gelangte, bewegte sich auf andere Weise durch die Website als Userinnen und User, die sie direkt aufriefen oder einem verweisenden Link folgten; dies zeigte die Kombination von Besuchstiefe und Zugriffsquelle. Bei Besuchen über Suchmaschinenzugriffe galten nur drei Prozent der Seitenaufrufe den Startseiten, aber 80 Prozent den darstellenden Modul- und Formatebenen. Der prozentuale Anteil dieser Modul- und Formatseiten war dagegen bei gezielten Besuchen erheblich niedriger, dafür stiegen die Anteile der Ebenen, die primär der Navigation dienen. Bei bewussten Besuchen zeichnete sich folglich eine ausgewogenere Nutzung der Website ab, die ein Durchschreiten der verschiedenen hierarchischen Ebenen des Museums widerspiegelte, das bei lexikalischen Zugriffen über Suchmaschinen keine Rolle spielte, da sie direkt in die Tiefe des inhaltlichen Angebots führten. Die kombinierte Untersuchung von Besuchstiefe und Besuchsintensität wiederum ergab, dass sich Besucherinnen und Besucher, die mehr als vier Seiten aufriefen, anders durch das Virtuelle Museum bewegten, als jene mit bis zu drei Seitenaufrufen. Sie navigierten wesentlich stärker über die Dimensionen und die Topic-Ebene und betrachteten deshalb anteilig weniger die Inhaltsseiten auf Modul- und FormatEbene, die wiederum bei den Besuchen mit bis zu drei zugehörigen Seitenaufrufen drei Viertel aller Seitenaufrufe ausmachten.

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Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Userinnen und User des Virtuellen Museums nach Betreten der Startseite in der Regel frühestens beim Aufruf der vierten Seite auf die eigentlichen historischen Darstellungen treffen konnten, legten die dargestellten Beobachtungen eine strukturiert-systematische Nutzung der Angebote auf Vimu.info nahe: Betreten des Museums über eine Startseite, Navigation über die Dimensionen und Topics zu den Modulen, um von dort aus gegebenenfalls verschiedene Formate zu besichtigen und auf die Modulseite zurückzukehren oder über die Topic-Seite oder die direkte Navigation am Ende der Modul-Seite zu einem anderen Modul des gleichen Topic zu wandern. Die bisherigen Beobachtungen konnten jedoch auch ein eher oberflächliches Flanieren durch alle „Räume“ des Virtuellen Museums abbilden, das nicht auf systematische inhaltliche Beschäftigung mit den historischen Inhalten zurückging. Aus der kombinierten Analyse von Besuchstiefe und Besuchsdauer ließ sich jedoch ableiten: Wer länger im Museum verweilte, schien nicht durch das Museum zu „flanieren“, sondern sich intensiver mit einem oder wenigen Themen zu beschäftigen. Die Analyse der Vimu-Besuche anhand der räumlichen Dimension ermöglichte eine Präzisierung der referierten typischen Verhaltensweisen von Museumsbesucherinnen und -besuchern, die sich keineswegs ausgeglichen auf die Besuche verteilten: Die überwiegende Mehrheit der Userinnen und User betrat die Website über eine Suchmaschine nach einer, wie auch immer gearteten, thematischen Suchanfrage und landete direkt auf einer Modul- oder FormatSeite. Die Website wurde folglich intensiv lexikalisch genutzt. Dem gegenüber standen die bewussten Besuche auf vimu.info über den direkten Aufruf der Homepage oder einen verweisenden Link, die etwa ein Zehntel aller Besuche ausmachten. Besucherinnen und Besucher begannen ihren mehr als vier Seitenaufrufe umfassenden und meist zwischen fünfeinhalb und 30 Minuten dauernden Museumsrundgang in der Regel auf einer der Startseiten und navigierten in der Folge über eine der Dimensionen zu einer thematischen Einführung auf der Topic-Seite und gelangen von dort auf die Ebenen der Module und Formate, die die eigentlichen historischen Darstellungen beherbergen, wo sie im Schnitt meist länger als eine Minute verblieben. Wenn innerhalb einer mittleren Verweildauer zahlreiche Seiten auf allen Ebenen aufgerufen wurden, konnten diese Besuche recht oberflächliche Spaziergänge durch das Virtuelle Museum abbilden. Wenn Besucherinnen und Besucher Vimu.info aber über die Startseite betraten, in einem längerem Zeitraum über die Dimensions- und Topic-Seite zur Modul- und Format-Ebene navigierten, auf diesen Inhalts-Seiten im Schnitt jeweils über eine Minute verweilten und insgesamt zwischen acht und 20 Seiten aufriefen, dann konnten sie einer anderen Nutzung des Virtuellen Museums dienen, nämlich einer, die sich als strukturiert-systematisch charakterisieren ließ.

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5 Die kontextuelle Dimension: Thementreue Bisher beruhte die Erarbeitung der drei unterschiedenen Nutzungsmuster auf der getrennten und kombinierten Analyse der Aspekte Besuchsintensität, Besuchsdauer und Besuchstiefe. Inhaltlich-kontextuelle Aspekte wurden noch nicht berücksichtigt. In Anbetracht der spezifischen didaktischen Konzeption des Virtuellen Museums, die darauf abzielte, Userinnen und User in Sinnzusammenhängen zu halten und so die kontextualisierte Beschäftigung mit Geschichte zu fördern, stellte sich jedoch im Besonderen die Frage: Verblieben Userinnen und User, die mehrere Seiten aufriefen, in inhaltlichen Sinnzusammenhängen, um dort Vertiefungsangebote zu betrachten, oder „flatterten“ sie schnell von einem Topic zum nächsten? Die Rezeption mehrerer Webseiten des Virtuellen Museums, die in einem inhaltlich-thematischen Zusammenhang stehen, wurde als „thementreues Verhalten“ definiert und mehrdimensional erfasst. Berücksichtigt wurde dabei die Anzahl der aufgerufenen Seiten innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls in einem thematischen Bereich, also die numerische, die zeitliche und die räumliche Dimension eines Museumsbesuchs: Ein Besuch spiegelte kontextualisierte Nutzung wider und galt als thementreu, wenn er mindesten 90 Sekunden, aber nicht länger als fünf Stunden andauerte, und wenn innerhalb dieses Zeitraums mindestens drei Seiten innerhalb eines Themenbereichs aufgerufen wurden.29 Julias anfangs erwähnter Besuch würde beispielsweise thementreu, wenn sie nach Betrachtung der historischen Darstellung zu Dienstmädchen im 19. und frühen 20. Jahrhundert mindestens zwei zugehörige Formate zu diesem Modul rezipierte, etwa einen Autorenkommentar zu „Männlichen Dienstboten“ und die quellenbasierte Multimedia-Anwendung „Lebenserinnerungen eines Dienstmädchens im 19. Jahrhundert“. Diese Definition von Thementreue berücksichtigte theoretische und empirische medienwissenschaftliche Erkenntnisse zum WWW und seiner Nutzung, wie auch die didaktische Struktur von Vimu.info und bisherige Ergebnisse der empirischen Evaluation.30 Etwa 11.000 Besuche auf Vimu.info, und damit jeder zehnte, waren in diesem Sinne thementreu (Abb. 7), wobei die durchschnittliche Verweildauer im Museum elf Minuten betrug, auf den einzelnen Seiten meist zwischen einer und eineinhalb Minuten. Die Untersuchung der räumlichen Dimension dieser the-

|| 29 Die Bestimmung der Thementreue soll präzisiert werden durch den Ausschluss der nicht vollständig plausiblen Besuche mit mehr als 50 Seitenaufrufen. 30 Zur Herleitung vgl. Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 366f.

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mentreuen Besuche ergab vergleichsweise ausgeglichene Aufrufe aller Ebenen mit häufigeren Aufrufen der Navigationsseiten (Dimension, Topic). Die Frage nach dem Zusammenhang von Thementreue und Zugriffsquelle ergab einerseits, dass der Anteil der bewussten Besuche bei den thementreuen Besuchen im Vergleich zu allen Besuchen erheblich anstieg, auch wenn auch hier die Mehrheit über eine Suchmaschine zustande kam (Abb. 8). Andererseits zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den Besuchen mit unterschiedlicher Herkunft: Von den bewussten Besuchen waren jeweils 19 bzw. 20 Prozent thementreu, während dies nur auf acht Prozent der Besuche mit der Zugriffsquelle Suchmaschine zutraf (Abb. 9). Eine Korrelation ließ sich sowohl zwischen Thementreue und Besuchsintensität als auch zwischen Thementreue und Besuchsdauer konstatieren: Je mehr Seiten Nutzerinnen und Nutzer während ihres Besuchs aufriefen, desto eher rezipierten sie zumindest Teile der Angebote in Sinnzusammenhängen. Schon mehr als die Hälfte aller Besuche mit zwischen vier und sieben zugehörigen Seitenaufrufen umfasste kontextualisierte Beschäftigung in mindestens einem Themenbereich, bei intensiveren Besuchen stiegen die Zahlen an (Abb. 10). Der prozentuale Anteil der thementreuen Besuche stieg auch an, je länger ein Besuch dauerte. Aufenthalte, die länger als fünfeinhalb Minuten dauerten, umfassten überwiegend kontextualisierte Rezeption (Abb. 11).

Abb. 7: Anteil der thementreuen Besuche an allen Besuchen. Quelle: Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 368.

54 | Astrid Schwabe Zugriffsquelle der thementreuen Besuche direkter Aufruf

19,4 %

6,7 % 8,6 %

verweisender Link

Vimu intern

65,2 % Suchmaschine

Abb. 8: Verteilung der thementreuen Besuche auf unterschiedene Zugriffsquellen. Quelle: Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 369.

Abb. 9: Anteil der thementreuen Besuche an allen Besuchen mit der jeweiligen Zugriffsquelle. Quelle: Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 371.

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Abb. 10: Anteil der thementreuen Besuche an allen Besuchen mit der jeweiligen Anzahl aufgerufener Seiten. Quelle: Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 372.

Abb. 11: Anteil der thementreuen Besuche an allen Besuchen mit der angegebenen Verweildauer. Quelle: Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 374.

56 | Astrid Schwabe

Die Analyse der kontextuellen Dimension bestätigte die Unterscheidung der benannten Nutzungsmuster der Website Vimu.info. Der Anteil thementreuer Besuche lag bei vorsätzlichen Besuchen deutlich höher als bei auf Suchmaschinenzugriffen beruhenden. Zudem stieg ihr Anteil kontinuierlich an, je intensiver ein Museumsbesuch war und je länger er dauerte. Die Beschäftigung mit historischen Inhalten im Sinnzusammenhang fand bevorzugt im Rahmen von Besuchen statt, die Merkmale einer strukturiert-systematischen Nutzung trugen. Die Frage nach der Thementreue ergab zudem eine weitere Beobachtung: Auch eine lexikalische Nutzung des Virtuellen Museums konnte eine intensive kontextualisierte Beschäftigung mit ausgewählten historischen Angeboten der Website umfassen. Denn: 40 Prozent der Besuche mit nur drei zugehörigen Seitenaufrufen waren thementreu. Sie wiesen mit über zwei Minuten eine hohe durchschnittliche Seitenverweildauer auf den Inhaltsseiten aus. Diese knapp zwei Prozent aller Besuche im Virtuellen Museum konnten auf Grund der Website-Struktur keine Seitenaufrufe auf Start- und Dimensionen-Ebene beinhalten. Sie spiegelten also eine intensive Auseinandersetzung in einem begrenzten Sinnzusammenhang im Rahmen einer lexikalischen Nutzung wider.

6 Schlussbetrachtung Kommen wir abschließend wiederum auf unseren kurzen und einen Seitenaufruf umfassenden „Dienstmädchen-Besuch“ zurück. Auch wenn die quantitative, einfach deskriptiv-statistische Analyse der Besuche im Virtuellen Museum Vimu.info in der technischen und inhaltlichen Umsetzung auf Grenzen stieß,31 zeigte sie: Dieser Besuch ist durchaus repräsentativ für die Nutzung des Virtuellen Museums. Deutlich überwiegen auf diesem didaktisch reflektierten historischen Webangebot solche Besuche, die sich als Besuche mit lexikalischer Nutzung kennzeichnen lassen. Sie gehen in der Regel auf SuchmaschinenAnfragen zurück, umfassen den Aufruf von ein, zwei oder drei Seiten tief im inhaltlichen Angebote der Website und sind meist nach maximal zwei, drei Minuten wieder beendet. Die quantitative Untersuchung der Besuchsverläufe lässt den Rückschluss zu, dass auch die Website Vimu.info von einem großen Teil ihrer Userinnen und User bei der Suche nach konkreten historischen Informationen, wie Namen, Daten, Begriffen oder Begebenheiten mittels Such-

|| 31 Vgl. hierzu Schwabe 2012 (Anm. 8), S. 401–403.

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maschinen frequentiert wird. In der Regel landen die Besucherinnen und Besucher dabei zufällig auf der Seite www.vimu.info, wenn sie im InformationsMedium World Wide Web nach historischem „Wissen“ recherchieren. Denn, wie die referierten Untersuchungen zur Nutzung des WWW zeigen, suchende Userinnen und User steuern ja gerade nicht gezielt eine bestimmte (historische) Website an, sondern gehen im Gesamtraum WWW „auf die Jagd“ nach Informationen. Neben diesen überwiegend lexikalischen Besuchen zeigen die Beobachtungen bei einem geringen Teil der Besuche eine andere Form des Umgangs mit der multimedialen historischen Darstellung zur Geschichte der deutschdänischen Grenzregion. Im Rahmen einer Nutzung, die als strukturiert-systematisch zu charakterisieren ist, durchschreiten Userinnen und User das Virtuelle Museum über die verschiedenen Ebenen, um im Rahmen eines längeren Besuchs zahlreiche Angebote eines Themas oder mehrerer Themen teilweise kurz, teilweise aber auch ausführlich zu betrachten, wobei zumindest einige der Angebote im kontextuellen Zusammenhang stehen. Solche Besuche gehen in der Regel auf den bewussten Aufruf der Startseite oder einer anderen Seite auf Vimu.info zurück oder auf das Anklicken eines externen Links ins Virtuelle Museum. Des weiteren ließ sich ein Flanieren durch das Virtuelle Museum herausarbeiten: Auf diesen Spaziergängen durch Vimu.info besuchen Userinnen und User in der Regel kurz verschiedenen Vimu-Webseiten auf verschiedenen Ebenen, die selten im kontextuellen Zusammenhang stehen, sondern meist verschiedene Themen berühren. Aus diesen Ergebnissen lässt sich schließen: Das World Wide Web dient maßgeblich als historisches Informationsmedium. Die überwiegende Nutzung des historischen Webangebots im lexikalischen Sinne zieht bei vielen Besuchen eine dekontextualisierte Rezeption historischer „Informationen“ nach sich: die kurze, häppchenweise Betrachtung – und hoffentlich sinnentnehmende Lektüre – einer hypertextuellen Informationseinheit außerhalb eines Sinnzusammenhangs, im Sinne des Information Snacking. Selbst eine gezielte Erarbeitung historischer Inhalte in resp. durch ein Webangebot im Rahmen einer strukturiert-systematischen Nutzung findet innerhalb weniger Minuten statt, eine Besuchszeit über eine halbe Stunde stellt eine große Ausnahme dar. Diese im Rahmen einer explorativen Studie durch versteckte Beobachtung und quantifizierende Auswertungsmethoden gewonnenen, bewusst vorläufigen Erkenntnisse gilt es nun durch weitere, vor allem starker quantifizierende Untersuchungen zu überprüfen.32

|| 32 Vgl. hierzu Schwabe 2013 (Anm. 8), S. 175.

58 | Astrid Schwabe

Dennoch: Zunächst gilt es aus Sicht der Fachdidaktik Geschichte, diese scheinbare Realität im Umgang mit historischen Webangeboten zu akzeptieren und entsprechende Schlüsse in Bezug auf das historische Lernen zu ziehen. Auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse scheint es mir umso wichtiger, dass in Schule (und Hochschule) ein konstruktiv-kritischer Umgang mit historischen Web-Angeboten eingeübt wird, gekoppelt mit der Schulung „medienspezifischer [und fachspezischer] Recherchekompetenz“33. Wir Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker sollten jedoch auch offensiv mit fachdidaktischen Ansprüchen an potenzielle Kooperationspartner herantreten, um gemeinsam didaktisch reflektierte Webangebote zu entwickeln, die in Konkurrenz zu den unzähligen mehr oder weniger problematischen Websites auf dem freien Markt treten. Solche fachdidaktisch wertvollen historischen Hypertexte müssen idealiter so konzipiert sein, dass jede einzelne Webseite, jede einzelne Informationseinheit, auch für sich betrachtet zumindest verlässliches lexikalisches historisches Fakten-Wissen vermittelt und darüber hinaus aber zum historischen Denken anregt. Gleichzeitig sollte jedes Modul die Userinnen und User durch wenige, aber attraktive und sinnvolle interne Verlinkungsangebote zur tiefergehenden Beschäftigung mit dem betrachteten Thema mittels des Web-Angebots anregen. Dies sind hehre Ziele und große Herausforderungen, aber wir sollten sie annehmen.

|| 33 Hilke Günther-Arndt: Computer und Geschichtsunterricht. In: Dies. (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 2. Aufl. Berlin 2005, S. 219–232, S. 227.

Manuel Altenkirch

Situative Erinnerungskultur Die Encyclopédie war eine Grube in welche diese elenden Lumpensammler alles durcheinander hineinwarfen – Unverdautes, Gutes, Schlechtes, Abscheuliches, Wahres, Falsches, Ungewisses und das alles ebenso wirr wie unzusammenhängend.1

Einleitung Liest man diese Worte, so hat man den Eindruck, gängige Beurteilungen der Online-Enzyklopädie Wikipedia zu lesen. Jedoch stammen sie von Denis Diderot, der als Herausgeber der wohl bekanntesten frühen Enzyklopädie, der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Er schildert mit diesen Worten seine Eindrücke vom Entstehungszusammenhang der Inhalte der Encyclopédie und verheimlicht nicht, wie er manchen Kollegen beurteilt. Dabei kann man die Bedeutung der Encyclopédie als bahnbrechenden Versuch, das Wissen der Zeit zu sammeln und in einem Werk zu veröffentlichen, nicht hoch genug einschätzen. Liest man Diderots Artikel zum Begriff Enzyklopädie, wird dies noch deutlicher. Er beschreibt darin die Bedeutung der Sammlung von Erkenntnissen, damit „die Arbeit der vergangenen Jahrhunderte nicht nutzlos für die kommenden Jahrhunderte gewesen sei“.2 Ein, zumindest in der Zielsetzung, ähnliches Projekt stellt die Online-Enzyklopädie Wikipedia dar. Auch ihr Ziel ist es, das Wissen der Menschheit zu sammeln – „Auch deins“, wie der Imperativ der Wikipedia-Autoren lautet.3 Eben jene Autoren stellen dann auch einen wesentlichen Unterschied zur Encyclopédie dar. Während bei der Encyclopédie die jeweiligen Fachexperten ihrer Zeit für die inhaltliche Ausgestaltung der Artikel verantwortlich waren, so sind es in der Wikipedia prinzipiell alle Menschen, die sich beteiligen möchten. Die Online-Enzyklopädie steht durchgängig für die Mitarbeit aller interessierten

|| 1 Denis Diderot: Enzyklopädie. In: Anette Selg/Rainer Wieland (Hrsg.): Die Welt der Encyclopédie. 1.–20. Tsd. Frankfurt am Main 2001, S. 67–69, hier S. 68. 2 Ebd. 3 Vgl. auch Peter Haber: Weltbibliothek oder Diderots Erben? Traditionslinien von Wikipedia 2007, http://www.hist.net/fileadmin/user_upload/redaktion/108006.pdf.

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Personen offen. Jeder Nutzer des World Wide Web kann, darf und soll an den Inhalten mitwirken.4 Wer aber steht nun hinter den Artikelinhalten? Schon der bloße Gedanke ist skurril und gruselig, daß Tantralehrer, Chemiker, Elekroniker, Bauingenieure, Kindergärtnerinnen und Friseure zusammenhocken, um auf Basis von Vermutungen, Bauchgefühl und Hörensagen darüber zu befinden, was an Rommels Biographie wichtig ist und was nicht.5

Der hier zitierte Autor der Wikipedia charakterisiert so den Entstehungszusammenhang einer Passage aus dem Artikel zu Erwin Rommel.6 In gewisser Weise greift er hier die Beurteilung Diderots der an der Enzyklopädie Mitwirkenden auf. Jedoch geht dieser Autor noch einen Schritt weiter und bezweifelt die fachliche Kompetenz der am Artikel beteiligten Akteure. Aus diesem Zitat lässt sich eine, im Hinblick auf die Beschäftigung mit der Wikipedia aus geschichtsdidaktischer Perspektive, wichtige Frage ableiten: Wie wird Geschichte eigentlich in der Wikipedia gemacht? Welchen Einfluss haben eben jene Tantralehrer, Chemiker und Elektroniker auf die Konstruktion der Inhalte. Oder etwas konkreter: Wie wird Geschichte in der Wikipedia konstruiert?7 Die Beurteilung eines Ereignisses, einer Person etc. – die Historizität – ist in hohem Maße von dem Blickwinkel der erzählenden Person abhängig. Geschichte ist die „deutende Darstellung der Vergangenheit im kulturellen Orientierungsrahmen der Gegenwart“.8 Teil dieses kulturellen Orientierungsrahmens stellt || 4 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Beteiligen (alle Wikipedia-Seiten wurden letztmalig am 25. Juli 2013 aufgerufen). 5 http://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Erwin_Rommel/Archiv/2. Der Wikipedia-Autor sambalolec (http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Sambalolec) argumentiert mit diesem Zitat im Zusammenhang gegen die Aufnahme einer Liste der Auszeichnungen Erwin Rommels in den entsprechenden Artikel. Die im Hinblick auf Argumentationsstrukturen durchaus lesenswerte Diskussion kann komplett eingesehen werden. Vgl. zur Problematik der Autorenschaft in der Wikipedia auch: Dietmar Bartz: Jugendliche als Wissenswächter, http://www.taz.de/!72301 (aufgerufen am 01.07.2013); Dina Brandt: Postmoderne Wissensorganisation oder: Wie subversiv ist Wikipedia? In: Libreas (2009), H. 14, S. 4–18; Christoph Zotter: Der Experte ist tot, es lebe der Experte: der Einfluss des Internets auf die Wissenskultur am Beispiel Wikipedia. 1. Aufl. Wien 2009. 6 http://de.wikipedia.org/wiki/Erwin_Rommel 7 Der Inhalt dieses Artikels basiert auf dem noch laufenden Dissertationsvorhabens mit gleichem Arbeitstitel an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Die in diesem Beitrag vorgestellten Ergebnisse sind als Zwischenstand der Untersuchung der Wikipedia zu verstehen. Dementsprechend kann dieser Beitrag nur beispielhaft einige ausgewählte Ergebnisse präsentieren. 8 Jörn Rüsen: Kann gestern besser werden? Essays zum Bedenken der Geschichte. Berlin 2003 (Kulturwissenschaftliche Interventionen), S. 114.

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auch das World Wide Web dar, das sich als fester Bestandteil etabliert hat. In zunehmendem Maße prägen Formen der virtuellen Kommunikation, Textproduktion und Diskussion die Art und Weise, wie wir Geschichte wahrnehmen und Ereignisse, Personen oder Orte erinnern. Das World Wide Web ist längst ein fester Bestandteil der Erinnerungskultur. Erinnerungskultur ist als formaler Oberbegriff „für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse zu verstehen, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur.“9 Diese Definition ist sehr weit gefasst und beinhaltet in diesem Sinne auch Formen der Erinnerungskultur im virtuellen Medium und damit auch in der Wikipedia. Im Rahmen des hier vorgestellten Dissertationsvorhabens soll daher untersucht werden, ob diese Erinnerungskultur unter den Bedingungen des digitalen Wandels unter anderen Voraussetzungen und damit unter anderen Bedingungen als in der „analogen“ Welt funktioniert. Es wird davon ausgegangen, dass Erinnerung im digitalen Medium flüchtig ist. Inhalte verlieren ihre statische Form und wandeln sich hin zu fluiden Erzählungen, die an gegebene Bedingungen flexibel angepasst werden können, vergleichbar mit dem Konzept der Oral History.10 Dies kann als eine durch das digitale Medium geprägte, andere Form der Historizität gesehen werden. Genau diese Flexibilität der offenen Inhalte findet sich exemplarisch in der Darstellung von Geschichte in der Wikipedia. Jeder Artikel kann (und soll) jederzeit veränderbar sein und sich so flexibel an neue Erkenntnisse und Sichtweisen anpassen. Geschichte zeigt sich in der Wikipedia gleichermaßen als statischer Text, der in der aktuellen Artikelversion eingesehen werden kann und als flexible Konstruktion, die sich in der ausdifferenzierten Artikelentwicklungshistorie auswerten lässt.

|| 9 Christoph Cornelißen: Erinnerungskultur, http://docupedia.de/docupedia/images/6/6e/ Erinnerungskulturen.pdf (aufgerufen am 01.07.2013). Vgl. zum Begriff der Erinnerungskultur auch Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven. In: GWU 54 (2003), H. 10, S. 548–563; Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013. Zur Auseinandersetzung mit den Begrifflichkeiten Geschichtskultur und Erinnerungskultur vgl. Marko Demantowsky: Geschichtskultur und Erinnerungskultur – zwei Konzeptionen des einen Gegenstandes. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 33 (2005), H. 1, S. 11–20 und auch Wolfgang Hasberg: Erinnerungskultur – Geschichtskultur, Kulturelles Gedächtnis – Geschichtsbewusstsein. 10 Aphorismen zu begrifflichen Problemfeldern. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (2004), S. 198–207. In der hier vorliegenden Untersuchung wird der Begriff Erinnerungskultur verwendet, da die Bedeutung des Holocaust für die beteiligten Wikipedia-Autoren im Hinblick auf den funktionalen Vergangenheitsbezug des Ereignisses für die Gegenwart thematisiert wird. 10 Jakob Krameritsch: Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien. In: Susanne Popp u.a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung / Contemporary History – Media – Historical Education 2010, S. 261–281.

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Konstruktionsprozesse von Geschichte in der Wikipedia In dem hier vorgestellten Untersuchungsvorhaben geht es darum, Konstruktionsprozesse von Geschichte in der Wikipedia als Teil der Erinnerungskultur in einem virtuellen Medium zu analysieren, zu systematisieren und im Idealfall zu generalisieren. Hierfür soll das Konzept der situativen Erinnerungskultur, das bereits bestehende Theorien integrativ verknüpft, entwickelt werden. Aus geschichtsdidaktischer Perspektive ist dieser Ansatz vor allem hinsichtlich der Anschlussmöglichkeiten im Hinblick auf die Ausdifferenzierung einer spezifischen historischen Medienkompetenz sinnvoll. Die Prozesse, die zur Ausgestaltung der historischen Narration in der Wikipedia führen, zu verstehen, bedeutet, Möglichkeiten der De-Konstruktion dieser Narrationen zu ermöglichen, was im Hinblick auf einen kompetenzorientierten Geschichtsunterricht vielfach gefordert wird.11 Die Wikipedia ist, nicht nur für Schülerinnen und Schüler, eine bedeutende Instanz, wenn es um die Recherche nach historischen Informationen geht. Viele Recherchen mit Suchmaschinen führen einen entsprechenden Wikipedia-Beitrag auf den oberen Rangplätzen der Trefferlisten auf.12 Gerade deshalb lohnt sich die Wikipedia als Untersuchungsgegenstand. Hinzu kommen die Möglichkeiten, wie mit bzw. über die Wikipedia Geschichte vermittelt werden kann. Durch die hier vorgestellte Untersuchung werden die Konstruktionsprozesse von Geschichte in der Wikipedia erforscht, was ein Lernen an und über digitale Medien darstellt. Auch Schülerinnen und Schüler können durch das Nachvollziehen der Konstruktionsprozesse etwas an digitalen Medien über den Konstruktcharakter von Geschichte lernen. Die Auseinandersetzung mit den Inhalten der Artikel kann zu einem Lernen mit digitalen Medien führen, wenn eigene

|| 11 Vgl. Waltraud Schreiber u.a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell. In: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 17–53; Waltraud Schreiber: Historische Narrationen de-konstruieren – den Umgang mit Geschichte sichtbar machen: ein neues Aufgabenfeld für forschend-entdeckendes Lernen. In: Wolfgang Hasberg (Hrsg.): Geschichte entdecken. Karl Filser zum 70. Geburtstag. Berlin, Münster 2007, S. 285–311. 12 Vgl. Nadine Höchstötter: Methoden der Erhebung von Nutzerdaten und ihre Anwendung in der Suchmaschinenforschung. In: Dirk Lewandowski (Hrsg.): Handbuch Internet-Suchmaschinen. Nutzerorientierung in Wissenschaft und Praxis. Heidelberg 2009 (Handbuch Internet-Suchmaschinen, Bd. 1), S. 175–203.

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Inhalte verfasst oder bestehende Inhalte überarbeitet werden.13 Eine Auseinandersetzung mit der Online-Enzyklopädie aus geschichtsdidaktischer Perspektive bietet also viele Möglichkeiten, die nur in Ansätzen bisher dargestellt wurden.14 Gerade die Auseinandersetzung mit den Konstruktionsprozessen erscheint besonders reizvoll, lässt sich hierüber doch viel über das Wesen von Geschichte in der Wikipedia feststellen.

Situative Erinnerungskultur Die Wikipedia zeigt sich als ein Schnittpunkt zwischen privater und kollektiver Erinnerung. Bei der Erstellung von Artikeln müssen beide Ebenen miteinander in Passung gebracht werden, was einen ebenso interessanten Einblick in die Vorstellung von Geschichte der beteiligten Akteure ermöglicht. Geschichte muss in der Wikipedia ausgehandelt werden, ein „öffentliches (populäres) Verhandeln von Geschichte im digitalen Raum“15, wie Hiram Kümper in seinen Ausführungen zur Wikipedia im Rahmen der Zweijahrestagung der KGD in Bonn 2009 feststellte.16 || 13 Vgl. hierfür den lesenswerten Artikel von Spahn, König und Bernsen zu Digitaler Geschichtsdidaktik. Die Autoren postulieren ein Lernen an, mit, über und durch Digitale Medien und versuchen durch diese Herangehensweise einen Zugang zu einer „Digitalen Geschichtsdidaktik“ zu ermöglichen. Daniel Bernsen/Alexander König/Thomas Spahn: Medien und historisches Lernen: Eine Verhältnisbestimmung und ein Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaft (1), H. 2012. 14 Bisherige Untersuchungen der Wikipedia aus geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Perspektive beschränkten sich meist auf die Beurteilung der Inhalte. Vgl. hierzu: Hiram Kümper: Zeitgeschichte und Wikipedia: von der Wissens(ver)schleuder(ung) zum Forschungsfeld. In: Susanne Popp u.a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung / Contemporary History – Media – Historical Education 2010, S. 283–297; Roy Rosenzweig: Can History be Open Source? Wikipedia and the Future of the Past. In: The Journal of American History 93 (2006), H. 1, S. 117–146; Peter Haber: Zur Quellenkritik von Wikipedia. Ein Forschungsbericht. Leipzig 2010 (Wikipedia-Ein kritischer Standpunkt); Peter Haber: Digital past. Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter. München 2011; Peter Haber: Wikipedia. Ein Web 2.0-Projekt, das eine Enzyklopädie sein möchte. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 63 (2012), 5/6, S. 261–270; Peter Haber/Jan Hodel: Wikipedia und die Geschichtswissenschaft. Eine Forschungsskizze. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 59 (2009), H. 4, S. 455–461. 15 Vgl. Hiram Kümper: Zeitgeschichte und Wikipedia: von der Wissens(ver)schleuder(ung) zum Forschungsfeld. In: Susanne Popp u.a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung / Contemporary History – Media – Historical Education 2010, S. 283–297. 16 Vgl. Abbildung 1: Abstimmung der Vorstellungen unterschiedlicher Wikipedia-Autoren im Rahmen von kollektiven Vorstellungen

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Vorstellung Autor 1

Wikipedia-Artikel

Vorstellung Autor 2

Vorstellung Autor 3

Abb. 1: Abstimmung der Vorstellungen unterschiedlicher Wikipedia-Autoren im Rahmen von kollektiven Vorstellungen

Genau jener Aushandlungsprozess (vgl. Abb. 1) macht Geschichte in der Wikipedia zu etwas Unabgeschlossenen. Jeder Inhalt kann jederzeit umgeschrieben, erweitert, verändert oder gar gelöscht werden. In diesem Sinne zeigt sich Geschichte in der Online-Enzyklopädie als situativ. Situativ steht hier für die von Jakob Krameritsch entwickelte Ergänzung des Rüsen’schen Modells des historischen Erzählens.17 Krameritsch prägt den Begriff des Situativen Erzählens und sieht darin eine Form, die den veränderten Bedingungen eines Erzählens im virtuellen Medium Rechnung trägt. Er greift das ältere Konzept Rüsens zur Erklärung unterschiedlicher Typen historischer Sinnbildung auf und erweitert dieses um einen Typ. Das Rüsen’sche Konzept, das zunächst vier Typen umfasst, dient als Erklärungsmuster und Typologie für jegliche Form des historischen Erzählens.18 Die Einteilung in vier grundlegende Typen von Kontinuitätsvorstellung hilft dabei narrative Sinnbildung zu charakterisieren, die „in dem historischen Wissen in die kommunikativen Vorgänge der menschlichen Lebenspraxis eingeschrieben […] wird, in denen menschliches Handeln und das Selbstverständnis seiner Subjekte sich an Vorstellungen sinnvoller Zeitverläufe orientiert.“19 Krameritsch sieht in den von Rüsen postulierten vier Typen die || 17 Vgl. Krameritsch (Anm. 10). 18 Jörn Rüsen: Lebendige Geschichte. Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen 1989, S. 39ff; auch Jörn Rüsen: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens. Originalausg. Frankfurt am Main 1990, S. 153ff. 19 Vgl. Rüsen (Anm. 18), S. 39.

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Notwendigkeit der Konstruktion eines weiteren Typs, der sich an den Bedingungen des digitalen Wandels orientiert. Ihm folgend korreliert dieser neue Typ des Erzählens mit einer post- bzw. spätmodernen Identitätskonstruktion, die sich nicht mehr an festen Erzählungen und Identitäten orientiert, sondern vielmehr von liquiden Bezügen geprägt ist. Identität ist gezwungen, sich innerhalb eines Lebenszyklus ständig neu auszurichten und neu zu orientieren; feste Lebensspannen übergreifende Bezugspunkte verlieren immer weiter an Bedeutung. Dies erfordert ein hohes Maß an Flexibilität und setzt eine stete Sinnbildung als dauerhaften Prozess voraus.20 Daher müssen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont „immer wieder neu und situativ“ aufeinander bezogen werden.“21 Exemplarisch sieht Krameritsch diesen Zustand in den digitalen Medien, hier speziell im World Wide Web, gegeben. Die Flüchtigkeit der Erzählungen im digitalen Medium, die „kontextabhängige, situative Kohärenzbildung sowie hybride, flexible und fluide Identitätskonstruktionen“22 als notwendige Kulturtechnik verlangt, lässt sich vor allem in den durch das geflügelte Wort des Web 2.0 bedingten und charakterisierten Formen der Darstellung und Entstehung von Geschichte erkennen. Durch die Eröffnung der prinzipiellen Möglichkeit aller Internetnutzer an der Ausgestaltung von Geschichte in Form von Internetseiten, Blogs etc., aber eben auch durch die Mitarbeit an Artikeln in der Wikipedia teilzuhaben, entwickelt sich eine transiente Form der Geschichtsschreibung. Geschichte ist potentiell offen für die Edierung durch alle Internetnutzer. Jeder darf seinen Beitrag zur Geschichte leisten. In diesem Sinne kann Geschichte dann um- und neugeschrieben werden. Feste Strukturen existieren nicht mehr.23 Die Darstellung von Geschichte im Internet ermöglicht lose Verknüpfungen von Vergangenheit und Gegenwart, die zunehmend situativ hergestellt werden. Kohärenz herzustellen, also die logische Verknüpfung von Inhalten, Meinungen und Vorstellungen, erscheint in diesem Zusammenhang erschwert zu sein, was die Form des Situativen Erzählens noch begünstigt.24 Eine Situative Erinnerungskultur zeigt sich als eine an einzelne Situationen angepasste Herstellung von Kohärenz innerhalb des Meinungsspektrums unterschiedlicher Autoren der Wikipedia. Trotz der Auseinandersetzung der am gemeinschaftlichen Verhandlungsprozess beteiligten Akteure bleibt der Inhalt || 20 Vgl. Krameritsch (Anm. 10). 21 Jakob Krameritsch: Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien. In: ZF 6 (2009), H. 3., Abschnitt 6. 22 Vgl. Krameritsch (Anm. 10), S. 271. 23 Ebd., S. 273f. 24 Vgl. ebd. und Vgl. Rüsen (Anm. 18).

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eines Artikels unabgeschlossen und bietet so die Chance situativ an die jeweiligen Bedingungen bzw. Voraussetzungen angepasst zu werden. Neue Ereignisse, Forschungsparadigmenwechsel, aber auch persönliche Meinungen und Einzelinteressen nehmen gleichberechtigt Einfluss auf den Inhalt eines Artikels. Im Zusammenhang mit dem von Krameritsch entwickelten Typ des Situativen Erzählens kann hier eine medial angepasste Form der Erinnerungskultur skizziert werden, die sowohl die medialen Bedingungen der Wikipedia als auch die theoretischen Bedingungen der Erinnerungskultur berücksichtigt.25

Untersuchungsebenen Die Untersuchung der Konstruktionsprozesse von Geschichte in der Wikipedia soll im Folgenden am Beispiel des Artikels zum Holocaust 26 illustriert und verdeutlicht werden. Der Artikel Holocaust wurde gewählt, weil davon auszugehen ist, dass dieses zentrale und bedeutende Ereignis des 20. Jahrhunderts, das auf nachhaltige Art und Weise die Erinnerungskultur beeinflusst, auch in der Wikipedia bedeutsam ist.27 Deshalb ist davon auszugehen, dass sich eine ganze Reihe von Autoren an der Ausdifferenzierung des Inhaltes zu diesem Thema beteiligt. Gleichzeitig gehört der Artikel zu den 500 am häufigsten besuchten Artikeln der Wikipedia, ist also auch für die Nutzer der Online-Enzyklopädie von großer Bedeutung.28

Der Artikel Holocaust Insgesamt wurde der Artikel in 3468 Versionen geändert. Dazu zählen sowohl inhaltliche Änderungen, die Einfluss auf die Aussage des Artikels haben, jedoch || 25 Vgl. Vgl. Krameritsch (Anm. 21). 26 Vgl. http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Holocaust&oldid=119881035. 27 Vgl. bspw. Aleida Assmann: Vergangenheit und Zukunft. In: Hanns-Fred Rathenow/Norbert H. Weber/Birgit Wenzel (Hrsg.): Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historischpolitisches Lernen in Schule und Lehrerbildung. 1. Aufl. Schwalbach am Taunus 2012 (Reihe Politik und Bildung, Bd. 66), S. 67–78; Bettina Alavi/Susanne Popp: Menschenrechtsbildung – Holocaust Education – Demokratieerziehung. Einführung in den Themenschwerpunkt. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11 (2012), S. 7–10; Hanns-Fred Rathenow/Norbert H. Weber/Birgit Wenzel (Hrsg.): Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in Schule und Lehrerbildung. 1. Aufl. Schwalbach am Taunus 2012 (Reihe Politik und Bildung, Bd. 66). 28 Vgl. http://stats.grok.se/de/latest30/Holocaust. (aufgerufen am 15.07.2013).

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auch Korrekturen im Bereich der Rechtschreibung und der Grammatik. Diese Änderungen wurden von 1006 Autoren durchgeführt, von denen 728 in der Wikipedia als Autor registriert sind; 278 Autoren haben den Artikel anonym verändert.29 Im Folgenden sollen beispielhaft Artikeländerungen und das Vorgehen beteiligter Akteure diskutiert werden.

Ausgestaltung des Inhaltes Mit der 20. Änderung30 (28. Februar 2003) nimmt ein unangemeldeter Autor (erkennbar an der IP-Adresse) eine deutliche Änderung an der Aussage des Artikels vor. Er zieht die Zahl der Opfer des Holocaust in Zweifel und stützt sich auf angebliche Unterlagen des „Simon Wiesenthal Zentrums in Hollywood“ (Abb. 2). Die Änderung zielt eindeutig auf eine Relativierung der Opferzahl ab und stellt dieser eine alternative Sichtweise entgegen.

Historisch bezieht sich Holocaust vor allem auf die Verfolgung, [[Ghetto]]isierung und systematische Ausrottung von mehr als sechs Millionen europäischen [[Judentum|Juden]] durch Organisationen wie die SA/SS und die Wehrmacht, geduldet und unterstützt ([[Reichspogromnacht]]) vom Deutschen Volk Die Zahl ist zweifelhaft, vor allendingen, wenn man einmal davon absieht, dass nach der offiziellen Volkszehlung 1933 nur "300.000 Juden in Deutschland lebten, von denen ca die Haelfte bis 1938 in die USA auswanderte"- Originalzitat und Unterlagen aus dem Simon Wiesenthal-zentrum in Hollywood). Neben den Juden wurden auch bis zu einer halben Million [[Sinti und Roma]] und mindestens 250.000 geistig oder körperlich Behinderte (siehe auch [[Euthanasie-Programm]]) umgebracht. Abb. 2: Ausschnitt: Veränderungen am Artikel Holocaust

In einer zweiten Änderung am Artikel stellt er den Opfern des Holocaust die durch alliierte Bombenangriffe umgekommenen Deutschen entgegen. Auch dies ist als eindeutige Relativierung des Holocaust zu werten. Beide Änderungen, sowohl die Infragestellung der Opferzahl des Holocaust, als auch die Gleichset|| 29 Stand: 24. Juli 2013. 30 Vgl. http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Holocaust&diff=prev&oldid=5966605.

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zung des Holocaust mit der Bombardierung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg, sind typische Muster der Holocaustleugnung. Gegen gesicherte historische Erkenntnisse versucht die IP-Adresse die Aussage des Artikels in seinem Sinne zu verändern und legitimiert dabei seine Änderungen mit Hilfe einer pseudowissenschaftlichen Argumentation.31 Interessanterweise bleibt diese Änderung 59 Minuten online, ehe der Autor Schewek32 die entsprechenden Passagen löscht und die vorherige Version wieder herstellt. In dieser frühen Phase der Wikipedia ist die lange Zeitspanne bis zur Löschung der Änderung nachvollziehbar, ist doch das heute gängige Prinzip der „Vorsichtung“ von Änderungen durch erfahrene Nutzer noch nicht etabliert.33 Die IP-Adresse, gibt sich trotz oder gerade wegen der Löschung seiner Änderung nicht geschlagen und postet einen Eintrag auf der Benutzerdiskussion von Schewek: Lieber Herr/Frau Schewek, ihre Geschichtskenntnisse scheinen sehr begrenzt zu sein und Sie beziehen Sie offenbar aus der Propagandapresse. Sie koennen mir ruhig glauben, dass die 6 Millionen eine ‚modernisierte Erfindung‘ sind, um mit Herrn Spiegel zu sprechen, nur um Geld zu kassieren. Selbst in Europa gab es keine 6 Millionen. Lassen Sie diese frei erfundene Zahl doch einfach weg.34

Bemerkenswert ist, dass diese Diskussion nicht nur im direkten Umfeld des Artikels geführt wird, sondern gleichzeitig auch auf den Nutzerseiten der beteiligten Akteure stattfindet. Ähnliche Beispiele für die direkte Einflussnahme auf den Artikel im Sinne einer Relativierung des Holocaust finden sich vielfach in der Artikelhistorie. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass sich die betreffenden Autoren meist hinter der Anonymität einer IP-Adresse verbergen und nur in den seltensten Fällen einen Nutzer-Account für ihre Änderungen verwenden.35

|| 31 Vgl. Robert S. Wistrich: Holocaust denial. The politics of perfidy. Berlin, Boston 2012. 32 Nutzerseite: http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Schewek; Liste der Änderungen durch Schewek in der Wikipedia, vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Spezial:Beitr%C3%A4ge/Schewek. 33 Vgl. das Prinzip der „Gesichteten Versionen“: https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia: Gesichtete_Versionen. 34 http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Benutzer_Diskussion:Schewek&direction=prev &oldid=88087. 35 Als Folge einer v.a. in der frühen Phase der Artikelentwicklung häufigen Änderung des Artikels im oben beschriebenen Sinne, wurde am 02. März 2004 ein Textbaustein in den Artikel integriert, der später als Hinweis in die artikelbegleitende Diskussion überführt wurde: „Wir möchten die Verleugner des Wir möchten die Verleugner des Holocaust darauf hinweisen, dass das Leugnen dieses Verbrechens an der Menschheit strafbar nach § 130 Abs. 3 StGB ist und die IP-Adressen derer, die diesen Artikel in rechtswidriger Art und Weise verändern, mitgeloggt werden“. Vgl. http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Holocaust&oldid=5966654.

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Durch die prinzipielle Offenheit der Wikipedia für die Mitwirkung aller Internetnutzer sind auch Artikel zu historisch „brisanten“ Themen vor solchen Änderungen nicht geschützt. Im Verlauf der Artikelentwicklung lassen sich immer wieder Änderungen dieser Art entdecken, die dann jedoch in kürzester Zeit wieder gelöscht werden. Zumindest die registrierten Nutzer scheinen in diesem Zusammenhang eine gewisse Sensibilität zu besitzen. Durch die genaue Betrachtung der Veränderungen am Artikel wird auch die Bedeutung der Autoren am Entstehungsprozess des Artikels deutlich. Daher sollen in der hier vorgestellten Untersuchung auch die Autoren und ihre Aktivität in der Wikipedia in den Blick genommen werden, wird so doch ein Einblick in die Art und Weise ihres Vorgehens ermöglicht. Abbildung 3 zeigt die die Anzahl von Edits pro Nutzer am Artikel Holocaust. Deutlich wird hier, dass der weitaus größte Teil der Mitwirkenden am Artikel lediglich nur einmal eine Änderung am Artikel durchführt. Wir haben also eine relativ große Anzahl von Autoren, die sich zwar mit dem Artikel beschäftigen, deren Mitwirkung jedoch punktuell beschränkt bleibt. Dies ist zurückzuführen auf die erinnerungskulturelle Bedeutung des Holocaust als identitätsstiftendes Ereignis, wobei der Wikipedia-Artikel als ein bedeutsamer Teil einer erinnerungskulturellen Auseinandersetzung zu verstehen ist. Das Thema ist von gesellschaftlicher Relevanz und führt so zu einer Mitwirkung vieler Autoren. Nur wenige Autoren wirken jedoch, zumindest was die Anzahl der Edierungen betrifft, in größerem Umfang an der Ausgestaltung des Artikels mit. 700 600

Nutzer

500 400 300 200 100 0 1

2

3

4

5

6

7

Änderungen Abb. 3: Anzahl Veränderungen (Edits) pro Nutzer

8

9

10

>10

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2% 9% 8%

Artikel Artikeldiskussionen

2%

Benutzer

54% 25%

Benutzerdiskussionen Wikipedia sonstiges

Abb. 4: Aktivität Jesusfreund

Einer davon ist der Autor Jesusfreund.36 Dieser zählt, trotz der Beendigung seines Engagements in der Wikipedia im März 2011, immer noch zu den 30 je aktivsten Autoren der Wikipedia.37 Er hat in insgesamt 118.397 Beiträgen38 die Wikipedia mitgestaltet. Die Ausdifferenzierung dieser Beiträge zeigt, dass nur knapp die Hälfte seiner Beiträge den Artikelbestand der Wikipedia betrifft. Mit 25% seiner Änderungen wirkte Jesusfreund an artikelbegleitenden Diskussionen mit.39 Gerade in diesen Diskussionen wird vielfach die weitere Entwicklung des Artikels diskutiert und mögliche Änderungen oder Erweiterungen vorformuliert, ehe sie in den Artikel übernommen werden.40 Jesusfreund hat den Artikel Holocaust in 480 Versionen (13,84 %) verändert, erstmalig am 26. Februar 2005. An diesem Tag führt Jesusfreund umfängliche Änderungen am Artikel durch. Bedeutsam ist vor allem die Neustrukturierung des Aufbaus des Artikels.41 Jesusfreund gliedert den bisherigen Artikel komplett || 36 Vgl. die persönliche Nutzerseite des Autoren in Wikipedia: http://de.wikipedia.org/w/ index.php?title=Benutzer:Jesusfreund&oldid=87735667. 37 Stand: 03. Juli 2013. Vgl. hierzu auch die Übersicht der aktivsten registrierten Autoren der Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Beitragszahlen. 38 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Spezial:Beitr%C3%A4ge/Jesusfreund. 39 Vgl. Abbildung 4: Aktivität Jesusfreund. 40 An diesem Punkt können noch keine konkreten Ergebnisse präsentiert, da die Datenerhebung in diesem Bereich noch nicht abgeschlossen ist. 41 Vgl. hierzu die Übersicht der Veränderungen aller Beiträge von Jesusfreund am 26. Februar 2005 (http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Holocaust&diff=5967148&oldid=5967113). Jesusfreund verändert den Artikel an diesem Tag in Etappen. Eine zwischenzeitliche Änderung am Artikel durch den Autor Simplicius (http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Simplicius) betrifft lediglich Verlinkungen und wurde in der Auswertung berücksichtigt.

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neu und fügt wesentliche Bereiche neu hinzu. Vor allem der Abschnitt „Erklärungsansätze“, der sich so noch nicht in den vorherigen Versionen fand, wird von ihm ergänzt. In nahezu jedem Abschnitt des Artikels überarbeitet, ergänzt und strukturiert Jesusfreund die Inhalte und kommentiert seine Tätigkeit über Beiträge in der artikelbegleitenden Diskussion.42 Hier stellt er fest, dass die aus seiner Perspektive zu unpräzise Darstellung des Holocaust als singuläres Ereignis einen der Hauptgründe für seine Überarbeitung darstellt. Interessanterweise stellt dies auch den Zugang von Jesusfreund zur Edierung des Artikels zum Holocaust dar. Vor der massiven Änderung des Holocaust-Artikels ediert Jesusfreund den Artikel zum Alten Testament, in dem er genaue jene Singularität dem Begriff Holocaust als Attribut beifügt.43 Die erste Überarbeitung des Artikels durch Jesusfreund zeichnet sich durch eine klar erkennbare Zielsetzung aus. Der Autor möchte den Artikel besser lesbar machen und ihm wichtig erscheinende Details und Aspekte ergänzen. Bemerkenswert ist, dass Jesusfreund über mehrere Stunden hinweg den Artikel überarbeitet und insgesamt etwas mehr als sieben Stunden an seinen Änderungen feilt. Dies liegt auch an der Tatsache, dass Jesusfreund Inhalte nicht nur neu erstellt, sondern bereits existierende Passagen überarbeitet und im Sinne seiner Gliederung neu anordnet. Jesusfreund zeigt sich in seinen Änderungen als ein an Kooperation ausgerichteter Autor. Ihm liegt an der Vermittlung seines Standpunktes und an der konstruktiven Zusammenarbeit mit anderen Autoren. So versteckt er in seinen Änderungen an entsprechenden Stellen Aufrufe und Hinweise auf weiterführenden Überarbeitungsbedarf bzw. kleine Erläuterungen zu seinen Änderungen, die den nachfolgenden Autoren eine Hilfestellung sein sollen.44 Hinzu kommt die Dokumentation seiner Arbeit über die artikelbegleitende Diskussion, die er ebenso für Anregungen zu und Erläuterungen von Änderungen nutzt.

|| 42 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Diskussion:Holocaust/Archiv/2 Abschnitt „Überarbeitung“. 43 Vgl. http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Altes_Testament&diff=next&oldid=4664964. 44 Vgl. http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Holocaust&diff=5967148&oldid=5967113; hier Zeile 35: „“.

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Verweissystem Einen nicht unwesentlichen Bestandteil der Untersuchung von Konstruktionsprinzipien von Geschichte in der Wikipedia stellt auch die Analyse der durch das System bedingten Möglichkeiten dar. Ein revolutionärerer Aspekt der Encyclopédie im Vergleich zu vorangegangenen enzyklopädischen Projekten ist die Vernetzung des Wissens über Fachgrenzen und disziplinäre Demarkationslinien hinaus. So ist zwar das Wissen über eine disziplinäre Struktur gegliedert, jedoch wird diese Gliederung durch die alphabetische Grundsystematik der Enzyklopädie und die Vernetzung der einzelnen Artikel untereinander durch direkte Verweise auf andere, themenverwandte Begriffe durchbrochen. Ein ähnliches System, nun jedoch durch die technischen Möglichkeiten des Wiki-Systems erweitert, bietet auch die Wikipedia. Die Artikel sind sowohl über eine disziplinäre Struktur gegliedert, als auch über eine alphabetische Sortierung abrufbar. Besonders jedoch ist die Möglichkeit der Gliederung über Kategorien und über interne Verweise auf andere Artikel durch Hyperlinks. Über diese Verweissysteme können unterschiedliche Begriffe miteinander nicht nur physisch, sondern auch inhaltlich verknüpft werden.45 Jakob Krameritsch hat in seiner Untersuchung zu Hypertextstrukturen am Beispiel von past-perfect.at eindrucksvoll die Möglichkeiten von Verlinkungsstrukturen für die Bildung neuer Narrationen deutlich gemacht.46 Im Folgenden soll dieses Prinzip auf den untersuchten Artikel übertragen werden. Von dem Artikel Holocaust47 wird auf 407 andere Wikipedia Seiten verlinkt. Gleichzeitig wird von 4027 Artikeln auf den Artikel Holocaust verlinkt.48 Als Beispiel sei der je erste (inhaltliche) Link eines jeden Artikels, ausgehend vom Artikel Holocaust, gewählt: So kommt man vom Holocaust, über Völkermord49 zu Konventionen

|| 45 Vgl. Abbildung 5: Verlinkungsstruktur. 46 Vgl. Jakob Krameritsch: Herausforderung Hypertext. Heilserwartung und Potenziale eines Mediums. In: Zeitenblicke 5 (2006), H. 3, 1–25; Jakob Krameritsch: Geschichte(n) im Netzwerk. Hypertext und dessen Potenziale für die Produktion, Repräsentation und Rezeption der historischen Erzählung. Münster ; New York 2007. 47 Stand 01. Juli 2013. 48 Stand: 27. Juni 2013. Gezählt wurden alle Hyperlinks, also sowohl Links von/auf andere Artikel, als auch Links zu weiteren Seiten der Wikipedia wie Benutzerseiten, Diskussionen, Anleitungen, etc. Die Wikipedia besteht neben den bekannteren Seiten des Artikelraumes aus einer fast unüberschaubaren Anzahl weiterer Seiten, die für die Administration der Wikipedia genutzt werden. 49 http://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkermord.

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WikipediaArtikel VI

WikipediaArtikel IV

WikipediaArtikel VIII

WikipediaArtikel II

WikipediaArtikel I

WikipediaArtikel V

WikipediaArtikel III WikipediaArtikel VII

Abb. 5: Verlinkungsstruktur

über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes50, zu den Vereinten Nationen51, dann zu einer Auflistung der Mitgliedsstaaten der UN52, schließlich zu einer Definition von Staat53 etc. Die Reihung ließe sich beliebig lange fortführen. Deutlich wird die Bandbreite der mit dem Thema Holocaust mit wenigen Klicks zu erreichenden Artikel. Ein Nutzer dieser Links kreiert einen neuen Zusammenhang zwischen zwei Artikeln bzw. mehreren Artikeln, indem er den Links folgt. Somit gestaltet der Nutzer über das Anklicken von Links in einem Wikipedia-Artikel eine eigene Narration, die durch den Hypertext-Autor zumindest mitgeprägt ist. Der Hypertext-Leser generiert zwar über seinen eigenen

|| 50 http://de.wikipedia.org/wiki/Konvention_%C3%BCber_die_Verh%C3%BCtung_und_ Bestrafung_des_V%C3%B6lkermordes. 51 http://de.wikipedia.org/wiki/Vereinte_Nationen. 52 http://de.wikipedia.org/wiki/Mitgliedstaaten_der_Vereinten_Nationen. 53 http://de.wikipedia.org/wiki/Staat.

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Weg, den er über die Links in Artikeln einschlägt, eine neue historische Narration, unter den Bedingungen, die jedoch der Hypertext-Autor durch das Setzen von Links geschaffen hat. Hypertexte können als nicht-lineare Organisation von Informationseinheiten verstanden werden, die durch den Einsatz von Hyperlinks strukturiert sind. Nicht linear, weil der Nutzer bzw. Leser eines Hypertextes über die Links einer Verknüpfung von informationellen Wissenseinheiten selbstständig folgt, ohne dass ihm dabei eine direkt vorgegebene Richtung angeboten wird.54 Dabei werden fachliche Grenzen im Sinne eines einheitlichen und mit vorgegebenen Strukturen und Beziehungen definierten Wissensraumes zugunsten eines grenzenlosen und nicht mehr an fachliche Grenzen gebundenen Wissensraumes aufgegeben. Ein geschichtlicher Inhalt kann, sofern dies im Artikel angelegt55 ist, mit prinzipiell allen denkbaren anderen Disziplinen verknüpft werden.

Ebenenintegrativer Ansatz In den bisherigen Ausführungen wurde die komplexe Struktur der Wikipedia deutlich, die eine ebenenübergreifende und -integrative Untersuchung notwendig macht. Deshalb baut die Untersuchung auf einem ebenenintegrativen Ansatz auf.56 Im Wesentlichen lassen sich drei unterschiedliche Ebenen unterscheiden. Zunächst die des Inhaltes. Ohne eine Auseinandersetzung mit dem dargestellten Inhalt lässt sich die Untersuchung von Konstruktionsprinzipien nur unvollständig durchführen. Es bedarf eben auch der Analyse des Was. Was genau steht eigentlich in dem zu analysierenden Artikel? Was steht eben auch nicht im Artikel und wie wird dieses Was dargestellt? Die zweite Ebene, die es zu berücksichtigen gilt, ist die des Systems. Die Wikipedia kann als Schmelztiegel unterschiedlicher Systeme bzw. von Vorstellungen von Systemen bezeichnet werden. Auf der einen Seite ist eine Vorstellung von Enzyklopädie, dann die von freiem Wissen und zuletzt eine technischen Vorstellung von der richtigen Nutzung der Wiki-Software zu berücksichtigen. Zu all diesen Bereichen lassen sich in der || 54 Uwe Wirth: Literatur im Internet. Oder: Wen kümmert’s, wer liest? In: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hrsg.): Mythos Internet. 1. Aufl. Frankfurt am Main 1997, S. 287–303. Vgl. auch Abbildung 5. 55 „Angelegt“ bedeutet hier, dass ein entsprechendes Stichwort im Text enthalten ist. So kann sinnigerweise nur auf einen anderen Artikel per Hyperlink verwiesen werden, wenn sich die Begrifflichkeit, auch wenn diese nur umschrieben wird, im Text wiederfindet. 56 Vgl. Abbildung 6: Untersuchungsaufbau.

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Auseinandersetzung auf Inhaltsebene

Auseinandersetzung auf Systemebene

ebenenintegrativer Ansatz

Auseinandersetzung auf Autorenebene

Abb. 6: Untersuchungsaufbau

Wikipedia Informationen finden. Anleitungen, Regularien, Abstimmungen, Diskussionen, eine schier unüberschaubare Anzahl von Informationen, die es hier zu berücksichtigen gilt.57 Die letzte Ebene stellen die der Autoren dar. Eine große Anzahl freiwilliger Autoren mit unterschiedlichen Vorstellungen gilt es zu untersuchen. Dabei spielt sowohl ihre direkte Tätigkeit in der Wikipedia eine Rolle, aber auch der Blick auf ihre Selbstdarstellung, auf die Art, wie sie agieren und auf ihre Partizipation am System. An dieser letzten Eben wird deutlich, dass nur eine verknüpfte Untersuchung aller drei Ebenen ein vielversprechender Ansatz zur Erforschung von Konstruktionsprozessen sein kann.

Schluss Den Konstruktcharakter historischer Narrationen in einem kollaborativen Medium am Beispiel der Wikipedia zu untersuchen, bedeutet, eins der z.Z. wirkungsmächtigsten Angebote des World Wide Web in den Fokus geschichtsdidaktischer Forschung zu rücken. Die Bedeutung der Wikipedia als Informationslieferantin, sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Kontext ist bedeutend und die Geschichtsdidaktik als Disziplin muss sich diesem Angebot als Forschungsgegenstand annehmen. Die hier vorgestellte Untersuchung richtet sich nicht nur || 57 Als ein erster Zugang zu den genannten Bereichen kann das Autorenportal der Wikipedia dienen. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Autorenportal.

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auf die analytische Auseinandersetzung mit Wikipedia-Inhalten, sondern schafft vielmehr einen Zugang, der ein ganzheitliches Bild der Bedingungen des Konstruktionsprozesses von Geschichte in der Wikipedia ermöglicht. Dieser Zugang ermöglicht es, die Untersuchung der Wikipedia als Ausgangspunkt für eine weitergehende Beschäftigung mit digitalen Narrationen zu nutzen und eröffnet der Geschichtsdidaktik einen weiteren Zugang zum Digitalen.

| Teil II: Digitale geschichtsdidaktische Lehr-Lern-Projekte Erfahrungen und Best Practice

Daniel Bernsen

Classroom4.eu Schüler schreiben ein multimediales Online-Schulbuch zur Kulturgeschichte Europas

1 Projektidee Classroom4.eu ist ein Schulprojekt zur europäischen Kulturgeschichte.1 Die Grundidee besteht darin, dass Schüler der Sekundarstufe II zur Geschichte ihrer Stadt und Region selbstständig recherchieren, die regionalen Verflechtungen in Europa entdecken und ihre Ergebnisse online in Form von Essays und Videos veröffentlichen. Europa wird dabei verstanden als ein Raum, der durch den Austausch und durch Begegnungen von Menschen konstituiert wird. Dem Projekt liegt also keine teleologische Verengung im Sinne der Vorgeschichte der EU zugrunde, noch ein ausschließlich politisches, wirtschaftliches oder geographisches Verständnis. Der Ansatz vermeidet damit eine „binäre Simplifikation“.2 classroom4.eu geht von Europa als einem Kommunikationsraum aus.3 Die Dichte der Kommunikation bestimmt den räumlichen Zusammenhang und differiert für unterschiedliche Zeiten, Themen und Orte. Metaphorisch lässt sich Europa als Kommunikationsraum als ein gewebtes Stück Stoff vorstellen, das an den Rändern ausfranst. Damit weist das Projekt über einen engen Begriff von Europa hinaus und bietet auch Anknüpfungspunkte für eine globalgeschichtliche Erweiterung.

|| 1 Im englischen Originaltitel: „civilisation“. Zum Problem der Übertragung ins Deutsche vgl. Jürgen Osterhammel: ‚Weltgeschichte‘: Ein Propädeutikum. In: GWU 56 (2005), S. 452–479, hier S. 476f.; Ders.: Transferanalyse und Vergleich im Fernverhältnis. In: Hartmut Kaelble/Jürgen Schriewer (Hrsg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichtsund Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main/New York 2003, S. 439–466, hier S. 444f. 2 Osterhammel, Weltgeschichte (Anm. 1), S. 462; vgl. auch Bernd Schönemann: Didaktische Varianten der Präsentation europäischer Geschichte im Unterricht: In: Kerstin Armborst/WolfFriedrich Schäufele (Hrsg.): Der Wert ‚Europa‘ und die Geschichte. Auf dem Weg zu einem europäischen Geschichtsbewusstsein, Mainz 2007 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft online 2), Abschnitt 128138. 3 Vgl. auch das Projekt zur transkulturellen Geschichte Europas des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz: EGO | Europäische Geschichte Online – eine transkulturelle Geschichte Europas im Internet, Online unter: http://www.ieg-ego.eu (abgerufen: 2.4.2014).

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Jürgen Osterhammel listet für die Globalgeschichte eine Typologie möglicher kommunikativer Beziehungsformen auf, die jeweils in Kombination vorkommen und in der Regel durch Spezialisten vermittelt werden.4 Laut Osterhammel konstituiert sich Globalgeschichte aus Prozessen von „Wanderung, Siedlung, Krieg, Tausch und wechselseitigem Lernen“.5 Daher trägt auch der biografische Zugang zum Thema, der statt Institutionen und Strukturen individuelle Migrations- und Kommunikationsgeschichten in den Blick nimmt. Dieser kurze Aufriss soll ausreichen, um deutlich zu machen, dass das Projekt auch didaktisch innovativ und ambitioniert ist.6 Das Projekt zeigt exemplarisch, wie mit Hilfe digitaler Medien die Grenzen von Klassenraum und Nationalstaat sowohl im Arbeits- und Lernprozess als auch in schulischen Geschichtsnarrativen überwunden werden können. Im Sinne des Tagungsthemas fokussiert der Beitrag jedoch nicht den didaktischen Ansatz, sondern die Mediennutzung durch Schüler und Lehrer. Zum Verständnis des Projekts scheint zudem eine kurze Skizze der Entstehungsgeschichte hilfreich.

2 Entstehungsgeschichte Classroom4.eu geht zurück auf eine Initiative der Europäischen Akademie in Yuste: Die Mitglieder der Akademie haben 2008 eine Erklärung verabschiedet, in der sie die nationale Ausrichtung der Lehrpläne in Europa beklagen und eine Europäisierung der schulischen Inhalte fordern.7 Der damalige Präsident der Akademie, Abram de Swaan, emeritierter Soziologie-Professor aus Amsterdam, hat daraufhin eine Arbeitsgruppe mit Lehrkräften aus verschiedenen europäischen Ländern ins Leben gerufen, die gemeinsam überlegt haben, wie sich dieser Aufruf in ein konkretes Projekt umsetzen lässt. Die Arbeitsgruppe bestand neben Abram de Swaan, aus Jan Onland, damals Bibliothekar an einem Amsterdamer Gymnasium, dem Vertreter der Yuste-Stiftung und der Region Extremadura in Brüssel, Lehrkräften aus verschiedenen europäischen || 4 Osterhammel, Weltgeschichte (Anm. 1), S. 473. 5 Osterhammel, Transferanalyse (Anm. 1), S. 443; vgl. auch ders. (Hrsg.): Weltgeschichte. Basistexte. Stuttgart 2008; Magrit Pernau: Transnationale Geschichte. Göttingen 2012. 6 Hilke Günther-Arndt/Urte Kocka/Judith Martin: Geschichtsunterricht zur Orientierung in der Welt – Zu einer Didaktik von Globalgeschichte. In: Geschichte für heute 3/2009, S. 25–30; Jürgen Osterhammel: Weltgeschichte: Von der Universität in den Unterricht. In: Geschichte für heute 3/2009, S. 5–13. 7 Der Wortlaut der Erklärung steht auch online: http://classroom4.eu/declaration-2008 (abgerufen: 2.4.2014).

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Ländern sowie dem Autor des Beitrags. Finanziert wurde die Arbeitsgruppe, die sich mehrfach in Brüssel, Amsterdam und Paris getroffen hat, durch die Yuste-Stiftung. Ursprünglich bestand die Umsetzungsidee darin, einen europäischen Wettbewerb zu organisieren und die besten Schüler-Essays in einem Buch zu veröffentlichen. Davon ausgehend wurde das nun vorliegende umfassendere und nachhaltigere Konzept erarbeitet, das wesentlich auf der Nutzung digitaler Medien beruht. 2010 und 2011 wurden erste Essays von Schülern aus Klassen der Lehrkräfte aus der Arbeitsgruppe verfasst, um das Konzept zu testen und weiterzuentwickeln. Mit Wechsel der regionalen und nationalen Regierung in Spanien zusammen mit der „Finanzkrise“ wurden dem Projekt kurzfristig alle Mittel gestrichen. Seit 2012 hat das rheinland-pfälzische Bildungsministerium für eine Übergangszeit von zwei Jahren die Finanzierung der Internetseiten übernommen. 2013 war ein Antrag gestellt, classroom4.eu im Rahmen eines zweijährigen Comenius-Projekts weiterzuentwickeln. Jeweils eine Schule aus Deutschland, den Niederlanden, Polen, Rumänien, Spanien und der Türkei hatten sich dafür zusammengefunden. Die Förderung im Rahmen des Comenius-Programm wurde jedoch abgelehnt. Nach einer Reorganisation der Finanzierung und Zusammenarbeit lief von März bis Juli 2014 ein kleiner EssayWettbewerb zum Jahr 1914 unter der Fragestellung, wie die Menschen über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg vor dem „Großen Krieg“ miteinander verbunden waren. Darüber hinaus ist Classroom4.eu jederzeit offen zur Mitarbeit für alle interessierten Lehrer und Schüler: Das Unterrichtskonzept ist auf Englisch und Deutsch online verfügbar8, kann im Unterricht verwendet und neue Artikel können jederzeit zur Veröffentlichung eingereicht werden.

3 Internetseite und Wiki Im Internet ist Classroom4.eu ist repräsentiert durch zwei unabhängige Auftritte: eine Webseite9 mit grundlegenden Informationen zum Projekt sowie einem

|| 8 Daniel Bernsen: Classroom4.eu - An interactive textbook for schools on European civilisation and culture. In: elearningeuropa.info, online seit 30. November 2011 unter: http://elearning europa.info/en/article/Classroom4.eu---An-interactive-textbook-for-schools-on-Europeancivilisation-and-culture, online auch in deutscher Version verfügbar: http://goo.gl/GhTqV (abgerufen: 2.4.2014). 9 Classroom4.eu-Webseite: http://classroom4.eu (abgerufen: 2.4.2014).

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Wiki10 mit den erstellten Produkten. Das Wiki ist das Herzstück des Projekts, das als interaktives Online-Schulbuch11 ausgebaut werden soll. Dem Wiki liegt die freie Software „Mediawiki“ zugrunde, die auch von der Wikipedia genutzt wird und ursprünglich für diese geschrieben wurde. Das hat aufgrund der weiten Verbreitung der Wikipedia den Vorteil der leichten Wiedererkennung und Orientierung, außerdem macht es die Bedienung einfach. Das Classroom4.eu-Wiki ist nicht frei editierbar. Es erfolgt ein doppelter Sicherheits- und Qualitätscheck vor Veröffentlichung eingereichter Beiträge: Erstens durch die betreuende Lehrkraft der Schüler und zweitens durch eine Jury, die die eingesandten Artikel auf formale und qualitative Kriterien hin überprüft. Das heißt, das Wiki wird zur Zeit nur als Publikationsplattform genutzt für namentlich gekennzeichnete Artikel von Schülern, wobei auch für Lehrkräfte die Möglichkeit besteht, Beiträge einzureichen.12 Einige Lehrerartikel wurden bereits veröffentlicht. Dies ist weiterhin möglich und für die Entwicklung des Projekts wichtig, um thematische Einstiegsartikel mit Vorbildcharakter anbieten zu können, an denen sich Lernende orientieren und an die sie anknüpfen können. Die Hypertextstruktur eines Wikis mit ihren Verlinkungen ermöglicht die Visualisierung der Grundidee des Projekts, nämlich Europa als über Personen vernetzten Kommunikationsraum zu verstehen und darzustellen. Das ist ein erster Vorteil der Publikationsform Wiki gegenüber einem gedruckten Buch. Mögliche Verlinkungen, also Bezüge zu anderen Personen, die in einem Beitrag auftauchen, aber noch nicht bearbeitet sind, können als neue, leere Seiten angelegt werden. Diese Verweise sind dann in den bestehenden Artikeln rot markiert. Die farbliche Hervorhebung besitzt Aufforderungscharakter, an diesen Stellen mit der Recherche zu starten und mit eigenen Beiträgen die noch leeren Seiten zu füllen. Das führt zu einem zweiten Vorteil des Wikis gegenüber dem gedruckten Buch: Es besteht keine Begrenzung hinsichtlich des Speicherplatzes. Alle Orte und Regionen können ihren Platz innerhalb der europäischen Kulturgeschichte

|| 10 Classroom4.eu-Wiki: http://classroom4wiki.eu (abgerufen: 2.4.2014). 11 Zur Entwicklung von Schulbüchern siehe Martin Ebner/Sandra Schön: Die Zukunft von Lehr- und Lernmaterialien: Entwicklungen, Initiativen, Vorhersagen. Norderstedt 2012. Online unter: http://l3t.eu/oer (abgerufen: 2.4.2014). 12 In Einzelfällen haben Schüler nur einer anonymen Veröffentlichung zugestimmt. Auch nachträglich ist eine Anonymisierung eines Beitrags möglich. Eine Publikation mit namentlicher Nennung ist im Schulbereich außer in Schülerzeitung und Jahrbuch eher selten und kann eine motivierende Wirkung haben.

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in diesem „Buch“ finden. Ein Problem, das zu Kritik an bisherigen Versuchen eines europäischen Geschichtsbuchs geführt hat:13 Es „stellt sich jedoch die Frage, ob die Festschreibung einer Geschichte auf europäischer Ebene nicht die gleichen Gefahren mit sich bringt, wie dies nationale Geschichtserzählungen tun: Zum Zweck der Schaffung einer gemeinsamen Identität wird ein minimaler Konsens über einen Geschichtskanon erzielt, der für alle, die ein Mitspracherecht haben, tragbar ist. Dabei müssen zwangsläufig die Erinnerungen bestimmter ethnischer Gruppen und gesellschaftlicher Schichten ausgeblendet werden.“14

Der begrenzte Platz eines Buchs macht einen vergleichsweise hohen Abstraktionsgrad nötig und blendet notwendigerweise lokale, regionale und nationale Sonderentwicklungen aus. Der dezentrale Ansatz von classroom4.eu bietet hingegen die Chance, dass die „Vorteile einer Orientierung des historischen Lernens an der Erfahrung der ‚Nähe‘ und Umwelt […] zu einer kritischen Reflexion von Inklusion und Exklusion durch ‚Nation‘ genutzt werden und neue differenziertere Raumvariablen wie die ‚Region‘ erschließen.“15 Im Wiki als Schulbuch kann die jeweiligen lokale und regionale Geschichte Europas exemplarisch in der europäischen Geschichte verortet werden. Michel Espagne hat ausgeführt, dass gerade die Region ein günstiges Anwendungsfeld für die Transferforschung bietet: „Die Akzentuierung der interregionalen Kulturtransfers relativiert [zudem] die Bedeutung des nationalen Rahmens und eine damit einhergehende unwillkürliche Teleologie“16, die den meisten Lehrplänen und Schulbüchern weiterhin zu Grunde liegt: Während eine einheitliche ‚deutsche‘ Nation also mitnichten seit der Vormoderne existierte, gab es gleichwohl einen europäisch geprägten Raum. […] Ein europaorientierter Unterricht kann daher die jahrhundertelang verbundene Geschichte des Westens mit dem Osten Europas sowie dem nordisch-baltischen Raum der Ostsee rekonstruieren, Gemeinsamkeiten wiederentdecken und damit Feindbilder aus der trennenden Phase abbauen.17 || 13 Frédéric Délouche (Hrsg.): Europäisches Geschichtsbuch. Ein Unterrichtswerk für die Sekundarstufe I und II, Stuttgart 1992.; zur Kritik siehe u.a. Schönemann, Didaktische Varianten. 14 Lilijana Radonic: Europäische Erinnerungskulturen im Spannungsfeld zwischen „Ost“ und „West“. In: Erinnerungskulturen, herausgegeben vom Forum Politische Bildung. Informationen zur Politischen Bildung Bd. 32. Innsbruck-Wien-Bozen 2010, S. 21–26, hier S. 26. 15 Bea Lundt: National-, Europäische, Weltgeschichte. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.), Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Band 1, Schwalbach/Ts. 2012, S. 405–421, hier S. 411. 16 Michel Espagne: Transferanalyse statt Vergleich. Interkulturalität in der sächsischen Regionalgeschichte. In: Hartmut Kaelble/Jürgen Schriewer (Hrsg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main/New York 2003, S. 419–438, hier S. 424. 17 Lundt, National-, Europäische, Weltgeschichte (Anm. 15), S. 413.

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Den nationalen Bezugsrahmen zu überwinden war die Forderung der Erklärung von Yuste. Im Projekt wird dieser wissenschaftliche Ansatz in einen schulischen transformiert, der den Schwerpunkt auf entdeckendes und forschendes Lernen im Sinne eines propädeutisch-wissenschaftlichen Arbeitens in der Oberstufe legt mit breiten Möglichkeiten der Individualisierung und Binnendifferenzierung.18

4 Mehrsprachigkeit Das Wiki ist mehrsprachig; anders als in der Wikipedia allerdings nicht in parallelen Wikis. Das heißt: Es gibt keine zwei oder mehr Artikel zum gleichen Thema in verschiedenen Sprachen. Beiträge zu zwei Wissenschaftlern z.B. in Deutschland und Polen, die miteinander korrespondiert haben, oder die Geschichte eines Künstlers, der aus Köln stammte, aber für seine Ausbildung nach Italien gegangen ist und dessen Bilder heute in Museen in Frankreich hängen, können je nachdem, welche Schüler den Beitrag erarbeitet haben, in unterschiedlichen Sprachen verfasst und direkt miteinander verlinkt sein. Das ist nicht unproblematisch, aber es war eine bewusste, wenn auch umstrittene Entscheidung gegen Englisch als kleinsten gemeinsamen sprachlichen Nenner und ein Statement für sprachliche Vielfalt. Darin unterscheidet sich classroom4.eu auch von dem EUROCLIO-Projekt Historiana, das nur auf Englisch verfügbar ist.19 Diese Herangehensweise wurde letztendlich deshalb gewählt, weil sie Schülern und Lehrern das Arbeiten in der jeweiligen Landessprache ermöglicht. Das Ziel ist es, möglichst niemanden auszuschließen und eine breite aktive Partizipation zu ermöglichen. Eine Einschränkung besteht allerdings: Es werden nur Artikel in Sprachen angenommen, die von den Mitgliedern der classroom4.eu-Redaktion verstanden und daher geprüft werden können. Ein Großteil der Beiträge wird voraussichtlich in Sprachen eingereicht, die als Fremdsprache an Schulen verbreitet sind. Darin liegt übrigens auch eine Chance speziell für den bilingualen Unterricht in Englisch, Französisch, Spanisch oder Deutsch. Probleme entstehen vor allem bei der Rezeption. Die meisten Schüler der gymnasialen Oberstufe dürften Beiträge auf Englisch ohne größere Probleme || 18 Birgit Wenzel: Heterogenität und Inklusion – Binnendifferenzierung und Individualisierung. In: Michele Barricelli / Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Band 2, Schwalbach/Ts. 2012, S. 238–254. 19 Online unter: http://historiana.eu (abgerufen: 2.4.2014).

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verstehen. Mit Französisch und Spanisch wird es bereits schwierig, Polnisch oder Türkisch dürfte für die Mehrheit nicht verständlich sein. Um diesem Problem zu begegnen, können einzelne Schüler mit entsprechenden Sprachkenntnissen als Mittler fungieren und so ihre besonderen Kenntnisse produktiv in ihrer Lerngruppe einbringen, indem sie ihren Mitschüler beim Verständnis der Texte helfen. Zum anderen sei auf Online-Übersetzungswerkzeuge wie z.B. den Google Translator20 verwiesen. Die Ergebnisse dieser Übersetzungsmaschinen sind zur Zeit noch vielfach überaus bescheiden. Hier sind mittelfristig deutliche Verbesserungen zu erwarten. Aktuell ist der Stand der Maschinenübersetzungen immerhin soweit, dass eine grobe Orientierung über die Inhalte einer Webseite möglich ist und somit zumindest ein Globalverständnis auch von Artikeln in weniger verbreiteten Sprachen möglich ist.

5 Interaktives und multimediales Schulbuch Zur Zeit sind die Inhalte des Wikis auf kurze Artikel beschränkt. Geplant ist eine Weiterentwicklung zu einem interaktiven Online-Schulbuch.21 Es ist durch die Arbeit auf Grundlage des Wikis kompetenzorientiert, individualisierbar und konstruktionstransparent.22 Hinzu kommen Multimedialität und Interaktivität, die in den nächsten Jahren im Blickpunkt der Weiterentwicklung des Portals stehen. Möglich ist das Hinzufügen von Videos, Illustrationen, Grafiken, Fotos, Schaubildern, interaktiven Übungen, Lernspielen sowie eine Umsetzung als mobile App für Smartphones und Tablets. Alle Texte, Materialien und Übungen stehen unter einer Creative Commons-Lizenz23 und können damit als Open Educational Resources24, frei genutzt, weiter geteilt, bearbeitet und an anderer Stelle veröffentlicht werden. Das Classroom4.eu-Wiki ist als Teil eines dezentralen

|| 20 Online unter: http://translate.google.de (abgerufen: 2.4.2014). 21 Vgl. Ebner/Schön, Zukunft (Anm. 11). 22 Zu diesen Kriterien vgl. Waltraud Schreiber/Florian Sochatzy/Marcus Ventzke: Das multimediale Schulbuch kompetenzorientiert, individualisierbar und konstruktionstransparent. In: Waltraud Schreiber/Alexander Schöner/Florian Sochatzy (Hrsg.): Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik. Stuttgart 2013, S. 212–232. 23 Online unter: http://creativecommons.org (abgerufen: 2.4.2014). 24 „Open Educational Resources are teaching, learning or research materials that are in the public domain or released with an intellectual property license that allows for free use, adaptation, and distribution.“; UNESCO: Open Educational Resources. Online unter: http://www.unesco.org/new/en/communication-and-information/access-to-knowledge/openeducational-resources/.

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Netzwerks von Lehr- und Lernmaterialien zu sehen, die Teil einer persönlichen Lernumgebung (PLE) werden können.25 Classroom4.eu ist nicht im Sinne eines zentralen Leitmediums wie bei einem Schulbuch gedacht, sondern wird besonders intensiv in Phasen aktiver Projektarbeit genutzt und dient darüber hinaus als Nachschlagewerk zu unterschiedlichen historischen und biografischen Fragestellungen in verschiedenen Fächern.

6 Nutzung digitaler Werkzeuge Neben dem Wiki spielen noch weitere digitale Werkzeuge eine Rolle, die kurz vorgestellt werden sollen: Die Schüler müssen für ihre Beiträge, unabhängig davon ob sie allein, in Partner- oder Gruppenarbeit innerhalb ihres Kurses oder gemeinsam mit Schülern an einem anderen europäischen Ort arbeiten, grundlegende Recherchearbeit leisten. Deshalb bietet sich die Arbeit mit classroom4.eu in Unterrichtsphasen bzw. eigenständigen Kursen zur Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten an. Das ist in den einzelnen Bundesländern und europäischen Staaten jeweils anders organisiert. Mit classroom4.eu können in Form projektbasierten Lernens an einem konkreten Thema grundlegende Methoden und Arbeitstechniken erworben werden, wobei am Ende mit dem Essay für das Wiki auch ein Ergebnis steht, das benotet werden kann. In Bezug auf die Recherche innerhalb des Projekts ist es wichtig, dass Internet- mit Bibliotheksrecherche kombiniert wird. Da classroom4.eu lokalbzw. regionalgeschichtlich angelegt ist, stößt die Suche im Internet oft schnell an ihre Grenzen, sowohl was die Quantität als auch was die Qualität der Fundstellen angeht. Aufgrund des europäischen Zugriffs mit der Verknüpfung von Personen und Orten ist ein einfaches Copy & Paste nicht möglich.26 Es muss in der Regel auch eine Bibliothek oder sogar ein Archiv hinzugezogen werden. Dabei entdecken Schüler, beraten und betreut durch ihre Lehrkraft, unterschiedliche Rechercheorte und -wege, deren jeweiliges Potential, aber auch ihre Grenzen.

|| 25 Vgl. Ebner/Schön, Zukunft (Anm. 11). 26 Siehe auch den Beitrag von Jan Hodel in diesem Band sowie bereits Jan Hodel: Geschichtslernen mit Copy and Share. In: Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010, S. 111–130.

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Darüber hinaus spielen diverse digitale Kommunikationswerkzeuge eine Rolle. Sie ermöglichen die überregionale europäische Zusammenarbeit27 sowohl der Lehrkräfte als auch der Lernenden. Zur Vorbereitung und Planung des Comenius-Antrags haben die Lehrkräfte der beteiligten Schulen sowohl Mails als auch vor allem Etherpads28 benutzt, um Ideen zu sammeln und die Antworten für die einzelnen Antragspunkte gemeinsam zu formulieren. Daneben sind noch Forum, Chat und Videokonferenz sowie die Diskussionsseiten des Wikis als weitere Kommunikationswerkzeuge zu nennen. Grundsätzlich möglich und gewünscht ist zudem, zunehmend auch kooperativ und kollaborativ Produkte zu erstellen, die auf gemeinsam recherchierten und geschriebenen Artikeln beruhen. Dazu bedarf es geeigneter Geschichten, die zunächst noch gefunden werden müssen, weil sie zumindest in Teilen noch nicht geschrieben sind. Um ein Beispiel zu nennen: In Uşak, im westlichen Teil Zentralanatoliens in der Türkei, wurde der Bahnhof 1915 von einem deutschen Architekten errichtet. Nun ist bekannt, dass während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich deutsche Militärberater gearbeitet haben. Bei einer Internetrecherche ließ sich über diesen Bahnhof oder seinen Architekten zunächst nichts in Erfahrung bringen. Genau solche „Geschichten“ sollen gesammelt werden, um in gemischten Schülergruppen daran zu arbeiten. Für diese Arbeit werden dann Etherpads, Wiki-Seiten, Chats, Videokonferenzen zum Austausch, zur gemeinsamen Erarbeitung und Diskussion benötigt. Zusätzlich werden auch Twitter und Facebook genutzt, um auf neue Beiträge im Wiki und interessante aktuelle Thema mit Bezug zum Projekt hinzuweisen und um das Projekt mit anderen Institutionen ebenso wie die teilnehmenden Schüler und Lehrer aus verschiedenen Ländern zu vernetzen und möglicherweise über die mehrwöchige Arbeitsphase in einer Klasse hinaus an das Projekt zu binden. Das ist für Schulen, zumindest in Deutschland, noch vergleichsweise ungewöhnlich, auch wenn es in anderen Bereichen wie Museen, Journalismus oder Tourismus weiter verbreitet und in Teilen sogar selbstverständlich ist. Ob

|| 27 Siehe dazu auch Daniel Eisenmenger: eTwinning – eine Chance für den Geschichtsunterricht? Eine Stärkung der europäische(n) Perspektiven durch den Einsatz von webbasierten Kommunikationswerkzeugen. In: Geschichte für heute 2/2010, S. 72–78. 28 „EtherPad ist ein webbasierter Editor zur kollaborativen Bearbeitung von Texten (collaborative real-time editor). Etherpad erlaubt es mehreren Personen, in Echtzeit einen Text zu bearbeiten, wobei alle Änderungen sofort bei allen Teilnehmern sichtbar werden. Dabei können die Änderungen der verschiedenen Bearbeiter farblich unterschieden werden. Eine weitere komfortable Funktion ist die Möglichkeit neben der Textbearbeitung im Bearbeitungsfenster zu chatten.“; s. Wikipedia: Etherpad. Online unter: http://de.wikipedia.org/wiki/EtherPad (abgerufen: 16.04.2013).

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die Nutzung von Social Media in diesem Rahmen erfolgreich sein wird, bleibt noch abzuwarten. In bisherigen Vorbereitungsphase war die Partizipation sowohl von Lehrenden wie Lernenden eher gering.

7 Resümee und Ausblick Digitale Medien haben im Rahmen von classroom4.eu vor allem Werkzeugcharakter:29 Sie dienen bei der Erarbeitung zur Kommunikation und abschließend zur Publikation der Ergebnisse. Zugleich Schüler wie auch Lehrer lernen dabei etwas über Medien, z.B. über Wikis und Hypertexte, da sie es nicht nur als Nachschlagewerk nutzen, sondern zugleich lernen, wie Beiträge entstehen und wie Verlinkungen und multimediale Inhalte eine andere Art der Darstellung ermöglichen als z.B. Stift und Papier. Sowohl die Kommunikationswerkzeuge wie auch das Wiki bieten einen an spezifischen Denk- und Lernraum, der sich durch seine Funktionalitäten, Möglichkeiten, aber auch Begrenzungen von alternativen Medien unterscheidet: Ein Wiki zu schreiben ist etwas Anderes als ein Buch; die Kommunikation in einem Chat verläuft anders als ein direktes Gespräch in Anwesenheit der Gesprächspartner. Ein besonderer Vorteil der Nutzung digitaler Medien liegt dabei im Zusammengehen von Form und Inhalt durch die Abbildung von Europa als Kommunikationsraum in den Verlinkungen des Wiki. Das Projekt setzt idealtypisch den Grundgedanken des Web 2.0 in der Arbeit um: Die Schüler sind zugleich Konsumenten, die das Wiki als Schulbuch zur europäischen Kulturgeschichte nutzen, und Produzenten, in dem sie selbst Artikel und weitere Inhalte recherchieren, gestalten und veröffentlichen. Die Nutzung digitaler Medien bietet nicht nur in allen Bereichen einen deutlichen Mehrwert, sondern eröffnet neue Formen und Zugänge, die durch ein solches Projekt überhaupt erst möglich werden. Auch unabhängig von dem spezifischen didaktischen Ansatz des classroom4.eu-Projekts können digitale Medien wie Mails, Wikis oder Videokonferenzen als Kommunikationswerkzeuge im regulären Unterricht genutzt werden, um in der gemeinsamen Arbeit mit Klassen aus einem oder mehreren anderen Ländern den Geschichtsunterricht inhalt-

|| 29 Zu den medialen Modi historischen Lernens siehe Daniel Bernsen/Alexander König/Thomas Spahn: Medien und historisches Lernen: Eine Verhältnisbestimmung und ein Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften 1 (2012), S. 1–27. Online unter: http://universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/zdg/article/view/ 294 (abgerufen: 2.4.2014).

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lich und methodisch zu öffnen und die gewählten Themen multiperspektivisch und kontrovers zu erarbeiten und zu diskutieren. Classroom4.eu zeigt schließlich exemplarisch einen Weg auf, wie sich zukünftig der wissenschaftliche Ansatz der Globalgeschichte in den schulischen Geschichtsunterricht integrieren lässt, nämlich als vernetzte Lokal- und Regionalgeschichte, die entdeckendes und forschendes Lernen im Internet wie am Schulort in Archiven und Bibliotheken fördert. Die erneute Hinwendung und Aufwertung von Lokal- und Regionalgeschichte für historisches Lernen in der Schule gerade in Unterrichtsprojekten, die stark mit digitale Medien arbeiten, ist mit classroom4.eu kein Einzelfall, sondern verdient größere Aufmerksamkeit und eine eigene Untersuchung. Es gibt Hinweise darauf, dass die Arbeit mit dem World Wide Web, mit digitialisierten Quellen in Online-Archiven, mit digitalen Kommunikations- und Analysewerkzeugen ein besonderes Potential zur Erforschung des eigenen historischen Nahraums wie auch zugleich der exemplarischen Einbettung in größere Zusammenhänge besitzen.30 Der Ansatz stellt die bislang weiterhin dominierenden Narrative der Geschichtslehrpläne in Frage und verlangt in Verbindung mit der Kompetenzorientierung ein Nachdenken über die Inhalte und Zugänge des Geschichtsunterrichts.

|| 30 Alexander König/Daniel Bernsen: Mobile Learning in History Education. In: Journal of Educational Media, Memory, and Society 6.1 (2014); Daniel Bernsen: App in die Geschichte. Die App für den Geschichtsunterricht. In: Geschichte lernen 159/160 (2014), S. 102.

Birgit Marzinka

Weblogs in der historisch-politischen Bildung Einführung Weblogs sind so alt wie das World Wide Web selbst. Den ersten Weblog schrieb Tim Berners-Lee, der als Mitarbeiter des CERN das WWW entwickelte, am 30. November 1990.1 Der Softwareentwickler erklärte in dem Eintrag die Funktionsweise von HTML und berichtete über seine Arbeit. Schon in diesem ersten Weblog waren die Einträge chronologisch sortiert. In Deutschland ging der erste Blog im April 1996 online. Allerdings wurde der Begriff des Weblogs erst im Jahr 1997 von John Barger eingeführt2, zuvor waren Netzine, Fanzine oder Webzine die gängigen Bezeichnungen. Ende der 1990er Jahre entwickelte sich ein regelrechter Blogboom: die Blogosphäre, auch genannt Blogcommunity, entstand. Über die aktuelle Anzahl der weltweit existierenden Weblogs zirkulieren verschiedene Zahlen, manche sprechen von 170 Millionen3, andere von ca. 200 Millionen4. Weblogs sind ein Medium der Erwachsenen. So lesen laut der JIM-Studie aus dem Jahr 2012 nur sieben Prozent der Jugendlichen Weblogs und nur vier Prozent verfassen Artikel in einem.5 Mit dem Boom entdeckte man auch im Bildungsbereich Weblogs, was von manchen Autor_innen als Edublogging bezeichnet wird. Dabei handelt es sich in stärkerem Maße um Blogs von Wissenschaftler_innen und Fachkräften, die über Bildungsthemen schreiben, als um Weblogs, die in Lern-Lehrszenarien einge-

|| 1 Vgl. Daniela Warndorf: Die Geschichte des Weblogs, online unter: http://www.warndorf. com/2012/08/die-geschichte-des-weblogs/ (zuletzt eingesehen am 11. Juli 2013); Lisa Sonnabend: Die Entstehung eines neuen Medien Genres, online unter: http://www.netzthemen.de/ sonnabend-weblogs/2-2-1-die-entstehung-eines-neuen-medien-genres (zuletzt eingesehen am 11. Juli 2013). 2 Vgl. Warndorf, Geschichte des Weblogs. 3 Vgl. Johannes Lenz: Zahl der Blogs weltweit steigt stetig. Und in Deutschland?, online unter: http://blog.grey.de/allgemein/zahl-der-blogs-weltweit-steigt-stetig-und-in-deutschland/ #.Ud6eoDt7L-Y (zuletzt eingesehen am 11. Juli 2013). 4 Vgl. Warndorf, Geschichte des Weblogs. 5 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM-Studie (2012) – Jugend, Information, (Multi-)Media, online unter: http://www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf12/JIM2012_ Endversion.pdf (zuletzt eingesehen am 10. Juli 2012), S. 36 und S. 40.

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setzt werden. In außerschulischen Projekten und auch im Geschichtsunterricht kommen nur wenige Weblogs zum Einsatz.6

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Kategorisierung von Weblogs

Weblogs sind ursprünglich im Netz, also öffentlich einsehbare Tagebücher. Die Artikel sind im Gegensatz zu den meisten Websites chronologisch sortiert, d.h. der neueste steht auf der Startseite ganz oben. Häufig werden den Artikeln Schlagwörter bzw. Kategorien zugeordnet und sie werden im Archiv nach Erscheinungsmonat sortiert. Die freien Schlagwörter können bei jedem Artikel vergeben werden, während die Kategorien bzw. festen Schlagwörter zuvor festgelegt werden. Dadurch lässt sich ein Weblog thematisch sortieren und die Leser_innen können ihn gezielt nach Themen durchsuchen. Weiterhin haben zahlreiche Weblogs einen sogenannten Blogroll eingerichtet, in dem sie weitere zumeist themenähnliche Weblogs empfehlen. Weblogs konzentrieren sich in den meisten Fällen auf Texte, es werden aber auch häufig Fotos, Videos, Audios, Karten, Zeitleisten oder Grafiken hinzugefügt. Dadurch wird es möglich, Inhalte multimedial darzustellen. Eine Kategorisierung von Weblogs ist schwierig, da dieses Webtool sehr unterschiedlich eingesetzt wird und die technologische Entwicklung rasant ist. Durch neue Webangebote werden weitere Einsatzmöglichkeiten geschaffen.7 Es lassen sich aktuell folgende Weblogtypen im Kontext der historischen Bildung herausfiltern: – Individuell geführte Weblogs von Lehrkräften und Wissenschaftler_innen zur Reflexion ihrer Arbeit (Edublogging); – Individuell geführte Weblogs von Lehrkräften zur Unterstützung des Schulunterrichts.

|| 6 Einzelne Akteur_innen in der historisch-politischen Bildung sind sehr bemüht, das Bloggen als Teil von Lern-Lehrszenarien zu unterstützen. So bietet die Plattform pb21 der Bundeszentrale für politische Bildung und des DGB-Bildungswerks Anleitungen für das Bloggen an (vgl. Blanche Fabri: Bloggen für Einsteiger Teil 1. In neun Schritten zum eigenen Blog, online unter: http://pb21.de/2013/06/bloggen-fur-einsteiger-teil-1/ (zuletzt eingesehen am 10. September 2012). 7 Ein Beispiel ist das aktuell boomende Microblogging auf Plattformen wie tumblr. Beim Microbloggen werden viel stärker als beim „klassischen“ Bloggen verschiedenste Medien eingesetzt, vor allem animierte GIF-Dateien sind sehr beliebt. Vgl. Moritz Stückler: Anleitung: wie funktioniert eigentlich tumblr?, online unter http://t3n.de/news/anleitung-funktioniert-2457561/ (zuletzt eingesehen am 10. Juli 2012).

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Individuell geführte Weblogs von Schüler_innen8, in denen diese über einen längeren Zeitraum über ihren Lernprozess berichten. Solche Blogs können auch als Portfolio bezeichnet werden. Kollektiv geschriebene Weblogs, auf denen Projekte dokumentiert werden. Diese können im schulischen oder im außerschulischen Bereich stattfinden; Kollektiv geschriebene Weblogs, auf denen recherchierte Inhalte dargestellt werden; Kollektiv geschriebene Weblogs, auf denen historische Personen als Rollen dargestellt werden und die z.B. historische Ereignisse der thematisierten Zeit kommentieren; Von Studierenden kollektiv geführte Weblogs über ihre Seminare (Seminarblogs); Weblogs als Tagungsdokumentationen.

Die Zahl der Weblogs im Kontext der historischen Bildung ist insgesamt nicht hoch. Dementsprechend lassen sich auch hinsichtlich der als erstes genannten Kategorie nur wenige Beispiele im Netz zu finden. Dazu zählen das Weblog von Alexander König „Brennpunkt Geschichte“9, von Sabine Liebig und Ulf Kerber „Geo Ges“10, von Jan Hodel „HistNet“11, von Andreas Körber „Historisch Denken Lernen“12, von Christoph Pallaske „Historisch denken, Geschichte machen“13 und von Daniel Bernsen „Medien im Geschichtsunterricht“14. Alle Autor_innen reflektieren ihre Bildungserfahrungen und Forschungsergebnisse, berichten über Tagungen und beschreiben relevante Medienangebote für das historische Lernen. Individuell geführte Weblogs von Lehrkräften werden genutzt, um die im Unterricht behandelten Themen zu beschreiben oder zu vertiefen, Fragen von Jugendlichen aufzugreifen oder Hausaufgaben mit den dazugehörigen Texten

|| 8 Individuell geführte Weblogs von Schüler_innen konnte ich leider keine finden, da diese bereits wieder gelöscht wurden. 9 Alexander König: Brennpunkt Geschichte, online unter: http://www.brennpunkt-geschichte. de/ (zuletzt eingesehen am 08. Juli 2013). 10 Ulf Kerber/Sabine Liebig: Geo Ges, online unter: http://geoges.ph-karlsruhe.de/wordpress/ (zuletzt eingesehen am 08. Juli 2013). 11 Jan Hodel: HistNet, online unter: http://www.hist.net/ (zuletzt eingesehen am 08. Juli 2013). 12 Andreas Körber: Historisch Denken Lernen, online unter: http://koerber2005.erzwiss. uni-hamburg.de/wordpress-mu/historischdenkenlernen/ (zuletzt eingesehen am 08. Juli 2013). 13 Christoph Pallaske: Historisch denken, Geschichte machen, online unter: http:// historischdenken.hypotheses.org/ (zuletzt eingesehen am 08. Juli 2013). 14 Daniel Bernsen: Medien im Geschichtsunterricht, online unter: http://geschichtsunterricht. wordpress.com/ (zuletzt eingesehen am 08. Juli 2013).

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zu veröffentlichen. Das Histoproblog15 ist ein Beispiel für ein solches, von einem Lehrer geschriebenes Weblog. Manfred Pretz behandelt in seinem Blog unterschiedliche historische Themen, er verlinkt zu geschichtlichen Quellen, gibt Literaturhinweise zur Bearbeitung der Themen oder verweist auf OnlineZeitungsartikel, die historische Themen beleuchten. Ein weiteres von einem Lehrer geführtes Weblog ist das „Geschichtsheft SMZ“16. Johannes Gienger, der zugleich Leiter des Stadtmedienzentrums Stuttgart am Landesmedienzentrum Baden-Württemberg ist, nutzt das Weblog auf eine ähnliche Weise wie sein obengenannter Kollege Manfred Pretz: Dieser Blog [...] ersetzt den Tafelanschrieb für den Geschichtsunterricht einer Klasse 8 (Gymn.) und gibt gleichzeitig Hinweise für den Ablauf des Unterrichts. Wie bei einem normalen Schulheft übernehmen die Schüler/innen Teile und kopieren sie in den eigenen Blog/Schulheft.17

Ein Beispiel für ein kollektiv geschriebenes Weblog ist das von Lisa Rosa geführte „Besuch der KZ-Gedenkstätte Neuengamme“.18 In ihm dokumentierten Hamburger Schüler_innen des Emilie-Wüstenfeld-Gymnasiums ihren Besuch in der Gedenkstätte Neuengamme. Sie beschrieben den Lernprozess und stellten die recherchierten Inhalte dar, mit denen sie sich im Laufe der Projektwoche auseinandersetzten. Kollektiv geführte Weblogs, in denen historische Rollen eingenommen werden, finden sich bislang äußerst wenige. Eines von ihnen ist das vom Koblenzer Eichendorff-Gymnasium, in dem die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche zum Thema wird.19 Hierbei nahmen die Schüler_innen Rollen verschiedener Abgeordneter im Jahr 1848 ein. Zur Kategorie Seminarblog zählt das Blog „Digitales Geschichtslernen“ von Alexander König und Christoph Pallaske, auf dem Studierende zweier Seminare zum gleichen Thema (eins an der Universität in Saarbrücken und eins an der Universität in Köln) zusammenarbeiten. In Form von Protokollen berichten sie von ihren Arbeitsergebnissen und reflektieren Methoden des historischen Lernens, in denen digitale Medien zum Einsatz kommen. Ziel ist es, trotz der räum-

|| 15 Manfred Pretz: Histoproblog, online unter: http://histopro.wordpress.com/ (zuletzt eingesehen am 08. Juli 2013). 16 Johannes, Gienger: Geschichtsheft SMZ, online unter: http://geschichtsheftsmz.wordpress. com/ (zuletzt eingesehen am 08. Juli 2013). 17 Ebd. 18 Lisa Rosa: Besuch der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, online unter: http://ewgprojektblog. wordpress.com/ (zuletzt eingesehen am 08. Juli 2013). 19 Koblenzer Eichendorff-Gymnasium, Paulskirchenprojekt, online unter: http://paulskirchen projekt.wordpress.com/ (zuletzt eingesehen am 08. Juli 2013).

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lichen Distanz eine Diskussion der Seminarteilnehmer_innen zu ermöglichen und das erarbeitete Wissen miteinander zu verknüpfen.20 Die Dokumentation von Tagungen und Konferenzen auf Weblogs wird immer beliebter. So können Besucher_innen die Veranstaltung kommentieren und u.U. selbst Beiträge schreiben. Der Blog bietet eine Plattform für den Livestream bzw. können Videos mit Vorträgen eingefügt werden. Ein Beispiel hierfür ist der Blog zur Tagung „Geschichte Lernen Digital“ im März 2013 in München.21 Bezeichnend für all diese Weblogs ist, dass sie multimedial angelegt sind und sich nicht nur auf Texte beschränken. Neben diesen im Bildungskontext entstandenen Weblogs gibt es inzwischen zahlreiche aus der Fachwissenschaft. In ihnen werden historische Themen behandelt und reflektiert. Die bekannteste Plattform unter diesen ist hypotheses22. Auf ihr sind zahlreiche Weblogs zu gesellschafts- und geisteswissenschaftlichen Themen in verschiedenen Sprachen zu finden. Auch werden hier Seminare dokumentiert, kollektiv über Themen diskutiert, Forschungsergebnisse präsentiert sowie Online-Zeitschriften und Magazine veröffentlicht. Wie die Beispiele zeigen, können Weblogs sehr verschieden eingesetzt und dabei der inhaltlichen Ausrichtung bzw. den mit ihnen verfolgten (Lern-)Zielen angepasst werden. Gerade in dieser Flexibilität liegt das große Potenzial für den Einsatz von Weblogs in der historisch-politischen Bildung. Im nächsten Abschnitt beleuchte ich die möglichen Lernprozesse, die durch Weblogs gefördert werden.

2 Lernprozesse durch Weblogs Wenn man unter den oben dargestellten Weblogs nur die betrachtet, die konkret in Lern-Lehrszenarien mit Jugendlichen eingesetzt wurden, kann man feststellen, dass diese hauptsächlich zur Dokumentation von Lernprozessen oder zur Präsentation von kollektiven und kooperativen Rechercheergebnisse verwendet werden. Solche „Rechercheergebnis-Weblogs“ sind ein Ort der (kollektiven) Geschichtserzählung, an dem gebündelt dargestellte primäre und

|| 20 Vgl. Alexander König und Christoph Pallaske: Blogs als virtueller Schreib- und Kommunikationsraum historischen Lernens. In: Peter Haber/Eva Pfanzelter (Hrsg.): Historyblogosphere. Bloggen in den Geschichtswissenschaften. München 2013, S. 119–134. 21 Geschichte lernen digital, online unter: http://gelerndig.hypotheses.org/ (zuletzt eingesehen am 08. Juli 2013). 22 http://hypotheses.org/ (zuletzt eingesehen am 26. August 2013).

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sekundäre Quellen interpretiert und ausgewertet werden. Durch die intensive Beschäftigung mit einem Thema verändert sich das Geschichtsbewusstsein der Jugendlichen. Das Weblog unterstützt in dieser Form des Arbeitens das forschende Lernen, da die Ergebnisse peu à peu veröffentlicht und dabei beständig modifiziert und erweitert werden können. Damit wirkt es der Tendenz entgegen, dass verschriftlichte Ergebnisse als Endprodukt gesehen werden, das wie es ja auch bei Büchern der Fall ist, nicht wieder verändert werden kann. Meines Erachtens steht beim Einsatz von Weblogs der Prozess im Vordergrund. Das kann für die konkrete Arbeit sehr praktisch sein, da die Möglichkeit besteht, die Beiträge nach Besprechungen oder aufgrund anderer Rückmeldungen zu verändern und unter Umständen zu verbessern. In den meisten Fällen werden die Beiträge als Texte verfasst. Dadurch rücken die Schreibprozesse in den Mittelpunkt. Für Alexander König und Christoph Pallaske fördern die Auseinandersetzungen im Schreibprozess unterschiedliche Kompetenzen der Jugendlichen. Als Tool für digitales Geschichtslernen bieten Blogs ein großes didaktisches Potenzial – gerade wenn es darum geht, im Modus verschriftlichter Sprache, Schülerinnen und Schüler zu befähigen, historische Analysen sowie in sich schlüssige historische Sach- und Werturteile anzufertigen.23

Für die beiden Autoren sind Weblogs in diesem Sinne ein gutes Tool, um die Frage-, Sach- und Methodenkompetenz zu fördern und um kreative Schreibund Kommunikationsräume zu schaffen.24 Die Nutzung von Weblogs macht für König und Pallaske den Konstruktcharakter von Geschichte für Jugendliche erfahrbar: Wie bei wissenschaftlichen Blogs kann auch Schüler/innen als Produzenten von Blogposts, Kommentaren und Vernetzungen die Diskursivität von Geschichte als Aushandlungsgeschäft ins Bewusstsein gehoben werden. Wenn dies gelingt, kann beim historischen Lernen der Schritt vom reinen Geschichtskonsumenten hin zum selbstreflexiven Geschichtslerner vollzogen werden.25

Die Erkenntnis des Konstruktcharakters von Geschichte ist beim Einsatz von Weblogs in der Bildungsarbeit eines der zentralen Ziele. Weblogs unterstützen diesen Prozess, da die Jugendlichen selbst einen (kollektiven) Ort der Geschichtserzählung kreieren. Sie müssen in ihren Artikel oder sonstigen Beitrag

|| 23 König/Pallaske, Blogs als virtueller Schreib- und Kommunikationsraum, S. 129. 24 Vgl. ebd. 25 Ebd.

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historische Ereignisse einordnen, analysieren, verständlich darstellen und je nach Aufgabenstellung ein Werturteil darüber bilden. Der letzte Schritt ist einer, der meiner Erfahrung nach in der außerschulischen Bildung nicht im Blog dargestellt wird, sondern in der mündlichen Kommunikation stattfindet. Auch Bettina Alavi und Marcel Schäfer heben den narrativen Charakter von Weblogs hervor: Als eine dem virtuellen Medium angemessene Möglichkeit der Erstellung einer medienadäquaten Narration erscheint der Weblog, in dem die Tagebuchaussagen der Quelle durch die Schüler/innen strukturiert, verdichtet, kommentiert oder kontrastiert werden können.26

Es steht die Narration von historischen Situationen, Ereignissen oder Personen im Vordergrund, allerdings werden in den Artikeln und anderen Medienprodukten die Geschichten nicht dekonstruiert. Die Bearbeitung der Themen konzentriert sich auf die Darstellung und nicht auf die Hinterfragung von bereits bestehenden Geschichtsnarrationen bzw. von Quellen. Meistens kommt dieser Aspekt aufgrund seiner Komplexität und zumeist fehlender Zeit zu kurz. Durch die Kommentarfunktion, das Teilen des Weblogs bzw. einzelner Artikel in den sozialen Netzwerken und das mündliche Gespräch über die inhaltliche Ausarbeitung mit Dritten erhält der Weblog einen dialogischen Charakter. So können bei einem internationalen Austausch Familienangehörige oder Freund_innen zu Hause die Ergebnisse lesen und sie direkt oder über andere Wege kommentieren. Externe Personen können das Weblog kommentieren, auf es verlinken usw..Auch die Besprechung der Beiträge mit den Lehrkräften und Pädagog_innen vor der Veröffentlichung führt zu einer Reflexion der Inhalte. Viele Jugendliche motiviert diese Art von Öffentlichkeit des Lernprozesses, die Artikel mit einer größeren Gewissenhaftigkeit zu verfassen und die Inhalte stärker zu reflektieren. Der Einsatz von verschiedenen Quellen, die Erstellung von mehreren Medienprodukten und Tools sowie die parallele Behandlung unterschiedlicher Themen – wie dies häufig in der Arbeit mit Weblogs erfolgt – fördert die Multiperspektivität. Kontroversität kann sich durch verschiedene Rollen bzw. Darstellungen unterschiedlicher Personen entwickeln; diese steht allerdings wie die Dekonstruktion eher im Hintergrund. Für die Erstellung der Beiträge ist eine intensive Einführung in das Thema notwendig. Die Ergebnisse werden

|| 26 Bettina Alavi und Marcel Schäfer: Elemente sinnvoller netzbasierter historischer Lernaufgaben. In: Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, S. 242.

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besprochen und sie werden in der Regel am Ende von der Gruppe zusammengeführt. Dadurch wird eine kontroverse Betrachtung und Auseinandersetzung gefördert und zugleich kann eine Metaebene wie die Relevanz der Beschäftigung mit dem historischen Thema leicht einbezogen werden. Das heißt, dass der Weblog immer nur einen Ausschnitt eines größeren Projekts zeigt und ein Werkzeug der Darstellung der recherchierten Inhalte ist. Der Einsatz verschiedener Medien ermöglicht, ein binnendifferenziertes Lernszenario zu entwickeln. So können schreibschwächere Jugendliche (Handy-)Videos und Audioprodukte erstellen, während schreibstarke Jugendliche die Texte verfassen. So ist es möglich, dass in heterogenen Gruppen alle individuell zu einem gemeinsamen Ergebnis beitragen. Das Offenlegen der genutzten Quellen und Texte sollte im Idealfall erfolgen, was allerdings nicht immer der Fall ist. Bei der Erstellung eigener Medienprodukte, in die bereits bestehende, z.B. Fotos, eingebunden werden können, spielt das Urheberrecht eine große Rolle. Meiner Erfahrung nach wird dies in fast allen Projekten der historisch-politischen Bildung dieser Art besprochen. Durch die Verlinkung und das Einbinden von digitalisierten und veröffentlichten Quellen usw. wird es möglich, Geschichte multimedial, aus unterschiedlichen Perspektiven und mit weiteren Hintergrundinformationen darzustellen, die man selbst nicht erzeugt, aber zur Verfügung hat. Das Einbinden externer Angebote unterstützt die multiperspektivische Betrachtung des Themas, da sich die Jugendlichen zuvor mit dieser Geschichtsdarstellung auseinandersetzen müssen bzw. bei der Besprechung ihrer Beiträge darauf eingegangen werden kann.

3 Beispiele für Weblogs in der historischpolitischen Bildung Weblogs bieten beim historischen Lernen viele Möglichkeiten, Ergebnisse und Lernprozesse festzuhalten und diese zu reflektieren. Jedoch ist es nicht der Weblog selbst, der im Mittelpunkt steht, sondern die Auseinandersetzung mit den Inhalten: Diese können mit verschiedenen Medien dargestellt und strukturiert werden. Eine Beleuchtung aus unterschiedlichen Perspektiven bietet sich durch die oben skizzierten Besonderheiten des Weblogs an.27

|| 27 Vgl.: Bettina Alavi und Marcel Schäfer, Elemente sinnvoller netzbasierter historischer Lernaufgaben. S. 242.

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Da die Ergebnissicherung der Recherchen einiger Stunden bedarf, eignet sich der Einsatz von Weblogs eher für außerschulische Projekte oder für projektorientierten Unterricht. Die Betreuung der Jugendlichen kann sehr (zeit)intensiv sein. Auch wenn ein Weblog auf einer Plattform wie WordPress.com genutzt wird, sind gewisse Kenntnisse über die Installation von Weblogs vorteilhaft. Meines Erachtens überwiegen die Vorteile beim Einsatz von Weblogs im Bildungskontext, da die Inhalte sehr unterschiedlich dargestellt werden können. Etwas Vergleichbares bietet nur ein Lernmanagementsystem wie Moodle an. Selbst die Wiki-Software ist nicht so vielgestaltig einsetzbar, da sie sich auf Texte konzentriert. Im Rahmen meiner Tätigkeiten in der außerschulischen Bildung habe ich bereits mehrfach die Möglichkeiten genutzt, die Weblogs in der Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen bieten. Die meisten Blogs entstanden im Kontext historisch-politischer Bildungsarbeit. Da ich in der außerschulischen Bildung tätig bin, werden diese Weblogs nicht über einen längeren Zeitraum und individuell geführt. Vielmehr handelt es sich ausschließlich um kollektiv und kollaborativ erstellte Ergebnisse. Im folgenden Abschnitt möchte ich die Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, darstellen und reflektieren.

3.1 Projekt: History Maps Online Gemeinsam mit der Bildungsabteilung der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen und der Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V. führten wir dieses Projekt durch. Im Jahr 2013 stellten Jugendliche und junge Erwachsene in drei mehrtägigen Seminaren ihre Rechercheergebnisse auf den Weblog www.sachsenhausenprojekte.wordpress.com dar. Es handelt sich um ein kollektiv geführter Weblog zur Präsentation der Rechercheergebnisse zu einem historischen Thema. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen hatten unterschiedliche Leistungsniveaus, während die erste Gruppe sich aus 15-jährigen Jugendlichen aus Sekundarschulen28 zusammensetzte, waren in der zweiten Gruppe Jugendliche vertreten, die die Sekundarstufe 2 des Gymnasiums besuchten. In der dritten Gruppe waren ausschließlich Studierende und Akademiker_innen aus verschiedenen Ländern. In dieser Gruppe wurden die Artikel auf Englisch verfasst.

|| 28 Das ist eine Berliner und Brandenburger Schulform, in der Haupt- und Realschule zu einer Schule, der Sekundarschule, zusammengeführt werden.

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In allen Seminargruppen bekamen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen Rechercheaufgaben, die sie nach der Methode des forschenden Lernens in Kleingruppen behandelten. Sie erhielten historische Quellen, Karten und wissenschaftliche Texte, die sie bearbeiteten, zusätzlich konnten sie Ausstellungen der Gedenkstätte besuchen. Die erste Gruppe beschäftigte sich mit dem Verhältnis zwischen der Oranienburger Bevölkerung und den beiden Konzentrationslagern.29 Die zweite Gruppe hatte die Topografie des Konzentrationslagers Sachsenhausen als Thema. Die dritte Gruppe recherchierte sieben Biografien von ehemaligen Häftlingen. Die Intensität der Betreuung und die Art der Aufgabenstellung waren aufgrund der verschiedenen Leistungsniveaus unterschiedlich. Während für die erste Gruppe das Lesen und Deuten der historischen Quellen und wissenschaftlichen Texte noch schwierig war, gestaltete sich das für die zweite Gruppe weitaus einfacher. Entsprechend fielen die Texte auch hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit unterschiedlich aus. Beleuchtet man hierbei die Ebene des Lernprozesses, waren die Lernschritte für die erste Gruppe viel größer; diese erfolgten nahezu mit Siebenmeilenstiefeln, vor allem im Vergleich mit den anderen Lerngruppen. Das Thema beschäftigte die Jugendlichen auch emotional sehr, was beispielsweise daran deutlich wurde, dass sie Blumen kauften und diese an verschiedenen Stellen in der Gedenkstätte niederlegten. Der gesamte Prozess zeigte, dass die Jugendlichen sich über das Verfassen der Artikel hinaus auf vielen Ebenen mit den Inhalten auseinandersetzten. Vor allem waren es die Gespräche beim Schreibprozess, die ein Auseinandersetzen mit den Inhalten und deren Vertiefung ermöglichten und die unterschiedlichen Kompetenzen förderten (s. Kapitel Lernprozesse.). Die Lernenden setzten sich mit unterschiedlichen Quellen(-typen) auseinander und stellten diesbezüglich viele Fragen. Auch galt es, in ihren Texten Begriffe und Konzepte zu erklären, zu strukturieren und einzuordnen. Schlussendlich reflektierten sie ihr eigenes Handeln. Für die dritte Gruppe war die Recherche der Biografien an manchen Stellen schwierig, da sie sich aus europäischen und außereuropäischen jungen Erwachsenen zusammensetzte und die Kenntnisse über Nationalsozialismus, Holocaust und Zweiter Weltkrieg sehr unterschiedlich waren. Daraus resultier-

|| 29 In Oranienburg wurde das Konzentrationslager Oranienburg als das erste im sogenannten Deutschen Reich am 21. März 1933 mitten in der Stadt von der SA auf einem ehemaligen Brauereigelände errichtet. Bereits im darauffolgenden Jahr wurde es wieder geschlossen. Das Konzentrationslager Sachsenhausen wurde ab 1936 von Häftlingen erbaut und bestand bis zum Kriegsende.

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ten auch unterschiedliche Perspektiven, die die Diskussionen und die Art der Darstellung bereicherten. Die jungen Erwachsenen waren sehr engagiert bei ihrer Recherchearbeit und wollten weitere Quellen hinzuziehen, was sich allerdings als schwierig erwies, da sie größtenteils auf Deutsch waren und nicht ins Englische übersetzt werden konnten. In allen drei Gruppen wurden die Texte vor der Veröffentlichung mit den Teamer_innen besprochen und die Teilnehmenden nahmen Verbesserungen vor. In diesen Gesprächen reflektierten sie ihre Darstellung der Inhalte sowie ihre Quellendeutung und die sekundären Informationen. Diese ausführlichen Besprechungen und die in einigen Fällen zahlreichen Veränderungen der Texte zeigen den hohen Grad der Motivation der Teilnehmenden, den Weblog zu führen und sich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen. Neben den Texten erstellten alle drei Gruppen Karten mit Google Maps und betteten diese in den Weblog ein. In der ersten Gruppe drehten die Teilnehmenden ein kurzes Handyvideo über die Orte, über die sie im Rahmen des Seminars recherchiert hatten. Nach ihrer Recherche und Darstellung auf dem Weblog sollten sie zeigen, was heute an die historischen Ereignisse bzw. Verbrechen in Oranienburg erinnert und wie diese Orte gegenwärtig aussehen. Wir Teamer_innen stellten die Handyvideos auf YouTube und gemeinsam mit den Teilnehmenden betteten wir diese in die Ortsmarken auf Google Maps ein. Weiterhin verlinkten die Teilnehmenden ihre Artikel. Eine Gruppe erstellte eine Karte mit über 80 Ortsmarken über Zwangsarbeit in Oranienburg, zuvor lag keine digitalisierte Version vor.30 Die Jugendlichen waren erstaunt, an wie vielen Orten Zwangsarbeit in Oranienburg und in der Umgebung geleistet wurde. Für die zweite Gruppe bildete ein historisches Foto den Ausgangspunkt: Die Teilnehmenden fotografierten dieses am historischen Ort ab, so dass das alte Foto und gleichzeitig der aktuelle Ort zu sehen sind. Dieses Foto wurde auf Picasa hochgeladen und mithilfe von Google Maps mit einer Ortsmarke verlinkt. Durch die Erstellung der Handyvideos und Fotos sprachen wir mit den Jugendlichen über den Unterschied zwischen Narration und Erinnerungskultur. Thematisiert wurden dabei auch die Arten der Darstellung von Geschichte und Erinnerungen in den Handyvideos und auf den Fotos. In der dritten Gruppe erstellten die jungen Erwachsenen eine Karte der Migrations- und Fluchtbewegungen und Deportationen ehemaliger Häftlinge des KZ Sachsenhausens. Jede einzelne Station wurde mit einer Ortsmarke versehen und die wichtigsten Daten wurden vermerkt. Neben der Karte erstellten die || 30 Die Karte basiert auf einer Karte, die vom Oranienburger Archivar Herr Becker erstellt wurde. Die Digitalisierung wurde von der Stadt Oranienburg genehmigt.

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Teilnehmenden eine Timeline. Da der Weblog nicht über einen eigenen Webspace mit einer dazugehörigen Domain verfügte, war es nicht möglich, diese Timeline direkt in den Weblog zu integrieren. So waren wir auf ein externes Angebot angewiesen, auf das wir nur verlinken konnten. Dies ist ein generelles Problem, wenn man auf kostenfreie Weblogs im Netz zugreift. Es ist zwar sehr einfach, einen zu erstellen und das erzeugt keine zusätzlichen Kosten. Aber es ist weitaus schwieriger, die multimedialen Potenziale eines Weblogs auszuschöpfen. In vielen Fällen reicht es aus, doch Content Management Systeme für Weblogs wie WordPress bieten eine Fülle an Plugins und Tools an, die im Kontext des historischen Lernens genutzt werden können und die auf kostenfreien Plattformen nicht installiert werden können. Auch der Gestaltung des Weblogs sind viele Grenzen gesetzt. Allerdings bedarf es weitaus größerer Kenntnisse, solche Weblogs aufzusetzen und diese zu erweitern. Auch der spätere Support ist intensiver. In der Evaluation wurden in allen drei Seminaren das eigenständige Arbeiten und die Nutzung von Weblogs und Google Maps von den Teilnehmenden als positiv hervorgehoben. Das eigenständige Arbeiten war auch die Motivationsquelle über einen längeren Zeitraum einen Artikel zu schreiben. Die Teilnehmenden hatten das Gefühl, dass sie etwas gelernt haben, was sie auch über den Seminarkontext hinaus anwenden können. Die Auswertung der Quellen war für manche schwieriger als für andere. Durch die Arbeit mit den Quellen, die Ausstellungen und die eigene Darstellung von historischer Ereignissen und Personen wurde der Konstruktcharakter von Geschichte von den Jugendlichen bewusst wahrgenommen. Der Weblog hat eine gewisse Aufmerksamkeit erhalten, so hatte der Bürgermeister von Oranienburg einen anerkennenden Kommentar geschrieben.

3.2 Projekt: DP-Camp In diesem Projekt beschäftigten sich knapp zehn Jugendliche über vier Monate von Ende 2009 bis Anfang 2010 mit der Geschichte eines Displaced PersonsCamps im Süden Berlins. Anders, als bei dem zuvor beschriebenen Projekt dokumentierten die Teilnehmenden auf dem Weblog dpcamp.de nicht nur ihre Rechercheergebnisse, sondern auch ihren Lernprozess. So führten sie in regelmäßigen Abständen Audiointerviews mit Mitgliedern ihrer Gruppe durch, in denen sie über ihre Erfahrungen mit dieser Art des historischen Lernens berichteten. Ergänzend zur Quellenarbeit und zur Recherche im Internet, in Büchern etc. führten sie Audiointerviews mit zwei Expert_innen zu diesem Thema durch.

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Sie nutzten Google Maps, um eine historische Karte des Geländes über eine aktuelle Satellitenaufnahme zu legen. Durch die lange Projektlaufzeit war es möglich, die Jugendlichen in stärkerem Maße als die oben dargestellten Seminargruppen in der Gestaltung des Weblogs zu integrieren. Das Besondere an diesem Projekt war die heterogene Zusammensetzung der Gruppe. So waren Jugendliche aus verschiedenen Gymnasien und einer Förderschule beteiligt. Die Gruppe setzte sich zusammen aus Jugendlichen einer evangelischen Gemeinde in Berlin-Schlachtensee und aus Praktikant_innen des Medienkompetenzzentrums Düppel. Die Jugendlichen haben in allen Schritten gemeinsam gearbeitet und konnten dabei ihre jeweiligen Stärken nutzen. Da bei dieser Art von Projekten immer sehr unterschiedliche Aufgabenpakete anfallen ist eine Binnendifferenzierung möglich. Dies vereinfacht das Arbeiten in heterogenen Gruppen.

3.3 Projekt: Searching Traces of National Socialism Bei diesem Projekt recherchierten ca. fünfzehn Jugendliche und junge Erwachsene über zehn Tage zu dem Thema schwul-lesbische Verfolgung während des NS und dokumentierten die Ergebnisse auf dem Weblog queereurope.net. Es handelte sich um einen europäischen Austausch von queeren Menschen im Jahr 2007. Die Rekrutierung der Teilnehmenden erfolgte zum Teil auf Basis von Kontakten der Teamer_innen nach Estland, Tschechien und Niederlande. Ein anderer Teil waren Jugendliche aus betreuten Wohngemeinschaften in Berlin. Auch an diesem Projekt waren Jugendliche und junge Erwachsene mit unterschiedlichen Bildungsbiografien beteiligt. Ihre Aufgabenbereiche waren dementsprechend verschieden, so schrieben Studierende eher Texte und recherchierten eigenständig zusätzliche Themen, während jüngere Teilnehmende oder solche, die weniger geübt im Schreiben waren, Videos erstellten. Eines dieser Videos hatte den Besuch in der Gedenkstätte Sachsenhausen zum Thema, in dem anderen nutzten die Teilnehmenden diese Form, um das Projekt zu reflektieren. Auch hier waren die Jugendlichen und jungen Erwachsenen an der Gestaltung des Weblogs und bei der Erstellung der Medienprodukte beteiligt. Sie arbeiteten sich in das Content Management System ein, suchten nach Bildern im Internet, schlugen Themen vor und bearbeiteten diese eigenständig. Unser Ziel war es, den Teilnehmenden des Austausches möglichst viele Freiheiten bei der Bearbeitung des Themas zu geben.

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4 Fazit Die Beispiele zeigen, wie unterschiedlich Weblogs in der historisch-politischen Bildung eingesetzt und wie vielfältig dabei Recherche- und Arbeitsergebnisse präsentiert werden können. So wurden bei den vorgestellten Projekten Videos, Audios, Timelines, Karten, historische und aktuelle Fotos, Grafiken und natürlich Texte verwendet. Der Einsatz von Weblogs ist ein Motivationsmotor für Jugendliche und junge Erwachsene, sich länger mit einem Thema zu beschäftigen. Es handelt sich um ein jugendaffines Medium, auch wenn es im Alltag kaum genutzt wird, ist der Umgang damit für die Generation Facebook vertraut. Diese ist es gewohnt, Beiträge im Internet zu veröffentlichen und zu kommentieren. Die Nutzung von Weblogs fördert das kollektive und kollaborative Schreiben und das forschende Lernen. Durch den Schreibprozess findet eine intensive Auseinandersetzung mit den behandelten historischen Themen statt. Auch wird der Erwerb mehrerer Kompetenzen gefördert. Unterschiedliche Medien können selbst erstellt, eingestellt und unter Umständen von anderen Webseiten eingebunden werden. Durch die verschiedenen dabei zur Verwendung kommenden Medien kommen auch geschichtliche Inhalte unterschiedlich zur Darstellung; je nach Medium entsteht eine andere Geschichtsnarration. Durch die eigene Produktion der Medien wird den Teilnehmenden bewusst, wie sich das Geschichtsbild je nach Darstellungsart verändern kann. Dadurch zeigt sich auch der Konstruktcharakter von Geschichte. Die parallele Behandlung des Themas durch verschiedene Beiträge fördert die Multiperspektivität. Trotz der schnellen Entwicklung von Webtools werden Weblogs auch in der Zukunft eine Rolle spielen und sind somit in der Bildungsarbeit einsetzbar. Sicherlich wird sich die Art wie man sie konkret einsetzen wird in den nächsten Jahren verändern. Vielleicht werden die Darstellungen verspielter, wenn z.B. das Microblogging die „großen“ Blogs beeinflussen. Bestimmt werden die Darstellungen multimedialer und hoffentlich auch interaktiver.

Ulf Kerber

Medientheoretische und medienpädagogische Grundlagen einer „Historischen Medienkompetenz“ Die Ausbildung Jugendlicher ohne Berücksichtigung von Medienkompetenz und Medienbildung ist heute nicht mehr denkbar. Die Bedeutung der medialen Angebote und die Auseinandersetzung mit Medien ist eine zentrale Aufgabe für Bildungsträger geworden. Medienkompetenz ist ein wesentlicher Bestandteil der Forderungen der Vereinten Nationen1, der Europäischen Union2 und auch der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestags.3 Bundesländer wie z.B. Baden-Württemberg führen Medienbildung als Querschnittsaufgabe für alle Unterrichtsfächer ab 2015 ein.4 Dem Geschichtsunterricht wird dabei als „zentralem Fach“ eine besondere Rolle zukommen. Diese Zuweisung ist in den Augen des Autors berechtigt, denn Medien spielen im Geschichtsunterricht schon immer eine wesentliche Rolle. Doch lebensweltliche und medienpädagogische Zugänge im Umgang mit Medien und welche Erkenntnisse aus ihrer geschichtswissenschaftlichen Betrachtung und Analyse für das heutige Leben in einer Medien- und Kommunikationsgesellschaft erlernt werden können, finden in der Geschichtsdidaktik bislang kaum Berücksichtigung. Schon der Begriff des „Medium“ ist für die Geschichtsdidaktik nach heutigem Stand nicht klar umrissen. Der folgende Artikel widmet sich daher den Gründen, warum sich Geschichtsdidaktik mit Medienkompetenz auseinandersetzen muss und welche

|| 1 Vgl. Alexandria Proclamation der Vereinten Nationen zur Medienbildung (2005). Online unter: http://www.unesco.org/new/en/communication-and-information/access-to-knowledge/ information-literacy/ (23. Februar 2014). 2 Vgl. Rechtsakt der Europäischen Union. Empfehlung 2009/625/EG der Kommission vom 20. August 2009 zur Medienkompetenz in der digitalen Welt als Voraussetzung für eine wettbewerbsfähigere audiovisuelle und Inhalte-Industrie und für eine integrative Wissensgesellschaft. Online unter: http://europa.eu/legislation_summaries/information_society/strategies/ am0004_de.htm (23. Februar 2014). 3 Vgl. Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestags. Online unter: http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?fileToLoad=2944&id=1223 (23. Februar 2014). 4 Vgl. Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg: Bildungsplanreform 2015. Online unter: http://www.kultusportal-bw.de/,Lde/Startseite/schulebw/bildungsplan reform2015#Rahmenvorgaben (23. Februar 2014).

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gesellschaftlichen Veränderungen stattgefunden haben, die eine Diskussion über ein eigenes Medienkompetenzmodell für den Geschichtsunterricht notwendig machen. Er zeigt, dass der bisherige Medienbegriff der Geschichtsdidaktik für die heutigen Veränderungen nicht mehr greifen kann. In aller Kürze werden Einblicke in aktuelle Positionen zur Definition des Begriffs „Medium“ gegeben und es wird aufgezeigt, welche unterschiedlichen Medientheorien für die Geschichtsdidaktik von Bedeutung sind. Es wird auf die Positionen der Medienkompetenzforschung der Erziehungswissenschaft und der Medienpädagogik eingegangen und deren grundlegenden Absichten im Hinblick auf die Geschichtsdidaktik und deren Kompetenzmodelle aufgezeigt. Ziel hierbei ist es, aus der Vielzahl der Medienkompetenzmodelle ein Modell zu isolieren, das sowohl möglichst breite Schnittstellen zur Geschichtsdidaktik aufweist, als auch in der Medienpädagogik grundlegende Akzeptanz findet. Dieses Ziel sieht der Autor in den Kompetenzbereichen des Modells von Tulodziecki und den Forderungen der Länderkommission Medienbildung gegeben. Auch wenn an dieser Stelle nicht auf die Tiefenstruktur dieser Konzepte eingegangen werden kann, wurde auf diesen Grundlagen und aus den Forderungen der Geschichtsdidaktik bezüglich der zu fördernden historischen Kompetenzen ein eignes Medienkompetenzmodell für den Geschichtsunterricht entwickelt und hier vorgestellt.

1 Warum sich die Geschichtsdidaktik mit Medienkompetenz beschäftigen muss Unsere Gesellschaft ist einem permanenten medialen Wandel unterworfen. Es ist eine der dringlichen Aufgaben der Geschichtswissenschaft, diese Veränderungsprozesse aufzudecken, zu dokumentieren und zu rekonstruieren, um künftigen Generationen die Gewordenheit der Gegenwart und der Zukunft aufzeigen zu können. Der momentan stattfindende Wandel ist von epochaler Natur: Seit dem Ende der Gutenberg-Galaxie5 haben sich die Bedingungen für das Auffinden, Verarbeiten und Verbreiten von Informationen und Wissen6 grundsätzlich verändert. || 5 Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Bonn u.a. 1995. 6 Michael Giesecke: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie; mit einer CD-ROM mit dem Volltext des Buches sowie weiteren Aufsätzen und Materialien. Frankfurt am Main 2002. Giesecke beschreibt Wissen als Spezialfall von Information oder Information als systemspezifisch aufbereitete Daten und somit Zwischenprodukte des Wissens.

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Durch den „digitalen Wandel“7 vergrößerte sich der Bereich der Empfänger/Rezipienten von Informationen und Wissen in einem noch nie gesehenen Ausmaß. Der Bereich der Sender, also der Individuen oder Institutionen, die Informationen und Wissen zur Verfügung stellten, blieb jedoch noch relativ klein. Die Mediendistribution erfolgte weiterhin nach den bestehenden Regeln.8 Die als Web 2.0 bezeichnete Technologie, die ab Mitte der 2000er Jahre die technische Datenmanipulationen durch Nutzer im Browser zuließ, war der erste Schritt, der die bisherigen Medienbegriffe teilweise obsolet machte und nun die Medienwissenschaft zu einer stetigen Neudefinition und Neustrukturierung von Medien und Medientheorien zwingt. Dies ist bislang aber nicht hinreichend ausgeführt worden.9 Web 2.0 ermöglicht, dass Informationen und Wissen nicht nur zentral von sog. Türwächtern (Administratoren und Medienunternehmen) auf Seite traditioneller Medienproduzenten erstellt und verbreitet werden. Die Nutzenden selbst sind heute in der Lage, Themen und Inhalte aktiv mitzubestimmen, da sie den schon von Berthold Brecht10 in seiner Radiotheorie formulierten „Rückkanal“ zum Sender erhielten. Enzensberger11 griff bei seiner Medientheorie die Forderungen der Radiotheorie auf und formulierte die zentrale Bedeutung der Aufhebung der Trennung zwischen Sender (als Produzent) und Empfänger (als Konsument/Rezipient). Enzensbergers „emanzipatorischer Mediengebrauch“ geht grundlegend davon aus, dass jeder Empfänger auch Sender sein muss/sollte. Schicha12 fasst die Forderungen Enzensbergers unter Beachtung der kritischen Medientheorie zusammen, als Möglichkeit zur Mobilisierung der Massen, als Interaktion der Teilnehmer (Feed-back) und als kollektive Produktion. Alles stünde unter der gesellschaftlichen Kontrolle der Selbstorganisation. Hier werden die theoreti-

|| 7 Heinz Moser: Einführung in die Netzdidaktik. Lehren und Lernen in der Wissensgesellschaft. Baltmannsweiler, Zürich 2008 beschreibt die Entwicklung der Wissensgesellschaft, als einen Wandel der Verarbeitungssysteme von Informationen, der sich maßgeblich durch Techniken des Web 1.0 und Web 2.0 verändert hat (S. 30.). 8 Diese Regeln sind größtenteils nach Regeln der Gutenberg-Galaxie nachempfunden worden. Administratoren und Redakteure entscheiden über den gelenkten Zugang zum Netz. Im Netzjargon werden diese daher Doorkeeper (Türwächter) genannt. 9 Stefan Weber: Einführung: (Basis-)Theorien für die Medienwissenschaft. In: Stefan Weber (Hrsg.): Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus. 2. Aufl. Konstanz 2010, S. 15–48. 10 Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kritische Diskurse zur Pressefreiheit, hrsg. von Peter Glotz. München 1997. 11 Ebd. 12 Christian Schicha: Kritische Medientheorien. In: Stefan Weber (Hrsg.): Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus. 2. Aufl. Konstanz 2010, S. 104–123.

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schen Grundlagen von Web 2.0, Wikipedia, Blogformaten und Facebook vorformuliert. Zentral für die Geschichtsdidaktik ist bei Enzensberger, dass er eine nicht manipulierte Medienproduktion für unmöglich hält und dazu aufruft, Medien immer zu dekonstruieren13 und jeden zu einem potentiellen „Manipulateur“14 auszubilden.15 Die Nutzenden sind im Web 2.0 nicht mehr nur Consumer, sondern werden auch zum Producer und damit zum Prosumer, oder deutsch Prosumenten. Alle Formen der Medien- und Kommunikationstheorien sind unter den Bedingungen der Digitalität16 neu zu denken, wobei es nicht Ziel sein kann, die Qualitäten der Einzelmedientheorien zu vernachlässigen. Diese gesellschaftsund medienkulturellen Veränderungen durch die globale Digitalisierung und durch das Internet, als neues, spezifisches und epochales Leitmedium17 finden

|| 13 Michael Sauer: Medien im Geschichtsunterricht. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Schwalbach/Ts 2012, S. 85ff, hier S. 89: „[…] Dazu gehören Fernsehdokumentationen oder Spielfilme, Romane oder Zeitschriften, Ausstellungen oder Computerspiele. Zumindest exemplarisch sollte der Geschichtsunterricht Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, mit den Besonderheiten einzelner wichtiger Darstellungsformen umgehen zu können. Ziel ist gewissermaßen der mündige und kritische ‚Geschichtsverbraucher‘.“ 14 Anmerkung des Autors: Mediendekonstruktion ist für die Geschichtsdidaktik also im Hinblick auf Produktionsbedingungen, Sendungsbewusstsein und Medienanalyse zu erweitern. Manipulateur kann nur derjenige werden, der auch „aktiv“ Manipulieren kann. Medienkompetenz ist auch für die Geschichtsdidaktik eine Handlungskompetenz. Jeder Gebrauch der Medien setzt also Manipulation voraus. 15 Hans Magnus Enzensberger: Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kritische Diskurse zur Pressefreiheit, hrsg. von Peter Glotz. München 1997. Online unter: http://www.uni-due.de/ ~bj0063/doc/enzensberger.pdf (17. Februar.2014). Hieraus das Zitat: „Manipulation, zu deutsch Hand- oder Kunstgriff, heißt soviel wie zielbewusstes technisches Eingreifen in ein gegebenes Material. … Der Manipulation der Medien ist aber nicht durch alte oder neue Formen der Zensur zu begegnen, sondern nur durch direkte gesellschaftliche Kontrolle, das heißt durch die produktiv gewordenen Massen. Hierfür ist die Beseitigung der kapitalistischen Besitzverhältnisse eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Für den selbststeuernden und massenhaften Lernprozeß, den die elektronischen Medien ermöglichen, fehlt es bis heute an historischen Beispielen.“ 16 Michael Giesecke: Auf der Suche nach posttypographischen Bildungsidealen 2005. Online unter: http://www.michael-giesecke.de/giesecke/dokumente/250/Auf%20der%20Suche% 20nach%20posttypographischen%20Bildungsidealen_Pub.pdf (16. Mai 2013). 17 Georg Rückriem: Mittel, Vermittlung, Medium – Bemerkungen zu einer wesentlichen Differenz 2010. Online unter: http://shiftingschool.files.wordpress.com/2010/11/ruckriem_medien begriff.pdf, (06. Juni 2013).

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Eingang in zahlreiche Gesellschaftstheoreme.18 Beiträge zu einer Medienbildung unter den Bedingungen von Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik sind zwingend notwendig. Eine domänenspezifische Medienkompetenz für den Geschichtsunterricht wird bisher nicht als zentrales Thema behandelt, obwohl zahlreiche Forderungen an die Geschichtsdidaktik herangetragen werden.

1.1 Fachunabhängige Anforderungen an die Geschichtsdidaktik Zwei von außen an die Geschichtsdidaktik herangetragene Forderungen zeigen die Notwendigkeit sich mit Medienkompetenzen und Medienbegriffen auseinanderzusetzen: – Medienbildung und die Vermittlung von Medienkompetenz19 soll in allen Bundesländern Teil der Bildungsstandards werden, da Lebenswelten Medienwelten geworden sind.20 Zahlreiche Studien21 belegen die Dringlichkeit dieser Aufgabe. Dabei herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass Medienbildung als Querschnittsaufgabe in alle Schulfächer integriert werden soll.22 Jedoch bleibt unklar, welchen genauen Beitrag die einzelnen Fächer

|| 18 Hans-Dieter Kübler: Mythos Wissensgesellschaft. Gesellschaftlicher Wandel zwischen Information, Medien und Wissen; eine Einführung. Wiesbaden 2005, S. 89ff: Der Wandel der Kommunikation durch E-Mails, Handys/Smartphones, Chats kommt im Begriff der Kommunikationsgesellschaft zum Ausdruck. Die zunehmende Vernetzung drückt sich in Begriffen, wie „Connected Age“, „Digital Age“ oder „Nächste Gesellschaft“ aus. Zusammengefasst betrachtet, leben wir in der Mediengesellschaft. 19 Medienkompetenz ist explizit nicht auf den Begriff einer technischen Handhabung zu reduzieren. 20 Harald Gapski (Hrsg.): Medienkompetenzen messen? Verfahren und Reflexionen zur Erfassung von Schlüsselkompetenzen. Düsseldorf, München 2006, S. 13. 21 Elke Billes-Gerhart: Medienkompetenz von Lehramtsstudierenden. Eine empirische Beobachtung, Analyse und Interpretation der Orientierungs- und Bewertungsschemata von angehenden Lehrkräften. Göttingen 2009 und Elke Billes-Gerhart: Abduktive Kompetenz und Medienkompetenz. Eine Analyse des medialen Handelns von Jugendlichen und Lehrkräften. Göttingen 2005, vgl. auch: Sigrid Blömeke: Zur medienpädagogischen Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Folgerungen aus der aktuellen lern- und professionstheoretischen Diskussion. In: MedienPädagogik. Vgl. weiterhin Rudolf Kammerl/Sandra Ostermann: Medienbildung – (k)ein Unterrichtsfach? Eine Expertise zum Stellenwert der Medienkompetenzförderung in Schulen 2010. Online unter: http://www.ma-hsh.de/cms/upload/downloads/ Medienkompetenz/ma_hsh_studie_medienbildung_web.pdf, (03. August 2012). 22 Dies gilt unter Umständen auch für die Option, dass Medienbildung ein eigenes Unterrichtsfach werden soll: siehe die Pläne zu neuem Bildungsplan in Baden-Württemberg 2015.

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leisten können, die sich bei der Festlegung von Kompetenzbereichen und Feldern der Medienpädagogik unterwerfen müssen. Nur vereinzelt wurde Medienkompetenz und Medienbildung domänenspezifisch gewendet – z.B. im Fach Deutsch.23 Für den Bereich der Geschichtsdidaktik liegen bislang keine Konzepte vor. Neuere Lerntheorien müssen vermehrt in der Geschichtsdidaktik berücksichtigt werden. Sie gehen auf die Veränderungen beim Lernen mit digitalen Medien ein und zeigen die Art und Weise, wie gelehrt, aber auch gelernt werden soll, auf. Grundlegend ist hier der Konstruktivismus zu nennen, den Völkel24 für den Geschichtsunterricht erschlossen hat, der in der konstruktivistischen Medientheorie25 und bei Konzepten der Situiertheit26 ebenfalls eine entscheidende Rolle spielt. Beide Lerntheorien führen zu einer größeren Konzentration auf selbstgesteuertes und selbstreguliertes Lernen (z.B. Einbezug von Experten, Zeitzeugen oder Adressaten). Hier kommen Aspekte von synchroner und asynchroner Kommunikation zwischen Lernenden und dem Lerngegenstand/den Quellen ins Spiel. Gerade in diesem Bereich sind mit dem Konnektivismus (George Siemens) und dem Konnektionismus (Carl Breitner)27 neue Lernkonzepte entstanden.

Körber28 hat bei der Entwicklung des FUER-Kompetenzmodells postuliert, dass sich zukünftige Kompetenzmodelle der Geschichtsdidaktik als Bindeglied zwischen den Kompetenzen des historischen Denkens, den fachdidaktischen und pädagogischen Kompetenzen erweisen und diese zusammenführen müssen.

|| Als Ausgangspunkt für eine Recherche: Jochen Hettinger (2012). Online unter: http://www.lmzbw.de/medienbildung/aktuelles/mediaculture-online-blog/blogeinzelansicht/2012/ bildungsplan-2015-leitthema-medienbildung.html (23.02.2014). 23 Michael Staiger: Medienbegriffe, Mediendiskurse, Medienkonzepte. Bausteine einer Deutschdidaktik als Medienkulturdidaktik. Baltmannsweiler 2007. 24 Bärbel Völkel: Wie kann man Geschichte lehren? Die Bedeutung des Konstruktivismus für die Geschichtsdidaktik. Schwalbach/Ts 2002. 25 Stefan Weber: Konstruktivistische Medientheorie. In: Rainer Leschke (Hrsg.): Einführung in die Medientheorie. München 2003, S. 170–188, S. 178. 26 Jean Lave: Situated learning. Legitimate peripheral participation. Cambridge 1991 und Etienne Wenger: Communities of practice. Learning meaning and identity. Cambridge 2004. 27 Heinz Moser: Einführung in die Netzdidaktik. Lehren und Lernen in der Wissensgesellschaft. Baltmannsweiler, Zürich 2008. 28 Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 69.

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Das schließt auch implizit medienpädagogische Kompetenzen mit ein, vor allem wenn sie in den Bildungsplänen domänenspezifisch ausgeschrieben werden.

1.2 Forderungen seitens der Geschichtswissenschaft/-didaktik Auf dem Historikertag 2012 in Mainz wurde der Fragestellung nachgegangen: „Welche Medienkompetenz brauchen Historiker/innen?“29 Im Rahmen der konstruktiven Podiumsdiskussion wurden Fach-, Sach- und Themengebiete benannt, die, ausgelöst durch den digitalen Wandel, neue Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften erforderlich machen. Zu nennen sind u.a. (sic!): – Das Entstehen neuer Quellenformen (z.B.: E-Mail, Wikiartikel, Blogs). – Neue Verfahren zur Auf- und Verarbeitung in der Archivarbeit (Datenarcheologie). – Neue Verfahren zur Datengewinnung und Bearbeitung serieller Quellen (Data Mining, Data Driven History, Big Data). – Neue Wege der wissenschaftlichen Kommunikation (Social Media in der Forschung) und des Teilens empirischer Befunde und Resultate. – Neue Möglichkeiten für digitale Narration (Web 2.0 Tools), des gemeinschaftlichen Schreibens und Publizierens mit Hilfe kollaborativer Werkzeuge. – Neue Formen der Heuristik und Hermeneutik unter den Bedingungen der Digitalität.30 Die Beispiele zeigen deutlich, dass sich nicht nur die Bedingungen außerhalb der Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik mit Blick auf Geschichtsrezeption und in Folge, Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur gewandelt haben. Auch die Veränderungen durch neue Formen digitaler Heuristik und Hermeneutik, der Erschließung vollkommen neuer Tätigkeitsfelder und Modifikationen bei der Darstellung, Kommunikation und Produktion digitaler Inhalte, strahlen in die Geschichtsdidaktik aus. Medien müssen im fachdidaktischen Diskurs als || 29 Vgl. hist2011 – Geschichte im digitalen Wandel; http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ termine/id=16859 (17.06.2013). Ein Video zur Diskussion steht zur Verfügung. Online unter: http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/content.php?nav_id=3628 (17. Juni 2013), Teilnehmende: Prof. Dr. Frank Bösch, Prof. Dr. Anke te Heesen, Dr. Rüdiger Hohls, Dr. Sebastian Ullrich. 30 Daniel Bernsen/Alexander König/Thomas Spahn: Medien und historisches Lernen. Eine Verhältnisbestimmung und ein Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik 2012. Online unter: http://universaar.uni-saarland.de/journals/index.php/zdg/article/viewFile/294/358, (18. Juni 2013), S. 3f.

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integraler Bestandteil betrachtet und nicht mehr in erster Linie nur nach ihrer Historizität befragt werden – sie sind nicht nur als Vermittler zu sehen, da die mediale Präsentation auch den Inhalt des Dargestellten beeinflusst. Folglich muss auch die Medialität der Vergangenheits- und Geschichtspartikel berücksichtigt werden.31 Bei neuen Formen der Darstellung von Geschichte, wie sie uns alltagsweltlich begegnet, spielen neue Formen der Narration, wie sie Haber32 beschreibt, eine tragende Rolle. Besonders prägnant formulieren diesen Umstand Haas33 und Krameritsch.34 Gerade wegen der Begegnung mit Geschichte außerhalb der Schule wird eine Reflexion der verschiedenen Medien-Methoden notwendig.35 Die Bedingungen bei der Produktion von Kommunikations- und Präsentationsmedien36 müssen mediendidaktisch und historisch mitgedacht werden – gerade und vor allem seit der digitale Wandel zahlreiche neue Möglichkeiten der Kommunikation und Präsentation hervorgebracht hat.

2 Der geschichtsdidaktische Medienbegriff im Hinblick auf Medienkompetenz. Was ist bereits vorhanden – was fehlt? In der Geschichtsdidaktik besteht z. Zt. kein eindeutiges, wissenschaftliches Verständnis von Medien. Es gibt keine einheitliche und/oder allgemeingültige Mediendefinitionen und keine Medienbegriffsklärung. Neben Versuchen der || 31 Peter Haber: Anmerkungen zur Narrativität und zur Medialität von Geschichte im digitalen Zeitalter. In: Uwe Danker/Astrid Schwabe (Hrsg.): Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und neue Medien. Schwalbach/Ts 2008, S. 196–204, hier S. 199. 32 Ebd. 33 Stefan Haas: Vom Schreiben in Bildern. Visualität, Narrativität und digitale Medien in den historischen Wissenschaften. In: Holger Simon/Sabine Büttner (Hrsg.): Digitale Medien und Wissenschaftskulturen, Bd. 3 Köln 2006. Er hebt die Bedeutung der Hypermedien bei der Rezeption von Narrationen besonders hervor. Durch die Nonlinearität der medialen Repräsentation existieren mehrere Möglichkeiten, wie sich anschließende Informationen vom Rezipienten genutzt werden. Je mehr Links es z.B. in einem Text gibt, desto mehr unterschiedliche Lektüren entstehen dabei, die nicht vom Autor vorhersehbar waren. 34 Jakob Krameritsch: Herausforderung Hypertext. Online unter: http://www.zeitenblicke.de/ 2006/3/Krameritsch/index_html, (16. Juni 2013). Der Rezipient konstruiert sich eine eigene Realität des hypermedialen Textes. 35 Michael Sauer zitiert nach Körber/Schreiber/Schöner (Anm. 24), S. 132. 36 Ebd., S. 131–132: Körber bezieht sich hierbei auf die Präsentationskompetenz im Kompetenzmodell von Michael Sauer.

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Kategorisierung durch Sauer37 und Gies, haben Pandel/Schneider sich dem Thema Medien genähert, indem sie die für die Geschichtswissenschaft relevanten Bezugsgrößen auf historische Quellen und Darstellungen beziehen.38 Pandel/Schneider verweisen in ihrer Definition der Medien auf eine Einteilung Droysens in „Dokument“, „Monument“, erweitern sie um die „Historiographie“ und beschreiben den Begriff „Medium“ konstituierend als alles, was primäre- und sekundäre Aussagen über Vergangenheit macht.39 Jedoch sind nicht alle Medien gleichzeitig Quellen im Sinne der Geschichtswissenschaft. Die Zugehörigkeit wird über den Bezug der Authentizität, zwischen den Größen Realität und Fiktionalität, hergestellt. Die absolute Bezugsgröße ist der Begriff der „Zeit“, da die Geschichtswissenschaft zwischen den Dimensionen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sinnbildende Aussagen macht. Hierbei ist die Feststellung zentral, dass alles, was wir über die Vergangenheit wissen, medial vermittelt ist und dass Medium und Quelle in der Geschichtsdidaktik Begriffe von koexistenter Bedeutung sind.40 Dies erinnert stark an das Zitat von Luhmann: „Alles, was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“.41 Diese Sichtweisen zeigen die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Medienkompetenz. Denn wenn alles medial vermittelt ist, muss man auch die Werkzeuge in der Hand halten, um sich dieses Wissen, das in den Medien enthalten ist, zu erschließen. Das geht über die Interpretation von Inhalts- und Zeitbezügen weit hinaus. Gleichzeitig zeigt es auch, welche bedeutende Rolle dem Geschichtsunterricht bei der Vermittlung von Medienkompetenz innewohnen kann: Die Analyse, also die Re- und Dekonstruktion von Quellen, sprich Medien, ist eine zentrale Kompetenz der Geschichtsdidaktik. Das Aufdecken von Zeit- und Authentizitätsbezügen mittels Triftigkeiten ist ihr Alleinstellungsmerkmal; das Freilegen von Sinnbildungsmustern ein Werkzeug zur Transkription von Medienbotschaften. Die Narration ist Ausdruck persönlicher Sinnbildung und des historischen Bewusstseins. Der Medienbegriff der Geschichtsdidaktik basiert bislang auf Einzelmedientheorien. Medien werden in schriftliche, grafische, visuelle, akustische und

|| 37 Vgl. Sauer (Anm. 9). Medium als ein Sammelbegriff für alle audiovisuellen Mittel und Verfahren zur Verbreitung von Informationen, Bildern, Nachrichten etc. 38 Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht. 5. Aufl. Schwalbach/Ts. 2010, S. 8–12. 39 Ebd., S. 10. 40 Ebd., S. 7–8. Medium wird hierbei als der breitere, übergeordnete Begriff bezeichnet, der alles enthält, was primäre oder sekundäre Aussagen über Geschichte beinhaltet. 41 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 3. Aufl. Wiesbaden 2004, S. 8.

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gegenständliche Medien unterteilt, zusammen mit einem einseitigen Modell von Kommunikation,42 das keinen „Rückkanal“ beinhaltet – folglich auch keine Kommunikation zwischen Sender und Empfänger zulässt. Das ist womöglich der Grund, dass moderne, digitale Mediensysteme, die Elemente von Web 2.0 und dem ubiquitären Netz im didaktischen Diskurs nur nebensächlich kommuniziert werden. Diese Betrachtungsweise wird dadurch unterstützt, dass Medien nur im Hinblick auf ihre Authentizität oder Fiktionalität, auf den Zeitbezug in Quelle und Darstellung, auf ihre historische Sinnbildung und auf die Trennbarkeit ihrer Zugangskanäle hin definiert werden. Andere mediale Darstellungen werden nur als weiterer, kontextueller Beleg betrachtet43 und bei ihrer Untersuchung nicht medienspezifisch gewendet.44 Ein Rückgriff auf die genretypischen Merkmale alleine, wie das Pandel45 für seine Gattungskompetenz vorschlägt, wird nicht erwogen, wäre aber ein wichtiges Fragment bei der Frage nach medialer Inszenierung von Inhalten. Gleiches gilt für Pandels Zugang zu Bildmedien und die dabei formulierte Berücksichtigung visueller Zeichensysteme46 (vgl. den Pictoral47 und Iconic Turn48 in der Diskussion von Paul49, Hamann50 und Braun51

|| 42 Werner Faulstich: Einführung in die Medienwissenschaft. Probleme, Methoden, Domänen. München 2002, S. 35f. Faulstich benennt explizit die Geschichtswissenschaft, die die Mediengeschichte als Geschichte von Einzelmedien versteht. Es existieren methodische Handreichungen der Geschichtsdidaktik, zu Bildern, Filmen, Radioaufzeichnungen, etc. Medienfragen werden selten, oder gar nicht gestellt. Medien sind der gewählten Methode untergeordnet. 43 Vgl. hierzu Hans-Jürgen Pandel: Bildinterpretation. 2. Aufl. Schwalbach/Ts 2011, der auf dieses Problem selbst aufmerksam macht. 44 Gerhard Paul: Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung. In: Gerhard Paul (Hrsg.): Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006, S. 7–36, der auch am Beispiel der Bildquelle den Nachweis erbringt, dass die Geschichtswissenschaft eine „visuelle Literacy“ fördern muss. 45 Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula. Schwalbach/Ts 2005, S. 27ff. 46 Vgl. Pandel (Anm. 39). Pandel nutzt hier Begriffe aus der Visual Literacy, wie z.B. visuelles Gedächtnis, visuelle Rhetorik, visuelles Erzählen und visuelle Zitate etc. 47 William T. Mitchell: Der Pictorial Turn. In: Christian Kravagna (Hrsg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin 1997. 48 Willibald Sauerländer: Iconic Turn, Eine Bitte um Ikonoklasmus. Online unter: http:// www.youtube.com/watch?v=WDQofLtY_2k (24. Juli 2013). 49 Gerhard Paul (Hrsg.): Visual History. Ein Studienbuch. Göttingen 2006. 50 Christoph Hamann: Visual History und Geschichtsdidaktik. Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung. Herbolzheim 2007. 51 Nadja Braun: Visual History – Bilder machen Geschichte 2008. Online unter: http://www2. hu-berlin.de/nilus/net-publications/ibaes10/publikation/braun_ibaes10.pdf, (01. Juni 2013).

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über eine Visual History). Ähnliches findet man bei Meyers52 zu Film und Dokumentation. Es kann also gesagt werden, dass der Geschichtsdidaktik noch keine ausreichenden Analysescripts für die vielen, zum Teil neuen und unterschiedlichen Symbolsysteme53 und deren unterschiedlichen Sinnesmodalitäten54 und Codes ausgeprägt hat. Geschichtsdidaktik und Medien- und Kommunikationswissenschaften haben ein wesentliches Ziel gemeinsam: Über die Auseinandersetzung mit Quellen/Medien sollen Lernende lernen, in Gegenwart und Zukunft quellen- und medienkritisch mit Informationen umzugehen. Die Medien- und Kommunikationswissenschaften und die Geschichtsdidaktik können sich dabei unterstützen, ihre Verfahrensskripts wechselseitig zu ergänzen. Die Medien- und Kommunikationswissenschaften haben verschiedene Methoden der Medienanalyse entwickelt, die die Rolle der Rezipienten intensiv untersuchen (z.B. bei der rezipientenorientierten Medienanalyse, dem „encoding/decoding“-Modell oder bei der Diskursanalyse). Beide Bereiche wenden Verfahren der Hermeneutik an. Die Geschichtsdidaktik kann ihre fachspezifischen Verfahren der Quellenanalyse einbringen, die z.B. Sehpunkt, Perspektivität, Alterität und Zeitbezug beachteten und somit die Rolle des Produzenten untersuchen. Veränderungen und Kontinuität im Wandel der Zeit sichtbar zu machen und darzustellen, sind konstitutiv für ein Geschichtsbewusstsein und folglich für die Geschichtskultur. Doch die Rolle und der Einfluss der Medien hierauf werden unterschätzt. Räumlichkeit und Temporalität als Kategorien des Geschichtsbewusstseins sind durch Medien in ihrer Wahrnehmung manipulierbar, da Medien Raum und Zeit überwinden, verändern und beeinflussen können. Medien konstruieren eigene Zeitvorstellungen, z.B. durch Zeitlupe oder Zeitsprünge und eigene Raumvorstellungen. Diese werden, nach Hickethier, durch

|| 52 Peter Meyers: Film im Geschichtsunterricht. Realitätsprojektionen in deutschen Dokumentar- u. Spielfilmen von d. NS-Zeit bis zur Bundesrepublik; geschichtsdidaktische u. unterrichtspraktische Überlegungen. Frankfurt am Main 1998. Meyers hat hier entscheidende Grundlagen geschaffen. Hier wird bereits der Versuch unternommen, sich dem Thema mit den Mitteln der Medienwissenschaften zu nähern. Weitere Auseinandersetzungen finden sich auch bei Britta Almut Wehen: „Heute gucken wir einen Film“. Eine Studie zum Einsatz von historischen Spielfilmen im Geschichtsunterricht. Oldenburg 2012. 53 Bernd Weidemann: Multicodierung und Multimodalität im Lernprozess. In: Ludwig J. Issing/Paul Klimsa (Hrsg.): Information und Lernen mit Multimedia und Internet. Lehrbuch für Studium und Praxis. 3. Aufl. Weinheim 2002. 54 Mit Sinnesmodalitäten sind die entsprechenden Sinneskanäle bezeichnet, die durch die Rezeption eines Mediums genutzt werden. Diese können zusätzlich noch durch spezielle Symbolsysteme kodiert sein.

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die „Modellierung des Menschen durch die Medien“55 zu eigenen Kommunikationsräumen, in denen Menschen im Bereich Zeitgefühl, Emotionen, Hierarchien der Weltwahrnehmung und Verhaltensmustern medial geprägt, vielleicht sogar konditioniert werden. Die medial vermittelte Welt ist eine durch und aus Zeichensymbolen bestehende Welt. Diese Aspekte können bei der historischen Sinnbildung an Quellen aus der Vergangenheit nicht unberücksichtigt bleiben. Sie stellen Zeitbezüge dar und haben Auswirkungen auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Lernenden. Normative Triftigkeit muss die mediale Wahrnehmung in der jeweiligen Zeit berücksichtigen56. Ziel soll sein, historisch denken zu lernen57 – auch über Medienwahrnehmung und Medienerfahrung. Das bekannte Zitat von McLuhan: „Das Medium ist die Botschaft“58 sagt aus, dass nicht nur der Inhalt einer medial vermittelten Botschaft untersucht werden muss, sondern dass gerade das Medium selbst, durch seine Charakteristiken und spezifischen Eigenschaften beim Rezipienten, den wahrgenommenen Inhalt direkt beeinflusst. Hieraus hat sich ein eigenständiger Zweig der Medienwirkungsforschung entwickelt.

1.3 Medienwirkung und Kommunikationsabsicht von (digitalen) Medien als neue Handlungsfelder für die Geschichtsdidaktik Welche Auswirkungen hat es, wenn heute historische Aussagen über mehrere verschiedene Medienarten, z.B. in digitalen Mediensystemen, gleichzeitig verteilt werden? Wie bedingen und beeinflussen diese sich gegenseitig bei Produktion und Rezeption? Wie verhält es sich, wenn es plötzlich einen digitalen Rückkanal gibt und wie, wenn mehrere Autoren, mit unterschiedlichen Sinnbildungen zusammenarbeiten? Unterschiedliche Medien benutzen unterschied-

|| 55 Vgl. Knut Hickethier: Medienkultur; zitiert nach Michael Staiger: Medienbegriffe, Mediendiskurse, Medienkonzepte. Bausteine einer Deutschdidaktik als Medienkulturdidaktik. Baltmannsweiler 2007. Hier: S. 41 56 Anmerkung des Autors: Ableitung auf historischen Medienkompetenzbereich 4 (s. Kapitel 5) – Einflüsse von Medien auf damalige und heutige Geschichtskultur und das Geschichtsbewusstsein. 57 Vgl. Körber/Schreiber/Schöner (Anm. 24). Dieses Ziel hat sich als allgemeingültig herausgestellt. Nicht erst seit es die KGD mit dem FUER Kompetenzmodell ausformuliert hat. 58 Marshall McLuhan: Understanding media: The extensions of man. Cambridge 1994 (Original 1964).

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liche Modi, Symbole und Codes. Möchte man Informationen und Wissen „auslesen“, muss der kompetente Umgang mit den einzelnen Symbol- und Codesystemen beherrscht werden, wie ihn auch Weidemann59 definiert.60 Darüber hinaus müssen Elemente einbezogen werden, die die Geschichtsdidaktik bislang nicht für sich eingenommen hat, um sich zu versichern, welche Wirkungen diese bei Rezipienten haben und unter welchen Zwängen beispielsweise die Produzierenden standen. Zu nennen sind z. B. Analysebereiche der Medienkompetenzmodelle bei Tulodziecki61 und Baacke62, z.B. Produktionsbedingungen, Kameraperspektiven, Bildschnitt, etc. Hinzu kommen Begriffe der Psychologie, wie Bildüberlegenheitseffekt und Modalitätseffekt63, aber eben auch Elemente der Semiotischen Medientheorie und deren Medienbegriff, die sich der Wirkung und Interpretation der Zeichensysteme wissenschaftlich nähert. Laut Rosa64 sind alle Theorien und Regeln der Kommunikationsmedien, die die Gesellschaft entwickelt hat, zugleich im aktuellen Leitmedium aufgehoben und enthalten. Wenn es durch die Abkehr von der Buchkultur kein einzelnes Leitmedium mehr gibt/geben soll65, dann ist die Auswahl für die Informationsbeschaffung, bzw. für die Informationsverarbeitung und den Informationstransfer, eine neue, zentrale Aufgabe von Didaktik allgemein, die domänenspezifisch gewendet werden muss. Dies ist ein weiterer Aspekt für eine Heuristik – bzw. für eine Recherche- und Bewertungskompetenz im digitalen Zeitalter.

|| 59 Vgl. Weidemann (Anm. 49). 60 Vgl. Pandel/Schneider (Anm. 34), S. 11–12: Pandel/Schneider greifen zumindest Teilelemente auf und formulieren sie als „Medien im Hinblick auf Mehrsinnigkeit“, als eine Auseinandersetzung mit Dekodierung auf den Ebenen von Handlungsgebundenheit, bildbezogenen und symbolbezogenen Elementen. 61 Gerhard Tulodziecki: Medienerziehung in Schule und Unterricht. Bad Heilbrunn/Obb 1989. 62 Dieter Baacke (Hrsg.): Handbuch Medien: Medienkompetenz. Modelle und Projekte. Bonn 1999. Beide letztgenannten Autoren haben mit ihren Medienkompetenzmodellen den derzeit größten Einfluss auf die Entwicklung von Bildungsplänen. Deren Vorgaben werden dann auch auf die einzelnen Fächer übertragen, wie z.B. den Geschichtsunterricht. 63 Vgl. Weidemann (Anm. 49). 64 Lisa Rosa in ihrem Blogbeitrag (Online unter: http://shiftingschool.wordpress.com/2013/ 03/11/was-ist-das-dings-und-was-bedeutet-es-fur-die-geschichtsdidaktik-anmerkungen-zurtagung-geschichte-lernen-digital/ (20. Juni 2013) in Bezugnahme auf Michael Giesecke. 65 Vgl. Giesecke (Anm. 12), S. 9.

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1.4 Neuer, einheitlicher Medienbegriff für die Geschichtsdidaktik? In den vorhergehenden Artikeln wurde gezeigt, welche Punkte für die Geschichtsdidaktik durch das gestiegene Interesse bei der Auseinandersetzung mit Medien relevant wurden und welche Faktoren beim digitalen Wandel zwingend bedacht werden müssen. Die einzelnen Kompetenzbereiche, die für ein Medienkompetenzmodell für die Geschichtsdidaktik wichtig sind, kommen aus ganz unterschiedlichen, wissenschaftlichen und psychologischen Bereichen. Eine einheitliche Definition, um was es sich handelt, wenn von „Medien“ gesprochen wird, hängt von der jeweiligen wissenschaftlichen Fachrichtung ab. Ein einheitlicher Medienbegriff ist für die Geschichtsdidaktik daher kaum zu finden. Dies ist nicht einmal der Medien- oder Kommunikationswissenschaft gelungen.66 Medien definieren sich nach Böhn/Seidler67 in jedem fachwissenschaftlichen Diskurs jeweils anders – je nach Sichtweise der betreffenden Domäne. Es gibt somit unterschiedliche Medienbegriffe und für die Geschichtsdidaktik wäre es wichtig, sich nicht auf eine Sichtweise einzuengen, sondern die eigenen Bedürfnisse aus dem Fach heraus zu reflektieren und mit den Anforderungen seitens der Politik, Gesellschaft und Erziehungswissenschaft abzugleichen.

3 Vergleich von Mediendefinitionen und Medienkompetenzmodellen und deren Einfluss auf die Entwicklung einer historischen Medienkompetenz Es gibt nach Gapski68 über hundert verschiedene Modelle zur Festlegung von Medienkompetenz. Ein Kompetenzmodell, das sich in Nähe und Passung zur Geschichtsdidaktik befindet, kann ein enormer Vorteil und Einfluss für die Grundlegung eines eignen Modells sein. Weiterhin gilt es ein Modell zu finden, das sich in bestehende Modelle historischer Kompetenzorientierung, wie z.B. dem FUER Modell oder den Konzepten von Gautschi oder Pandel, anbinden lässt und Teilkompetenzen subsumieren kann.

|| 66 Vgl. Faulstich (Anm. 38), S. 19. 67 Andreas Böhn: Mediengeschichte. Tübingen 2008, S. 16. 68 Vgl. Gapski (Anm. 16), S. 13–28.

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Dabei darf grundsätzlich nicht von einem alltagsweltlichen oder universellen Begriff von Medium ausgegangen werden. Lässt man diese Definition zu, ist eigentlich fast alles ein Medium, so z.B. Wasser, Geld, Liebe und auch Metaphern, wie Sprache, Literatur und Musik. Faulstich charakterisiert den Begriff Medium nach fachspezifischen Konzepten der Medienwissenschaft und definiert Medien als Kommunikationskanal zwischen Sender und Empfänger, dem ein charakteristisches Zeichensystem zugeordnet ist. Dabei ist die Feststellung hervorzuheben, dass jedes Medium einem geschichtlichen Wandel unterliegt und in unterschiedlichen Epochen eine je unterschiedliche, sich verändernde Relevanz oder Dominanz innehaben kann.69 Hier greift die Medienwissenschaft einen weiteren, zentralen Aspekt des Instrumentariums der Geschichtswissenschaft auf. Mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft, die Veränderung und Kontinuität von Medien zu verschiedenen Zeiten der Menschheitsgeschichte aufzuzeigen, wird somit für beide Wissenschaftsbereiche zentral. Wie haben Menschen Informationen und Wissen kommuniziert, wie verbreitet und wie wurden diese rezipiert?70 Weiterhin muss nach Lagaay/Lauer 2004 eine Definition des Begriffs „Medium“, in drei Bedeutungsvarianten aufgeteilt werden: als „Mitte“, als „Mittler“ und als „Mittel“ im Sinne einer finalen Vermittlung mehrerer Objekte auf einen Zweck hin, also als Instrument bzw. Werkzeug.71 Faulstich72 unterteilt bei seiner Operationaldefiniton alle bekannten Kommunikationsmedien in vier mögliche Gruppen: die Primärmedien (Menschmedien), die Sekundärmedien (Schreibund Druckmedien), die Tertiärmedien (elektronische Medien) und die Quartärmedien (digitale Medien).73 Diese Definition bietet eine gute Arbeitsgrundlage für eine weitere Theoriebestimmung. Sie berücksichtigt aber nicht die neuesten Technologien, die, ausgelöst durch die Entwicklung des Web 2.0 und des ubiquitären Webs, in der Lage sind, alle Gruppen im Quartärmedium zu vereinen. Wichtig für die Ausprägung eines geschichtsdidaktischen Medienbegriffs ist die Unterscheidung zwischen Theorien der Medienwissenschaften und der Kommunikationswissenschaften, da diese an unterschiedliche Wissenschaftstraditionen anknüpfen.74 In diesem Beitrag wird nur auf Theorien verwiesen, die || 69 Vgl. Faulstich (Anm. 38), S. 23–26. 70 Anmerkung des Autors: Historische Kompetenzbereiche „Erkennen und Aufarbeiten von Medieneinflüssen“ und „Bedingungen der Medienproduktion und Medienverbreitung“ von Tulodziecki müssen/können historisch gewendet werden und tragen somit zur Orientierungskompetenz in Gegenwart und Zukunft bei. 71 Vgl. Staiger (Anm. 50), S. 44. 72 Vgl. Faulstich (Anm. 38), S. 24–26. 73 Ebd., S. 25. 74 Anmerkung des Autors: Dies ist im Rahmen dieser Arbeit nicht umfänglich möglich.

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aus der Perspektive der Geschichtsdidaktik für die Konkretisierung des Medienbegriffs und der Medienkompetenz am ertragreichsten erscheinen (s. Tabelle 1). Keines dieser Konzepte berücksichtigt den digitalen Wandel und die Medienkonvergenz in ausreichendem Maße. Eine anerkannte Theorie der Neuen Medien, bzw. der Digitalität, die bisherige Medientheorien aufgreift und mit dem „Neuen“ aussöhnt, gibt es nach Weber75, bislang nicht. Tab. 1: Medientheorien mit Relevanz für die Geschichtsdidaktik Medienbegriff

Warum für Geschichtsdidaktik relevant?

Informationstheoretischer Medienbegriff und Kommunikationsmodell

Erklärt die noch immer stakte Präsenz der Theorie, dass Medien nur Container und Transportwege von Informationen darstellen (Modell von Shannon/Weaver). Es bricht Kommunikation auf ein einfaches Modell herunter, das auch in der Geschichtsdidaktik den wichtigen Prozess der Kommunikation zwischen Sender, Medium und Empfänger einzuführen hilft.

Kommunikationsund publizistikwissenschaftlicher Medienbegriff

Entscheidender Beitrag ist das Feldschema der Massenkommunikation nach Maletzke, das von Faulstich erweitert wurde. Für die Geschichtsdidaktik wird hier deutlich, dass Information und Inhalt durch das Medium beeinflusst werden.

Zeichentheorien der Medien

Die Semiotik beschäftigt sich mit den verbalen, nonverbalen, visuellen und kulturellen Aspekten der Medien. Diese Medientheorie ist gerade unter den Aspekten der Konvergenz und Digitalität von bestimmender Bedeutung, analysiert sie doch kommunikative Prozesse zwischen Menschen mittels Medien. Visuelle Kompetenzen und die Sprache der Medien sind für das historische Lernen unabdingbar.

Ökonomischer Medienbegriff

Die Medienökonomie untersucht den Zusammenhang, Funktion und die Bedeutung der Informationssysteme und wie deren Güter produziert, verteilt und konsumiert werden. Diese Zwangs- und Einflusssphären interferieren bei der medialen Kommunikation erheblich und sind einem kontinuierlichen, als auch historischem, Wandel unterworfen. Medien beeinflussen die menschliche Wahrnehmung. Doch im Gegenzug sind auch Medien bei ihrer Produktion ökonomischen Interessen unterworfen.

Konstruktivistische Bildet eine Gegentheorie zu Luhmanns Systemtheorie und zur ContaiMedientheorien ner/Transporter-Theorie. Es wird von einer Subjektabhängigkeit der Wirklichkeitskonstruktion ausgegangen, sowohl beim Produzenten, als auch beim Rezipienten, die den Begriff der Realität ausschließt. Schlagworte, wie Selektivität, Perspektivität und Konstruktivität spielen, ähnlich wie die Merkmale des historischen Narrativierens, eine entscheidende Rolle.

|| 75 Stefan Weber (Hrsg.): Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus. 2. Aufl. Konstanz 2010, S. 9–10.

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1.5 Die Rolle der Erziehungswissenschaft im Mediendiskurs Bislang wurde die Position der Erziehungswissenschaften in Bezug auf Medien nicht berücksichtigt. Sie spielt eine besondere Rolle, da sie den Einsatz von Medien als Lehr-Lernmittel, die Bedingungen des Medieneinsatzes im Unterricht und den Einfluss auf Lernende, untersucht. Auch in der Geschichtsdidaktik besteht die Dualität zwischen Medien als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis und als Lehr-Lernmittel. Laut Staiger sieht die Didaktik die Rolle der Medien vornehmlich als Träger und Vermittler von Informationen und Wissen in Lehr-Lernprozesse (Unterrichtsmedien).76 Daran hat sich bislang wenig geändert, wie sich auch in der Geschichtsdidaktik zeigt. Trotzdem hat sich bei der pädagogischen Auseinandersetzung mit dem immer größer werdenden Spektrum an Massenmedien eine eigenständige Disziplin innerhalb der Erziehungswissenschaft herausgebildet, die sich mit Medienbegriffen, Medienwirkungen und Medienkompetenzen beschäftigt – die Medienpädagogik. Medienpädagogik ist als Sammelbegriff zu verstehen. Dabei wurde bei einer anfänglichen Definition des Begriffes zu kurz gegriffen, da einerseits nur die Aufgabe in der Reflexion der Rolle von Medien im Erziehungsfeld gesehen wurde oder andererseits Menschen zu einer sachgerechten Teilnahme an der öffentlichen, medialen Kommunikation befähigt werden sollten. Tulodziecki sieht darin die Begründung, warum alternative Begriffe, wie Mediendidaktik, Medienerziehung, Medienbildung und Medienkunde aufkamen,77 die jeweils eigene Schwerpunkte ausbildeten. Der Begriff der Medienkompetenz leitet sich aus dieser langen Entwicklung ab und muss bei der Erarbeitung eines geschichtsdidaktischen Medien- und Kompetenzbegriffs berücksichtigt werden.

|| 76 Vgl. Staiger (Anm. 50), S. 70. 77 Gerhard Tulodziecki: Zur Entstehung und Entwicklung zentraler Begriffe bei der pädagogischen Auseinandersetzung mit Medien. In: Heinz Moser (Hrsg.): Medienbildung und Medienkompetenz. Beiträge zu Schlüsselbegriffen der Medienpädagogik. München 2011, S. 11–39, hier S. 12.

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Medienkompetenz Wissen

Bewerten – Funktionswissen – Strukturwissen

– Kognitive Analyse – Ethisch-kritische Reflexion

Orientierungswissen

– Mediennutzung – Mediengestaltung – Medienpartizipation

Handeln Abb. 1: Metaanalyse von Medienkompetenzfeldern verschiedener Autoren.

Lassen sich aus der Vielzahl an Kompetenzmodellen gemeinsame Grundelemente herausstellen? Herzig und Grafe78 beleuchten, basierend auf Gapski, die Kompetenzfelder, die für medienkompetentes Handeln wichtig sind. Dabei identifizieren sie zwei Bereiche: 1. Bereich: Wissen über und Beurteilung von Medien und die intellektuelle Auseinandersetzung mit ihnen über die möglichen Probleme und Gefährdungen ihres Einsatzes. 2. Bereich: Übung spezifischer Handfertigkeiten im Sinne einer Handlungskompetenz, die ein grundlegendes, technisches Verständnis voraussetzt.

|| 78 Bardo Herzig/Silke Grafe: Entwicklung von Bildungsstandards für die Medienbildung – Grundlagen und Beispiele. In: Bardo Herzig (Hrsg.): Medienkompetenz und Web 2.0. Wiesbaden 2010, S. 103–120.

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Schorb79 gibt ebenfalls eine Beschreibung der Metaebene von Medienkompetenzfeldern und identifiziert Medienwissen, Medienbewerten und Medienhandeln als die Rahmung von Medienkompetenz (siehe Abbildung 1).

4 Verbindungen der Medienkompetenz mit den Strukturen und Kompetenzbereichen historischen Lernens/Denkens Historische Medienkompetenz soll historisches Denken und Lernen befördern und Lernenden ermöglichen, Produkte vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger medial vermittelter Geschichtskultur reflektiert entgegentreten zu können. Sie folgen einer Matrix, die basierend auf Rüsen, als Prozessmodell historischen Denkens u.a. durch Hasberg/Körber definiert wurde. Alle Bereiche dieser Matrix sind mit historischen Sachkompetenzen verknüpft. Sie definiert das Verfügen über Prinzipien, Kategorien, Konzepte und Verfahrensskripts, die notwendig sind, um mit den Ergebnissen der Prozesse des historischen Denkens umzugehen.80 Ähnlich bauen auch Gautschi, Hodel und Utz ihr Kompetenzmodell auf, das auf Jeismann und Rüsen beruht. Hier wird der historische Lernprozess als eine Reihe von Sachanalysen und Sachinterpretationen gesehen, die in ein Werturteil münden,81 die sich ihrerseits als geschichtskulturelle Kompetenz ausbildet und verschiedene, ästhetische Ausdrucksformen annehmen kann.82 In diesem Bereich setzt eine historische Medienkompetenz an. Auch medial vermittelte Darstellungselemente, ob abbildhaft oder symbolisch oder real, verbal oder non verbal, sind historisch geworden, haben eine spezifische, historisch gewordene Fachsprache die sich in Prinzipien und Kategorien der Menschen manifestiert

|| 79 Bernd Schorb: Zur Bedeutung und Realisierung von Medienkompetenz. In: ders./Niels Brüggen/Anke Dommaschk (Hrsg.): Mit eLearning zu Medienkompetenz. Modelle für Curriculumgestaltung, Didaktik und Kooperation. München 2007, S. 15–34. 80 Waltraud Schreiber: Geschichte im Film. Beiträge zur Förderung historischer Kompetenz. Neuried 2006, S. 29. 81 Peter Gautschi/Jan Hodel/Hans Utz: Kompetenzmodell „Guter Geschichtsunterricht“. Eine Orientierungshilfe zur Angebotsplanung für Lehrerinnen und Lehrer 2009. Online unter: http:// www.gymlaufen.ch/fileadmin/pdf/was/oa11/oa11_2011/Kompetenzmodell-Geschichte-OA 2011.pdf, (29. Juni.2013), S. 2. 82 Vgl. Pandel (Anm. 41), S. 40.

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hat. Mit entsprechenden Verfahrensskripts und Konzepten können diese decodiert werden – denn auch die „Sprache der Medien“ hat sich epochenspezifisch entwickelt und gewandelt. Fragen an die Vergangenheit sind ohne die Berücksichtigung medialer Einflüsse kaum denkbar. Verändert sich die Wahrnehmungsweise, verändert sich auch die Art der Informationen, die für eine Narration benötigt und gesammelt83 werden und diese beeinflussen somit die Fragekompetenz. Ohne das Wissen über die mediale Rezeption und Produktion einer Quelle, ohne die „Sprache der Medien“, ohne die Wirkungen und Auswirkungen der Digitalität, kann eine sinnvolle und zeitgemäße Re- und Dekonstruktion von Vergangenheit in Form von Darstellungen nicht stattfinden.84 Nur wer die jeweiligen Rezeptionswirkungen und Produktionsabsichten kennt, kann die Medienwirkung epochenspezifisch wenden. Wie sich Lernende (selbst-)reflexiv mit der eigenen medial geprägten Gewordenheit auseinandersetzen und auch die anderen und kontrastierenden Wahrnehmungen anderer Menschen verstehen sollen, hat Einfluss auf die Orientierungskompetenz. Die Einflüsse von Medien auf die Gegenwart Lernender verändern deren Lebenswirklichkeit. Sauerländer behauptet, dass eine Verlagerung der sprachlichen Information auf die visuelle, vom Wort auf das Bild und vom Argument auf das Video85 stattgefunden habe. Die Medien primärer Nutzung von Jugendlichen sind heute vorwiegend Internet, Handy und Fernseher.86 Unter Jugendlichen ist das Video-Portal Youtube die am häufigsten genutzte Suchmaschine87 – noch vor Google. Bei Google wird ebenfalls sehr häufig zuerst über die Bildersuche nach Informationen und Wissen gesucht. Youtube ist die

|| 83 Vgl. Giesecke (Anm. 12). 84 Eine genauere Anbindung an verschiedene Modelle der Kompetenzorientierung kann an dieser Stelle nur angedeutet werden. Eine Einbindung an Modelle von Gautschi, Hodel, Utz oder an das FUER Modell ist ohne Zweifel denkbar. Wie beim FUER Modell auch, würden Pandels Kompetenzbereiche der Interpretationskompetenz, der Gattungskompetenz und der geschichtskulturellen Kompetenz Teilbereiche einer historischen Medienkompetenz bilden. Die narrative Kompetenz bildet die Rahmung. 85 Vgl. Sauerländer (Anm. 44). 86 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest: JIM 2012 Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland 2012. Online unter: http://www.mpfs.de/fileadmin/JIM-pdf12/JIM2012_Endversion.pdf, (29. Juni 2013), S. 12. 87 Fakten zu Youtube: Jede Minute werden mehr als 80 Minuten Videos auf Youtube hochgeladen. Das ist in drei Monaten mehr Material, als alle großen US Fernsehsender zusammen in 40 Jahren an neuem Material ausgestrahlt haben. Vier Milliarden Videos werden jeden Tag abgerufen. Vgl. Statistik der Youtube Nutzung. Online unter: http://www.youtube.com/yt/ press/de/statistics.html (25.02.2014).

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zweitgrößte Suchmaschine der Welt. Das Angebot an Inhalten über Geschichte ist nahezu grenzenlos88, mitsamt den geschichtsrevisionistischen, hetzerischen und polemisierenden Inhalten, die Lernenden unkommentiert zur Verfügung stehen. Lernende bei der Decodierung solcher und anderen medialen Entgleisungen zu stützen und zu fördern, ist auch Aufgabe des Geschichtsunterrichts und damit Teil einer historischen Medienkompetenz.89 Die Medienkompetenzforschung der Erziehungswissenschaften eröffnen dem Fach Geschichte neue Perspektiven, wenn die Geschichtsdidaktik in der Lage ist, das Thema als Chance für ihre eigene Existenzberechtigung zu begreifen. Hierfür ist es wichtig, sich von den Fächern Musik, Kunst und Deutsch abzusetzen, die bislang eher im Fokus der Aufmerksamkeit durch die Medienpädagogik standen. Das Fach Geschichte wird bislang nicht als Ort der Analyse einer medial vermittelten Vergangenheit gesehen, sondern lediglich als Ort der Vermittlung von bedeutenden Jahreszahlen. Dieser Auffassung soll mit einem eigenen Medienkompetenzmodell entgegengetreten werden.

5 Kurzdarstellung des Modells historischer Medienkompetenz für den Geschichtsunterricht unter Bezugnahme auf Tuldoziecki90 Werden alle relevanten Aspekte, die in den Kapiteln 2–4 aufgelistet wurden, zusammengeführt und mit den Kompetenzmodell von Tulodziecki verglichen,

|| 88 Eine Suchanfrage bei Youtube mit dem Stichwort „Geschichte“ bringt 964.000 Ergebnisse. 89 Bodo von Borries: Unterrichtsplanung-Artikulationsschemata-Lehrervorbereitung. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd. 2 Schwalbach 2012, S. 181–224, hier S. 188: „Die bewusste, methodensichere, abwägende Nutzung massenmedialer Angebote zur Geschichte ist eine wichtige Kompetenz, wie immer sie gerade genannt wird: ‚Gattungskompetenz‘, ‚De-Konstruktion‘, ‚Teilhabe an Geschichtskultur‘, ‚Medienkompetenz‘. Diese Aufgabe des Geschichtsunterrichts hat dieselbe Dringlichkeit wie die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Massenverbrechen (erst recht anderen, ‚normaleren‘ Themen!).“ 90 Gerhard Tulodziecki: Medienbildung – welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler im Medienbereich erwerben und welche Standards sie erreichen sollen 2007. Online unter: http:// www.uni-paderborn.de/fileadmin/kw/institute-einrichtungen/erziehungswissenschaft/ arbeitsbereiche/herzig/downloads/tulodziecki/Standards_Medienbildung.pdf, (19. September 2012), S. 13–24.

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ergeben sich erhebliche Korrelationen bezüglich einer gemeinsamen Zielrichtung. Die Ziele der Geschichtsdidaktik sind auch im Modell von Tulodziecki enthalten. Sie müssen freigelegt und für den Geschichtsunterricht entsprechend operationalisierbar gemacht werden, damit sie fachspezifischen Einsatz finden können.

5.1 Digitale Heuristik historisch primärer- und sekundärer Medienobjekte91 und Medienangebote Die Digitalisierung von Archiven und Sekundärliteratur verändert bisherige Formen der Heuristik und macht diese bisweilen überflüssig. Ein zunehmendes Aufkommen von Spezial- und Individualarchiven ist zu beobachten. Große Institutionen und deren Monopole bekommen seit den 90er Jahren zunehmend durch Kleinarchive Konkurrenz.92 Zusätzlich hat allein bereits Google über 5,2 Millionen Bücher digitalisiert. Wikis haben das Wissen der Welt an einem virtuellen Ort erfolgreich zusammenzutragen und haben bisherige Formen der Bewertung und Gewichtung bei der Suche nach Informationen und Wissen verändert. Die Zugänglichkeit zu Quellen und Literatur verändert grundlegend historisches Arbeiten. Quellen werden neu und anders formiert. Neue Formen kommen hinzu (asynchrone Interviews mit Zeitzeugen und Experten, Egodokumente in Blogs, Foren und Chats, E-Mail, Quellen kollaborativer Kultur in Wikis). Neue Formen des Datenaustausches und der kollaborativen Datenerhebung (Data Mining, soziale Forschungsnetzwerke) entstehen.93 Lernende sollen die Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft entwickeln, Medienangebote im Hinblick auf angestrebte Funktionen, z.B. Informationen und Lernen, Unterhaltung und Spiel, Kommunikation und Kooperation unter Bezugnahme historischer Denkweise (z.B. Glaubwürdigkeit, Relevanz, Perspektivität, Alterität, etc.) vergleichen und interessen- und bedürfnisbezogen auswählen, sowie unter Beachtung sozialer bzw. gesellschaftlicher Verantwortung und Urheber- und Nutzungsrechte verwenden.

|| 91 Der Begriff „primäre und sekundäre Medienobjekte“ umfasst alle Bereiche, in denen Lernende mit Vergangenheit und Geschichte in Kontakt kommen können. Dies sind Dokumente, Monumente und Historiographie in allen medialen Repräsentationsformen, die primäre- oder sekundäre Aussagen über Vergangenheit und Geschichte machen können. 92 Hist 2011: „Geschichte und ihre digitale Medialisierung: Welche Medienkompetenz brauchen Historiker/innen?“ Podiumsdiskussion im Rahmen der Hist 2011. Stiftung Gerda Henkel, hier: Zitat von Anke te Heesen. 93 Vgl. Giesecke (Anm. 12), S. 9.

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5.2 Semiotik und Analyse der Mediengestaltung historisch bedeutsamer primärer- und sekundärer Medienobjekte Es müssen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften zur Analyse und Interpretation der verwendeten Darstellungsformen nach Codierungsart und Sinnesmodalität aufgebaut werden, um anhand der Gestaltungsmöglichkeiten, z.B. der technischen Grundlagen, Darstellungsformen, Gestaltungstechniken, Gestaltungsformen und Gestaltungsarten, ihre Bedeutung einschätzen zu können und – bezogen auf ausgewählte Beispiele – hinsichtlich der Übereinstimmung von Form und Aussage oder anderer Kriterien bewerten zu können. Die als primäre- und sekundäre Medienobjekte (z.B. Quellen und Darstellungen) erarbeiteten Vergangenheitspartikel werden dann für die Re-Konstruktion genutzt. Dabei werden sie inhaltsbezogen fokussiert und kontextualisiert und in eine bestimmte Darstellungsform (Gattung) gebracht, wobei auch das gewählte Medium und die vorgesehenen Adressaten zu berücksichtigen sind.94 Die mediale Gattungskompetenz95 ist als Teilkompetenz zu betrachten. Medien können und müssen von Lernenden genutzt werden, um neue Perspektiven einzunehmen.

5.3 Eigene Gestaltung und Verbreitung historischer digitaler Narrationen Schreiber formuliert, dass Akte der Rekonstruktion nicht nur in Form von Historiographie manifest werden können. Es müssen auch mediale Konzepte, wie z.B. das Einrichten einer Ausstellung, das Herstellen eines historischen Filmes oder einer historischen Text-Bild-Geschichte, einer Geschichtskarte, eines mit Geschichte argumentierenden Plakats einbezogen werden.96 Historisches Lernen kann Bezüge aus allen Bereichen der Geschichtskultur aufnehmen und widerspiegeln und verdeutlicht damit die kommunikative Funktion von Medien. Ebenso hat sich die Narration, die sich an das Publikum wendet, verändert.97 Lernende sollen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften zum Verbreiten

|| 94 Waltraud Schreiber: Kompetenzbereich historische Methodenkompetenzen. In: Andreas Körber/Waltraud Schreiber/Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik. Neuried 2007, S. 194–234, hier S. 194. 95 Bezugnehmend auf Pandel (2006), der Gattungskompetenz im Bezug zum historischen Roman definiert hat. Dieser ist auf die Bereiche Film, Dokumentation, Bild (Comic), Hypertext, etc. zu erweitern. 96 Vgl. Schreiber (Anm. 90) S. 195. 97 Vgl. Hist 2011 (Anm. 88)., hier: Zitat von Ullrich, Sebastian.

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eigener, historischer Aussagen über die Vergangenheit in Form eigener Geschichten aufbauen und unter Verwendung bewusst ausgewählter Medienarten, einzeln, kooperativ oder kollaborativ mit sachgemäßer Handhabung der jeweiligen Medientechnik inhalts- und medienadäquat planen und gestalten und unter Beachtung sozialer bzw. gesellschaftlicher Verantwortung an ausgewählte Zielgruppen vermitteln. Dieser Kompetenzbereich dient der Vermittlung (selbst-)reflexiver Einsichten über den Konstruktcharakter der Geschichtsschreibung in Form narrativer Kompetenz. Diese Ergebnisse können mit anderen Darstellungen verglichen und somit wieder medial kommuniziert werden.

5.4 Einflüsse von Medien auf die damalige und die heutige Geschichtskultur und das Geschichtsbewusstsein Weltbilder sind durch die Medienwahrnehmung ihrer Zeit geprägt und bilden eine eigene, sich ständig verändernde Medienkultur. Im Hinblick auf die Rolle des Rezipienten von Medienbotschaften früher/heute sollen Lernende Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften entwickeln, um Einflüsse von Medien, z.B. auf Emotionen, Vorstellungen, Verhaltensorientierungen, Wertorientierungen und soziale Zusammenhänge beschreiben zu können. Diese sind kriterienbezogen zu bewerten und problematische Einflüsse sind in geeigneten Formen aufzuarbeiten. Hierbei ist der zeitliche Kontext zu beachten und normative Triftigkeiten zu bewerten. Lernende sind in der Lage, die Rolle der Rezipienten heute wie damals zu beachten. Hierbei spielt die Medienhistoriographie eine große Rolle, da sie die jeweiligen Medienkulturen untersucht. Durch die Beherrschung der Semiotik der Medien sind Lernende fähig, Fiktion und Realität zu unterscheiden und deren manipulative und prägende Wirkungen und Auswirkungen auf Verhalten- und Vorstellungsweisen unserer Gesellschaft zu verstehen und zu bewerten. Dabei beeinflusst zum einen das Medium der Informationsgewinnung, also z.B. die Primär- oder Sekundärquelle oder der ausgewählte Darstellungstext in seiner medialen Aufarbeitung direkt die daraus erfolgende eigene, mediale Darstellung der Narration. Andererseits ist die Zielgruppe bei der Auswahl des Mediums der eigenen Narrationen mit zu berücksichtigen und die intendierte Wirkung mit zu denken. Hier müssen Lernende eine konkrete Wahl auf Grundlage des Wissens über Medienwirkungen treffen können. Es gilt somit die Sinnbildungsmuster fremder Narrationen mit Hilfe der Triftigkeiten auf die gewünschte medienspezifische Wirkung hin zu übertragen. V. Perspektivität der Medien bei deren Produktion und Verbreitung und die Auswirkungen auf Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur. In diesem Kompetenzbereich wird die Rolle des Produzenten von Medienbotschaften in

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den Blick genommen: Fähigkeit, Fertigkeit und Bereitschaft Lernender zuerkennen, dass sich gesellschaftlich bezogene Bedingungen der Medienproduktion und -verbreitung historisch durch personale, technische, ökonomische, organisationsbezogene bzw. institutionelle und rechtliche Bedingungen, auf Kontinuität und Wandel von Mediengestaltung und -nutzung auswirkten und immer noch auswirken. Dabei müssen Lernende in der Lage sein, diese Bedingungen zu verstehen, zu analysieren und zu bewerten und bei ihrer eigenen Narration mitzudenken. Zahlreiche Aspekte bilden noch Desiderate,98 müssen aber langfristig bei der Entwicklung einer historischen Medienkompetenz für die Geschichtsdidaktik mitentwickelt werden.99

6 Schlussbetrachtung Die Geschichtswissenschaften einerseits und die Geschichtsdidaktik andererseits, mit ihren bereits bestehenden Instrumenten und Methoden, die geeignet sind, Medien zu analysieren, synthetisieren und zu reflektieren, können einen großen Beitrag zur medienpädagogischen Ausbildung Lernender und Lehrender beitragen. Dabei bleibt die Einbeziehung des Themas Medien für die Geschichtsdidaktik noch weit hinter den Möglichkeiten und verwirklichbaren Zielen zurück. Gerade die Geschichtsdidaktik muss hierfür ihr Verständnis und ihre Definitionen des Einflusses der Medien auf die Gesellschaft und ihre Nutzbarkeit für LehrLernprozesse erweitern. Die fachwissenschaftlich orientierten Disziplinen der Geschichtswissenschaft haben bereits wichtige Grundlagen hierfür geschaffen. Die Medienpädagogik verfolgt grundlegend ähnliche analytische Konzepte und hat, wie die Geschichtsdidaktik, das Ziel, die Orientierungskompetenz Lernender in ökonomischer, politischer, moralischer Hinsicht aufzubauen, um Selbst- und Weltverstehen, vergleichbar dem Geschichtsbewusstsein, zu entwickeln. Findet eine Vernetzung beider Domänen zu einer historischen Medienkompetenz statt,

|| 98 Kompetenzbereiche und Kompetenzaspekte / Gesichtspunkte für eine Differenzierung nach Niveaus / Zahl der Niveaus, für die Standards formuliert werden sollen / Standards für die einzelnen Niveaus und deren Indikatoren für die formulierten Standards. Folgende Fragen müssen noch beantwortet werden: Welche Bereiche und Aspekte von Medienkompetenz und Geschichtswissenschaft/-didaktik sollen zur Strukturierung des Modells dienen? Welche Gesichtspunkte können bei einer Differenzierung nach verschiedenen Niveaus herangezogen werden? Für wie viele Niveaus sollen Standards formuliert werden? Auf welchem Abstraktionsniveau sollen die Standards formuliert werden? 99 Vgl. Tulodziecki (Anm. 86), S. 6.

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so kann die Geschichtsdidaktik dazu beitragen, dass der Geschichtsunterricht primärer Ort für den richtigen Umgang und das Wissen über Medien und ihre Wahrnehmung und Wirkung sein kann. Dank des Modells der narrativen Kompetenz – auch und gerade im digitalen Bereich – hat der Geschichtsunterricht die Chance, Leitfach der Medienbildung/Medienkompetenz zu werden. Tab. 2: Matrix der Ansprüche der Medienkompetenzforschung und der Ansprüche der Geschichtsdidaktik Bereits vorhandene Methoden und Modelle historischen Denkens in Bezug zu medienpädagogischen Zielen

In Ansätzen entwickelte Methoden und Modelle in Bezug zu medienpädagogischen Zielen

Noch zu intergierende Herausforderungen seitens der Medienpädagogik für die Geschichtsdidaktik

– Quellenbegriff und seine Eintei- – Historischen Methodenlung in Quellen, Darstellungen kompetenz zur Re- und und Fiktionen als Medienbegriff Dekonstruktion beim Umfang mit „fertigen – Generelles Instrumentarium Geschichten“ zur Analyse von Quellen: Quellenkritik und die Rolle – Verfahren der Analyse von des Produzenten Medien, wie z.B.: Film, Bild, Fotographie – Partialität, Temporalität, Retroperspektivität, Authentizität und Fiktion – Gattungskompetenzen in Bezug zu literarischen Formen der Narration und bei Bildgestaltung

– Modelle der Medienwissenschaften und Kommunikationstheorien – Medienanalyse, die Inhalte immer unter dem Einfluss des gewählten Mediums sieht und die Rolle des Rezipienten, z.B. bei der Diskursanalyse – Multimodalität, Multicodalität, Multimedialität, Modelle des Encoding/Decoding – Semiotik – Filmbildung – Visual Literacy – Wahrnehmung und Wirklichkeit – Medienmanipulation – Mediengattungen und Merkmale, z.B.: unterschiedliche Genre beim Film oder der Fotographie

– Medien- und zeitgeschichtliche Zugänge

– Verschiedene Medientheorien unter den Aspekten der Digitalität

– Narration und narrative Kompetenz – Gattungskompetenz

– Digitale Formen der Narration, z.B. das visuelle Erzählen – Medien als Möglichkeit zum Ausdruck kreativer, kollaborativer Sinnbildungsprozesse beim historischen Lernen für Individuen oder als konnektivistischer Sinnaushandlungsgruppe

– Verfahren der Anchored Instruction und des Goal-Based Scenarios (Verfahren zum Lernen mit und von Geschichten/Episodisches Gedächtnis) – Digital Storytelling – Herstellung eigener Videosequenzen Dokumentationsbeiträge im Sinne der Film- und Medienbildung

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Bereits vorhandene Methoden und Modelle historischen Denkens in Bezug zu medienpädagogischen Zielen

In Ansätzen entwickelte Methoden und Modelle in Bezug zu medienpädagogischen Zielen

Noch zu intergierende Herausforderungen seitens der Medienpädagogik für die Geschichtsdidaktik

– Heuristik

– Online-Kompetenz als digitale Heuristik

– Recherchekompetenz – Verfahren zur Entwicklung von Recherchekompetenz: Webquests

– Medien als didaktische LehrLernmittel mit Fokus auf Inhalt

– Unterrichtssequenzen, die sich – Mediendidaktik: Planung mit der Analyse bestimmter digitaler Lehr-Lernumgebungen Medienprodukte zur Medienerziehung oder zum auseinandersetzen, z.B. e-Learning Karikaturen, Gemälde, Film – Neue Lehrformate durch interaktive Lehrmedien

– Fokus auf den Lernenden: – Orientierungskompetenz Kompetenzmodelle für den beider Domänen Geschichtsunterricht – Selbstreflexives Geschichtsbewusstsein und Einfluss der gesellschaftlichen Geschichtskultur: Konzepte von Fremd- und Weltverstehen und Kontinuität und Wandel von Normen und Werte

– Fokus auf den Lernenden: Medienkompetenzmodelle der Erziehungswissenschaft – Aspekte der Medienerziehung, Mediendidaktik und Medienbildung – Selbstreflexive Medienkompetenz: Selbstbestimmt und -handelnd eigene, mediale Beiträge gestalten und veröffentlichen können. Rolle der Produzenten und Rezipienten berücksichtigen.

| Teil III: Konzeptionen und Theorien Geschichtsbezogenes Lernen in der digitalen Zukunft

Christoph Pallaske

Die Vermessung der (digitalen) Welt Geschichtslernen mit digitalen Medien Der digitale Wandel vollzieht sich rasant. Mediennutzung und Kommunikationsverhalten haben sich – bei Schüler/innen weit schneller als bei ihren Lehr/innen – stark verändert. Ein großer Teil der Jugendlichen besitzt heute nicht mehr nur einen PC, ein Notebook oder Tablet, sondern auch ein Smartphone, ist also mittels Hosentascheninternet ständig und überall online. An den Schulen jedoch gelten oft Handy-Verbote, und vom digitalen Wandel ist hier vergleichsweise wenig zu spüren.1 Mittelfristig aber werden digitale Medien verstärkt Einzug in den Schulen halten. Mobile Geräte und die Möglichkeit, sie drahtlos zu vernetzen, werden in den kommenden Jahren Computerarbeitsräume mit stationären PCs ersetzen. Im Web2.0 – z.B. in Blogs und über Social Media-Kanäle – hat sich in den letzen (wenigen) Jahren der Austausch über aktuelle Entwicklungen, Ideen und Angebote zum Lernen mit digitalen Medien stark intensiviert und beschleunigt. Den Fachdidaktiken kommt angesichts dieser oft schnelllebigen Diskussionen2 die Aufgabe zu, Konzepte zum Lernen mit digitalen Medien zu entwickeln, sie

|| 1 Der Einsatz digitaler Geräte und Medien im Unterricht wird seit fast zwei Jahrzehnten diskutiert, die anfangs oft euphorischen Erwartungen haben sich aber nur ansatzweise erfüllt. Dass Lernen mit digitalen Medien nur wenig gelebte Unterrichtspraxis ist, kann man symptomatisch daran ablesen, dass Deutschland laut OECD bei der digitalen Ausstattung von Schulen einen der hintersten Plätze belegt; vgl. Bardo Herzig/Silke Grafe: Digitale Lernwelten und Schule. In: Kai-Uwe Hugger/Markus Walber (Hrsg.): Digitale Lernwelten. Konzepte, Beispiele und Perspektiven. Wiesbaden 2010, S. 115–127, hier S. 116. Entsprechend skeptisch fallen aktuelle Einschätzungen zum Geschichtslernen mit digitalen Medien in der einschlägigen Handbuchliteratur zur Geschichtsdidaktik bzw. zum Geschichtsunterricht aus; vgl. beispielsweise Hilke Günther-Arndt: Computer und Geschichtsunterricht. In: Dies. (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 42009, S. 219–232, hier S. 219f. und 231f.; Michael Sauer: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und ihre Methodik. Seelze 102012, S. 277–280. 2 Netzaffine Praktiker bloggen und twittern über aktuelle Entwicklungen oder neue Angebote im Netz; s. hierzu auch den Kommentar von Christoph Kühberger in diesem Band. Dabei gibt es eine Vielzahl von Ideen, die – da vorrangig von Netz-Akteuren diskutiert – zuweilen selbstreferentiell als digital gelabelt und für gut befunden werden, aber nicht immer hinreichend didaktisch reflektiert und erprobt sind. So ist es gelegentlich schwierig, richtungsweisende Entwicklungen von digitalen Eintagsfliegen zu unterscheiden – zumal besonders kommerzielle Anbieter von Bildungsmedien nicht selten übertriebene Erwartungen schüren.

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in Zusammenhang zu jeweiligen fachspezifischen Grundlagen zu stellen und Potenziale theoretisch zu reflektieren, pragmatisch zu konkretisieren und empirisch zu überprüfen.3 Für den institutionellen Rahmen von Schule geht es dabei nicht um E-Learning-Konzepte, bei denen Schüler/innen quasi atomisiert an einem Gerät lernen. Im Sinne des Blended Learnings bedeutet Lernen mit digitalen Medien – wenn es nicht nur auf den Erwerb reproduktiven Wissens abzielt – immer auch Interaktion mit anderen Lerner/innen und ist vorrangig ein kommunikativer Prozess. Digitale Medien sind dabei Instrumente und Werkzeuge um Lernprozesse zu initiieren oder zu unterstützen und führen zu einer verstärkten Hinwendung zu individuellem und selbstgesteuertem Lernen, das in nachgeschalteten Plenumsphasen immer auch von Präsentationen und Diskussionen begleitet wird.4 Wie verändert der digitale Wandel das Geschichtslernen? Auf einer übergeordneten Ebene führen gesellschaftliche und kulturelle Transformationen der „Netzgesellschaft“ zu einem unausweichlichen Wandel des Lernens unter den Bedingungen der Digitalität.5 Beispielsweise wird sich, wenn Schüler/innen in || 3 Einen Überblick zum geschichtsdidaktischen Forschungsstand über das Geschichtslernen mit digitalen Medien geben die Tagungsbände: Uwe Danker/Astrid Schwabe (Hrsg.): Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und neue Medien. Schwalbach 2008; Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010; sowie: Waldemar Grosch: Der Einsatz digitaler Medien in historischen Lernprozessen. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis der Geschichte, Bd. 2. Schwalbach 2012, S. 125–145; die Dissertationen von Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web. Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info. Berlin 2012; und Jan Hodel: Verkürzen und Verknüpfen. Geschichte als Netz narrativer Fragmente. Wie Jugendliche digitale Netzmedien für die Erstellung von Referaten im Geschichtsunterricht verwenden. Bern 2013, und schließlich über „VEs (Virtual Environments)“ als Abbildung des englischsprachigen Forschungsstandes: Kevin Kee/Nicki Darbyson: Creating and Using Virtual Environments to Promote Historical Thinking. In: Penney Clark (Hrsg.): New Possibilities for the Past. Shaping History Education in Canada. Vancouver 2011, S. 264–281; und T. Mills Kelly: Teaching History in the Digital Age. Ann Arbor 2013. 4 Bereits in den 1990er Jahren formulierten Tymothy Koschmann u.a.: Using Technology to Assist in Realizing Effective Learning and Instruction: A Principled Approach to the Use of Computers in Collaborative Learning. In: The Journal of the Learning Sciences, Jg. 3, Nr. 3, Computer Support for Collaborative Learning (1993/94), S. 227–264, eine Abkehr von der Vorstellung sinnhaften Lernens zwischen einzelnen Lerner/innen und einem digitalen Gerät; hier S. 253: „Why computer talk cannot replace peoples talk“; sowie auch Heinz Moser/Peter Holzwarth: Mit Medien arbeiten. Lernen – Präsentieren – Kommunizieren. Wien u.a. 2011, S. 116–124. 5 Zum Begriff Netzgesellschaft vgl. Heinz Moser: Einführung in die Netzdidaktik, Baltmannsweiler 2008, S. 30; den Begriff des Lernens unter den Bedingungen der Digitalität brachte Lisa Rosa in die Diskussion der Tagung Geschichte Lernen digital 2013 unter Bezugnahme auf Georg Rückriem

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der Schule online sind, die Aufgaben- und Lernkultur weg von der Abfrage von Wissen, das einfach in Suchmaschinen abgerufen werden kann, hin zu verstärktem Wissenstransfer oder zur Entwicklung eigener Fragestellungen verlagern. Für das Geschichtslernen mit digitalen Medien zeichnen sich aber auch konkretere Potenziale ab; diese sind mit Blick auf Voraussetzungen (im Sinne der Rezeption digitaler Medien) – die Entgrenzung von Denk- und Lernräumen durch das Internet und eine verstärkte Hinwendung zu Aspekten der Geschichtskultur; – die Veränderung historischer Narrative in Hypertextstrukturen; – multimediale, verstärkt visuelle Darstellungsformen und eine veränderte Medienauswahl; – Möglichkeiten zur Verknüpfung von Zeit und Raum z.B. durch Konzepte des Mobile Learnings. Auch Prozesse des Geschichtslernens (im Sinne der Produktion digitaler Medien, z.B. multimedialer Präsentationen mit Texten, Bildern oder Videos) verändern sich hin zu – verstärkt subjektorientiertem und selbstgesteuerten Lernen, das der Ausbildung eines individuellen Geschichtsbewusstseins entgegenkommt; – kooperativen und kollaborativen Lernformaten (z.B. die Arbeit mit Wikis, Blogs oder Etherpads), die Entstehungsprozesse und damit den Konstruktcharakter historischer Narrative verdeutlichen; – verschiedenen Möglichkeiten zur Kommunikation im Web2.0 und damit der Verdeutlichung der Diskursivität und Kontroversität historischer Deutungen. Die aufgezeigten Potenziale des digitalen Geschichtslernens sind einerseits vielfältig, bleiben andererseits insofern unspezifisch, als sie in ihrer Gesamtheit noch kein kohärentes Konzept erkennen lassen. Diskussionen über die geschichtsdidaktische Relevanz dieser Potenziale bleiben so lange unscharf, wie nicht Klarheit über Medienbegriffe des Geschichtslernens herrscht. Hierfür wird im Folgenden ein Modell supplementärer Medienbegriffe des Geschichtslernens vorgeschlagen, um das Feld des Geschichtslernens mit digitalen Medien vermessen und die Potenziale gewichten zu können.

|| ein; Lisa Rosa: Was ist das *dings* und was bedeutet es für die Geschichtsdidaktik? Online unter: http://shiftingschool.wordpress.com/2013/03/11/was-ist-das-dings-und-was-bedeutet-es-furdie-geschichtsdidaktik-anmerkungen-zur-tagung-geschichte-lernen-digital (9.6.2013).

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1 Medienbegriffe des Geschichtslernens In der deutschsprachigen Geschichtsdidaktik hat sich seit Anfang der 1980er Jahre der maßgeblich von Hans-Jürgen Pandel geprägte Medienbegriff etabliert, wonach sich die Geschichte ihre Medien selbst schafft und Vergangenheit nur medial in Form von Quellen als „Objektivationen und Materialisierungen vergangenen menschlichen Handelns und Leidens“6 vermittelbar ist. Maßgeblich für diesen Medienbegriff sind der Zeit- und Authentizitätsbezug. Medien werden demnach in Quellen, Darstellungen und Fiktionen kategorisiert. Daraus leiten sich die für das Geschichtslernen relevanten Mediengattungen ab (für Texte z.B. Textquellen, historische Fachliteratur und historische Romane; für Filme z.B. Filmdokumente, Dokumentarfilme oder Historienfilme usw.). Dieser auf Lernobjekte bzw. Präsentationsformen fokussierte Medienbegriff kann eine hohe Plausibilität – insbesondere bezogen auf das Alleinstellungsmerkmal des Fachs: der Zeit – für sich verbuchen. Andere, allgemeindidaktische oder medienpädagogische Medienbegriffe bilden dies nicht ab.7 Problematisch am etablierten geschichtsdidaktischen Medienbegriff ist jedoch, dass er wiederum die Ausdifferenzierung der Mediennutzung im Sinne der oben aufgezeigten Potenziale digitaler Medien für das Geschichtslernen nicht abzubilden und zu erklären vermag. Bereits 1980 schlug Horst Gies in Replik auf Pandel vor, den Medienbegriff des Geschichtslernens weiter zu fassen und Medien nicht nur als Objekte oder Mittel, sondern auch als Instrumente, also Mittler aufzufassen.8 Gies berief sich dabei auf die medienpädagogische und allgemeindidaktische Diskussion. Ein überzeugendes Konzept, das medienpädagogische und geschichtsdidaktische Ansprüche in einen Medienbegriff || 6 Die Diskussion über den Medienbegriff der Geschichtsdidaktik wurde 1980 durch einen kurzen Beitrag von Hans-Jürgen Pandel: Medien für historisches Lernen. In: Lehrmittel aktuell, Jg. 6 (1980), Nr. 3, S. 23–27, hier S. 25, angestoßen. Er verfasste seinen Artikel angesichts der Herausforderungen der aufkommenden „neuen Medien“, womit seinerzeit nicht digitale, sondern audiovisuelle Medien (hier insbesondere Film und Schulfunk) gemeint waren. 7 In der Erstauflage des Handbuchs Medien im Geschichtsunterricht von 1985 übte Pandel folgerichtig Kritik an einer „kommunikationstheoretischen Medien‚didaktik‘“; Hans-Jürgen Pandel: Das geschichtsdidaktische Medium zwischen Quelle und Geschichtsdarstellung. In: Ders./Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Medien des Geschichtsunterrichts. Düsseldorf 1985, S. 11–27, hier S. 11. 8 Horst Gies: Medien. Quellen. Unterrichtsmittel. In: Lehrmittel aktuell, Jg. 6 (1980), Nr. 6, S. 31–34, hier S. 31. Gies differenziert weiterhin Unterrichtsmittel (Lehrmittel, -systeme und -materialien), Quellen sowie Geschichtsdarstellungen. Als Mittler meinte Gies Lern-„Hardware“ – vom Papier bis zum Fernsehgerät. S. zu einem erweiterten Medienbegriff auch den Beitrag von Ulf Kerber in diesem Band.

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integriert, entwickelte sich daraus allerdings nicht. Gemessen daran, dass didaktische Reflexionen zu einzelnen Mediengattungen in der geschichtsdidaktischen Literatur inzwischen breiten Raum einnehmen, wurde über den grundlegenden geschichtsdidaktischen Medienbegriff seit den 1980er Jahren nur relativ wenig diskutiert.9 Im Vorfeld der Tagung Geschichte Lernen digital 2013 stellten Daniel Bernsen, Alexander König und Thomas Spahn in einem 2012 veröffentlichten Aufsatz Medien und historisches Lernen den geschichtsdidaktischen Medienbegriff Pandels zur Diskussion und schlugen ein eigenes Konzept vor. Zentral am Vorschlag ihrer vier Modi des Lernens mit digitalen Medien10 ist die Fokussierung auf die „Perspektive des Lernenden“. Der subjektorientierte Ansatz geht davon aus, dass Medien als Mittler erst in einer Verhältnisbestimmung zwischen einem Adressaten und einem Empfänger konstitutiv werden. || 9 Bereits 1985 stellte Pandel als einer der Herausgeber in der Erstauflage des Handbuchs Medien im Geschichtsunterricht fest: „In der Geschichtsdidaktik kann man kaum von einer Mediendiskussion sprechen. Es liegen nur wenige Ansätze vor, die das Medienproblem für historisches Lernen grundsätzlich thematisieren.“; Pandel (Anm. 7), S. 13f. In späteren Auflagen des Handbuchs Medien nahm der einführende Teil über Grundsätze eines geschichtsdidaktischen Medienbegriffs einen immer kleineren Raum ein. Pandels Medienbegriff ist bis heute wesentlicher Bezugspunkt in geschichtsdidaktischen Reflexionen. Z.B. hat Michael Sauer im 2012 erschienen Handbuch Praxis der Geschichte vorgeschlagen, Medien nach den Dimensionen „Technik, Darstellung und Inhalt“ zu kategorisieren, um dann Technik und Darstellung lediglich instrumentelle Bedeutung zuzuschreiben. Im Kern gehe es um die inhaltliche Füllung, wonach sich Medien nach Quelle und Darstellung unterscheiden; Michael Sauer: Medien im Geschichtsunterricht. In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 2. Schwalbach 2012, S. 85–91, hier S. 86. In der in den vergangenen Jahren geführten Diskussion historischer Kompetenzen wurde in den etablierten Modellen keine explizite historische Medienkompetenz formuliert. Im FUER-Modell wird die „Kompetenz, historische Narrationen gattungsspezifisch darzustellen“ sowie die „Kompetenz, medienspezifisch darzustellen“ unter die Methodenkompetenz subsummiert; vgl. Waltraud Schreiber: Kompetenzbereiche historische Methodenkompetenz. In: Andreas Körber, Waltraud Schreiber, Alexander Schöner (Hrsg.): Kompetenzen Historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, S. 194–235, hier S. 222f. Pandel weist verschiedene Aspekte geschichtsdidaktisch relevanter Medien in seiner Gattungskompetenz aus; zuletzt: Hans-Jürgen Pandel: Geschichtsdidaktik. Eine Theorie für die Praxis. Schwalbach 2013, S. 226–232. 10 Daniel Bernsen/Alexander König/Thomas Spahn: Medien und historisches Lernen: Eine Verhältnisbestimmung und ein Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik. In: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften, Nr. 1 (2012), online unter: http://universaar.unisaarland.de/journals/index.php/zdg/article/view/294/358 (9.6.2013), S. 14ff. Die Autoren schlagen ein umfassendes Konzept zum Lernen an digitalen Medien (als digitalisierte Lernobjekte), Lernen mit digitalen Medien (als digitale Denk- und Lernwerkzeuge), Lernen über digitale Medien (als Lernobjekte im Sinne einer Mediengeschichte) sowie Lernen im digitalen Medium (als quasi übergeordnete Kategorie von Medien als Denk- und Lernraum) vor.

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Der Beitrag lässt allerdings offen, auf welchen Medienbegriff sich die Autoren beziehen. Eine einfache Ausweitung des geschichtsdidaktischen Medienbegriffs ist angesichts der Vielzahl verschiedener Medientheorien11 und konkurrierender Ansätze nicht unproblematisch. Die Abbildung 1 stellt in einem Modell Medienbegriffe des Geschichtslernens nebeneinander und den Einfluss des digitalen Wandels auf das Geschichtslernen dar.

Elementarer Medienbegriff

Geschichtsdidaktischer Medienbegriff

Modalität visuell auditiv haptisch

Kodalität verbal bildlich numerisch

Mediengattungen Texte – Bilder – Filme etc.

selektiv

Bedeutungszuwachs audio-visueller Medien

Medien als Objektivationen von Vergangenheit und Geschichte

individuell

Medien

mit Medien

wahrnehmen

historisch

Quelle Darstellung

denken Zeitbezug Authentizitätsbezug

Intermedialität

Lerner/in Medien als Lehr-

Medien als Mittler und Instrumente

und Lernmittel Medien als Mittel

Medien rezipieren

subjektorientiert

verfügbare Medien digitale Verfügbarkeit von Medien z.B. „entgrenztes“ Internet Hypertextstruktur Hinwendung zur Geschichtskultur Mobile Learning

Produkt eines Lernprozesses

digitale Werkzeuge z.B. „kooperatives und kollaboratives Schreiben multimediale Präsentationen Kommunikationstools

digital konfigurierte Denk- und Lernräume

Gesellschaftlicher Medienbegriff

Medien produzieren

durch digitale Geräte und Internet

Lernen unter den Bedingungen der Digitalität

dunkle Kästchen: allgemeine Bedeutung von Medien – helle Kästchen: Einfluss des digitalen Wandels auf das Geschichtslernen

Abb. 1: Medienbegriffe des Geschichtslernens und der Einfluss des digitalen Wandels auf das Geschichtslernen

|| 11 Einen Überblick über die vielfältigen konkurrierenden Medientheorien gibt Hans-Dieter Kübler: Kommunikation und Medien. Eine Einführung. Münster 2003, S. 91–129.

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Einerseits schließen sich die vier aufgeführten Medienbegriffe mit unterschiedlichen Geltungsansprüchen, die bereits seit vielen Jahren diskutiert werden, nicht gegenseitig aus. Andererseits gibt es nur relativ wenige Bezugnahmen zwischen den jeweiligen Entstehungs- und Diskussionskontexten, Vorannahmen und zentralen Kategorien. Zudem gilt: Je enger ein Medienbegriff (wie z.B. der geschichtsdidaktische) gefasst wird, desto triftiger und zugleich eingeschränkter sind seine Erklärungsangebote. Umgekehrt ist ein weit gefasster Medienbegriff (wie z.B. der gesellschaftliche) umfassend gleichwie unpräziser. Medienbegriffe des Geschichtslernens lassen sich systematisieren, indem nicht allgemein von Medien, sondern von a) Medien im Sinne des elementaren Medienbegriffs, b) Medien im Sinne des (etablierten) geschichtsdidaktischen Medienbegriffs, c) Medien als Lehr- und Lernmedien sowie d) Medien im Sinne eines gesellschaftlichen Medienbegriffs gesprochen wird. In den hellen Kästen werden Potenziale und Herausforderungen des Geschichtslernens mit digitalen Medien, die im Folgenden eingehender erläutert werden sollen, ausgewiesen.

2 Geschichtslernen im digitalen Wandel Vorab ist eine weitere Begriffsklärung notwendig. Was genau ist mit digitalen Medien gemeint? Das Digitale erweist sich als begriffliche Kategorie ähnlich diffus wie der Medienbegriff. Ein schwer zu fassendes Zusammenwirken verschiedener – technischer, instrumenteller und kommunikativer – Aspekte ist für digitale Medien kennzeichnend. Dabei scheint das Ganze mehr als die Summe einzelner Komponenten abzubilden.12 Digitale Geräte oder das Internet bereits als Medien zu bezeichnen ist allerdings begrifflich ungenau, denn ein Computer ist ein Instrument, das Internet ein mediales Interface. Bezüglich der Frage, was ein Instrument auszeichnet, bestehen definitorische Schwierigkeiten darin, dass es einerseits Werkzeuge gibt, die einen Prozess unterstützen und vereinfachen, andererseits aber solche, die einen Prozess überhaupt erst ermöglichen. Digitale Geräte oder das Internet im Sinne der oben aufgelisteten Veränderungen gehören eher zur letzteren Kategorie, weil mit ihnen in einer Weise gearbeitet und gelernt werden kann, wie es „analog“ nicht möglich wäre. Um digitale Geräte oder das Internet begrifflich besser operationalisierbar zu ma|| 12 Wolfgang Schmale brachte in einem Essay diese Spezifik auf die Formel: „Digitalisierung vergegenwärtigt nicht nur, sondern verlebendigt auch.“; Schmale, Wolfgang: Digitale Geschichtswissenschaft. Wien u.a. 2010, S. 15f.

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chen, soll von medial konfigurierten Denk- und Lernräumen13, hier speziell digital konfigurierten Denk- und Lernräumen gesprochen werden. Wesentlich ist dabei der Aspekt des Sender- und Empfänger-Verhältnisses von Medien. In einem klassischen Sinn ist aus Sicht des Lerners ein Denk- und Lernraum konfiguriert durch ein Klassenzimmer mit den dort anwesenden Personen und Lehrmitteln. Der digital konfigurierte Denk- und Lernraum im Sinne des Blended Learnings wird maßgeblich erstens durch die Interaktion verschiedener Lerner/innen, zweitens durch digitale Geräte und drittens durch das Internet aufgezogen. Im digitalen Wandel bestimmen technologische Entwicklungen neue Möglichkeiten der Konfiguration von Denk- und Lernräumen. Erstens sind digitale, online-fähige Geräte in den vergangenen Jahren immer kleiner und dadurch mobiler geworden.14 Zweitens verlagert sich die Bedienung der Geräte zunehmend von Tastatur und Maus hin zu Touchscreens, die zu einer veränderten, stärker auf visuelle und haptische Nutzung der Displays führt. Drittens wird für digitale Geräte als Lernwerkzeug die Funktion immer wichtiger sowohl Fotos als auch Videos und damit eigene visuelle Medien selbst erstellen zu können. Jenseits des Hörens von Audios oder audio-visueller Medien gewinnt viertens auch die Sprachsteuerung der Geräte an Bedeutung; sie werden durch diesen

|| 13 Zum Konzept medial und digital (mit-)konfigurierter Denk- und Lernräume vgl. beispielsweise Huberta Kritzenberger: Multimediale und interaktive Lernräume. München 2005, S. 1–16 und Bernsen/König/Spahn (Anm. 10), S. 18. Auch bei Jörg Zumbach: Lernen mit neuen Medien. Instruktionspsychologische Grundlagen. Stuttgart 2010, S. 18–27, oder Kai-Uwe Hugger (Hrsg.): Digitale Lernwelten. Konzepte, Beispiele und Perspektiven, Wiesbaden 2010, werden Lernumgebungen bzw. Lernwelten in Zusammenhang zu einer konstruktivistischen Lerntheorie gestellt. 14 Für schulisches Lernen kommen insbesondere kleinere Geräte wie Notebooks oder Tablets in Frage, die aber – da zu einem Großteil an und mit Texten gelernt wird – vorzugsweise mit einer Tastatur ausgestattet sein sollten. Tablets eignen sich besser als Notebooks für die Erstellung eigener Videos. Für andere Lernanlässe – beispielsweise Unterrichtsgänge und Exkursionen – können Smartphones sinnvoll eingesetzt werden. Wichtig für verschiedene Lernarrangements ist die Möglichkeit, Inhalte oder Produkte zu projizieren, entweder mittels Beamer oder Interaktives Whiteboards (die allerdings erstens vergleichsweise teuer sind und zweitens eher lehrerzentrierten Unterricht unterstützen). In der Praxis der universitären Lehre hat sich gezeigt, dass sich eine flexible und digitale Lernumgebung mit relativ geringem Aufwand realisieren lässt. Von den Studierenden selbst mitgebrachte Geräte, WLAN sowie ein Beamer zur Projektion sind für viele Lernarrangements ausreichend, wobei nicht jeder Studierende ein digitales Gerät besitzen muss; vgl. Christoph Pallaske (2013): Digitale Lernumgebungen in Universitätsseminaren mit Wikis und Etherpads. In: Historisch denken – Geschichte machen. Blog von Christoph Pallaske, vom 15.5.2013. online unter: http://historischdenken.hypotheses.org/1719 (20.6.2013). Auch für viele schulische Lernarrangements reicht ein digitales Gerät für zwei bis vier Schüler/innen.

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Trend zunehmend auch Kommunikationswerkzeuge. Fünftens ist die SatellitenNavigation Voraussetzung für Anwendungen des Mobile Learnings. Geschichtslernen mit digitalen Medien ist also begrifflich nicht sehr trennscharf zu verwenden. Dennoch soll der Begriff des Digitalen anderen Formulierungen – wie Lernen mit „neuen Medien“ (die längst nicht mehr neu sind) oder „Lernen im virtuellen Raum“ (insbesondere das Internet bildet Realität ab) – vorgezogen werden. Im Folgenden können die Veränderungen des digitalen Geschichtslernens nur kurz – und keinesfalls umfassend mit Blick auf Möglichkeiten und Grenzen – vorgestellt werden.

Veränderte Medienwahrnehmung im digitalen Wandel | Erklärungsangebote des elementaren Medienbegriffs Das Modell der supplementären Medienbegriffe des Geschichtslernens weist den elementaren Medienbegriff als eigenständige Kategorie aus – schließlich ergibt sich aus dem geschichtsdidaktischen Medienbegriff und seinem Zeit- und Authentizitätsbezug keine Einteilung zum Beispiel nach Textquellen oder Filmen, also nach ihrer Kodalität und Modalität. Der digitale Wandel verändert Medien auf Ebene des elementaren Medienbegriffs nicht prinzipiell. Es ist und bleibt grundsätzlich irrelevant, ob Texte, Bilder oder Töne „analog“ oder digitalisiert vorliegen bzw. projiziert werden. Allerdings führt der digitale Wandel mit Fokussierung auf Lerner/innen tendenziell zu einer Verschiebung der Medienauswahl – weg von den bislang beim Geschichtslernen vorherrschenden textbasierten verstärkt hin zu visuellen und auditiven Medien. Empirische Studien beispielsweise zur Wahrnehmung visueller Medien haben darauf hingewiesen, dass ihre Wahrnehmung in starkem Maße selektiv erfolgt. Die von Lehrer/innen erwartete Bildrezeption steht oft in Widerspruch zu dem, was Lernende auf Bildern sehen bzw. eben nicht sehen. Indem verschiedene Medientypen als Digitalisate mittels einfacher Tools austausch- und veränderbar sind, können bezogen auf das Geschichtslernen neue Verschnitte von Vergangenheit und Geschichte entstehen und gesampelt werden – bis hin zu Bricolagen. In solchen multimedialen Präsentationsformen verschwimmen (Geschichts-)Bilder zusehends. Viele Bilder gehen dabei – ohne zuvor zu klären, ob es sich z.B. um Bildquellen, Abbildungen oder Rekonstruktionen handelt – in das visuelle Gedächtnis von Lernenden ein und üben einen großen Einfluss auf die historische Imagination und damit auf das Geschichtsbewusstsein aus. Dies stellt einerseits eine Herausforderung an das Wirklichkeitsbewusstsein und die Dekonstruktionskompetenz dar, andererseits können

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multimediale Darstellungsformen erstens motivierend auf Lerner/innen wirken und zweitens stärker verschiedene Lerntypen ansprechen.15

Veränderte Medienrezeptionen im digitalen Wandel | Erklärungsangebote von Medien als Lehr- und Lernmittel (1) Für die Rezeption digitaler Medien ist insbesondere der durch das Internet eröffnete Denk- und Lernraum maßgeblich. Räume historischen Denkens werden durch das Internet und die weltumfassende digitale Verfügbarkeit historischer Zeugnisse und Geschichtsdarstellungen ausgeweitet und entgrenzt. Das Netz ist heute maßgebliches Instrument zur Informationsbeschaffung, wobei der Umgang mit der Überfülle an Informationen eine didaktische Herausforderung darstellt und bereits die Einübung geeigneter Arbeitstechniken erfordert. Für das Geschichtslernen bedeutet die Recherche im Netz eine stärkere Hinwendung zur Geschichtskultur und bietet u.a. neue Zugänge zu einer Regionalgeschichte „vor Ort“ und (potenziell) zu entlegensten Winkeln der Welt.16 Einen besonderen Beitrag des Geschichtslernens kann die Thematisierung von Mediengeschichte leisten, die durch Medien ausgelöste gesellschaftliche Veränderungen der Vergangenheit mit den rasanten Entwicklungen der heutigen Mediengesellschaft in Beziehung setzt. Auch Quellenarbeit könnte durch digitalisierte Archivalien einen Bedeutungsschub erfahren. Das Internet vereinfacht, || 15 Vgl. zur Bildrezeption Bernhardt, Markus: „Ich sehe was, was Du nicht siehst!“ Überlegungen zur Kompetenzentwicklung im Geschichtsunterricht am Beispiel der Bildwahrnehmung. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Visualität und Geschichte. Berlin 2011, S. 37–53; zu multimedialen Präsentationsformen: Vadim Oswalt: Multimediale Programme im Geschichtsunterricht (Bd. 1). Schwalbach 2002, S. 43; sowie zu Differenzierungspotenzialen multimedialer Darstellungen Franz Josef Röll: Pädagogik der Navigation. Selbstgesteuertes Lernen durch Neue Medien, München 2003, S. 151–159. 16 Zur Bedeutung des „entgrenzten“ Denk- und Lernraums Internet vgl. Alexander König: Geschichtsvermittlung in virtuellen Räumen. Eine kleine Geschichte technologischer Möglichkeiten und eine Prognose zur Zukunft historischen Lernens, online unter: http://www.bpb.de/ gesellschaft/kultur/kulturelle-bildung/143889/geschichtsvermittlung-in-virtuellen-raeumen (22.6.2013). Andreas Körber hat 2007 die Frage diskutiert, ob eher das Internet oder der Klassenraum eine reale Lernwelt darstellt und zugespitzt, dass sich die Nutzung des virtuellen Raums besser zur „Bewältigung von neuen Anforderungen in der realen Welt“ eignet; s. Andreas Körber: Kompetenzorientiertes Geschichtslernen in virtuellen Räumen? In: Uwe Danker/Astrid Schwabe (Hrsg.): Historisches Lernen im Internet. Geschichtsdidaktik und neue Medien. Schwalbach 2008, S. 42–59, hier S. 46. Eine Lernsituation mit Lehrer und Schulbuch hingegen sei selektiv und perspektivierend, S. 49. Zum Aspekt Mediengeschichte vgl. Bernsen/König/Spahn (Anm. 10), S. 18. S. hierzu auch den Beitrag von Alexander König in diesem Band.

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indem Lernmaterialien bzw. die zur Bearbeitung notwendigen Informationen „on demand“ verfügbar gemacht werden können, aufgabenbasiertes und individuelles Lernen – z.B. in Form von WebQuests oder Game-based Learning. Grundlegendes Merkmal des Internets ist seine Hypertextstruktur, die potenziell unendlich große Denk- und Lernräume konfiguriert. Die Entwicklung von nicht-linearen Narrativen hin zu Hypertexten gehört zu einem der von der Geschichtsdidaktik bisher am meisten beachteten Aspekte des digitalen Wandels. Für das Geschichtslernen werden dabei einerseits Potenziale für das historische Lernen benannt, beispielsweise verstärkt multiperspektivische Darstellungen oder die Möglichkeit zur selbstgesteuerten Textrezeption. Andererseits wurde auch auf verschiedene Schwierigkeiten der Rezeption von Hypertexten, hier speziell auch der Wikipedia, hingewiesen.17 Digitale Geräte und Medien ermöglichen seit wenigen Jahren verknüpfende Raum- und Zeitkonzepte; erstens in Verbindung mit Online-Kartendiensten, in denen man beispielsweise historische Orte, Bauwerke oder Denkmäler markieren, eine Beschreibung hierzu verfassen und ggf. zu einem historischen Rundgang verbinden kann. Andere Tools ermöglichen interaktive Zeitleisten, die sich mit Ortsmarkierungen in Verbindung bringen lassen. Insbesondere aber bieten Smartphones im Sinne des Mobile Learnings neue Möglichkeiten für historisches Lernen für Unterrichtsgänge vor Ort, beispielsweise über Geocaching oder wenn mittels der (noch nicht sehr weit entwickelten) Technik der Augmented Reality (bei der beispielsweise Gebäude, vor denen man steht, mit alten Foto-Ansichten auf dem Smartphone überblendet werden) vor Ort ver-

|| 17 Vgl. zu Hypertextstrukturen Jakob Krameritsch: Die fünf Typen des historischen Erzäh lens – im Zeitalter der digitalen Medien. In: Susanne Popp u.a. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung. Göttingen 2010, S. 261–281; Astrid Schwabe: Hypertext und Multimedia. Reflexionen zu Geschichtsdarstellungen im Internet. In: Saskia Handro/Bernd Schönemann (Hrsg.): Geschichte und Sprache. Berlin 2010, S. 177–188; sowie Jan Hodel: Historische Online-Kompetenz. Informations- und Kommunikationstechnologie in den Geschichtswissenschaften. In: Rainer Pöppinghege (Hrsg.): Geschichte lehren an der Hochschule. Bestandsaufnahme, methodische Ansätze, Perspektiven. Schwalbach 2007, S. 194–210. Zur kritischen Einschätzung vgl. Hilke Günther-Arndt: Computer und Geschichtsunterricht. In: Dies. (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 42009, S. 219–232, hier S. 231f. und Michele Barricelli/ Ruth Benrath: „Cyberhistory“ – Studierende, Schüler und Neue Medien im Blick empirischer Forschung. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Jg. 2003, Nr. 5/6, S. 337–353. Vadim Oswalt kritisierte in diesem Zusammenhang multimedial unterstütze Hypertext-Darstellungen. Es sei „in keinem Medium leichter, Konzeptionslosigkeit im Aufbau hinter einer visuellen Oberfläche zu kaschieren.“ S. Oswalt (Anm. 15), S. 43. S. hierzu auch den Beitrag von Manuel Altenkirch in diesem Band.

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schiedene Fotos aus verschiedenen Epochen, aber demselben Blickwinkel übereinandergelegt werden.18

Veränderte Medienproduktion im digitalen Wandel | Erklärungsangebote von Medien als Lehr- und Lernmittel (2) Digitales Geschichtslernen bietet – zunehmend – verschiedene Potenziale zum Erstellen eigener digitaler Medien. Für das Geschichtslernen haben sich unter den Online-Tools des Web2.0 Wikis, Blogs oder Etherpads zum kooperativen und kollaborativen Lernen bzw. Schreiben als praktikabel erwiesen, die bezüglich narrativer Kompetenz, Diskursivität und Kontroversität auch fachdidaktische Relevanz aufweisen. Aus geschichtsdidaktischer Perspektive ist die kollaborative Texterstellung eine geeignete Methode, nicht nur um den Konstruktcharakter von Geschichte zu verdeutlichen, sondern auch die Entstehung historische Narrative als Aushandlungsprozess nachzuvollziehen.19 Die rein textbasierten Etherpads eignen sich in einfachen Lernarrangements, wenn Schüler/innen als gemeinsames Produkt einen gemeinsamen Text erstellen sollen. Schüler/innen können selbst zu Autoren und „Produsern“ von Netzinhalten werden. Im Gegensatz zu Etherpads sind die aufwändiger zu erstellenden Wikis und Blogs, in die verschiedene Medientypen eingefügt werden können, (zumeist) im Internet auch über Suchmaschinen auffindbar und daher als Formate öffentlich. Blogs weisen dabei mittels der Kommentarfunktion insbesondere die Möglichkeit zur diskursiven Reflexion historischer Narrationen auf. Auch Social Media-Kanäle können als Kommunikationsraum genutzt werden um die Diskursivität von Geschichte zu verdeutlichen. Neue methodische Potenziale erwachsen aus von Schüler/innen selbst erstellten Videos, z.B. Dokumentationen zu einem Unterrichtsgang oder zur Lokalgeschichte.20 || 18 Einen Überblick geben Daniel Bernsen/Alexander König: „Historisches Lernen goes mobile“ – Überlegungen zu einer Didaktik mobilen Geschichtslernen, online unter: http:// www.brennpunkt-geschichte.de/2012/08/29/lernen-goes-mobile (24.6.2013). 19 S. Moser (Anm. 5), S. 37f. Kollaborativ meint einen durchgängig gemeinsamen und kommunikativen Arbeits- bzw. Lernprozess zum Erreichen eines gemeinsamen Ziels. Der verwandte Begriff des kooperativen Lernens unterscheidet sich dadurch, dass hier das gemeinsame Ziel arbeitsteilig erreicht werden soll und Teilergebnisse additiv zusammengefügt werden. Vgl. Udo Hinze: Computergestütztes kooperatives Lernen: Einführung in Technik, Pädagogik und Organisation des CSCL. Münster 2004, S. 23f. und: Moser/Holzwarth (Anm. 4) S. 115–138. 20 S. hierzu auch die Beiträge von Jan Hodel, Daniel Bernsen und Birgit Marzinka in diesem Band. Vor einer Veröffentlichung im Internet sind besonders bei der Übernahme visueller und filmischer Quellen urheberrechtliche Fragen zu berücksichtigen.

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Kein verändertes historisches Denken im digitalen Wandel? | Fragen an den geschichtsdidaktischen Medienbegriff Der (etablierte) geschichtsdidaktische Medienbegriff bietet aufgrund seines begrenzten Geltungsanspruchs gegenüber den Veränderungen des Geschichtslernens im digitalen Wandel keine Erklärungsangebote. Diesem Begriff zufolge bleibt die Kategorie des Schaubildes mit Medien historisch denken auf den wesentlichen, allerdings begrenzten Aspekt beschränkt, Medien gemäß des Zeitund Authentizitätsbezugs als Quelle oder (reale oder fiktive) Darstellung zu kategorisieren. Die aufgezeigten Veränderungen des digitalen Geschichtslernens und ihre geschichtsdidaktische Relevanz lassen sich – etwa bezüglich narrativer Kompetenzen oder diskursiver kollaborativer Lernformate – höchstens auf einer indirekten, sekundären Ebene verorten. Die Halbwertzeit der hier vorgenommenen Bestandsaufnahme zum digitalen Geschichtslernen ist relativ gering. Auch wenn versucht wurde, eher längerfristige Trends auszumachen, werden bereits in fünf oder zehn Jahren neue technische Entwicklungen die digital konfigurierten Denk- und Lernräume weiter verändern. Wenn aber der Befund zutrifft, dass wichtige neue Herausforderungen an das Geschichtslernen auf der einen und geschichtsdidaktische Grundkategorien auf der anderen Seite zunehmend geringere Schnittmengen aufweisen, wird der Diskussionsbedarf über die Anschlussfähigkeit des geschichtsdidaktischen Medienbegriffs – wie er bei der Tagung „Geschichte Lernen digital 2013“ deutlich wurde – weiterhin und längerfristig bestehen.

Marko Demantowsky

Die Geschichtsdidaktik und die digitale Welt Eine Perspektive auf spezifische Chancen und Probleme

„Geschichte“ kann und soll gelernt werden, auch heute und morgen Die vielfachen und tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungen unserer Zeit, insbesondere auch der umfassende und in seinen Auswirkungen kaum absehbare digitale Wandel, haben die verantwortlichen BildungspolitikerInnen vielerorts aufgeschreckt. Lernen heutige SchülerInnen noch das Richtige? In aller Regel ist die Antwort auf diese Frage zu Ungunsten des Geschichtsunterrichts beantwortet worden, der in der schönen neuen digitalen Welt besonders viel Relevanz zu verlieren scheint. Die konstruktivistisch inspirierten Selbstdekonstruktionen vieler geschichtsdidaktischer Texte und die ernüchternden Ergebnisse vieler empirischer Studien liefern oft unbeabsichtigte Argumente dafür, in Digitalien z.B. Medienpädagogik als eigenes Fach für unentbehrlicher zu halten als den Geschichtsunterricht.1 Dabei ist dieser Gedankengang kurzschlüssig und verkennt die Stabilität menschlicher Bedürfnisse und Herausforderungen über auch noch so tiefgreifende technische Wandlungen hinweg. In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist nicht ein gähnender Abgrund, sondern ist ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt2,

so Gadamer 1960. Damit ist in wenigen Worten die schiere Existenzbedingung geschichtsbezogener Bildung ausgesprochen und eine sehr grundsätzliche alte Frage beantwortet worden, dass nämlich etwas über die Vergangenheit gelernt werden kann, insofern die Gegenwart dieser Vergangenheit vom Lernenden als

|| 1 Amsler, Christian: Projekt Lehrplan 21 – die Politik und die Geschichte. In: Public History Weekly 1 (2013) 9, DOI: http://dx.doi.org/10.1515/phw-2013-368. 2 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Bd. 1. Tübingen, 6., durchges. Aufl., 1990, S. 302.

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die seine verstanden wird. Tua res agitur ist also nicht nur ein didaktisches Rezept, sondern geradezu die epistemologische Voraussetzung jedes Geschichtsdenkens. Es geht also, dieses Gewissheit kann man verbuchen jenseits aller De-Konstruktionen aller möglichen Geltungsansprüche. Soll in der Schule aber auch weiterhin ausführlich und ambitioniert etwas über Vergangenheit und Geschichte gelernt werden, wo doch anscheinend nur das Morgen zählt, die technischen Innovationsrhythmen von Jahrzehnt- auf Monatszyklen beschleunigen und wir die damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen kaum noch zu überblicken oder gar zu verstehen scheinen? Wahrscheinlich schon, insbesondere wegen der zu beobachtenden und zu erwartenden kompensatorischen Identifikatonsbedürfnisse.3 „Geschichte“ ist in den öffentlichen, durchgehend digitalisierten Medien omnipräsent, ihre gesellschaftliche Inanspruchnahme scheint eher zu- als abzunehmen. Die erhöhte Veränderungsgeschwindigkeit unserer Lebenswelt erhöht also die Relevanz eines Schulfachs Geschichte und schwächt sie nicht. Wenn Demokratie Mündigkeit voraussetzt, dann muss Schule auf solche Inanspruchnahmen didaktisch reagieren und darf die Heranwachsenden nicht dem Spiel der kommerziellen und politischen Anbieter überlassen. Der digitale Wandel macht also das Geschichtslernen weder obsolet, noch setzt er es außer Kraft. Der digitale Wandel macht geschichtsbezogene Bildung für ein demokratisches Gemeinwesen und seine Bürgerinnen und Bürger eminent wichtig. Jenseits aller Konjunkturen kann und muss Geschichtsunterricht an ein entsprechendes Grundbedürfnis anknüpfen, das – in welcher Form auch immer – wohl auch bestehen bleiben wird.4 Es ist aber nicht nur die aktuelle Bildungspolitik und ihre Interpretation des digitalen Wandels, die den Stellenwert der geschichtsbezogenen Bildung an der Schule schmälert. Geschichtsunterricht genießt de facto und unabhängig davon weder in der Öffentlichkeit, bei den Eltern noch unter den Schülerinnen und Schülern die Anerkennung, die dieser seiner Bedeutung gerecht würde.5 Das ist || 3 Hermann Lübbe: Die Gegenwart der Vergangenheit. Kulturelle und politische Funktionen des historischen Bewusstseins. Oldenburg 1985. 4 T. Mills Kelly: Teaching History in the Digital Age. Ann Arbor 2013, S. 126f. 5 Ein quantitativer Beleg dafür kann der krasse Verlust sein, den der Geschichtsunterricht in der schulischen Stundentafel aller deutschen Länder seit den 70er Jahren erlitten hat. Wiewohl die grundsätzliche „Beliebtheit“ des Fachs im Vergleich zu anderen Schulfächern unter Schülerinnen und Schüler schwach positiv zu sein scheint (an der Spitze mit Abstand Sport und Kunst). Vgl. Sasol Olefins & Surfactants: Meinungen und Einstellungen von Schülern zum Thema Chemie, durchgeführt von IJF Institut für Jugendforschung. München 2005. Andere Studien kamen allerdings zu noch schlechteren Befunden für das Fach Geschichte. Vgl. Jasmin Merz-Grötsch: Schreiben als System. Bd. 2: Die Wirklichkeit aus Schülersicht. Freiburg/Br. 2001, S. 117–216.

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ein Grund, weshalb wiederum die Alltagspraxis des Lehrens im Geschichtsunterricht seiner Bedeutung oft nicht gerecht werden kann, denn Anerkennung und Leistung pflegen miteinander zu kommunizieren. Die Anerkennung steigt aber beobachtbar an jenen Schulen und bei den Kolleginnen und Kollegen, die Ihren Geschichtsunterricht auf eine Weise durchführen, dass Schülerinnen und Schüler und damit auch deren Eltern überhaupt begreifen könnten, worin diese aktuelle Relevanz liegt (tua res agitur, gesellschaftliche Alltagspräsenz). Es ist also eine eigene didaktische Aufgabe, immer wieder Relevanzbewusstsein zu ermöglichen. Der digitale Wandel macht das durch die ubiquitäre Zugänglichkeit digitalisierten Contents unkomplizierter als je zuvor (dafür sind Handyverbote natürlich nicht hilfreich). Leicht ist es dabei es stets, auf widrige Umstände zu verweisen, die solche Zugänge erschweren (z.B. IT-Struktur), was ja in der Sache auch von Fall zu Fall berechtigt sein mag. Besser ist es gewiss, dort nach Verbesserungsmöglichkeiten zu suchen, wo sich schnell und konkret etwas erreichen lässt. Insofern verdienen alle Bottomup-Initiativen sehr viel Bewunderung, die die relativ neuen didaktischen Möglichkeiten digitaler Formate aller Art für eine konkrete Optimierung geschichtsdidaktischer Lehrangebote erkunden, experimentell anwenden und schließlich auch unter den Kolleginnen und Kollegen an den Schulen verbreiten wollen. Recht so, ohne Einschränkung. Weiterhin ist nicht zu bestreiten, dass die Geschichtsdidaktik an den Universitäten und Hochschulen in den vergangenen Jahren zu wenig Kenntnis von diesen Initiativen genommen und zu wenig den Austausch gesucht hat.6 Das zu ändern ist ein Ziel der Münchener Interaktiven Netztagung #gld13 gewesen.7 Im Folgenden soll versucht werden, das Verhältnis der digitalen Welt und der geschichtsbezogenen Bildung kritisch zu bestimmen, empirische und theoretische Voraussetzungen zu klären, Vorschläge zu machen. Das berührt vorwiegend den Geschichtsunterricht als den zentralen wissenschaftlichen Gegenstand der Geschichtsdidaktik (zulaufend auf 4 grundlegende Thesen), aber auch Fragen der Geschichtslehrerbildung. Diese Klärungen scheinen mit kurzer Halbwertzeit geschlagen, aber es gibt „eine Menge Dinge, die sich nicht verändern werden oder zumindest nicht sehr stark, im Lehren und Lernen von Ge|| 6 Dies nimmt die v.a. in Blogs ausgetragene Debatte vom Sommer 2011 um „die Geschichtsdidaktik und das Netz“ noch einmal auf. Vgl. zum Einstieg ein L.I.S.A.-Interview mit dem Autor und die angefügten Kommentare, online http://bit.ly/18DjcuG (zuletzt am 24.7.2013). 7 „Man sollte dieses Format unbedingt weiterentwickeln“. Rückblick auf die Interaktive NetzTagung #gld13 | Geschichte Lernen digital. Skype-Interview mit Prof. Dr. Marko Demantowsky und Dr. Christoph Pallaske. In: L.I.S.A. Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung v. 26.3.2013, online http://bit.ly/1bO55D3 (zuletzt am 27.7.2013).

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schichte im Digitalen Zeitalter“.8 Die eigene disziplinäre Verfasstheit der Geschichtsdidaktik und ihre Zukunft im Konzert der so (nicht sehr treffend) genannten Digital Humanities9 kann hier nicht ausführlich diskutiert werden.

Geschichtsbezogenes Lehren und Lernen in Digitalien Geschichtsdidaktik als Wissenschaft hat nicht nur die Aufgabe, Lernangebote für den Geschichtsunterricht zu entwickeln, sondern sie sollte das auch auf der Grundlage der Einsicht in die Struktur, die Rahmenbedingungen und individuellen Voraussetzungen der Zielgruppe10 und auch ihrer Akteure11 tun. Man nennt das seit einiger Zeit üblicherweise didaktische Evidenzbasierung: Die Gestaltung von Bildungssystemen muss sich an der (empirischen) Realität pädagogischer Handlungsfelder und am Wissen darüber orientieren, welche gestaltbaren Einflüsse auf pädagogische Felder einwirken. Alternativen – wie bspw. die nicht erfahrungsgestützte Orientierung an Ideen und Ideologien oder auch an pädagogischen Klassikern – liefern heute keine adäquaten Anhaltspunkte für Handlungsmöglichkeiten und Reformmaßnahmen ...12

Man sucht seinen Beginn also am besten bei einer empirischen Zustands- und Problembeschreibung: Bettina Alavi u.a. haben in ihren Heidelberger empirischen Studien 2007 und 2010 Lern-CD-Rom analysiert.13 Nun mag man dieses digitale Format für technisch || 8 Mills Kelly, Teaching History, S. 126 (Übersetzung MD), auch S. 129 et passim. 9 „Ich glaube nicht an den ‚digital turn‘ in der Geschichtswissenschaft“. Aus einem Audiointerview von Georgios Chatzoudis mit Marko Demantowsky v. 8.8.2011. Vgl. L.I.S.A. Wissenschaftsportal der Gerda-Henkel-Stiftung, online: http://www.lisa.gerda-henkel-stiftung.de/ content.php?nav_id=1750 (zuletzt am 7.7.2014). 10 Jeismann, Didaktik der Geschichte, 1977. 11 Siehe dazu zuletzt: Bettina Alavi u.a. (Hrsg.): Zur Professionalisierung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern: nationale und internationale Perspektiven. Göttingen 2013 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, 5). 12 Rudolf Tippelt/Jutta Reich-Classen: Stichwort Evidenzbasierung. In: Die Zeitschrift für Erwachsenenbildung 18 (2010) IV, S. 22f. 13 Alavi, Bettina: Wie lernen Schüler/innen mit „historischer“ Selbstlernsoftware? In: Judith Martin/Christoph Hamann (Hrsg.): Geschichte, Friedensgeschichte, Lebensgeschichte. Herbolzheim 2007, S. 205–217; dies./ Marcel Schäfer: Historisches Lernen und Lernstrategien von Schüler/innen. Eine empirische Untersuchung zu historischer Selbstlernsoftware. In: Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010, S. 75–93.

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veraltet halten, das ändert jedoch nichts an der exemplarischen Analyse des praktischen Lernumgangs.14 Schülerinnen und Schüler verfolgen, so darf man vielleicht verkürzt wiedergeben, in der Regel möglichst effektive Lösungsstrategien, weil sie in der Regel nicht dominant intrinsisch motiviert sind. Diese aufgabenbezogenen Lösungsstrategien sind keineswegs identisch mit den intendierten, geschichtsdidaktisch mehr oder minder reflektierten Lehr-Lern-Strategien der Produzenten solcher Unterrichtsmaterialien. Effektive Lösungsstrategien in digitalen didaktischen Umgebungen lassen sich für (horrible dictu) digitale Eingeborene, wie es die Generation heutiger Schüler/innen und Studierende zweifellos ist,15 sehr oft rein technisch entlang der spezifischen (im Einzelnen sehr verschiedenartigen) Hypertextstruktur entwickeln. Diese Hypertextstruktur liegt dem Material a) entweder schon zugrunde und wird von digital literaten Jugendlichen in sehr kurzer Zeit decodiert oder sie ist b) als Lösung der Aufgabe in ein Material einzubringen. Letzteres, also die Implementierung einer Hypertextstruktur in einen Materialfundus, wird in der Aufgabenstellung lernalters- bzw. expertisebezogen notgedrungen simpel – das heißt: faktenbezogenen – operationalisiert. In der Sprache der Lernpsychologie: Hier geht es um deklaratives historisches Wissen und nicht um prozedurales oder strategisches Wissen. Schülerinnen und Schüler lernen also mit den von Alavi et al. untersuchten Medien nicht viel über die Komplexität und Vieldeutigkeit eines historischen Ereignisses, einer historischen Struktur oder eines historischen Prozesses, sie lernen auch nicht viel darüber, wie Geschichte konstruiert wird und instrumentalisiert werden kann. Zugespitzt formuliert: Sie optimieren in einer digitalen Lernumgebung lediglich ihre digitale Geschicklichkeit durch Übung und sicher steigt auch die memorative Behaltensrate16 von irgendwie bedeutenden Namen und Daten. || 14 Mills Kelly, Teaching History, S. 126, auch S. 129 et passim. 15 Pauschalisierende Typisierungen entlang von sozialisatorischen Primärerfahrungen sind ebenso fruchtbar (wie die historische Generationenforschung zeigt) wie auch riskant (wenn man heuristische Hypothesen mit ontologischen Aussagen verwechselt). Vgl. Ulrike Jureit: Generationenforschung. Göttingen 2006. Unbestreitbar m.E. ist die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche mit ihren zunehmenden mobile devices heute in der Regel radikal anders aufwachsen, kommunizieren und sich bilden als noch die Generation vor ihnen. Zu dem Begriffspaar Digital Natives vs. Digital Immigrants gibt es seit 2001 eine anregende medienpädagogische Diskussion. Vgl. die klare Zusammenfassung und Einordnung bei Jan Hodel: Verkürzen und Verknüpfen. Geschichte als Netz narrativer Fragmente. Basel 2012 (Dissertation, Hochschulschrift), S. 88–92, 124–126. Diese Diskussion wurde auch auf der Münchener Tagung ausgetragen. Vgl. Twitterprotokoll #gld13. In: http://gelerndig.hypotheses.org/twitter-protokoll (zuletzt am 24.7.2013). 16 Sehr eindrücklich noch immer Ebbinghaus’ Experiment mit den sinnlosen Silben (1885). Siehe die prägnante Darstellung bei Philip G. Zimbardo: Psychologie, bearbeitet und herausgegeben von Siegfried Hoppe-Graff und Barbara Keller. 5., neu übersetzte u. bearb. Aufl., Berlin u.a. 1992, S. 284f.

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Ähnliches – in Bezug auf ein anderes digitales Medium – hat Jan Hodel in einem Aufsatz von 2012 beschrieben,17 nicht zuletzt auch für den Umgang von Schülerinnen und Schülern mit der Wikipedia. Der didaktische Alltag in der Begegnung digital pragmatisch geschickter Schüler und digital uninteressiert naiver Lehrkräfte, führt zu einer bedenkenlosen, aber oft camouflierten Verwertung von Wikipedia-Informationen. Es sind Herbstferien-Hausaufgaben wie diese (Erfahrungen, die man als Vater oder Mutter schulpflichtiger Kinder machen kann): „Schaut mal, was ihr im Internet zur Französischen Revolution findet und macht mal zu zweit daraus eine Powerpoint-Präsentation.“ Im Ergebnis können die mit solchen Aufgaben betrauten Schülerinnen und Schüler zwar mittels Copy-and-Paste-„Skulpturen“ und „-Plastiken“18 Texte oder Poster verfertigen, die zur Erlangung guter Noten reichen, aber geschichtsbezogene Bildung als „situatives Erzählen“19 zur Farce werden lassen. Schließlich, blickt man auf das Nutzerverhalten des von Astrid Schwabe 2012 beschriebenen regionalhistorischen Portals,20 dominieren doch absolut die von ihr so typisierten „Passanten“, „Suchenden“ und „Flanierenden“. Diejenigen also, die, ähnlich wie von Hodel und Alavi beschrieben, didaktische Ziele und Arrangements uninteressiert unterlaufen und sich die in digitalen Formaten angelegten geschichtsbezogenen Bildungsangebote fragmentiert, entkontextualisiert und vor allem al gusto aneignen. Astrid Schwabe hat mit durchaus didaktisch-optimistischem Akzent im Ergebnis eine plausible Matrix von Herausforderungen, Ambivalenzen und Zielkonflikten des Lernens im Netz aufgespannt,21 die m.E. um zwei bedenkenswerte Problemkreise oder Sollbruchstellen zu ergänzen sind: Zum einen das Disponibilitäts-Problem: Digitale Lernumgebungen sind für sich blind für die konkreten Besonderheiten einer didaktischen Zielgruppe, sie sind also weiterhin wesentlich auf die Lehrperson angewiesen, die sie auf wel|| 17 Jan Hodel: Wikipedia und Geschichtslernen. In: GWU 63 (2012), S. 271–283, hier 280–282. 18 Ders.: Geschichtslernen mit Copy and Share. In: Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010, S. 111–130; ders.: Verkürzen und Verknüpfen 2012, S. 216–226. 19 Jakob Krameritsch: Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien. In: Susanne Popp et al. (Hrsg.): Zeitgeschichte – Medien – Historische Bildung. Göttingen 2010 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, 2), S. 261–281, hier S. 267–281. 20 Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web: Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info. Göttingen 2012 (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, 4), S. 406–410. Siehe dazu auch die Rezension des Autors in der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 242–244. 21 Ebd., S. 148.

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che Weise auch immer, gut oder schlecht didaktisch situativ einsetzt. Dies ist keine Besonderheit auf dem Feld des Geschichtslernens, sondern hat viel damit zu tun, was wir das „pädagogische Universum“ nennen: Jede Unterrichtsstunde verläuft in jeder Lerngruppe immer und auf eigene Weise neu. Professionelle Lehrplanung ist immer eine Rahmenplanung, die im Prozess des Lehrens und Lernens selber gruppen- und individuumsbezogen flexibel zu realisieren ist. Was als genuiner Professionalisierungsgewinn im Lehrerberuf gut bekannt ist: die didaktische Fähigkeit nämlich, ein komplexes Lehr-Lern-Arrangement situationsbezogen adäquat und „im Handumdrehen“ zu modifizieren, das kann nicht ins Material und seine Medien verlagert werden. Das Material und seine Medien sind ein Moment eines Lehr-Lern-Arrangements und müssen zur didaktischen Disposition stehen.22 Eine ins Material delegierte Selbststeuerung oder auch die Idee eines Designs, das die Lehrperson qua intelligenter Menüführung und intelligenter Hypertextualisierung überflüssig macht, mündet unweigerlich in die vertraute Aporie von gutem Konzept und spröder Wirklichkeit. Formen des Blended Learnings bilden hier grundsätzlich einen Ausweg – sofern das digitale Arrangement der Lehrperson mehr Freiheit lässt als einem Erfüllungsgehilfen. Und dann, so könnte man meinen, wären reiche Quellenrepositorien allemal genug; die guten Aufgaben lassen sich nämlich nur situativ als Impuls realisieren. Und nur in solchen Lehr- und Lern-Freiräumen kann die von T. Mills Kelly apostrophierte „sort of creative license“ für Lernende möglich werden.23 Im Sinne dieser Disponibilität, die eine hohe Übersichtlichkeit und Transparenz des digitalen Mediums und auch eine technische Kompetenz der Lehrperson voraussetzt, haben sich im deutschen Geschichtsunterricht digitale Medien gegenüber herkömmlichen Medien wie dem Schulbuch trotz großer Bemühungen bisher nicht durchgesetzt. Das ist gut, weil auch der Umgang mit Büchern gelernt sein will und außerhalb der Schule immer weniger gelernt wird. Das ist aber auch schlecht, und zwar auf Basis der gleichen empirischen Evidenz: Die Welt der schulischen Geschichtskultur und die Welt der außerschulischen Geschichtskultur triften medial auseinander.24 Die Lernbedürfnisse und -erwartungen von „digitale natives“ werden weder bedient noch ernsthaft provoziert. Schulisches Wissen und schulisch erworbene Fähigkeiten verlieren

|| 22 Diese Einsicht ist bekannt und bewährt spätestens seit Paul Heimann u.a.: Unterricht. Analyse und Planung. Hannover 1965. 23 Mills Kelly, Teaching History, S. 130. 24 Zum Konzept der Geschichtskultur kurz und klar Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft. In: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2003, S. 11–22.

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damit weiter an Anwendbarkeit auch in biographischer Perspektive und der Geschichtsunterricht an Relevanz.25 Das zweite Problem bei der Konstruktion und Operationalisierung geschichtsbezogenen digitalen Lehr-Lern-Materials kann man das PerformanzProblem nennen. Historisches Denken in seiner elaborierten Form, wie es das Ziel moderner Geschichtsdidaktik an Schule und Universität darstellt, vollzieht sich als komplexe, chaotisch anmutende, keinesfalls lineare, kommunikative Verstehensleistung – Sam Wineburg (2001), Denis Shemilt (2000) u.a. haben das vor ein paar Jahren psychologisch eindrucksvoll erforscht26, die philosophische Hermeneutik hatte es in der 100 Jahren zuvor schon eindrucksvoll analysiert und beschrieben.27 Das Resultat solcher kognitiven Arbeit manifestiert sich zunächst in kommunikativer Performanz, und zwar im dialogischen Austausch narrativer Angebote innerhalb einer Gemeinschaft. Dieser Austausch wiederum ist nicht zweckfrei, sondern zielt agonal auf kollektive oder autoritative Anerkennung. Dieses kommunikative Element ist das Elixier historischer Erkenntnis, die über die bloße Kenntnis von Vergangenem hinausgeht und intersubjektiv begründen kann, Erkenntnisalternativen abzuwägen weiß und schließlich anerkannte Einsichten identifikatorisch auch verwendbar zu machen versteht. Es ist leicht zu sehen, dass die Ermöglichung und Evaluation solcher Prozesse mit den heute auf dem Markt befindlichen digitalen historischen Lernmaterialien für Programmierer und Nutzer technisch nur sehr aufwändig zu haben ist. Darin besteht m.E. der zweite Grund, weshalb sich die herkömmlichen Medien im deutschen Geschichtsunterricht so gut behauptet haben. Natürlich sind im Zeitalter des Web 2.0 über Blog- und Kommentarformate, über Twitter, Chats, Skype-Konferenzen, Etherpads usw. usf. grundsätzlich didaktische Arrangements konzipierbar, die hohen Anforderungen an geschichtsbezogenes Lernen gerecht werden könnten. Über ihre Durchsetzung entscheidet allerdings lebensweltliche Effizienz – jedes gut entwickelte schülerorientierte Unterrichtsgespräch, jede in Inhalt und Form intelligente universitäre Seminardiskussion erreicht traditionell Ähnliches. Auf die Lehrperson kommt es an.28

|| 25 Vgl. Anm. 1. 26 Sam Wineburg: Historical Thinking and Other Unnatural Acts. Charting the Future of Teaching the Past. Philadelphia 2001, S. 3–27 et passim; Denis Shemilt: The Caliph’s Coin. The Currency of Narrative Frameworks in History Teaching. In: Peter N. Stearns et al. (eds.): Knowing, Teaching, and Learning History. New York, London 2000, S. 83–101. 27 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 270–312. 28 John Hattie: Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von Visible Learning, besorgt von Wolfgang Beywl und Klaus Zierer. Baltmannsweiler 2013, S. 307f. et passim.

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Von diesen Herausforderungen, Ambivalenzen und Grundproblemen unbeschadet verfügt inzwischen jede weiterführende deutsche Schule und selbstverständlich jede deutsche Universität über ein internetbasiertes, sogenanntes E-Learning-System. Für die konkrete Praxis des deutschen Geschichtsunterrichts als eines schulischen Nebenfachs (wenn der Autor wieder eigene Erfahrungen aus zahlreichen Unterrichtsbesuchen in sehr verschiedenen Regionen, als Vater und auch als früherer Studienreferendar einbringen darf) bedeutet dies aber in der Regel nicht mehr, als dass Hinweise auf Lehrbuch-Aufgaben kommuniziert werden, bestenfalls auch einmal Material bereit gestellt wird. Darüber hinaus kann man bei gut ausgebildeten Lehrpersonen lehrbuchalternatives Zusatzmaterial und relevante externe Links abgelegt finden. Das konkrete Geschichtslernen findet (von bewundernswerten Ausnahmen abgesehen) aber aus den genannten Gründen nicht als ein „E-Learning“ statt, wenn man darunter ein internetbasiertes Lernen verstehen möchte. Klar, das liegt nicht in erster Linie an der mangelnden Qualität dieser Plattformen, die im Falle besonders von Moodle (wie Alexander König gezeigt hat29) ein erhebliches Potential für erfolgreiches Blended Learning aufweisen, es liegt wie oben gezeigt daran, dass dieses Potential weder von den meisten Lehrkräften noch von Schülerinnen und Schülern abgerufen wird oder werden kann. Es mangelt nicht an kreativen Konzepten des Einsatzes digitaler Medien, es mangelt vielmehr an der Reflexion der Durchsetzbarkeit und, wenn man so sagen darf, an der Normal-Lehrpersonen-Kompatibilät dieser Konzepte, an einer validen Erkundung der notwendigen operativen Gelingensbedingungen. Hierfür würden wir einen starken Ausbau entsprechender Grundlagen- und Interventions-Forschung benötigen.

Vier Thesen zum Schluss 1.) So wie es keine wissenschaftstheoretisch begründbare eigenständige Digitale Geschichtswissenschaft geben kann, kann es ebenso keine eigenständige Digitale Geschichtsdidaktik geben. Es sind dies Diskussionen, die der Disziplinhistoriker aus früheren Phasen der Disziplingeschichte kennt, wo sich attributive Neustiftungen einer kritisch-emanzipativen, einer kommunikativen oder einer sozialistischen Geschichtsdidaktik in ihren Ansprüchen überlagerten und ihre || 29 Alexander König: Historisches Lernen mit Lernmanagement-Systemen – MOODLE im Geschichtsunterricht. In: Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Medium. Heidelberg 2010, S. 131–150.

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generationelle Interessenlage nur mühsam verbergen konnten.30 Auf die historische Gewordenheit als digital attribuierter Trends und Selbstentwürfe hat zuletzt Valentin Groebner mit spitzer Feder hingewiesen.31 Wir tun gut daran, die Geschichtsdidaktik als Ganze nicht aus der Verantwortung zu entlassen, Herausforderungen wie den digitalen Wandel im Rahmen und mit den Mitteln ihrer disziplinären Eigenlogik zu bearbeiten. Es gibt allerdings eine lebendige und lebensweltlich geöffnete Geschichtswissenschaft und eine ebensolche Geschichtsdidaktik, die sich schon länger der immer neuen integrierten Mediensysteme der digitalen Welt bedienen, ihre Lehr-LernAngebote vor dem Hintergrund der neuen technischen Möglichkeiten prüfen, anpassen und weiterentwickeln.32 Der Geschichtsdidaktik insgesamt wachsen zweifellos neue und große Aufgaben zu, die neuartige Fähigkeiten und den Mut zur Exploration verlangen, Geschichtsdidaktik wandelt sich aber nicht in ihrer disziplinären Matrix.33 2.) Geschichtsdidaktisch und terminologisch genau genommen gibt es kein E-Learning. Es gibt nur, wenn man so will, ein geschichtsbezogenes „Human Learning“,34 dass sich notwendig sprachlich und damit kollektiv vollzieht, sich ganz unterschiedlicher Medien und Lernmethoden bedient, von sehr verschiedenen Lehrmethoden angetrieben werden kann, von unterschiedlichen, oft konträren Zielen bestimmt wird und sich an diversen Inhalten vollzieht. Zusätzlich wird dieses Lernen von je spezifischen anthropogenen und soziokulturellen Bedingungen gerahmt. Computer und Internet sind integrierte Mediensysteme wie wir sie in weniger komplexer Form von modernem Schulbuch, Museum, Unter|| 30 Als Forschungsübersicht zur geschichtsdidaktischen Disziplingeschichte vgl. Marko Demantowsky: Zum Stand der disziplin- und ideengeschichtlichen Forschung in der Geschichtsdidaktik. In: Michael Wermke (Hrsg.): Transformation und religiöse Erziehung. Kontinuitäten und Brüche der Religionspädagogik 1933–1945. Jena 2011, S. 359–376. 31 Valentin Groebner: Muss ich das lesen? In: FAZ v. 10.2.2013, online: http://bit.ly/144c1CL (zuletzt am 24.7.2013). Vgl. dazu auch ders.: Wissenschaftssprache. Eine Gebrauchsanweisung. Konstanz 2012, S. 26–32. 32 Frühe Beispiele: Linda Pomerantz: Bridging the Digital Divide: Reflections on “Teaching and Learning in the Digital Age”. In: The History Teacher 34 (2003), S. 509–522; Waldemar Grosch: Geschichte im Internet. Tipps, Tricks und Adressen. Schwalbach/Ts. 2002; Vadim Oswalt: Multimediale Programme im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2002. 33 Karl-Ernst Jeismann: Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart. In: Erich Kosthorst (Hrsg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie. Göttingen 1977, S. 9–33. 34 Aktuell z.B. Mario Carretero et al.: Conceptual change and historical narratives about the nation. A theoretical and empirical approach. In: International Handbook of Research on Conceptual Change. New York 2013, S. 269–286.

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richtskabinett usw. kennen. „E-Learning“ ist schlicht eine begriffliche Konvention, die leicht zu falschen Ansprüchen, Hoffnungen und Frontstellungen führen kann; aus dieser Einsicht heraus werden in der Geschichtsdidaktik umständlichere Begriffe wie „Historisches Lernen im virtuellen Medium“ oder „Historisches Lernen im Internet“ bevorzugt. Benötigt man für das Lernen in digitalen Formaten also einen neuen Terminus Technicus? – Der Sache nach nicht. 3.) Der didaktische Einsatz integrierter Mediensysteme unterliegt generell besonders hohen Ansprüchen, weil er ein grundlegendes Gebot heutiger Geschichtsdidaktik tangiert: das der Transparenz. Lernende sollen grundsätzlich in der Lage sein, ein Verständnis über die materialen, medialen und methodischen Grundlagen ihrer eigenen Erkenntnisgewinnung zu entwickeln und zu bewahren, um ihre domänenspezifische Autonomie realisieren zu können. Es geht vorrangig um „Erkenntniswissen“, weniger nur um „Gegenstandswissen“.35 Das darf zumindest als konsensuelles Credo der aktuellen Geschichtsdidaktik gelten. Dem entspricht der fundamentale Wandel von Wissenszielen zu Kompetenzzielen sowohl im schulischen Geschichtsunterricht wie auch in den universitären Lehrveranstaltungen. Weil gutes digitales Lehr-Lern-Material notwendig hochkomplex ist, bedarf es auf Seite der Lehrenden und Lernenden adäquat ausgebauter medialer Kompetenzen, um die didaktische Angebotsseite in ihren Konzepten und Leitideen kritisch reflektieren zu können. Das bedeutet, dass die Eigenheiten des Geschichtslernens im Web2.0, worüber in diesem Band von Bettina Alavi, Jan Hodel, Astrid Schwabe und Manuel Altenkirch viel zu lesen ist, zu einem zentralen Gegenstand der Lehreraus- und der Lehrerfortbildung gemacht werden müssen, mehr noch als es einzelnen verdienstvollen Anstrengungen bisher möglich war. Ein solches Thema gehört in jeden geschichtsdidaktischen Studiengang. Und es sollte zu einer verpflichtenden Fortbildungssequenz für jede praktizierende Geschichtslehrkraft gemacht werden – das zeigen nicht nur die entsprechenden Ergebnisse einer Lehrerstudie im Ruhrgebiet (2011/12).36 4.) Ich möchte hier für eine wesentliche Richtungsergänzung der Diskussion über das Lehren und Lernen von Geschichte im Zeitalter des digitalen Wandels plädieren. Ich plädiere didaktisch für einen Wechsel von einer bis dato dominierenden normativ-pragmatischen Diskussion darüber, wie wir digital und digitaler unterrichten könnten (weil dies an sich gut, richtig und chic sei), zu || 35 Hilke Günther Arndt: Umrisse einer Geschichtsmethodik. In: dies. (Hrsg.): Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin 2007, S. 9–24, hier S. 15–18. 36 Marko Demantowsky/Dirk Urbach: Die Ressource Fachlichkeit und das berufliche Selbstverständnis von angehenden und praktizierenden Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern im mittleren Ruhrgebiet (in Vorbereitung).

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einer analytisch-pragmatischen Debatte darüber, was angehende Historikerinnen und Historiker (Studium), aber auch selbstbewusste Staatsbürgerinnen und Staatsbürger (Geschichtsunterricht), heute und morgen in einer digitalisierten Welt zusätzlich und auf neue Weise benötigen, um in biographischer Perspektive an der kulturellen Arbeit an der „Geschichte“ produktiv, autonom und dauerhaft teilnehmen zu können. Wie muss ein didaktischer Lebensweltanschluss versucht werden, der bewusst und produktiv mit den oben beschriebenen Problemen und Aporien umgeht? Wir wissen, dass das biographisch prägende Geschichtslernen heute nicht in erster Linie im schulischen Geschichtsunterricht oder im universitären Seminar stattfindet.37 Das lebensweltlich wirksame und für die persönliche und politische Orientierung anwendbare Bild von der eigenen Geschichte in ihren verschiedenen identifikatorischen Bezugsräumen stammt aus dem familiären Nahraum und aus den Massenmedien, also dem, was man als außerschulische Geschichtskultur begreifen kann. Psychologisch nennt man diese unausgesprochenen oder unbewussten Voraussetzungen „implizite“ oder „subjektive“ Theorien oder „Common-Sense-Konzepte“. Diese einmal erworbenen subjektiven Theorien zeichnen sich durch eine hohe Soziabilität, Stabilität und Veränderungsresistenz aus.38 Elaboriertes Historisches Denken beginnt da, wo solche Konzepte reflexiv und selbstreflexiv begriffen und kritisiert werden können. Da sich die öffentliche Geschichtskultur in der Form von Pressebeiträgen, Vereinshomepages, Gedenkstätten-Facebookseiten und vor allem der hoch segmentierten Blogosphere und, ja, auch schulischen Lehr- und Lernmitteln zunehmend digital professionalisiert, wird die Ermöglichung und Beförderung von „digitalen“ (auf die digitale Welt bezogenen) geschichtlichen Recherche-, Interpretations-, Kommunikations- und Präsentationskompetenzen39 zu einer zentralen Aufgabe jeder historischen Lehrveranstaltung. „Kompetenz“ wird hier verstanden (man muss es angesichts der vielen konkurrierenden Modelle betonen) als eine domänenspezifische situationsübergreifende Problemlösungsfähigkeit.40 Für die Operationalisierung des digitalen Wandels in geschichtsbezogenen Lehr-Lern-Prozessen in Schule und Hochschule heißt das konkret, dass digital verfasste und relevante historische || 37 Dazu nur Sam Wineburg: Making (Historical) Sense in the New Millenium. In: ders.: Historical Thinking and Other Unnatural Acts. Philadelphia 2001, S. 232–255. 38 Ola Halldén: Conceptual Change and the Learning of History. In: James F. Voss (Hrsg.): Explanations and Understanding in Learning History. London 1998, S. 201–210. 39 Günther-Arndt, Umrisse einer Geschichtsmethodik, S. 16 et passim. 40 Eckhard Klieme u.a.: Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise (hrsg. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung). Berlin 2003, S. 74f. et passim.

Die Geschichtsdidaktik und die digitale Welt | 161

Sinnstiftungsangebote gefunden und dann in ihren Interessen, Formaten und Methoden analysiert und medienadäquat kritisiert werden können, was die Lernenden dann in die Lage versetzen sollte, eigene Deutungsansätze in digitalen Formaten adäquat und kritisierbar (Quellenverweise) darzustellen. Das historische Angebot am PC, IPad oder Smartphone wird durch diese Überlegung zu einem Lerngegenstand zweiter Ordnung. Es wird nicht vorwiegend in diesem Angebot gelernt, sondern an ihm. Das sog. E-Learning-System selber und seine Alternativen werden zentraler Lerngegenstand. Es geht um so etwas wie digital literacy. Solche Angebote müssen eigentlich nicht eigens konstruiert werden, sondern sie liegen immer schon vor. Didaktisch sinnvoll wäre es allerdings, ein geschichtsbezogenes E-Learning zweiter Ordnung curricular zu organisieren, Kompetenzziele auch hier lernaltersbezogen graduell zu stufen. Das allerdings könnte und sollte dann wieder programmiert werden und online zur Verfügung stehen – ein Lehrbuch wäre hier lächerlich. Geschichtsbezogenes Lernen im Format eines E-Learning erster Ordnung bleibt dabei wünschenswert. Mir scheint aber das von mir beschriebene E-Learning zweiter Ordnung eine Voraussetzung und Gelingensbedingung des E-Learning erster Ordnung zu sein. Denn ein isoliertes E-Learning erster Ordnung ist unter dem Gesichtspunkt der zielbezogenen Lerneffizienz mit vielen Regressions-Risiken behaftet und auf dem Markt alternativer Lernstrategien nur bedingt effizient. Ein solches E-Learning zweiter Ordnung wäre auch die adäquate Antwort auf die gegenwärtige gesellschaftliche Relevanz von und den Bedarf an geschichtsbezogener Bildung. Die medial vermittelte Welt ist voll mit „historischem Content“ voller verborgener oder offener Sinnstiftungsanmutungen, formatiert in sozialen Netzwerken und kommunikativ und partizipativ verführerisch aufbereitet – es ist ein dringliches Aufgabengebiet für einen Geschichtsunterricht, der sich heutzutage nur noch der historischen Vernunft verpflichtet fühlen sollte.

Christoph Kühberger

Geschichte lernen digital? Ein Kommentar zu mehrfach gebrochenen Diskursen der Geschichtsdidaktik In unserer postmodernen Gesellschaft ist vor einigen Jahrzehnten bereits den Historiker/innen die Gate-Keeper-Funktion zum historischen Wissen abhandengekommen. Es war die allerorts aufblühende Geschichtskultur, mitunter TVDokumentationen und die darin auftretenden Zeitzeug/innen, welche für eine immer breitere Öffentlichkeit die Vergangenheit interpretierten.1 Durch die im Zeitalter der Digitalität aufkommenden pluralistischen Möglichkeiten der Präsentation von Geschichte auf unterschiedlichsten Qualitätsniveaus drängten digitale Formate die traditionelle Deutungshoheit der Geschichtswissenschaftler/innen im öffentlichen Diskurs zudem weiter zurück. In der Geschichtsdidaktik kann mittlerweile Ähnliches auf einem ganz anderen Feld beobachtet werden. Wie die fachdidaktische Tagung der Konferenz für Geschichtsdidaktik in der Münchner Staatsbibliothek im März 2013 gezeigt hat, hat dieses Phänomen bereits längst auch die Geschichtsdidaktik erreicht. Handelte es sich bei den Geschichtsdidaktiker/innen lange um eine überschaubare akademische Gemeinde im deutschsprachigen Raum, welche einen elitären Zugang zu renommierten Verlagen, anerkannten Zeitschriften und vielleicht auch zu ministeriellen Hinterzimmern hatte, hat die demokratische Freiheit des World Wide Web nun auch diese akademische Community erreicht. So ist etwa die „Spezies“ der pädagogischen oder fachdidaktischen Blogger/innen eine stets wachsende Menge an kritischen Geistern, welche Geschichtsunterricht und historisches Lernen öffentlich reflektiert und die „Wissenschaft des Geschichtsbewusstseins“ kommentiert.2 Ähnlich wie dies auch bei der Geschichtswissen-

|| 1 Vgl. Sönke Neitzel: Geschichtsbild und Fernsehen. Ansätze einer Wirkungsforschung. In: GWU 9/2010, 488–502, 488. – Zur grundlegenden Aufgabe von Geschichtswissenschaftler/innen im Verhältnis zu anderen Teilnehmer/innen an geschichtskulturellen Diskussionen vgl. Christoph Kühberger/Clemens Sedmak: Ethik der Geschichtswissenschaft. Zur Einführung. Wien 2008, S. 135f. 2 Marko Demantowsky bezeichnete diese Personengruppe auf der Tagung als „Netzaktivisten“, ein Neologismus mit durchaus mitschwingendem pejorativem Gehalt. Es steht jedoch zu vermuten, dass damit auch eine Hochachtung vor den genutzten digitalen Möglichkeiten und der damit erzielten kommunikativen Reichweite mitgemeint ist, weshalb Daniel Bernsen davon ausgeht, dass es weder böse gemeint war noch ist. – Vgl. Daniel Bernsen: „Netzwerkaktivisten“

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schaft zu beobachten war, ordnen sich diese Systeme nach anderen Regeln und Mustern, als dies der größte Teil der wissenschaftlichen Community nach wie vor für sich in Anspruch nimmt. Zwar verfügt die deutschsprachige Gemeinschaft der wissenschaftlich arbeitenden Geschichtsdidaktiker/innen durchaus über Internetseiten und Plattformen zur Ankündigung von Veranstaltungen und zur Bereitstellung von fachspezifischen Informationen, doch im Modus des Web 2.0 sind erst die wenigsten von ihnen angelangt.3 Die Re(d)aktionszeiten der (Micro-)Blogger/innen, welche ihre tweets und updates für die herkömmlichen Kommunikationszyklen der Wissenschaft in atemberaubender Schnelligkeit platzieren, überholen dabei die gewohnte akademische Systemzeit der Veröffentlichungen und den dabei gelebten Ritualen bei weitem. Zudem zeigen sich diese Blogger/innen zwar durchaus am wissenschaftlichen Diskurs interessiert, verfolgen aber mit ihren Diskussionen und Statements oft Ziele, welche nicht in jedem Fall mit den akademischen Zielen und systematischen Herangehensweisen der Wissenschaft sowie mit dem an tertiären Einrichtungen eingeforderten Habitus kompatibel sind. Am auffälligsten sind dabei jene digitalen User/innen von Web 2.0-Anwendungen, welche unmittelbar in konkreten Unterrichtsentwicklungsprozessen stehen oder tatsächliche Geschichtsunterrichtsstunden zu bewältigen haben, wodurch die (durchaus theoretisch gehaltenen) Fragen oftmals eine andere, meist praxisnahe Ausrichtung erhalten und der unmittelbaren Schulrealität entsprechend kontextgebundene Möglichkeiten legitim und radikal einfordern. Während die wissenschaftliche Beschäftigung stets selbstreferentiell und begriffliche Traditionen sowie bekannte Erkenntnisse berücksichtigend agiert und oftmals vorsichtig mit Aussagen über den „guten“ Unterricht ist, verstehen sich die Blogger/innen offensichtlich zwar nicht als Widerpart dazu, handeln aber diskursiver, dialogischer und offener, ohne jene hehren Ansprüche, welche zum Berufsethos und zu den akademischen Abgrenzungsmechanismen von Wissenschaftler/innen gehören. Es handelt sich damit um neue || als neue „geschichtsdidaktische Spezies“ http://geschichtsunterricht.wordpress.com/ 2013/03/23/netzaktivisten-als-neue-geschichtsdidaktische-spezies/ (24.4.2013) – Vgl. Beispiele für derartige Blogs: Lisa Rosa http://shiftingschool.wordpress.com/ (24.4.2013) und http://lisarosa.wordpress.com/author/lisarosa/ (24.4.2013) – Vgl. Daniel Bernsen http:// geschichtsunterricht.wordpress.com/ (24.4.2013) – zwischen der eigenen akademischen Arbeit und dem freien Bloggen: Christoph Pallakse http://historischdenken.hypotheses.org/ author/historischdenken (24.4.2013) – Vgl. Alexander König http://www.brennpunktgeschichte.de/ (24.4.2013) 3 Vgl. dazu herkömmliche Informationsdienste meist mit E-Mail-basiertem Newsletter und einwegorientierten Contentmanagementsystemen: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ (24.4.2013) – http://www.historicum.net/kgd/ (24.4.2013) – http://www.geschichtsdidaktik. com/ (24.4.2013)

Geschichte lernen digital? | 165

Formate der geschichtsdidaktischen Diskussion und Informationsverbreitung, welche sich selbst nicht als Abschluss der Debatte ansehen, sondern zur unkomplizierten Diskussion einladen, gleichzeitig jedoch die traditionelle Wissenschaft herausfordern zu handeln, da der unmittelbare Verbreitungsgrad der dort platzierten Ansichten und Positionen bei surfenden Geschichtslehrer/innen (der gemeinsamen Zielgruppe, welche sich die Blogger/innen mit den tertiär verankerten Geschichtsdidaktiker/innen teilen) vermutlich weit höher liegt, als dies bei schriftlichen Printpublikationen der akademischen Geschichtsdidaktik, die nicht in jedem Fall 24/7/365 zur Verfügung stehen, der Fall ist. In diesem Spannungsfeld, welches als produktiver Motor bei der Tagung in München genutzt werden konnte, gelang es, einen kommunikativen Rahmen zu setzen, der beide Seiten in einen produktiven Face-to-Face-Dialog brachte und darüber hinaus die Möglichkeit der dislozierten digitalen Beteiligung über livestreaming der gebotenen Vorträge sowie der geführten Diskussionen und über eine twitter-wall zur schnellen kommentierenden Teilnahme bot. Der Versuch, über die Nutzungspotentiale der digitalen Medien im Rahmen des historischen Lernens nachzudenken, gelang in einer so angelegten Kommunikationsstruktur durchaus, doch konnte gleichzeitig beobachtet werden, dass verschiedenartigste Perspektiven im Zugang und Verständnis des Themas nebeneinander existierten. Ein Phänomen, welches in verschiedensten Diskussionen über digitales (Geschichts-)Lernen beobachtbar ist und in dem mindestens vier idealtypische Positionen identifiziert werden können: 1. Geschichtsdidaktische Bedingtheiten: Diese Position vertritt aus der Perspektive der meist theoretischen und / oder empirischen Geschichtsdidaktik heraus einen Standpunkt, welcher fachspezifische Aspekte des historischen Lernens in den Mittelpunkt stellt (historische Re-/De-Konstruktion als zentrale Operationen des historischen Denkens bzw. Lernens) und zum erklärten Ziel der Nutzung von digitalen Medien macht. 2. Sozio-kulturelle Bedingtheiten: Eine tendenziell soziologische Position versucht neben den fachspezifischen Aspekten auch die gesellschaftlichen Grundvoraussetzungen von historischen Lernprozessen abzugleichen, um vorschnelle Erkenntnisse oder theoretische Modelle an die sozio-kulturellen Realitäten historischen Lernens in schulischen Kontexten zurückzubinden. 3. Medienpädagogische Bedingtheiten: Eine medienpädagogische Perspektive versucht neben den fachspezifischen Aspekten auch die medienpädagogischen/-didaktischen Voraussetzungen einer digitalisierten bzw. sich digitalisierenden Lernumwelt zu be-/hinterfragen. Die dabei eingebrachten Momente reichen von einer rein technischen Herangehensweise bis hin zu Versuchen, geschichtsdidaktische und medienpädagogische Diskurse zu harmonisieren.

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4. Lerntheoretische Bedingtheiten: Eine psychologische bzw. pädagogische Perspektive, welche durchaus für Lernprozesse von Bedeutung sein kann, fragt nach den Lernbedingungen, aber auch optimalen digitalen Lernsettings, immer in der Gefahr, das Fachspezifische durch das Allgemeine zu ersetzen und so den tatsächlichen Mehrwert für das historische Lernen verkennend. Unterschiedliche theoretische Perspektiven auf digitales Geschichtslernen zu werfen, hat aber auch den Vorteil, bestimmte Aspekte besser fassen zu können, welche das historische Lernen betreffen. Sie ermöglichen ein Erfassen von letztlich auch interdisziplinär zu bearbeitenden Fragestellungen. Ein bislang im geschichtsdidaktischen Diskurs zu digitalen Medien unterrepräsentiertes Moment, welches sich jedoch im schulischen Alltag in subjektorientierten Lernsettings stark zeigt, ist die Heterogenität der Lerngruppe. Es ist eindeutig, dass damit vor allem lerntheoretische Bedingtheiten in den Fokus kommen, die jedoch nicht nur auf dieser Ebene verhandelt werden sollten. Digitales historisches Lernen stellt nämlich aufgrund der technischen Rahmenbedingungen durchaus geeignete Möglichkeiten zur Umsetzung individualisierter bzw. differenzierter Lernumgebungen zur Verfügung, welche vor allem durch mediendidaktische Reflexionen zur Blüte gebracht werden können.4 Fachspezifische Lernsettings müssen dazu jedoch vor dem Hintergrund einer tatsächlich genutzten Digitalität rekonzeptionalisiert werden, wie dies Lisa Rosa auf der Münchner Tagung für alle historischen Lernprozesse im Zeitalter der Digitalität forderte. Es geht daher nicht vorrangig darum, bekannte fachdidaktische Formate des historischen Lernens in digitale Profile zu pressen, sondern die Eigenlogiken der Digitalität des frühen 21. Jahrhunderts anzuerkennen und nutzbar zu machen. Bestimmte Ausschnitte davon bieten sich geradezu an, um ein differenziertes historisches Lernen zu befördern. Es gilt daher, jene medial verfügbaren Konzepte, welche in der Medienpädagogik im Zusammenhang mit digitalen Medien ausdekliniert werden, für die geschichtsdidaktischen Anforderungen des Erwerbs eines reflektierten und (selbst)reflexiven Geschichtsbewusstseins zu übersetzen und mit geschichtsdidaktischen Konzeptionen abzugleichen.5 Man wird dabei zwangsläufig auf neue oder zumindest durch das mediale Setting erleichterte Formen eines fachspezifischen || 4 Vgl. segu von Christoph Pallaske http://segu-blog.de/lehrkonzept/ (24.4.2013) – Christoph Kühberger/ Elfriede Windischbauer: Individualisierung und Differenzierung im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2012. 5 Vgl. zu solchen Grundlagen etwa: Jörg Zumbach: Lernen mit neuen Medien. Instruktionspsychologische Grundlagen. Stuttgart 2010.

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Aneignungsprozesses stoßen (kollaboratives Lernen zum Aufbau von historischen Narrationen, dialogisches Lernen zur vielschichtigen Wahrnehmung von unterschiedlichen Quelleninterpretationen, problemorientiertes Lernen anhand geschichtskultureller Herausforderungen etc.), aber auch auf neue Formen eines Umgangs mit Geschichte und Vergangenheit, welche einer digitalen Geschichtskultur entstammen (Offenheit der Diskurse, fragmentarische Urteile und Bewertungen, fließende und unabgeschlossene Geschichtsschreibung als eine Spielart der dokumentierten digitalen Dialogizität, basisdemokratische Schreibakte, multiperspektivische Konnektivitäten im Hypertext etc.). Inwieweit beim derzeit stattfindenden Übergang eines informellen digitalen historischen Lernens in ein formales digitales historisches Lernen, welches durch die Geschichtsdidaktik derzeit mitstrukturiert wird, grundlegende medienspezifische Ausprägungen erhalten bleiben (u.a. Selbststeuerung, Grad der Freiwilligkeit), wird sich zeigen. Es gilt jedoch mit Blick auf die oben konstatierte Heterogenität in den Klassenzimmern darauf zu achten, dass der in den digitalen Medien angelegte Aspekt der „Personalisierung“, im Sinn der subjektiven Aneignung, Teilhabe und Verarbeitung von historischen Denkprozessen unter Nutzung jeweils individuell benötigter Hilfestellungen in jeweils individuellen zeitlichen Schienen, in diesem Übergangsprozess nicht verlorengeht, sondern für ein individuelles historisches Lernen und ein differenziertes digitales Lernangebot ausgebaut wird. Dabei wird es vermutlich nicht darauf ankommen, spezielle Lernwelten zu kreieren, wie dies etwa an Orten des historischen Probehandelns auf thematischen CD-ROMs oder speziellen thematischen OnlineSpielen propagiert wird, sondern die bereits Teil des realen Lebens gewordene virtuelle Welt als Reservoir zu nutzen, um kritische gesellschaftliche Teilhabe an geschichtskulturellen Aushandlungsprozessen mittels eines kritischen historischen Denkens zwischen Re- und De-Konstruktion zu befördern sowie andere Spielarten der digitalen Geschichtskultur (Computergames, thematische Internetseiten, Interessensgruppen o.ä.) einer kritischen Reflexion zuzuführen. Lisa Rosa nannte dies unlängst „Lernen unter digitalen Bedingungen“, wobei die Interaktion zwischen der Digitalität und analogen Zugängen vorerst bestehen bleibt, sich eben auch wechselseitig beeinflusst.6 Alle hier exemplarisch angesprochenen Zugänge besitzen einen Wert für die geschichtsdidaktische Auseinandersetzung. In der Regel greifen sie in der empirischen geschichtsdidaktischen Forschung zwischen Subjekten des histori-

|| 6 Lisa Rosa: Was ist das *dings* und was bedeutet es für die Geschichtsdidaktik? http:// shiftingschool.wordpress.com/2013/03/11/was-ist-das-dings-und-was-bedeutet-es-fur-diegeschichtsdidaktik-anmerkungen-zur-tagung-geschichte-lernen-digital/ (24.4.2013)

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schen Lernens, den dafür genutzten medialen Zugängen und den soziografischen Bedingtheiten ineinander, ohne das Fachspezifische des historischen Denkens zu ignorieren. Es wird daher in der schnelllebigen digitalen Welt stets die Aufgabe der Geschichtsdidaktik sein, neben notwendigen theoretischen und methodischen Fragen auch empirische Untersuchungen zu setzen, um evidenzbasiert Aussagen über die gelebten Handlungsmuster des historischen Denkens im Zeitalter der Digitalität machen zu können, damit die Gefahr minimiert wird, Probleme der Generation der Geschichtsdidaktiker/innen auf die junge Usergeneration zu projizieren, deren kulturelles Verständnis der Digitalität vermutlich gänzlich anders ausgeprägt ist und neue Wege eines Umgangs mit digitalen Angeboten gefunden hat.7

|| 7 Vgl. für die empirische Geschichtsdidaktik zu digitalen Medien u.a. Jan Hodel: Geschichtslernen mit Copy und Share. In: Bettina Alavi (Hrsg.): Historisches Lernen im virtuellen Raum. Heidelberg 2010, 111–130; Bettina Alavi: Wie lernen Schüler/innen mit „historischer“ Selbstlernsoftware? In: Judith Martin/Christoph Hamann (Hrsg.): Geschichte, Friedensgeschichte, Lebensgeschichte. Herbolzheim 2007, 205–217; Bettina Alavi/Marcel Schäfer: Historisches Lernen und Lernstrategien von Schüler/innen. Eine empirische Untersuchung zu historischer Selbstlernsoftware. In: Historisches Lernen im virtuellen Raum. Hrsg. v. Bettina Alavi. Heidelberg 2010, 75–93; Astrid Schwabe: Historisches Lernen im World Wide Web. Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info. Berlin 2012.

Oliver Baumann

Zwischen Deutungshoheiten und digitaler Offenheit Ein Kommentar Open, Offen, diese Zuschreibung wabert über zahlreiche Begrifflichkeiten hinweg. Sie ist der Kern von Bewegungen, Hoffnungen, Veränderungsprozessen und der Idealvorstellung, Inhalte, Wissen und Entwicklungen für möglichst viele zugänglich und uneingeschränkt nutzbar zu machen. Zugleich ist es ein Drohgebilde für etablierte Institutionen wie Verlage, Unternehmen, Bürokratien und Expertokratien. Open Data, Open Education, Open School, Open University und natürlich auch Open Science. Alles ist auf einmal offen. Auch die Geschichtsdidaktik oder gar die Geschichte? Hinter „Open“ steht die Digitalisierung der Informationen und des Wissens, die Veränderungen durch ein technisches Instrument, durch breite Leitungen, rasante Up- und Downloads. „Open“ ist der Wunsch nach einer, theoretisch, ständigen Verfügbarmachung von Inhalten, die potenzielle Neubearbeitung, das Zusammenfügen, das Ergänzen kurz das Remixen von Inhalten, Wissen und Informationen. Das ist revolutionär und erinnert zugleich manchen nostalgischen Historiker an die Zeiten, in denen die regulierte und klar definierte Welt der digitalen Moderne noch nicht Einzug in unser politisches und bildungspolitisches System hielt. Vielleicht macht „Open“ auch Angst, vor der geschaffenen Möglichkeit, wissenschaftlich in einer Dimension arbeiten zu können, die es vorher definitiv noch nicht gab, also einen unbegrenzten Zugang zu theoretisch allen Informationen und Daten dieser und vielleicht auch anderer Welten zu haben. Wir haben nun, ich beziehe mich auf die hochmodernisierten Länder und Gemeinschaften, einen potenziell scheinbar unbegrenzten Wissensraum vor uns ausgebreitet. Wir sehen einen Zustand der Verflüssigung, der Formund Gestaltbarkeit von Wissen und, das ist der entscheidende Unterschied zu vergangenen Zeiten, die theoretisch mögliche ständige Teilhabe an und Weitergabe von diesem Wissen. Aber warum hat manch eine Wissenschaft noch immer so Probleme mit der digitalen Welt? Wir, die Vertreter einer zunehmend digitalen Alltags- und Berufswelt, reden im Sinne einer positivistischen Betrachtungsweise der digitalen Revolution von einer Demokratisierung der Öffentlichkeit, reden wir auch von einer Demokratisierung der Wissenschaft, der Bildung? Alle können bloggen, alle können kommentieren, alle können partizipieren, alle können Wissen verändern, alle können öffentlich werden. Und dank des zunehmenden Angebots freier Bil-

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dungsmaterialien, der so genannten Open Educational Resources, können alle – in einer idealen Welt – auch lernen, was und wo er oder sie will.

Offen oder Open oder was? – Ein Exkurs Vielleicht ist an dieser Stelle erst einmal ein Definitionsversuch von „Open“ also „Offen“ oder „Frei“ angebracht. Der Begriff „offen“ hat natürlich eine vielfache Bedeutung. Offen im Sinne von frei zugänglich, offen im Sinne von benutzbar, nicht verschlossen, von bearbeitbar, verbreitbar, offen im Sinne von umsonst. Und offen in diesem Sinne von offenen und freien Bildungsmaterialien – Open Educational Resources. Im Jahr 2001 prägte das MIT mit seiner „OpenCorseware“ nachhaltig den Begriff von offenen Bildungsmaterialien, nachdem ein paar Jahre zuvor die Universität Tübingen schon erste Lehrvideos frei im Netz veröffentlichte. Bereits 2002 nahm sich die UNESCO der Thematik auf dem „Forum on the Impact of Open Courseware for Higher Education in Developing Countries“ an und etablierte den Begriff der Open Educational Resources (OER). Anschließend gab es von diversen Stellen, von Stiftungen bis hin zur OECD, zahlreiche Aktivitäten, das Thema der offenen Materialien zu erfassen, bzw. zu beschleunigen. Die OECD präsentierte im Jahr 2007 eine umfassende Studie zur Untersuchung der Anzahl und des Umfangs an Initiativen im OER-Bereich. Aber erst 2011 scheint im Rahmen des 8. Educamps in Bielefeld der Begriff so richtig in der deutschen avantgardistischen Bildungslandschaft angekommen. Der Begriff der Offenen Bildungsmaterialien wurde durch die OECD sehr umfassend definiert und gerne orientiere ich mich an dieser Definition: OER are digitised materials offered freely and openly for educators, students, and selflearners to use and reuse for teaching, learning, and research. OER includes learning content, software tools to develop, use, and distribute content, and implementation resources such as open licences.1

Das bedeutet, alle können online lesen, herunterladen, verlinken, ausdrucken. Es bedeutet auch, dass sich offene Bildungsmaterialien nicht „nur“ auf den Schulbereich beziehen, dass diese bewusst von den Urheber/innen frei gegeben werden und für eine Nutzung und Veränderung zugelassen sind. Und mit der || 1 Centre for Educational Research and Innovation: Giving Knowledge for Free. The emergence of Open Educational Resources. Online unter: http://www.oecd.org/edu/ceri/38654317.pdf, S. 30. (abgerufen: 21.5.2013)

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Vergabe bestimmter Lizenzen kann das Ganze dann auch noch frei weitergenutzt und vervielfältigt werden. Aber offen heißt nicht umsonst. Es geht vielmehr darum, dass die Nutzungsrechte an den Materialien zumindest für den nicht kommerziellen Bereich kostenfrei eingeräumt werden. Printpublikationen, Zugang zu Webseiten, Downloads etc. dürfen jedoch und – im Sinne einer ökonomischen Vernunft – müssen auch ihren Preis haben. Für die Free Software Foundation, eine von Richard Stallmann gegründete gemeinnützige Stiftung zur Förderung freier Software, ist auch die kommerzielle Verwendung zwingendes Merkmal von „Open“.

Digitale Revolutionen und humane Ängste Aber sollen alle auch lehren können? Können alle weiterbilden und Materialien erstellen, die den ureigenen und nicht minder hehren Zweck der Bildung haben? Also über die bloße, unkommentierte, nicht didaktisierte Bereitstellung von Wissen und Informationen hinausgehen. Wie offen kann und will die Bildung, die Wissenschaft wirklich sein? Wie offen kann Geschichtsvermittlung sein? Und an diesem Punkt wird es kompliziert, denn nun treffen verschiedene Partikularinteressen aufeinander: der Überlebenstrieb der Wissenschafts- und Schulbuchverlage, der Wunsch nach Deutungshoheit einzelner Wissenschaftler/innen oder wissenschaftlichen Schulen, der Anspruch pädagogischer Kompetenzen bei den Lehrenden, monetäre Interessen von Autor/innen, die Zielstellung der Ausgewogenheit einer demokratischen Gesellschaft bzw. ihrer öffentlich-rechtlichen Vertreter, die Konkurrenz- und Karriereinteressen einzelner Akteur/innen usw. So manche reagieren bei den Begriffen wie „Digitalisierung“ und „Offenheit“ erst einmal mit Schrecken, mit Unsicherheit, mit gezügelter Neugier bis hin zur konfrontativen Gegenreaktion. Doch, und das ist nicht neu, auch die Wissenschaften wandeln sich permanent, sie waren nie statisch, immer je nach Auslegung sogar dynamisch und nun bewegen und verändern sie sich im Zeitalter der Digitalisierung immer schneller.

Eine offene Geschichtsdidaktik? Aber was hat das nun eigentlich mit Geschichtsdidaktik zu tun? Zuerst wird die Geschichtsdidaktik, insbesondere im deutschsprachigen Raum, vor allem als eine wissenschaftliche Disziplin betrachtet, die sich dem

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Thema der Methodik, der Vermittlung und der Förderung von Geschichtsbewusstsein verschrieben hat. Es geht dabei um einen idealerweise gelungenen Mix aus theoretischen Reflexionen über historische Ereignisse, empirischen Forschungen zu historischen, dynamischen Prozessen und um die hoffnungsvolle Weiterentwicklung der Geschichtsvermittlung. Doch die Geschichtsdidaktik – oder gröber formuliert die „Geschichte“ – sieht sich im 21. Jahrhundert mit einigen Herausforderungen konfrontiert: Globalisierung, Interkulturalität, heterogene und bildungsferne Zielgruppen, unterschiedlichste Bildungsstandards, Interdisziplinarität, Kompetenzorientierung und natürlich die Digitalisierung, um nur einige der Aspekte zu nennen. Und genau hier könnten offene Bildungsmaterialien, die Offenheit von Wissen und technischen Errungenschaften eine neue Symbiose eingehen. Das Netz bietet den Zugang und den Raum für unendliche Quellensammlungen. Projekte wie DeineGeschichte.de, Europeana.eu, lernen-aus-der-geschichte.de, um nur wenige zu nennen, sammeln Geschichten und persönliche Perspektiven ein, bereichern die Geschichtswissenschaften um den Aspekt der Multiperspektivität. Zeitzeugenportale und -projekte, wie Zeitzeugenbuero.de, Visual History Archive oder zeitzeugengeschichte.de arbeiten vornehmlich mit Zeitzeugen und archivieren wichtige, persönliche Aussagen, erstellen Quellmaterial, auch wenn Zeitzeugen bekannter Weise nicht immer die besten Freund/innen der Historiker/innen sein werden. Die Geschichte wird in Zukunft vielleicht zusätzlich durch die vielen kleinen Geschichten geschrieben, die als komplementäre Ergänzung der eher makrohistorischen Betrachtungsweise vieler Geschichtsbücher dienen können. Gerade die Rückmeldungen von Lehrenden der schulischen und außerschulischen Bildung bestätigen, dass Oral History und Zeitzeugenarbeit einen direkten, persönlichen Zugang zu zeitgeschichtlichen Themen gerade für Jugendliche ermöglichen. Geschichtsdidaktik findet nicht mehr nur an der Universität statt und in ihrer praktischer Umsetzung im Schulkontext, jede Gedenkstätte, jede Initiative, jede Stiftung, jeder Verein wird durch das Internet zu Geschichtsproduzent/innen, zu Geschichtsvermittler/innen. Geschichte wird so zu einem noch dynamischeren Prozess der Deutungen, Sichtweisen und Quellen. Und es geht noch einen Schritt weiter, die Lernenden können selbst zu Produzent/innen werden. Es ist eine Chance, die die Digitalisierung mit sich bringt, die aktive Teilhabe, das selbständige Auseinandersetzen mit Quellen, Zeitzeugen, Materialien. Es ist das Aufbrechen von Sender-Empfänger-Strukturen, es ermöglicht eine Didaktik, die das Prinzip der Augenhöhe in den Mittelpunkt rückt und somit die Gelegenheit, das Interesse an Geschichten und der Geschichte nachhaltig zu beeinflussen. Es ist auch eine Chance, die Zugänglich-

Zwischen Deutungshoheiten und digitaler Offenheit | 173

machung und „Öffnung“ verschiedenster Perspektiven auf Zeitgeschichte zu realisieren und somit das Geschichtsbild zu ergänzen, gerade in heterogenen und multikulturellen Gesellschaften.

Und wer hat denn nun die Deutungshoheit? Diejenigen mit den besten Argumenten, das gilt nach wie vor. Es reden nur mehr mit, oder besser, es gibt nur mehr Daten, Beiträge, Sichtweisen, Akteur/innen. Generell muss man sich heutzutage als Urheber/in eines wissenschaftlichen oder auch eines künstlerischen Werkes mehr denn je Gedanken darüber machen, was man mit seiner Arbeit erzielen möchte: Was soll der Nutzen der eigenen Arbeit sein? Geht man von den hehren Zielen der Wissenschaft aus, sollen in einer Gesellschaft mehr Wissen, vielschichtigeres Wissen, mehr Erkenntnisse geschaffen werden. Diesem Ansatz wird die Definition einer offenen Bildung mehr als gerecht. Auch sollte sich das geschaffene Wissen so weit wie möglich verbreiten, das Netz bietet dazu hervorragende Möglichkeiten, das sollte so manchen Wissenschaftler/innen und Bildungsanbieter/innen doch mehr als entgegenkommen. Außerdem wird Bildungsarbeit zumeist aus öffentlichen Geldern bezahlt oder unterliegt zumindest besonderen Vergünstigungen. Ist da ein „Nicht-Offen“ nicht ein Widerspruch?

P.S. Der Kommentar steht natürlich unter einer cc-Lizenz: CC-BY-SA, kann also gerne mit Namensnennung unter den gleichen Bedingungen überall weiterverbreitet werden, und natürlich auch bearbeitet werden.